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KLEINE SCHRIFTEN UND STUDIEN

ZUR

KUNSTGESCHICHTE

von

FRANZ KUGEER.

Mit Illustrationen und andern artistischen Beilagen

ERSTER THEIL

STUTTGART.
VERLAG VON EBNER & SEUBERT.
1853.

KUNSTHJSTOhÜIJH li^lSmUliT [
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AN JAKOB BÜRCKHARDT LN BASEL.

Ich Avollte Dir, mein lieber Freund, mit kurzen Worten sagen,
was zu sagen am Eingange dieses Buches ein wenig Noth thut.
Doch wird es mir heute fast schwer. Blicke ich aufwärts vor mich
hin, wie man es pflegt, wenn man über ein Ding nachdenkt, so
liaftet mein Auge immer wieder an dem Moses von Michelangelo,
der über dem Schreibtische steht; da klingt mir der Spruch des
Altmeisters Vasari im Ohr, dass man den Moses jetzt mehr wie je
einen Liebling Gottes nennen könne, da er ihm vor allen Andern
den Leib durch die Hand des herrlichen Michelangelo zur Auf-
erstehung habe bereiten wollen; und die „immortal forma" des
Moses scheint all der kleinen Nöthe zu spotten, die ich gehabt, um
zum Begriff der Kunst und ihres Werdens zu gelangen, und von
denen dies Buch mancherlei Zeugniss in sich trägt. Blicke ich zur
Seite, so streift die Sonne das Rebengezweig draussen am Fenster,
dass das Grün goldig schimmert und einen Rahmen für die Aussicht
in den Park bildet, Avie ihn der kunstreichste Vergolder nicht schöner
hätte machen können. Und durch das offne Fenster herein kommt
Lindenblüthenduft und Pfeifen und Schmettern von allen Zweigen.
Der Pirol wiederholt mit unverwüstlicher Geduld seinen wunderlich
eintönigen Lockruf, als wüsste er's, wie oft ich als Knabe mit seinen
Verwandten Zwiesprach gehalten, dass sie von Baum zu Baum und
von Ast zu Ast näher herankamen und mir's verstatteten, mich am
Anblick ihres goldglänzenden Gefieders zu erfreuen.

Aber ich habe Dir nicht von meinem heurigen Landaufenthalte
zu erzählen; ich habe Dir von dem Buche, an welches ich hier die
letzte Hand gelegt, feine kurze Rechenschaft zu geben. Sei es denn,
so gut sich's heute, da das Ganze endlich druckbereit vor mir liegt
und an den Abschluss mahnt, thun lassen will!

Du hast, mein lieber Freund, manches Mal gelächelt, wenn ich
Dich von meinen bunten Plänen unterhielt; Du weisst, wohinaus

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IV

meine Feder in jüngster Zeit sclnveifte inid wohin sie noch weiter
geführt werden sollte. Es gelingt eben nicht einem Jeden, still sitzen
zu bleiben, wenn es ihn mit Macht da oder dort ninaus zieht. Doch
aber hatte sich mir, mitten in diesem Drange neuen Schaffens, das
Bedürfniss geltend gemacht, einmal auf das bisher Geleistete zm'ück-
zuschauen, Abrechnung zu halten mit der Vergangenheit. Es ist doch
nicht ganz löblich, imgeordnete Angelegenheiten, halbvergessene Schul-
den hinter sich zu lassen, zumal wenn man mit seinen Gedanken auf
Reisen geht, deren Dauer und Erfolge man nicht im Voraus weiss. Neben
ein Paar grösseren wissenschaftlichen Werken, — denjenigen, deren
Neugestaltung ich, als mich selbst Andres daran verhinderte. Deiner
Freundschaft verdanke, — war im Lauf der Jahre Mancherlei von
kleineren Schriften, Abhandlungen, fliegenden Blättern, Joimial-Auf-
sützen, Zeitungs-Notizen in die AVeit gegangen. Ich trug zusammen,
was ich von diesen Dingen bewahrt hatte oder auf's Neue in die
Hände
zn bekommen wusste; ich fügte hinzu, was noch unverarbeitet
in Reisetagebüchern vorlag. Es war ein fast verwunderliches Neben-
einander. So bunt die Wcchselfolge der Gegenstände, so wechselnd
traten mir die geistigen Strömungen der Jahre, die grossen Leiter
dieser Strömungen entgegen, und noch wechselnder ,die Standpunkte
des Schreibers selbst, indem dieser von dem Schülerverhältniss, von
der dilettantistischen Theilnahme an den künstlerischen Dingen und
ihren historischen Bedingnissen mehr und mehr — je nach innerem
Vermögen und äusserer Gelegenheit — in das Wesen derselben
einzudringen sich angelegen sein Hess.

Ich habe es gewagt, aus diesem Material eine Sammlung meiner
kleinen Schriften und Studien zur Kvmstgeschichte zusammenzustellen;
ich lege das Buch hiemit in Deine Hände.

Das Material musste vorher freilich nach MögHchkeit gesichtet,
geordnet, vervollständigt, auch gelegentlich überarbeitet werden. Doch
luitte dies Alles seine Grenzen, falls überhaupt die Sammlung zu
Stande kommen sollte. Für das Sichten konnte schliesslich doch nur
meine persönliche Auffassungsweise der Dinge entscheiden. Du
wirst Qhne Zweifel mancherlei unbedeutend Scheinendes finden, zu
dessen Beibehaltung ich durch diese oder jene sachliche Notiz, welche
darin enthalten, durch die, für eine bestimmte Zeit doch vielleicht
charakteristische Auffassungsweise oder auch durch den Umstand
veranlasst war, dass es im Wechselbezuge zu andern, wichtigeren

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Mittheilungen stand und somit eben auch sein bescheidenes Plätzchen
verlangte. In der Anordnung hätte ich gern eine vorherrschend
systematische Folge beobachtet; dem waren aber mancherlei Um-
stände entgegen, namentlich eben jene Unterschiede in Auffassung
und Urtheil, welche durch die wechselnden Richtungen der Zeit und
durch die Momente des persönlichen Entwickelungsganges bedingt
sind. Es schien mir nöthig, diese Bedingnisse schon in der Gesammt-
anordnung hervortreten zu lassen; ohne das wäre häufig eine völlige
Umarbeitung erforderlich gewesen, die doch zumeist schon aus
äusseren Gründen im Bereiche der Unmöglichkeit lag. So ist vor-
zugsweise die Zeitfolge der Arbeiten für die Anordnung maassgebend
gewesen. Doch habe ich das auf die neuere Kunst Bezügliche von
dem Uebrigen ganz abgetrennt und daraus einen besonderen Band
gemacht. Auch habe ich anderweit, sofern keine sonstigen Schwie-
rigkeiten vorlagen, einzelnes Zusammengehörige in kleine Gruppen
zusammengestellt.

Zur leichtern Benutzung des bunten Sammelwerkes werden am
Schlüsse desselben gründliche Register nöthig sein. Du kennst,
lieber Freund, meine alte Leidenschaft für gute Register, die auch
diesmal, so viel Resignation die Registerfabrik an sich immerhin
erfordert, meinem Werke nützlich werden soll.

Zum Theil sind meine kunsthistorischen Studien, wie Du weisst,
weniger mit der Schreibfeder als mit dem Zeichenstifte gemacht.
Diese bilden eine wesentliche Ergänzung meines Geschriebenen; sie
müssen, zumal in früherer Zeit, ersetzen, was demselben an wissen-
schaftlicher Bestimmtheit abgeht; sie sollen auch zur mehr charak-
teristischen Angabe dessen, was überhaupt durch das Wort schwer
vermittelt wird, dienen. Es war von vornherein mein Wunsch, hievon
meinem Buche anzuhängen, soviel eben zu beschaffen sein würde.
Indess ist es mit artistischen Beilagen, und gar wenn es sich um
Massen derselben handelt, manchmal ein missliches Ding. Da wurde,
gerade zur guten Stunde für mich, das chalkotypische Institut der
Herren Behr und Heims zu Berlin — nach der eigenthümlichen Er-
findung des letzteren — eröffnet. Ich suchte meine alten, lange
nicht geübten Künste wieder vor und unternahm es, das halbe
Tausend der Illustrationen mit eigner Hand zu radiren. Eine Reihen-
folge von Abdrücken der Hochdruckplatten, welche von jenen Radi-
rungen gewonnen sind, liegt mir jetzt vor; ich sehe nun allerdings,

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wie last vermessen mein Wagniss, wie fern meine Naclelfiihrung von
der festen Hand des wirklichen Künstlers war. Indess hoffe ich von
Deiner Preinidschaft und von der Nachsicht des Publikums, dass
Ihr überhaupt Anforderungen der Art an meine Leistungen nicht
stellen werdet. Sie sollen, ohne allen Anspruch auf eigne künstleri-
sche Geltung, das im Text Vorgetragene einfach erläutern und sie
haben vielleicht doch das Verdienst, dass sie das Stylverhältniss des
Dargestellten möglichst festhalten, was bei dem Ueberlassen solcher
Arbeiten an fremde Copistenhändc nicht allzuselten verloren geht1). —
Ausserdem sind noch einige besondere artistische Beilagen hinzu-
gefügt. —

Und wieder blicke ich, innehaltend, zu der Figur des Moses
empor und auf das goldige Laub am Fenster, und es gemahnt mich,
Dir doch noch ein Wort von dem Landsitze, den ich für diesen
Sommer mit dem staubigen J3erlin vertauscht, zu sagen. Bellevüe
gebort meinem Freunde, Bernhard von Lepel, dem Dichter der
„Lieder aus Rom^^ Der alte Park draussen ist voll tiefen Grüns,
die Gegend uiaher, mit ihren vielgcgliederten Wasserflächen, ihren
Föhrenwaldungen zur Seite der Wiesen, ihrem cigenthümlichen kleinen
Dünengebirge, ein charakteristisches Bild uijsres märkischen Tief-
landes. Auch ist es klassischer Boden. Hier war einer der Haupt-
sitze altw^endischer Herrschaft; man fühlt es dieser, in ihren Wassern
wohl gesicherten Gegend an, wie hier der letzte Wendenfürst, der
mächtige Jaxa von Cöpenick, geraume Zeit hin seine Herrschaft zu
behaupten vermoclite. Nur Kunst, hur Denkmale jenes Höchsten,
w'as menschliche Schöpferkraft hervorgebracht, meint man hier nicht
eben suchen zu dürfen. Aber das stille Schlösschen ist drinnen, an
Wänden, Schränken, Gesimsen, angefüllt mit den mannigfaltigsten
künstlerischen Erinnerungen an Rom und Neapel, die. unerwartet
tausend heitre italienische Träume wach rufen; und der Moses ist
ein Bildwerk, daran das Gemüth des Betrachtenden sich immer und
immer auf's Neue aufzuerbauen vermag.

1  Ich muss eine nachträgliche r.e.merkung hlnzufiigen. Verschiedene
Platten, zum Theil gerade zu den ersten Abschnitten gehörig, ^yaren nicht so zu
Tage gekommen, wie es für den Zweck des Büches erforderlich schien. Einmal
ist man wohl übermüthig, seltner zweimal. Ich habe die neue Ausführung der
auf ihnen enthaltenen Radiningen nun doch einer fremden Hand überlassen müssen.

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Es ist eine A'ibeit aus gebranntem Thon, bronzirt, 172 I'^iss
hoch. Stellung, Geberde, Gewandung brauche ich Dir nicht zu
schildern, da dies Alles ebenso geordnet ist, wie in der grossen
Marniorstatue von Michelangelo's Hand in S. Pietro in Vincoli zu
Rom. Die Ausführmig ist sehr sorgfältig, im Nackten — wie sich
dies beim ersten Blick ergiebt und bei näherer Untersuchung nm-
immer mehr bestätigt — von ungewöhnlicher Meisterschaft. Die
Gewandung hat etwas Eigenthümliches in der Behandlung; sie scheint
über dem zuerst nackt modellirten Körper ausgeführt zu sein, so wie
augenscheinlich auch die Partieen des langen prächtigen Bartes über
das Gewand gelegt sind. In der ganzen Gewandung zeigt sich das-
selbe feine, leichte Verständniss wie im Nackten. Alles lässt hier
ein Werk von seltenstem Kunstverdienst erkennen. Doch ist der
Emdruck desselben ein andrer als der der römischen Statue, soweit
ich wenigstens im Stande bin, mir die lefztere in'die Erinnerung
zurückzurufen. Mir sagte die Statue selbst überhaupt nicht völlig
zu, — ich weiss nicht, ob es an meinem damaligen Standpunkte
geistiger Auffassung lag, der mir nur erst selten ein eigentlich leben-
diges Anempfinden von Werken, welche über das Quattrocento und
den Beginn des folgenden Jahrhunderts hinauslagen, verstattete und
mir namentlich das fernere 17. Jahrhundert noch ziemlicli fremd liess.
Mir erschien die Statue allzu bewusst, zu gewaltsam, fast brüsk.
Davon ist Nichts in dieser kleineren Terracottafigur; es ist wohl die
Macht einer michelangelesken Arbeit, es ist die Majestät seines
Moses, aber Alles in der Empfindung schlichter, gehaltener, ich
möchte sagen; jungfräulicher. Dann ist mir sehr wohl gegenwärtig,
dass in der Marmorstatue durchweg eine massenhafte Anlage, auch
des Einzelnen, vorlierrschte und die Wirkung, dem entsprechend,
überall voll und breit war. Auch dies ist in der kleinen Figur nicht
in demselben Maasse der Fall; es wird darin, trotz der auch hier
unverkennbar grossen Anlage, mehr ein liebenswürdiges Eingehen
auf die Einzelform, ein feines Detailliren derselben ersichtlich. Ich
möchte sagen: diese Figur ist wie der zuerst aufgehende, vielleicht
noch nicht zum völlig entschiedenen Bewusstsein durcligedrungenc,
aber um so liebevoller erfasste Gedanke des Moses, — jene Statue
wie das Nachher des Gedankens, wo vielleicht schon die Absicht
der Wirkung, schon ein Grad von AVillkür in der Ausgestaltung sich
geltend macht.

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Was ich nun über den Ursprung der Terracottafigur andeuten
möchte, ist hierin bereits ausgesprochen. Es will mir nicht ganz
glaublich bedünken, dass ein Künstler nach Michelangelo die Mar-
raorstatue in diesem kleinen Werke nachgebildet habe und dabei —
in den ^Zeiten einer mehr und mehr manieristischen bildnerischen
Behandlungsweise — dennoch vermögend gewesen sei, den ganzen
Charakter der Statue auf eine jugendlichere, zartere Weise des Ge-
fühles und der Anschauung zurückzuführen, sie in eine Erscheinung
umzusetzen, die ein ungleich primitiveres Gepräge hat. Ich kann
in der That nur annehmen, dass dies eine Originalskizze von Michel-
angelo's eigner Hand ist, die hernach in der grossen Ausführung
in Marmor jenes mächtigere und gewaltsamere Gepräge, jene derbere,
mehr schlagende Wirkung erhalten hat. Die verhältnissmässig feine
Behandlung der Terracottafigur steht mit einer solchen Annahme
meines Erachtens in keiner Weise im Widerspruch, würde vielmehr
nur zur Bestätigung dienen, da wir wissen, wie sorgfältig und zart
der grosse Meister für Zwecke der Malerei seine, hiemit doch wohl
aufs Beste in Vergleich zu stellenden Zeichnungen durchzuführen
pflegte.

So freue ich mich der Gelegenheit, die es mir verstattet, mein
buntes Sammelwerk mit einer Notiz, welche die grösste Epoche der
neueren Kunstgeschichte berührt und für deren Leistungen vielleicht
nicht ganz gleichgültig ist, zu beginnen. Möge ich zugleich in dem
Moses des alten Meisters einen günstigen Schutzpatron für mein
Werk gefunden haben!

Bellevüe bei Cöpenick, den 12. Juli 1852.

F. K.

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INHALT.

AuJakobBurckhardti 11 Basel......

Bilderhandschriften des Mittelalters.

I. Vorstudien in Heidelberg und Berlin......

II. Werinher von Tegernsee und die Bilder seines Gedichtes vom

Leben der Maria.........

III. Die Bilderhandschrift der Eneidt in der Kön. Bibliothek zu Berlin

IV. Studien in deutschen Bibliotheken......

V. Bibliothek von St. Gallen........

Deutsche Kirchen und ihre Denkmäler.

I. Wimpfen...........

II. Studien in Berlin und der Umgegend .....

III. Reiseblätter vom J. 1832 . . •.....

IV. Reiseblätter vom J. 1834 ........

Vorstudien zur Architektur-G eschichte.

I. TJeber die römisch-christlichen Bausysteme ....

II. Die Kirche S. Micchele Maggiore zu Pavia ....

Berichte und Kritiken. 1833—1835 .....

Antike Polychroraie.

I. üeber die Polychromie der griechischen Architektur und Sculptur

und ihre Grenzen .........

II. Nachträge , , . . , . ' .

III. Bestätigungen . .........

Seile

III

12
38
52
93

96
101
120
162

181
203

214

265
327
352

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Inhalt.

Ital i euische Studien. Seiie

I. Ueber die Mailänder Schule....... 362

II. Von den älteren Malern Neapels......3ö9

III. Notizen über den Maler Gentile da Fabriauo .... 386

Berichte und Kritiken. 1835—1837 ...... 405

Handbuch der Geschichte der Malerei etc. ... 537

Beschreibung und Geschichte der Sclilossliirche zu
Quedlinburg und der in ihr vorhandenen Alter-
thüiner. Nebst Nachrichten über die St. Wipertikirche bei
Quedlinburg, die Kirche zu Kloster Groningen, die Schlosskirche
zu Gernrode, die Kirchen zu Frose, Drübeck, Huyseburg, Con-
radsburg, etc. . .........540

Beschreibung der Kuustschätze von Berlin und

Potsdam..........640

Pommersche Kunstgeschichte. Nach den erhaltenen Monumenten

dargestellt........ . . . 652

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F. KüGLEß,

KLEINE SCHRIFTEN INI) STUDIEN ZUR
KUNSTGESCHICHTE.

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BILDERHAEDSCHRIFTEN DES MITTELALTERS,

r.

VORSTUDIEN IN HEIDiELBERG UND BERLIN.

n den Dichtungen, des deutschen „Mittelalters
hatte ich mich schon früh umgethan. Am Lieb-
sten las ich sie in den alten Handschriften; die
Blätter von Pergament, die festen, starken Schrift-
züge, die eigenthümlichen Zierden demselben
gaben mir das Gefühl der Atmosphäre , in wel-
cher diese Werke niedergeschrieben waren. Mit
gründlichem'Eifer sah .ich mir die Bilder an,
mit denen manche dieser Handschriften ge-
schmückt sind; ich mülite mich, Hand und Wol-
len des alten Zeichners nachzuempfinden und
unter seiner Leitung eine Anschauung von seiner
Welt zu gewinnen. Die Betrachtung dieser alten
llandschriftbilder machte ziemlich mein erstes
kunstgeschichtliches Studium aus. Es war viel-
leicht nicht ungünstig, dass ich das Studium mit
Arbeiten, begann, wo Mittel und Form der Dar-
stellung noch höchst einfach waren, zugleich
aber ein selbständig frisches Gefühl — das dich-
terisch volksthümliche — nach Ausdruck ver-
langte.

Von derartigen Studien, die ich in der
Heidelberger Bibliothek machte, habe ich
Einiges aufbewahrt- Vornelimlich Avar es die.
Bilderhandschrift des grossen Rolandliedes
vom Pfaffen Chunrat, aus der Zeit vom Ende
des zwölften Jahrhunderts, die schon im Jahre
1826 einen nachhaltigen Eindruck auf mich ge-
macht hatte und der ich im Jahre 1827 ein
näheres Studium Avidmete. Ich liess mir's nicht
verdriessen, mir den Text abzuschreiben und die zahlreichen Bilder auf
Copirpapier zu übertragen.

Das Rolandlied ist ein mächtiges Epos, das. seinen Gegenstand in
grossen, starken Zügen vorträgt und dessen noch ungefüge Verse sich wie

(Das Inili«! isl der Heidelberger Handschrift des Parcival und Lohingrin, Fol, No. 301, enlnommen.)
Kusler, Kleine Schriflen. I, 1

V.

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Bilderhaudscliriften des Mittelalters.

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Bausteine ausnehmen, die erst mit wenig Meisselschlägen zureciit gehauen
sind. Aber gerade dies Uranfängliche giebt dem Gedichte einen eigen-
thtimlichen Reiz. Der Kampf Karls des Grossen mit den Heiden in Spanien,
der durch Verrath herbeigeführte Fall Rolands und unzähliger andrer
Helden, die Rache für den Verrath bilden den Inhalt des Gedichtes. Die
Person, die am Markvollsten in den Vorgrund tritt, ist die des Verräthers,
Genelun. Was ihn zum Verräther macht, ist Hass \ind Feindschaft gegen
den sonnigen Helden, den Roland; aber er lässt diesen Hass, wie mit voller
Entschiedenheit, so zugleicli mit Kühnheit und Grösse ins Leben treten;
von dem späteren heimtückischen Ganelon ist er noch unendlich verschie-
den. Den Heiden, mit denen er doch den Bund eingeht, donnert er stets
den Spruch von der unüberwindlichen Majestät Karl's selbst entgegen; ja,
nachdem er schon, auf der Fahrt zum Heidenkönige Marsilius, sich vor-
läufig mit dessen Boten geeinigt hat, spriclit er doch vor Marsilius die ihm
von Karl übertragene Botschaft vorerst mit allem ungestümen Trotze aus,
und als jener empört mit dem Stabe nach ihm schlägt, so zieht er, in
Mitten der heidnischen Grossen, sein Schwert gegen den König. Dem ent-
sprechend schildert auch das Gedicht seine äussere Erscheinung:

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I. Yorstudieu lu Heidelberg uud Berliu,

Dabei ist auch sein Kostüm höchst prächtig. Er trägt, als er zu den
Heiden reitet, einen mit Zobelpelz gefütterten Rock von köstlichem Seiden-
stoff, drin mit Gold lichte Vögel gewirkt sind, der mit reichen goldnen
Borten versehen ist und von dem die Schellen „wie das süsse Saitenspiel"
klingen. Um seinen Hals liegt ein kunstvoller Ring, aus Gold und aus
Gemmen gemacht. In der Mitte umgürtet ihn Mulagir, das beste Schwert,
das in ganz Franken zu finden ist. An den Beinen trägt er goldne Sporen.

Die Bilder der Handschrift sind einlache Umrisszeichnungen, ohne alle
Farbe. Sie unterbrechen den Text des Gedichtes, wie dem Schreiber eben

Heidelberg. Welscher Gast, S. XIII.

eine Anschauung, die er festzuhalten für nöthig fand, entgegentreten mochte.
Die Weise der Darstellung ist auch noch ungefüg, wie die Verse. Es sin('

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4 Bilderliaiidschrifteii des Mittelalters.

ungefähr die herben starren Striche der alten byzantinischen Wandmalereien,
von denen wir hin und wieder Reste in unsern alten Kirchen sehen. Wo
solche Vorbilder nicht viel aushelfen konnten, da ist die Darstellung auf
das allereinfachste Maass zurückgeführt. So scheint die Rüstung der Krie-
ger ganz aus Kettengeflecht zu bestehen, das eng anliegt und von keinem
Wappenrock bedeckt wirdj dies ist mit ganz schlichten Umrisslinien an-
gedeutet. Ebenso der schmucklose runde Helm mit seiner über die Nase
herablaufenden Schiene und der grosse dreiecldge Schild, der an einem
Riemen über der rechten Schulter hängt und mit der linken Hand regiert

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wird. Aber so wenig Aufwand in dem Allen ist, so ist dennoch ein ge-
wisses bestimmtes Körpergefühl in diesen Gestalten, ist dennoch das Ver-
hältniss der dargestellten Handlungen klar ausgedrückt und fehlt es manch-
mal selbst nicht an den Grundzügen einer Grösse, die wiederum dem
Character des Gedichtes wohl entspricht. Wo die Heidenboten flehend vor

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■••^-•j'iV—Vi ,■ /. . , ■ .

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I. Yorstudieu lu Heidelberg uud Berliu,

Kaiser Karl erscheinen und dieser zürnend seinen Bart fasst; wo die
Fürsten zu Rathe sitzen; wo Genelun und Marsilius beim Heidengotte

„AppoTlo" (der freilich hier in der Gestalt des
-J /^riri^ Juden angebeteten goldnen Kalbes

erscheint) den Bund beschwören j wo Turpin
den Christenhelden das Abendmahl reicht oder
sie zum rechten Kampfe ermahnt; -wo sich,
Flammen ähnlich, auf das müde Christenheer
ein kühler Himmelsthau niedersenkt; wo Tur-
pin, nach Ablegung der Priestergewande, mit
geschwungenem Schwerte gewaltig durch die
Feinde saust; wo er den Märtyrertod von den
Lanzen der Heiden erleidet; wo Kaiser Karl
vor der Erscheinung des Engels knieend hin-
fällt und wo er, vor dem Beginn der Schlacht,
betet; wo der Verräther gebunden vor ihn ge-
führt wird und er die Hand wiederum zürnend
an den Bart legt, — in allen diesen und vie-
lea andern Bildern fühlen wir es nach, dass
iieidiiberg. Psalter, zw. HlOu. 1420. (Johannes.) dem Zeichner, SO geringe äussere und innere
Darstellungsmittel er noch hatte, doch schon eine starke Anschauung vor-
schwebte. Es sind freilich erst Anfänge der Kunst, Anfänge, die wir

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'I (i Bilderhandschriften des Mittelalters,

heutiges Tages immerhin als sehr kindliche bezeichnen mögen; aber es ist
eben doch eine wirkliche, aus innerem Trieb und Bedürfniss hervorgehende
Kunst, die in ihnen anfängt; es ist doch der Keim, aus dem ein starker,
vielästiger Baum aufwachsen sollte.

Eine andre Bilderhandschrift der Bibliothek, die mich beschäftigte
und aus der ich ebenfalls Einiges durchzeichnete, ist die des Lehrgedichts
vom „Welschen Gast," aus der frühem Zeit des dreizehnten Jahrhun-
derts. Sie hat zierliche "Randbilder, mit der Feder gezeichnet und mit
Farben ausgemalt. Es sind theils allegorische Vorstellungen von morali-
schem Inhalt, theils Scenen des wirklichen Lebens. Die letzteren führen
uns lebendig in jene Zeit zurück. Da sind Kämpfe, in denen die grau-
samsten "Wunden ausgetheilt werden (die Ritter wieder ganz in Kettenpan-
zern), und wilde Jagden; da schenkt der Ruhmsüchtige dem Fiedler seinen
Mantel und hat für den halbnackten Bettler keinen Pfennig; der Arzt
rauft den kranken schlafenden Greis am Barte, weil ihm Schlafen nicht
gesund ist, und ein andrer Kranker ist mit Armen und Beinen an einen
Baum gebunden und wendet sich mit jämmerlicher Geberde nach dem
Arzte zurück., der eben mit einem grossen Messer seine chirurgische
Operation beginnen will; u. dgl. m. Beischriften und Spruchbänder, die
die Figuren halten, geben über den Inhalt der Darstellungen hinreichenden
Aufschluss. Auch hier hat die Zeichnung noch einen byzantinischen
Character, aber zugleich ist darin, bei feiner Behandlung, schon ungleich
mehr Leben und natürliche Bewegung. Man sieht es: der Zeichner hat schon
eine Schule dunthgemacht und hat scharf sehen gelernt.

Merkwürdig auch waren mir
ein Paar Folioblätter (13. Jahr-
hundert) mit Fragmenten aus
dem fünften Gesänge des Wil-
helm von Oranse von
AVolfram von Eschenbach. Jede
Seite hat zwei Columnen, in
denen rechts der Text des Ge-
dichtes steht und links je drei
erklärende Randbilderbefindlich
sind. Die letzteren bestehen aus
derben, bunt colorirten Feder-
zeichnungen. Die Figuren haben
kurze, schwere Verhältnisse,
überhaupt kein feineres Lebens-
gefühl; die Ritter tragen wie-
derum Kettenpanzer, doch Wap-
penröcke darüber, und zumeist
spitze Helme. Trotz der rohen
Einfachheit der Behandlung ist
aber auch hier der Gegenstand
der Darstellung hinlänglich
deutlich ausgesprochen. Eigen-
thümlich naiv sind dieDar-
^ . . y vx Stellungen des ersten Blat-^

(j)""^ tes. Es ist die Belagerung

Perlin. Ehen,, v. N«gler>ch. Bibt Plcn.rium, S. XI. VOn Orange, daS Kiburg, dic

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A.A.

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I. Vorstudien iu Heidelberg uud Berlin. 7

einst als Königin von Arabien Arabella hiess, in der Abwesenheit ihres
Gemahles, des Markgrafen Wilhelm, gegen ihren frtlhern Geraahl, ihren
^■ate^ und andre Heidenfürsten vertheidigt Während eines Waffenstill-
standes führt sie ein Gespräch mit dem Vater, das hier in seinen verschie-
denen Stadien verbildlicht wird. Man sieht nämlich das Burgfenster, aus
dem sie (männlich gepanzert) hinaus blickt, und vor ihr den Vater,
Terramer, zu Pferde; sie spricht von ihrer früheren Herrschaft, ihrer Taufe
und ihrem Erbtheil, was nun auf dem ersten Bilde durch eine Krone, die
sich zwischen Beiden befindet und auf die sie hindeutet, auf dem zweiten,
ganz ähnlichen, durch einen Christuskopf und auf dem dritten durch einen
kleinen Thurm und Mauer an derselben Stelle angedeutet wird. Auf dem
ersten Bilde der folgenden Seite aber ist noch Tybald, der frühere Gemahl
der Markgräfin, an die Seite Terramer's gekommen und hält eine kolossale
Schleife (zum Erdrosseln bestimmt) in der erhobenen Hand. „Er dräuete
ihr oft mit der Weide," sagt das Gedicht an dieser Stelle. —

Die kirchlichen Handschriften der Heidelberger Bibliothek, die zumeist
einer späteren und in künstlerischer Beziehung ungleich mehr ausgebilde-
ten Zeit angehören,
standen damals mei-
nem Interesse ferner.
Ueber sie haben wir
neuerlich durch Waa-
gen, in seiner bewähr-
ten Weise, gründlichen
Bericht erhalten'). Nur
von der einen schö-
nen Handschrift eines
Psalters (lateinisch,
mit französischen Ti-
teln), mit Bildern der
französisch - nieder-
ländischen Schule, die
nach Waagen (a. a, 0.,
S. 384 — 386) etwa
zwischen 1410 und
1420 fallen und zu den
bedeutendsten Arbei-
ten solcher Art, welche
in Deutschland be-
findlich, gehören, kann
ich hier eine bildl, Mit-
theilung beifügen. Sie
bezieht sich auf das
Hauptbild des Buches:
Johannes der Evan-
gelist, auf einer fel-
sigen Insel im Meere
iJeriin. K41. Bibi. Willeram, s XU. sitzcnd Und den Be-

ginn seines Evange-

'} Kunstwerke und Künstler in Deutschland, Zweiter Theil. (Kunstwerke und
Künstler in Baiern, Schwaben, Basel, dem Eisass und der Kheinpfalz.) Leipzig, 1815.

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'I (i Bilderhandschriften des Mittelalters,

liuins aufschreibend, wälirend ein Adler, links, eine Kolle emporhebt und
der Teufel liinter ihm das Tintenfass umst(3sst. "Waagen erkennt in diesem
Bilde die Hand eines niederländischen Künstlers; die Fassung der Gestalt
und die Linienführung des Gewandes tragen das Gepräge des reinen Ger-
manismus, im letzten Stadium seiner Entwickelung.

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derhandschriften in den Bibliotheken Berlin's, besonders in der damali-
gen
v. Nagler'schen Sammlung und in der königlichen Bibliothek, durch-

ÜttMii

Weitere Anschauuugen , die Entwickelungsstufen der mittelalterlichen
Kunst schon näher bezeichnend, knüpften sich an, als ich sodann die Bil-

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1. Vorstudien in Heidelberg und Berlin.

blätterte. Es liegt iiiclit in meiner Absicht, die flüchtigen Studien von da-
mals, durch erneutes Zurückgehen auf die Quellen, zu einem irgend er-
schöpfenden Berichte auszuarbeiten. Ich will auch hier nur ein Paar
charakteristische Einzelnotizen, wie sie mir aus jener Zeit vorliegen, geben
und dieselben bildlich veranschaulichen. Im Folgenden schliesse ich dann
ein Paar Abhandlungen an, die aus jenen Studien hervorgingen und bei
denen wiederum meine damalige Vorliebe für das Epos des deutschen

Mittelalters und seine gleichzeitige bildliche Ausstattung die Anregung
gegeben hatte.

Die V. Nagler'sche Sammlung, reich an allen Gattungen der Kleinkunst,

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'I (i Bilderhandschriften des Mittelalters,

zeichnete sich u. A. durch eine sehr schätzbare Folge von Bilderhandschrif-
ten aus, die jetzt zum grössten Theil in das Kupferstich-Cabinet des Berliner
Museums übergegangen sind. Die Foliohandschrift eines Plenariums
gewährte eine volle Anschauung der wunderlich barocken Pracht des elften
Jahrhunderts. Sie enthält zahlreiche Bilder aus dem Leben Jesu, — miss-
förmige Gestalten, fast grauenhaft und den Zerrbildern eines beängstigenden
Traumes vergleichbar, einer völlig schwankenden Phantasie angehörig, die
mit überlieferten Formen ein oft tolles Spiel treibt. Dabei aber im Tech-
nischen eine grosse Sauberkeit, zunächst in der Farbenbehandlung dieser
Bilder und zumal in ihren Gründen, wo einem breiten Goldstreifen in der
Mitte sich oben und unten farbige und in sich schattirte Streifen, hell
röthlich braun, gi-ün, blau, anschliessen. Besonders elegant ist das Orna-
ment, oft noch in klassischer Reinheit. Jeder Hauptabschnitt fängt mit

einem Blatte an, welches einen
dunkeln röthlich - braun - violetten
Grund mit einem zierlichen Rand-
Ornamente enthält ; darauf ein
grosser goldner Anfangs-Buchstab
von edel ornamentistischer Form,
nebst üeberschrift und Anfang dea
Kapitels in goldner Schrift. Bil-
derhandschriften derselben Epoche,
die. anderwärts vorkommen, für
Sinn und Geist der Zeit des elften
Jahrhunderts ebenso bezeichnend,
sind seitdem mehrfach erwähnt und
beschrieben worden; auch werde
ich später mehrere der Art aufzu-
führen haben.

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In den Bildern einer Hand-
schrift der königl. Bibliothek
(Ms.
theol. lat. quart.
140}, die die Le-
genden verschiedener Heiligen,
mehrere Tractate des Hugo de
S. Victore und die Paraphrase
des hohen Liedes von Will er am
enthält, machte sich der sogenannte
byzantinische Styl, wie er sich am
Schlüsse des zwölften Jahrhunderts
entwickelte, in seiner ganzen Strenge
und Bestimmtheit geltend. Die
Bilder sind einfache Umrisszeich-
nungen von schwarzer und rother
Farbe, nach den verschiedenen
Theilen der Gewandung und der
architektonischen oder ornamenti-
stischen Umgebung wechselnd; an

I ,t.f

itt

Farbe ist sonst nur ein lichtes Saftgelb in den Heiligenscheinen ange-
bracht. Die Gestalten sind, bei aller Strenge, schon nicht ohne Würde
und Sinn für die Bedeutung der Form und deren Bewegung gezeich-
net. Die Initialen sind zierlich omamentirt und gelegentlich auf anspre-

-ocr page 23-

1. Vorstudien in Heidelberg und Berllu.

fhend naive Weise mit figürlicher Darstellung durchflochten. Die Hand-
schrift stammt zunächst aus Regensburg; eine vorn befindliche ziemlich
gleichzeitige Notiz benennt als ihren ursprünglichen Besitzer einen Gottfried
von Lambach.

Wieder ein sehr charakteristisches Beispiel einer neuen Stufe der mit-
telalterlichen Kunst gewährte ein einzelnes Pergaraentblatt in Folio, -welches
in der Bibliothek der Kunst-Akademie zu Berlin bewahrt wird. Es stellt
den Erzengel Michael dar, auf dem Drachen stehend und den Kopf
desselben mit der Lanze durchbohrend. Hier erscheint das Gepräge des
germanischen Styles, wie dieser sich in seiner ganzen Eigenthflmlichkeit in
der Zeit um 1300 ausgebildet hatte. Die Gestalt hat einen mächtigen
Schwung, der Art, dass das sonst Manierirte in den Figuren jener Epoche
hier ganz wohl mit der momentanen Handlung übereinstimmt. Die Linien
sind gross und weich geführt, die Züge des Gesichts, bei zierlichst conven-
tioneller Behandlung des Haares, ganz in dem typischen Gepräge des 'frü-
heren Germanismus. Die einfach saubere, in schlichten Tönen gehaltene
und mit leicht conventionellen Schatten versehene Colorirung des Blattes
hat leider in Etwas gelitten.

Für die Fülle naiver künstlerischer Behandlung im späteren Ver-
laufe des vierzehnten Jahrhunderts gab eine Handschrift des Heilspiegels
(klein Fol.) in der v. Nagler'schen Sammlung reichliche Anschauung und
Belehrung. Hier sind stets je zwei einander gegenüberstehende Seiten mit
Bildern (zwei auf der Seite) und dazwischen je zwei Seiten mit Text ver-
sehen. Der Text beginnt:

Dys bouch den vnghelerden luden ist bereyt
Vnd heyst eyn speigel der menschlichen zelicheit
Dar an so mach men proyuen durch wat zachen
Oot den menschen zalich ivolde machen
Wu he vorderuede van des duuels valscheit
Vnd weder zalich wart von godes barmicheit
Lucifer irhoif sich teghen syn heilant
Do wart he in de helle vorstoten altzohant
Dar vmme so wolde got den menschen zachen
Das he mit em den val mocht weder machen
Das hasede der duuel vnde dacht an sinen mut
We her en betrughe daz ducht em wol gut
He koes vs allen dyrten eyne alangen
De hat eyns men sehen hoi/t vf rieht tzu gangen
Dar in so wrachte her tusent liste trogener
Her sprach tzu dem wibe eyn trogenthafte ler
Vnd versochte daz wib tzu eirst vnd nicht den man
Her vruchtede daz der man im wer tzo cloich dar an
Her sochte daz wib da he se vant alleyne
Went eyn betrüget men bas wen das ghemeyne
Also der tubel evan bracht tzu valle
Dar vmme ir kinder vertumet worden alle.

Die Bilder enthalten, mit Ausnahme der ersten zwei Parte, zuerst stets
eine Darstellung aus der Geschichte Jesu oder seiner Eltern, dann drei
andre aus dem alten Testament, zuweilen auch aus dem neuen und au?
der weltlichen Historie, diese drei mit Bezug und Anspielung auf jenei

$

11

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12 Bilderhaudsc-hrifteu des Mittelalters.

(M-ste, z. B. 1) Christus, der das Kreuz trägt; 2) Abraham mit Fackel und
Schwert und Isaak, der das Holz zur eignen Opferung trägt; 3) der Wein-
berg, nach der Parabel, wo der Sohn des Herrn von den ungetreuen Knech-
ten erschlagen wird; 4) Kaleph und Josua mit der ungeheuren Traube. Das
Kostüm ist durchaus das der Zeit des Künstlers und in vielen Einzelheiten
belehrend; die Patriarchen des alten Testaments erscheinen als wackre
Ritter des vierzehnten Jahrhunderts. Die künstlerische Behandlung ist sehr
schlicht; es sind einfach colorirte, fast rohe Federzeichnungen auf dem
weissen Pergamentgrunde. Von höherem Kunstverdienste ist somit nicht
die Rede; aber das heiter Naive, was durch diese Bilder geht, das acht
Volksthümliche der ganzen Darstellungsweise giebt ihnen doch ein eigen-
thOmliches und für jene Zeit vielleicht charakteristisches Interesse.

II.

WERINIIER VON TEGERNSEE
und die Bilder seines Gedichtes vom Leben der Maria.

Die folgende Abhandlung enthält den zweiten und dritten Abschnitt
meiner Inaugural-Dissertation ;
„De Werinhero, saeculi XIL monacho
Tegernseensi, et de picturis mimitis, quihiis Carmen suiim theotiscum de
vita B. V. Mariae ornavit'-''
(Berlin, 1831). Der erste Abschnitt, der Ver-
such einer allgemeinen kunstgeschichtlichen Einleitung, ist antiquirt und
daher hier nicht wieder aufgenommen.

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"4

Anfänge von Tegernsee.

Das Christenthum war in Baiern zu Anfange des siebenten Jahrhun-
derts, von Frauken aus, eingeführt worden. So fand Bonifacius schon einen
Grund gelegt, auf welchem er auch hier, gegen die Mitte des achten Jahr-
hunderts, sein grosses Werk der Bekehrung des deutschen Volkes feststellen
konnte. Er errichtete unter dem Herzog Odilo und dessen Söhne Thassilo
vier Bisthümer, sorgte dafür, dass Kirchen und Klöster gebaut wurden, und
legte insbesondere durch die Verbreitung jenes Instituts, welches der heil.
Benedict von Nursia im Anfange des sechsten Jahrhunderts gestiftet hatte,
den Grund zu einer tieferen geistigen, sowohl wissenschaftlichen, als auch
künstlerischen Bildung des Volkes. Denn indem die Regel des h. Benedict
im Allgemeinen darauf hinausging, der Unthätigkeit im Klosterleben vorzu-
beugen, so wird darin unter anderen Beschäftigungen ausdrücklich auch die
des Künstlers genannt

In diese Zeit fällt, gleichzeitig mit der Stiftung einer bedeutenden An-
zahl anderer Klöster in Baiern, auch die von Tegernsee2). Die Grafen

Regula S. Benedicti, c. 57; c. 66. — Bist, fundationis monast. Tegern-
seensis,
in : Pezii thesaus. anecdott. eccles. T, IIJ. P. III, p. 475 — Restauratio mo-
nast. Tegerns. per Ottonem II. Imp.
in den Monumentis Boicis. T. VI. p. 15-i.
— M. Freiherr von Fr&yberg: Aelteste Geschichte von Tegernsee. München,
1822. S. 15.

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II. "Werinber von Tegernsee etc. 13

Adalbert und Ütkar, Brüder, aus dem'Königsgeschlechte der Agilolfinger,
Herren im „Sundergau," stifteten.unter dem Herzog Hugibert dies Benedic-
tinerkloster zu Ehren des heil. Quirinus. Im Jahre 754 ward die Kloster-
kirche geweiht; Adalbert ward Abt über die ersten 150 Mönche, deren
Stamm der h. Othraar aus St. Gallen gesandt hatte. Er vermachte der Abtei
sein bedeutendes Allode zum Grundeigenthum, und der König nahm sie
unter seinen unmittelbaren Schutz. So war sie schon von ihrem Beginn an
ein mächtiges Institut;. ihr Vorstand hatte im Rathe des Landes und des
Reiches Sitz und Stimme.

Unter Karl dem Grossen ward Baiern fränkische Provinz; wie überall
in seinen Reichen, so war er auch hier eifrig besorgt für die. Einrichtung
von Schulen Und für die Verbreitung wissenschaftlicher Bildung. Sein Sohn
Ludwig gab die nähere Verordnung, dass in den Klöstern der Unterricht
der Oblaten von dem der Laien getrennt werden solle. Dass man dieser
Vorordnung auch in Tegernsee nachgekommen sei, geht aus einer Urkunde
hervor, in welcher zehn Scholastiker (Lehrer) genannt werden eine Zahl,
welche für eine ungetheilte Schule dieser Art zu bedeutend sein würde. Es
fehlen uns aus dieser Zeit nähere Nachrichten über Tegernsee; aber wenn
wir von dem Bildungszustand andrer benachbarter Klöster auf jenes
schliessen dürfen, so örfreute es sich eines regen Lebens-in den Anfängen
der Wissenschaft und Kunst. Doch konnten der bald erfolgende Verfall der
karolingischen Herrschaft und die vielfachen Unruhen nicht w^ohl anders als
hemmend wirken. Eben so war König A-rnulphs kräftige Regierung 'zu
schnell vorübergehend, als dass sie bedeutendere Folgen für die weitere
geistige Entwickelung hätte haben können Bald auch überzogen die
Schaaren der Ungarn das Land, verheerten dasselbe und trieben Tausende
der Einwohner als Sklaven hinweg. Viele Klöster gingen in Flammen auf;
Tegernsee theilte deren Schicksal. Endlich, im Jahre 955, wurde die Macht
der Ungarn vernichtet. Doch der Herzog Arnulf und nach ihm Heinrich
von Baiern nahmen jetzt den Klöstern', und so auch Tegernsee, noch das
Letzte, was ihnen geblieben war, das Grundeigenthum, und gaben dasselbe
an ihre Vasallen, welche jene schweren Kämpfe gegen die Ungarn zu be-
stehen gehabt hatten.

Tegernsee zu Ende des 10. Jahrhunderts.

Herzog Heinrich gedachte nach dem Tode des Kaisers, Otto L, die
Krone an sich zu reissen; aber der Sohn des Kaisers, Otto II., zerstreute
schnell und mit Nachdruck Heinrichs Anhang, setzte ihn selbst in Utrecht
gefangen und übergab Baiern au seinen Vetter, Otto von Schwaben. Dieser
bewirkte die Wiederherstellung von Tegernsee; Otto II. stellte das Kloster
unter sein königliches Mundiburdium und belehnte den neu erwählten Abt
llartwich; alle der Stiftung angestammte Rechte und ihr Zuwachs in
künftiger Zeit wurden der unbeschränkten Fürsorge des Abtes übertragen;

Günthiier: Geschichto der literarischen Anstalten von Baiern. 1., S. 14;
u. Freyberg, a. a. 0.,
S. 24, Anm, — müssen indess erwähnen,'dass die-

selbe für die Kunstgeschichte Baierns nicht gleichgültig ist. So erbaute er sich
eine Residenz zu Begensburg mit grosser Pracht; so schenkte er an das Stift
S. Emmeram ein zierliches goldenes, mit Edelsteinen besetztes Feldaltärchen.

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N IlildcrhandschrifteQ des Mittelalturs.

den Mönchen wurde eine freie Wahl ihres Abtes gestattet, auch erhielteu
sie Freiheit von den königlichen Zöllen

Auf Hartwich folgte im Jahre 982 der Abt Gosbert, der, wie die
Chronik von Tegernsee sagt, „aus edelm Geschlechte und berühmt war im
Forschen der Wissenschaft, gastfreundlich gegen Jedermann, bei Tage dem
Lesen der Schriften, bei Nacht dem Gebete hingegeben, und der diese
Kirche mit Gebäuden, Büchern, Glocken, Fenstern, Täfelwerken geschmückt
hat" Unter ihm begann ein reges wissenschaftliches Treiben; das Studium
der klassischen Schriftsteller ward eifrig betrieben, ein wechselseitiger Ver-
kehr mit den Gelehrten andrer Klöster eingeleitet. An der Spitze der Te-
gernseer Gelehrten stand Froumund, von dessen Eifer für die klassische
Literatur eine Reihe auf uns gekommener Briefe und eine Anzahl lateini-
schet lyrischer Gedichte zeugen''J; doch spricht sich in diesen Gedichten
mehr als blosse Nachahmung jener Muster aus; sie sind nicht ohne eigenen
Schwung, auch finden sich in ihnen schon, der fremden Form zum Trotz,
frische , volksthflmliche Anklänge Sein Eifer für das Studium und für
den Unterricht ging so weit, dass er sich Anfangs sogar weigerte, die
Priesterwürde zu übernehmen. So finden wir auch, dass die Schule von
Tegernsee eifrig besucht wurde, selbst von Fremden. Die Knaben hatten
dort fleissig Bücher zu schreiben. Auch die Kunst, die Handschriften mit
gemalten Zierden zu versehen, ward nicht vernachlässigt, wie aus Zeugnissen
jener Zeit hervorgeht

Unter Gosbert finden wir ferner die ersten gemalten Fensterscheiben in
Tegernsee, welche durch den Grafen Arnold geschenkt waren, wie aus
einem Dankschreiben Gosberts au diesen hervorgeht. „Es ist unsre Pflicht
(so schreibt der Abt), Gott für euch anzuflehen, indem ihr unsern Ort durch
solche Werke der Ehren erhöhet habt, wie wir weder wissen, dass der-
gleichen in alten Zeiten vorhanden waren, noch selbst deren zu sehen
hoifen konnten. Die Fenster unsrer Kirche waren bis jetzt durch alte
Tücher geschlossen. Zu euren glückseligen Zeiten erglänzte der goldgelockte
Sol zum ersten Mal durch die, von Malereien buntfarbigen Gläser auf den
Platten des Fussbodens unsrer Kirche, und aller derer Herzen, die die
Mannigfaltigkeiten des ungewohnten Werkes unter sich erblicken, werden
von vielfachen Freuden durchdrungen" In Folge dieses Geschenkes
wurde in Tegernsee eine Glashütte angelegt, welche bereits unter Abt
Beringer, wie wir unten sehen werden, in blühendem Zustande war. Aus
dem St:hlusse jenes Briefes an Arnold ergiebt sich zugleich, dass in der
Schule von Tegernsee auch Unterricht in den Künsten geleistet wurde.

Auch finden wir unter Gosbert die erste Glockengiesserei in Tegern-
see, mit Ausnahme von Freising wohl die erste in Baiern. Gosbert bittet
einen auswärtigen Freund, „ihm etwas Kupfer, Zinn oder auch Blei zu
übersenden, da von all diesen Dingen nichts in den Städten seines Landes
zu finden, auch nichts für irgend welchen Preis zu kaufen sei"^). Doch
musste das Metall drei Jahre neben der Form liegen, bis Bischof Gotschalk

Hl'

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11. Weriuber von Tegernsee etc.

von Fieising auf Gosberts Bitten den Künstler Adalrich zur Vollendung
des Gusses sandte Froumund benutzte diese Gelegenheit, um seiner
Briefsammlung eine Anweisung „über das Maass des Wachses und der Me-
talle in den Gusswerken"®) einzuverleiben.

Indess war Kaiser Otto II. in Italien gestorben, im Jahre 982. Jener
Herzog Heinrich
Avar alsbald aus seiner Haft entflohen, um den Nachfolger
seines Gegners, des Herzogs Otto, den Hezilo, seines Herzogthums wieder
zu berauben. Als aber Otto III. zum Kaiser erwählt war, versöhnten sich
die streitigen Parteien, Hezilo entsagte und Heinrich, und nach seinem
Tode 995, sein Sohn, Heinrich III., erhielt das Herzogthum Baiern. Dieser
sah die Nothwendigkeit einer Reform, wie der übrigen Klöster seines Lan-
des, so auch von Tegernsee ein, wo das Gelübde der Armuth nicht gehal-
ten und Yieles aus dem gemeinen Gute zum Nutzen Einzelner verwandt
worden war. Gosbert, der diesem Missstande nicht hatte steuern können,
bat selbst den Heinrich, demselben abzuhelfen. So ernannte dieser nach
Gosberts Tode — mit Umgehung der "Wahlfreiheit der MöQche — den
Gotthard zum Abt, einen edeln und weisen Mann, dessen Vertrautheit
mit den klassischen Schriftstellern des Alterthums wiederum gerühmt wird
Doch wurde ihm von denen, welchen eine strenge Reform nicht anstand,
sein Amt bald verkümmert, und nach einiger Zeit gab er dasselbe wieder
auf; aber er blieb dessenungeachtet auch später, als Bischof von Hildesheim,
noch ein thätiger Freund und Rathgeber der Aebte und Helfer bei Kaiser
imd Fürsten. Das Kloster aber war in übler Lage: Parteiungen im Innern
der Familie, kein Schirmvogt, um dessen Besitzungen vor den Eingriffen
räuberischer Hände zu sichern. Der Herzog ernannte hierauf — abermals
wider die Wahlfreiheit der Mönche— den Eberhard zum Abt, der zu-
nächst für einen Schirmvogt sorgte, aber durch Kränklichkeit bewogen sich
genöthigt sah, schon im Jahre 1004 seiner Würde zu entsagen.

Tegernsee im 11. Jahrhundert.

Nun ward aus freier Wahl der Mönche Beringer gewählt. Unter ihm
kam das Kloster durch Kaiser Heinrichs II., des Heiligen, und seiner Ge-
mahlin, der h. Kunigunde, und anderer frommer Leute Schenkungen sehr
in Blüthe. Froumund lebte noch; in der Glashütte wurde nicht nur für
eignen Bedarf, sondern auch auf Bestellung gearbeitet*). Beringer stand
auch mit anderen Aebten in künstlerischem Verkehr, so dass man sich
gegenseitig brauchbare Künstler zuschickte Und auch er hat das
Seinige zur Verschönerung der Klosterkirche hinzugefügt: „Unter ihm (so
heisst es in der Chronik) wurden die Thürme errichtet und die Wände um
den Hauptaltar mit Gold und Silber geschmückt. Auch wurde dies Haus
durch ihn mit Büchern, Glocken und andrer kirchlicher Zurüstung ver-
sehen"

Ihm folgte Burchard, der nicht minder sowohl für das Beste des
Gotteshauses, als auch für literarische Studien sorgte; und dann 1017
Ell inger: der Liebling Heinrichs und Kunigundens. Durch ihn und durch

') Meichelbeck: Hist. Frising. I., p. 471, n. 2. — Günthner, a. a. 0.,

S. 397. u. Freyberg, a. a. 0., S. 291. — 3) y^i ^ ^ o., p. 133, n. 1. —
<) Ebenda, p. 142, n. 4.; p. 144, n. 8. — Ebenda, p. 146. n. 12. —
Pe:i. III.. III. p. f)O.S.

15

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16 Bilderhandschrifteu des Mittölalters.

jenes Gotthard Fürwort erhielt das Kloster bedeutende kaiserliclte Sehen
klingen und besondere Zusicherung des königlichen Schutzes für alle Güter
der Abtei'). Unter ihm geschieht der ersten Stiftung für den Lehrer
(vielleicht der ersten in ganz Baiern) Erwähnung^). Er war in Wissenschaft
und Kunst erfahren, so dass er in die Naturgeschichte des Plinius die
Thiere mit der Feder lüneinzeichnetein Nieder-Alteich und in Tegern-
see wurden Handschriften der Bibel aufbewahrt, die er mit Bildern ge-
schmtickt hatte"). Auch für die Verschilnerung des Klosters war er nicht
unthätig, indem er die Crypta erweiterte und ihre Gewölbe mit Gemälden
versehen und das „Allerheiligste im Haupte der Kirche"
(sanctuarium in
capite ecdesiae —
vermuthlich die halbrunde Absis der Kirche) mit einem
gewölbten Werke schmücken liess^).

Obgleich aber Ellinger sich der besondern Gunst des Kaisers zu er-
freuen hatte, so war doch eine ihm feindliche Partei mächtig genug, ihn
zweimal seiner Würde zu entsetzen, — das zweite Mal, nachdem die Ge-
bäude des Klosters durch Feuer verzehrt und die Schätze der Kirche durch
lläuber geplündert
Avaren, was man ihm zur Last legte. Er wurde 1035 in
das Kloster Alteich zu Bussübungen verwiesen und kehrte nachmals nach
Tegernsee zurück, um da als Mönch zu leben.

Im Jahre 1048 ward Seyfrid A.bt. Auch er erkannte den Werth der
klassischen Literatur und sorgte für den Betrieb der Kunst®). So wurde
unter ihm, von Seiten des Klosters, „für Kaiser Heinrich III. eine grosse
Bücherei, mit Gold und Silber, zusammengebracht und mit Schriftwerk
stattlich geschmückt"'), obgleich sich das Kloster nicht eben in glänzenden
Umständen befand. Bedenklichere Umstände traten ein, als das Gerücht
sich verbreitete, dass Kaiser Heinrich IV. das Kloster einem Andern zu
Lehen geben wolle"). Seyfrid aber schrieb dem Kaiser freimüthig seine
Meinung darüber. „Wenn jemand (so sagte er) diese Klosterbrüder zu
Knechten mache, so werde wahrlich all jene Kunstübung zu Ende gehen,
denn die einen Ekel am Leben hätten, würden auch kein Verlangen tragen,
zu malen oder zu schreiben"®). Er blieb Abt und starb 1068.

Unterdess begannen jene grossen Kämpfe, welche die Regierung Hein-
richs IV. ausfüllten und unter denen auch Baiern leiden musste. Sclion im
Jahre 1053 war Herzog Konrad, dessen üble Verwaltung Unruhen im Lande
erregt hatte, wahrscheinlich auf Anstiften des Bischofes Gebhard von llegens-
burg, vom Kaiser Heinrich III..seines llerzogthums entsetzt und die Herzogs-
würde dem noch unmündigen Sohne des Kaisers, die Verwaltung des Lan-
des aber an Gebhard übertragen worden. Später wurde der Bischof seiner
verrätherischen Umtriebe gegen den Kaiser, seinen Neffen, überführt und
dieser übergab die Verwaltung Baierns kurz vor seinem Tode seiner Ge-
mahlin, welche nacli einigen Jahren den mäclitigen Grafen Otto von Nord-
heim, aus sächsischer Familie, zum Herzog machte. Aber der Kaiser miss-
traute ihm, und nicht ohne Grund; er wurde 1070 seiner Würde entsetzt
und musste sich nach langer Gegenwehr unterwerfen. Auf Vermittelung des
Herzogs Rudolph von Schwaben wurde nun Weif, der Solm des Markgrafen
Azzo von Este, den Baiern aufgedrungen. Nachdem aber der Bann des

Monum. Boic. Yl. p. 7. — Ebenda, p. 16. — Günthner, a. a. 0.
S. 192. — ") Ebenda, 8, 369. — Pez., III., Ilf. p. 510; Phoenix Tejr. p. 44.
— «) Pez., VI., L, p. 241, n. 6 — 0 I".. m., p. 512. — «) Pez.. VI.,
II., p. 239, n. 4. — f) Ebenda, p. 23ß, n. 1.

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11, Werinlier von Tegernsee etc. 17

Papstes gegen den Kaiser ausgesprochen war, spaltete sich, wie ganz
Deutschland, so auch Baiern in Parteien; das Volk war auf des Kaisers,
der treulose Weif auf des Gegenkaisers, des Rudolph von Schwaben, Seite.
Nach Rudolphs Fall wurde natürlich äiich Weif seines Herzogthumg ent-
setzt; doch söhnte sich der Kaiser nachmals wieder mit ihm aus und be-
lehnte ihn aufs Neue mit der Herzogswürde, 1097. . ' .

Und gerade in dieser sturmbewegten Zeit erlangte das Kloster von
Tegernsee durch die rühmliche Verwaltung des Abtes Eberhard II.
(1068 — 1091) einen hohen Glanz. Für Baukunst, wie für die dekorirenden
Künste bemüht, stellte er einen Theil des Klosters, der bald nach seiner
Ankunft eingestürzt war, wieder her. „Er schmückte den Fussboden im
Chore und in der Kirche durch ein Werk aus verschiedenfarbigen Steinen.

erbaute die Kirche der heiligen Maria und gründete die Basilika des
heiligen Michael, über welcher eine Büclierei eingerichtet w^ard. Er umgab
das Kloster mit einer Mauer und schmückte dasselbe mit Gewölben. In
der Stadt Gemuaden errichtete er eine steinerne Kirche. Auch Avar zur
Zeit dieses Abtes ein Mönch vorhanden, Werinher (I.)^), den Einige im
freundschaftlichen Verkehr Weczil nannten, der ein kunstreicher Bildner
war, und in Schriften und Malereien und den Zierden der Bjficher von
Gold und Silber geschickt; dieser bereitete der Kirche mit mühevollem
Fleisse und unter Zustimmung des Abtes Eberhard eine Tafel, oberwärts
dreieckig, aus Gold und Silber und mit Bernstein und Gemmen und Stei-
nen geschmückt, auch fünf gläserne Fenster und ein Gusswerk, aus Erz
gemacht' und zum Bade geschickt, auf welchem er sich Werinher und auf
der TafelWeczil genannt findet. Eberhard aber, als er das Haus des
Herrn mit Täfelwerken, Malereien, Glocken,Büchern, Glasfenstern geschmückt
hatte, entschlief im Herrn im Jahre 1091"-• •

Tegernsee im 12. Jahrhundert.

Unter den beiden folgenden Aebten konnte die von Eberhard gestreute-
Saat, durch den Frieden und durch die Schenkungen frommer Leute an das
Kloster begünstigt, weiter gedeihen. Auch unter Konrad, der 1134 Abt
wurde, fand keine wesentliche Hemmung statt, obgleich das Land wieder
durch blutige Fehden zerrissen wurde. Weif war nemlich im Jahre 1120
gestorben und Kaiser Lothar hatte dessen Sohne, Heinrich dem Stolzen,
seine Tochter zur Ehe gegeben, um ■ sich auf diese Weise gegen seinen
Gegner, den mächtigen Hohenstaufen, zu stärken. Lothar starb im Jahre
1137, und Konrad III. von Hohenstaufen, der nun Kaiser wurde, belehnte
den Markgrafen Leopold von Oestreich mit Baiern. Gegen diesen kämpfte
Heinrich unermüdlich und unbesiegt; nach seinem Tode, 1139, setzte sein
Bruder, Weif III., den Kampf fort, auch gegen Leopolds Nachfolger, den
Heinrich Jasomirgott. Endlich aber siegten der Kaiser und Heinrich. Der
Abt Konrad hielt in dieser Zeit fest am Kaiser, der des Klosters oberster
Schutzherr war, und dessen er gegen die Schirmvögte des Klosters bedurfte,
welche sich eigenmächtige Beeinträchtigungen erlaubten. Er erwirkte vom

') Dieser Werinher (I.) ist nicht mit dem Camerarius "Werinher (II.) oder
dem Scholasticus AVerinher (III ) zu verwechseln. Von beiden wird unten die
Rede sein. Weczil (Wetzel) ist eine nicht selten vorkommende Abkürzung des
Namens Werinher. -- Pez., III.. III. p. 515.

Kugicr, Kleine Schrifien, I. 2

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18 Bilderhandscbriften des Mittelalters.

Papste Eugen die Bestätigung der Freilieiten seines Klosters '). Er war ein
vortrefflicher Mann, den Wissenschaften und Künsten geneigt (unter ihm
lebte schon unser "Werinher) und eine Reihe von Schenkungen zeichnet
auch seine Verwaltung des Klosters aus. Er starb 1155. Ihm folgte als
Abt Rupert, Graf von Neuburg.

Kaiser Friedrich I. hatte indess den widerspenstigen Jasomirgott des
Herzogthums Baiern entsetzt und dasselbe an Heinrich den Löwen, Herzog
von Sachsen, gegeben. Nach dem Sturze Heinrichs (1180) erhielt Otto von
Wittelsbach den grössten Theil Baierns. In diese Zeit fällt das grosse
Schisma, welches 18 Jahre lang die abendländisch christliche Kirche arg
verwirrte. Auch Baiern spaltete sich in Parteien für den einen oder den
andern Papst, welche sich gegenseitig in den Bann gethan hatten; die
Folgen dieses Zwiespaltes drückten das Land schwer. Der Abt Rupert
suchte dieselben jedoch für sein Kloster und dessen Besitzungen möglichst
zu hindern; es ist bewundernswürdig, wie er, ohne mit Alexander zu
brechen, den Kaiser zum Freunde behielt. Dieser, die Festigkeit Ruperts
in Glaubenssachen ehrend, half ihm zur Wiederherstellung mehrerer Klo-
stergebäude, wies den Schirmvogt, über dessen Gewaltthätigkeit Rupert sich
beklagt, in seine Schranken, und verlieh ihm einen grossen Freiheitsbrief,
welcher nicht nur die von Kaiser Otto H der Abtei bewilligten Rechte
bestätigte, sondern auch neue hinzufügte ^J. Eben so war das Verhältniss
Ruperts zum Papst, von dem er gleichfalls, nach manchen andern Begün-
stigungen, einen Freiheitsbrief erhielt, welcher der Bestätigung aller frühe-
ren kirchlichen Rechte noch neue hinzufügte^).

Rupert, erfahren in den Geschäften der Kirche und des Staats, war,
wie mit dem Kaiser selbst, so mit mehreren Grossen in näherer Verbin-
dung; unter Andern stand er auch mit dem späteren Schirmvogt des Klo-
sters, Graf Berthold von Andechs, in freundschaftlicliem Verhältniss. Zu-
gleich war er demüthig und erneuerte die Sitte, dass am Gründonnerstage
die Fusswaschung an 36 Armen von dem Abt und den Brüdern vollzogen
und dieselben darauf mit Speise und Kleidung versehen wurden.

Von seiner Theilnahme an Kunst und Wissenschaft haben wir ver-
schiedene Zeugnisse. So beschloss er, die Klosterkirche neu zu bauen,
worüber er von dem Domkapitel zu Freising ein Belobungsschreiben er-
hielt. „Wir loben (so heisst es darin) die Absicht eures guten und ehren-
vollen Planes wegen des Baues einer Kirche aus Stein, den ihr begonnen
habt, und rathen euch, das alte Gebäude niederzulegen, dies jedoch er-
innernd, dass die Abtragung der alten Kirche so vorsichtig geschehe, dass
der Altar unbewegt und unversehrt bleibe" *).

Der Probst von St. Pölten in Oesterreich erbat sich von ihm einen
jungen, in der Kunst der Malerei erfahrenen Geistlichen. Der Brief lautet
also: „Wir erbitten von eurer Gunst, dass ihr jenen, in der Kunst der
Malerei wohlerfahrenen Jüngling, der bei euch ist, H. genannt, zu uns
sendet, damit wir durch seine Hülfe den Schmuck an Malereien, den wir
in unsrer Kirche angefangen haben, unter Gottes Schutz vollenden mögen.
Und wie wir in dem begonnenen Werke durch ihn vorschreiten werden, so
sind wir in Wahrheit willig bereit, euren Verdiensten vor Gott nachzuste-

•Vi

') Ebenda, p. 186. —

1) Mon. Boic. VJl, p. 169. — =) Ebenda, p. 174.
Pez., VI , II. p. 17, n. 21.

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II. Werinher von.Tegernsee etr.. 19

hen. Im Uebrigen werden wir den genannten Ji'lngling ehrenvoll wieder zu
euch zurücksenden"

Kaiser Friedrich wandte sich an ihn wegen Beschaffung einiger Hand-
schriften. „Wir hören (so schrieb er), dass in deinem Kloster gute Schrei-
ber sind und wir entbehren sehr eines MessbuchieB und eines Lectionariums.
Wir tragen daher deiner Freundschaft auf und bitten inständig, nach dem
Maasse, wie du uns ergeben bist, und haben zu dir ein gutes Vertrauen, —
dass du uns ein Missale schreiben lassest und in einem zweiten Bande die
Episteln und Evangelien nach der Ordnung der Geistlichen" — Rupert
hielt sich nemlich Lohnschreiber zum Copiren der Bücher ''). Auch waren
die Mönche von Tegernsee im Besitz einer besonders guten Tinte, so dass
sie von Mönchen andrer Klöster gebeten wurden, ihnen davon mitzutheilen.
„Ich hörte (so schreibt ein gewisser H. an seinen Freund Werinher [III.]),
dass bei euch Tinte vorhanden ist; darum bittet die Herren, dass ein jeder
mir Etwas von seinem Theil zukommen lasse"'*). — Nicht minder waren
sie in der Kunst des Einbindens der Bücher erfahren, so dass ihnen auch
in dieser Beziehung Bestellungen von ausserhalb gemacht wurden'').

Dass die verschiedenen Wissenschaften, dass lateinische und deutsche
Poesie in Tegernsee gepflegt wurden, werden wir im Folgenden beim
Werinher sehen; noch ein andres erfreuliches Zeichen für die Beschäftigung
mit nationaler deutscher Poesie ist der Brief eines Markgrafen Bertold an
Rupert, in dem es heisst: — „Dieweil ein Freund in den Nöthen erfunden
wird, und
Aver ein Freund ist, stets Treue hält, so bitte ich deine Güte und
deine Liebe, so wie ich ein gutes Vertrauen auf dich habe, dass du mei-
nem Wunsche geneigt sein mögest und mir das deutsche Büchlein vom
Herzoge Ernest überlassest, damit es schleunig für mich abgeschrieben
werde. Nach der Abschrift soll es sofort an dich zurückgesandt werden.
Ich aber werde, wenn dii dies thust, willig und bereit in Allem sein, was
Sache der Freunde ist"").

Vorzüglichen Glanz endlich verschaffte dem Kloster der Besitz zweier
Männer gleiches Namens, des Scholasticus Werinher und des C<amerarius
Werinher. Beide nennen sich in der Unterschrift einer Urkunde neben-
einander ').

Werinher (II.) von Aufhofen, der Camerarius, Verwalter der Vor-
räthe und Gelder des Klosters, zugleich auch Gustos und Sacratista, machte
sich als Wohlthäter um das Kloster verdient, indem er sein Vermögen auf
den Ankauf liegender Gründe und auf Vermehrung des Kirchenornats ver-
wandte. Seiner geschieht in der Chronik und in den Urkunden ehrenvollste
Erwähnung. „Ihm allein (so heisst es in der ersteren) war es zu den
Zeiten des Abtes Konrad, während des von dem Erzbischofe von Salzburg
verhängten Interdictes, seiner Frömmigkeit halber verstattet, die Messe zu
lesen. Er starb im Jahre 1199"®).

>) Pez., VL, II., p. 16, n. 21. — 2) Pez,, VI., I., p. 409, n. 4. — Pez.,
VI., IL,
p. 11, n. 24. — *) In 'der unten zu erwähnenden Tegernseeischen Hand-
schrift. — S) Pez., a. a. 0., p. 15, n. 14. — ") Ebenda, p. 13, n. 2. Das Büch-
lein vom „Herzog Ernst" scheint das dem Heinrich von Veldeck beigelegte Werk
gewesen zu sein, dessen Fragmente von Hoffmann (Fundgruben, I., S. 228) her-
ausgegeben sind. — ')
Mon. Boic. F/., p. 131. — «) Pez., HI., HL, p. 521.
Mon. B. VI., p. 122.

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20 lUlderliandscbriftcu. _(iiis. MitU'bilters.

Der Scholasticus Wcrinlier.

"Wir wenden uns luiumelir zu dem S cho lasticus Weriulier (Hl.),
dem eigentlich diese Abhandlung gewidmet ist. Sein Geschlecht, das Jahr
und der Ort seiner Geburt sind nicht bekannt, sehr wenig von seinen
Schicksalen. Aus einem seiner Briefe, die auf uns gekommen, ersehen Avir,
dass er schon seine früheste Bildung in Tegernsee erlialten hat*). In einem
andern Briefe, der an den Abt Konrad, Ruperts Vorgänger, also noch in
Werinhers Juge'nd geschrieben ist, beklagt er sich darüber, dass er die
■ Gunst des Abtes verloren habe, und bemüht sich, dieselbe wieder zu er-
langen. Der Brief ist, gewiss nicht ohne Absiclit, in einem möglichst ele-
ganten lateinischen Style nach der'Weise jener Zeit, in einem eigenthüm-
lichen, zum Theil durch Eeime verbundenen Parallelismus der Sätze und
mit wirklichen Versen, am Schlüsse geschrieben. Wir geben die Form in
der folgenden üebertragung des, Briefes thunlichst wieder: —

„Seinem Herrn und Vater Konrad verhejsst W. die Wachsamkeit täg-
lichen Gebetes uud die Beständigkeit treuen Dienstes.

„So oft, mein Herr, ich es mir zurückrufe,.wie.ihr bisher mich trüget
umschlungen von den Banden eurer Väterlichkeit, so oft fühlt mein Geist
sich erfüllt von tibergrosser Freudigkeit.,. Denn liäufig muss ich es bei mir
erwägen, wie ihr mich von Kindheit an ernäiirtet im Schoosse des Erbar-
mens und der Gnade, wie ihr den Genährten stäri^tet mit der Milch der
Liebe und dem heilbringenden Brode des Glaubens, den Gestärkten auch
auf alle Weise unterwieset nach dem Vorbüde eures Umganges. Dalier kann
ich es nicht denken, wo oder Avie ich eurer EhrAvürdigkeit Augen hätte
mögen kränken. Und AA^as, ilir einst knüpftet mit den Banden solcher
Gnade, — nun, nach gelösten, ja zerrissenen Banden, stiesset ihr es auf
öde Pfade. Dies aber sage ich darum zumeist, Aveil, als ich euch am
Nächsten stand, ich nach abgelegter Ruthe den Stab der Züchtigung nicht
schAverer empfing, als ich jetzt empfangen will das gezückte, Sch^^ert und
den Pfeil, der auf mich sich kehrt. Gott ist mein Zeuge, dass ich ihn
durch keine neue Schuld
beleidigt habe. Ich Aveiss und bin geAviss: ehe
mischen sich Himmel und Erde, eh' eure einstige Huld gegen mich gänz-
lich gewandelt werde. GcAviss, mein Herr, ihr seid von eurer Ehrwürdig-
keit Sitz ein
Avenig herabgestiegen und lieht euer Ohr eines Schmeichlers
Lügen; aber dass er ausgestossen
Averde von euch, bitte ich Aveinend,
kniefallend zu Gott, auf dass, Aver es sei, der mich gedacht in Leid zu
setzen, es erkenne: eurer Huld Siegel sei nimmer zu verletzen. Denn
Avie Avenig ich selbst vermag: eure Gnade bringt wieder den Tag, da
sich zerstreut die Wolke der Traurigkeit und ich erleuchtet Averde vom
Strahle der Fröhlichkeit. Ich schicke euch diesen Gesandten, einen be-
scheidenen und gewandten, dass er
geAvinne eure Güte und vor eurem
Zorn mich behüte:

N

41
iii

I ! (
I M

hn

Du von edelm Geschlechte, von schimmernden Steinen der ächte.
Du der Sprachen Meister, ein Licht der weisesten Geister,
Hehr vor Allen gestaltet, der aller Tugenden waltet, —
Was noch soll ich dir sagen ? was zagen vor dir und klagen ?."

') Pez., VI.. II., p. 20, n. 4. — Pez., VI.. T., p. 377, n. 1.36.

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II. Werinher von Tegernsee etc.

■f*

21

Jeuer ersterwähnte Brief Werinliers ist ebenfalls noch aus der Zeit
Kourads. Er ist an den Prior und den Convent von Tegernsee gerichtet
und aus einem fremden Kloster geschrieben, was, wenn wir einen der fol-
genden Briefe damit vorbinden, das. Kloster St. Peter zu. Salzburg gewesen
zu sein scheint, Werinher wurde daselbst,- aus uns nicht näher bekannten
Gründen, zurückgehalten. Dieser Brief, in drangsalvoller Stimmung ge-
schrieben, lautet also:

„Dem ehrwürdigen Prior R. und dem hochverehrten Convente des
heiligen Quirinus entbietet der arme und geringe W. mit innigsten Ge-
l)eteu so ergebenen, wie schuldigen Gehorsam.

„AVeun es auch scheint, dass ihr, Väter und Herren, mein kleines Da-
sein wie eine Fehlgeburt, die aus dem Schoosse der Mutter ausgestosseu
wird, schon seit langer Zeit aus den Eingeweiden eurer Frömmigkeit von
euch gethan habt; so wollet ihr dennoch sonder Zweifel erkennen, dass
mein Herz mit euch Allen, durch das unauflösliche Band einer natürlichen
lind wahren 1/iebe, auf das Engste verbunden ist. Ich selbst erfreue mich
bis jetzt, durch Gottes Gnade, glücklicher Erfolge; aber dass der Blick
eurer Erhabenheit mir, wie es wohl billig wäre, in keiner Weise zugewandt
ist, srlimerzt mich tief. Denn von mehreren Seiten ist mir berichtet wor-
den , dass ihr mich nicht in so freundlichem Andenken habt, wie es doch
sein sollte, gleich als ob ich die Aufträge, ja die Befehle und die weisen
Mahnungen eurer Gesandtschaft gering achtete und zu meiner Mutter, das
heisst: zur Tegernseeischen Kirche, der ich doch geweiht bin und der ich
es schuldig bin, dass icli lebe, durch deren Milch ich auch von der frühe-
sten Kindheit an erzogen bin, zurückzukehren mich weigerte. Wenn ihr
dies jedoch nach eurer Einsicht sorglicher betrachten wolltet, so werdet ihr
gegen mich vielleicht nicht also zürnende Gedanken behalten, da ich unter
allen Umstünden eurer Erhabenheit Schüler bleibe und schon längst zu dem
Orte meines ersten Eintrittes in den klösterlichen Stand zurückgeltehrt
wäre; aber ich kann es nicht. Denn wenn ich, die Flucht ergreifend, zu
euch zurückkehre, so werde ich uuserm Ruhme beiderseits einen schänd-
lichen Makel anheften. Wenn ich aber durch mich selbst die Erlaubniss
zu erhalteJi versuche, so vermag ich in keiner Weise, wie ich durch die
l':rfahrung gelernt habe, weder den Abt noch die Congregation zur Gewäh-
rung meines Wunsches zu bewegen. Dies und Aehnliches könnt ihr durch
euren Bruder Per., den ihr allein zu mir sandtet (denn wenn ihr noch sonst
einen geschickt iiaben solltet, so weiss ich nichts davon), durch ihn, sage
ich, könnt ihr es vollständiger in Erfahrung bringen, falls ihr der brüder-
lichen Liebe, die ihr mir sonst erwiesen habt, noch gedenken wollt. Aber
weil ihr, wie ich höre, sagt, dass ihr so vieler Mühen für mich überdrüssig
seid, so wage ich es von eurer Heiligkeit, da ihr mich einen Unwürdigen
und Undankbaren scheltet, nichts mehr zu hoilen. Und doch halte ich ef5
■ures Mitleidens nicht für unwürdig, für denjenigen thätig zu sein, dem nur
das
idem velle et idem nolle am Herzen liegt und der, Avenn euch Trauriges
zustossen sollte, was nicht geschehen wolle, abwesend mit dem Leibe, aber
l)ci euch mit dem Geiste, in Wahrheit mit euch leiden wird"»).

Werinher empfing hierauf das folgende Schreiben:

^Der Convent, welcher in Tegernsee in Christo versammelt ist, entbie-
tet dem Bruder W. seine brüderliche Liebe,

') Po/.., VI.. II., p. 20. n. 1,

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22 Bilderhaadschrilten des Mittelalters.

„Wir habeu, durcli Mitgefühl bewogen, deiuer Brüderliilikeit zu
schreiben beschlossen und Avir sind dazu auch durch deine Erfolge in den
Wissenschaften bewogen worden, Avährend uns dein Abfall von uns in jeder
Beziehung bestürzt gemacht hat. Weil wir aber, deine Rückkehr erwar-
tend, vernommen haben, dass dies auf keine Weise durch ~dich geschehen
könne, so ist es unsre Absicht, dich, weil du unser Bruder bist, zurückzu-
rufen. Wie jedoch dies Geschäft zu behandeln ist, lass uns aufs Schleu-
nigste durch den Ueberbringer dieses schriftlich
wissen, denn unser Herr,
der Abt, ist Willens, es nach Gebühr zu fordern, keinen aber deinethalb
demüthig zu bitten" ^J.

Es mag sodann ein nachdrückliches Schreiben des Abtes von Tegern-
see an das Kloster, welches den Werinher zurückhielt, erfolgt sein und die
Sache zu dem erwünschten Ziele geführt haben. Ein Schreiben der Mönche
von St. Peter zu Salzburg ist allem Anschein nach dasjenige Actenstüok,
welches den Schluss dieser Verhandlungen, so weit sie vorhanden, ausmacht.
Wir fügen auch dies hinzu:

„Dem ehrwürdigen und mit aller Ehre zu umfassenden Herrn, dem
Abte Konrad, und seinen Söhnen in Christo, -welche unter den Feldzeichen
des heiligen Quirinus kämpfen, entbietet die arme Heerde des heiligen
Petrus die Aufrichtigkeit des Gebetes und die Wahrheit des Gehorsams.

„Dieweil ihr ein Name dessen, was das Rechte ist, und, zum Zeugniss
der Frömmigkeit aller Orten, Christi ein guter Geruch seid, freuen wir
uns, und dass euch nichts Widriges von den Winden des Nordens anhauche,
dagegen kämpfen wir mit allen Kräften. Denn in den Zweigen der Liebe,
in denen ihr gegründet steht, sind auch wir beschlossen, uud weil wir in
dem Unsrigen das Geringere haben würden, sorgen wir mehr um das Eure,
als um das Unsrige. Wir senden eucli diesen euren Bruder, der aber auch
der unsrige ist, denW., in der Abwesenheit des Herrn Erzbischofes und
unseres ehrwürdigen Abtes, von denen wir ihn zur Bewaluung empfangen
haben, sorgenvoll und fast neidvoll zur Stunde zurück, und wir würden
ihn nicht zurücksenden, nur dass wir glauben, dass er oline Säumen zur
Herrschaft eurer Väterlichkeit wiederkehren müsse. Er aber, demüthig und
sehr ehrenvoll bei uns wohnend, hat uns durch seinen Umgang und sein
Wissen uud seine Werke dargethan, welches die Zucht seiner eigenen
Brüderlichkeit sei, und hat aucli die erfreulichste Freundsciiaft zu seinem
Kloster unsern Herzen eingeprägt"-).

Näher ist, wie schon bemerkt, die Ursache der Misshelligkeit, um die
es sich in diesen Briefen handelt, nicht angegeben. Doch erkennen wir
daraus — wie schon im Allgemeinen ihr Klang uns in die Eigenthümlich-
keiten des klösterlichen Lebens jener Tage zurückführt — in Werinher
einen jungen reichbegabten Mann, dessen Besitz diesem oder jenem Kloster
nicht gleichgültig war, der aber auch, im jugendlichen Drange, ein wenig
zu sehr seine eignen Wege gegangen sein mochte und dem es nicht erspart
blieb, sich durch strenge Erfahrungen für das Leben zu stählen. Jugend
und dichterische Wärme mögen ihm auch, wie diese bedenklichen Veriiält-
nisse, so jene Ungelegenheit bereitet haben, durch welche sein oben be-
zeichnetes Schreiben an den Abt Konrad veranlasst war. Ist uns doch

Pez., VI., II., p 56, d. 94. — „Operibus declaravit.'' Unter Opera sind
hier, nach der Schreibweise der Zeit, künstleriscLe Werke zu verstehen.— Pez.,
VI., I., p. 374, n. 132,

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II. Weriulier \od Tegernsee etc. 23

selbst eiue, eiuem Mönche nicht eben völlig zukommende Uebung in der
Abfassung von Liebesbriefen, von seiner Hand, erhalten. Hievon w^ird
Aveiter unten die Rede sein, —

Werfen wir nunmehr einen Blick auf Werinhers Wirksamkeit and seine
I.eistungen, so erscheint auch er uns zunächst als ein Mann klassisch ge-
lehrter Bildung. Er spricht sich gelegentlich darüber aus, dass man, um
einen guten lateinischen Styl zu schreiben, nicht den barbarischen Vorschrif-
ten des Mönches Albericus, den der Bischof Benno von Meissen als den
beredsamsten Mann seiner Zeit geschildert hatte, folgen, sondern sich nach
Priscians grammatischen Institutionen und nach Cicero, Macrobius, Sallust
und Terenz bilden solle Auch bittet ihn ein Mönch aus Benedictbeuern,
ihm die Glossen zum Macrobius und Virgils Georgica zuzuschicken 2).

Er selbst hatte eine Poetik, eine Lehre des Verskampfes (Regulas
Rhythmimachiae) geschrieben '') und sich als lateinischer Dichter besonders
durch ein umfassenderes dramatisches Gedicht — freilich nicht in antiker
Form, sondern nach zeitgemässer Weise in Reimversen— ausgezeichnet. Dies
ist das Osterspiel von der Zukunft und der Vernichtung des
Antichrist
(liidiis de adventu et interitu Äntichristi)*), als dessen Ver-
fasser er wenigstens mit grösster Wahrscheinlichkeit bezeichnet wird. In-
dem das Spiel besonders auf die Darstellung grosser festlicher Aufzüge und
Kämpfe berechnet ist, geht die Handlung nur in einfachen, doch nicht selten
grossartigen Zügen vor sich und giebt zugleich mit wenig Strichen ein Bild
der Zeitverhältnisse. Es besteht aus drei Theilen; der erste dient zur Ver-
herrlichung des Kaiserthums (ein Umstand, der, wie sich unten näher er-
geben wird, auch für Werinher als Verfasser spricht). Zuerst treten auf die
symbolischen Figuren des Heidenthums, der jüdischen Synagoge und der
christlichen Kirche, nebst dem römischen Kaiser und den andern Königen.
Der Kaiser verlangt, dass alle Könige ihm unterthänig sein und Tribut
zahlen sollen. Aus den Worten seines Gesanges kann man ungefähr den
damaligen Begriff des Kaiserthums kennen lernen; sie beginnen:

Sicut scripta tradunt historiographorum,
Totus mundus fuerat flscus Romanorum.
Hoc primorum strenuitas elaboravit,
Sed posterorum desidia dissipavit.
Sub bis Imperii dilapsa est potestas.
Quam nostrae repetit potentiae majestas.
Reges ergo sInguli prius instituta
Nuuc Romano solvent Imperio tributa.
Sed quod in militia valet gens Francorum,
Armis imperio rex serviat eorum.

Frankreich, welches sich weigert, wird in einer Schlacht überwunden
und muss den Vasalleneid leisten. Die andern Könige unterwerfen sich
ohne Kampf. Dann kommt der Antichrist, der die Völker durch Ueberre-
dung, Geschenke oder Gewalt — die Deutschen aber, nachdem seine Ge-
schenke von ihnen verworfen und sein Heer von ihnen in der Schlacht be-
siegt worden, nur durch den Trug falscher Wunder — an seine Göttlich-

»j Pez., VI., I., p.265. — Fez., VL, IL, p. 55, n. 93. — Ebenda,
n. 92. — Herausgegeben bei Pez., II., III., p. 185 ff. Vergleiche das Programm
von J. G. V. Engelhardt über das Osterspiel, Erlangen, 183L

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24 Bilderhandscliriftoti des Mittelalters.

keit glauben macht und ihnen den Eid der Treue abnimmt. Er verfolgt
die Kirche und tödtet die heiligen Propheten. . Aber plötzlich schlägt ihn
ein Blitzstrahl nieder, die Seinigen entfliehen, und die Könige und Völker
wenden sich wieder zur Kirche.

Mit Werinhers deutschem Gedichte vom Leben der Maria ist dies
Osterspiel nicht wohl zu vergleichen, da gerade das lyrisclie Element, das
in jenem besonders bedeutend ist, hier keine Stätte gefunden hat. Nur
etwa der Gesang der Propheten ■ dürfte als Parallelstelle aufzuführen sein.
Er lautet:

Verbum. Patris habens divinitatein
In Vlrgine sumpsit humanitatem,
Maneiis Deus effectus est niortalis
Semper Deus effectus est temporalis.
Non Naturae usu sie testante
Hoc factum est, sed Deo operante.
Nostram sumpsit Inürmitatem,
Ut intlrmis conferret flrmitatem.
Hiinc Judael mortalem cognoveruut,
Inimortalem quem esse nesclerurit.
Nec sermoni, nec signis credidere:
Sub Pllato Christum cruciflxere.
Moriendo mortem mortiflcavit,
A Geheuna credeiites liberavit.
riic surrexlt, vere non moriturus,
Regiiat
Semper, in proximo venturus.
riic saeculum per ignem judicabit,
Universos in carno suscitabit,
A reprobis salvandos separabit,
Malos damnans bonos gloriflcabit.

Die Handschrift, welche das Osterspiel enthält, ist von Werinhers eig-
ner Hand geschrieben '). Auf dasselbe folgt darin ein lateinisches Früh-
lingsgedicht, ein
Carmen vernale, auch wohl von ihm, das, freilich in
ziemlich spielender "Weise, die Stimmen von allerlei Thieren nachzu-
ahmen sucht. — Unter den Briefen, die dic.selbe Handschrift enthält,
findet sich ferner ein Liebesbrief, von einem Mädchen an den Gellebten
gerichtet, lateinisch, mit eingereihten deutschen Versen, dessen Abfassung
von den Sprachforschern ebenfalls dem Werinher mit Zuversicht zugeschrie-
ben wird. Wir geben den Schluss dieses ergötzlichen kleinen Stückes,
nach der Schreibweise der Handschrift: — ^Friunt, volge miner lere: div
nemach dir gescaden nieth: wände wärest du mir nieth liep,
ego pennitte-
rem te currere in uoraginem, ut ita dicain, ignorantie et cecicatis.
Des ne
bist abe du nieth wert,
quia in te sunt fvuctus honoris et honestatis. Ih ha-
bete dir wol mere gescriben, niv wan daz du bist also wole getriben,
qiiod scis colligere de paueis. Statich unde salich du iemer sis."

Das Hauptwerk Werinhers, welches ihn als Dichter und als Künstler

Ii.

P
r
It

Die Handschrift ist aus der Bibliothek von Tegernsee in di«i königl.
Bibliothek von München übergegangen. Sie enthält ausser dem Osterspiel auch
die im Obigen mitgetheilten Briefe und Andres. Vergl. über sie das ebön er-
wähnte Programm Engelhardts, p. 21, f.

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II, Werinher vou Tegernsee etc.

25

zugleich auszeichnet, ist sein episches, mit Bildern versehenes Gedicht vom
Leben der Maria. Hierüber wird weiter unten das Nähere folgen. —
Sonst werden auch noch andre Gedichte von ihm aufgeführt').

Die Bilder einer Biblia Pauperum, welche sich in Tegernsee befand,
glaubte man ebenfalls als eine künstlerische Arbeit Werinhers bezeichnen
zu dürfen, der grossen Aehnlichkelt zufolge, w-elche sie mit den Bildern im
Leben der Maria hatten^).

Endlich erscheint "Werinher, wie in andern Wissenschaften, so nament-
lich auch in der Geographie erfahren. Er verfertigte unter Anderm eine
Karte, wozu ihm Rupert auf Bitten eines Freundes die nöthige Unterstützung
angedeihen Hess

In seinem Alter sehen wir ihn den friedlichen Geschäften des Garten-
baues hingegeben. Er legte Gärten mit nützlichen, heilbringenden und
wohlriechenden Kräutern, wie in Tegernsee, so auch in Benedictbeuren an.
Wir ersehen dies unter Anderm aus einem an Werinher gerichteten Briefe,
der im Uebrigen zugleich ein wahrer Panegyrikus auf die Fülle seiner
AVeisheit und seiner Tugenden ist und uns eine Andeutung giebt, Avie er,
nach jenen Stürmen seiner jungen Zeit, sich das höchste Gut geistiger
Ruhe zu eigen gemacht hatte. Es mag, in diesem Betracht, genügen, den
Anfang des Briefes folgen zu lassen: —

„An W., den liebenswürdigen Philosophen Christi und den gelehrtesten
Kämpfer des lorbeerbekränzten Heerführers Quirinus, von F., dem untersten
der Brüder des heiligen Benedictus und dem unwürdigen Schüler seines
Vaters.

„Wenn wir uns auch freuen der Tugend und der Weisheit Gottes in
dieser glückseligen Congregation und in dem liebevollen Beisammensein
der Freunde, so ist unser Liebstes doch die besondre Süssigkeit des Bun-
des mit Dir, gelehrtester Meister, dessen starkes Gebet, nach unsrer Zu-
versicht, auch für uns das Meiste gelten wird und von dem wir, treulicher
als von zahllosen Freunden, Alles hofl'en. Denn es herrschen in Dir, der
Du der Schrein des himmlischen Geldes bist und der Tugenden sorglichste
Amme und Hüter, evangelische Demuth und deren Wurzel, vollkommene
Liebe, von denen entsprossen sind die beiden Zwillingsschwesteni, die auf
Deinen Weg kamen und bei Dir blieben, Erbarmen und Wahrheit, Sie
umfassest Du, geraden Schrittes zum Centrum der Glückseligkeit emporstei-

1) Eccardi catechesis Theotisca, pag. 112. — Günthner, a, a, 0. S. 369.
— ■■') Pez, IV,, IL, pag. 55, n. 92, Günthner (S. 298) hält diese Karte für die
sogenannte Peutinger'scbe Tafel und giebt dafür seine Gründe an. Mannert in
seiner Ausgabe derselben
{^Tabula Itineraria Peutingeriana, primum aeri incisa
et ed. a Fr. Chr. de Scheyb 1753, denuo cum codice Vindoboni collata, emen-
dala et nova C, Mannerti inlroductione instructa studio et opera Academiae lit.
reg. Monacensis, TApsiae 1824)
übergeht Giintliuers Angabe mit Stillschweigen
lind sagt nur fS. 21), der Verfertiger sei ein nicht weiter bekannter Mönch des
13. Jahrhunderts. Die drei menschlichen Figuren, welche hier bei der Darstel-
lung Ton Koma (Segm. V.), von Constantinopolis (Segm. VIII.) und von An-
tiochia (Segm. X.) vorkommen, sind in dieser Ausgabe zu ungenau wiederge-
geben, so dass sich über den Styl der Zeichnung keine nähere Bestimmung
fassen lässt. Die Form der Kronen jedoch, die sie tragen, ist minder einfach,
als die in den Bildern des Lebens der Maria und erinnert in der That mehr
an das 13. Jahrhundert. Auch sind die vorkommenden Bäume, die zwar sehr
klein gezeichnet sind, nicht stylisirt, was bei Werinher stets der Fall ist.

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2Ü Bilderhaadschrit'ten des Mittulalters.

geud und nicht der aufblähenden Wissenschaft, sondern der auferbauenden
Liebe zuschreitend, mit wahrem Herzen in des Glaubens Fülle." U. s.
av. i).

Im Jahre 1197 scheint Werinher gestorben zu sein^).

Tegernsee nach Werinher's Zeit.

Der Abt Rupert war schon 1186 gestorben nachdem er noch vom Papst
Urban einen neuen Freiheitsbrief für das Kloster erhalten hatte „Meh-
rere der Gläubigen aber, welche Ruperts Grab besuchten, haben es bekannt,
dass sie an demselben Genesung von körperlichen Uebeln gefunden haben*)."

Abt Manigold, der 1189 gewählt war, erhielt von Kaiser Heinrich VI.
eine neue Bestätigung des Freiheitsbriefes, den Friedrich I. dem Kloster
gegeben'). Unter ihm brachen wieder Unruhen und Kriege über das Land
herein, und auch Tegernsee ward von den Flammen verheert. Sein Nach-
folger, der Abt Heinrich L, dem Friedrich IL denselben Freiheitsbrief
bestätigte und der die Schutzherrschaft des Klosters au Kaiser und Reich
übertrug"), hielt dasselbe lange Zeit (er war Abt von 1217—1242) in gutem
Stande. Doch unter seinen Nachfolgern gerieth es durch schlechte Wirth-
schaft allmählig in Verfall; äussere Umstände traten hinzu, welche den
Einfluss dieses Klosters, wie der meisten Benediktinerklöster auf geistige
Kultur, wo nicht aufhoben, doch bedeutend verringerten.

Denn wenn im Innern der Klöster mit dem dreizehnten Jahrhundert,
— insbesondere wohl durch die grössere Bereicherung, welche ihnen die
Kreuzzüge brachten — an die Stille des wissenschaftlichen Eifers eine Menge
unnützer religiöser Ceremonien trat, so bildete sich dagegen in den Städten
die sich nunmehr erhoben, ein dritter Stand, der Kunst und "Wissenschaft
nicht wie ein todtes Erz in verschlossenen Zellen aufbewahrte, sondern
dieselben ausprägte, damit sie auch im Leben selbst Geltung bekämen.
Es bildete sich gleichzeitig, im Gegensatz gegen den Beucdiktiner-Orden,
ein neuer geistlicher Orden, der der Franciskaner, dessen Absicht es war,
sich dem Leben des Volkes anzuschliessen. Es entstanden endlich in den
Städten selbst hohe Schulen, so dass auch der Besuch der Klosterschulen
mehr und mehr abnahm.

Weiinher's Gedicht vojn Leben der Maiia.

t:

t"'

Ii!:

Das deutsche Gedicht des Werinher vom Leben der Maria, dessen
mit Bildern verzierte Handschrift sich in der Bibliothek des Herrn von
Nagler zu Berlin befindet), ist bereits im Druck erschienen"). Die der
Herausgabe beigefügten Kupfer enthalten keins der interessanteren Bilder.

Das Gedicht besteht aus drei Gesängen. Werinher nennt sich im An-
fang des zweiten Gesanges:

>) Pez., IIL, III., pag. 643, n. 13. — 2) Gürithner, a. a. 0., S. 302. — s) Man.
Boic.,
VI., pag. 189.— *) Pez., III., III., pag. 521.-5) Bote., VI, pag. 195.

— ®) Ebenda, pag. 205. — ') Gegenwärtig in der königl. Bibliothek zu Berlin.

— *) Werinher, eines Geistlichen im XII. Jahrhundert, Gedicht zur Ehre der
Jungfrau Maria. Herausg. von Oetter. Nürnberg und Altdorf, 1802. Vgl.: Von
der Hägen und Büsching: Lit. Grundriss zur Geschichte der deutschen Poesie.
Berlin, 1822, S. 251. Hoffmann, Fundgruben, I. S. 242.

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II. Werinlier von Tegernsee etc. 27

Der Pfafife heisset Werriher,
Der des Liedes begann ... /-
Der ist auch von Christo
Zu einem Evangelisten
Gesegnet und geweihet. '

Evangelist bedeutet — im Gegensatz des Epistlers — einen Diaconus,
dessen Amt es vi'ar, das Evangelium zu verlesen und zu erklären. Auch giebt
er am Schlüsse des Gedichtes genau die Zeit der Abfassung desselben an:
Da die Zeit des Schisma
Dreizehn Jahre bestanden war
Bei dem Papst Alexander,
Dass die drei andern Herren
Ihm bestritten den Stuhl,
Dass er führerlos fuhr
Auf dem Land und auf dem Meero
Mit gar geringem Heere;
Da die römischeii Reiche
Stunden gewaltiglich
In des Kaisers Friedrichs Hand
Und er Polen das Land
Bezwang mit Heerfahrt,
Da ihm Gott Sieg gewährte,
Da wurden die Lieder alle drei
Gedichtet unter dessen.

r

Dies ist das Jahr 1173, iu welchem Friedrich I. einen Zug nach Polen
machte'). Denn obschon das Schisma^bereits 1159 begonnen hatte, so
waren doch erst zu Anfang des Jahres 1173, als der Dichter diese Notiz
niederschrieb, dreizehn Jahre verflossen, weil nemlich die "Wahl Alexan-
ders III, und seines Gegenpapstes Victor II. erst gegen das Ende des Jahres
1159 vor sich gegangen war.

Weitere Angaben über den Dichter sind uns zwar nicht gegeben; doch
dürfen wir nicht zweifeln, dass derselbe mit jenem Scholasticus Werinher
von Tegernsee ein und dieselbe Person sei, da man sich, wie wir bereits
oben gesehen haben, in Tegernsee mit der nationeilen deutschen Poesie
beschäftigte; da sonstige poetische Arbeiten Werinhers, selbst eine Art
Anleitung zur Poesie von ihm vorhanden sind, uns aber von einem andern
oberdeutschen Dichter Wernher zu dieser Zeit nichts bekannt ist; da in
den gleichzeitigen Tegernseer Manuscripten selbst eines Diaconus Werinher
Erwähnung geschieht; und da endlich der Dichter des Lebens der Maria
die bei der damaligen Kirchenspaltung gewiss höchst seltene Ansicht des
Abtes Rupert von Tegernsee zu theilen scheint, der, wie wir sahen, dem
Papste Alexander in kirchlichen, dem Kaiser in weltlichen Dingen gleich
treu ergeben war und mit beiden befreundet blieb; denn er giebt in den
angeführten Schlussversen nur dem Alexander, nicht dessen drei Gegnern,
den „drei andern Herren," den Titel des Papstes; und spricht zugleich mit
hoher Aclitung vom Friedrich 2).

') Gode/ridi, monaclii S Pantaleonis apud Colon. Ayripp, annales bei Fre-
her, Si-ript. Rer. Germ. 1.,
p. 833. Vergl. v. Bünau, Leben und Thaten Fried-
richs I., S, 222. — «) Ebenso, wie auch der Dichter des Osterspiels die kaiser-
liche Macht hoch verehrt.

1

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28 Eiklerliaiidsclirifteii des Mittelalters.

Dass die in unserer Haiidsclirift eiitlialteuen Bilder von dem Dichter
selbst herrühreu (oder wenigstens, wie wir unten selten werden, Copien
der seinigen sind), unterliegt noch weniger einem Zweifel. Es sind im
Obigen Beispiele zur Genüge beigebracht, wie in jenem Zeitalter die ver-
schiedenen Richtungen der geistigen Production, wissenschaftliche und
künstlerische, sich in einem und demselben Individuum zu vereinigen
pilegten und wie namentlich die Schreiber der Werke sich aucii ihre künst-
lerische Ausstattung angelegen sein Hessen. Ebenso einige bestimmte
Aeusserungen, dass auch Werinher, neben seinen literarischen Verdiensten,
sich künstlerisch bethätigt hatte. Es liegt auf der Hand, dass er die äussere
Zier seines Werkes keinem andern übertragen haben wird, wenn er sie
selbst zu bescliaffen im Stande war. Es ist ferner zu bemerken, dass das
Talent, welches sich in der Mehrzahl dieser Bilder ausspricht, wenn sich
dasselbe aucli noch nicht hinlänglich frei zu bewegen vermochte, doch dem
eigenthümlichen poetischen Schwünge des Gedichtes sehr wohl entspricht.
Es ist endlich noch, als ein Umstand von wesentlicher Bedeutung, hervor-
zuheben , dass diese Bilder nicht, wie in ähnlichen gleichzeitigen Werken,
z. B. in der Handschrift der Eneidt des Heinrich von Veldeck auf der
Könlgl. Bibliothek zu Berlin oder in dem
Ilortus deliciariim der Herrad
von Landsperg zu Strassburg, auf eignen, vom Texte gesonderten Blättern
oder, wie in der Wolfenbüttler Handschrift des Wilhelm von Oranse, auf
besondern Seiten oder, wie in verschiedenen Handschriften des Welschen
Gastes und in den Heidelberger Fragmenten des Wilhelm von Oranse auf
dem Rande der Seite gezeichnet sind, so dass sich hier überall die Ar-
beiten des Schreibers und des Zeichners trennen-, sondern dass sie den
Text, zuweilen sogar mitten im Satze, unterbrechen, — eine Freiheit,
welche keineswegs eine blosse Zufälligkeit zu sein scheint, sondern viel-
mehr zeigt, wie der Dichter den Punkt, da sich ihm die Handlung zu
einem bestimmten Bilde gestaltete, fest hielt, um das Bild alsbald auszu-
führen 1).

Das Gedieht selbst erzählt das Leben der heil. Jungfrau bis dahin,
wo sie den Heiland geboren hat, was auch die eigentliclie Tiiat derselben
ist. Es zerfällt, wie bemerkt, in drei Theile, von denen der erste die Ge-
schichte ihrer Geburt nach langer Unfruchtbarkeit ihrer Mutter Anna, der
zweite die Geschichte ihrer Yerheirathung mit Joseph und die Verkündi-
gung, der dritte die Trübsale, die sie wegen ihrer unerklärlichen Schwan-
gerschaft erlitten hat, die Geburt des Herrn , die sieben grossen Zeichen
bei dessen Geburt, die Flucht nach Aegypten und die Heimkehr enthält.

Was den Ursprung dieser Geschichte betrifft, so sagt Werinher, dass
Matthäus dieselbe zuerst in hebräischer Zunge geschrieben habe, von wo
sie durch S. Hieronymus auf den Rath des Chronuitius und Heliodorus
übertragen sei:

In das sanfte Latein:

Uas Wasser ward da zu Wein,

Die Milch verwandelt sich in das Oel.

Da er uns schrieb also wohl,

') Anf dieselbe Weise unterbrechen auch die Zeichnungen der Heideiberger
Handschrift des Rolandliudes vom Pfaffen Chunrat den Text, so dass auch dieser
zugleich als der Zeichner zu betrachten sein dürfte.

Uta

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II. Wcriiilior von Tegernsee etc.

Darauf habe or die (iesdiirlite in ileutsclie Rede übertragen, damit
Alle, die Gottes Kinder sein w ollen, auch die Laien nnd Frauen, dieselbe
lesen möcliten ; doeli erklärt er sich, seiner sündigen Bürde wegen, für
uinvürdig, von der reinen Königin zu sprechen, und wagt es nur im Yer-
trauen auf die Gnade Gottes, welcher, der Annen wegen, als ein Mensch
von sündlich raensclilicliem Leibe geboren worden sei.

Der epische Theil des Gedichtes, welcher durch jene Eintheilung in
drei l^ieder eine feste geschlossene Gestalt erhielt und das Interesse mit
der vorschreitenden und sich allmälüig lebendiger-entwickelnden Handlung
mehr und mehr in Anspruch nimmt, wird zuweilen, und zwar besonders
in den vorderen Theilen, wo die Handlung eben noch minder bewegt ist,
durch lyrische Stellen unterbrochen, in welchen uns die Persönlichkeit
des Dichters auf eine liebenswürdige Weise entgegentritt. Eine hohe Be-
geisterung für die Königin des Himmels, welche die Braut und die Mutter
Gottes ist und der die Engel dienen, ein andächtiges Staunen vor dem
göttlichen Geheimniss der unbefleckten Empfängniss, zugleich aber eine
lu^ilige Scheu vor dessen Erforschung und eine tiefe Demuth vor ihrer
Reinheit, wodurch sie die Schuld der Eva gesühnt hat, tritt uns hier'ent-
gegen, in alle dem aber eine solche Innigkeit und ein so vertrauenvolles
Hingeben , dass uns' der Mariendienst des Mittelalters dadurch in seiner
ganzen Lieblichkeit entfaltet wird.

Dass aber der Dichter nicht zu denen gehört, Avelche in mönchischer
Abgeschlossenheit und Entäusserung alles menschlichen Gefühles das höchste
Ziel ihrer Bestimmung fanden, sondern dass sein Gedicht, Jener lebenvollen
Zeit gemäss, frisch auf dem Grunde des Lebens erwachsen ist, beweist
nicht nur die Innigkeit, Avelche das Ganze durchdringt, sondern auch im
Einzelnen eine Reihe kleiner Züge, die ein warmes Gefühl für die umge-
bende Natur und die Verhältnisse des Lebens andeuten und ihm fasst un-
bewusst entschlüpft zu sein scheinen. Und fast noch mehr beweisen dies
diejenigen Stellen, in denen er sich der Poesie des Volkes gegenüberstellt,
dadurch aber zugleich darlegt, wie seine eigene poetische Bildung eben
auf dem Grunde der letzteren beruht. So heisst es im Anfang des ersten
('csanges:

Das Panier, das gute.
Das eingebunden ruhte,
Entrollt nun ward es gebracht
Zu der Heeresmacht,
Dass die christliche Schaar
Gesammt musste eilen dar.
Zum geistlichen Sturm
Gegen den Lindwurm,
Da der Sieg zu kämpfen war.

So im Anfange des dritten Gesanges;

Wie die Ritter zur Fahne

Stark müssen siegen

In allen Kriegen,

So sollen wir zu dem Sterne

Zuflucht haben gerne.

Der das christliche Heer

Britiget über der Sorgen Meer,

25J

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30 Bilderliaiidschriften des Mittelalters,

Aus des Teufels Bauden
Zu den Ireudereichen Landen,
Da Gott selbst ist die Sonne,
Ist der Tag, ist die Wonne,
Die kein Dunkel schändet
Und die sich nimmer wendet. —

Wir gehen jetzt über zu dem Aeussern der Handschrift, worin uns
das Gedicht aufbehalten ist, und zu den Bildern, die dasselbe zieren.

Die Handschrift des Gedichtes.

Es ist eine Pergamenthandschrift in Itlein Quarto, 91 Blätter, 23 Zeilen
auf jeder Seite. Die Schrift zeigt eine kleine, etwas breite und ziemlich
vollendete neugothisohe Minuskel, welche wir nicht gut vor den Anfang
des dreizehnten Jahriuinderts setzen dürfen. (Hieraus ergiebt sich schon,
dass diese Handschrift nicht Original sein kann.) Die drei Gesänge fangen
mit grossen buntgemalten Anfangsbuchstaben an, die Absätze mit kleineren
rothen; sonst finden sich keine grossen Buchstaben. Die Reime sind nicht
abgesetzt, sondern nur durch Punkte bezeichnet; eine weitere Interpunk-
tion ist nicht vorhanden.

Die Bilder, deren 85 sind, nehmen zumeist ein wenig tlber die halbe
Seite ein. Die Gegenstände sind mit Umrissen von schwarzer und rother
Farbe gezeichnet; diese verschiedenen Farben wurden angewendet, theils
um das Nackte (welches immer mit schwarzen Umrissen gezeichnet er-
scheint) von den Gewändern, theils um die verschiedenen Gewänder selbst,
namentlich bei gedrängten Gruppen, zu unterscheiden M. Hi5chst selten,
und besonders nur in den ersten Bildern, ist ein Tlieil derselben mit einer
andern Farbe ganz ausgefüllt. Häufig kommt Gold in Heiligenscheinen,
Kronen, Mützen, Säumen, Silber in Waffen und andern Geräthen vor. Der
Grund des Bildes dagegen ist farbig ^J: ein blaues Viereck, eingeschlossen
von einem grünen Rahmen , und zwischen beiden ein schmaler weisser
Streif; nur einige Male kommt hier rother Carmin vor. Das Ganze wird
abermals umfasst von einem halb goldnen, halb silbernen Rahmen.

In den Gesichtern sind die Unterlippe durch einen rothen Strich, die
Backen durch rothe Flecke bezeichnet.

Den dargestellten Personen sind ihre Reden häufig in langen Bändern
mitgegeben, welche sie in der Hand halfen. Diese Reden sind, wie der
Text, in Versen, doch nicht aus diesem entlehnt und von andrer Hand
geschrieben.

Text und Bilder sind sehr wohl erhalten; die Farben, besonders das
lichte Zinnoberroth der Umrisse, in vollkommener Frische. Silber und Gold
sind als Blättchen aufgelegt; das Gold ist gut erhalten, das Silber nach-
geschwärzt.

Das Buch hat nicht mehr den alten Einband. Die Blätter sind bei dem
zweiten Binden, um sie zu vergolden, neu beschnitten worden, wodurch

|;r

') Andere gleichzeitige Miniaturen sind zuweilen in Umrissen von noch
mehreren Farben gezeichnet. — So dass eine gewisse Aehnlichkeit mit jenen
antiken Vasenmalereien entsteht, bei denen die Figuren auch nur durch Umrisse
angedeutet, der Grund dagegen mit einer dunkeln Farbe ausgefüllt wurde.

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UPfi

II. Weriuher von Tegernsee Ptc.

auf dem zweiten Blatte von der Ueberschrift des Bildes, welches das Ur-
theil des Salomon vorstellt, das erste Wort weggeschnitten und nur noch
das Wort SALEMONIS stehen geblieben ist. Auf dem neuen Deckel von
braunem Leder ist auf jeder Seite ein doppelter Adler mit der kaiserlichen
Krone mit Gold aufgedruckt. Diese Krone gleicht derjenigen, mit welcher
Kaiser Karl IV. auf Münzen und sonst abgebildet wird: woraus hervorgeht,
dass das Manuscript wahrscheinlich einst einer kaiserlichen Bibliothek an-
gehörte. Vor seinem jetzigen Besitzer gehörte es dem II. v. Senckenberg,
der es aus dem Schilter'schen Nachlass mit dessen sämmtlichen Schriften
gekauft hatte i).

Der Text, wie wir schon oben sahen, sowie die Bilder sind Copie,
was sich auch aus manchen Irrthütnern in Schrift und Zeichnung nach-
weisen lässt. So heisst es ira Text:

Oett. S. 163, 7, — Cod. Bl. 62 a-, 15.

z ei sei' statt cheiser.
Oett. S. 216, 8, — Cod. Bl. 86 a., 4.

des frote sih diu maget mit dem alten.

daz er schölte. .• . .

daz unschuldige Christes Mut.

(fehlt der Reim, vermuthl.: behalten.')

Und verschiedener anderer Beispiele mehr.

So heisst es ferner in den Spruchversen der Bilder: beim Bilde 9 (Oett.
Fig. 4 zu S. 35), wo Joachim, der Vater der Maria, traurig, weil ihm Gott
Nachkommenschaft versagt zu haben scheint, zu dem Engel, den er nicht
kennt, spricht:
lierre da bin ich ein suntich man. dem .... dehein^ frode
gan.
Hier fehlt in der durch den Nimbus des Engels unterbrochenen Vers-
zeile ein Wort, vermuthlich:
got. — Beim Bilde 31 (zu S. 104 bei Oett.),
Avo Maria zu ihren Gesellschafterinnen, die sich während der Abwesenheit
des Joseph, ihres Gemahls, gegen sie vergangen hatten und, von einem
Engel zurecht gewiesen, knieend um Verzeihung bitten, spricht:
frowen
stet vf vnt lat den nit. d^engel hat gescheiden dem strit,
— statt de7i strit.
Und Anderes mehr.

Auch in den Bildern selbst sind Irrthtlmer, indem Einzelnes, was den
korrespondirenden Theilen zufolge z. B. mit rother Farbe gezeichnet sein
müsste, mit schwarzer gezeichnet ist^ was dem besonnenen Meister schwer-
lich zur Last gelegt werden dürfte.

Wenn wir nun noch den Umstand hinzunehmen, dass in den Spruch-
versen der Bilder eine ältere Handschrift als die des Textes sich zeigt oder
nachgeahmt wird (indem z. B. das lange s am Schluss der Worte hier noch
vorherrscht, was im Text nicht mehr der Fall ist), so ergiebt sich daraus^
dass, obgleich das Manuscript jünger ist als Weriiiher, doch die Bilder
nicht etwa von dem Abschreiber oder von einem Andern, der gleichzeitig
mit diesem wäre, erfunden sind, sondern dass ihnen ältere Originale zu
Grunde liegen, so dass unsere obige Annahme, dass Werinher der Erfinder
derselben sei, dadurch nicht umgestossen, sondern eher nur bekräftigt wird.

') Oettinger in dfir Vorrede, S. VI.

31

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32 Bildcrliaiidschriften des Mittelalters.

Die J3ilder der Handschrift.

Die Bilder stellen, als Beleg zu dem erzählenden Thcile des Gedichtes,
Begebenheiten aus dem oben geschilderten lieben der Maria und ihrer
Vorfahren dar; hier zum ersten Mal in dieser Vollsfändigkeit und Mannich-
faltigkeit und mit derselben Liebe, welche diesen Stoff später zu einem
Lieblingsgegenstande der Künstler des Mittelalters gemacht hat').

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Mi ■

h'
Ii

u

Was nun das Charakteristische dieser Bilder betrifft, so fehlt es bei
den menschlichen Figuren vorerst allerdings an einer sichern Kenntniss der
Verhältnisse und des Ebenmaasses. Die Körper sind zwar nicht zu lang,
^aber um die Hüften meist zu schmal, die Köpfe dagegen meist etwas za
gross und schwer; die Stellungen sind zuweilen so verschoben, dass man,
obgleich das Nackte fast gar nicht vorkommt, doch nur eine geringe Kennt-
niss von der Struktur des menschlichen Körpers annehineu darf; auf der
Darstellung des bethlehemitischen Kindermordes ist indess an den nackten

Dio allgemeine Verbreitung der Marienbilder in den Kirchen findet erst
mit der zweiten Hälfte des dreizehnten Jahrhunderts statt. So beschlossen die
Serviten im Jahr 1233, dass ihre helligen Gebäude mit einem Bilde der Maria
versehen werden sollten. (S.
Archangelo Gianio: Annales Ordints Servorum
B. M. y., T. J., L. 1., c. 7, pag. 23.)
Hierin traten ihnen die Franziskaner
(S.
Wadding, annales ordinis Minorum, »md Greiderer, Germania Franciscana
an mehreren Stellen) und andere Orden bei.

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II. Weriuher von Tegernsee etc..

Köipern der Kinder schon eine gewisse Angabe der Muskeln. Die Ge-
berde des Gesichtes ist häufig, wo es nicht die Darstellung einer hesondern
l.eidenschaft gilt, monoton. Was die Anordnung der Gewänder betrifft,
so s])richt sich in derselben zwar im Ganzen noch der alte byzantinische
Styl aus, doch macht der früher übliche Parallelismus in den Falten schon
einer eigenthümlich eckig gebrochenen Manier Platz. Künstliche Anord-
nung der Gruppen findet hier, wie bei allen "Werken jener Zeit, nicht
weiter statt; die Figuren sind einfach neben und halb hintereinander
gestellt.

Auf der' andern Seite aber sehen wir den Maler in sofern als Herrn
über seinen Stoff, als er überall im Stande ist, seine Aufgabe klar und
deutlich darzulegen und selbst, .was besonders schwierig sein dürfte, das
ffPsenseitige Verhältniss ruhig Sprechender bestimmt auszudrücken. Sodann

(Verkündigung Maria.)

finden wir zuweilen eine nicht unglückliche Individualisirung in den Köpfen,
z. B. in den Köpfen der Hirten, der Kriegsknechte beim Kindermorde, der
Gefangenen, die aus dem Kerker losgelassen werden, u. A. m.

Vorzüglich gelungen, unter Bedingnissen, wie die eben angedeuteten,
sehen wir die Darstellung der Leidenschaften und Affekte, besonders des
Schmerzes; hier nimmt die Geberde des Gesichts, die Haltung des Körpers
wie der A rme und Hände, der "Wurf in den Falten einen grossartigeren
und freieren Charakter an, der sich bis zum ganz Ungewöhnlichen steigert
und ein Denkmal ist von dem kräftigen Geiste des Meisters, der, ob er
gleich noch gebunden war durch jene überlieferten Formen und obgleich
ihm, wie seinen Zeitgenossen, noch eine nähere Kenntni^s von den Ver-

Kueler, Kleine Schrirten. I. 3

33

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Bilderhandsclirifteii dus Mittulalters.

hältnissen des menscliliclien Körpers mangelte, sich doch so frei zu bewegen
im Stande war und auf diese Weise um die Befreiung der Kunst und um
ihre weitere Ausbildung die grössteu Yerdienste hat. Ich erwähne hier be-
sonders einer Darstellung der Verdammten nach einer Vision der Maria,
und einer Darstellung der klagenden bethlehemitischen Mütter Beide,
mit den Mitteln, welche uns gegenwärtig zu Gebote stehen , ausgeführt,
■würden dem grössten Meister nur zum Ruhme gereichen. Nicht minder
glücklich ist der Künstler in heiteren Darstellungen, in welchen sich häufig
eine grosse Innigkeit ausspricht, z. B. in der Darstellung der Seligen nach
einer zweiten Vision der Maria. Hier stossen wir nicht selten auf gar
liebliche Gestalten. Mit besondrer Grazie hat der Künstler die Gestalt
der jungen Maria entworfen; so namentlich in dem Bilde, wo Maria vor den
Bischöfen und Freiern erscheint, nachdem Gott bereits durch das Wunder
mit der Taube ihr Schicksal entschieden hat. Zart und lieblich, wie die
Verse des Textes,

Da stand sie wie die Blume,

Die an der grünen Wiese

Fern sprenget ihren lichten Schein, —

ist hier die Gestalt der Maria vorgeführt.

Und wohl können wir es, im Anblick solcher Bilder, begreifen, wie in
dem ersten Gedichte jener Zeit — dem Liede der Nibelungen — bei der
Schilderung des herrlichsteu Helden im schönsten Momente seines Lebens
folgender Vergleich angewendet ward :

Da Staad so minniglich das Sigemunden Kind,
Als ob er war entworfen an ein Pergament
Von gutes Meisters Künsten. —

Das in diesen Bildern dargestellte Kostüm ist nach der Sitte des Mit-
telalters durchweg das der Zeit, und in den bedeutenderen Punkten über-
einstimmend mit dem im Hortus deliciarum der Herrad von Landsperg

34

Die Männer tragen eng anliegende Hosen, welche meist den ganzen
Fuss bedecken, zuweilen auch — bei untergeordneten Leuten— nur bis an
die Knöchel reichen, so dass sie mit blossen Füssen gehen; zuweilen
kommen, wohl als besondrer Schmuck, auch Halbstiefel vor. Darüber
eine Tunika mit Aernieln, welche nach dem Range, nach dem Staat und
nach dem Bedürfniss (z. B. der Reisenden und KriegerJ von verschiedener
Länge ist. Häufig wird eine doppelte Tunika getragen, von denen zuweilen
die obere gar keine oder nur sehr kurze Aermel hat; zuweilen ist sie an
der Seite aufgeschlitzt und die Borten, besonders unten, häufig mit Gold,
Stickerei und Steinen geschmückt. Der Gurt um die Tunika ist durch das
überhängende Obertheil derselben in der Regel verdeckt. Zuweilen wird
um den Arm ein Ring getragen. Der Mantel besteht entweder aus einem
grossen Stück Zeug, nach Art der Toga, welches meist um den Leib ge-
wunden und um die Schulter geschlagen wird, — was jedoch nur nach
den aus früherer Zeit überlieferten Bildern, wo für Christus, die Apostel

Siehe den beiliegenden Holzschnitt. — Engelhardt: Herrad von Lands-
perg, Aebtissin zu Hohenberg oder St, Odilien im Eisass, im XH. Jahrhundert;
und ihr "Werk
Hortus deliciarum. Mit zwölf Kupfertafeln in Fol. Stuttgart und
Tübingen, 1818.

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II. Werinlier von Tegernsee etc. 35

und Patriarchen und für die Engeldas antike Kostüm beibehalten war,
in die unsrigen eingeführt zu sein scheint; oder er ist kleiner, nur bis
gegen die Knöchel gehend, mit einem kurzen , zurückhängenden Kragen
und mit besonders bezeichnetem Futter

Der Kopf ist meist unbedeckt; als Kopfbedeckung kommen bei den
Hirten und Kriegern runde Hüte mit etwas breiterem Schirm, sonst auch,
bei vornehmeren Personen, kostbare Mützen vor. Auch Reifen und Bänder
werden zum Schmuck im Haar getragen. Die Krone besteht aus einem
breiten goldenen Reif, der mit Steinen geschmückt ist und über der Stirn
ein erhabneres Schildchen hat. Der Scepter ist ein Stab mit einer grossen
Kugel an dem oberen Ende, welche zuweilen wieder zierlich geschmückt
erscheint. Die Beobachtung des gleichzeitigen Costüms geht soweit, dass
die Juden zuweilen in derselben spitzen Mütze erscheinen, welche sie im
Mittelalter zur Unterscheidung von den Christen tragen mussten — Die
Priester tragen entweder eine kegelftirmige Mütze, die etwas höher, als die
sonst gebräuchliche ist, oder sie haben den Mantel über den Kopf geschla-
gen ; auch tragen sie zuweilen die Dalmatica mit den weiten, bis an den
Ellenbogen reichenden Aermeln, unten reich besetzt und an den Seiten ein
wenig aufgeschnitten; zum Opfern haben sie ein grosses Messer mit aus-
wärts gebauchter Schneide.

(f

Die Wappnung des Kriegers, welche hier nur bei der zusammenstür-
zenden Statue des Mars vorkommt, besteht aus einem Kettenhemde mit
Aermeln und Kettenhosen. Der Schild des Mars ist klein, von abgerundet
dreieckiger- Form. Der Helm scheint eine cylinderartige, oben wenig abge-
rundete Form zu haben, mit unbeweglichem Visir, in welchem nur Löcher
für die Augen sind; dagegen im Hortus deliciarum sich nur eine einzelne
Schiene über Nase und Mund von dem mehr kegelförmigen Helme herun-
terzieht. Ueber dem Kettenpanzer liegt eine ärmellose Tunika, welche im
Hortus deliciarum nirgend vorkommt. Das grosse breite Schwert hängt an
einer eigenen breiten Koppel um die Lenden.

Die Enijel werdnn, wie im Hortus deliciarum, in der Gestalt von Jüng-
lingen und mit grossen Flügeln dargestellt. Gegen Ende des XHI. Jahrhunderts
scheint diese Art der Darstellung verlassen zu sein und schon von du ab die
Sitte zu beginnen, die Engel als Kinder zu bilden, wie sifch aus Bertholds, eines
Franziskanermöuchs (f 1272) Teutschen Predigten, hsgbn. von Kling, Ber-
lin 1824, ergiebt, wo es heisst: S. 184:
„Ihr seht wohl, dass sie allesammt sint
junkllche yemalt, als ein kint, daz da fünf jar alt ist, swa man sie malt." —
S. 238 ; „Die sint alter, danne sehzig hundert jar^ und swa man sie malt, da
malt man sie anders niht, danne als ein kint, daz da fünf jar alt ist." —
S, 282 : j^Su malet man die engcle ■— da seht ihr wohl, swa man sie malt, daz
man sie eht anders niht enmaJt, wan als ein kint von fünf jarn, als junklich,
oder von sehsen."
— So wie in dem Hortus deliciarum, S, 79. — ■') Durch
diese Mütze werden sie in den Bildern des Heidelberger Sachsenspiegels (Bl, 12 b,
13 b, 19, 24) bezeichnet. Und wenu im Text des sächsischen Landrerhts selbst
von dieser Auszeichnung nichts steht, so heisst es doch im schwäbischen (349.
XII. 45. 46, — in Schilter's
Thesaurus II. p 154) ausdrücklich: ^,Die Juden
sulen gespitzet hüte tragen in allen steten, da si sint, wan damit sint si uzge-
zaichent vor den Cristen," Durch diese Tracht findet man auch an andern
Orten bei den Darstellungen von Begebenheiten der heil. Geschichte die Juden
bezeichnet. Einen altfranzösischen Psalter aus dem XIII. Jahrhundert, in dessen
Miniaturen derselbe Fall eintritt, hat Docen im Kunstblatt, 1820, Nro. 7(3 be-
schrieben.

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36 Bildcrliaiidschriften des Mittelalters.

In Bezug auf das Reiten bemerken wir nur, dass der Sattel mit den
hohen Lehnen mit zwei Gurten um den Leib des Pferdes befestigt ist.

Neben dem auf dem Tlirone sitzenden König steht in der Regel der
Schwertträger, der das Richtschwert, aufwärts gerichtet, aber in der Scheide
mit um dieselbe gewundener Koppel im Arme hält. Oder der König selbst
hat das Schwert, nach Art des Richters, quer auf dem Schoosse liegen ').

Alte Männer gehen mit Stöcken, welche einen sehr grossen runden
Knopf haben, oder mit Krückstöcken.

Von den Hirten bei der Anbetung trägt einer einen Pelz nach Art einer
Casula; er hat Horn und Schaufel.

Die Frauen tragen in der Regel ein Untergewand mit engen Aermeln
und darüber ein Obergewand mit weiten und lang herabhängenden Aermeln,
welches entweder kürzer ist als jenes, und dann in der Regel mit reichen
Borten besetzt, oder lang nachschleppt und beim Gehen vorn ein wenig
aufgehoben wird. Das Gew^and ist enger anschliessend, so dass in der Re-
gel der Gurt sichtbar ist. Die Frauen tragen einen Mantel, der ganz dem
oben beschriebenen gleicht. Die Jungfrauen haben lang herabhängendes
Haar, den Kopf zuweilen mit einem Mützchen bedeckt. Die Weiber haben
einen Schleier, unter dem bei Festlichkeiten, wie es scheint, auch hier das
Haar niederhängt. Maria hat ausser dem Schleier noch eine Art geistlicher
Casula.

Das Christkind in der Krippe ist eng in Windeln eingewickelt.

Was an häuslichen und andern Geräthschaften, — Sessel mit dem
darauf liegenden Polster, Fussbänke, Schreibcpulte , Bücher, Leuchter
u. s, w. — vorkommt, entspricht ganz den im Hortus deliciarum dargestell-
ten. Auf dem Bette liegt man, wie dort, in einer Tunika, mit dem Mantel
bedeckt.

Auch die Architekturen tragen ganz das Gepräge jener Zeit: rund-
bogige Gewölbe, rundbogige Fenster, runde Kuppeldächer und Säulen mit
abgerundeten Knäufen, welche eine schwere Blättcrverzieruug haben. Eben
so spricht sich, im Text, in dem eigenthümlich dicken und schweren Ran-
ken- und Blätter-Ornament der gemalten Buchstaben, womit die drei ver-
schiedenen Bücher beginnen, derselbe Styl, welcher den leichteren Formen
des an den Spitzbogenstyl sich anschliessenden Ornaments vorangeht, aus.

Indem die Perspektive meist noch sehr mangelhaft ist oder vielmehr
fehlt und die Landschaft nur angedeutet wird, etwa durch einen Baum, so
zeigt sich eben in den Zeichnungen der Bäume nicht, wie im Hortus deli-
ciarum, eine leichte aber unsichere Nachahmung freier Naturformen, son-
dern eine bestimmte, ornamentartige Ausführung; ein Umstand, der unsere
Aufmerksamkeit in Anspruch nehmen dürfte.

Die Nacht wird zweimal durch einen halben silbernen oder goldenen
Ring bezeichnet, in welchem das erste Mal Mond und Stern, das zweite
Mal sechs Sterne dargestellt sind. So wird im Sachsenspiegel ein be-
stimmter Zeitraum durch die angegebene Zahl, welche von einfachem oder
doppelten Kreise eingeschlossen ist, vorgestellt

Die Sonne wird bei der Begebenheit, da sich bei Christi Geburt ein
goldener Ring um dieselbe zeigt, als strahlendes Haupt eines Jünglings
dargestellt^), jenen Personificationen von Sonne und Mond bei Vorstellungen

') Sachsenspiegel, Bl. 10, b. Kopp, Bilderund Schriften der Vorzeit. I.
S. 88.— 2) Kopp, a. a 0., S. 56. — Vergl. das oben, S. 32, mitgetheilte Bild.

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IL Werinlier von Tegernsee etc. 37

des gekreuzigten Heilandes en.tsprechend. So dürften auch ein Paar Stelleu
des Textes zu beachten sein, in denen das Gerücht personiflcirt gedacht
wird, z. B.:

Das Märe da Federn gewann
Von der Frauen wohlgethan,
Weit flog es durch die Gassen.

Auch diese deuten auf das mehrfach vorkommende Uebertragen antiker
Anschauungen in die Kunst des Mittelalters. —

Vergleichen wir nun diese Bilder mit andern gleichzeitigen Miniaturen,
so finden wir dieselbe Manier, die Gegenstände in verschiedenfarbigen
Umrissen auf gefärbtem Grunde darzustellen, auch in mehreren andern,
in Handschriften enthaltenen Bildern. Ausser einigen Büchern heiligen In-
halts, die mir früher zu Gesichte gekommen, ausser einer englischen Hand-
schrift, von deren Bildern Dibdin einige leider zu flüchtige Umrisse mitge-
theilt hat und ausser der oben erwähnten, von Günthner für ein Werk
des Werinher gehaltenen Biblia pauperum, nenne ich liier besonders jene
schon erwähnte Handschrift einer oberdeutschen Bearbeitung der Eneidt des
H. von Veldeck. auf der königl. Bibliothek zu Berlin 2), deren sehr zahl-
reiche Miniaturen ganz auf dieselbe Weise verfertigt sind, und in denen
sich dieselbe stylisirte, ornamentartige Darstellung der Bäume, liier auch
der öfters vorkommenden Thiere, . zeigt. Auch möchte noch eine Hand-
schrift, welche auf -derselben Bibliothek sich befindet und Legenden
und andre Schriften theologischen Inhalts, zuletzt die Paraphrase des Ho-
henliedes von Willoram enthält^), hieher zu rechnen sein; denn w^enn in
den Miniaturen dieser letzteren jener farbige Grund noch fehlt, so scheinen
diese Bilder nur unvollendet (wie auch einige derselben noch gänzlich
fehlen). Auf dem dritten Blatte dieser Handschrift, vor dem Anfang des
Textes, steht folgende, nach der Form der Buchstaben gleichzeitige Notiz:
„J/z'c Uber est Gotscalci de Lambach''''

Dies berechtigt uns vielleicht, eine eigenthümliche oberdeutsche Schule
anzunehmen, deren Hauptmoment jene typisch festgestellte, stylisirte Manier
der Darstellung, wohin im weiteren Sinne auch der farbige, teppichähnliche
Grund gehört, sein würde Im Hortus deliciarum der Herrad und in den
Zeichnungen der erwähnten Heidelberger Handschrift vom Gedicht des
Pfaffen Chunrat, wo diese Stylisirung in den Nebendingen fehlt und freiere
aber ganz unsichere Formen eintreten, würde sich sodann vielleicht ein
eigenthümlicher rheinischer Styl zeigen. ^

Ob diese Meinung sich weiter wird begründen lassen, und welche Be-
deutung diese verschiedenen Schulen in der Kunstgeschichte des Mittelal-
ters haben mögen, dürfte sich freilich erst bei fortgesetzten Studien über
diesen Gegenstand ergeben.

1) Dibdin, Bibll. Decameron 1. f. d. p. LXXVIIL f. — 2) Ma. Qerm. fol.
Nro. 282.
Vergl. die folgende Abhandlung. — •'') Ms. theol. lat. quart. Nro. 140.
Vergl. oben S. 7, 10. — Lambach ist ein ehemals bairischer, jetzt Österreichischer
Ort. — Unabhängig von dieser Manier bleibt die Freiheit des Gedankens und
der Eründung, welche oben beim Werinher gerühmt wurde.

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38 Bilderhandschrifteii des Mittelalters.

III.

DIE BILDERHANDSCHHIFT DER ENEIDT

in der Königl. Bibliothek zu Berlin.

(Gelegenheitsschrift vom Jahr 1834, abgedruckt in der Zeitschrift „Museum,
Blätter für bildende Kunst/' 1836, Nro. 36
—38.)

Zur Einleitung.

.... Es war nm den Schluss des zwölften Jahrhunderts, als in Deutsch-
land sich eine Blüthe des Lebens zu entwickeln begann, wie sie vorher
nicht geahnt und wie sie, in gleicher Harmonie, bei uns nicht wieder ge-
sehen ward.

Die Jahrhunderfe-langeu Kämi)fe zwischen Kaiser und Papst, wenn
auch noch nicht beendet, hatten bereits zu dem Ergebniss geführt, dass
keine von beiden Mächten zum unbehinderten Despotismus berufen w^ar.
Der Friede, den Friedrich Barbarossa und sein grosser Gegner Alexander III.
im Jahr 1177 zu Venedig geschlossen hatten, war der feierliche Ausspruch
dieses Ergebnisses. Das grosse Frühlingsfest, welches der Kaiser im Jahr
1184 zu Mainz feierte und von dessen Herrlichkeit uns noch in alten Ge-
dichten die Kunde erhalten ist'), bezeichnet den Beginn des neuen Früh-
lings, der über Deutschland heraufgezogen kam und der in der Freiheit des
Einzelnen — vor weltlichem Drucke durch den Papst, vor geistlichem durch
den Kaiser geschützt — wurzelte. Schon sangen die ersten Lerchen, den
vollstimmigen Chor der Minnesinger einleitend; schon erstanden epische
Gedichte, denen bald ein Nibelungenlied, ein Parcival, ein Tristan folgen
sollten; schon bereitete sich eine Baukunst vor, die man nachmals verächt-
licher Weise „gothisch" benannt hat und deren wunderbare Majestät wir
jetzt mit all unsern Schulregeln noch nicht ausgemessen und begriffen
haben.

Die Malerei ist, wie alle übrigen bildenden Künste, ein Kind der Bau-
kunst; aber sie kann sich erst selbständig entwickeln, wenn diese in voll-
endeter Gestalt erschienen ist. Denn indem sie das Auge in ihre Fernen
und Tiefen hineinzieht, so zerbricht sie gewissermaassen die architektonische
Umgränzung des Eaumes und hebt deren Wirkung wiederum auf. Ihre
Blüthe musste somit in eine spätere Zeit fallen, als die der Baiümnst. Doch
giebt es eine Gattung der Malerei, — eine Vorstufe, die doch ihre eigen-
thümliche Ausbildung hat, — welche sich den architektonischen Gesetzen
anschmiegt, ihre Gestalten feierlich symmetrisch ordnet, und den ferneren
Raum hinter den Gestalten durch einen Teppich oder Goldgrund abschliesst.
Diese Gattung der Malerei entwickelt sich mit der Baukunst Handi in Hand,
und auch sie hat im Mittelalter treliliche, in Deutschland leider noch so
wenig beachtete Werke hervorgebracht.

So zeigt sich denn auch in der Malerei gegen den Schluss des zwölf-
ten Jahrhunderts ein eigenthümlicher Lebensdrang. Durch die Byzantiner

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III. Rie Bilderhaudsclirift d.er Eneidt. 39

war, während der wilden Kämpfe des früheren Mittelalters, die Ausübung
dieser Kunst, waren die ältest christlichen Typen erhalten und nachmals
dem germanischen Occident eingeimpft worden. Aber es war nur eine leere,
todte Schale. ♦ Wie ein müssiges Ornament, wie ein willkürlich zu deu-
tendes Symbol erscheinen uns diese Gebilde; wir können fast nur durch
gelehrte Conjecturen und Combinationen auf die grossartigen Absichten der
ursprünglichen Erfinder schliessen. Der Sinn für Formenschönheit war
dabei fast gänzlich verloren.

Erst in der Zeit, von der ich spreche, beleben sich diese Gebilde aufs
Neue. Gesellige Zustände und Handlungen, Affekte und Leidenschaften
bestrebt man sich wiederum auszudrücken und es gelingt häufig, in Betracht
der sehr geringen Kunstmittel, auf eine wohlverständliche Weise. Diese
Kunstmittei freilich, und nicht etwa unsre heutige Bildung, müssen wir im
Auge behalten, wenn wir die Bestrebungen jener alten Künstler genügend
würdigen wollen. Der wesentlichste Einfluss auf diese erste Erneuerung der
Malerei ist der erwachenden nationalen Poesie zuzuschreiben. Während in
den Kirchen byzantinischen Styles, bis zur vollständigen Einführung des
gothischen, die byzantinische Malweise beibehalten ward, während dieselbe
überhaupt an den kirchlichen, traditionell überlieferten Darstellungen länger
haften musste, finden wir eine ungleich grössere Freiheit bereits in den
Bildern, welche die ältesten Handschriften deutscher Gedichte begleiten.

Ich führe dich in die einsame Zelle eines oberbairischen Benediktiner-
Klosters. Ein reicher Mann hat bei dem Kloster, wie dergleichen oft ge-
schah, eine Abschrift der Eneidt (Aeneifde) des Heinrich von Veldek bestellt;
er wünscht dieselbe, zur eignen Ergötzung und Erbauung, reich mit Dar-
stellungen und Verbildlichungen des Inhalts ausgeschmückt zu sehen. Ein
wohlgeübter Bruder Schreiber ist vom Prior mit der Abschrift beauftragt,
der Bruder Maler versucht sein Glück an den Bildern. Letzterer ist in der
alten Schule gebildet. Vielleicht hat er Einiges von den prachtvollen Bil-
derhandschriften gesehen, die Kaiser Heinrich II. hochheiligen Andenkens
dem Domstifte von Bamberg verehrt^), und die, wie es scheint, von grie-
chischen Künstlern ausgeführt sind. Dies sind freilich, der saubersten Pin-
selführung zum Trotz, keine sonderlichen Vorbilder für aufstrebende Ta-
lente; die grauenvollen Ungeheuer, welche darin den Namen menschlicher
Gestalten führen, können nur dazu dienen, den wenigen guten Geschmack,
welchen man allenfalls hinzubrachte, zu verderben. So mag es eben hier
geschehen sein. Unser Maler zeigt von Hause aus überhaupt wenig Talent
für die Form, und einzelnes direkt Krüppelhafte erinnert bedeutend an
jene Bamberger Musterbilder. Aber um so interessanter ist es, wie der
Maler sich mit diesen mangelhaften Mitteln zu behelfen w^eiss, um doch
seine Gedanken und Gefühle klar und verständlich auszudrücken, klarer
und verständlicher, als es in den meisten, zum Theil besser gezeichneten
Werken seiner mitstrebenden Zeitgenossen gefunden wird.

Zunächst finden wir, wenn wir in sein buntes Buch hineinschauen, dass
er von seinem einsamen Fensterlein aus sich die reiche Fülle der Erschei-
nungen gar sorglich beschaut und seinem Gedächtnisse eingeprägt hat. Wir
finden Burgen und Schiffe dargestellt, Bäume und Thiere, Zelte und Häuser,
Geräthe aller Art und Leute allen Standes und Geschlechtes in mannig-

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40 Bildcrliaiidschriften des Mittelalters.

fachen Beschäftigungen. Aufs Genaueste siud, mit wenigen Strichen, alle
Eigenthüinlichkeiten der verschiedenen Trachten der Männer nnd Weiber
unterschieden, mit besonderer Vorliebe die Rüstungen der Krieger. Wir
sehen, wie alle einzelnen Stücke der Wappnung angelegt werden und wie
sie befestigt sind, wir sehen zierlichst geschlitzte Wappenröcke, den man-
nigfachsten AVappenschmuck der Schilde, bunt phantastisclie Helmzierden
aller Art. Dann finden wir fröliliche Mahlzeiten, Gesandtschaften, Kämpfe
u. s. w. Aber der Maler hat nicht bloss fern von den Leuten in seiner
Zelle gemalt; er
avcIss mit ihnen zu fühlen Freude und Schmerz und den
Beschauer, — dafern dieser sich überhaupt in seine unvollkommene Tech-
nik hineinfühlt, — in Wahrheit zur Rührung zu bewegen. Freilich konnte
er den Gesichtern nur den allgemeinsten Typus der Lust oder Trauer mit-
theilen; aber er hat dafür eine höchst eigenthümliche und beachtenswerthe
Mimik in den Bewegungen der Hände entwickelt, die in ihrer kindlichen
Naivetät ihre Wirkung nicht minder erreicht. Ehe ich jedoch von diesem
wichtigsten Punkte Näheres sage, ist manches Andre nachzuholen.

Allgemeines über die Handschrift.

Das grosse Gedicht des Heinrich von Veldek ist bekanntlich eine freie
Umarbeitung von Virgil's Aneide, oder vielmehr nach einer schon vorhan-
denen wälschen ürriarbeitung gedichtet, so dass die antiken Helden sämmt-
lich als turnierfähige deutsche Ritter auftreten. Es ist ein Rittergedicht, in
seinem Hauptgange nicht besser und nicht schlechter, wie es viele giebt,
nur durchweg frisch und edel gehalten. Sehr schön aber und voll der
tiefsten sinnigsten Poesie sind diejenigen Stellen, wo das lyrische Element
des Dichters bestimmter hervortreten kann, so die Entwirkelung der Liebe
der Dido zum Aeneas, besonders aber das Liebesverhältniss zwischen
Aeneas und Lavinia; hier erliebt sich auch der Vers auf eigenthümliche
Weise und gewannt nicht selten einen fast strophischen Charakter. Das
Gedicht ist in der späteren Zeit des zwölften Jahrhunderts verfasst worden.

Die in Rede stehende Bilderhandschrift der Eneidt, welche sich in der
Berliner Bibliothek befindet , ist eine Abschrift des Originals und kurze
Zeit nach dessen Beendigung geschrieben. Diplomatische Gründe, das
durchgehend angewandte lange s am Ende der Worte u. a., weisen mehr
auf das Ende des zwölften als den Anfang des dreizehnten Jahrhunderts
hin Sie stammt aus Baiern ■'') und bestätigt dies sowohl durch gewisse
eigenthümliche Umschreibungen des halbniederdeutschen Originals in ober-
deutsche Formen als vornehmlich durch den besonderen Styl der Bilder,

Ms. germ. Fol. 282. — Herausgegeben ist das Gedicht nach der ungleich
späteren Gothaer Ilaiidsclirift in Myllers Sanimlung altdeutscher Gedichte^ Bd. I. —
Eine vorn eingeheftete Notiz sagt: „Diesen Codex fand ich auf meinen kauf-
männischen Reisen im südlichen Deutschland im Jiahr 1819 bei einem Manne,
der ihn mit einem Wust alter Papiere und Bücher aus den in Baieyn aufge-
hobenen Klöstern gekauft hatte. Mit mehreren andern Sachen an Werth brachte
ich auch diese Handschrift an mich.'' U s. w. Hessen - Cassel 1822. Carl
Carvacchi.—Näheres darüber besonders in den Notizen zum Heinrich von
Veldek, die im dritten Theil der bald vollendeten Ausgabe der Minnesinger durch
von der Hagen befindlich sind, und die mir der verehrte Herausgeber einzu-
sehen freundlichst gestattete, (Im vierten Theil der seitdem erschienenen Aus-
gabe, S. 76.)

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III. Die Büilerhaiidschrift der Eiieidt.

41

welcher andern , authentisch bairischen Handschriftbildern durchaus ver-
wandt ist

Es ist eine Pergameüthandschrift in Fol. von 74 Blättern, davon 77
Seiten mit Text, 71 Seiten mit Bildern. Der Text ist auf den ersten beiden
Seiten in 2 Columneu ohne Absatz der Yerse (mit Ausnahme einiger Verse
im Anfang), auf den übrigen in 3 Columnen und mit Absatz der Verse ge-
schrieben. Jede Columne enthält in der Regel 47 Zeilen. Die Schrift ist
kleine gothische Minuskel; von Seite 3 fängt die erste Zeile eines jeden
Reimpaares mit einem herausgerückten Uncial-Buchstaben an. Die Absätze
werden durch grössere rothe Anfangsbuchstaben bezeichnet.

Der Bilder sind auf jeder Seite zwei, nur ausnahmsweise füllt ein
Bild die ganze Seite. Die Gegenstände sind mit Umrissen von schwarzer
und rother Farbe gezeichnet und insgemein nicht weiter ausgemalt; auch
kommt goldener Schmiick, wiewohl selten, vor. Den Hintergrund dagegen
bildet, gleich einem Teppich, ein farbiges Viereck, von einem breiten an-
ders gefärbten Rahmen umgeben; das Ganze wird abermals von einem
schmaleren, zumeist karmesinrothen Rahmen eingefasst. Die Farben des
Grundes und der Rahmen bestehen aus Karmesinroth, Blau und Grün von
nicht bedeutender Tiefe und aus einem lichten Saftgelb.

Text und Bilder sind im Ganzen ziemlich wohl erhalten, nur am Rande
abgegriHen und hier zuweilen beschädigt. Die schwarze Farbe ist grossen-
theils verschossen und in ein dunkles Braun übergegangen; die andern
Farben, namentlich das lichte Zinnoberroth in den Umrissen, zeigen sich
häufig in vollkommener Frische. Das Gold ist ebenfalls in ein gewisses
Braun übergegangen. Die Zeichnungen werden gegen das Ende etwas roher;
auch fehlt hier der Schmuck des Goldes.

Bei den dargestellten Personen steht in der Regel der Name; häufig
sind ihnen ihre Reden auf langen .Bändern mitgegeben, die ihnen vom Ge-
sichte ausgehen oder von ihnen in der Hand getragen werden. Diese Reden
sind gleichfalls in Versen, doch fa§t niemals aus dem Texte entlehnt; sie
benutzen nur zuweilen einzelne Ausdrücke desselben.

Antiquarisches.

Das Costüm der dargestellten Personen ist, dem Charakter des Gedich-
tes gemäss, stets das der Zeit; die Bilder sind schon in diesem Bezüge sehr
wichtig und geben mannigfache Ergänzungen zu den bekannten Darstel-
lungen im
Hortus deliciarum der Herrad von Landsperg. Es möge hier
die Angabe des Wichtigsten folgen.

Die männliche Bekleidung besteht im Wesentlichen aus der spätrömi-
schen Aermeltunika, gepaart mit nordischer Beinkleidung. Ein Hemde oder
ein andres Unterkleid wurde unter dieser Tunika getragen. So zieht, auf
S. 00, Aeneas, auf dem Bette sitzend, letztere über erstes. Die Bekleidung
der Füsse besteht aus enganschliessenden Hosen, die zumeist schwarz ge-
malt sind und keine besondre Bezeichnung der Schuhe enthalten. Nicht
selten jedoch sind sie weiss gelassen, und es kommen dabei schwarze
Schuhe vor; einmal sind die Hosen roth gemalt, ein andres Mal trägt Einer
eine rothe und eine schwarze Hose. Bei Leuten der arbeitenden Classe

So z. B. den Bildern in der Handschrift von Werlnhers Marienliede,
(Vgl. die vorstehende Abhandlung.)

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42 Bilderhandschriften des Mittelalters.

sieht man eine Umwicl^eliing der Knöchel; oder sie haben Hosen, die bis
zu den Knöcheln reichen, und nackte Füsse; oder gar keine Beinkleidung.

Die eigentliche Tunika ist von verschiedener Länge, bis an die Kniee
oder bis gegen die Knöchel reichend, wie es scheint, je nach der geringeren
oder grösseren Würde der Personen. Sie hat enge Aermel und schliesst
eng um den Hals, hier zuweilen mit einer breiten Einfassung oder mit einem
kurzen Einschnitt versehen. Um die Hüften ist sie mit einem schmalen
Bande gegürtet, und dieser Gürtel mit einer Schnalle oder einem Knopfe
zusammen gehalten.

Der König Latinus trägt über dieser Tunika ein reiches und schweres
Obergewand, ohne Aermel und Gurt, am Halse und am unteren Rande mit
einer gestickten und steingeschmückten Einfassung versehen, an den Aer-
mellöchern mit Pelz besetzt.

Der Mantel, welcher nicht eben häufig vorkommt, wird in der Eegel
auf beiden Schultern getragen und scheint ein wenig kürzer als die Tunika.
Er hat zuweilen, wie die Frauenmäntel, einen Pelzbesatz am Halse und ein
Pelz-ähnliches Futter. Häufiger kömmt an der Stelle des Mantels ein lan-
ges und schmales Stück Zeug vor, welches Shawl-artig um den Hals ge-
schlungen wird.

Die Männer haben meist keine Kopf-Bedeckung. Das Haar wird schlicht
gescheitelt getragen, ohne die Locken über der Stirn, die mehr im folgen-
den Jahrhundert aufltommen (sich jedoch im
Hortus deliciarum bereits
finden); nur über dem Nacken ist das Haar kurz lockig gezeichnet. Die
Könige haben eine breite ringförmige Krone, mit schilderartigem Schmuck.
Bei denen, die im Freien sich auflialten, Maurern, Jägern u. s. w., kommen
runde Hüte mit schmalen oder breiten Krempen vor , die zuweilen mit
Bändern unter dem Kinn festgebunden werden. Auch eine Art Hauben
finden sich hier, die jedoch insbesondere unter den Helmen getragen wur-
den. Den Fährmann im Schill' und den Thurmwart sieht man in spitzer
Kapuze, Avelche bei letzterem an der Tunika befestigt ist.

Die Hüstung der Krieger besteht aus dem Ring- oder Kettenharnisch,
der überall auch noch in den Gedichten des dreizehnten Jahrhunderts er-
wähnt wird. Derselbe besteht aus zwei
Stücken. Das eine sind die Ketten-
hosen, die (es kommen mehrere Dar-
stellungen der Art vor) förnilich wie
andre Hosen angezogen werden; — bei
den Reitern zeigt sich der obere Theil
der Kettenhose, vom Knie an, häufig
mit einem dicken, wie es scheint, wat-
tirten Ueberzuge versehen, vermuthlich,
um das Sattelzeug nicht zu zerreiben.
Das zweite Stück ist das Kettenhemde,
Halsberg genannt'), welches mit Aer-
meln und mit einer Kappe; zur Be-
deckung des Kopfes versehen ist. Letz-
tere lässt das Gesicht ganz oder nur
dessen oberen Theil unbedeckt; sie

') Dass das gesammte Kettenhemde, nicht bloss dessen oberer Theil, den
Namen Halsberg führte, beweisen mehrere Stellen des Textes, z. B,; v. 7521:

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III. Rie Bilderhaudsclirift d.er Eneidt. 43

kann ziirückgesolilagen werden (und hängt dann um den Nacken), ebenso
■wie die Kettenbedeckung der Hände Unter der Kettenkappe trägt man,
um den Kopf zu schonen, eine Haube von Zeug, die buntstreifig und zier-
lich besäumt erscheint und unter dem Kinn zusammen-
gebunden wird. Ueber der Kettenkappe trägt man den
Helm , der eine eigenthümliche cylindrische, oben ab-
gerundete Gestalt hat, (verschieden von den im
Hortus
deliciarum
vorkommenden kegelförmigen Helmen); er hat
Löcher für die Augen, (es kommen Darstellungen vor,
wo durch ein solches Loch ein Pfeil geschossen wärd)
und ein eignes, mit kleineren Löchern versehenes Stück
zum Athmen vor dem Munde. Mit seidnen Schnüren
wird, dem Texte zufolge, der Helm festgebunden. Oben
sind die Helme mit dem mannigfachsten,, phantastisch emporsteigenden
Schmucke versehen: mit verschiedenen Thieren, Löwen, Vögeln, Adler-
köpfen, Flügeln, Krallen, Hirschgeweihen, mit Blumen, edlen Steinen, mit

menschlichen Händen und Füssen, mit bun-
ten Fähnlein u. s. w. Einer trägt eine Art
Windmühle, die sich vermuthlicli beim Ans-
pringen drehte. Die Amazone Kamilla trägt
auf dem Helme einen verschlossenen Kasten,
der ohne Zweifel symbolische Beziehung auf
die Jungfräulichkeit der Trägerin hat, u. s. w.
Zuweilen fehlt der eigenthümliche Helm über
der Kettenhaube und es ist statt dessen nur
ein sogenannter „Eisenhut" von der gewöhn-
lichen Form der Hüte, oder, bei Königen, die
Krone aufgesetzt.

Ueber dem Kettenhemd wird stets ein Wappenrock getragen, ähnlich
wie ein solcher auch in andern bairischen Handschriftbildern vorkommt,

Er stach dem Pallas das Schwert
Unter dem Halsbetg in den leib.

Auf dem hiezu gehörigen Bilde hebt Turnus, der ins Knie gestürzt ist, den
Wappenrock des Pallas auf und sticht ihm das Schwert von unten in den Leib.
Ebenso:

V. 75S5; Er schoss dem Herzoge Turnus
Dureh den Balsberg in die Seite.
V. 11821; Durch den Halsberg der ibm sliess.

In das Herz durch den Leib. . U. a. m.

Die Gothaer Handschrift liest an einigen Stellen (bei Myller v. 5631 sqq.) sogar
Halsband statt Halsberg.

Von dem Kettenhemde, welches Vulkan dem Aeneas schmiedet, wird
gerühmt (v. 5643): „dass es ein Mann mit leichter Mühe tragen und sich darin
rühren mochte, wie in einem leinenen Gewände." Ebendaselbst (v. 5657) wird
von den „eisernen" Hosen gerühmt, dass sie „fest und von kleinen Ringen"
gewesen seien. — Dass stets unter dem Helm eine Kettenkappe getragen
ward, ergiebt sich aus mehreren Textstellen, z. B.

V. 7507: Den Helm er ihm durchschlug
Und der Hauben Ringe.

(dfr hüben ringe, nach der Berliner Handschrift. Die Gothaer hat: der v/en
ringe).

V, 12235: Des Helmes er ihm abschlug
Beinahe einer Hand long , . .
Er zerschlug ihm auch der Ringe
Bei dem Hanpte ein Thcil.

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44 BilderhandscLriften des Mittelalters.

während er in denen., welche den oberrheinischen Gegenden angehören
(z. B. im
Hortus deliciarum und in den Zeichnungen der Heidelberger
Handschrift des Rolandliedes vom PfalTen Chunrat), fehlt. Der "Wappen-
rock, der bis an das Knie reicht, ist ohne Aermel, vorn und hinten ge-
schlitzt, so dass er beim Reiten zu beiden Seiten niederfällt, oft auch unten
vielgeschlitzt und mit Troddeln verziert, zuweilen mit einer Wappen-
stickerei auf der Brust.

I

Die Schilde sind bauchig und von der Gestalt eines abgerundeten
Dreieckes; sie sind so gross, dass sie ungefähr Leib und Brust bedecken.
Doch mag zuAveilen eine grössere Dimension vorauszusetzen sein, da der
Maler z. B. die Kamilla, nach dem sie im Kampfe gefallen , auf ihrem
Schilde in die Burg tragen lässt. Innen haben die Schilde, am oberen
Theile, einen grossen Riemen, daran sie um den Hals hängen und so
namentlich während des Marsches u. a. getragen werden; an demselben
Riemen werden die Schilde auch in der Wohnung aufgehängt; am unteren
Theil haben sie einen oder zwei kleinere Riemen, die mit der linken Hand
gefasst werden, um den Schild beim Kampfe zu regieren.
Ts^äheres über
die Beschaffenheit der Schilde findet sich im Text, z. B. in der Beschrei-
Ining des Schildes, den Vulkan für den Aeneas gearbeitet, v. 5723:
Er war gefasset innen
Mit Borten und mit Fellen,

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III. Rie Bilderhaudsclirift d.er Eneidt. 45

Und war all das Gestelle
Mit goldnen Nägeln dran geschlagen ...
Viel wohl das Brett geschnitten war
Und gefüglich bezogen
•. ■ Wohl behautet und wohl gebogen. . .

Das Jiieisterte Vulkan.
Das Schildgeriem war Cprduan,
Das war der Frauen Venus Rath',
Ein Borte
war darauf genülit
Der Anmuth und Pracht wegen,
Und ein Sammt darunter,
Ich weiss nicht ob grün oder roth,
Iis war gethan aus- Noth:
Wer den Schild führte,
Dass ihn nicht berührte
Der Borte, no.ch das Leder,
Und dass ihn deren keines *

An den Hals riebe,
Und ihm die Haut ganz bliebe.

Auf der Äussenseite des Scliildes, die in der Kegel mit kostbaren
Steinen geschmückt war, zeigen hier die Bilder den mannigfachsten Wap-
penschmuck. Man sieht horizontale, schräge, sich kreuzende Balken; schacli-
förmige Felder, gleich dem Wappen der Grafen von der Mark; rantenf()r-
mige Streifen, wie solche die Grafen Manderscheit haben, n. s. w. Man
sieht Blumen, z. B. die Rosen der Grafen von der Lippe; Wappenthiere,
Adler, Löwen und Leoparden; zusammengesetzte Wappen aller Art, z. B.
den doppelten Löwen der Grafen Rechberg; den halben Adler und darunter
drei Rosen, das Wappen der Grafen Wertheim. U. a. m.

Die Lanzen sind lange schlichte Stäbe mit breiter eiserner Spitze, zu-
weilen mit Fähnlein geschmückt, die mannigfach, auch wohl mit dem
Schildwappen, verziert sind. Die Schwerter werden an einem breiten
Gurte um.den Leib getragen: sie sind insgemein gross und breit. Bei der
Darstellung eines Kampfes führt einer der Ritter die Lanze und hat zugleich
das Schwert an einem Bande um das rechte Handgelenk hängen.

Die Bogenschützen sind, gleich den Jägern, ungepanzert \md nur der
Kopf mit einem Hute bedeckt. Der Bogen hat etwa halbe Manneshöhe;
der Pfeil ist mit Widerhaken versehen; der Köcher hängt, wie die Schwert-
scheide, an einem besonderen Gurte um den Leib; seine Gestalt ist der
ähnlich, welche im
Hortus deliciarum vorkommt. Das Horn, darauf Jäger
und Thurmwächter blasen , hat die einfache Gestalt des Büffelhornes und
ist mit einigen Streifen geschmückt.

Die Frauen tragen ein engärmliges Unterkleid und darüber ein Ober-
kleid mit weiten langen Aermein, die fast bis auf den Boden niederhängen.
Das Oberkleid ist häufig ungegürtet und so lang, dass es meist die Füsse
bedeckt. Das Haar hängt bei den Jungfrauen frei herab und ist in der
Regel mit einem Bande geschmückt; die Frauen tragen insgemein einen
Schleier, der die Haare ganz oder auch nur zum Theil verhüllt. Kamilla
und ihre Amazonen tragen Binden um das Haupt, auch im Gefecht um
die Helme. Der Frauenmantel gleicht dem der Männer, oben mit einem
Pelzbesatz, unten mit einer prachtvollen Borte von Stickerei oder Steinen;
zuweilen ist er an dem Haarband oder, bei der Dido, an der Krone be~

M

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46 Rilderhandsohrifteii des Mittelalters.

festigt, statt frei auf den Schultern aufzuliegen. Yersehiedone Stellen des
Textes nennen die kostbaren Stoffe, aus denen diese Kleider und ihr man-
nigfacher Schmuck bestehen.

Der Sattel der Pferde hat die bekannte Form mit hoher Vorder- und
Kücklehne, um beim Lanzenrennen fest sitzen zu können; darunter eine
Schabracke. Er ist mit einem Gurte um den Leib des Pferdes und um
die Brust befestigt. Alles Zeug an Sattel und Zäumen ist bei dem Auf-
zuge der Kamilla und ihrer Jungfrauen mit reichem Schmuck und Glöck-
lein versehen. Auf den Bildern , wo die Jagd der Di de dargestellt ist,
reitet diese seitwärts, ebenfalls mit hoher Rücklehne des Sattels, mit präch-
tiger lang niederhängender, bunt geschlitzter Schabracke und einem kleinen
Fusstritte statt der Steigbügel. Hinter ihr, auf dem Rücken des Pferdes,
steht ein Hündchen, das sie am Bande hält.

Die Burgen sind stets mit Zinnen gekrönt und mit Thürmen versehen;
über die Zinne schaut der Wächter mit dem Hörne. Die Thore sind meist
geradlinig, auch mit schrägem, sparrenförmig stehendem Sturze, seltner mit
rundbogiger Wölbung gezeichnet. Auf den Thüren sind die Hespen, Rie-
gel, Schlösser und Ringe') genau angegeben. Die Fenster in den Mauern
sind meist mit kleinen Rundbögen überwölbt; zuweilen in jener blumig
ausgeschnittenen Form, welche an niederrheinischen Gebäuden yom Schlüsse
des zwölften Jahrhunderts häufig vorkommt. Ein Bild stellt die Arbeit
der Maurer, das Hinzutragen der Steine und des Kalkes, das Aufsetzen und
Richten der Steine und den Meister mit der Kalkkelle, der einen faulen
Gesellen in den Haaren zaust, dar. Thürme werden durch den Mauer-
brecher gestürzt, einen langen, mit Eisen beschlagenen und mit Ringen
versehenen Balken (der jedoch nicht in Seilen hängt, sondern — wohl aus
Ünkenntniss von Seiten des Malers — von mehreren Kriegern mit den
Händen gegen die Mauer getragen wird). An die gebrochenen Mauern wird
Feuer angelegt durch Fackeln, die entweder zusammengebundenen Kerzen
oder hohen Töpfen gleichen, aus welchen die Flamme hervorschlägt.

Bei Andeutung des Inneren von Wohnungen sind insgemein die Rund-
gewölbe der Decke gezeichnet, mit kleinen Thürmchen zwischen den ein-
zelnen Bögen, oder mit Angabe des Schieferdaches. Säulen , mit einfach
wulstigem Kapitale, kommen, wiewohl selten, vor. Bei dem Hause der
Sibylle bestehen die Säulenkapitäle aus phantastischen Thierköpfen. Die
Schäfte scheinen hier mit gewundenen Reifen verziert. Reichere, aber nicht
sonderlich verständliche Architektur byzantinischen Styles zeigen die Grab-
gewölbe des Pallas und der Kamilla, bei deren Beschreibung sich das Ge-
dicht besonders in der Aufzählung des kostbaren Materiales wohlgefällt.
Ueber dem Grabmal der Kamilla hängt die ewig brennende Lampe in dem
h: Schnabel eines wohlstylisirten Vogels, ein einfaches bauchiges Gefäss, aus

dem die Flamme emporschlägt. I

Zum Sitzen dienen in der Regel längere Bänke oder Sessel, auf denen
Polsterkissen liegen; jene sind, wie es scheint, einfache viereckige
Kasten, aber nicht selten mit reichem architektonischem Schmucke versehen.
Auch kommen Polsterstühle mit reichgedrechselten Füssen und Rücklehne
vor. Vor Sessel und Stühlen ist stets ein Teppichstück ausgebreitet; auch

') Der Ring dient zum Klopfen, wie es im Texte heisst, v. 2447:

Eine Weile lilopTle sie davor
Und rührte dfii Ring

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III, Die BUderbandschrift der Eneidt. 47

an Fussbänken fehlt es nicht. Häufig jedoch, zumal im Freien, sitzt man
nicht auf Sesseln, sondern auf dem Boden mit kreuzweis untergeschlagenen
Beinen.

Das Schreibepult hat die gewöhnliche Form einer schrägen Tafel. die
auf einem schweren gedrechselten Fusse ruht, und darin das Tintenfass in
Gestalt eines Hornes steckt.

Der Speisetisch, mit einem Teppich bedeckt, der vorn in reichen Fal-
ten niederhängt, zeigt mancherlei Gefässe, in denen Speisen — Braten,
Fische, vielleicht auch Gemiise — befindlich sind; ebenso Gefässe zum
Trinken und verschieden geformtes Backwerk. Die Speisen werden von
den Dienern knieend auf den Tisch gesetzt; von andero werden hoch-
erhoben Pokal-artige Gefässe herbeigetragen. Der Führer dieser letzteren,
der Mundschenk, trägt in der Hand einen Stecken. Man sieht auf dem
Tische einige grosse Messer, wohl zum Zerschneiden der Speisen, keine
Gabeln. Es wird mit den Fingern in die Schüssel gelangt und so die
Speise zum Munde geführt.

Die Betten zeigen ein schweres Gestelle, etwa nach Art byzantinischer
Säulen gedrechselt; drüber einen Bogen, an welchem eine Gardine befestigt
ist. Die Matratze, auf welcher die Schlafenden ruhen, ist nach dem Kopf-
ende zu beträchtlich erhöht; sie liegt über einer Decke, welche vorn in
reichen Falten niederfällt. Unter dem Haupte des Schlafenden ist ein klei-
nes Kissen befindlich. Ein reichgemustertes Stück Zeug dient zum Zu-
decken; die Schlafenden tragen stets ein Unterkleid.

Die Zelte erscheinen von kegelartiger Hauptform; sie laufen nach oben,
in einem grossen Knopfe, spitz zusammen.

Die Schiffe sind entweder von der Form einfacher Kähne, mit spitzen
oder schneckenartig gewundenen Ecken, statt deren auch Thierköpfe vor-
kommen; oder sie habeji eine Kajüte mit Fenstern, die auf mannigfache
"Weise im Style der byzantinischen Architektur geschmückt sind. Eine mit
Riegel und Schloss versehene Thür, zu der man von aussen auf Leitern
emporsteigt, öffnet das Schiff. Der Fährmann, stets durch Bart und Ka-
puze ausgezeichnet, leitet das Schiff mit dem Steuer, einem Ruder von
beträchtlicher Breite, welches seitwärts neben dem Schnabel durch den
Rand des Schiffes gesteckt ist. Der Mast ist stark und nicht hoch, oben
mit einer Kugel oder einem Wimpel geschmückt und in der Regel mit
einem breiten Segel versehen.

Die Todtenbahren haben dieselbe Gestalt, wie noch heutiges Tages,
nur mit der Andeutung schweren byzantinischen Schmuckes. Sie sind mit
prachtvollen Teppichen bedeckt. Beim Begräbniss, wenn die Bahre von
Pferden oder Maulthieren getragen wird, sind die Tragbäume der Bahre
an die Sättel der Thiere festgebunden. Die Leidtragenden folgen, beim
Begräbniss der Kamilla, mit Kerzen in den Händen.

Es fehlt endlich nicht an der Darstellung allerlei andrer Geräthe und
Bedürfnisse des Leb^sns, an Arbeitszeug für Schmiede, Zimmerleute, Maurer
und Feldarbeiter, an Fässern und Mantelsäcken, an Leuchtern, Schach-
brettern u. s. w.

Auch der Galgen ist nicht vergessen. Es ist eine Querstange, die
über zwei gabelförmigen Pfosten liegt.

M

H

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48 Bilderhaiidscliriften des Mittelalters.

Künstlerisches.

Gehen wir nunmehr zu (lern eigentlich Künstlerischen dieser Darstel-
lungen über.

Im Allgemeinen hat sich der Künstler, was die Composition anbetrifft,
wesentlich nur an die Hauptpunkte des Textes gehalten und eben das
Nöthige, soweit es zum Yerstiindniss der Bilder für sich erforderlich war,
herausgenommen. Oft auch hat er niclit angestanden, Manches anders dar-
zustellen, als es der Text ausdrücklicli besagt, wenn sich ihm vielleicht
die Situation gerade auf seine Weise deutlicli ergab. So heisst es z. B.
im Texte, dass Aeneas, als er an der Karthagischen Küste Boten ausgesandt
hatte, auf einen Berg gestiegen und ihnen von da entgegen gegangen war;
in dem dazu geliörigen Bilde aber treiren ihn die rückkehrenden Boten,
wie er sinnend beim Scliachspiele sitzt. Bei der Darstellung ferner,
avo
sich Dido mit dem Hörne des Aeneas und dem Bettgewande verbrennt,
hat der Künstler, auf sinnreiche Weise, einen Ring hinzugemalt, von dem
das Gedicht nichts sagt. So wird ferner im Gedichte ein Thurm, den
Aeneas vor seiner Burg gebaut, von Turnus durch Feuer zerstört, während
ihn der Maler durch einen Mauerbrecher stürzen lässt. U. a. m.

Es ist bereits gesagt, dass die Figuren nur in Umrissen gezeichnet
sind, somit jede eigentliche Scliattirung wegfalle. Docli zeigt sich in der
Gewandung oft ein Zusammenziehen naheliegender Linien, besonders wo
tiefere Partieen angedeutet werden sollen, wodurch eine entfernte Art von
Schattirung entsteht. Ebenso findet sich häufig eine gewisse Angabe des
Schattens um die Augen, besonders bei Darstellungen des Schmerzes oder
bei mehr phantastisclien Gestalten. Die Wangen werden durch einen
Schwachrothen Fleck bezeichnet. Die Zeichnung ist übrigens sehr scharf
und bestimmt. ,

Kenntniss der Körperform, besonders der Verhältnisse in den nackten
Theilen, der Gesetze der Bewegung u. s.
av. mangelt fast ganz. Das Ge-
sicht liat stets dieselbe stereotype Form, meist zu drei Vierteln von vorn
gesellen, mit etwas gebogener Nase, kleinem Munde und vorgerücktem
Untergesicht. Die Augen sind weit offen und etwas geschlitzt; der Augen-
stern, nur durch einen dicken Punkt bezeichnet, hängt gewöhnlich an dem
oberen Augenliede. Im Profil sieht man die Gesichter selten; sie zeigen
dann stets einen langaufgesperrtei) Mund. Die Gewandung befolgt eben
auch nur die allgemeinsten Gesetze der Körperform; sie isti stets streng
schematisch, in eigenthümlichen Linien, gezeichnet. Bei hastiger Bewegung
schwingt sich wohl einmal eine oder eine andere Falte aus der gewöhn-
lichen Lage hervor, aber stets schwer und auf unbeholfene Weise.

Die Thiere werden stets auf eine arabeskenartige Weise stylisirt, was
~ mit Ausnahme der Pferde — ganz glückliche Erfolge zu Wege bringt.
Ebenso die Bäume und Pflanzen. Die gesammte Kunst des eigentlich
byzantinischen Styles ist, möchte ich sagen, noch in der Arabeske befangen.

Dass die Menschen in keinem Verhältniss der Grösse zu den Archi-
tekturen stellen, ist in jener Zeit zu allgemein, als dass es noch besonders
erwähnt werden dürfte. Ebenso der Mangel, oder richtiger: die gänzliche
Abwesenheit der Perspektive. Bei der Seitenansicht' des Tisches sieht man
zugleich dessen gesammte Oberfläche; das Schachbrett, darauf die Leute
spielen, ist senkrecht auf den Teppich gestellt, damit man sämmtliche Felder
übersehen könne.

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HI. Dio Bildorhandschrift der Eneidt. 49

(Gestalten, die mehr dem Gebiete der Phantasie angehören, sind jedoch
schon nicht übel charakterisirt. So die Gestalt der Sibylle mit ihrem
Avüsteu Lockenhaar, ihren Stirnfalten und düstern Augen; ähnlich der Geist
des Anchises, ähnlich auch der höllische Fährmann Charon mit langer
Nase, grossem Maule und Krallenflngern.

Der Ausdruck des Schmerzes ist durch das Zusammenziehen der Augen-
brauen glücklich erreicht und um so mehr, als sonst den Gesichtern raeist
dieselbe stereotype Ruhe einAvohnt.

Der eigentliche Punkt indess, welcher diesen Darstellungen für die
Geschichte der Kunst ein grösseres Interesse verleiht, ist jene schon er-
wähnte Mimik der Hände, besonders an den Stellen, wo leidenschaftliche
Seelenzustände auszudrücken waren. Hut sich diese Mimik nicht zu einer
solchen, ich möchte sagen: grammatisch durchgebildeten Sprache ent-
wickelt, wie in den bekannten Bildern zum Sachsenspiegel, oder auch wie
in den Bewegungen des heutigen Neapolitaners, so ist sie deshalb eben
freier und naiver geblieben.

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50 Hilderliandscliriften des Mittelalters.

Sehr häufig ist die Bewegung, dass die Rechte mit emporgerichtetem
Zeigefinger aufgehoben wird. Oft bezeichnet diese Bewegung nur den
Gegenstand, von dem eben gesprochen wird, z. B. gleich im Anfange, wo
Aeneas von Troja fortschiirt iind auf die Stadt zurückdeutet; ebenso, wie
er vor Karthago ankommt. Oft auch liegt darin noch der Ausdruck plötz-
licher Aufmerksamkeit, z. B. wo Aeneas mit einem Gefährten vor der Burg
Laurente hält und Lavinia den Pfeil zu ihm hinausschiessen lässt; wäh-
rend jene Bewegung hier das Erstaunen des Aeneas auszudrücken scheint,
legt ihm der Gefährte seine Hand vertraulich auf die Schulter, wie um
seine Meinung zu sagen. Anderweit bezeichnet dieselbe Bewegung auch
Vermahnung oder Drohung, z. B. wo die Gemahlin des Latinus mit ihrer
Tochter Lavinia spricht:

Sag mir drat vber Ivt.

Waz ist dir geschehen dv vbel hvt,

oder im folgenden Bilde, wo sie dieselbe zürnend verlässt, weil sie ihre
Liebe zum Aeneas erfahren. Ebenso in dem Bilde, wo Ascanius den zah-
men Hirsch der Silviane geschossen hat, und deren Bruder zürnend in die
Burg geht, um die Uebelthat zu rächen.

Ruhiges Sprechen und Darlegen eines Verhältnisses wird zuweilen
durch die flach ausgestreckte Hand begleitet.

Häufig kommt ferner ein unthätiges Halten oder Kreuzen der Hände
vor dem Leibe, oder ein ähnliches Anfassen des Gürtels oder der Gewän-
der vor. Dies bezeichnet überall die Nichttheilnahme am Gespräch, das
Empfangen der Befehle oder der Botschaften u. s. w. Gewöhnlich ist diese
Bewegung mit vorgeneigtem Haupte begleitet. Aehnlich wie im Sachsen-
spiegel, wo diese Bewegung freilich bestimmter, aber auch minder künst-
lerisch, dahin ausgeprägt ist, dass die bezügliche Person stets den rechten
Arm mit dem linken fest hält.

Aus diesen Elementen entwickeln sich schon grössere Darstellungen
von Gesprächen, in denen die verschiedene Theilnahme der Einzelnen be-
stimmt ausgedrückt ist.
Z. B. in dem Bilde, Avelches den Befehl der Götter
an Aeneas, die Dido zu verlassen, darstellt. In einer Ecke des Bildes sieht
man hier Wolken, aus denen eine (»öttergestalt (in der gewöhnlichen Tu-
nika) hervortaucht und die Hand erhebt, mit dem Spruchbande:
var hinne . des mac dehein rat wesen.
oh dv mit den dinen wellest genesen.

Vor dem Gotte steht Aeneas, indem er mit beiden Händen seinen Shawl
fasst und das Haupt vorneigt. Neben ihm zwei Männer, von denen der
erste beide Hände mit aufgerichtetem Zeigefinger emporhebt, die Wichtig-
keit dieses Befehles bezeichnend, während sich der zweite bereits zur Er-
füllung des Befehle.s umwendet.

Die Hand am Barte scheint eine Bitte zu bedeuten. So in dem schon
genai\nten Bilde, wo Aeneas vor Karthago ankommt und der Thorwart, der
das Thor geöffnet, ihn in die Stadt einzuladen scheint.

Der Schwur wird durch die Erhebung von Zeige-und Mittelfinger (der
Daumen ist auf der dem Beschauer abgewandten Seite der Hand) ausge-
drückt. Eigenthümlich macht sich diese Bewegung, wo Lavinia, einsam in
ihrer Liebesnoth, dazu die Worte spricht:

Innomine waz ist mir geschehen,
in
so chvrzen stvnden.

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III. Die Bilderliandsolirift der Eiuüdt. 51

daz ih eneas han gesehen,
ia enpfinde ih wol der wnden.

In diesem Bilde sitzt Lavinia auf einem Stuhle. Im folgenden kauert sie
in ihrem Schmerze auf dem Boden und der Stuhl steht neben ihr.

Häufig wird das Haupt in die Hand gestützt. Hiemit ist stets ein trau-
riges Nachsinnen trefflich ausgedrückt; so in den mannigfachen Liebes-
nöthen, die das Gedicht enthält, oder in der Klage um geliebte Todte.

Ein andermal wird Lavinia in ihrer Liebesnoth mit ausgebreiteten
Armen, die Elbogen an die Seiten gelegt, dargestellt. Diese Bewegung
erinnert auffallend an die altchristliche Stellung während des Gebetes, und
deutet hier gewissermaassen ein Anflehen der Minne zur Sänftiguiig der Lei-
den an, wie auch das daneben befindliche Spruchband besagt:
t

Jh bin von minne worden hoeiz.
nah ainem manne der sin nine wceis.
vnd mvz verwandeln min leben,
mirn welle minne bezzer frnde geben.

Die mehr leidenschaftliche Klage wird durch ein krampfhaftes Ringen
der Hände mit vorgestreckten Armen ausgedrückt. In dieser Bewegung
sehen wir Dido schlaflos auf ihrem Lager:

Owi . welich rat wirt min.

H!

daz ih mit minnen svs bechvmbert (>in.

Ebenso die Lavinia:

Gnade frowe minne.
owi war sint min sinne,
rhomen dich
(d'ich) het e.
daz mir nv ist so vnsanfte we.

W_

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52 lUlclerhaiidscliriftmi des MittPlalters.

Kbenso klagt Dido gegen Aeneas:

iz mac mih balde riwtn .
ih mvz engelten miner Iriwen .

während er tröstend, wie .es scheint, seine Rechte auf ihre Schulter legt
und mit der Linken ihre Hände niederzudrücken bemüht ist, gewisser-
maassen, um seine Schuldlosigkeit anzudeuten.

Mit derselben Bewegung klagt Aeneas um seinen Freund Pallas, der
in dem herrlichsten Aufblühen ritterlicher Jugend gefallen ist. Ebenso die
Aeltern um den edeln Sohn, nachdem ihnen Aeneas die Leiche heimge-
sandt; beide, im Begvifl' in Ohnmacht zu fallen, werden von Dienern
gehalten. •

In dem Bilde, wo Aeneas ins Schiff steigt, um Dido zu verlassen,
stürzt diese ihm aus dem Thore der Stadt, mit freiem verwildertem Haare,
nach und zerreisst das Obergewand überjhrer Brust, während sie spricht:

Owi iamer vnd ach

duz ich dich vnyetriwen man ie gisach.

Wo geküsset wird, fassen dagegen die beiden betheiligten Personen
einander auf gar naive Weise bei den Köpfen, und da in solcher Situation
in der Regel nicht viel gesprochen wird, so waren dabei auch keine
Spruchbänder nöthig.

IV.

STUDIEN IN DEUTSCHEN BIBLIOTHEKEN.

Vom Jahr 1832.

(Museum, Blätter für bildende Kirnst, 1834, Nro. 11 ff.)

Bibliothek von Cassel.

1. E;vangeliarium in klein fol. mit der vorn eingeschriebenen Notiz:
Ii Bibliotheca Monasterii Abdinghof in Paderborn consentiente atque do-
nante E. Abb. Felice procurante vero. B. E. BasjJe. transiit Eibl. Smi.
Hass. Landgr. mense Octobri
1773. Vorn einige rohe urfüluminirte Feder-
zeichnungen in dem manierirten (byzantinischen ?) Style des elften Jahr-
hunderts: 1) Christus am Kreuz, ganz bekleidet, auf einem Fussbrett ste-
hend; darüber, in Kreisen, Sonne, und Mond, Brustbilder, die in der linken
Hand ein Füllhorn halfen. Zu Christi Seiten Maria und Johannes. Unten
eine Schlange, die sich um den Kreuzesstamm windet. Ein Weib unten
in der Ecke, mit entblössten Brüsten, in der Linken ein Füllhorn haltend
(die Erde?), hebt einen Mensehen, der die Hände ausstreckt, etwa zu glei-
cher Höhe mit der Schlange empor. 2) Die Marieen am Grabe und der
ElngeJ. Darunter Christus mit dem Kreuzstabe, der Adam und Eva aus den
Flammen zieht. 3) Ausgiessung des hf I. Geistes. — Das Buch hat einen

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IV. Studieu iu deutscheu Bibliotheken. 53

laessingeiieu Deckel mit Steinen, in der Mitte, in Elfenbein geschnitzt, Re-
lief-Brustbilder von Engeln und 4 Heiligen.

2. Evangeliarium in klein fol. (um 1200), mit grossen Initialen,
die mit den gewöhnlichen byzantinischen Ranken geschmückt sind. Es
enthält vorn einen Kalender mit rundbogigen architektonischen Abthei-
lungen. Dann Gegenstände der heiligen GesclTichte , und die 4 Evange-
liston vor den einzelnen Evangelien. Die Figuren sind im Anfänge auf
goldnem, hernach auf mehrfarbigem Grunde. Es sind vollständige Ma-
lereien, die Schatten in dem jedesmaligen Lokaltone leicht ausgeführt, und
nur in den Umgränzungen schwache Striche angewandt. Der Styl ist der
einfach strenge des zwölften Jahrhunderts; die Architekturen sind rein
rundbogig, die Säulen, Avelche Kuppeln tragen, oft mehrfarbig.

3. Handschrift des Wilhelm von Oranse in gross fol. Auf dem
letzten Blatt ist, mit sehr grossen Buchstaben, die folgende Schlussschrift
enthalten:
Anno clomini millesimo treceniesimo tricesimo quarto illustris
princeps henricus lantgrauus terre hassie dominus volumen istud in hono-
rem sancti wilhelmi marchionis scribi fecit a sua curia nunquam alienandum,
sed apiid siios heredes perpetiio permajiendum.
Mit einer Menge von Bil-
dern, von denen aber nur die ersten vollendet, die letzten mehr oder we-
niger unvollendet sind. Die Umrisse sind mit der Feder gezeichnet, dann

C^i (l^et Ixpinerid) «übe |ln uruuic in I)i>t)fr uicrl)id)(i)t,)

die Massen illuminirt und hernach Schatten und Lichter aufgesetzt. Die
Darstellungen sind vor einem Gold- oder höchst zierlichen Tapeten-Grunde.
Avelcher letztere sich entweder in freien Linien bewegt, oder eine Würfel-
theilung, nach Art der französischen Miniaturen, mit kleinen eingelegten
Ornamenten hat. Zu Anfang des Gedichtes ist Christus mit den 4 Evan-
gelisten-Symbolen dargestellt; darunter, im Anfangs-A, der Dichter knieendj

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54 Bilderliaiidschriften des Mittelalters.

uiiten phantastische Arabesken mit Affen, Hunden
und Vögeln. Das Kostüm der folgenden Bilder ist
noch das einfache der früheren Zeit, wie es aus
dem Hortus deliciarum des Herrad von Landsperg
bekannt ist, namentlich bei den Rittern noch ein
Kette'npanzer und Wappenrock. Bei jedem der voll-
endeten Bilder findet sich eine erklärende Beischrift
in rother F'arbe. Den Darstellungen ist eine grosse,
liebliche Naivetät, den Figuren eine besondre Milde
eigen.

Spätere Notiz (1841): — Die früheren, ganz aus-
geführten Bilder sind noch ziemlich starr germanisch,
obschon die Farbe an sich weich aufgetragen ist.
Die späteren Bilder sind unvollendet, und die gegen
den Schluss des Buches nur Umriss-Zeichnungen.
Diese aber erscheinen grossartiger und würdiger giot-
tesk. Zum Theil sind sie sehr bedeutend.

4. Todtentanz in 4. Fünfzehntes Jahrhundert.
Eine Reihe sehr roher Malereien, die aber eine grosse
Keckheit und Mannigfaltigkeit, namentlich in der
Figur des Todes, zeigen, in welchem schon hinläng-
lich alle künftige Tollheit und,, ich möchte sagen.
Vergnüglichkeit vorgedeutet ist, oft noch eine grös-
sere. Zuweilen hat er einen Mantel um; meist aber
ist er nackt und weniger ein eigentliches Gerippe
als eine vertrocknete, zerfetzte Mumie. Die ekel-
hafte Nacktheit, in der er dasteht, wird nur durch
seine unüberwindlich gute Laune erträglich, contra-
stirt übrigens zur Genüge mit den drüber geschrie-
Als Beispiel mögen die folgenden Verse dienen,

IBibl. V. Cassel, 3.)

benen ehrbaren Versen,
in denen er mit dem Mönch spriclit.

Der Tod sagt:
Komm monich an dissen dantz
Du haist vber geben diese werld gantz.
Und dinen orden woll gehalden.
Von got wirstu nit geschalten.
Nu kom du solt frolich sterben.
Und gnaide von got erwerben.
Die aber irrent bisz in den doit
Die komen in bitterlich noit.

Der Mönch sagt:
Got sy lop danck vnd ere
Nu alwege vnd numer mere.
Der mich hat gegeben.
Zu füren eyn geistlichS leben.
Und der bruder bin worden.
Die da gehalten hant den orden.
Darumb der doit ist nur eyn troist
Nu 'werden ich fry vnd gantz erloisl.

üMi

ÜHfiM

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IV. Studien in deutschen Bibliotheken,

5. Gebetbuch aus dem funfzelmteu Jahrhundert, reich an Miniaturen.
Die Bilder sind von vortrefflicher sauberer Arbeit, die Farben sehr wohl-
erhalten , die Lichter mit Gold aufgesetzt. In den Gestalten und in der
Gewandung ist ein eigenthümlicher Adel, ausgezeichnet das Colorit und
der Ausdruck in den Köpfen. Die Eandverzierungen haben in der Regel
einen matten Goldgrund, darauf Blumen, in natürlichen Farben, sauber ver-
streut liegen oder Arabesken und architektonische Ornamente angebracht
sind. Merkwürdig ist u. a. die Darstellung eines Christophorus, der im
Begriff ist, den Christusknaben auf den Arm zu nehmen, und ein heiliger
Georg, der mit dem Drachen kämpft. Dieser Blätter sind 24. Dann folgen
19 andre von späterer Hand, roher und im Styl minder rein, zum Theil
Darstellungen aus dem Theuerdank enthaltend.

Spätere Notiz (vom Jahr 1841): — Die einzelnen Blätter gegenwärtig
unter Glas. Titelblatt mit dem "Wappen des Kardinal Alb recht von
Brande nburg. Saubre Nürnbergische Arbeit. — Sehr verschiedene Hände.
Das Ganze wohl erst in späterer Zeit (unter oder nach Albrecht?) so zu-
sammengestellt. Zum Theil niederländisch, — brabantisch, etwa in

55

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m

56 BiliJßliiaiidschrifteu des Mittelalters.

der Richtung des Q. Messys, dabei Memling'sclier Einfluss, auch Weiches
und Kundliclies in der Art der Kölner Schule. Behandlung einfach; zarte
Farbe, die aber nicht mehr glänzend; schönes Blau u. dergl., zarte Gold-
lichter. Schon hier verschiedene Hände: — Vorzüglich bedeutend eine
Reihe von Halbfiguren , Heilige darstellend, höchst nobel und würdig,
reine, selbst plastische Formen. Dann, zwar in ähnlicher Art, doch schwä-
cher, Scenen der heil. Geschichte und der Legende. Zum Theil von einem
^hüler des Meisters der vorigen Blätter; diese die tüchtigeren. Bezeichnet:
Jß. — Zum Theil nürnbergische Arbeiten. EinPaarvonH. Sebald
Beham, bez.: Jj^ oder Jsp, manierirt und schon dem H. Goltzius ver-
wandt. Bei weitem die Mehrzahl derselben von Micolaus Glockendon
(bez. NG.); sie erscheinen wie mittelmässige Arbeiten im Style des Albr.
Altdorfer. Die Nürnberger stehen überhaupt in ihrer leichten Golorir-Manier
sehr gegen die Niederländer zurück.

Bibliothek von Carlsruhe.

Hier ist nicht Bedeutendes für Miniaturstudien enthalten. Interessant
ist ein Evangeliarium des zwölften Jahrhunderts:
(Mojiasterii S. Petri
in Silva nigra, a.
1779), darin die jedesmalige linke Seite ein Bild, die
rechte das Evangelium mit grossem Anfangsbuchstaben enthält. Die Bil-
der sind auf farbigem (blauem) Grunde mit einem zwischen Goldstreifen
eingefassten Blätterrand. Die Figuren sind lang, mit langgestrecktem Fal-
tenwurf, einfarbig, mit schwarzen Linien und Schattenangabe; die Gesich-
ter ohne Ausdruck. Sonst sind sie , namentlich im Kostüm, denen des
Hortus deliciarum ähnlich. In dem Blätterornament der Initialen sind zu-
weilen auf phantastische Weise Figuren oder Drachen verschlungen. Die
Architekturen sind rundbogig. —Ein Psalteriiim des dreizehnten Jahr-
hunderts enthält einige wenige Bilder in den Initialen auf Goldgrund, mit
farbigem Rande; in derselben Arbeit und Art, wie die der vorigen Hand-
schrift. Die Falten der Gewänder «chliessen, was öfter in jener Zeit vor-
kommt, mit eigenthümlichem Sinus. Merkwürdig ist eine Darstellung des
Erzengels Michael, der ein seltsames Convolut von Drachen aus dem
Himmel stösst,

Oeffentliche Bibliothek von Stuttgart.

\

1. Psalterium lat. (Bibl, fol. No. 12 a, b, c.) Siebentes Jahrhun-
dert. 3 Theile, in Uncialen von streng alterthümlicher Form geschrieben;
die Anfangszeilen mit grösseren Buchstaben von zum Theil quadratischer
Form. Jeder der drei Bände fängt mit einer grossen Initiale an, die ge-
malt ist und schwarze Umrisse sowie eine innere Zeichnung von weissen
oder rothen Linien hat. In ihrer Hauptform sind diese Initialen aus Fischen
zusammengesetzt; auf gleiche Weise werden die verschiedentlich vorkom-
menden kleineren Initialen gebildet.

2. Drei Passionalia, (Bibh fol. No. 56, 57, 58). Ex. Mbl. Zxoifal-
ten, Saec. XII.
In diesen Handschriften sind die einzelnen Legenden mit
grossen Anfangsbuchstaben geschmückt, die a^if die reichste, mannigfachste
Weise gebildet sind, entweder aus Ranken, oder mit Ranken und Blumen

HM

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IV. Studien iu deutschen Bibliotheken.

f 1

57

oder Drachen durchsdiluugen , aus Archkekturen. bestelieud u. s. w. In
letzterem Falle wird z. B. das I-durch einen Thurm, das T durch eine
Bogenstellung gebildet, u. a. m. Ranken und-.Drachen sind. sti-eng auf

(Bibl. V. Slultgarl, 1.)

byzantinische Weise slylislrt, erstere meist sehr reich, zuweilen sehr ge-
schmackvoll-, ebenso sind auch andre vorkommende Pflanzen- und Thier-
gestalten in strenger Stylisirung dargestellt. Sodann ist häufig die Haupt-
handlung der bezüglichen Legende, die Darstellung der Passion, mit der
Form des Buchstabens verbunden oder hinein verflochten und zwar auf
eine meist ebenso naive als phantastische, keinesweges aber unglückliche

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58 Bilderliaiidschriften des Mittelalters.

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IV. Studien in deutschen Bibliotheken. 59

Weise; so erscheint der heil. Sebastian an den Stamm des pflanzenartig
ornamentirten Anfangs-I angebunden; so entsteht vor der Legende der heil.
Margaretha das Anfangs-B durch einen Drachen, dessen Kopf durch Banken

an den vorderen Stamm gebunden ist, der dann in zwei Leiber ausgeht,
die, nach oben und nach unten herum geschwungen, die beiden Bögen des
B bilden; in dem unteren Felde des B kniet sodann die Heilige, während
der genannte Drache seinen Krokodilrachen gegen sie aufsperrt; im oberen

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60 Hilderhaudscbrifteii des Mittelalters.

Felde sitzt der Tyrann stolz auf seinem Thron, indem er sich mit deu
Armen an den umhergeschlungenen Banken festhält. U. s. w. Die Figuren
sind im Uebrigen in einem sehr trockenen, leblosen Style gezeichnet, doch
enthalten sie manches nicht Uninteressante für das Kostüm der Zeit; die
vorkommenden Utensilien, Stühle, Schreibepulte, ü. s. yw, sind in ebenso
phantastischen Formen erfunden, wie das anderweitige Ornament. Die Bil-
der aller drei Bände sind schwarz und rothe Federzeichnungen; in No. 56
mit blau und grünem, zuweilen gelbem Grunde-, in No. 58 ohne gefärbten
Grund und viele nur roth gezeichnete Ranken-Initialen ohne Figuren-, in
No. 57 entweder schwarz gezeichnete, meist ausgemalte Zeichnungen der
Figuren ohne Grund, oder rothgezeichnete Initialen auf blauem, grünem
und gelbem Grunde. — In No. 56 ist auf der inneren Seite des hinteren
Deckels ein nicht ganz vollständiger, roth und schwarz (auf Pergament)
gezeichneter Plan von Jerusalem und den umgebenden Ortschaften aufge-
klebt. Die verschiedenen vorkommenden Kirchen sind in vollständiger An-
sicht und zwar im romanischen (sog. byzantinischen) Styl; Jerusalem ist
rund, mit 5 Thoren; umher liegen
Betlüeem mda, Tiberias , Magdalim,
Getsemane, Jericho
etc. Ebenso ist in No. 57 auf der inneren Seite des
hinteren Deckels der Riss in roth und schwarzer Farbe einer alten Kirche
(gleiclifalls auf Pergament) aufgeklebt. Dieser Riss zeigt einen schweren
rundbogigen Säulengang von 5 Säulen und 2 Halbsäulen mit Maskenkapi-
tälen und ungeschickten attischen Basen , welcher mehr das Innere der
Kirche anzudeuten scheint, als etwa eine Vorhalle; darüber, unter dem
Dach, die Bogenfenster, und zwar zwei und zwei nebeneinander; auf den
Ecken vier Thürme mit höchst eigenthümlichen Kuppeldächern (mir ist
kein erhaltenes Gebäude der Zeit bekannt, au welchem dergleichen vor-
käme); in der Mitte eine Kuppel mit schrägem Dach und an den Seiten
Tribunen mit grossen im Viertelkreis gewölbten Dächern i).

3. Biblia fol. No. 60. Um 1200. Die Evangelien (unvollständig) und
vorher einige wenige Stücke des alten Testaments, mit einer Menge
: grösserer und kleinerer Initialen in roth und schwarzen Umrissen auf

schwachgelbem, rothem, blauem, grünem Grunde. Darin sind, auf gleiche
Weise wie bei den eben beschriebenen Handschriften , die heiligen Ge-
schichten dargestellt, nicht selten aber mit Andeutung einer gewissen Feier
und Würde in den Gestalten; ausserdem viel phantastisches Rankenwerk
in Verbindung mit abenteuerlichen Thiergestalten. Viele der Initialen
sind ganz oder theilweise herausgeschnitten; an einzelne^ Stellen sind
Flicken (ebenfalls von Pergament) untergesetzt und darauf die fehlende
Schrift, in zierlichen Lettern, die etwa dem fünfzehnten Jahrhundert an-
gehören, ergänzt. Offenbar ist diese Verletzung nicht etwa durch reisende
Liebhaber verursacht, sondern um anstössige , vielleicht nur zu barocke
fc Bilder zu vernichten.

^ 4. Evangeliarium lat. (Bibl. fol. Nro, 7.) Um 1200. Auf dem

ersten Blatte: Hic Uber ex antiquo Coenohio viilgo dem alten Closter dona-
tus Missioni Hamhurgensi Soc. Jesu a Dm. Joanne Antonio Ghequiere,
cui Sorte obtigerat a.
1709. Vorn ein Kalendarium zwischen Säulen mit
grossen Blätterkapitälen und Rundbögen; dann die Bilder der 4 Evange-
listen. Die Figuren sitzend, mit langem Oberleib und Beinen, grossen Hän-

') Das beiliegende lithographische Blatt enthält ein Facsiuiil« dieser merk-
würdigen Darstellung, i

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IV. Studien in deutseben Bibliotheken. 61

den und Füssen, ein paralleler, schwülstig breitgezerrter Faltenwurf; den
Grund bilden Säulen mit Blätterkapitälen und rundbogiger Architektur;
ein Vorhang hängt an den Bögen und ist um die Säulen geschlungen; der

(Eibl. V. Stullgart. .'}.)

Rahmen ist reich mit Blättern und verschlungenen Ranken verziert. Im
Text kommen grosse Initialen von Ranken und Blättern vor. Die Bilder
sind gemalt, meist roth und blau (erinnernd an die roth und schwarzen
Umrisse); Gold in Scheinen und Kleidersäumon.

5. Psalterium lat. (Eibl. fol. No. 10), um 1200, mit einigen Bildern
(Verkündigung, Christi Geburt, Maria mit dem Kinde als Himmelskönigin,
Kreuzigung) auf Goldgrund. Plumpe Malerei, widerwärtig gelbe Zigeuner-
gesichter mit grossen Augen, kurzer Nase und sehr langem Untergesicht;
im Faltenwurf ein gewisser, bewegter Styl.

6. Evangeliarium lat. (Bibl. fol. No. 71) „Ex Bibl. Zwifalt."
Um 1200. Zu Anfang jedes Evangelisten sind die grossen Initialen auf
eigenthümliche Weise aus reichen Stab- und Bandgeflechten, mit Drachen
durchschlungen, gebildet und in rothen Linien gezeichnet. Vorher ist ein
Kalendarium und hinterher ein Kapitulare der Evangelien , in drei Ko-
lonnen zwischen vier durch Rundbögen verbundenen Säulen geschrieben.
Die Kapitale dieser Säulen sind meist Laubkapitäle, die Basen häufig
Thiere, Menschen, grosse Köpfe, Hände und Bandverschlingungen; auf den
Rundbögen sind Laubwerk oder Thiere angebracht. Die Säulenschäfte sind
meist mit Mäander-artigen Bandverschlingungen oder mit aufsteigendem
Ranken- und Blattwerk geschmückt; unter letzterem kommen ungemein zier-
liche Muster vor. — Die Handschrift hat einen Deckel von Leinwand, auf

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Bilderhatidschrifteu des Mittelalters.

dem die Spuren einer gleich alten Stickerei, Gestalten von Christus und
Heiligen darstellend.

7. Evangeliarium lat. (Bibl. fol.
No. 1). Vor 1200. Tn den Initialien schö-
nes, zwar in rohen Linien gezeichnetes Ran-
kenwerk; besonders das erste Blatt im Mat-
thäus, welches die Worte
Liber generationis
Ihv fili David fiUi Abraham
auf sinnreiche
Weise ganz in Blätterranken verschlungen
enthält.

8. Psalterium lat. (Bibl. 4. No. 40),
mit einigen Bildern und einigen grossen Ini-
tialen. Diese sind im Style des zwölften
Jahrhunderts, olfenbar aber nur Kopieen
nach älteren, da die Schrift und die klei-
neren Initialen — mit jenem auf Einem
Blatt, selbst auf Einer Seite — in den zier-
lich späten Formen des fünfzehnten Jahr-
hunderts erscheinen: ein interessantes Bei-
spiel für die lange Fortdauer älterer Style,
das freilich jin klösterlich abgeschlossenen
Schreibstuben leicht seine Erklärung findet.
Die Figuren sind sehr roh gezeichnet, na-
mentlich mit imverhältnissmässigen undplum-
pen Extremitäten, der Faltenvs'urf in ein-
zelnen Partieen bereits styllos. Ebenso ist
die Malerei roh, mit schwarzen Conturen,
Schattenangabe und dicken weissen Lich-
tern; in den Gesichtern ist nur ein sehr
schwaches Roth auf Stirn und Wangen, die
Unterlippen aber scharf roth gezeichnet.
Goldgrund mit eingekratzten Ornamenten.

9. Augustini Confessiones (Theol.
et Philos. fol No. 21G), vor 1200, mit einer
phantastisch gebildeten, schlecht gezeichne-
ten Initiale, einem M, seiner allegorischen
Beziehung wegen merkwürdig. Dasselbe be-
steht aus zwei Säulen mit ■•einem Bogen; den
Mittelstamm bildet ein nafjktes Weib (ohne
Zweifel die Erde vorstellend), welches zwei
um die Säulen gewundene Schlangen an
seinen Brüsten saugen lässt.

10. Biblia lat. (BibL fol. No. 3 a, b,
c) 3 Bände; vierzehntes (nach dem Katalog
fünfzehntes) Jahrhundert. J|^m Schluss des
zweiten Bandes steht:
IsteiUher est montis
de castis [castris
nach eineij späteren Schrift
im dritten Bande)
oi'dinis celestinorum. Das

Titelblatt jedes Bandes ist aus grossen, mit geschichtlichen Darstellungen
verzierten Initialen von später Arbeit und geringerer Bedeutung zusammen-
geklebt, Der Text ist in zwei Colonnen geschrieben. Jedes Buch der Bi-

(12

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IV. Stddien in deutschen Bibliotheken.

63

bei beginnt mit einer grossen Initiale,
welche Figuren in Bezug auf den fol-
genden Text enthält. Von den Initia-
len ziehen sich Ranken nach oben
und unten hin; im unteren Rande
des Blattes befinden sich auf den-
selben phantastisch gebildete Gestal-
ten, meist je zwei auf einem Blatt.
Zu Anfang der jedesmaligen Prologe
enthalten die Initialen nur eine reich
verschlungene, zum Theil schlangen-
artige Rankenverzierung. — Die Dar-
stellungen sind entweder auf Gold-
oder auf einen bunten, tapetenartig
gemusterten Grund gemalt. Die Fi-
guren und sonstigen Gegenstände sind
leicht illuminirt, mit schwacher An-
gabe des Schattens ; Gesichter und
Hände sind das leere Pergament mit
leisem Roth auf Wangen und Stirn;
tiber der Farbe ist die Zeichnung in
dunkeln Linien mit dem Pinsel wie-
derholt, nicht immer aber mit der Un-
terzeichnung übereinstimmend. Auf
dem grossen Buchstaben selbst und
in den Eckün des farbigen Einschlus-
ses ausser demselben ist ein leichtes.

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(54

Ulli

Bilderliandsehrifteii des Mittelalters.

m-

Husserst zierliches Ornament mit "Weiss aufgemalt; auch der genannte Gold-
grund ist zuweilen mit tapetenartigem Ornament versehen. — Die Figuren sind
in dem leichten, graziösen Style der germanischen Periode (13. bis 15. Jahr-
hundert), mit reichen, langen Linien des FallenAvurfes, der indess zuweilen

— nicht durch Eigenthtimlichkeit des Styles, sondern durch Ungescliick
des Zeichners — schwere Motive enthält. Die Köpfe sind ungemein zier-
lich, die Hände an einzelnen Figuren zu gross und in bekannter manierirter
Haltung. Die Darstellungen zeigen eine grosse, zum Theü komisclie Nai-
vetät. So ist z. B. der Psalm:
Salviim me fac deus quia intraverunt aquae
usque ad animam meam,
wörtlich so dargestellt, dass in dem unteren Theile
des Anfangs-S der König David nackt, bis ans Kinn im Wasser, die Hände
emporhaltend, ausgestreckt daliegt, während oben Gott in Wolken erscheint,
in der Linken die Weltkugel haltend, die Rechte schwörend aufgerichtet.
So ist vor den Sprüchen Salomonis der Dichter mit Krone ^nd Ruthe (als
König und Lehrer) abgebildet und vor ihm ein Knabe riiit entblösstem
Oberleibe, ein Buch auf den Knieen. Vor dem Hohenliede ist eine Maria
mit dem Kinde dargestellt. Im Anfangs-I der Genesis, welches sich den
ganzen Rand herunter erstreckt, sind acht Medaillons angebracht, die sieben
Schöpfungstage und den gekreuzigten Heiland enthaltend. U. s. w. — Bei
weitem aber das Merkwürdigste und Eigenthümlichste unter den Bildern

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IV. Studien in deutschen Bibliotheken

65

"SPMWi

dieser Bibel sind die phantastischen Gestalten auf den Ranken im unteren
Rande der Blätter. Dieselben zeigen weder jene Lust an bloss monströsen
oder obscönen Gebilden, noch .eine absichtliche Satyre gegen Personen oder
Institute (z. B. Klosterleben), dergleichen wohl sonst, mehr indess in etwas

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66 Bildfrhandsrbrifteii des Mittolaltcrs,

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IV, Studien in deutschen Bibliotbekou".

späterer Zeit vorkommt. Sie sind vielmehr lediglich aus einer so genialen
Laune, aus einem so wahrhaft klassischen Humor — der sich nach ernster,
anhaltender Beschäftigung mit dem Heiligen und tiefsinnig Tragischen ge-
legentlich einmal Luft machen muss und ^also nur sein selbst willen 'exi-
stirt — hervorgegangen und, wenn auch^ leicht, doch mit einer solchen
Wahrheit und Lebendigkeit, mit einem (für jene Zeit höchst merkwürdigen)
so bestimmten und so mannigfach Avechselnden Ausdruck in den Köpfen
ausgeführt, dass mir bis jetzt nirgend Bildungen ähnlicher Art vorgekom-
men sind, die diesen an die Seite gesetzt «u werden verdienten. Es sind
fast nirgend menschlich historische Darstellungen, selten auch wirklich
vorhandene Thiergestalten-, von jenen kommt nur ein Goliath und David
vor, unter diesen nenne ich einen Hund, der, einen Dudelsack zwischen
den Vorderpfoten, einem Häslein zum Tanz aufspielt; zumeist sind es eigen-
thümliche, chimärisch zusammengesetzte Thierbildungen, in der Regel mit
dem Kopf oder mit dem ganzen Oberleibe eines Menschen versehen. In

dieser höchst ungezwunge-
nen , ich möchte sagen:
natürlichen Zusammensetz-
ung, die nur in gewissen
bekannten antiken Bildungen
ihres Gleichen findet, zeigt
sich zunächst die Meister-
schaft des Zeichners; sodann
aber vornehmlich in der Art,
wie diese seltsamen ünge-
thüme einander gegenüber
gestellt sind, wie sie einan-
der anglotzen, sich unterhal-
ten, den Hof machen, sich
zanken und schimpfen und
dann wieder höchst vornehm
auseinander gehen und einer
verächtlich atif den anderen
zurückblicken. Ich wieder-
hole es, dass der Reiz die-
ser humoristischen Gebilde,
was sonst so selten vor-
kommt, nirgend durch etwas
physisch oder moralisch Wi-
derwärtiges getrübt wird.

11. Weltchronik des
Rudolph von Hohen-
Ems (Bibl. fol. No. 5). Am
(Bib!.
V. siuitgari, II.) Scliluss der Handschrift Steht:

y/ den fridag was sanctus Bricteus
Do navi diz buch ende alsus
Nach godes geburten dusent jar
Darzu {CCC) dru vnd achtzig als eyn har.

Pergamenthandschrift mit Bildern auf Gold- oder Tapetengrund. Die Bil-
der sind ziemlich roh gearbeitet; die Figuren mit der weichen langfaltigen

67

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68 Rilderhandschrifteii des Mittelalters,

(ücAvandiing der Zeit (aber ohne grossartige Motive), mit Scliattenangabp,
weissen Lichtern im Gesicht und scharfem Weiss im Ange.

12, Niederländisches Brevier in 4. (Brev. No. II); Bemerkung
am Schluss:
dit loec is gheeynt int iaer ons hern. MCCCCXXXV om
trint. D. ian.
Mit Bildern und Randornamenten. Die Figuren sind kurz,
mit starken Köpfen , dicken Gesichtstheilen und dunkeln Schatten im Ge-
sicht; goldne Lichter auf den Gewändern. Sie haben vollständig den auf
niederländische Weise eckig gebrochnen Faltenwurf, aber mit grossartigen,

(I3ibl. V. SlilUifarl, 13.)

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IV. Studien in deutscheu Bibliotheken.

würdigen Motiven. Die Darstellungen
sind auf Goldgrund, darin meist eine
gothische Architektur gezeichnet ist.

13. Serenissimi Ducis Eber-
hardi 1 Barbati Gebett Buch (Brev,
No. 1). Deutsch, mit einzelnen Bildern
und durchweg mit Randverzierungen,
die aber grossentheils unvollendet sind ;
mehtere der Bilder sind nur in leichten
Umrissen vorhanden. Die Randverzier-
ungen bestehen aus den zierlichst ver-
schlungenen Laubziigen, dazwischen die
fabelhaftesten Monstra, schlangenhaft
bunt gemalt, vorkommen, die hier aber
zumeist nur einer wüsten Phantasie,
ohne jenen ergötzlichen Humor, ihren
Ursprung verdanken und somit als Ge-
gensatz der unter No. 10 erwähnten
Gebilde zu betrachten sind.

14. Missale (Bibl. fol. No. 59).
Am Schluss steht:
Anno doniini M.
CCCC. LXXXL finitus est praesens
Uber per me leonardum salwirck de
Güntzhurg.
Ein wenig bedeutendes Bild
der Kreuzigung auf Goldgrund und treff-
lich gemalte Randornamente, die nament-
lich eine geistreiche Stylisirung freier
Naturformen enthalten.

KÖnigl. Privatbibiiothek zu Stuttgart.

1. Psalterium lat. cumCalen-
dario. Pergamenthandschrift in klein
Folio, ein für die deutsche Kunstge-
schichte sehr wichtiges Werk, für den
Landgrafen Hermann von Thüringen (wie
sich aus dem' unten Angegebenen er-
gicbt), der von 1195 bis 1215 regierte,
und an dessen Hofe, laut der Sage,
der berühmte Wartburgkrieg gesungen
ward, geschrieben. Auf dem zweiten
Blatte steht (beim neuen Einband halb abgeschnittenJ:
Monasterii Wein-
gartensis.
Die Handschrift ist mit Bildern und grossen Initialen, welche
durchweg auf Goldgrund gemalt sind, verziert; unter den angewandten
Farben ist das Blau von vorzüglicher Schönheit. Es sind vollständig
ausgeführte Miniatur-Gemälde. Das Nackte ist grünliclibraun schattirt,
mit dunkelrothen Umrissen; Lichter mit Weiss aufgesetzt; in den Ge-
sichtern, auf den Wangen, sind kleine leicht vertriebene rothe Flecke,
die Unterlippe und die Schattenseite der Nase durch einen Strich von glei-
cher Röthe bezeichnet. Die Haare sind sehr verschiedenfarbig. In den
Gewändern sind die Linien des Faltenwurfes durch dunklere Striche be-

69

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70 Hilderliandscliriften des Mittelalters.

zeichnet, mit vollständiger Ausmalung der Schatten (in gleicher Farbe) und
mit weissen oder sonst hellfarbigen Lichtern (auf roth z. B, hellblaue Lich-
ter) von eigenthümlicher Schraft'irung, so nämlich, dass erst ein Paar Linien
mit der Hauptfalte parallel laufen, und dann andere aus diesen seitwärts

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IV. ütudieu iu deutschen Bibliothekeu. 71

hinausschralfirt sind. Die Figuren sind, den.verschiedenen Räumen gemäss,
von verschiedener — von langer, mittlerer und sehr kurzer — Proportion,
die Extremitäten im Verhältniss zum Ganzen. Der Faltenwurf ist, wenn
gleich starr, scharf und eckig, so doch auf eine würdig feierliche Weise
geordnet. Das eigentlich Ausgezeichnete in den Bildern aber besteht min-
der in charakteristischer Individualisirung, als, nächst der Sauberkeit und
Vollendung der Technik, in der typischen Form einer gewissen Würde
und idealen Schönheit (besonders im Kopfe Christi), die in jener Zeit
sonst nicht leicht zu iinden sein dürfte. — Das Buch zerfällt in folgende
Theile: I. Calendarium, 12 Seiten, jede-perpcndicular durch eine rund-
bogige Säulenstellung (3 Säulen und 2 Bögen) in zwei Theile getheilt, in
deren einem der Kalender des jedesmaligen Monates befindlich ist, ..in dem
anderen ein Heiliger des Monats und über diesem, in dem Rundbogen, ein
den Monat bezeichnendes landwirthschaftliches Bild. Die Heiligen sind,
dem Räume entsprechend, vielleicht auch als Nachbildungen älterer Manier,
von sehr langer Proportion, nicht ohne Würde und Hoheit in der Haltung
und mit, im Ganzen, wohlgeordnetem Faltenwurf; die Scheine, um sie von
dem Goldgrunde zu lösen, in blauer und grüner Farbe. .^Sie halten Bücher
oder Spruchbänder in den Händen, die aber, merkwürdiger Weise, unbe-
schrieben sind. In den Monatsbildern sind die Figuren, wohl des Rauraes
wegen, von sehr kurzer Proportion, iu ihren Beschäftigungen und Costü-
men, wie es scheint, eigenthümlich nordisch, somit eine in Deutschland
heimische Kunstschule bezeichnend. Darstellungen der Art kommen in so
früher Zeit höchst selten vor; es sind folgende: 1. Januar: ein alter Bauer
im Pelzmantel, der am Feuer sitzt und aus einem Gefässe trinkt, indem er
einen Stiefel ausgezogen hat und den nackten Fuss an der Flamme wärmt.
2. Februar: ein Mann, der von einem blätterlosen Baume mit dem Beil
einen Ast abhaut. 3. März: ein Mann, der von einem ähnlichen Baume
mit einem sichelartigen Messer einen Zweig abschneidet. 4. April: ein
alter Mann, der mit einem Spaten gräbt. 5, Mai: ein Mann, der an einem
Baum Zweige zusammenbindet. 6. Juni: ein Pflüger; der Pflug hat zwei
Räder, zwei messerartige Schaufeln und zwei Hölzer, auf welche der Pflüger
drückt. 7. Juli: ein Heuhaufen, zu dem ein Mann mit der Gabel ein Bün-
del Heu emporhebt; ein anderer, der oben auf dem Bauche liegt, nimmt
es in Empfang. 8. August: ein Schnitter, der mit einer Sichel Aehren
schneidet. 9. September: ein Kelterfass, darin ein Mann, das Kleid empor-
hebend, mit nackten Füssen steht. 10. October: ein Mann, der mit einem
Dreschflegel Garben drischt. 11. November: ein Sitzender, der, wie es
scheint, mit der Schaufel Korn auswirft. 12. December: ein Mann, der
mit dem Beil einem Schweine vor den Kopf schlägt. — II. Die Psalmen.
Sie beginnen mit einem B
(Beatus vir qui non etc.), welches die ganze
Seite einnimmt, ein sehr reich verschlungenes Rankengeflecht mit Thieren,
Vögeln, Drachen und kämpfenden Jägern, Sängern u, s. w. Im weiteren
Verlauf eine Reihe ähnlich reicher, aber minder grosser Initialen. Die fol-
genden Bilder sind im Text der Psalmen enthalten: 1. Die Taufe Christi
zu dem Psalm:
Dominus illumhiatio mea et salus tnea etc. Die Darstellung
nach dem gewöhnlichen Gebrauch, nur die Engel, welche die Gewänder
halten, ohne Flügel: der härene Mantel ist blau gemalt; der Christuskopf
von vorzüglicher Schönheit'. 2. Christus am Kreuz , vor dem Psalm:
Sal-
vum ine fac Dens qiioniam etc.
Christus, das Haupt auf die Seite geneigt,
mit hängendem Leibe, einen Schurz uni die Lenden, die Füsse auf einem

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72 Bilderhaudschrifteu das Mittelalters.

Fussbrette, aber mit Einem Nagel befestigt. Unter dem Kreüzstamm, in
einem Medaillon, das besiegte alte Testament, eine weibliche Gestalt, mit
verbundenen Augen, einer niederfallenden Krone und den Kopf eines

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Opferbockes in der Hand; über dem Kreuzstamm das siegende neue Testa-
ment, gekrönt, einen Becher und eine Kreuzfahne in den Händen. Ueber
den Armen des Kreuzes sind Sonne und Mond, zwei Köpfe, deren der
eine roth, der andere grau gemalt ist. Zu den Seiten Christi stehen Maria
und Johannes, beide in einfacher, sinnig klagender Stellung. 3. Christus
mit der Siegesfahne vor der Hölle, die als der oifene Rachen eines unge-
heuren, von oben gesehenen Kopfes dargestellt ist; aus dem Rachen schla-
gen Flammen, und viele halb oder minder sichtbare Menschen strecken
die Hände heraus. Christus fasst einen Alten, den Adam, beim Arm und
zieht ihn heraus. Vor dem Psalm:
Eocultate Deo adjutori nostro etc.
4 Christi Himmelfahrt, ohne besondere Eigenthümlichkeit; Christus mit
der Siegesfahne. 5, Ausgiessung des heiligen Geistes. 6. Das jüngste Ge-
richt. Oben sitzt Christus auf dem Thron, im Munde, nach der Linken,

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74 Hilderhaudscliriften des Mittelalters.

iiiyiiwiinii-ii

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auch bei den folgenden typisch wiederholten Schnitt), kurzem Bart und
überhaupt mit absichtlicher, glücklicher Individualisirung.. Ueber den
Bögen dieser und der folgenden fürstlichen Bilder sind grössere Architek-
turen angebracht, zwischen den vorigen kleinere. 'Unten im Text heisst
es:
Peccatores te rogamus audi nos .... Ut famuluvi tiium HERMAN-
NVM in tiia misericordia confidentem confortare et regere dign. ter. a. n.
Und später: Rege domine famulum tuum HERMANNVM et inlercedenti-
bus omnihus sanctis tuis gre. tue. in eo dona multiplica. ut ab omnihus
Uber ofensis et temporalibus non destituatiir auxiliis et semjnternis gaudeat
instiUitis.
5. Zwei Bischöfe, die zwischen sich einen grossen Ring halten,
darin ein Lamm mit der Siegesfahne. 6.
REGINA. VNGARIE. und
REX. VNGARIE.; sie der Sophia ähnlich kostümirt, er mit Krone und
Scepter. 7.
REX. BOEMIE. und REGINA. BOEMIE.; ähnlich wie
die vorigen, sie mit frei niederhängendem Schleier und geflochtenen
Zöpfen. — Darauf folgt ein sonderbares Bild, welches die ganze Seite ein-

ciji rotlies Schwert, die Rechte aufgehoben, die Linke gesenkt; zu den
Seiten Maria und Johannes, die Häupter gesenkt, die Hände emporgehoben.
Unten zur Linken, die Verdammten, von zwei Teufeln an einer dicken
Kette fortgezogen (die Teufel sind schwarz, zottig, mit langen Nasen und
Hörnern); zur Rechten die Seligen mit aufgehobenen Händen und aufge-
richteten Gesichtern. 7. Darstellung der heiligen Dreieinigkeit, in der ge-
wöhnlichen Weise. Der Engländer Dibdin, der in seinem Werk:
a hi-
bliographical, antiquarian and picturesque tour in France and Germany,
London
1821, von der in Rede stehenden Handschrift spricht, giebt eben-
dort eine ziemlich getreue Abbildung dieser Darstellung, darin nur die
Gewandung nicht scharf und bestimmt genug gezeichnet ist. — Hl. Die
Litanei, in zwei durch drei Säulen gebildeten Columnen geschrieben; oben
in den Rundbögen sind Brustbilder, ebenfalls auf Goldgrund, enthalten:
1. Maria und Johannes der Täufer. 2. Zwei männliche Heilige mit Rüstung
Schwert und Fahne; der Brustharnisch des einen besteht, merkwürdiger
Weise, aus gelben Schuppen; der andere ist ganz im Kettenpanzer. 3. Zwei
weibliche Heilige mit Palmen. 4. SOPHIA und HERMAN. LANTGRA-
VIVS. TVRINGIE. Sie mit Krone und Schleier, ein Buch in den Hän-
den; er im Hermelinmantel, die Linke auf die Brust gelegt, die Rechte
erhoben, mit blauer Mütze, starkem, lockigem Haar (nicht in dem sonst,

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IV. Studien in deutschen Bibliotheken, 75

nimmt. In der Mitte sitzt ein Greis auf einem Thron, in blauem Unter-
kleide, rothem Mantel und mit nackten Füssen; mit langem, grauem Bart-
und Haupthaar (letzteres etwas struppig wie beim Johannes Baptista) und
einem Heiligenschein. Auf seinem Schoosse ein Kind, ohne Schein , im
grünen Kleide und mit nackten Füssen, welches zu beiden Seiten Aepfel
an je zwei weibliche Gestalten, die langes Haar und lange Hängeärmel
tragen, austheilt. Ueber dem Schein des Alten wächst eine seltsame Blume
empor, darin, an kelchartigen Stellen, fünf Menschengesichter. Zu beiden
Seiten vom Haupt des Alten und der Blume sind Je zwei Figuren, welche
auf einem, aus dem Goldgrunde hervortretenden grünen Streifen (fernerem
l^rdboden) stehen: zur Linken ein Fürst mit der Krone, hinter ihm ein

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76 Bilderhaiidscliriften des Mittelalters.

barhäuptiger Diener; zur Rechten eine Fürstin und eine Dienerin; alle
halten Blumen in den Händen. — IV. Vespera defunctorum, ohne weitere
Bilder.

2. "Weingartner Minnesinger-Codex. Dreizehntes Jahrhundert.
Vor jedem Dichter ist das Bild desselben befindlich, welches ihn einfach
dastehend oder sitzend und nachsinnend, zusammen mit der Geliebten oder
jagend u. s. w. darstellt. Es sind überall dieselben Motive, welche in den
Bildern des berühmten Mannesse'schen Minnesinger-Codex zu Paris wieder-
kehren; nur erscheinen sie in der Weingartner Handschrift überall ein-
facher und minder bewegt, so dass die Mannesse'schen als spätere Arbeiten,
vielleicht als freie Copieen jener, zu betrachten sein möchten. Dazu kommt
auch die in letzteren noch minder ausgebildete Technik, die Zeichnung in
schwereren, einfacheren Linien und in der Ausführung ein blosses Colo-
riren ohne Angabe von Schatten und Lichtern. Uebrigens zeigen sie be-
reits entschieden den neuen Styl, der mit dem dreizehnten Jahrhundert
eintritt und welchen ich den germanischen genannt habe.

^ Bibliothek von München.

1. Wessobrunner Pergamenthandschrift vom Jahre 814 oder
815. (Dieselbe, welche das berühmte Wessobrunner Gebet, eins der beiden
Ueberbleibsel ältester deutscher, noch alliterirender Poesie, enthält; vergl.

I

(übt ttßccnliit iuboa t lacti.)

Graff, Diutiska H, 368). In dem vorderen Theil dieser Handschrift: -De
inveniione S. Crucis, ist, im Text, eine Reihe von Bildern enthalten, welche
die verschiedenen Begebenheiten bei und nach der Auffindung des heiligen

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IV. Studien in deutschen Bibliotheken.

Kreuzes und dessen Bewährung darstellen. Es sind sehr rohe , mit un-
sicherer Hand geführte Federzeichnungen, welche mit wenig Farben (die
überdies gelitten haben) stellenweis roh bemalt sind. Doch zeigt sich in
ihnen noch ein gewisser Sinn für Form, sowie eine Andeutung von Würde
im Faltenwurf, und zwar noch auf ähnliche, nur ungleich rohere , antiki-
sirende "Weise, wie in der bekannten vatikanischen Rolle mit der Geschichte
des Josua (vergl.
d"Agincourt, Peinture, pl. XXXVIII, sqq.)-, auch findet
sich bei Betenden noch die aufrechte Stellung mit aufgehobenen, ausge-
breiteten Armen, wie auf den altchristlichen Monumenten der ersten Jahr-
hunderte. Was das Kostüm anbetrifft, so ist bei den Männern, wo solche
nicht ein Priesterornat oder die lange, antik ideale Kleidung tragen , eine
kurze Tunica manicata zu bemerken und engänschliessende Hosen mit einer
gewissen Art von Stiefeln und Binden uin die Knöchel. Sie tragen kurze
Schwerter an der linken Seite, die linke Hand auf den Griflf gestützt; oder
einen grossen, über den linken Arm hängenden Mantel und einen grossen,
länglichrunden Schild mit scharf vorspringendem Nabel, nebst Lanze. Das
Haar der Männer ist kraus.

2. Evangeliarium von St. Emmeram in Regensburg, im
Jahre 870 von zwei deutschen Priestern Beringer und Liuthard geschrieben,
von Kaiser Karl dem Kahlen an das Kloster St. Denys in Frankreich ge-
schenkt , von König Arnulph um 891 nach Deutschland entführt. Purpur-
pergament mit Goldschrift, eigenthümlichen Initialen und verschiedenen
Bildern. Nähere Kunde und Abbildungen von dieser merkwürdigen Hand-
schrift gibt das Buch des Jesuiten Coloman Sanftl:
Disseriatio in au-
reum ac penetustim SS. Evangeliorum codicem ms. Mo7iasterii S. Emme-
rami Ratisbonae
1786. Der Styl in der Zeichnung ist ganz derselbe
romanisirende (noch nicht byzantinische), wie er aus andern bedeutenden
Handschriften der Carolinger Zeit bekannt ist, doch höchst barbarisch und
mit einzelnen verzwickten Gestalten; die Malerei ist sehr roh, mit Schat-
tirung und mit weissen und goldenen Lichtern; sehr reiches goldenes Ran-
kenwerk in den Anfängen der Kapitel. Vorn ist das Bild des Kaisers und
seiner zum Theil allegorischen Umgebungen, davon Sanftl einen ziemlich
getreuen Kupferstich giebt; auf der Nebenseite eine Anbetung des Lammes.
Merkwürdig sind die Symbole der Evangelisten: auf der Mitte des Rück-
blattes vom Matthäus, welches unter reichen Ornamenten den Titel ent-
hält , ist ein Löwe dargestellt, in den Ecken die vier Evangelisten; bei
Marcus ebenso eine Figur Christi, bei Lucas ein Lamm, bei Johannes eine
aufgerichtete Hand. In den Band - und Rankenornamenten kommen reine
Akanthusformen , Kelche , Akanthuskapitäle u. a. vor. Die Arbeit des im

elften Jahrhundert hinzugefügten goldenen, mit
Edelsteinen und Perlen reich verzierten De-
ckels ist bedeutend strenger als in der Abbil-
dung bei Sanftl. ,

3. Evangeliarium (Cod. lat. membr.
cum pictt. No.
56) Saec. IX, Ex bibliotheca
Monasterii Schefftlarn.
Sehr rohe Malereien.
Die Calendarien und Initialen sind_ mit ein-
fachem Bandornament und Vogelköpfen, nach
Art der vorigen Handschrift, verziert. Die
(Eibl. V, München, 2.) Bilder der Evangelisten, auf Purpurgrund, in

höchst unsicheren, rohen Linien, sitzend, meist in sehr ähnlicher, unglück-

77

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78 Hilderliauds(3hrii'teii des Mittelalters.

(BiM. V, üüüulini, 4.1

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IV. Studieli in deutschen Bibliotheken.

7!)

lieh kauernder Stellung, in matten Farben geraalt, mit wenig Schattirnng:,
in den rohen Gesichtern sind die lichter mit "Weiss aufgehöht, die Schatten
röthlich braun. Sie sitzen neben einem Schreibpult und einem Kasten mit
Schriftrollen. Johannes ist bereits Jung dargestellt.

4. Evangeliarium (ib. No. 51) Saec. X. Darin zwei Bilder von
Evangelisten, Marcus und Johannes. Sie sind gemalt, auf dunkelm Grunde,
mit Schatten und Lichtern, die in der Localfarbe gehalten sind; noch roh,
namentlich die nackten Theile, wenig eigentlicher Styl in den Falten ; doch
ist gerade hierin ein gewisser U^bergang zwischen dem-neunten und elf-
ten Jahrhundert, die sich beide schärfer charakterisiren, zu bemerken.
Johannes ist alt dargestellt, in einer fast würdig ruhenden Stellung, neben
ihm ein schön stylisirter Adler, sowie ein Topf mit hohen Lilien.

1:

5. Evangeliarium Bambergense (B., No. 3) Saec. IX, mit äusserst
rohen Malereien der Evangelisten. Auf der Vorderseite des Deckels ist
eine schön in Elfenbein geschnitzte Taufe Christi, viele Engel in den "Wol-
ken ; sie zeigt bereits (oder noch) ein näheres "Verständniss des Nackten
und' schliesst sich im Styl der Elfenbeinarbeit der folgenden Handschrift
Auf der Rückseite des Deckels sind zwei Elfenbeinreliefs: 1. eine

an.

"Verkündigung, durchaus noch (ob auch in einer gewissen Rohheit) römisch
gehalten; die Madonna, im Schleier, eine sehr schöne und würdige Figur
von antikem Charakter; auch der Engel trefflich. Zwischen ihnen eine
Tafel mit dem Grusse. Darunter 2. die Geburt Christi. Minder bedeutend.
(S. Jaeck, vollständige Beschreibung der öff"entlichen Bibliothek zu Bam-
berg, p. XLVL)

6. Missale Bambergense (B., No. 7) vom Jahre 1014 (Jaeck.
p. XLI), mit schönem, unstreitig gleichzeitigem Elfenbeindeckel, welcher
eine reiche Reliefcomposition enthält. In der Mitte Christus am Kreuz:
oben, zu beiden Seiten, anbetende Engel und unter ihnen Sonne und Mond,
erstere als bärtiger Kopf im Strahlennimbus. Zu den Seiten des Kreuzes
stehen die beiden Krieger mit Lanze und Schwamm, in kurzer Tunica ma-
nicata und mit engen, etwas faltigen HoseUj der eine mit phrygischer Mütze;
neben thnen Maria und Johannes. Den Fuss des Kreuzstammes umwindet
eine Schlange; daneben sind Gräber, die sich aufthun und aus denen Todte
hervorsteigen. Im untern Räume des Deckels ist das Grab Christi in antik
geradliniger Architektur, mit den schlafenden "Wächtern , dem Engel und
den drei Marieen. Die Figuren sind kurz , zum Theil mit grossen Extre-
mitäten, besonders was die Füsse anbetriff't, aber ohne Wulstigkeit in den
Formen ; sonst sind sie wohlproportionirt und mit grosser Sauberkeit in
den Köpfen. Die Figur des Christus insbesondere ist schön und rein, mit
vielem Verständniss des Nackten gearbeitet^ auch ist der Faltenwurf hie
und da mit Würde gelegt. Es zeigen sich viele Erinnerungen an römische
Kunst; doch weist zugleich Einzelnes, nairientlich der scharfe Parallelismus
in den Falten längerer Gewänder, bestimmt auf byzantinischen Einfluss.
Ein schöner Akanthusrand umgiebt das Ganze. — Die Bilder im Buche
selbst haben Aehnlichkeit mit denen der obengenannten Emmeramer Hand-
schrift ; doch ist die Arbeit sauberer, besonders in den Köpfen, der Falten-
\yirf strenger und geradliniger. Dazu kommt, dass das zweite Bild, welches
eine förmliche Copie der Kaiserdarstellung in der Emmeramer Handschrift
ist, auf bestimmte Studien nach deren Bildern hinweist. Das vorhergehende
Bild zeigt den Kaiser Heinrich II, über ihm Christus, der ihm die Krone

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80 Bilderhaiidscliriften des Mittelalters.

aufsetzt; zu dessen Seiten Engel, die dem Kaiser Schwert und Kreuz reichen.
Der heilige Udalricus und der heilige Emmeramus stützen seine Arme.
Die Bilder sind hier auf tapetenartigem Grunde dargestellt; das Laubwerk
der Bäume ist ein rosettenartiges Ornament. Ornamentirte Initialen.

7. Evangeliarium Bamb. (B., No. 4) Saec. XI; Auf dem Deckel
ein sauberes Elfenbeinschnitzwerk, eine Darstellung des Todes der Maria.
Christus hebt die kleine, in Tücher gewickelte Seele empor, sie zweien
Engeln hinreichend, die Tücher entgegenhalten. Es ist liier viel Ausdruck
in den Köpfen, doch scheint bereits jenes Verständniss der Formen mehr
zu fehlen; dafür ist der völlig byzantinische Faltenwurf um so sauberer
ausgeführt. Sehr zierlich durchbrochene Architektur. — Die Bilder dieser
Handschrift sind sehr sauber, meist auf Goldgrund gemalt, scharfe Linien
in den Falten, aber höchst unglücklich verzwickte Figuren. Vor den
Evangelien ist, auf zwei Seiten, eine grosse eigenthümliche Darstellung:
zur Rechten der Kaiser auf dem Thron, neben ihm zwei Geistliche und
zwei Krieger; zur Linken, sich neigende, gekrönte weibliche Figuren; Roma,
eine Schüssel mit Edelsteinen haltend; Gallia mit einer Palme, Germania
mit einem Füllhorn, Sclauinia mit einer Scheibe.

8. Evangeliarium Bamb. (B, No. 5) Saec. XI. Gross fol., mit sehr
reichem Elfenbeindeckel. In der Mitte die Kreuzigung Christi. Oben, aus
den Wolken, reicht eine Hand herab; zu beiden Seiten Kränze, darin, zur
Rechten, Sol dargestellt ist, im Wagen, mit einer Fackel, und ein Vierge-
spann lenkend, zur Linken Luna ebenso , mit Halbmond und Bogen, von
vier Kühen gezogen. Um den Fuss des Kreuzes windet sich eine Schlange.
Darunter das Grab mit dem Engel und den drei Marieen; noch tiefer öffnen
sich die Gräber, und zu unterst sind drei grössere Figuren: ein liegender
Flussgott; ein Weib mit halbentblösster Brust, sitzend und emporschauend;
und ein anderes Weib, am Boden kauernd, mit nacktem Oberleib, eine
Schlange an der Brust und ein Füllhorn haltend. Sämmtliche Figuren sind
in schwulstigen, dickbäuchigen Formen; die Architekturen der Gräber mit
Säulen, Giebeln und Kuppeln und mit rundbogigen Fenstern. In dem gol-
denen Rahmen des Deckels sind musivische Heiligenköpfe angebracht; die
Umrisslinien, die bei Miniaturen der Zeit gewöhnlich schwarz sind, werden
hier durch feine Goldstreifen gebildet, welche zugleich die einzelnen Stücke
der Mosaik verbinden. — Die Bilder, welche sehr viele und mannigfal-
tige Darstellungen aus der heiligen Geschichte entfalten, sind in ähnlichem

(Bibl. V, Olünt-Iien, 9.)

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IV. Studien deutschen Bibliotheken.

81

Styl wie die der vorigen Handschrift-, die Figuren sind hier aber gänzlicli
oline Proportion, steif oder verzwickt, und völlig leblos und starr.

9. Evangeliarium Bamb. (B, No. 2) Saec. XI. (Jaeck. p. XLVII,
No. VI.) Der Deckel mit einer Goldplattc "überzogen , darauf getriebenes
Ornament, phantastische Thierfiguren in den Ranken. Die Handschrift ent-
hält, nach dem mit Architekturen eingefassten Calendarium, eine eigen-
thümliche Darstellung Christi: Christus in einem elliptisch geschlossenen

Regenbogen, auf und-vor einem Baume (mit pilzar-
tigen Laubgruppen und kleinen rothen Früchten) ste-
hend; einen Ast mit der Linken fassend, eine gol-
dene Kugel oder Scheibe in der Rechten. In den
vier runden Ecken des Regenbogens sind, zu Christi
Rechten Sol, ein rother Kopf mit Strahlen; zu seiner
Linken Luna, blau mit der Mondsichel; oben ein
alter hellblau-grauer Kopf, Uranus; unten ein brau-
nes Weib, Tellus, mit nacktem Oberleib, den Stamm
des Baumes haltend. In den vier Ecken des Blattes
sind die vier Symbole der Evangelisten, von grün-
lichen Sirenen-artigen Figuren getragen. Der Regen-
bogen mit den vier Rundungen ist von Goldstreifen
eingefasst; der Grund innerhalb desselben ist oliven-
grün mit bläulich - grünem Rande, ausserhalb lila,
welches nach oben in rosa, nach unten in Grün über-
geht. Auf der Nebenseite steht mit goldenen Un-
(Sireiien-ariig.; iMgur.) cialen auf Purpurstrcifen geschrieben*.

Pax. bonitas, uirtus. lux. et sapicntia Christus,
Siyniferum supra. tenet et generale quod infra. .

^ Hac ope diuina. paradysi cale.at amobnä. ■ '

Et uelut hic stando. uictoris Signa gerendo.
In supra positis. animalibus atque figuris.
Flumina lege pari, dat mystica quatuor orbi.
Qui sitit inde bibat. saluus per secula uiuat.

Dann ist vor jedem Evangelisten das Bild desselben und auf der an-
dern Seite eine rankenverzierte Initiale mit dem Anfang in Uncialen. Die
Figur des vor dem Schreibepult sitzenden Evangelisten ist jedesmal von
zwei Säulen eingeschlossen ,. die einen horizontalen Streifen mit einer In-
schrift tragen und darüber einen flachen Bogen, innerhalb dessen eine Dar-
stellung ihrer Symbole, zugleich in Bezug auf Christus, enthalten'ist. Die
Zeichnung der Figuren ist im höchsten Grade formlos und widerwärtig; die
Malerei dagegen ist ungemein sauber, mit Schattirungen in der Lokalfarbe
und weissen Lichtern. Das Nackte, welches sehr verschiedenfarbig vor-
kommt, ist grün und braun schättirt. Die Evangelisten sind auf Goldgrund,
die oberen Figuren auf farbigem Grunde dargestellt. Die vier Darstellungen
sind: 1. Matthäus, in hellbräunlicher Fleischfarbe; er schreibt auf einer
Rolle, die auf dem Pulte liegt. Oben Christus (hellgelbe Fleischfarbe) als
König und mit dem Siegeskreuz; daneben der Engel (or/ingegelbe Fleisch-
farbe). — 2. Marcus (röthliche Fleischfarbe), in der Rechten die Feder,
beide Hände und das Haupt staunend erhoben, (denn es heisst in den Bei-
schriften:
Ecce leo fortis. Transit disorimina mortis. —'Fortia facta stn-

Kuglor, Kleine Srliriflcn I. " 6

wm

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82 Bilderhaiidscliriften des Mittelalters.

pet. Marcus qui nuntia defert.) Oben Christus (hellgelbe Fleischfarbe)
mit dem Kreuz aus dem Grabe auferstehend, daneben der geflügelte Löwe. —

3. Lucas (orangegelbe Fleischfarbe), die Linke mit einer Holle senkend,
die Rechte mit der Feder erhebend und vor sich niederblickend. Oben ein
sterbendes Lamm von gelblicher Farbe, einem Pferde ähnlich gezeichnet;
daneben der geflügelte Ochs. — Johannes (gelbliche Fleischfarbe, graues

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IV. Studien in deutschen Bibliotheken.

83

Haar und Bart); er sitzt in einem grossen Lehnstuhl und erhebt Hände und
Haupt. Oben eine Hand, die Christum (gelbliche Fleischfarbe) emporzieht.
Daneben der Adler, ziemlich natürlich in Form und Farbe.

10. Evangelia rium aus Kloster Niedermüns ter in Regensburg,
(B., No. 1) Saec. XII. Gross fol. Zu Anfang verschiedene mystisch allego-
rische Darstellungen mit reichem Rankendrnament und vielen Beischriften
versehen. Ich beschreibe eine derselben, welche durch die darin vorkom-
mende Figur des Todes ^besonders merkwtirdig ist. In der Mitte ist Chri-
stus am Kreuz, die Füsse auf ein Brett mit zwei Nägeln geheftet, in rothem
Gewände, mit der königlichen Krone iind der priesterlichen Stola. Etwas
tiefer, zu beiden Seiten des Kreuzstammes, stehen, links: Vita, eine weib-
liche Figur mit kreuzgeschmückter Krone und reichem Gewände, Gesicht
und Hände emporrichtend; rechts: Mors, in bleicher Farbe, mit struppigem
Haar , das Gesicht halbverhOllt, eine tiefe Wunde im Halse, der Körper
halbnackt, schlecht bekleidet und umsinkend, mit zerbrochener Lanze und
Sichel. Ein Drache, der aus dem Kreüzesstamme hervorwächst, scheint der
Gestalt in den Arm zu beissen. Auf beiden Seiten des Blattes sind klei-
nere Darstellungen: oben Sol und Luna, die sich verhüllen. Dann rechts
das neue Testament, gekrönt und mit der Siegesfahne, den Kelch auf der
Krone; links das alte Testament, das Gesicht in dem Rahmen verbergend,
Gesetzrolle und Opfermesser in den Händen. Unten rechts auferstandene
Todte; links der zerrissene Tempelvorhang, — Vor jedem Evangelisten ist
dessen Bild; über ihm das dazu gehörige Symbol; unten die Darstellung
eines der vier Paradiesesströme; in den Ecken noch kleinere Darstellungen.
Die Zeichnung ist noch durchaus byzantinisch, doch mit einer gewissen
Formenkenntniss; die Malerei ist sauber, mit Schatten und Lichtern. Die
Darstellung der Ströme ist die eines nackten Mannes mit zwei Hörnern und
grosser Wasserurne zwischen zwei pilzartigen Bäumen. — Die Handschrift
befindet sich in einem grossen, mit Goldblech überzogenen Kasten, darauf
eine sehr rohe Figur Christi in getriebener Arbeit gebildet ist und einige
musivische Bildwerke, unter welchen schöne Ornamente vorkommen.

11. Evangeliarium (Cod. lat. membr. cum pictt. No. 86) Saec. XI.
Die Bilder zum Theil im Styl der genannten Bamberger Handschriften, einige
scheinen selbst Wiederholungen.

12. Evangeliarium (ib. No. 23) Saec. XI. Die Bilder der Evange-
lien in sehr strengem Styl mit etwas rundlichem Faltenwurf. Initialen.

13. Evangeliarium (ib. No. 31) Saec. XL Eine im Jahre 1538 ein-
geschriebene Notiz sagt:
Script, ab Ellingero Abbate Tegernseense (1017—.
1056). Die Bilder der Evangelisten auf Goldgrund in dem strengen Style
der Zeit, mit geraden, einfachen Falten, sauber gemalt; mit einer gewissen
Mannigfaltigkeit und Zierlichkeit des architektonischen Ornaments , beson-
ders in den Calendarien. '

14. Evangeliarium (ib. No. 57) Saec. XII. Ex B. Canoniae Bot-
tenbuchensis.
Bilder der Evangelisten, den vorigen des Ellinger sehr
ähnlich.

15. Evangeliarium (ib. No. 65) Saec. XL Ex B. Monalium Non-
bergensium Salisburg.
Die Bilder der Evangelisten; braune Linien , fast
keine Schattenangabe; sehr einfach geradliniger Faltenwurf.

16. Evangeliarium (ib. No. 90) Saec. XL Ex B. M. Follingen.

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84 Bilderhandschriften des Mittelalters.

Vorn eine sitzende Figur Christi im Regenbogen, in den Ecken die vier
Symbole. Ziemlich bestimmter Styl in den Falten, nicht scharfe Linien.

17. Evangeliarium (ib. No. 29) Saec. XIL Ex B. Capitali Cathe-
dral. Frismgensis.
Rohe Bilder der Evangelisten.

18 Evangeliarium (ib. No. 85) Saec. XIL Script, a Diernot, Mo-
niali Wessofontan.
Die Bilder der Evangelisten, farbig, auf Goldgrund in
Architekturen. Strenger, stiller Styl.

19. Evangeliarium (ib. No. 89) Saec. XII. Bilder der Evangelisten,
welche ihre Symbole auf den Schultern tragen. Etwas Freiheit im Fal-
tenwurf.

20. Evangeliarium (ib. No. 66) Saec. XIL Ecc B. M. Michel-Bu-
rani.
Die Bilder der Evangelisten, ziemlich sauber, in demselben bekann-
ten Styl.

21. Vita et Passio Apostolorum (ib. No. 72) Saec. XII. Ex B.
Augustana.
Mit vielen roth und schwarzen Federzeichnungen (ohne farbi-
gen Grund), welche sehr grosse Aehnlichkeit insbesondere mit denen des
Heidelberger Rolandgedichtes haben (auch die Schrift). Merkwürdig ist
hier, dass das Nackte, im Gegensatz gegen die Gewohnheit der Zeit, stets
Toth gezeichnet erscheint. '

22. Carmina varii Argumenti (ib. No. 73) Saec. XII. Mit meh-
reren Bildern; zu Anfang ein Glücksrad, verschiedene Spiele u. s. w. Sehr
saubere Zeichnungen in roth, schwarz und grünen Umrissen auf farbi-
gem Grunde; in den Figuren selbst wenig Farbe. Sehr zierlich ornamen-
tirte Bäume.

23. Precationes S. Hildegardis (ib. No. 114, Cod. in 4) Saec. XII
oder XIII. Jede linke Seite der Blätter enthält ein Bild in mehrfarbiger
(selten ausgefüllter) Zeichnung, auf farbigem Grunde. Wenig rothe Linien
im Gesicht, an der Nase, dem Mund und den Wangen. Rundbogige Ar-
chitekturen.

24. Breviarium (ib. No. 75) Saec. XIII. Ex B. Alderspacensi. Meh-
rere Bilder roh auf Golgrund, wenig leichter als die gewöhnlich byzanti-
nischen. Geschlitzte Augen, rundbogige Architekturen.

1

25. Psalterium (ib. No. 74) Saec. XIII. Ex B. Alderspacensi. Wenig
Bilder auf Goldgrund mit ziemlich feinen Gesichtsformen; im Faltenwurf
ziemlich byzantinisch. Die Deckel dieser und der vorigen Handschrift sind,
unter Hornplatten, mit Miniaturen geschmückt.

26. Evangeliarium et Lectionarium (ib. No. 7, b) Saec. XHI.
Ex B. M. Schyrensi. Von Conrad von Scheyern geschrieben, wie sich aus
den am Schluss des Buches geschriebenen Zeilen ergiebt;
Tu autem dömine
Chuonradi scriptoris miserere. Amen. Hic Uber hic finit. ScrijHoris et hic
Lahor exit. Sis nostri memor hic. MelUflua qui legis istic.
Eine Reihe von
meist roth und schwarzen Zeichnungen, auf farbigem (blauem und grünem)
Grunde, eröffnet das Buch. Zuerst ist eine Darstellung aüs der Offenbarung,
welche das ganze grosse Folioblatt einnimmt: die Jungfrau mit dem Kinde
(sie mit Flügeln) und vor ihr der siebenköpfige Drache. Hier sind Schat-
tirungen von grüner, blauer und röthlich - brauner Farbe angebracht; auch
in den Gesichtern eine gewisse Schattenangabe und rothe Wangen. Auf der
zweiten Seite die Darstellung eines Crucifixes, auf der folgenden wieder aus
der Offenbarung, auf der vierten eine Maria von Heiligen umgeben. Dann
folgen in einer Reihe kleinerer Bilder (mehrere auf einer Seite) zwei Le-

I

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IV. Studien in deutschen Bibliotheken.

85

genden, welche die Gnade der Maria , gegen die gefallenen und reuigen
Sünder verherrlichen. Beigeschriebene lateinische Verse erklären die Bilder.
Die erste enthält die Liebesgeschichte einer Aebtissin und ihre, unter dem
Schutz der Maria bewirkte heimliche Entbindung, obgleich sie von ihren

Nonnen belauscht und dem Papste verklagt war. .(Siehe darüber: Potho Pri-
flingensis de miraculis S. Dei genitricis c.
36; ed. a Pezio 1731). Die an-
dere stellt die Geschichte des Theophilus (des ältesten Faust) dar, der sich
dem Teufel verschworen hatte, hernach aber von der Maria wieder zu Gna-

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86 Bilderhaudschriftfu des Mittelalters.

byzantinischem Ornament. — In den Compositioneu Conrads ist bereits
viel eigenthiimliches Leben, grosse Freiheit in der Bewegung; der Formen-
sinn macht sich schon sehr bemerkbar. Der Faltenwurf ist lebendig be-

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IV. Studien iu deutschen Bibliotheken. 87

wegt, zuweilen schon in grossartig weichen und edlen Linien; er fügt sich
bereits auf erfreuliche Weise den Formen des Körpers. In den Köpfen ist
wenig Ausdruck, doch sind sie im Einzelnen nicht ohne Individualisirung;
die Arbeiten überhaupt sind leider augenscheinlich flüchtig gemacht. Conrad
bildet den Uebergang aus dem älteren, sogenannt byzantinischen Styl in
den germanischen.

27. Salomonis Episc. Const. Mater verborum (5. Glossarium)
c. aliis (ib. No. 7, c). Im Jahre 1241, wie sich aus dem Vorwort ergiebt,
von Conrad von Scheyern geschrieben..
Eil B. M. SchyrensL, Mit meh-
reren rohen, schwarzen oder schwarz und rothen Zeichnungen allegorischen
Inhalts, im Styl der vorigen (cf. Asetin, Beiträge VI, 101).

28. Comestor hist. scholast. (ib. No. 13, a) Saec. XIII. gleich den
vorigen von Conrad von Scheyern, wie sich aus dem ersten Bilde, eine
Maria mit zwei Engeln , unten einen knieenden Mönch darstellend, und
der Beischrift ergiebt:
Frater Chuonradus Peccator auctor et scriptor hujus
operis.
Hierauf folgen Darstellungen• der freien Künste; im Styl der
vorigen.

29. Evangeliarium (ib. No, 39) Saec. XV. Mit Evangelistenbildern
und Initialen im Style des zwölften Jahrhunderts, welche somit als Nach-
bildungen älterer Muster zu betrachten sind.

30. Evangeliarium (ib. No. 40, a) Saec. XV. Ein Bild und Initia-
len in demselben Verhältniss; Formen, Gesichtszüge und Faltenwurf streng
byzantinisch. ..

31. Evangeliarium (ib. No. 49) Saec. XIV oder XV. Mit Bildern
desselben Verhältnisses, nur ein wenig freier in den Formen.

32. Testamentum vetus et novum in imaginibus (ib. No. 63)
Saec. XV. Sehr reichhaltige Bilderbibel. Die Bilder ebenso Nachahmun-
gen byzantinischer, nur, wie bei den vorigen, mit mehr Freiheit im Falten-
wurf, aber rundbogige Architekturen. Die Bilder sind nicht alle von Einer
Hand; ein Theil ist roher und verräth, namentlich in den Gesichtern, spä-
teren Ursprung. Einzelne eigenthümliche Darstellungen, besonders der
Höllen strafen.

33. Psalterium (ib. No. 42) Saec. XV. Dasselbe Verhältniss in den
Bildern.

34. Psalterium (ib. No. 84) Saec. XIV. Dasselbe Verhältniss in
den Bildern.

35. Psalterium lat. et gall. (ib. No. 63, a) Saec. XIII. Bilder in
Initialen und am Rande, meist historische Darstellungen, besonders in an-
tiquarischen Beziehungen interessant; dann viele Thierzeichnungen, Jag-
den
U.S. w.; seltener phantastische Bilder, als Sirenen, Centauren u.a. Der
Styl ist entschieden germanisch.

36. Jacobus de Voragine, Legendae; Hist. lombart. (ib. No. 60)
Saec. XIV, Bilder in den Initialen, in germanischem Styl.

37. S. Benedicti Regula (ib. No.28) A. 1414. Ex B. M. Mettensis.
Mit zierlich gemalten Initialen, deren Figuren in den Köpfen etwas von
der kölner Schule haben. Ein grosses, noch ungemaltes Titelblatt in sau-
berer Federzeichnung.

38. Biblia pauperum (ib. No. 9) A. 1415. Viele Federzeichnungen
im kölner Style.

39. Gratiani decretum (ib. No. 10) Saec. XV. Gemalte Bilder im
kölner Style. .

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88 Bilderhaiidscliriften des Mittelalters.

40. Missale Roman um (ib. No. 17) scr. per Barthol. de Bartolis
de Bononia a.
1374, cum picturis Nicolai de Bononia. Initialen und ein
Bild zu Anfange, im Styl der alten Florentiner.

41. Li vius (ib. No. 21) drei Bände in fol.; auf dem ersten Blatt eines
jeden sehr zierlicbes Rankenornament mit Thieren und Genien, in den
Ranken verschlungen.

42. Liber Precationis (ib. No. 106) Saec. XIV. Ex B. palat.
Mannh.
Verkündigung und Kreuzigung auf Tapetengrund, im Styl des
Wilhelm von Orange. (Französische Rubriken.)

43. Regnault de Montauban (ib. No. 19) A. 1457. Grosser Codex
in fol. mit vielen sauberen Bildern, meist Schlachten und Kämpfen.

44. Livre de l'origine et du commencement du pays de
Cleves (ib. No. 68) Saec. XVI.
Ex B. palat. Mannh. Sehr zierliches
Titelbild des Schwanenritters
{le Chevalier helias), der in einem Kahn von
dem Schwane gezogen wirdj hinten ein Schloss, daraus eine Jungfrau her-
vorschaut.

45. Niederländisches Gebetbuch (ib. No. 105) Saec. XV. Mit
einzelnen grossartigen Darstellungen, namentlich des Todes.

Herrn von Hohenems geschrieben. Klein fol. Zwischen dem Text eigene
Blätter mit Bildern, deren zwei, zuweilen drei Reihen auf einer Seite ent-

46. Tristan, Deutsches Gedicht von Gottfried von Strassburg und
Ulrich von Türheim (Cod. germ. No. 51). In der ersten Hälfte des drei-
zehnten Jahrhunderts, wahrscheinlich in der Schweiz und zwar für einen

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IV. Studieu in deutschen Bibliotheken, '8Ö

halten sind. Es sind schwarze Federzeichnungen auf gefärbtem (blauem,
grünem, rothem, gelbem Grunde); die Figuren sind in der Regel dasjeere
Pergament, doch mit einfach farbigen Schattirungen in den Gewändern (die

selten ganz mit einer Farbe bedeckt
vorkommen) und mit rothen Schatten-
angaben und "Wangen im Gesicht. Di«
Namen der Dargestellten sind jedes-
mal beigeschricben, zuweilen auch er-
klärende Verse. Kostüm, Harnisch,
Panzerhemden u. s, w. sind einfach
alterthümlich, doch mit manchen Ei-
genthümlichkeiten (z. B. viereckigen
Helmen); es kommen verschiedenar-
tige musikalische Instrumente vor. Die
Architekturen sind noch rundbogig,
die Bäume in bestimmter Stylisirung.
~ Mit den Bildern in Handschriften
deutscher Gedichte des dreizehnten
Jahrhunderts scheint sich der neue
Styl, welchen ich den germanischen
genannt habe, entschieden Bahn zu
brechen; als eins der frühesten Bei-
spiele dürften die in Rede stehenden
gelten. Figuren und Faltenwurf ha-
ben bereits das charakteristisch Lange
und Langgestreckte, zugleich mit jenem
chinesisch lächelnden Ausdruck in den
Köpfen und absichtlicher Zierlichkeit
in den Bewegungen. — Die Zeichnun-
gen dieser Handschrift sind übrigens
von zwei verschiedenen Händen, die
hintere Hälfte sehr roh; die vorderen,
die uns hier nur interessiren, haben
leider vielfach gelitten und sind eben-
falls zum Theil roh überschmiert.

47. Wilhelm .von Orleans,
von Rudolph von Montfort (C. g.
(Tristan.) ' No. 63) Ä. 1250. Rohc, sehr wenig

vollendete Umrisszeichnungen, selbst die Gesichter noch nicht gezeichnet;
Anklang an die Bilder des Tristan.

48. Güldene Legend des Jac. a Voragine (C. g. No.6) A.1362.
Saubere Bilder im Styl zwischen denen des Tristan und der kölner Schule.

49. Bibel der Armen (C. g. No. 20) Saec. XIV. Leichte Zeichnun-
gen, roh gemalt, aber in einzelnen Figuren viel Würde des Faltenwurfs.

50. Gebetbuch für Nonnen (C, g. No. 101) Saec. XIV. Ziemlich
grossartige Bilder, etwa im kölnischen Styl; in der Behandlung erinnern sie
an feinere Miniaturen der byzantinischen Zeit.

51. Weltchronik des Rudolph von Montfort (C. g. No; 5)
Saec, XIV. Kleine Bilder in zierlich kölnischem StyL ^

52. Dasselbe (C. g. No. 4). Vom Jahre, 1400. Ebenso, nur minder
zahlreich. ^

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106 Bilderhaiidscliriften des Mittelalters.

53. Leiden Christi (C. g. No,
29) Saec. XV. Wenig vollendete Bil-
der, meist Umrisse, kurze Figuren,
aber sehr grossartiger Faltenwurf.

54. Jac. V. Cassales Schach-
zabel (C. g. No. 49) A. 1407.
Ziemlich saubere Bilder im kölni-
schen Styl.

55. Jac. V. Anch. Christ und
Belial (C. g. No. 48} A. 1461.
Ziemlich saubere Bilder, aber be-
reits entschieden im niederländischen
Styl.

Das auf der Münchener Biblio-
thek befindliche Gebetbuch mit den
feinen Miniaturen eines älteren nie-
derländischen Meisters (nach Eini-
gen des Hemling')), sowie das Gebet-
buch mit den berühmten Randzeich-
nungen von Dürer und Cranach über-
gehe ich, da sie allgemeiner bekannt
sind.

II.

Es möchte hier ganz am Ort sein,
einige Bemerkungen über die mit dem
vorgesteckten Zweck verwandten Ge-
genstände des Elfenbeinkabinets
von Münchcn zu machen. An äl-
teren Arbeiten enthält dasselbe eine
Reihe von Diptychen mit mannigfachem Schnitzwerk, einige im byzanti-
nischen Styl, mehrere aus dem dreizehnten und vierzehnten Jahrhundert.
Unter jenen findet sich vornehmlich eine merkwürdige Darstellung: Christus
am Kreuz; oben Sonne und Mond als halbe Figuren, zu den Seiten Männer
mit Lanze und Schwamm, Maria und Johannes; unten am Kreuzstamm die
Schlange. Darunter ein bärtiger Mann, auf einem Drachen sitzend, Flügel
auf dem Kopfe; ihm zur Seite ein sitzendes Weib mit nackten Brflsten, ein
Föllhorn haltend und vor ihr zwei Kinder. Tiefer die schlafenden Hüter
und noch tiefer der Engel vor dem Grabe und die drei Marieen. Die Fi-
guren sind übrigens sehr klein und von ziemlich roher Arbeit, mit krum-
men Beinen, hie und da noch eine Idee von Faltenwurf. Das Ganze ist
von einem Akanthusrande umgeben. — Wichtiger noch ist ein hier befind-

') Die Malereien dürften etwa Hemling's Schule zuzuschreiben seih; die Fi-
guren zeigen dickere, mehr rundliche. Formen, besonders im Gesicht, als dies
auf Bildern des Meisters selbst der Fall ist. Sie sind übrigens vortrefflich. —
Eigenthümliches Interesse für die Geschichte der italienischen Miniaturmalerei hat
ein hier noch einzureihendes Gebetbuch (V. a, No.: 9) mit der Inschrift: Anto-
nius Sinibaldus scripsit
A. D. MCCCCLXXXV. Es enthält Figuren im Styl
des Rafaellin del Garbo und des Lorenzo di Credi, in zierlich anmuthiger, zum
Theil noch mehr alterthümlicher Weise. Die Ränder sind reich, mit bunten Or-
namenten und artigen Kinderflguren. (1835;)

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IV, Studien in deutseben Bibliotheken.

lidies bronzenes Reliquienkästclien. Dasselbe ist von länglicher Ge-
stalt und wird von vier sitzenden Figuren, die ein Buch auf dem Schoosse
haben und lesen oder schreiben, getragen; an seinen vier Seiten, sowie an
den vier Seiten des dachförmigen Deckels, ist es mitKeliefs, Darstellungen
aus der Geschichte Christi, geschmückt. Die Arbeit ist sehr roh; doch
erinnert sie sowohl, durch eine gleiche Ahnung von Form im Nackten,
durch ähnliche Behandlung des Faltenwurfes und noch mehr der K()pfe,
an die im Jahre 1047 gegossenen Bronzethüren des Augsburger Domes, als
sich ebenfalls, in den eigenthümlich verschrobenen Stellungen, Verwandt-
schaft mit dem Style des elften Jahrhunderts verräth, welchen die in der
Münchener Bibliothek befindlichen^Bamberger Handschriften zeigen. Auf-
fallend war mir, in der Darstellung, wo ein Diener (bei dem "Wunder der
Hochzeit zu Canaan) "Wasser in die Kröge giesst, die fast ägyptisch styli-
sirte Bezeichnung des "Wassers durch drei im Zickzack neben einander hin-
laufende Linien.

Bibliothek von Bamberg.

1. — No. 588 (Vergl. Jaeck, vollständige Beschreibung der öflentlichen
Bibliothek zu Bamberg S. XXI) Saec. X. Gemalte Initialen mit Blätter-,
seltener Bandornament. Historische Darstellungen mit einfach illuminirten
Figuren, Die Umrisszeichnung ist über der Farbe wiederholt; Lichter sind
weiss oder anderfarbig, gelb oder blau, aufgesetzt; der Styl ist einfach
streng und trocken, doch ist der üebergang aus dem carolingisch-romani-
sirenden des neunten Jahrhunderts in den manierirten des elften nicht zu
verkennen, :

2. — A. II. 18. Evangeliarium. Saec. X. Ebenso den üebergang
bezeichnend, doch sich bereits entschiedener, besonders im Nackten, dem
elften Jahrhundert zuneigend.

3. — A. II. 42. Apocalyps. Evangel. Saec. XI, Sauber gemalte
Darstellungen , aber ganz in dem manierirt verschrobenen Styl der zu

München befindlichen Bamberger
Handschriften. Eigenthümlich my-
stische Darstellungen in der Apo-
kalypse.

4. — A. I. 47. Expositio-
nes in Cantica et Prophe-
tiam Danielis. Saec. XI. Drei
Bilder, ebenso sauber gemalt, doch
in der Zeichnung der Figuren
noch mehr Formloses und byzan-
tinisch Dickbäuchiges. Der Fal-
tenwurf hat etwas eigenthümlich
Flatterndes, Lebendiges.

5. — Ed. V. 4. Missale.
Saec. XL Die Bilder denen der
vorigen Handschrift ganz gleich,
nur die Figuren etwas länger. Es
sind unausgemalte Feder-Zeich-
nungen,

(Rill V. Bambw, 5.} ) 6- — Ed. III. 11. Sacra-

91

.'Ii
1

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Bilderhandschrifteu des Mittelalters.

92

P"

mentaria Gregorii P. Saec. XII. Den vorigen in der Technik ähnlich,
mit feinen schwarzen Conturen. Zwar noch ohne Formensinn und grossar-
tige Linien, doch bereits eine Hinneigung zu der würdigeren, strengeren
Weise, die im zwölften Jahrhundert sich allgemeiner zeigt.

7. — A. IL 47. Psalterium (No. 232) Saec. XII. Malereien auf
Goldgrund mit schwarzen Conturen und weissen oder farbigen Lichtern;
sie erinnern an die besseren Arbeiten vom Schlüsse des zwölften und An-
fang des dreizehnten Jahrhunderts. Im Einzelnen zeigt sich schon Formen-
sinn und ein grossartiger Faltenwurf; viel Freiheit, Kühnheit und Leben
in Stellungen iind Gewandung.

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V. Bibliothek von St. Galleu.

8. — No. 1049 (Jaeck, S. XXIX). Elfenbeindeckel aus dem elften
Jahrhundert. Auf jeder Seite eine Figur mit langen, einfach feierlichen
Falten und ohne hervortretenden Uiiterleib; durchaus im besseren byzan-
tinischen Styl. Sonst wenig Gefühl für Form; eine gewisse Härte in der
Arbeit; die Köpfe zum Theil ungeschickt. •

Bibliothek von Dresden.

Einige Handschriften der ehemaligen burgundischen Bibliothek vor-
nehmlich sind hier für unsere Untersuchungen von Interesse.

1. — 0. 61. Das Jagdbuch des Grafen Phoebus Gaston von
Foix (Ende des vierzehnten Jahrhunderts). Bilder auf Teppichgrund mit
sauberen Thiermalereien; die menschlichen Figuren in der Art des kölni-
schen Styles. Zierlich leichtes französisches Randornament.

2. — 0. 49. Apocalypse de St. Jean. Fünfzehntes Jahrhundert.
Am Schluss des Buches steht:
NuL ne. sy. frote. (s'y frotte), die Devise
Antons, Bastards von Burgund, naturlichen Sohnes von Philipp dem Guten.
Reich mit Bildern auf Gold- oder Teppighgrund verziert, die im Styl und
in der Technik denen der Stuttgarter Bibel (Bibl. No. 3) ähnlich sind,
auch mit Andeutungen ähnlichen Randornaments. Es sind hier in den
Darstellungen oft ganz weisse Figuren, ohne Schattirung und nur mit Um-
rissen gezeichnet, absichtlich zwischen gemalte gestellt; auch zeigt sich an
Einzelnen eine ungeschickte Dickbäuchigkeit. Im Costüm ist noch der
Kettenpanzer vorherrschend.

3. — 0. 50. Ebenfalls apokalyptische Darstellungen enthaltend, denen
der vorigen Handschrift sehr ähnlich. Häufig indess sind hier die Figuren
nur in den Schattenpartieen mit der Farbe leise angetuscht, und das Or-
nament ist im Uebrigen leer.

V.

BIBLIOTHEK VON ST. GALLEN.
(Mai 1'835.)

Zusätze zu den, im Aufsess'schen Anzeiger für Kunde des deutschen Mittelalters,
II., S. 250, enthaltenen Notizen von Mone, die künstlerische,Ausstattung dort

vorhandener Bücher betreffend.

ir?'-:.

„No. 21. Notter's Psalmen mit Bildern." — Schwarz und rothe
Federzeichnungen, mit Gold. Zwei Bilder und Buchstaben. Der Styl sehr
streng byzantinisch, etwas langgedehnt; der Faltenwurf ein wenig wulstig.

„No. 22. Psalmen mit Goldschrift und Bildern des neunten
Jahrhunderts." — Meist leichte Federzeichnungen, leicht in den Schatten
mit verschiedenen Farben getuscht. Der Styl in den Figuren und den Buch-
stabenornamenten zwischen dem carolingischen und dem byzantinischen in
der Mitte. Noch Gefühl für Form, besonders in den Füssen; viel und
absichtliche Bewegung in den Stellungen und namentlich im Faltenwurf;

93

-ocr page 106-

94 Bilderhaiidscliriften des Mittelalters.

liierin selbst noch antike Motive. Doch schon dicke Bäuche. Die Arbeit
im Uebrigen roh. Schwere Goldlichter. Besonders charakteristisch das
erste Blatt, wo der Kaiser auf dem Throne dargestellt ist, Andere neben
und unter ihm. Goldschrift auf weissem Pergament: die Bilder zuweilen
auf purpurviolettem Grunde.

„No. 23. Folkard's Psalmen aus gleicher Zeit mit herrlichen
Bildern." — Meist nur reich ornamentirte Initialen, etwa im Styl der
vorigen. Figuren in den Bögen des Calendariums, roh byzantinisch.

„No. 53. Tutilo's Evangelienbuch mit geschnitzten Deckeln
in Elfenbein und getriebener Arbeit."

Vorderer Deckel. Oben und unten zwei kleine Felder mit reich ge-
schlungenem rein byzantinischem Akanthusornament. Ein doppelt so
grosses Feld zwischen beiden; über und unter demselben die mit Uncialeu
geschriebene Inschrift:
Hic residei Christus virtiitum stemmate septus. In
der Mitte dieses Feldes der thronende Christus im Regenbogen, zu seinen
Seiten das
a und to-, die Hände erhoben, in der Rechten ein Buch. Zu-
nächst über und unter ihm die Evangelistensymbole, denen, in den vier
Ecken des Feldes, die Gestalten der vier Evangelisten, sitzend und schrei-
bend, entsprechen. Ausserdem oberhalb die Gestalten von Sol und Luna,
Halbflguren in antikem Costüm, Sol mit der Strahlenkrone, Luna mit dem
Halbmonde (Hörnern ähnlich), beide mit brennenden Fackeln, die sie gegen-
einander halten. Unterhalb die liegenden Gestalten des Oceanus, halbbe-
deckt, mit einer Wasserurne und einem Drachen zur Seite, und der Terra,
ebenfalls lialbnackt, ein Kind an der Brust, ein Füllhorn im Arme und ein
Baum neben ihr. Zu den Seiten Christi sechsflügelige Cherubimgestalten.
Zwischendurch kleine Architekturen.

Hinterer Deckel. Drei Felder von gleicher Grösse: 1. Ein schönes
Akanthusornament mit einer trefflichen Thiergruppe, Löwe und Hund. —
2. Mit der Ueberschrift:
Ascensio See Marie. Maria in der Mitte stehend,
in priesterlicher Kleidung, beide Hände betend erhoben. Auf jeder Seite
zwei Engel. — 3. Mit der Ueberschrift:
S. Gallus jJorrigit urso. Der

heilige Gallus mit der Mönchskapuze vor Bäumen; vor ihm ein stehender
Bär, der einen Baumstamm in den Vorderfüssen hält. Dann ein Kreuz.
Dann nochmals der heilige Gallus, der dem stehenden Bären das Brod
reicht, und ein liegender Geistlicher. — Die Figuren der Bären sind ziem-
lich roh gearbeitet. Die menschlichen Figuren noch ohne sonderliches
Gefühl. Die Verhältnisse leidlich, doch Arme und Hände gewöhnlich zu
gross. Die Bewegungen steif und monoton. Der Faltenwurf sehr monoton,
mit sehr vielen rundlich gezogenen Falten; die letzteren verrathen nur
wenig Körperform und bezeichnen nur hie und da einen dicken Bauch.
Die Details roh stylisirt.

„No. 60. Aehnliches Schnitzwerk von ihm mit guten Bil-
dern.'.' — Sehr treffliches Rankenornament, mit sechs höchst ausgezeich-
neten Thiergruppen; eine derselben eine Wiederholung der im Vorigen
genannten. Die Tliiere sind sehr fein, frei und naturwahr gebildet.

„No. 51. Mit irischer Schrift aus dem achten Jahrhundert
und wichtigen Bildern." — Streng stylisirt, in höchst abenteuerlicher
Weise, wie südsee - insulanische Decoration. Im Ornament etwas Caro-
lingisches.

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- „No. 216. Ein Deckel in Schmelz aus dem zehnten Jahrhun-
dert." — Getriebene vergoldete Figuren, byzantinisch auf buntem Emailgrund.

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i-.r-'-iiritiiM.-T I

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V. Bibliothek von St. Gallen. 95

„Die No. 565, 376, 398 haben auch Bilder, andere aus dem
elften Jahrhundert finden sich in den No 340, 341." — No. 376:
In den wenigen Figuren ein Mittelverhältniss zwischen streng byzantini-
scher Weise und dem Styl der Bamberger Prachthandschriften; letzteres
mehr in der Behandlung; im Ganzen mehr Form. — No. 340: Noch einige
carolingische Motive und einzelne Uebergänge zu den Manieren jener Bam-
berger Codices; sonst roh und barbarisch. — No. 841: Ebenso.

„No. 402 enthält ein Leben Jesu mit Bildern." — Gothisch,
mit schweren Linien.

„No. 359 hat einen Deckel mit altem Jti'echterschnitzwerk." —
Eigenthümliche Kampfscenen zwischen Männern und Weibern; viertes oder
fünftes Jahrhundert. Noch treffliche antike Motive im Nackten .und in den
fliegenden Gewändern; sonst roh.

„Dergleichen Schnitzwerk in Bein ist auch in No. 360." —
Nur einfach byzantinisches Ornament.

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DEUTSCHE KIllCHEN ÜND IHRE DENKMÄLER.

W I M I' F E H.

(Tagebuchblätter vom Jahr 1827.)

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.Iis J-
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. . . Tn OiTeiiau hatte ich die Nacht geruht. Ein frischer September-
niOTgen empfing mich, nachdem ich das "Wirthshaus zur Linde verlassen.
Fröhliche Morgenwinde umflatterten meine Schläfe; wie mit neuen Farben
blickten alle Gegenstände mich an. Eine reiche Landschaft umgab mich:
Vor mir "Wimpfen am Berge mit seinen spitzen Kirchthürmen, auf dem
hohen, jenseitigen Neckarufer; zur Rechten einzelne Ansiedlungen, die sich
bis zum Flusse niederzogen; Gärten, "Waldsaum, hinter mir, in. einiger
Ferne, eine grosse Ruine; zur Linken "V\^impfen im Thal, nur wenig
hervorragend aus den hohen, grünen Bäumen; und diesseit des Neckar ein
ander Städtchen , Jaxtfeld. Die Lerchen, welche ringsumher in der Luft
schwebten, wirbelten fröhlich in die Morgenluft hinein , und auch ich
schritt singend zum Neckar hinab. Bald hatte ich die Fähre erreicht; ich
liess mich übersetzen und
ging nach der Bergstadt hinauf, Avohin viele
Leute benachbarter Orte, des
Rosenkranzfestes wegen, zogen.

Die Stadtkirche zu "Wimpfen am Berge ist in gothischem Styl er-
baut; die zwei Thürme, zu beiden Seiten des Chors, sind mit spitzen, hohen
Dächern versehen; die Strebepfeiler schliessen mit zierlich 'geschweiften
Dächern. Ein Stein, welcher sich an einem der Strebepfeiler des Schilfes
befindet, sagt: dass im Jahre 1494 der Grundstein gelegt sei; Chor und
Thürme scheinen älter. Das auf der "Westseite befindliche Portal hat einen
Vorbau, — ein Rundbogen, über dem ein Eselsrückenbogen liegt. Die
Kirche hat zwei Seitenschifl'e, jedes derselben, gleich dem Hauptschifl", ihren
besonderen Chor. Haupt- und Seitenschiffe sind gleich hoch. Die Gewölb-
gurte bilden mannigfach verschlungene Kreisbögen. Das Gewölbe ruht auf
zweimal vier starken, runden Säulen, nicht, wie gewöhnlich, auf Pfeilern,
die mit.Säulenstäben verziert zu sein pflegen. Doch scheint die Kirche zu
niedrig gegen die Breite und besonders giebt ihr die Masse jener Gewölb-
gurte ein schwerfälligeres Ansehen. Die Altarbilder sind zierlich geschnitzte
und bemalte Hautreliefs zum Zusammenklappen, aussen bemalt. Vorzüg-
lich gute Gemälde waren auf einem solchen Nebenaltar. Sonst sind auch
einige gute Glasmalereien erhalten, namentlich eine kleine Anbetung der
"Weisen. Vor dem Hauptchor steht ein altes, hölzernes, dürres Crucifix,
innen hohl, ein ehemaliges Mirakelbild, das die Pfafl'en nach Gefallen wei-
nen und bluten lassen konnten.

Vor der Kirche stehen, unter einem eigenen Dach, drei CruciOxe, Sand-

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I. Wimpfen.

Steinstatuen von ausgezeichneter Arbeit: der Heiland mit den beiden
Schachern. Der Schacher zur Rechten, ein herrlicher Kopf, nackt und nur
mit einein dünnen Schurz bekleidet, die Lenden zerhauen; der zur Linken
in reichen gepufften Kleidern. Zu den Füssen des Heilandes die klagende
Madonna und Spuren eines Johannes.

Auch Wimpfen im Thal hat eine merkwürdige gothische Kirche').
Die Grundrissform bildet, wie in der Regel, ein lateinisches Kreuz. Das
Schiff ist höher als die Seitenschiffe. Die Westthürme sind alt, byzanti-
nisch, zum Theil mit einfachen rundbogigen Verzierungen, an deren zweien
Spitzen kleine Köpfchen hangen. Diese Thürme sind aus schwarzem Schiefer
gebaut; der übrige Theil der Kirche, wie die vorige in Wimpfen am Berge
und die folgende Cornelienkirche, von gelbem Sandstein. (Die Gebäude in
dem nahe gelegenen Heilbronn, sowie weiter abwärts am Neckar, gegen
Heidelberg zu, bestehen dagegen durchweg aus rothem Sandstein.) Die
Ostthürme, in den Ecken von Chor und Querschiff, sind gothisch, der süd-
liche aber unvollendet. Zu den Seiten dieser Thürme, an den Flügeln
des Querschiffes, treten gen Osten kleine Chörlein hervor, ähnlich dem in
der Flucht des Mittelschiffes liegenden Hauptchor der Kirche. Die Strebe-
pfeiler der Seitenschiffe hatten auch das Gewölbe des Hauptschiffes durch
freie Bögen stützen sollen , doch ist von diesen nur einer vollendet. An
der Westseite war früher ein grosses Portal oder eine Vorhalle, was aber
bis auf die Spur der frischer übertünchten Wand verschwunden ist. An
der Südseite des Kreuzes ist ein prächtig verziertes Portal, leider aber nur
bis zum Dach vollendet: über der Thür ein hohes Fenster,^ zu dessen
Seiten scheinbare Durchbrechungen und Statuen unter Baldachinen.

Auf der Nordseite ist ein Kreuzgang, ohne Gewölbe und nur flach mit
Brettern gedeckt; aber die Seite nach dem innern Höfe zu wird durch' die
zierlichsten gothischen Bogenstellungen gebildet. Auf dem jetzigen Gottes-
acker in diesem Kreuzgange steht ein hoher Weissdornbaum. „Den habe
ich in meiner Jugend selbst dahin gesetzt als ein dünnes Reis ," sagte der
Messner, welcher mich führte. Nach einigen Fragen erzählte er mir fol-
gende Sage von dem Baum.

„Vor langen Jahren lebte hier ein Messner, einer meiner Vorgänger,
welchen der Himmel mit einer schönen und wackern Tochter erfreut hatte.
Aber welch Glas zerbricht nicht, wenn man's nicht sorgsam trägt? Das
Mädchen ward Mutter; Niemand wusste, wer der Vater ihres Kindes sei,
und sie blieb hartnäckig bei ihrem Vorsatz, keinen zu nennen. Sie kenne
ihre Schuld und ihre Strafe, sagte sie, und wolle Alles allein erdulden;
sie habe es wohl verdient, dass- er sie Preis gebe. Der alte Messner aber
klagte, ob aus gegründetem 'Verdacht, weiss ich nicht, einen jungen Hirten
an, und dieser Avard vorgeladen. „So wahr diese Schippe nimmer ein
Baum werden wird, so wahr bin ich der Thal nicht schuldig!" also rief
Cr aus, und stiess mit den Worten die Schippe, die er in der Hand trug,
in den Boden. Aber siehe da! er vermochte sie nicht wieder heraus zu

Die Kirche ist in der Zeit zwischen 1262 —1278 gebaut, und zwar, wie
ein ziemlich gleichzeitiger Bericht sagt: „opere Francigeiio," —^ in französischer
Weise. Dies ist ein wichtiges Zeugniss dafür, dass die Thatsache der üebersie-
delung des sogenannt gothischen Baustyles aus Frankreich nach Deutschland auch
von den Zeitgenossen als solche aufgefasst ward. Vergl, F. II. Müller, Beiträge
zur teutschen Kunst- und Geschichtskunde etc
I , S. 74.

Kurier, Kloine Schriflen. I. 7

97

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98 Deutsche Kircheu uud ihre Deiitmäler.

ziehen und das dürre Holz schlug Wurzeln und begann zu grünen und ist
mit der Zeit ein mächtiger Baum geworden. So hat der Herr selbst den
Schuldigen entdeckt. Doch ein Blitzstrahl zerschmetterte jenen Baum im
Gipfel seines Wachsthums, und von seinen Zweigen habe ich das Reis ge-
nommen, aus welchem dieser Baum erwachsen ist."

Was das Innere der Kirche anbetrifft, so ruht das Gewölbe auf Pfei-
lern, welche mit Säulenstäben verziert waren; zierliche Laubkapitäle tren-

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Von den Chorsliihleii,

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1, Wimpfen. 99

iien die Stäbe von den Gewölbgurten. (Vorzüglich mannigfaltig sind die
kleinen Laubkapitäle im Kreuzgang.) In dem südlichen Seitenschiff ist
eine Art Bretter- oder vielmehr Leistenabschlag,, der eine eigne Kapelle
vorstellt; darinnen einige Altäre; der eine Altar des heiligen Sebastian,

Von den Chorstiiblen.

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100 Ueiitsclie Kiüclum und ihre Denkmäler.

glcicli denen in Wimpfen am Berge, geschnitzt uuil mit A^orzügliclien Ma-
lereien versehen. Hin und wieder finden sich einzelne Glasmalereien. Am
merk-\vürdigsten waren mir die Ciiorstühle, welche die Krenzflügel von dem
llaux)tschiff abschneiden (an einem von ihnen fand ich die Jahreszahl 1498),
lind der Bischofstijhl im Chore. Sie entlialten unverkennbare Spuren temp-
ierischer Mysterien'): den Löwen, den Drachen, — den Löwen, der den
Drachen in den Scliwanz beisst, den Falken, den Mönch mit der Kapuze
in nicht eben decentester Stellung und dergleichen mehr. Einige Leh-
nen der Chorstühle und des Bischofstuhles, sowie mehrere Verzierungen,
welche sich au den kleinen Armen in den Chorstühlen befinden , habe ich
gezeichnet. Aehnlich sind die Thierbilder am Aeussern der Kirche, welche
als AVasserableiter dienen: doch treten hier mehr willkührliche l'ormen
ein. So sah ich das Bild einer Sau, welche einen Juden, kenntlich an der
spitzen Mütze, säugt, der ein Junges wegstösst. Eine andre Gruppe stellt
einen Mönch zwischen einem Löwen nnd einem Bock dar.

Ich hatte mich etwa eine Viertelstunde in der Kirche verweilt, als die
Thür hastig geöffnet ward, und mehrere Leute mit schnellen Schritten
herein kamen; der Messner ging ihnen ehrerbietig entgegen. Es waren der
Priester und Andere. Sie traten in den Chor zum Altar und schlossen
eilig das Thürchcji des vergoldeten Tabernakels auf. Geweihte Hostien,
welche sie zu holen gekommen waren, fanden sie nicht vorräthig; in Eile
ward dem Priester, der nicht einmal sein Ornat übergeworfen, die Stola
umgehängt, und in wenig Augenblicken
Mar das Geschäft der Einsegnung
der Hostien beendet. Sclinell, wie sie gekommen, entfernten sie sich.wie-
der. Der Messner sagte mir, dass ein Mädchen im Ort im Sterben liege
und ihr letztes Mahl verlangt habe.

Mittagszeit war verstrichen; der Messner, welcher ab- und zugegangen
war und meinen Arbeiten mit Theilnahme zugesehen hatte, lud mich ein,
in seinem Hanse, da ich doch hungrig sein müsse, Kaffee zu trinken. Ich
nahm es an, und gerieth in ein Stübchen voller Kinder, die lustig durch-
einander tobten und schrieen und sich wenig um den fremden Herrn küm-
merten. Nachdem ich getrunken \aid gegessen, zeichnete ich dem Alten
sein Portrait, und er schenkte es seiner ältesten Tochter, einem fünfzehn-
jährigen Mädclien mit scharfen und bestimmten Zügen , „zum Andenken
wenn er einmal gestorben wäre."

Er begleitete mich darauf hinaus vor die Stadt bis zur Cornelien-
kh'che. Von dieser ist nur, seltsamer Weise, nicht der Chor, der in der
Regel zuerst gebaut wird, sondern das Schiff fertig; sie dient gegenwärtig
als Magazin und ist verschlossen. Ueber der auf der Nordseite gelegenen

') Ich war, als ich Obiges schrieb, durch Mone zu Hammers „Fundgruben
dos Orients" geführt worden und hatte eben, im sechsten Baiido, seinen Aufsatz
über den Rapliomet gelesen. Meine Phantasie war mit templerischer Mystik er-
füllt; ich erblickte daher leicht auch draussen, was drinnen träumte. Sollte in
den lUldern jener Chorstühle wirklich teinplerisches Element sein , so kann es
natürlich nur auf einer, -vielleicht unbewussten Nachbildung überlieferter Formen
beruhen, da der Orden der Templer längst aufgehoben war. Ich habe nicht nö-
thig, hinzuzufügen, dass neben aller Mystik^ auch die, gelegentlich höchst über-
uüithige Laune der mittelalterlichen Künstler ihr sehr entschiedenes produktives
Hecht hatte.

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II, Studien in Berlin uud der Umgegend. 101

Tliilr sah ich ein herrliches Basrelief, die Verkündigung vorstellend: links
der Enge], rechts Maria, oben Gott Vater; sehr lieblich ist das von diesem
in den Strahlen niederschwebende Kindchen mit dem Krenz.

Tl.

S'mm IN BERLIN UND DER UMGEGEND.

Bei mehreren Reisen, bei dem schönen Studienaufenthalte zu Heidel-
berg, der zu vielfältigen kleinen Excursionen benutzt ward, war eine Fülle
der verschiedenartigsten baulichen und bildnerischen Denkmäler meinem
Auge vorübergegangen. Mein hochverehrter Lehrer F. IL von der Hagen
— wie er mein Interesse an jenen Handschriftbildern des Mittelalters freund-
lich förderte — hatte mir auch für diese Anschauungen diejenige Belehrung
gegeben, die auf die Styl-Unterschiede und deren geschichtliche Folge hin-
deutend, in der bunten Fülle eine gesetzliche Entwicklung, eine auf in-
neren Gründen beruhende Gliederung erkennen Hess. In Berlin wurde
sodann diese Betrachtung der Denkmäler ernstlicher aufgenommen, wenn ich
mir auch des eigentlichen Zieles, worauf solches Treiben hinaus wollte,
noch nicht klar bewusst war; das kunstgeschichtliche Interesse war einer-
seits noch von dem poetisch-historischen, andrerseits von der Freude an der
vielgestaltigen Ornamentik des Mittelalters abhängig. Das näliere Eingehen
auf die Gestaltung - und Verwendung des Ornamentes gewann für mich
längere Zeit ein Haupt-Interesse. Dazu kam ein, fast bis zum Eigensinn
gesteigerter Drang, gerade auch auf diesem Boden der Berliner Gegend,
der sonst als nicht sonderlich fruchtbar für die Monumentalgeschichte gilt,
Gelegenheit für derartige Studien zu suchen, auch hier Schätze der Vorzeit
aufzugraben, die unter dem lärmenden Treiben des Tages verschollen
waren. Ich muss fast lächeln, wenn ich des Eifers gedenke, mit welchem
ich diesem Thun nachhing, nicht selten dem erdenklich wüstesten "Wetter
zum Trotz. Es ist davon dies und jenes Einzelne in meinen Papieren
zurückgeblieben. —

Als ältestes Baudenkmal der Gegend zog mich die kleine, malerisch
gelegene Kirche zu Tempelhof, eine halbe Stunde südlich von Berlin,
an. Sie bildet im Grundriss ein einfaches Viereck, mit einem halbrunden
Ausbau für den Altar, und ist durchw^eg aus schön und regelmässig zuge-
hauenen Granitquadern erbaut. Die Fenster waren ursprünglich klein,
äusserst schmal und im Halbkreise überwölbt; auf jeder Seite des Schiffes
befanden sich deren sechs, an dem Ausbau drei. Die Portale auf der Nord-
und Südseite sind einfach spitzbogig überwölbt; von einem ähnlichen Por-
tal auf der Westseite sah ich schwache Spuren. Später sind in der Altar-
nische ein kreisrundes und zwei kleine, im Spitzbogen überwölbte Fenster
eingebrochen und durch gebrannte Steine ausgemauert. Noch später waren
andre Veränderungen mit den Kirchenfenstern vorgenommen. Auf der
Süd- und Westseite sind die Granitquadern an mehreren Stellen beschädigt,
vermuthlich durcli die Nähe irgend eines Brandes. Die Kirche ist und war
nicht gewölbt, vielmehr flach mit Brettern gedeckt; nur die Altarnische

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102 Deutsche Kircheu uud ihre Deiitmäler.

hat ein halbes Kuppelgewölbe. — Der Bau gehört hienach der Perlode
des Uebergangsstyles an; das Jahr der Erbauung ist unbekannt. Die Kirche
gilt, ihrem Namen entsprechend, ursprünglich als Besitzung des Templer-
ordens; sie soll mit andern Gütern desselben an den Johanniterorden ge-
fallen sein und wurde von dem letzteren im Jahr 1435 der Stadt Berlin
verkauft.

In der Kirche ist ein ansehnliches Altarwerk cranachischer Composi-
tion, das Martyrthum der heil. Katharina auf dem Mittelbilde und einzelne
Gestalten weiblicher Heiligen auf den Innen- und Aussenseiten der Flügel
darstellend. Unter einigen Holzschnitzwerken zog mich zumeist ein Altar-
schrein von nicht erheblicher Grösse an, in welchem die reliefartig gear-
beiteten Figuren einer Maria mit dem Kinde und zweier weiblicher Hei-
ligen zu ihren Seiten befindlich waren. Die Arbeit gehört zu den frühsten
dieser Gattung-, das Architektonisch-Ornamentistische daran war noch in
einfacher Strenge gehalten, die Gewandung im edeln, weichen'Flusse ger-
manischer Linien, die Köpfchen von ganz ungemeinem Liebreiz.

Neuerlich ist die Kirche restaurirt und wesentlich verändert worden.
Unter der Tünche, die im Innern ihre Wände bedeckte, fanden sich dabei
Spuren von roher figürlicher Malerei, welche, wie es scheint, das ganze
Innere erfüllte. —

Zu mancherlei eigenthümlichen Beobachtungen gaben sodann die Kir-
chen von Berlin selbst Veranlassung. Unter diesen interessirte mich ganz
besonders die sehr eigenthümliche Klosterkirche, deren damals im
Innern ziemlich verwahrloster Zustand ihr, wenigstens in malerischer Be-
ziehung, einen doppelten Reiz gab. Ich zeichnete fleissig in ihr und schrieb
über sie (für das von L. von Ledebur herausgegebene „Allg. Archiv für
die Geschichtskunde des Preuss. Staates," Bd. IV, Heft 3) einen kleinen
Aufsatz nieder, den ich hier folgen lasse: —

„Der Bau mit gebranntem Stein hat in den nordöstlichen Provinzen
von Deutschland, in der Mark, in Mecklenburg, Pommern und Preussen,
eine eigenthümliche und von den Sandsteinbauten der übrigen Provinzen
verschiedene Entwickelung des gothischen Styles zur Folge gehabt. Von
dem vorgothischen, rundbogigen Baustyl finden sich, im Verhältniss zur
Gesammtmasse, nur wenig vereinzelte Beispiele, da das Christenthum mit
seiner Kunst in diesen Gegenden erst im zwölften Jahrhundert, dem letzten
des Rundbogenstyles, Wurzel fasste.

In dieser ersten Periode, bis in den Anfang des dreizehnten Jahrhun-
derts, bediente man sich neben dem gebrannten Stein häufig des Granits,
Avelcher zu regelmässigen Quadern behauen wurde; doch hinderte die Schwie-
rigkeit der Bearbeitung desselben eine jede Detaillirung der Formen. Auch
später kommt dieser Stein, aber schlechter bearbeitet, insbesondere bei den
Dorfkircheu granitreicher Gegenden vor. Bei dem Bau mit gebranntem
Stein wandte man den Granit in der Regel zum Fundament an-, zuweilen,
und zwar in den Küstengegenden, auch den sogenannten schwedischen
Stein (eine Art Kalkstein), so dass z. B, der Fuss des Gebäudes aus Granit,
das Fussgesims aus schwedischem Stein besteht. Säulen von diesem Stein
aus der letzten Zeit des Mittelalters finden sich mehrfach, z. B. an der
Wallkirche zu Stettin. Auch des gewöhnlichen Sandsteines bediente man
sich hie und da, doch nur selten, zu Kapilälen oder auch zu gewissen
Gesimsen.

Die Anfertigung des gebrannten Steines erlaubte denselben nur in klci-

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11. Studieu in Berlin und der Umgegend. 103

neren Maassen zu liefern, und daher vermindert sich hier die Zahl der
häufig ganz freistehenden dekorativen Theile des Sandsteinbaues, z. B. der
durchbrochenen Spitzen der Hauptthürme, der zierlichen, thurmartigen
Spitzen über den Strebepfeilern, der freistehenden Giebel Ober den Fenster-
und Thüröffnungen, der schwebenden Bögen, welche oft die Streben des
Seitenschiffes mit denen des Hauptschiffes verbinden, u. s. w. Die Orna-
mente haben ein weniger starkes Relief und kehren, da sie häufig mit ge-
wissen Formen gemacht wurden, öfter wieder. Doch sind dafür die Pro-
filirungen, namentlich an den Einfassungen der li'enster und Thüren, höchst
mannigfaltig, da eine starke Vertiefung der Glieder hier durch gebrannte
Formsteine leichter erreicht wurde. Die Haupt-Horizontallinien (die Ge- .
simse), welche beim Sandsteinbau durch jene aufsteigenden Theil,e oft un-
terbrochen wurden, treten wieder bedeutsamer hervor, und überall ist das
Ganze massenhafter gehalten und zusammengehalten und wirkt auch auf
diese Weise.

Berlin, ein Ort, dem man gern alle Erinnerungen an die Zeit des Mit-
telalters absprechen möchte — er hat freilich andre Erinnerungen, Avelche
bedeutender sind, — besitzt drei (oder, mit Einschluss der kleinen Heiligen
Geistkirche, vier) im Spitzbogen gebaute Kirchen. Unter diesen ist die
Klosterkirche, wenn auch nicht die
schönste und grösste, doch die älteste
und merkwürdigste, und zeigt,
da noch keine neueste Eestauration ihrer
allerdings schlechten Beschaffenheit zu Hülfe gekommen ist, manches Alte
in seiner ursprünglicheren
Form. "Wir haben über dieselbe und die ehe-
mals dazu gehörigen Klostergebäude eine eigene kleine Schrift: „Das graue
Kloster in Berlin mit seinen alten Denkmälern, von Bellermann, 1824," die
uns in ihrem geschichtlichen Theile hie und
da als Führer dienen möge.

Die Kirche gehörte zu einem Franziskanerkloster, das sich, zwischen
der Kloster- und neuen Friedrichsstrasse, von der Parochialkirche bis zur
Königsstrasse erstreckte. Die Gründung der Kirche fällt in das Jahr 1271,
zufolge einer der Inschriften über den Chorstühlen in derselben, welche
theils eben die Stiftung, theils den damaligen Umfang des Franziskaner-
ordens angeben. Sie lautet, nach Beseitigung der Orthographie, folgender-
s maassen:

i (Anno millesimo) ducentesimo LXXl ülustrissiini principes et doviini,

\ ' dominus Otto et dominus Albertus, marchiones hrandenhurgici, erga ordinem
1 speciali devotione pennoti, aream, iihi praesens monasterium est construc-

tum, fratrihus contulerunt gratiose, perpetue possidendum. Post hoc, anno
\ domini MCCXC, strenuus miles, dominus Jacobus, dominus de Nebede,

I donavit fratrihus hujiis loci latericidinam (die Ziegelei), sitam inter Tem-

l pelhoven et Berolinum. Sicque dictus miles et principes praefati, extiterunt

\ istius claustri fundatores.

Die eingeklammerten Anfangsworte dieser Inschrift fehlen, indem das
Brett, worauf dieselbe steht, bei irgend einer Gelegenheit verkürzt sein
i muss. Dasselbe fmd€t bei dem entsprechenden Brett der gegenüber ste-

I henden Inschrift Statt. Auch in Hübners Chronik des Franziskaneror-

I dens durch Deutschland (München, 1686) wird das Jahr 1271 für die Grün-

I dung dieser Kirche angegeben.

I Das Kloster erlangte bald Bedeutung und Ansehen, und verschiedene

I Landesfürsten und andre vornehme Personen sind in demselben beerdigt

I worden. In den Jahren 1471 bis 1474 wurde das Kapitelhaus gebaut,

I zufolge den Inschriften um Knauf und Base der vier Säulen, welche das

I

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104 Deutsche Kircheu uud ihre Deiitmäler.

Gewölbe des Kapitelsaales tragen. Die beiden liieher gehörigen Inscliriften
lauten :

Aimo domini MCCCCLXXI fundata est domus ista in fundamen-
tis suis.

Anno domini MCCCCLXXIIII consummahmi est hoc opus per niagi-
strum Bernhardiim.

Der Conventsaal ist in den Jahren 1516 bis 1518 gebaut, wie aus der
Inschrift auf einer daselbst eingemauerten Steintafel hervorgeht. Sie lautet:

Anno salutis 7iostrae 3iCCCCCXVI juvante deo jacta sunt fundamenta
domus istius optimis lapidihus, sequenti anno superaedißcati sunt muri,
tertio vero anno consimmati.

Beide Säle sind jetzt im Besitz des Gymnasiums zum grauen Kloster.

Im Jahr 1539 nahm Churfürst Joachim II. die evangelische Lehre an
und 1571 starb das Kloster aus. Der grössere Theil der Klostergebäude
ward dem X)hantastischen Leonhard Thurneisser zum l'hurn für seine man-
nigfachen Laboratorien und Sammlungen eingeräumt-, von ihm rührt die
erste Renovation der Kirche im Jahre 1584 her. Eine zweite fällt in das
Jahr 1719. —

Die Kirche ist durchweg aus grossen Ziegeln erbaut, und auch die
feineren Ornamente, welche wir in derselben finden, sind von gebranntem
Stein. Sie besteht aus einem Mittelschiff mit zwei Seitenschiffen; an das
Mittelschiff schliesst sich ein im Verliältniss ziemlich lauger, wenig erhöhter
Chor an. Sie ist im Lichten 166 Fuss 5 Zoll lang und 66 Fuss breit. Das
Gewölbe des Mittelschiffes erhebt sich bis zu einer Höhe von 50 Fuss
9V2 Zoll, das Gewölbe der Seitenschiffe bis zu 26 Fuss. Im Aeusseren ist
die Kirche ganz einfach; es fehlt der Thurm, an dessen Statt sich ein
neues hölzernes Glockenthürmchen zeigt, und nur die westliche Seite, an
welcher das Hauptportal sich befindet,
hat eine einfache Giebelverzierung durch
kantig aufgesetzte oder in gekreuzten Li- ^

nien hervorragende Steine. Von vorzüg- ,

licher Schönheit, in der Hauptform wie

in der Profilirung, ist dies Portal, und s

als Kapital des Thürstabes flndct man ein
ausserordentlich zierliches Ranken-Orna-
ment.

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II. Studien in Berlin und der Umgegend.

Im Inneren des Schilfes gelieu scliwere
Verhältnisse durch, fast noch an den früheren
Rimdbogenstyl erinnernd. Das Schill' wird
von den Seitenschifl'en getrennt durcli kurze,
theils viereckige, theils achteckige Pfeiler, aus
denen Halbsäulen heraustreten als Träger der
Gewölb-Gurte und der Bögen, welche die
Mauern des über die Seitenschiffe sich erhe-
benden Mittelschiffes tragen und die Pfeiler
verbinden. Diese Bögen ruhen auf einem Ka-
pital, welches zumeist aus einer ohne Deck-
glied vorspringenden Welle besteht, die sich
nach unterhalb, zuweilen ohne ein bestimmt
sonderndes Fuss-Glied , der Halb-Säule an-
schliesst; — wenn ein Fussglied da ist, so
hesteht dasselbe nur aus einem Rundstab.
Diese Kapitale, so wie die andem, die gröss-
tentheils nur aus einem, mit einfachen Deck-
und Fussgliedern versehenen Bande bestehen,
y^C^ sind mit Rankengewinden von schwachem Re-
^ lief verziert, welche zum Theil freie Natur-
formen, als Wein- und Eichenlaub, nachbil-
den. Im Chor treten leichtere Verhältnisse
ein. Die Halbsäulen, welche die Gewölbgurte
tragen, beginnen hier erst in einer gewissen
Höhe über den Chorstühlen und ruhen auf
mannigfach gestalteten Konsolen, welche zum
Theil ganze Thiergruppen, Pelikane mit ihren
Jungen, Adler mit geraubten Hasen u. dgh,
darstellen. Von vorzüglicher Schönheit ist
derjenige Theil des Chores, welcher den sel-
tenen , aus der Form des Zehnecks entnom-
menen, siebenseitigen Schluss bildet, der im
Grundriss über die Flucht der Seitenwände
des Chors hinaustritt; wodurch, wenn man
aus dem Schiff in diesen Chorschluss hinein-
blickt, eine lebendigere und mehr wechselnde
Verbindung der architektonischen Linien ent-
steht 1). Die einzelnen Theile desselben, die
Fenster mit ihren Einfassungen und Brüstun-
gen, sind durch Stäbe und Gesimse gesondert,
was bei ihrer reichen Profilirung Ruhe und
Klarheit im Gesammteindruck zu Wege bringt.

Das Kreuzgewölbe des Kapitelsaales, das
aus gedrückten Spitzbögen besteht, ruht auf
vier Säulen von kurzer Proportion, welche
gleichfalls aus starken Ziegeln aufgemauert

') Ein gleicher iChorschluss findet sich in
der Johanniskirclie zu Stettin , welche ebenfalls
zu einem Franziskanerkloster gehörte.

105

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106 Deutsche Kircheu uud ihre Deiitmäler.

sind. Kapital und Base springen fast gar nicht vor, indem ihr Hauptglied
das Band ist, auf welcliem die genannten Inschriften mit Buchstaben, die
vor dem Brennen erhaben aufgedruckt worden, sich befinden. Im Kreuz-
punkt der Gewölbgurte zeigen sich grössere runde Schlusssteine mit Ro-
setten, ^zum Theil mit feinen architektonischen Mustern. Andre Schluss-
steine mit ausgezeichnet schönem Ornament findet mau in dem zierlichen
Sterngewölbe des späteren Convcntsaales.

An den Wänden des Cliores in der Kirche, unmittelbar über den Clior-
stühlen, befinden sich 30 Eichentafeln mit schwach erhabenem Schnitzwerk:
ein runder Schild, darin jedesmal ein Symbol in Bezug auf die Passions-
geschichte, eingeschlossen von einem Ranken- oder Stabgeflecht, und unter
demselben ein phantastisches, schlangenartiges Rankengewinde, zum Theil
mit seltsamen Blumen, oder ein mehr architektonisches Ornament. Der
Schild mit dem Symbol ist in der Regel bemalt, eben so die Blumen und
das Innere der Kelchblätter. Ueber diesen Tafeln laufen die oben genann-
ten Inschriften hin, deren Schriftzeichen in das fünfzehnte Jahrhundert
gehören.

Auf der nördlichen Empore befindet sich ein Schrein, in welchem die
schönc Ilolzstatue einer auf der Schlange stehenden Madonna mit dem
Christuskinde sich befindet: zu ihren beiden Seiten haben andre Figuren

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II. Studien iii Berlin und der Umgegend.

gestanden, welche jetzt fehlen. Die Flügel zu die-
sem llauptsclirein, Avie sich aus der gleichen Höhe,
dem gleichen Rahmenornament und der überein-
stimmenden Arbeit ergiebt, hängen im Anfange
des Chores auf dei; Nordwand; sie enthalten, der
eine den heiligen Andreas, der andre den hei-
ligen Petrus. Diese Statuen sind, -wie die grosse
Menge ähnliclier Werke des fünfzehnten Jahrhun-
derts, bemalt, die Gewänder grösstentheils vergol-
det; eben so die innere Wand der Schreine, in
welche ein tapetenartiges Ornament eingedrückt ist.
Sie bilden zwar kein Kunstwerk ersten Ranges,
doch sind sie einer näheren Aufmerksamkeit wohl
Werth, und namentlich haben die Köpfe viel Aus-
druck. Ein andrer Schrein, welcher drei unter
zierlichen Baldachinen neben einander sitzende Hei-
lige enthält, steht über der später gebauten Sakri-
stei im nördlichen Seitcnschilf. Zu dem einen oder
dem andern dieser Werke gehörten vermuthlich
auch noch die sieben kleinen Statuen, welche jetzt
auf Gesimsen in der Nähe des Chores angebracht
sind.

Noch befindet sich auf der nördlichen Empore
ein älteres Relief von Holz, im Ganzen von roher
Arbeit, welches den heiligen Franziskus darstellt.
Er streckt die Rechte aus und hat in derselben eine
runde Tafel mit dem Schriftzuge
ihs (Jesus); in der
Linken hält er ein aufgeschlagenes Buch mit der
späteren Aufschrift:
TImrneisser hat mich nemo ge-
mackt. da ich imr alt und gar veracht. anno
1584.
Zu seinen Seiten sind drei kirchliche Gebäude an-
gebracht mit den Unterschriften:
senis^ orhino, ffer-
Konsoie im Chor der Kirche, raria (Siena, Urbino, Ferrara), den Namen der vom
heiligen Franziskus gestifteten Klöster; über jedem derselben eine Bischofs-
mütze, als Zeichen, dass an diesen Orten Bisthümer waren.

Unter den in der Klosterkirche befindlichen Gemälden nennen wir zu-
erst eins der ältesten, welches für die vaterländische Geschichte wichtig
ist. Es hängt auf der Nordwand des Chores, nahe dem Altar, in bedeu-
tender Höhe; die Farben sind sehr verblichen. Es stellt einen knieenden
jungen Ritter dar, in schwarzem Kleide und Harnisch und in weissem Man-
tel, mit gefalteten Händen; vor ihm der Heiland, stehend, in den Händen
Geissei und Ruthe; aus den fünf Wunden fliegst das Blut in fünf Strahlen
in einen Kelch. Ueber dem Ritter ein Adler, schräg getheilt in Schwarz
und Roth, und daneben ein Wappenschild mit zwei über einander schrei-
tenden Löwen, dem Wappen der Hohenlohe. Das ganze Bild hat eine Um-
schrift, die nur noch theilweise zu erkennen ist; wir theilen sie vollständig
mit nach
Angelus an7ial. Marchiae S. 190:

„Nach Christi Geburt im Jahr 1400 und in dem 12. Jahr am Sanct
Columbanustage verscheidet der Hochgeboren GralV Johannes von Hohen-
loh, dem Gott genade."

Dieser Johann von Hohenlohe war der erste Feldherr, welcher für die

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108 Deutsche Kircheu uud ihre Deiitmäler.

Fürsten des Hohenzolleiischen Stammes, als Regenten der Mark, gefochten
hat. Burggraf Friedrich von Nürnberg wurde zwar erst im Jahre 1417 mit
der Kurmark vom Kaiser Slegmund belehnt, nachdem er sie von diesem
käuflich an sich gebracht; doch hatte der Kaiser sie schon im Jahre 1412
an ihn verpfändet und ihn zum obersten Hauptmann und zum Verweser
derselben ernannt. Und in demselben Jahre musste Friedrich noch ein
Heer gegen die mit den Pommern verbundenen rebellischen Edelleute

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II. Stadien in Berlin und der Umgegend.

schicken und ihnen eine Schlacht, am Kreuamer Damm, liefern. Die Pom-
mern siegten zwar, aber diirch die Tapferkeit des brandenbürgischen Heer-
führers, unseres Hohenlohe, der selbst im Kampfe fiel, so zweifelhaft, dass
sie durch diesen Sieg mehr geschwächt waren, als ihre Gegner, und nichts

Von den Chorslühlcn.

Weiteres gegen Friedrich unternahrhen. Dem Johann von Hohenlohe zum
Andenken ist noch lange, vielleicht noch heute, ein hölzernes Kreuz auf
dem Kremmer Damm unterhalten worden (s. Buchholtz, Geschichte der
Kurmark Brandenburg II, S. 573). Das Bild scheint in den Anfang des
fünfzehnten Jahrhunderts zu gehören und somit gleichzeitig zu sein ^J.

Ein andres der älteren Gemälde ist interessant für die Geschichte des
Franziskanerordens. Es befindet sich an der Nordwand des Chores, neben
den oben genannten Apostelfiguren; es ist roh auf Holz gemalt und stellt
in der Mitte Christus am Kreuze dar, unter ihm auf einer aus dem Kreuz
hervorgewachsenen Blume den heiligen Franziskus im grauen Mönchskleide,
welcher durch fünf Blutstrahlen die Wundenmale des Heilandes empfängt.
Unter dem Franciskus auf einer weissen Tafel eine Inschrift, die einige
Verse der Apokalypse, Kap. 7, V. 2—4:
Vidi alterum angelwn ascendentem
ah ortu solis etc.,
enthält. Die Erscheinung dieses zweiten Engels wurde
nämlich schon früh auf den heiligen Franziskus gedeutet. Auf der einen
Seite dieser Tafel die heilige Jungfrau, knieeod, mit der Krone; neben ihr
ein Kurfürst mit kurfürstlichem Hut und Mantel, vielleicht der Stifter des
Klosters; auf der andern Seite die heilige Klara und eine andre Franzis-

Ich war in der obigen Notiz über die Ereignisse des Jahres 1412 der
gangbaren Darstellung der damaligen Verhältnisse gefolgt. Neuere Forschungen
darüber siehe in der Schrift von A. F. Riedel: .,Zehn Jahre aus der Geschichte
der Ahnherren des Prenss. Königshauses," 1851.

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110 Deutsche Kirchen und ihre Denl<raäler.

kancrin. Noch tiefer zwei sehr kleine weibliche Donatoren; das Spruch-
band zwischen diesen ist beschädigt, so dass die Schrift auf demselben
nicht mehr zu lesen. Von dem Kreuz geht nach beiden Seiten ein Ran-
kengewinde aus, darin die Bilder von 24, zumeist heiligen Franziskanern
angebracht sind, die Mehrzahl derselben in der Mönchskappe. Wir nennen
die Namen und verweisen mit deren Erklärung auf Bcllermann, S. 31. Auf
der rechten Seite befinden sich; S. Franziskus, S. Jacobus (mit der Bischofs-
mütze), S. Nicolaus, B. Monaldus, S. Andreas (mit dem Kardinalshut),
S. Bonaventura (mit dem Kardinalshut), S. Adulphus, B. Petrus, B. ülricus,
S. Silvester, B. Johannes, S. Johannes. Auf der linken Seite: S. Antho-
nius de Pada (Padua), S. Ricardus (mit der Bischofsmtitze), S. Anthonius,
B. Fi'anciscus, S. Bernhardus, B. Philippus, B. Lodovicus (mit der Bischofs-
mütze und einem Glanzschein, darin das Zeichen
ilis, als Andeutung auf
seine fürstliche Geburt; er war nämlich der Sohn des Königs Carl von
Sicilien, geboren 1275), S. Rogerius, B. Conradus, S. Badius. Auf diese
folgen noch zwei Figuren, deren Namen nicht mehr zu lesen sind. Bemer-
Itenswerth ist, dass auf diesem Bilde nur Personen bis ins vierzehnte Jahr-
hundert vorkommen.

Diesem Gemälde gegenüber, an der SüdAvand des Chores, ist ein Bild
angebracht, welches die zwölf Apostel darstellt; an der Stelle des Judas
Ischarioth aber den heiligen Franziskus, der, wie jeder der Uebrigen sein
Emblem, ein grosses Crucifix, in der fland hält. Dies Bild, wie das vorige
roh auf Holz gemalt, besteht aus zwei Tafeln, deren jede in zwei Hälften
getheilt ist; den Grund bildet eine gelbe Tapete, oben ein blauer Rand.
Gold ist gar nicht angebracht, die Heiligenscheine sind gelb. Die Figuren
haben etwas kurze Proportion und grosse Extremitäten; aber in Haltung
und Faltenwurf sind sie zumeist sehr edel, so dass sich auf gute Vorbilder
schliessen lässt. Uebrigens gehört dies Bild nicht zu den ältesten.

Unter den älteren Bihlern von einigem Kunstwerth nennen wir vorerst
eine Kreuzabnahme, welche auf der Südwand des Chores nahe dem Altar,
unmittelbar über den Chorstühlen, angebracht ist. Das Bild ist mit Oel-
farben,
Avie es scheint, auf Kreidegrund gemalt, welcher über eine auf Holz
geklebte Leinwand gelegt ist. Die Köpfe, namentlich der des klagenden
Johannes, haben Leben und Ausdruck. Die Heiligenscheine bestehen aus
goldenen Strahlen und Blumen. Ueber der Gruppe schweben vier kleine
buntbekleidete Engel mit bunten Flügeln, deren einer die Lanze, ein an-
derer den Stab mit dem Schwamm hält. Auf der Einfassung des Bildes
sind auf der einen Seite der heilige Franziskus und die heilige Barbara
gemalt, auf der andern die heilige Elisabeth und ein vierter Heiliger; unten
LeidensAverkzeuge und Anderes in Bezug auf die Passion; oben, auf einem
verschlungenen Bande, folgender Spruch:

Sich mensche gades kijit ist dot
dat was der müder Jammer groth
Doch was des ys den sunder not
dat ihus vorgoth syn Mut szo rot
Mensche lad dy des erbarmen
vnde bidde truwelik vor die armen.

Ausgezeichneten KunstAverth hat ein andres Bild, Avelches an dersel-
ben Wand, nahe dem oben genannten Franziskanerbilde hängt; ein schir-
mender Beichtstuhl ist vor den grösseren Theil desselben gebaut Avorden,
und das Bild im Wesentlichen nicht bedeutend verletzt. Es ist mit Oel-

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S Fraiiciscus hh» dem Bilde mit Kr. Herrn. Blusa.

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färben auf Leinwaiul gemalt und stellt eine stehende Madonna mit dem
Kinde, von Heiligen umgeben, dar; zwei Engel halten über dem Haupte
der Maria eine Sfernenkrone. Darüber die Inschrift:
Alderschoneste machet
maria,
mit ihrer Uebersetzung: Pulcherrima virgo Maria. Rechts neben
ihr ist der heilige Franziskus, welcher die Hand des Christuskindes fasst
und demselben ein kleines Crucifix entgegenhält, daraus fünf Blutstrahlen
ihm die Wnndenmale bringen. Unter ihm ein andrer Franziskaner mit
einem schwarzen Käppchen , welcher den Fuss des Kindes fasst, um ihn
zu küssen. Und unter diesem knieend ein dritter Franziskaner, der Dona-
tor, welcher die Hände betend emporstreckt, mit zwei Spruchbändern; auf
dem einen derselben steht:
0 sclioneste Marie, Uelde ihesum vor my, sunt
vii" salich make my;
auf dem andern der etwas undeutliche Name des Do-
nators:
Frater Ilermanmis Musa. Auf der linken Seite der Madonna steht
zu Oberst ein Bischof; unter diesem noch ein Franziskanermönch, in den
Händen ein aufgeschlagenes Gebetbuch und eine Oblate; und als dritte
Figur die heilige Klara, welche in der einen Hand einen Apfel, in der an-
deren eine Monstranz hält. Die Figuren sind, im Verhältniss zu den Köp-
fen, schmal und kurz, in der Haltung hart und trocken; doch die Köpfe
selbst vollendet in der Form, lebendig und ausdrucksvoll. Eine grosse
Milde und fast weiche Gemüthlichkeit spricht aus den Gesichtern des Fran-
ziskus und des jungen Bischofs; aber das Gesicht der Madonna fesselt durch
eine unbeschreibliche Lieblichkeit den Beschauer. Das Bild erinnert an
die Arbeiten des alten Wilhelm von Köln.

Zwei andre vorzügliche Gemälde gehören in die niederdeutsche Schule
und würden, wenn man nach einer genaueren Prüfung, als in ihrem jetzigen
Zustande möglich, den Lucas Cranacli als ihren Verfertiger nennen wollte,
diesem Meister nur zum Ruhme gereichen. Das eine derselben, mit Oel-
farlien auf Holz gemalt und, wie es scheint, ganz wohl erhalten, hängt auf
der nördlichen l^mpore und stellt den Christus mit seinen Jüngern bei der
IMartha vor, welche knieend die Auferweckung des Lazarus zu erflehen
scheint. Unter den Frauen der Martha sind mehrere anmuthige Köpfchen,
und würdevoll sind die beiden knieenden ritterlichen Donatoren gehal-
ten. Das Bild hat folgende Unterschrift:

Anno Domini M. CCCCC vnd im XXI Jar. Am Tag Alhini Starp
der Vil virdic Edel und gestrenc Herr Clans vom Bach veilant Groscomter
des Ritterlichen Teutschen Ordens in Preussen Dem Got Geruch Genedick
Vnd Barmherzick zu Sein, Bet ein innick Pater Noster und Ave Maria
vor die verstorben Seelen Jost T. Truclises von Beczenhaiisen Deuschs Or-
dens zu Dieser czeit Testamentariiis Geioestt.

Das Bild hängt leider an einer so dunkeln Stelle, dass nicht Vieles
deutlich zu erkennen ist.

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Das zweite Gemälde, gleichfalls mit Oel auf Holz gemalt, hängt nahe
dem Eingange des Chores, an der Querwand des südlichen Seitenschiffes.
Es ist leider sehr verunreinigt und beschädigt; doch sind die Farben nicht
verwaschen, sondern an einzelnen und glücklicherweise zumeist nicht an
den bedeutendsten Stellen abgesprungen. Es stellt eine iVbnahme vom
Kreuz dar und gehört, was die Art der Behandlung, so viel davon im
jetzigen Zustande des Bildes zu erkennen ist, was die Anordnung des Gan-
zen, was Leben, Cliarakter und Ausdruck in den einzelnen Figuren und
besonders in den Köpfen anbetrifll, zu einem der trefflichsten Werke jener
Zeit. Der Christusleichnam im Vorgrunde ist merkwürdiger Weise mit

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II. 'Studien in Berlin und der Uingegend. 113

halboffenen gebrochenen Augen dargestellt. Der grosse Schmerz in dem
knabenhaften Johannes zu dessen Iläupten, in den knieenden, klagenden
Frauen, in den beiden Greisen zeugt, wie er sich auch in den verschiede-
nen Figuren verschieden äussert, von dem reinen und einfältigen Gemüthe
des Meisters, und bis in die Seele des Beschauers geht der auf diesen ge-
richtete Blick der einen Frau, welche die Schmerzensmutter von hinten
umfasst. Die Verbrecher an den andern beiden Kreuzen sind gleich-
falls ihrer verschiedenen Eigenthümlichkeit gemäss gehalten; eine reiche
Landschaft würde das Auge des Beschauers in die Ferne hinausziehen, wenn
es nicht unwillkürlich immer wieder auf die Gruppe des Vorgrundes
zurückkehrte.

Auf der oben genannten nördlichen Empore hängt unter andern noch
ein Gemälde, welches Thurneisser als eine Gedächtnisstafel bei dem Tode
seiner zweiten Gemahlin in der Kirche aufhängen liess. Es stellt ihn mit
den Seinigen in Pilgerkleidern dar, knieend und emporschauend nach einer
Erscheinung der heiligen Dreifaltigkeit. Charakteristisch ist das scharf ge-
schnittene Profil des seltenen Mannes.

Das jetzige Altarblatt ist ein gut gemeintes Bild im Haarbeutelstyl.
Auf der Rückseite befinden sich mehrere alte Gemälde auf Goldgrund,
welche aber durch
den frechsten Muthwillen gänzlich ruinirt sind; die we-
nigen halberhaltenen Köpfe, die noch wehmüthig aus den Trümmern her-
vorblicken, verrathen manche Spur ihrer ehemaligen Tretflichkeit.

In der Sakristei zeigt man ein hübsches pokalartiges Gefäss von Mes-
sing mit einem hohen, spitzen Aufsatze, welches vermuthlich zur Auf-
bewahrung von Hostien diente. Es ist in der Hauptforin sechseckig, mit
Thürmchen auf den Ecken und mit kleinen Medaillons auf den sechs Sei-
tenfeldern, welche in getriebener Arbeit Momente aus dem Leben des
Heilandes — die Geburt, die Geisselung, die Kreuztragung, den Kreuzestod
und die Auferstehung — und eine Rosette darstellen. Statt des einen
Thürmchens ist eine Figur des grossen Christoph mit dem Christkinde an-
gebracht.

Wenn, wovon man seit einiger Zeit spricht, eine Renovation dieser
Kirche vorgenommen wird, so möchte wohl, unbeschadet der gottesdienst-
lichen Bedürfnisse, die ursprüngliche Form derselben in ihrer Reinheit
wieder herzustellen sein, so dass nemlich besonders die störenden und
wenig brauchbaren Emporen ganz hinausgeschafft würden. Und es dürfte,
wenn überhaupt eine, gerade diese Kirche •—gleichfalls ohne Eingriff in
die Rechte des Gottesdienstes — zu einem Museum für ^ Denkmäler der
vaterländischen bildenden Kunst, so wie die Moritzkapelle in Nürnberg,
nicht unpassend erscheinen. Solcher Denkmäler ist aber eine nicht geringe
Menge in Stadt- und Dorfkirchen verstreut jind leider dem Freunde der-
selben zumeist noch unbekannt. Wir haben deren manche von bedeuten-
dem Kunstwerth gefunden; aber sie befanden sich nur zu oft in sehr ver-
nachlässigtem Zustande und gehen mehr und mehr ihrem Untergänge
entgegen." --

Die erwünschte Renovation der Klosterkirche ist vor mehreren Jahren
erfolgt. Das Aeussere, wenigstens die Fa^adenseite, hat dabei eine reichere
architektonische Ausstattung erhalten: zwei achteckige Thürme mit zierli-
chen Spitzen, die zu den Seiten des Portales vorgebaut sind, und ein mit
leicht durchbrochener Spitze, versehenes Thürmchen über der Zinne des

Kugler, Kleine Scliriflon. 1. ' 8

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Giebels, — eine Decoration, die aber so wenig zu der schlichten alten
Anlage, wie zu dem Style ihrer Formen sonderlich passen will. Auch das
in das Hauptfenster der Facade eingesetzte Stabwerk ist mehr nach den
allgemeinen Principien des gotliischen Styles, besonders in dessen rheini-
scher Gestaltung, als nach der derben Weise des Backsteinbaues gebildet.

Das Innere aber hat sehr dadurch gewonnen, dass die störenden Ein-
bauten beseitigt sind, dass der Fussboden, der bedeutend aufgehöht war,
auf seine ursprüngliche Tiefe zurückgeführt ist, auch Wände, Pfeiler, Glie-
derungen und architektonische Ornamente von der Kalktünche befreit sind,
und nunmehr wieder in der eigenthümlichen Reinheit ihrer Formen er-
scheinen. Die Arkaden des Scliiffes maclien nun doch einen starken, wei-
ten und kühnen Eindruck, und das ganze kunstgeschichtliche Räthsel dieses
merkwürdigen Gebäudes — denn das ist es in der That — tritt dem Be-
schauer noch auffälliger entgegen. Es ist in diesen massig spitzbogigen
Arkaden des Schiffes ein Element, Avelches in gewissem Betracht noch an
den Uebergangsstyl erinnert; selbst in denjenigen der Kapitale ihrer Halb-
säulen, deren Blätterornament strenger stylisirte Formen hat, befolgt diese
Stylisirung noch in etwas die Motive der Uebergangszeit, während die An-
wendung von Wein- und Eichenblättern an andern Kapitalen allerdings
ganz in der Art erscheint, wie dergleichen auch anderwärts im nordöst-
lichen Deutschland im ersten Stadium der entwickelten gothischen Bauweise
vorkommt. Der Bau des Chores entspricht völlig dieser letzteren Bau-
weise. Es ist übrigens keine äussere Spur vorhanden, daraus sich ent-
nehmen liesse, dass der Chor etwa später aufgeführt sei als das Schift'; auch
entspricht die Gliederung des Hauptportales auf der Westseite in ihrem
Gnmdprincip der Gliederung einer im Chorschluss befindlichen Thür,
welche zur Sakristei führt: in beiden herrscht ein scharf birnenförmiges
Profil vor, das nicht minder auch an den Gewölbgurten der Kirche durch-
geht, das wiederum für das erste Stadium der Ausbildung des Gothischen
massgebend ist und in seiner besondern Eigenthümlichkeit auch sonst
diese l^poche des Backsteinbaues charakterisirt. Die Kirche ist also als
ein Dcnkzeichen dieser Epoche aufzufassen, aber mit einem Festhalten
eigenthümlicher Reminiscenzen an die nächst vorangegangene Epoche, wel-
ches in so später Zeit doch selten und vielleicht für die spätere Entwick-
lung der Architektur in unsern nordöstlichen Landen bezeichnend ist. Die
Arkaden des Schifl\3s gemahnten mich einigermaassen an das Yerhältniss
der Arkaden im Schiff des Magdeburger Domes; es wäre nicht undenkbar,
dass ein irgendwie vermittelter Einfluss von dort auf diese Disposition
eingewirkt hat. Ob die oben angeführte Jahreszahl 1271 als die der Grün-
dung dieser Kirche anzunehmen, oder ob dieselbe vielleicht noch um ein
Paar Jahrzehnte jünger und mit jenem Geschenke der zwischen Tempelhof
und Berlin belegenen Ziegelei vom Jahre 1290 in Verbindung zu bringen
ist, lasse ich hier dahingestellt.

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Wesentlich trägt zu dem kräftigen Eindrucke, den das Innere hervor-
bringt, der Umstand bei, dass das Material der grossen gebrannten Steine
jetzt wieder dem Blicke frei liegt. Nur an den Laibungen der grossen
Bögen, die die Oberwände des Mittelschiffs tragen, und an den Kappen
der Gewölbe erscheint, ohne Zweifel der ursprünglichen Einrichtung ent-
sprecliend, ein Kalkputz. Auf jene Laibungen ist, einfach mit schwarzer
Farbe, ein kräftiges Ornament gemalt, ohne Zweifel ebenfalls nach-vorge-
fundenen alten Mustern. Ob die nicht sehr liarmonisch bunte Zuthat an

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H. Studien in Berlin und der Umgegend. 115

den Gewölbgurten ursprünglich in solcher Weise beschaffen gewesen,
möchte ich dagegen in Zweifel ziehen. ,

Bei der Renovation ist , wie es scheint, auch den in der Kirche vorhan-
denen Bildern eine nähere Sorge gewidmet worden. Doch hängen sie jetzt
zum Theil so wenig günstig, dass ein Urtheil über ihre Beschaffenheit jetzt
fast schwerer ist als früher; ich habe es daher im Obigen bei der vor
Jahren niedergeschriebenen Schilderung belassen. Die auf Cranach's Rich-
tung bezogenen Bilder werden übrigens doch nur unter denci Collectivbegriff
Cranach'sclier Schule zu fassen sein. Der 'Altar der Kirche erscheint jetzt
als einfacher Tisch, hinter dem ein Crucifix aufgerichtet steht. Der Raum
um den Altar — die Seiten des Chorschlusses unter den Fenstern — haben
durch Fresken von C. Herrmann's Hand, Patriarchen, Propheten, Evan-
gelisten und Apostel darstellend, eine bedeutender wirkende Ausstattung
erhalten, —

Verschiedenartiges künstlerisches Interesse veranlasste mich mehrfach,
zum Besuch der Kirclie von Bernau. Die Architektur derselben, schon
dem weiter vorgerücktem Mittelalter angehörig, ist nicht von ungewöhn-
licher Bedeutung, doch in manchen Einzelheiten wohl beachtenswerth. Die
Schiffe — auf der Nordseite zwei Seitenschiffe — sind gleich hoch, die
Pfeiler im Chor rund mit je drei oder vier Halbsäulchen, die zwischen
den Schilfen zum grösseren Theil achteckig mit je acht Halbsäulchen. Das
Gewölbe hat bunte Gurtverschlingungen; daran eine Inschrift, die als Voll-
endungszeit des Baues das Jahr 1519 angibt. Die Sakristei der Kirche ist
besonders zierlich; ihr Gewölbe ruht auf einer in der Mitte stehenden
Säule, deren Schaft mit gewundenen Stäben geschmückt und dereq Kapital
mit einem Blattkranze umschlungen ist. Consolen an den Wänden zeigen
eine nicht minder ansprechende Weise spätgothischer Ornamentik.

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116 Deutsche Kirchen und ihre Denl<raäler.

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II. Studien in Berlin und der Umgegend.

117

Besonders ausgezeichnet ist die Kirche
durch ein grosses Altarschnitzwerk: •— ein
mächtiger, in mehrere Felder abgetheilter Mit-
telschrein und zwei Seitenschreine; Alles aufs
Reichste durch freie figürliche Darstellungen
im charakteristisch derben Style der spätem
Zeit ausgefüllt. Die Seitenschreine auf ihren
Rückseiten bemalt; dann ein zweites Paar
beweglicher, aussen und innen bemalter Flü-
gel ; dann ein drittes unbewegliches Paar.
Ueber dem Mittelschreine und dessen Flügeln
eine hoch emporsteigende freie Tabernakel-
Architektur, mit darin angebrachten Statuen.

In decorativer Beziehung höchst beach-^
tenswerth ist das, einen kleinen Wandschrank
bildende Tabernakel zur Aufbewahrung der
Hostien. Die Thüren desselben sind mit ei-
nem Eisenbeschlage versehen, der, zu den
kunstreichsten Blätterranken ausgebildet, die
Flächen völlig überdeckt. Das Schloss des
Tabernakels, die in Gfestalt eines Thürklöpfels
-gebildete Handhabe sind auf ähnliche Weise
in zierlichster Feinheit bphandelt.

Von der Weise, wie man dem einfachen
Holzgeräth durch schlichte Schablonenmalerei
wiederum ein künstlerisches Gepräge zu geben

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118 Deutsche Kirchen und ihre Denl<raäler.

wusste, gab ein Schrank in der Sakristei der Kirche, auf dem ein Paar
phantastisch versclilungene Drachen gemalt waren, ein bezeichnendes Bei-
spiel. —

An solchen Schablonenmalereien, ein- oder mehrfarbigen, die mit höchst
einfachen Mitteln nachahmten, Avas anderswo in prächtigen Stoifen herge-
stellt ward, und solchergestalt manch ein schönes künstlerisches Motiv be-
wahrten , fand ich Verschiedenes in alten Dorfkirchen der Gegend. Die
Malerei an einem alten Gestühl in der Kirche zu Lindenberg gab ein
Beispiel der allerschlichtesten und doch völlig charakteristischen Form
gothischer Teppichdecoration. Mannigfaltiger, in fast überraschender Weise,
zeigte sich diese an den Mustern, mit denen eine Anzahl Bretter in der
Kirche zu Schmargendorf versehen waren. Aus den Brettern waren
einige Kirchenstände zusammengeschlagen, ohne dass man dabei jedoch auf

den Zusammenhang, den die Formen der Malerei ursprünglich — bei irgend
einer andern Verwendung der Bretter — gehabt, eine Rücksicht genommen
hätte; das Aufsuchen des Zusammengehörigen, zumal bei der doch schon
ziemlich verwischten Beschaffenheit der Malerei, hatte etwas von einem
Jen
de patience.
Da ergaben sich brillante Muster in der Form der Verschlingun-
gen des spätgothischen Fensterstabwerkes, verschiedenfarbige Teppichmuster
mit vollen gothischen Blumen, wie Avir sie an alten Messgewanden kennen,
und andre, die mehr das Gepräge von Wandteppichen hatten. Bei einem
von diesen war es seltsam, zu bemerken, dass die Formen zum Theil schon

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II. 'Studien in Berlin und der Uingegend. 119

in das barocke Wesen des siebzehnten Jahrhunderts übergingen. Unstreitig
gehörten die Arbeiten überhaupt erst dieser spätem Zeit an und liessen es
erkennen, wie lange hier, neben diesen barocken Formen, doch auch noch
die rein mittelalterlichen ihre Geltung zu behaupten vermochten.

Die eben angedeuteten Studien führten mich zu einem Unternehmen,
oder vielmehr zu dem Probehefte eines solchen, welches unter dem etwas
kühnen Titel „Denkmäler der bildenden Kunst des Mittelalters in den
Preussischen Staaten" (Quer Folio) erschien. Es war dabei zunächst auf
eine Darstellung bildnerischer Gegenstände, die den östlichen Provinzen
angehören, abgesehen. Das Heft enthält ornamentistlsclie Darstellungen,
wie die vorstehend mitgetheilten, architektonische Schmucktheile, Holz-
schnitzarbeiten, gemaltes Ornament, das letztere zum Theil aus den in
Gemälden angebrachten Verzierungen, auch das Mittelstück des grossen
Altarschnitzwerkes von Bernau. Mit geeigneter künstlerischer Kraft ausge-
führt, dürfte ein derartiges Unternehmen allerdings belohnend werden. —
Dann schrieb ich, wenig später, den erläuternden Text zu dem schönen
Werke von J. H. Strack und F. E. Meyerheim: „Architektonische Denk-
mäler der Altmark Brandenburg, in malerischen Ansichten aufgenommen,"
welches in vier Heften in Folio mit meisterhaft gearbeiteten Lithographieen
erschien. Der Text hat zu wenig selbständige Bedeutung, als dass es hier
thunlich wäre, auf denselben näher zurückzugehen. Ich kann es mir indess
nicht versagen, an dieser Stelle flüchtig an den Inhalt jener Hefte, der für
das Monumentalstudium um so wichtiger ist-, als den merkwürdige» Denk-
mälern der alten braridenburgischen Mark noch keine weitere bildliche Dar-
stellung zu Theil gew^orden ist und dieselben hier «ugleich mit ächt künst-
lerischem Sinne aufgefasst sind, zu erinnern. Da treten dem Beschauer die
ernsten kirchlichen Gebäude von Stendal, Tangermünde, Salzwedel, Jerichow
u. s. w., die kühnen und zum Theil prächtigen Thorbauten dieser Städte,
die vielleicht nur mit den spanisch-maurischen zu vergleichen sind, die
Beispiele der eigenthümlich dekorativen Gestaltung der Architektur, die —
wie die Fa^ade des Rathhauses zu Tangermünde — dem Bau mit gebrannten
Steinen in den nordöstlich deutschen Landen ein so charakteristisches
Gepräge aufgedrückt haben, in anschaulicher Gestalt entgegen. — Noch
später (1836) erschienen zwei Hefte „Denkmäler mittelalterlicher Kunst in
den Brandenburgischen Marken" von A. von Minutoli, ohne dass aber,
soviel mir bekannt, auch diesem, trefflich angelegten ünternehmeii eine
■weitere Folge gegeben -wäre. Noch harren die Marken — wie freilich noch
so mancher andre Theil Deutschlands — ihrer kunstgeffchichtlichen Durch-
forschung und einer genügenden, auch das Einzelne charakterisirenden
bildlichen Darstellung ihrer Denkmäler, Die, einem verwandten Cultur-
kreise angehörigen Denkmäler von Pommern werden, soviel meinerseits
für dieselben geschehen, im Fortschritt dieser Sammlung ihre Stelle finden.

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120

Deutsche Kirchen und ihre Denkmäler.

III.

R E I S E B L 1 T T E R

vom Jahr 1832.
(Museum, Blätter für bildende Kunst, 1833, No, 4, ff.)

Magdeburg.

Ich hatte lange genug in Büchern von der deutschen Kunst im Mittel-
alter gelesen; mich verlangte einmal wieder nach eigner, lebendiger An-
schauung. Es -war die alte Wanderlust, die ihre Flügel aufs Neue rührte.
In deutschen Landen wird so viel gereist, alle Tage gehen Eilwagen von
Berlin nach Magdeburg; ich beschloss getrost mein Bündel zu schnüren und
dem Zuge in die Ferne zu folgen.

Potsdam, die erste Station, hatte diesmal Nichts, was mich fesseln
konnte; die Reisegesellschaft ebenso wenig. Durch Brandenburg, dessen
Kirclien für den nordischen Backsteinbau wichtig sind, kamen wir in der
Nacht; ich sah nur, als ich den Kopf zum Wagenfenster hinaus steckte,
den grossen Roland vor dem Rathhause stehen; das über sein Haupt
gewachsene Schlingkraut ward im Winde auf und nieder bewegt, er schien
in der Dämmerung traumliaft zu nicken. In Burg fielen mir die grossen,
aus (äranitsteinen erbauten Kirchen auf.

Gegen Mittag waren wir in Magdeburg. Eine besonders malerische
Ansicht gewährt der Dom von den beiden Brücken aus, über die man,
von Berlin kommend, in die Stadt fährt. Da erhebt sich über der Elbe
erst der Fürsteuwall mit seinen gemauerten Bastionen, drüber grüne Bäume,
Gärten, Dächer von Häusern, dann die Dächer der Seitenkapellen des
Doms, des Bischofganges um den Chor, des Chores selbst, endlich das Schiff
und die hohen Thürme; ein mannigfacher Wechsel der Linien, der Details
und der Gesammtmassen. Mein erster Gang war auf den Domplatz. Der
Eindruck jenes majestätischen Gebäudes hat für Einen, der lange in Berlin
war, zu Anfang etwas höchst Ueberraschendes, fast Betäubendes; es fällt
dem Auge schwer, sich in diesen weitläufigen Räumen und Massen zurecht
zu finden. Indess gelingt es dem Anschauer doch bald, bei der verhält-
nissmässig einfachen Structur dieses Münsters, den eigenthümlichen Cha-
rakter der einzelneu Haupttheile zu erfassen. Kräftig und fest streben die
Thürme in fünf Absätzen empor, sich leicht zu den sechzehnseitigen, blu-
mengeschmückten Pyramiden der Spitze zusammenziehend. Zwischen den
Thürmen, von zwei starken Streben gehalten, ist das reichgegliederte und
verzierte Hauptportal; und drüber, und über das grosse Fenster hinauf zieht
sich dieser reiche Schmuck — denn die Thürme selbst sind wenig ver-
ziert — bis in die Spitze des Hauptfrontons empot. Um den zweiten
Absatz der Thürme läuft eine durchbrochene Gällerie, die, das Dach des
Mittelschiffes berührend, sich um die ganze Kirche hinzieht; hier wurden
am Tage des heiligen Mauritius, dem der Dom gewidmet ist, von der
Geistlichkeit festliche Processionen gehalten und die Reliquien des Heili-
gen der unten versammelten Menge vorgewiesen. Das Mittelschiff hebt

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III. Reiseblätter vom Jahr 1832.

sich leicht und schlank über die Seitenschiffe empor, welche mit, einer
Reihe zierlich gebildeter Giebel, den einzelnen Querdächern über den ein-
zelnen Gewölben der Seitenschiffe entsprechend, geschmückt sind. Einen
besonders wohlthuenden Eindruck macht der Chor mit seinen mehr ausge-
breiteten, zwiefachen Vorlagen der Seitenkapellen und des Bischofganges;
einige fremdartig scheinende Elemente, z. B. das flachere Dach über dem
Bischofgange (obgleich dasselbe durchaus moüvirt ist) geben diesem Theile
des Doms einen eigenthümlichen Reiz. Doch auch, wenn man also jenes
ersten Eindruckes Herr geworden ist und nun mit anatomischer Ruhe zu
untersuchen beginnt, was der eigentliche Plan des Baumeisters war, was
aus früherer Zeit vielleicht in das Gebäude mit aufgenommen, was in spä-
terer hinzugefügt sein mag, auch dann noch findet man des Ueberraschen-
den und Originellen so viel, dass es schwer hält, zu einer bestimmten
Ansicht darüber zu gelangen. Denn allerdings erkennen wir bald in der
Construction des Chores ältere Motive als in der des Schiffes, aber der
Uebergang von dem einen in das andere ist, namentlich im Innern, auf eine
so unmerkliche Weise durchgeführt, die neueren Formen stehen in einem
so wenig schroffen Widerspruch gegen die älteren, wie es mir noch an
keinem andern Bauwerke der Art vorgekommen ist.

Büsching ») ist der Ansicht, dass der alte, von Kaiser Otto I. im Jahre
962 gestiftete Dom nicht, wie man früher annahm, auf der nordöstlichen
Seite des Domplatzes , sondern eben auf der Stelle des jetzigen Domes
gelegen habe; er sieht in dem, was wir jetzt noch als hohen Chor bewun-
dern, das Werk, welches Otto der
Grosse erbauen liess, — wenn er
auch in Manchem, z. B. in dem
durchweg herrschenden Spitzbogen,
verändert sei. Und wirklich möchte
es, da der^alte Dom erst im Jahre
1207 abgebrannt ist, schwer werden,
jene kurzen Pfeiler, welche den Chor
von dem unteren Umgange trennen,
jene völlig byzantinisch gebilfleten
Blätterkapitäle , jenes, mit griechi-
scher Strenge gemeisselte Akanthus-
blatt , welches im Chore häufig
vorkommt, noch als Werke des
dreizehnten Jahrhunderts gelten zu
lassen.

121

Uebrigens bezeichnet auch der
Hauptstyl deis Schiffes, insbesondere
soweit es sich nicht über die Höhe
der Seitenschiffe erhebt, noch die
erste Epoche des Spitzbogenstyles:
Säule im Chor. massenhafte Verhältnisse, dicke runde

Reise durch einige Münster und Kirchen des nördlichen Deutschlands.
S. 134 u. s. f. (Es bedarf gegenwärtig — 1851 — der Bemerkung nicht, dass
Büschings Ansicht durch das Ergebniss der neueren Forschungen durchaus um-
gestossen ist und dass auch die alterthümlichsten Theile des Magdeburger Domes
erst der Zeit nach dem Brande von 1207 angehören können.)

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122 Deutsche Kirchen und ihre Denkmäler.

Gurte und Kapitale, deren Blätterschmuck zum Theil noch jenen byzan-
tinischen Kapitalen des Chores nachgebildet ist. Merkwürdig ist es zugleich,

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III. Reiseblätter vom Jal^r 1832, 123

wie vom Chore nach den gegen die Thürme gelegenen Enden des Schiffes
zu, die Kapitale der Pfeiler und Halbsäulen aus jenen byzantinischen in
wirklich gothische Formen übergehen, sowohl was die Hauptformen (des
Kraters), als was die Blätterverzierung anbetriö't. Es wird uns endlich
nicht überraschen, auch Formen des, späteren, mehr ausgebildeten gothischen
Styles, namentlich im Aeusseren, anzutreffen, wenn wir wissen, dass der

neue Dom, im Jahre 1208 gegründet, erst
1363 eingeweiht, dass noch bis 1520 an
den Thürmen gebaut worden ist

Was die merkwürdigen Statuen be-
triff't, welche sich im Chor und zwar an
den Pfeilern desselben, über den Granit-
säulen befinden, so dürfte es nicht min-
dere Schwierigkeit haben, auch über
deren Alter etwas Näheres zu bestimmen.
Büsching, vielleicht um authentische Por-
traits der beiden ersten Ottonen, welche
sich unter diesen Statuen befinden, zu
gewinnen, wünscht ihre Anfertigung bis
in's zehnte Jahrhundert zurück zu da-
tiren; doch weiss ich nicht, welche halt-
baren Gründe dafür aufzustellen sein
möchten. Vielmehr glaube ich auf ein
späteres Alter schliessen zu dürfen. Denn
einerseits treten eben keine besondern
Kennzeichen des, in jener Zeit noch all-
gemein herrschenden byzantinischen Sty-
les hervor, — die Figuren sind kurz, ohne
Andeutung einer gewissen, den byzanti-

Eigenthümlich ist es, wie bei dem Mag-
deburger Dome, der ursprÜBglich mit so
schlichten und gemessenen Höhenverhältnis-
sea begonnen hatte, im Lauf ,der Jahrhun-
derte, ein stets wachsender Drang in der
aufwärts strebenden Richtung sich geltend
macht, wie derselbe schliesslich das Gesetz
der-besonnenen, im gegenseitigen BedingnißS
ihrer Theile beschlossenen Composition weit
unter sich lässt und somit aus dem künst-
lerisch Erhabenen in phantastische Willkür
überspringt. Ich meine hiemit besonders
den Umstand, dass der Giebel des Zwlsohen-
baues zwischen den Thürmen sich von dem
eigentlichen Dachgiebel (mit dem er doch
im entschiedensten Zusammenhange stehen
sollte) lossagt, dass er ihn hoch, um ein
neues äiächtiges Geschoss, übersteigt, damit
aber Zweck und Bedeutung verliert. In der
That macht diese Anordnung, — die wir
übrigens in Nörddeutschland mehrfach wie-
derholt finden, — auf unser Gefühl keines-
weges mehr einen schönen, sondern eben nur
einen verwunderlichen Eindruck. (1851.)

1

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124 Deutsche Kirchen und ihre Denl<raäler.

nisirenden Sculpturen, namentlich des zehnten und elften Jahrhunderts,
häufig eigenen Dickbäuchigkeit, auch ist der Faltenwurf ohne ausgezeichnete
Eigentfiümlichkeit, — andrerseits haben sie in ihren kurzen plumpen Yer-
hältnissen, in der Form ihrer grossen, gewölbten, dreieckigen Schilde, die
um den Hals hängen, und ihrer spitzen, von einer Krone umgebenen Helme
viel Aehnliches mit den Miniaturen einer Handschrift des Wilhelm von
Oranse, deren im dreizehnten Jahrhundert geschriebene Fragmente in der
Heidelberger Bibliothek aufbewahrt werden

Ausser einigen Madonnenstatuen, die ungeachtet der langen, schweren,
zum Theil schlaffen Linien ihres Faltenwurfes einen gewissen Liebreiz
nicht verbergen, sind unter den anderen plastischen Monumenten des
Domes vornehmlich die Statuen zu nennen, welche sich in der nördlichen
Vorhalle, dem Paradiese, befinden, und eines Theils das alte und neue
Testament, andern Theils die klugen und die thörichten Jungfrauen dar-
stellen. Letztere namentlich, lange gestreckte Figuren, die, nicht ohne
Grazie, in der Gewandung zuweilen einen edeln Faltenwurf zeigen, sind
ein Beispiel des eigenthümlich deutschen Styles in der Bildnerei des Mit-
telalters, welcher sicli gleichzeitig mit dem Spitzbogenstyl in der Baukunst
entwickelt. Sie sind bemalt, die Gewänder mit Mustern.

Bei weitem das wichtigste Monument für die weitere Entwickeluiig der
deutschen Sculptur ist aber jenes von Peter Vischer im Jahre 1497 vollen-
dete Grabmal des Erzbischof Ernst; es befindet sich iu der „Kapelle un-
serer lieben Frauen unter den Tliürmen," w elche durch ein sehr zierliches,
mit den schönsten, reingothischen Ornamenten versehenes Gitter von dem
Schiff der Kirche getrennt wird. Das Grabmonument gehört unter die
früheren Arbeiten des Meisters (doch war er bei dessen Vollendung wohl
schon über 40 Jalir alt), und der Styl desselben trägt, in den kurzen, ge-
drungenen Figuren, in den scharfen, eckig gebrochenen Falten, noch ganz
das Gepräge der Zeit: mir scheint dieser Styl, im Gegensatz des oben er-
wähnten eigenthümlich deutschen, im fünfzehnten Jahrhundert von den
Niederlanden aus über die Nachbarländer und insbesondre über Deutsch-
land, wesentlich durch die überwiegende Kraft der Eyck'schea Schule in
der Malerei, sich verbreitet zu liaben. Wohl ist schon dieses Werk, davon
wir sprechen , eines erfahrenen, eines sinn- und gemütlireicheri Meisters
nicht unwürdig; wie Peter Vischer aber, nachdem er bereits lange Jahre
den gleichen Pfad nait seinen Zeitgenossen gegangen war, plötzlich in jenen
wunderbaren Apostelgestalten am Sebaldusgrabe zu Nürnberg, deren A'oll-
endung erst in sein beginnendes Greisenalter (1519) fällt, einen so verän-
derten, einen so freien, so hocherhabenen Flug nehmen konnte, das ist ein
Uäthsel, dessen genügende Lösung wir schwerlich in einem von aussen
hinzugekommenen Anstoss finden dürften, etwa in einer z
\A'eiten italieni-
Reise, deren Möglichkeit nur mit Mühe nachgewiesen wird Wir kommen
noch einmal auf diesen Gegenstand zurück, wenn unsere Pilgerscliaft uns
zu jenem höchsten Heiligthum deutscher Kunst geführt haben Avird. —

Von Gemälden sah ich hier nichts Bemerkenswerthes. Merkwürdig
mag jenes alte Abbild des Schweisstuches der Veronika gewesen sein,
dessen Koch i» seiner Beschreibung des Magdeburger Domes (S. 58 u. 104)

Vergl. oben S. 4 u. 6. Auch die gfluanntou Statuen gehören unstreitig
erst in das dreizehnte Jahrhundeft. —
S. Nürnbergische Künstler, geschildert
nach ihrem Leben und Werken, lieft IV.

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1

III. Reiseblätter vom Jahr 1832. 125

erwähnt: vornehmlich durch das darunter befindliche Gebet aus der Mitte
des dreizehnten Jahrhunderts, welches die Gläubigen vor diesem Bilde zu
halten hatten und wofür ihnen — zufolge der Unterschrift — vom Papst
Innocenz IV. ein Ablass zugesichert war. Dieses Gebet, ein, für die Ge-
schichte der Bilderverehrüng vielleicht nicht ganz unM-ichtiges Beispiel,
lautet in freier Uebertragung etwa folgendermaassen:

Sei gegrüsst, o Angesicht, das der Heiland traget,
Drinnen slcli der Gottheit Lieht wunderbarlich reget,
Das Veronika empfing, liebevoll beweget,
Auf ihr Linnen, weiss wie Schnee, sorglich ausgepräget.

Sei gegrüsset, Zier der Zeit, Spiegel der Gerechten,
Du der Sehnsucht Gegenstand allen Himmelsmächten,
- Mach' uns rein und führ' uns weg aus dem Kreis der Schlechten
Und lass auch für uns den Kranz der Erwählten flechten!

Sei gegrüsset, unser Trost in des Lebens Wehen,
Die, wie bang und schwer sie sind, bald vorübergehen;
Führ' uns, heilig Bild, wenn wir in die Heimat gehen,
Dass wir Christi Angesicht sonder Hülle sehen!

Christi Angesicht, du trägst alles Heiles Samen!
Welches Lob und welcher Preis reicht an deinen Namen?
Mache du des Feindes Wuth gegen uns erlahmen.
Und gieb deinen Frieden uns, dass wir sprechen: Amen!

Die Preussische Regierung, die nicht nur den Werken lebender Künstler
Schutz und Pflege angedeihen lässt, sondern auch auf Erhaltung grossartiger
Monumente der Vergangenheit bedacht ist, — wohl erkennend, dass das
Leben der Gegenwart nur über den Grundpfeilern der Geschichte sich er-
bauet, — hat mit hohem Sinn auch eine Restauration des Magdeburger
Domes, über den mehr als ein Sturm dahingegangen ist, angeordnet; auf
dass aus demselben in ungetrübter Herrlichkeit der ernste,, kräftige Sinn
unserer Vorfahren zu uns reden und ein gleiches Streben in uns erwecken
möge. Diese langjährige Arbeit naht sich bereits ihreip Ende; bei meiner
Anwesenheit war man schon mit der Restauration der Thürme beschäftigt.
Doch dünkt es mich, als ob es ein gar schwieriges und alle Besonnenheit
in Anspruch nehmendes Werk sei, wenn man die Grenzen einer solchen
Restauration bezeichnen und die verschiedenen Ansprüche gegen einander
abwägen will, welche von Seiten der Aesthetik, von Seiten der Geschichte
und Poesie gemacht werden müssen. Wir haben z. B, wenig Recht, wenn
wir einzelne, in einem solchen Dom vorhandene Monumente von der Stelle,
die ihnen viele Jahrhunderte hindurch zuerkannt ist, hinwegrücken, um
etwa die Hauptlinien der Architektur ungestörter verfolgen zu können;
mir scheint vielmehr, als ob eben diese, im Verhältniss zum Ganzen so
geringen Unterbrechungen das Malerische des Eindruckes begünstigen und
dem Auge, welches sich in den gewaltigen Räumen und Massen so leicht
verliert, angenehme Ruhepunkte darbieten; — es versteht sich von selbst,
dass hier nicht von den, alle Harmonie störenden Priechen oder Emporen
oder von den sonstigen Einrichtungen, welche ein veränderter Zweck,des
Gebäudes und eine vornehmere Bequemlichkeit seiner Besucher hervorge-
rufen, die Rede sein kann. Man hat zugleich das Innere des Magdeburger
Domes, vielleicht um jenen architektonischen Eindruck noch zu erhöhen.

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um die Verhältnisse des Ganzen und seiner Theile noch deutlicher her-
vortreten zu lassen, mit einer so blendend weissen Farbe angestrichen und
durch die unbemalten Fenster fällt überdiess so viel überflüssiges Licht
herein, dass nun auch die ganze grosse Leere und sämmtliche schlechte
Monumente des siebzehnten Jahrliunderts mit ihren arg gequälten Gestalten
recht in die Augen fallen. Aber jenes magische Helldunkel, welches wie
eine schöne fromme Sage vergangener Zeiten zu uns spricht und die Brust
mit einer stillen Sehnsucht füllt und welches gleichsam ein Schatten ist
der heiligen, märtyrerglühenden Fensterbilder,—jener geschichtliche Zau-
ber ist geraubt, "Wir erinnern uns nun vielleicht an irgend einen Vortrag,
den wir einmal über altdeutsche Architektur gehört haben, wir nehmen den
Messstock zur Hand, freuen uns über die vortreiflichen Verhältnisse des
Ganzen, gehen über einzelne geringere Missstände mit schuldiger Nachsicht
für den damaligen kindlichen Zustand der Kunst hinweg, und sind, im
Ganzen genommen, künstlerisch sehr erbaut, — ob aber auch, was man
etwa so nennen dürfte, menschlich?

In einem Winkel neben der Kirche, unter allerhand bei Seite ge-
brachten AJterthümern, sah ich die beiden Schutzpatrone des Domes zu-
sammengestellt, den heiligen Mohrenhelden Mauritius, dem die beiden
Beine fehlten, und die heilige Katharina, die gleichfalls verschiedene Be-
schädigungen erlitten hatte, beide aber in ihren Trümmern noch von wun-
derbar rührender Schönheit: Mauritius, ein kräftiger, blühender Bursch
mit einem ganz leisen Anflug von Schwärmerei; Katharina, eine hohe,
fromme Gestalt, mit aller deutschen, heiligen Weiblichkeit. Und nun?
An dem Nordportal, wo die beiden Statuen sich befanden, hat man einen
neuen Mauritius und eine neue Katharina gemeisselt, als ob es eben mit
dem Meissein gethan wäre. Beide standen gerade unter einem Bretter-
verschlag, so dass ich sie nicht sehen .konnte; indess bezweifle ich gar
nicht, dass die Arbeit recht brav ausgefallen sein wird. Aber was wollen
wir denn mit diesen Heiligen? was gehen uns aufgeklärte Protestanten
Mauritius und Katharina an? Wir werden, wenn die Arbeit vollendet ist,
vorübergehen und etwa sagen: „Ei, welche schöne Statuen! welph ein vor-
trefllicher Bildha;uer'!" Bei den alten, beschädigten (möglicher Weise aber
restaurirten) Figuren hätten wir eben noch ein klein wenig mehr zu den-
ken gehabt.

Ja ich möchte, wenn es sich um die Restauration eines solchen Bau-
werkes handelt, die Erhaltung selbst manch eines Umstandes wünschen,
der, vielleicht im Widerspruch mit den Gesetzen der Schönheit, einmal
ein Wahrzeichen der Stadt und ihrer Geschichte geworden ist. Ich meine
hier insbesondere jene mangelnde Blumenkrone des einen Thurmes, die
demselben in der verhängnissvollen Belagerung Magdeburg's unter Tilly,
im Jahre 1G31, abgeschossen ist. Die Geschichte dieser Belagerung haftet
aber seit unsrer Knabenzeit mährchengleich, wie der Brand von Troja, wie
die Eroberung Roms durch die Gallier, fest in unserm Gedächtniss; und
ich weiss nicht, ob das Erwecken solcher Erinnerungen durch ein so augen-
fälliges Dehkzeichen nicht mehr werth ist, als jias Aufheben all und jeder
Disharmonie —

Unter den Gebäuden, die aus jener Belagerung und der darauf erfolgten
Zerstörung der Stadt gerettet sind, ist, nächst dem Dom, besonders die

% '

') Dio Rostauration dieser Blumenkrone ist imterblieben.

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127

III, Reiseblätter vom Jahr 1832.

Frauenkirche merkwürdig. Sie enthält in ihrem Innern ein seltsames,
aber consequentes Gemisch von Rundbogen und jenem ersten massigen
Spitzbogen. Indess entdeckt man bei einer näheren Betrachtung bald, dass
die Kirche ursprünglich im Rundbogen, sammt den mit dieser Grund-
form verbundenen Details, erbaut ist, übereinstimmend mit dem Datum ihrer
Erbauung, in den ersten Jahren des elften Jahrhunderts^); das spitzbogige
Gewölbe, sowie die anderweitigen spitzbogigen und durch diese Form
herbeigeführten Theile erscheinen sodann als eine Restauration, etwa aus
der Frühzeit des dreizehnten Jahrhunderts. Die Vorhalle hat noch ganz
den alten Styl und kurze Säulen mit den bekannten, unten abgestumpften
Würfelknäufen. Von ähnlichen kurzen, plumpen Säulen, mit rohen schweren
Kapitalen verziert, ist ursprünglich das Schiff der Kirche (die ohne Zweifel
flach gedeckt war) getragen worden; diese Säulen sind später zu Pfeilern
mit kleinen Halbsäulen ummauert. Bei den zwei, zunächst dem Kreuz

befindlichen Pfeilern sieht man noch Theile jener Säulen und ihter Knäufe
hervorragen, vielleicht als ein absichtliches Denkzeichen für die Beschaf-
fenheit des älteren Baues. Die Kirche ist übrigens im Innern, gleich dem

') Fiorillo, Gesch. d. zeich. Künste in Deutschland, II, S. 167.

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128 Deutsclie Kirchen und ilire Deiikinäler.

Dome, rein gemacht und gelb wnd blaugrün und weiss augestrichen. Die
runden Thiirme der Kirche sind aus gebranntem Stein erbaut, alle Gesimse
indess wieder aus Sandstein.

Halbers.tadt.

Wenn Magdeburg, mit Ausnahme der wenigen Bauwerke, welche das
traurige Schicksal der Stadt im dreissigjährigen Kriege überlebt haben,
wesentlich aus neueren Gebäuden besteht und insbesojidre in den Häusern
der breiten Hauptstrasse eine gewisse kaufmännische Sicherheit und Eleganz
zeigt, so bewahrt Halberstadt, in seinen kirchlichen Gebäuden sowohl, als
nicht minder in den Bürgerwohnungen, noch viel mittelalterliche Formen
und erinnert im Ganzen noch an die Oberhoheit des bischöflichen Krurnm-
stabes, unter dem aber, wie wir wissen, gut wohnen war •). Den Mittel-
punkt der Stadt um welchen sich die Wohnungen und die andern Kirchen
nmherlagern, bildet der schöne, gothische Dom; er liegt auf einer Anhöhe,
und die Verbindung des alterthümlichen Domplatzes mit einem grossen
Theile der Stadt wird nur durch verschiedene Treppen zu Wege gebracht.
Die hüglige Lage von Halberstadt verbietet schon von selbst jene lang-
weilige Regelmässigkeit, der ich wenigstens in den Strassenanlagen neuerer
Städte nicht allzuviel Geschmack abgewinnen kann; die Häuser sind oft
ganz malerisch und seltsam heimlich zusammen-, ich möchte sagen, inein-
ander gebaut, und nicht selten sieht man eine der grösseren Kirchen als
den Hintergrund des hübschen Bildes. Dieser malerische Eindruck wird
durch den eigenthümlichen Charakter der älteren Häuser noch erhöht,
welche durchweg in Fachwerk erbaut sind, und zwar so, dass die oberen
Stockwerke über die verschiednen unteren auf die Strasse hinaus über-
ragen. Die stehenden und noch mehr die liegenden Balken sind sodann
grossen Theils mehr oder minder kunstreich geschnitzt und ausgekehlt, und
letztere durch mannigfaltig gebildete Consolen unterstützt. Ausgezeichnet
ist in dieser Hinsicht insbesondre der sogenannte Schuhhof auf dem breiten
Wege, wo man, an der Stelle solcher Consolen, in Holz geschnitzte Sta-
tuen Christi, mehrerer Apostel und andrer Heiligen und einzelne groteske
Figuren von ausgezeichneter Arbeit sieht. Seltsam stechen einzelne neuere
Gebäude gegen jene älteren ab; und spasshaft ist der kleine dorische Por-
tikus vor dem Rathhause, an dessen Gesims der danebenstehende grosse
Roland sich die Nase zu stossen scheint.

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Der Dom von Halberstadt ist ein ehrwürdiges, reiches, in seinen ver-
schiednen Theilen immer auf's Neue anziehendes Bauw^erk. Er ist sehr
wohl erhalten und keine übertriebene Restauration hat ilim seine ernste
geschichtliche Farbe genommen; besonders im Innern wohlthuend wirkt
jener bräunlichgraue Ton, der ehen so weit von der wohlfeilen weissen
Tünche des Maurers, als von der beliebten Pfefferkuchenfarbe gewisser
moderner Architekturmaler entfernt ist. Kin-schönes, harmonisches Verhält-
niss der Seitenschiffe zum Hauptschifl' zeichnet diesen Dom aus; die ersteren
erheben sich höher als jene des Magdeburger Domes, sie scheinen das
Mittelschiff mehr zu tragen. Die Strebepfeiler der Seitenschiffe tragen zier-

Ich erlaube mir, hier auf den Aufsatz eines geistreichen Beobachters über
Ilalberstadt aufmerksam zu machen, welcher sich im Freimüthigeu, 1832,

No. 187 und 188, befindet.

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III. Reiseblätter vom Jal^r 1832, 145

liehe blumengeschmückte Tliürmchen, und von ihnen sind freie Bögen an
die "Wand des Mittelschifles hinübergeschlagen, als Widerlagen des Haupt-
gewölbes. Von roherer Arbeit leider sind die Thürme, die wenig von
der, den schöneren gothischen Gebäuden eigenen, pyramidalen Abstufung
zeigen und mit ihren grossen, leeren Schalllöcliern die Harmonie des Gan-
zen unangenehm stören. Auf dem, mit einer durchbrochenen Brüstung
versehenen Gange, der hier, wie am Magdeburger Dome, um das Dach
umherläuft, hat man eine schöne, weite Aussicht, insbesondre auf das nahe-
liegende Harzgebirge; schöner aber noch, als diese Fernsichten dünkten
mich die Niederblicke auf die einzelnen, malerisch durcheinander gescho-
benen Theile des Domes selbst, des Kreuzganges, u, s. w.

Ich liabe indess nicht die Absicht, eine detaillirte Beschreibung des
Halberstädter Domes zu liefern; es war mir auf meiner Reise wesentlich
nur Tim die Entwickelungsmomente der deutschen Kunst zu thun. Dahin
gehört hier der auf der westlichen Seite befindliche Unterbau der beiden
Thürme, etwa bis zu dem Gesimse, welches durch einen rundbogig ver-
zierten Fries getrag'en wird. Dieser Unterbau, welcher in seinen einzelnen
Theilen nichts mehr von den schweren gedrückten Verhältnissen des frü-
heren Rundbogenstyles hat, sondern in die Periode seiner späteren zier-
licheren Entwickelung und seiner Vermischung mit dem leichteren Spitz-
bogenstyl gehört, gilt somit als ein Ueberbleibsel jenes Baues, der, nach
dem Dombrande im Jahre 1060, aufgefiüirt und im Jahre 1071 vollendet,
im Jahre 1179 aber von Heinrich dem Löwen aufs Neue zerstört wurde ')•
In den Hauptformen ist hier bereits der Spitzbogen angewandt, in den
Nebenformen aber noch der Rundbogen, und namentlich der nach der
Art der gothischen Rose gebrochene Rundbogen, durchgehend. Die ziem-
lich schlanken Säulen haben gleichfalls nicht mehr das Würfelkapitäl mit
den abgestumpften unteren Ecken, sondern ein Kapital, dessen Grundform
durch eine einfache Hohlkehle oder durch eine Hohlkehle mit darüberlie-
gender Platte gebildet wird; letzteres ist durchweg mit einem sehr sauber,
oft völlig durchbrochen gearbeiteten Rankengeflecht belegt. Von besondrer
Schönheit ist das zwischen den beiden Thürmen befindliche Hauptportal.
In der Hauptform, wie gesagt, durch einen Spitzbogen überwölbt, zerrällt
es in zwei einzelne, durch einen Pfeiler mit davor befindlicher Säule, ge-
sonderte Thüren'^) ; die Wölbung der Thüren ist im Halbkreisbogen und
wird von der bekannten, aus kleinen Rundbögen zusammengesetzten Ver-
zierung umgeben, welche bei den entsprechenden Gebäuden unter den Ge-
simsen hinzulaufen pflegt. Ueber diesen-Thürwölbungen, umfasst von dem
genannten grossen Spitzbogen, ist eine zierliche. Ideine Säulenstellung, und
in den Ecken sind die vier geflügelten Symbole der Fvangßlisten ange-
bracht; darunter noch ein schreitender Löwe, dessen Bedeutung ich nicht
verstehe. Oberhalb des Portals ist ein grosses, kreisrundes Fenster, gleich
den Thüren von jener rundbogigen Verzierung umgeben. Zu den Seiten
des Portales endlich sind verschiedene Säulenmassen, welche einen beson-

Fiorillo a. a, 0. IL, S. 155. — (Die Daten sind in eine spätere Zeit,
In die erste Hälfte des 13. Jahrhunderts hinabzurücken. Die berichtigende Chro-
nologie in Betreff des Halberstädter Domes wird im Fortschritt dieser Sammlung
ihre entsprechende Stelle finden.) — Der Schaft dieser Säule ist später weg-
genommen und statt dessen die Statue des heiligen Stephanus, des Schutzpatrons
der Kirche, hingesetzt.

Kugler, Kleine Schriflen. I. 9

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130

Deutsche Kirchen uud ihre Denkmäler.

(lern Vorbau, das Paradies, getragen haben. Sie bestehen, auf jeder Seite,
aus einer starken und verschiedenen schlankeren Säulen; die letzteren sind,
um ihnen ein festeres Ansehen zu ertheilen, in der Mitte mit einem Bande
umgeben.

Das eigentliche Gebäude der
Kirche, wie wir es jetzt sehen, wird
in den Anfang des dreizehnten Jahr-
hunderts gehören; erst 1194 wurde
der Grund zu dem neuen Bau ge-
legt Der Unterschied, welchen
wir zwischen den drei einfacheren,
den Thürmen zunächst gelegenen
Strebeijfeilern, sammt den dazwi-
schen befindlichen Fenstern und
den entsprechenden Theilen im In-
nern, im Gegensatz gegen dieilbri-

Der Beginn des Baues des
Schiffes fällt in die zweite Hälfte des
13. Jahrhunderts.

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III. Reiseblätter vom Jal^r 1832, 131

gen reicheren und mehr durchgebildeten Theile des Domes wahrnehmen,
wird wohl auf Rechnung eines späteren, geschickteren Baumeisters zu
schreiben sein; denn wir wissen, dass der Bau dieses Gotteshauses längere
Zeit gewährt hat^j. Ja, dass der Dom noch vor seiner gänzlichen Vollen-
dung geweiht worden- ist, scheinen die grossen Kragsteine zu beweisen,
welche gegenwärtig noch im Innern unter den Fenstern des MittelschifTes
hervorragen und wahrscheinlich bis zur Vollendung des Hauptgewölbes
eine flache Balkendecke getragen haben.

Eine Beschreibung sämmtlicher einzelnen, im Dom vorhandenen Mo-
numente ist bereits durch Büsching gegeben; wir betrachten hier nur
diejenigen, welche durch ihr höheres Alter besonders merkwürdig sind.
Dahin gehören vornehmlich jene alten gewirkten Teppiche, welche im Chor
und zwar über den mit ausserordentlicher Kunst geschnitzten Chorstühlen
hängen und ihrer grossen Seltenheit wegen eine besondre Aufmerksam-
keit verdienen. Sie sind, auf jeder Seite, etwa 43 Fuss lang und unge-
fähf S'/a Fuss hoch, im Ganzen nicht viel beschädigt, (doch sind zwei
Eckstücke neu) und auch die Farben sind nicht zu sehr verschossen. Sie
enthalten Darstellungen menschlicher Figurea; ich beginne in deren Be-
schreibung mit den Teppichen, welche auf der Nordseite hängen. Hier ist,
zunächst dem Bischofstuhle, vorerst ein eignes Bild zu betrachten, welches
verkehrt an die folgenden angeheftet und von dem, weil es höher war,
leider ein Stück abgeschnitten ist. Es enthält in einem rautenförmigen
Felde die Darstellung eines Königs, der, 'auf einem Thronsessel sitzend, zu
den Füssen eine Fussbank, die Hechte mit vorgestrecktem Zeigefinger
erhebt und in der Linken ein Scepter hält, laut der Beischrift: Karolus
Rex (vermuthlich Karl der Grosse, welcher das Bisthum Halberstadt
gegründet haben soll). Von der Umschrift ist Folgendes erhalten: — tare.
diu. nec. honor. nec. vis. nec. forma, nec. etas. sufficit. in.
mundo, plus, tarnen, ista. place —. In den dreieckigen Eckfeldern
sind sitzende Philosophen mit Spruchbändern dargestellt; die oberen sind
halb abgeschnitten; die unteren sind: Cato, mit dem Spruch: Denigrat.
meritum. dantis. mora und Seneca: Qui cito. dat. bis. dat. Das
Ganze hat wieder eine Umschrift gehabt, von der aber nur noch wenige
Buchstaben zu lesen sind. —Nun folgt die Hauptdarstellung dieser Seite.
Zuerst sechs Apostel, von denen jeder ein Band mit seinem Namen in der
Hand hält, auf einer Bank sitzend, je zwei und zwei zwischen thurmartigen
Architekturen (Johannes, der sich unter diesen befindet, ist noch mit einem
Barte dargestellt), — dann Christus in einem Regenbogenringe, der von
zwei Engeln gehalten wird, -— und hierauf wieder sechs Apostel, welphe
aber ungetrennt neben einander sitzen. Das letzte Stück auf dieser Seite,
welches den auferstandenen Christus zwischen den vier Evangelisten ent-
hält, ist neu und zwar mit Oelfarben roh gemalt; doch ist dasselbe, so wie
das Folgende, ohne Zweifel eine Copie nach einer alten Tapete, was.
sowohl aus der Behandlungsart als aus der eigenthümlichen Darstellung des
Folgenden hervorgeht. Dieses, welches dem eben Besprochenen gegenüber
auf der Südseite des Chores hängt, stellt den Traum des Jacob vor. In
einen Ring, welcher in deii Bildern jener Zeit den geöffneten Himmel zu
bedeuten pflegt und aus dem sich hier ein Engel herausbeugt, lehnt die
Himmelsleiter; ein zweiter Engel steht auf'derselben, ein dritter bei dem

1) Fiorillo a. a. 0. ' .

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132 Deutsclie Kirchen und ihre Denkmäler.

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III. ReiseWätter vom Jahr 1832. 133

unter einem Baume schlafenden Jacob Nun folgen wieder gewirkte Dar-
stellungen und zwar aus der Geschichte des Abraham, zum Theil durch
niederhängende Spruchbänder getrennt; — ich brauche wohl nicht vorher
zu bemerken, dass die Opferung des Isaak von der scholastischen Weisheit
jener Jahrhunderte in unmittelbare Beziehung auf den Opfertod Christi ge-
stellt wurde. Wir sehen also zuerst den Abraham vor der Thür seines
Hauses, Gott (ohne Flügel, ohne Bart, aber im reichen Nimbus) aus dem
Ringe zu ihm sprechend, die drei Engel; — sodann Sarah in der Haus-
thür und Abraham, der vor den drei, am Tische sitzenden Engeln kniet;

— Abraham mit einem Feuerbrande und Schwerte, hinter ihm Isaak, der
die Holzscheite trägt, und ein Knecht, der einen Esel oder ein Pferd führt;

— ein Busch mit dem Schafbock, darüber eine aus dem Ringe schauende
Figur; Abraham, der den Isaak zu opfern im Begriff ist, und vor ihm ein
brennender Scheiterhaufen. — Endlich, im Fortgange desselben Teppiches,
nicht angeheftet, wie die zuerst genannte Darstellung des Königes, ist eine
mit langer Tunika und Mantel bekleidete Figur dargestellt, mit Schild und
Lanze, letztere einem Drachen in den Rachen stossend, — entweder der
Erzengel Michael ohne Flügel, oder der heilige Georg ohne Rüstung.

Es ist diesen Figuren, die mit ihren halbverschossenen Farben, mit
ihren weit offenen Augen gespensterhaft auf den Beschauer niederblicken,
bei aller Rohheit in der Ausführung doch eine gewisse strenge Würde
nicht abzusprechen, — wenigstens nicht denen, welche auf der Nordseile
des Chores hängen; dagegen die alt-testamentarischen Darstellungen in ihren
minder sicheren Formen einen schwächeren Künstler zu erkennen geben.
Die Hauptumrisse sind in breiten, dunkelbraunen Streifen geführt und in
der Grundfarbe jedes einzelnen Theiles die Schatten oder Lichtstreifen ein-
fach angedeutet, je nachdem die Grundfarbe heller oder dunkler ist. In
der eigenthümlich stylisirten Gewandung, im Styl der Architekturen, der
Bäume, der Geräthe, erkennen -^ir ganz denselben Charakter, welcher in
den Miniaturen vom Ende des zwölften Jahrhunderts gefunden ^wird. Diese
Zeitannahme bestätigen die Formen der Buchstaben in den mit Uncialen
geschriebenen Beischriften; sie enthalten nemlich, neben den früheren römi-
schen Formen, schon einzelne jener sogenannten gothischen und einzelne
Abkürzungen, welche im dreizehnten Jahrhundert gebräuchlicher werden.

Vor dem Altar im Chore ist noch ein anderer grosser Teppich als
Fussdecke ausgebreitet, der Darstellungen aus derselben Zeit'zu enthalten
scheint. Endlich hängen eben dort noch verschiedene Teppiche, welchen
auf eigenthümlich buntem Arabeskengrunde Darstellungen aus dem Leben
der Maria eingewirkt und die, ihrem Style nach, um den Beginn des sech-
zehnten Jahrhunderts verfertigt sind.

Der Chor wird von den Abseiten durch eine Mauer von einer gewissen
Höhe getrennt und von dem Schiff durch den sehr zierlich gearbeiteten
Bischofstuhl, ein Werk aus dem Anfange des sechzehnten Jahrhunderts,
Ueber demselben steht auf einem Querbalken ein grosses, von Engeln ge-
tragenes Crucifix, zu den Seiten Maria und Johannes, und zu deren Seiten
je zwei Cherubim. Darunter, ebenfalls an dem Querbalken, sind die Bilder
von Heiligen. Das Crucifix, Maria und Johannes sind, besonders nach dem

In Werinhers Gedicht vom Loben der Maria (vergl. oben, S. 26, flf.) lehnt,
bei einer gleichen Darstellung, die Leiter sehr naiv an dem Baume, darunter
Jacob schläft.

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134 Deutsche Kirchen und ihre Denl<raäler.

Faltenwurf zu urtheilen, unstreitig älter als das dreizehnte Jahrhundert
und haben Aehnliches mit den Bildern im
Hortus deliciarum der Herrad
von Landsperg, welche Engelhard, herausgegeben. Christus ist mit einem
Schurze bekleidet, Sein Haupt auf die linke Seite gewandt, und die Füsse,
welche statt des Fussbrettes auf einem Drachen stehen, nicht übereinander,
sondern mit zwei Nägeln befestigt"; Maria steht ebenfalls auf einem Drachen",
Johannes auf der kleinen kauernden Figur eines Königes.

Vor diesem Bischofstuhle, frei, in der Mitte des Schifies, steht ein
Altar, auf dem eine mit Perlen gestickte Decke liegt; diese Arbeit gehört
ebenfalls noch in jene Periode der sogenannten byzantinischen Kunst. Sie
enthält eine Krönung der Maria, zu den Seiten je zwei Engel und weib-
liche Heilige. Die Zeichnung ist roh, und das Ganze leider beschädigt,
denn die ächten Perlen, aus denen die Fleischpartieen gebildet waren,
sind bereits herausgenommen. Auf diesem Altar ist das vortreffliche Schnitz-
werk aus Speckstein befindlich j welches die Kreuzigung Christi darstellt
und das auch von Büsching beschrieben wird. Merkwürdig contrastiren
hier die kurze^,niederländisch karikirten Figuren der Kriegsknechte mit
den schönen, höchst edeln und zarten Formen des Johannes und noch mehr
der Maria, welche letztere an die schönsten Werke älterer Italiener erinnert.

Die Thür, welche von der südlichen Chor-Abseite nach dem sogenann-
ten Citer führt, hat merkwürdiger Weise in ihrem mehrfach gegliederten
Spitzbogen zweimal die römische Verzierung des Eierstabes, — eine selt-
same Vermischung heterogener Elemente. Der
Herr Oberdomprediger Augustin hatte die Güte,
mir die in dem Citer noch befindlichen Dom-
schätze zu zeigen. Da waren denn Reliquien aller
Art, zum Theil aufs Kostbarste mit edlen Steinen
gefasst; unter andern ein unverletzter Schädel des
heiligen Stephanus und ausserdem noch ein ein-
zelnes Stück davon; kostbare Stickereien, be-
sonders von Perlen und zuweilen nicht ohne
Kunst verfertigt, reichgeschmückte Mitren, Pluvia-
lien u. s. w. Daneben verscliiedne Gegenstände
von eigenthümlichem kunstgeschichtlichem Werth.
Ausser einem Crucifix von Bergkrystall, mit einer
schönen, aus Elfenbein geschnitzten Christusfigur,
nenne ich hier zunächst eine silberne, vergoldete
Abendmahlsschüssel (aus der im griechischen Got-
tesdienste das Brod genommen wird). Auf dersel-
ben sind ein Crucifix, Maria, Johannes und über
den Kreuzesarmeii zwei Engel in getriebener Ar-
beit dargestellt, lange Figuren mit langen harten
Profil der Thürgiiedcrung. Falten; daneben griechische Colonnenschrift und
viel zartes byzautisches Ornament, im Rande die Brustbilder von zweimal
acht Heiligen. Vier steinigende Figuren aus Messing, im späteren deutschen
Styl, sind nachmals darauf gesetzt; in der Mitte war eine Figur des hei-
ligen Stephanus, welche jetzt fehlt. Sodann schienen mir die in Elfenbein
geschnitzten Deckel zweier Pergamenthandschriften, eines Evangeliariums
und einer Sammlung-geistlicher Gesänge, merkwürdig. Der Deckel 'des
ersten, welches der Schrift nach in die früheren Jahrhunderte des Mittel-
alters gehört, stellt, unter mannigfach zierlichen Architekturen, an denen

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III. Reiseblätter vom Jal^r 1832, 135

besonders die Küppelthürme wichtig sind, den Evangelisten Johannes vor
einem Pulte sitzend und einem Jileinen Schreiber diktirend dar, wenn an^
ders der über ersterem,befindliche Adler, welcher ein Buch in den Klauen
hält, zur Bezeichnung genügt.

Der Deckel der zweiten Handschrift ist ein vollständiges antikes,
consularisches Dipt.ychon. Beide Platten sind 10^4 Zoll hoch und
beinahe 6 Zoll breit; sie zerfallen in je drei Abtheilungen, von denen die
mittlere, ungefähr in quadratischer Form , die grössere ist. Auf beiden
Platten enthält die obere Abtheilung eine gleiche Darstellung: Hier sitzen
die beiden Consuln, auf welche sich das Werk bezieht, nebeneinander auf
einer Bank, die Toga über der rechten Schulter gebunden und durch sie

den linken Arm und den
ganzen Leib bedeckt, die
rechte Hand schwörend auf
die Brust gelegt. Auf der
Seite des linken Consuls sitzt
Apollo, im langen Gewände,
mit StrahlÄikrone und Nim-
bus, die rechte Hand auf die
Schulter des Consuls le-
gend , in der linken einen
Palmenzweig; rechts sitzt
Minerva, mit Helm und
Nimbus, in der Linken eine
Lanze, in der Rechten eine
Kugel oder Scheibe haltend.
Zu den beiden Seiten der
Götter stehen Krieger mit
Schild und Lanze, und hin-
ter der Lehne, zwischen
den Consuln, kommt noch
eine Figur zum Vorschein.
Unter dieser Darstellung
nun zeigt die vordere Platte
in grösserem Verhältniss
den einen Consul in reich-
verzierter Tunika und Toga
und mit gestickten Arm-
bändern, in der Rechten ei-
nenGegenstand, einem Tuch
oder Beutel ähnlich (wohl
' die Mappa , mit welcher
das Zeichen zum Beginn
der circensischen Spiele ge-
geben ward), in der Linken
ein mit zwei Köpfen ge-
kröntes Sceptrum haltend;,
zwei Männer stehen zu sei-
nen Seiten. Das Mittelfeld
der anderen Platte zeigt den
zweiten Consul, dem die

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1

136 Deutsche Kirchen und ihre Denkmäler.

minder verzierte Toga über der rechten Schulter gebunden ist und lang
herabhängt, so dass nur wenig von der rechten Seite zu sehen ist; seine
rechte Hand, hat er schwörend auf die Brust gelegt. Neben ihm zwei gleich

In-

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III. IJeiseblätter vom Jahr 1882. 137

costümirte Männer, welche ihre Hand ebenfalls schwörend auf die Brust
legen. Die unteren Felder auf beiden Platten werden von verschiedenen
Gruppen sitzender und kauernder Gefangenen gebildet, und hier ist, trotz
der Rohheit in den Gesichtern, und obgleich die hervorstehenden Theile
bereits beträchtlich abgerieben sind, doch noch viel von dem antiken Sinn
für die Form und besonders manch ein schönes Motiv in der Bewegung
zu bemerken.

Endlich darf ich ein schönes Gemälde, welches sich in dem ehema-
ligen Kapitelsaale befindet, nicht unerwähnt lassen. Es stellt eine Maria
mit dem Kinde, von Heiligen umgeben, dar und ist ohne Zweifel ein Werk
der kölnischen Schule.

Dem Dom gegenüber, auf der andern Seite des Domplatzes, liegt die
Liebfrauenkirche, ein Gebäude, welches in seiner Massen-Anordnung
sowohl als in den einzelnen Theilen eine vollkommen entwickelte Anwen-
dung des sogenannten byzantinischen, d. h. des rundbogigen Baustyles zeigt.
Es ist eine Pfeilerbasilika mit einem Querschiff, mit sehr schmucklosen,
selbst noch rohen architektonischen Details , ursprünglich flach gedeckt,
später — aber ganz in demselben Style und im Inneren mit derselben
Schmucklosigkeit und Rohheit der Details — mit Gewölben und den die
Gewölbe stützenden Mauervorsprüngen versehen.

Ich sah die Liebfrauenkirche in ihrem wüsten, baufälligen Zustande,
der keine Feier des Gottesdienstes mehr zuliess. Sie war voller Staub
und Schmutz, die Stühle morsch und zum Theil zerbrochen, mehrere Grä-
ber aufgerissen; eine widerwärtige Kellerluft herrschte darin. Zu meiner
grossen Freude aber entdeckte ich an den Wänden, welche die Arme des
Kreuzes von dem mittleren Räume trennen und an denen, auf der innern
Seite , die Chorstühle befindlich sind, sehr alte, aber schön gearbeitete
grosse Reliefs. Ich zeichnete eins derselben.

Diese, aus einer Gypsmasse gearbeiteten Reliefs bestehen auf jeder
Seite aus sieben Bogenstellungen, welche durchaus den Charakter der by-
zantinischen Architektur tragen; in den also angedeuteten Nischen sind die
Figuren von Heiligen enthalten: und zwar auf der südlichen Wand Maria
mit dem Kinde und zu ihren Seiten je drei Apostel, auf der nördlichen
Christus mit den übrigen sechs Aposteln. Maria ist in dem Kostüm der
römischen Matronen , wie gewöhnlich in früherer Zeit, dargestellt, doch
mit blossem Haar, welches in zwei lange, vorn herniederhängende Zöpfe
geflochten ist; das Kind ist bekleidet. Die Figur Christi auf der nörd-
lichen Wand ist ebenfalls in der gewöhnlichen Stellung, in der Linken ein
Buch, die schwörende Rechte oflen vor der Brust haltend. Diese nördliche
Seite enthält die wahrscheinlich gleich alte Bemalung der Reliefs; auf der
südlichen Seite sind dieselben dick weiss übertüncht. Es fällt uns an die-
sen Figuren vorerst ein gewisses längeres Verhältniss auf, zuweilen auch
eine Andeutung jener eigenthümlichen Verschrobenheit in den Stellungen
und jener sonderbaren Dickbäuchigkeit, welche als Merkmale an den Kunst-
werken seit dem elften Jahrhundert zu betrachten sind. Sodann aber
zeichnen sie sich vor andern Werken der Zeit durch den Ausdruck eines
freieren, würdigeren Cliarakters,. durch eine gewisse Weichheit der Formen,
durch lebendigere Linien in der Gewandung und feinere Ausführung der-
selben , und endlich durch reineres Ebenmaass und grösseren Adel in
den erhaltenen Köpfen, vornehmlich in dem Kopfe Christi, sehr vortheil-
liaft aus.

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Was nun eine nähere Bestimmung des Alters dieser Reliefs betrifft, so
sind sie wenigstens älter als die (wie bemerkt: noch streng byzantinische)
Ueberwölbung der Kirche; denn die Wandpfeiler, welche die Gewölbgurten
in der Mitte des Kreuzes tragen, sind, jene Bogenstellungen der Reliefs
durchschneidend, über dieselben bereits vorgebaut. So finden sich auch
noch einige , obschon spätere Vorbaue: auf der nördlichen Seite nemlich
ein Altar, welcher die Figur Christi, von den Knieen abwärts, verdeckt;
und auf der Südseite ein Altar mit drüberstehendem grossem gothischem
Tabernakel, dessen zwei hintere Pfeiler vor den beiden, der Maria zunächst
befindlichen Aposteln stehen und dieselben auf diese Weise vor Beschä-
digungen des Kopfes geschützt haben. — Zu bemerken ist endlich noch das
sehr schöne Schnitzwerk an den Chorstühlen der Liebfrauenkirche.

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III. IJeiseblätter vom Jahr 1882. 139

Nachträgliche Reise-Notizen über Halberstadt,

Vom J. 183 4. — Unter den im Halberstädter Dome enthaltenen
Gemälden ist das von Raphon, eine Darstellung der Kreuzigung Chrigti
mit Flügelbildern,' bekannt. Das "Wiert ist von JHrn. Lucanüs-meisterlich'
gereinigt; die kräftigen reinen Farben glänzen jetzt hervor, als wäre das
Bild eben erst gemalt. Eigenthümlich ist den Figuren eine scharfe, be-
stimmte Zeichnung bei etwas rundlichen Formen, besonders in den Köpfen,

was einigermaassen an Dürer erinnert; die Farben sind meist gestrichelt auf-
gesetzt , die Schatten im Fleisch haben ein wenig nachgedunkelt. Ausge-
zeichnet sind die Köpfe, was Kraft und Individualität anbetrifft, minder in
Bezug auf Charakteristik und^inneres Leben, wie sich solches im momen-
tanen Ausdrucke zeigt. •— Gegenüber steht, aus der alten Liebfrauenkirche
hieher gerettet, ein älteres Bild, in dem weichen Style vor Einfluss der
Eyck'schen Schule gemalt, ein Gekreuzigter und Heilige zu seinen Seiten,
feierliche Gestalten, in den Köpfen etwas gemeinsam Stilles und Heiliges.

Die Liebfrauenkirche war, ehe jenes alte Gewölbe eingesetzt ward,

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140 Deutsche Kirchen und ihre Denl<raäler.

mit Wandmalereien geschmückt. Spuren davon sali icli noch an den über
das Gewölbe emporragenden Mauern, auf dem Boden der Kirche. Auch
im Innern der Kirche sind, durch Hrn. Lucanus, bereits gelungene Versuche

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Aus dem Dombilde von Raphon.

angestellt, die "Wände von der Tünche zu befreien und die alten Gemälde
wrieder zum Vorschein zu bringen. So sieht man bereits im südlichen Kreuz-
flügel eine Grablegung Maria im weichen germanischen Style; in ähnlichem
Style war eine Kapelle neben dem südlichen Seitenschiff ausgemalt; diese
Bilder sind zwar nicht übertüncht, doch durch Nässe u. dergl. sehr ver-
dorben. Neben dem Chor, auf der Südseite, befindet sich endlich eine
kleine tonnengewölbte Kapelle, deren Altarnische ebenfalls mit "Wandge-
mälden verziert war, wovon sich" die an der Halbkuppel vollständig und
unübertünclit erhalten haben. Diese sind im strengsten byzantinischen
Style, stehende Figuren, eine Madonna mit dem Kinde, zu ihren Seiten

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III. IJeiseblätter vom Jahr 1882. 141

Petrus und Paulus und zwei andre Heilige. Die Zeichnung ist starr, wie s

in den Miniaturen des 12. Jahrhunderts, der Faltenwurf durchaus in paral- r

lelen Linien und nur mit ganz einzelnen bewegteren Motiven. Die Linien •

sind mit röthlicher Farbe untergezeichnet, dann die einzelnen Theile einfach, s

ohne Schattirung, kolorirt und jene Linien darüber in schwarzer Farbe wie- ;

derholt. In den Gesichtern ist die Zeichnung rothlich geblieben, auch sind I

hier Schattirungen versucht, sowie feste Lichter aufgesetzt. Gold ist in ,

den Scheinen und Kleidersäumen angewandt; der Grund des Ganzen ist |

ein schönes Blau. Unter dieser Darstellung, durch ein Zikzak-Ornament l

davon getrennt, waren ebenfalls stehende Heilige befindlich, davon die
Köpfe noch sichtbar sind. Umgeben ist die Nische von zum Theil sehr
zierlichen gemalten Ornamentstreifen i). i

Vom J. 1846. — Unter den im Kapitelsaal aufgestellten Kunstwerken:
eine auf dem Throne sitzende Madonna mit dem Kinde, eine hautrelief-
artig behandelte und zum Anlehnen an eine Fläche bestimmte Holzstatue
von ungefähr 2^/2 Fuss Höhe. Mehrfach verletzt; die rechte Hand der
Madonna selbst fehlt, die Finger der rechten Hand des Kindes und die i

Zehen seines linken Fusses beschädigt, ebenso die Krone der Madonna,
auch der Thron, dessen Lehne ganz fehlt. Der Ueberzug an Farbe und
Vergoldung g'rossentheils abgeblättert (so dass es zweckmässig sein würde,
ihn ganz zu beseitigen). Die Haltung etwas steif; dabei aber ein sehr
feines Naturgefühl und eine hohe, bedeutungsvolle Schönheit, der Art, dass
dies Werk als ein Beispiel der edelsten, freisten und letzten Entwickelung ^

des germanischen Styles erscheint.

Goslar.

Auf grünen, frischbethauten "Waldpfaden war ich rüstig nach Norden,
immer am Saume der Harzberge hingewandert. In den nördlicheren Ge-
genden verliert der Harz jene Heiterkeit, ich möchte sagen, Jugendlichkeit,
die ihn mir in den südlicheren Strichen lieb gemacht hatte; hier bedecken
sich die Berge mit düsteren Tannenwäldern, die mit ihren bleichen Stäm-
men einen ernsten, fast melancholischen Anblick gewähren. Und eben so
ernsthaft blicken die wenigen Trümmer der Harzburg, welche der hohe König
Heinrich I. hier als seine Wohnung erbaute, auf den Wandrer nieder. Aber
die dunkeln Berge tragen reiche Schätze in ihrem Innern, und der Pflege
des Bergbaues verdankt die alte Stadt Goslar, wenn nicht ihre Entstehung,
so doch bestimmt ihr erstes Aufblühen. |=

Goslar liegt in einem, rings von hohen Bergen eingeschlossenen Thale;
es besitzt keine ausgezeichneten Kirchthürme, deren es auch nicht bedarf, ;

da man keinen Blick aus der Ferne auf die Stadt hat, — solche Thürme |

sind wesentlich ein Bedürfniss der Ebene. Aber die kurzen massigen i

Mauer- und Thor-Thürme, deren es in alter Zeit gegen 200 gehabt hat,
bezeugen, wie sicher und fest es zwischen seine Berge hineingefammt war. i

Die Kirche ist seil jener Zeit vollständig restaurirt worden; dabei hat *
man, nach Wegnahme der Gewölbe und Abblätterung der Tünche, die grösste

Fülle alter Wandgemälde, die an Schönheit jenen Reliefs würdig zur Seite stan- >

den, entdeckt. Einen ausführlichen Bericht über dieselben, wie über die dunkle [

Baugeschichte der Kirche, hat Hr. v. Quast im Kunstblatt, 1845, No. 52 ff. '
gegeben.

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Deutsche Kirchen und ihre Denkmäler.

Die eigentliche Blüthe der Stadt fällt insbesondre in das elfte und zwölfte
Jahrhundert, in die Zeit der Salischen und der nächstfolgenden Kaiser; sie
bewahrt viele Andenken an jene Zeit, sowohl in Bezug auf kirchliche
Architekturen, als selbst auf bürgerliche Wohnungen,

So sieht man noch an mehreren Häusern rundbogige und rundbogig
gebrochene Fenster und ähnliche Verzierungen. Ausserdem bemerkt man
einzelne grosse spitzbogige Thüren mit schönem Profil, und schöngearbei-
tete Fenster aus der späteren Zeit des Spitzbogens. Dahin gehört nament-
lich das ßathhaus mit seiner spitzbogigen Vorhalle, welche^'am Markte
liegt, und zur Seite desselben das sogenannte Worthgebäude mit der noch
späteren, bereits wieder rundbogigen Vorhalle und mit den gepanzerten
Kaiser-Statuen zwischen den Fenstern; beide geben dem Markte ein eigen-
thümlich malerisches Ansehen. Sodann sind die Privathäuser in ihrer
Bauart zum Theil denen von Quedlinburg und Halberstadt ähnlich. Andere
endlich, und zwar neuere, machen durch die mit schwarzen Schieferplatten
benagelte Wetterseite einen weniger behaglichen Eindruck.

Der alte Kaiserdom von Goslar, ein hoch würdiges geschichtliches Denk-
mal , ein Zeugniss von der Majestät und Frömmigkeit des edeln- Kaisers
Heinrich III., welcher selbst, so wie seine Nachfolger, ihn seine „Lieblings-
kapelle" und den „Ruhm der Krone" nannte, eins der grossartigsten Bei-
spiele für die Entwickelung der Kunst in unserm Volke, ist von der Erde
vertilgt. Und es war nicht ein Melac, der, auf Befehl seines allerchrist-
lichsten Königs, etwa eine Brandfackel in dies Gotteshaus geworfen; es
war kein sogenanntes westphälisches Königthum, da-s diese ehrwürdigen
Steine auf den Abbruch verkauft; — dasselbe, obgleich es die einzelnen
werthvollen Effekten mit Freuden versteigerte, duldete wenigstens, dass
der Dom selbst in Trümmer fiel, denn auch Trümmer können ja dem Enkel

noch von seinen Vätern erzählen:--noch im Spätjahr 1817, nachdem

jenes Königthuni lange geendigt hatte, standen diese, ob auch entheiligten
Hallen. Ein sinniger Alterthumsforscher, Büsching, welcher sie damals be-
suchte, hat uns eine Beschreibung des Gebäudes hinterlassen , die um so
wichtiger für uns ist, als es selbst an herausgegebenen Rissen desselben
fehlt. —Nur eine kleine Vorhalle hat man stehen lassen, als Pröbchen
dessen, was niedergerissen worden; man hat sie, zufolge einer mit grossen
Uncialen geschriebenen lateinischen Inschrift, im Jahre 1824 dem Schutze
der alten deutschen Monumente (deren einige wenige darin aufbewahrt
werden) gewidmet. Das Wort TVTANDIS an dieser Stelle ist übel gewählt.

Das Portal dieser Vorhalle ist durch eine Säule in zwei Hälften ge-
theilt, deren jede im Halbkreisbogen überwölbt ist. Der Säulenschaft,
dessen Basis durch eine verstümmelte Thierfigur gebildet wird, ist auf's
Zierlichste mit flachgearbeitetem verschlungenem Ranken- und Blatt-Orna-
ment bekleidet, das Kapitäl phantastisch durch menschliche Köpfe, um-
geben von ineinandergeschlungenen geflügelten Drachen, geschmückt
Auch der Abakus ist mit zierlichem Blattwerk versehen, und. eine an dem-
selben befindliche Inschrift nennt den Künstler: Hartmannus. Ueber
dem Portal sind zwei Reihen von halbkreisrunden Nischen mit Figuren,

') S. Büsching's Reise durch einige Münster und Kirchen des nördlichen
Deutschlands, S. 274. — Die Flügel gehören augenscheinlich zu den Drachen,
nicht, wie Büsching und Fiorillo meinen, zu dem zwischen ihnen befindlichen
Kopfe; somit sind Fiorillo's weitere Bemerkungen darüber unnöthig.

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III. Reiseblätter vom Jahr 1834. 143

die in starkem Relief
gearbeitet sind. Diese
haben etwas Unter-
setztes in ihren Ver-
hältnissen undplumpe
Köpfe , auch • ist die
Arbeit roh; der Styl
der Gewandung hat
byzantinischen Cha-
rakter. Es befinden
sich unter ihnen die
Stifter des Domes, Kai-
ser und Kaiserin, Mo-
delle desselben tra-
gend, Vielleicht sind
diese Tiguren gleich-
zeitig mit der Erbau-
ung des Domes (1040-
bis 1056), vielleicht
aber auch später. Denn
für den Styl, welcher
in den Bildwerken
des elften Jahrhun-
derts herrscht, lässt
sich nicht wohl eine

feste Norm angeben; er zeigt sich, wie wir später sehen werden, auf die
manierirteste sowohl, als auf eine merkwürdig reine und freie Weise. Ich
möchte dies Jahrhundert in seinen mannigfaltig widersprechenden, altüber-
lieferten und neugebildeten Kunsterscheinungen für den Gipfelpunkt einer
grossen Gährung halten, daraus später jene edle, klare Kunst des Mittel-
alters sich entwickelte.

Die Vorhalle im Innern ist rundbogig gewölbt; die weit aus den Sei-
tenmauern hervortretenden Pfeiler, zwischen denen sich einzelne geräumige
Nischen bilden, haben ein einfaches, mit schwachem Blätterrelief verziertes
Gesims. Die hintere Seite dieser Halle bildete den eigentlichen Eingang
in den Dom; sie wird jetzt durch ein grosses Glasgemälde vom Ende des
sechzehnten Jahrhunderts ausgefüllt. Dasselbe ist fast ganz vor die Bogen-
stellung des Einganges gesetzt, so dass auch dieser höchst interessante und
nicht abgerissene Theil des Domes für den Beschauer-doch beinah so gut
wie verloren ist. Die Blätterkapitäle an den Säulen dieser Bogenstellung
haben ein eigenthümliches, aus einer grossen Hohlkehle mit drüberliegendem
Viertelstab bestehendes Profil.

Das merkwürdigste der in dieser Vorhalle des einstigen Domes aufbe-
M'ahrten Monumente ist der sogenannte Krodo-AltarEr besteht
bekanntlich aus einem grossen Langwürfel, dessen Seitenflächen (mit Aus-
schluss der oberen) von vielfach durchbrochenen Bronzeplatten gebildet
werden, getragen von vier knieenden bronzenen Figuren, welche die Ecken
des Kastens nach Art der Atlanten stützen. Es sind bärtige Männer, drei

S. über denselben: Büscbiog, Fiorillo, Heineccii Antiquitates Goslarien-

ses u. A. <■

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144

Deutsche Kirchen uud ihre Denkmäler.

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gesonderten Bronzeplatte. An allen ist der Kopf offen, die Hände abge-
brochen; eben so der hinter den Figuren stehende kleine Pfeiler, in den
jetzt eine rohe Eisenstange als eigentlicher Träger des Würfels eingelassen
ist. "Wahrscheinlich trugen sie früher auf Kopf und Händen eine Art Ka-
pital und darüber erst die Ecke des Altares; und zwar so, dass dieselbe
weiter vorgerückt war, als in dem jetzigen Zustande des Monuments, was
sich aus einigen äusseren Kennzeichen ergiebt. Der Styl dieser Figuren
ist streng und trocken, im Einzelnen ohne rechtes Verhältniss; gleichwohl
ist in ihnen der Ausdruck einer gewissen Kraft, so wie eine Ahnung von
Form zu bemerken. Was nun das Alter und den Ursprung dieses so höchst
eigenthümlichen Werkes betrifft, so möchte es sehr schwer sein, darüber
mit Bestimmtheit etwas zu sagen. Der älteren Annahme, welche dasselbe
zu einem Altare des Krodo, d. h. zu einem heidnisch-germanischen Werke

mit schlichtem, einer mit krausem Haar (welches letztere roh, in Buckeln,
gearbeitet ist). Ihr Gewand ist eigenthümlich: ein glatt anliegendes Unter-
kleid mit kurzen, etwas weiten Aermeln, die bis an den Elbogen reichen;
darüber, wie ein Schurz, ein faltenreiches Oberkleid, welches um die Len-
den geschlagen ist; die Füsse sind nackt. Jede Figur kniet auf einer

/-

i*

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III. Reiseblätter vom Jal^r 1832, 145

macht, widerspricht einfach^das zierliche Karnies im Fussgesimse des
Kastens, indem dies bereits eidfe, auf gewisse Weise durchgebildete Bau-
kanst voraussetzt, die bekanntlich zu jener Zeit in unserm Vaterlande nicht
Statt fand. Auch sehe ich keinen Grund, dasselbe für eine alt-etrurische
Arbeit auszugeben. Wäre es noch in der Mode, unser Volk von dem
orientalisch despotischen Volke der Perser abzuleiten, so würde ich viel-
leicht nachzuweisen mich bemühen, dass dieser Feueraltar von dort her
mitgebracht sei; wobei eine gewisse Aehnlichkeit seiner Träger mit den
Skulpturen an der grossen Treppe von Persepolis zu den überraschendsten
Resultaten führen könnte. So lange indess solche Annahmen, sammt den
obigen , nicht unwiderleglich dargethan werden, dünkt es mich am Ge-
rathensten, dies Werk in Ruhe dem elften Jahrhundert zu lassen, so dass
es, möglicherweise, als eine der vielen Kostbarkeiten, womit Heinrich III.
den Dom beschenkte, und als ein heimisches, aus den jDenachbarten Bergen
gewonnenes Produkt, gleichzeitig mit der Erbauung des Domes und für
denselben, gearbeitet sein mag, (Vielleicht stellen, unter diesen Umständen,
die eigenthümlich costümirten tragenden Figuren überwundene Wenden
dar.) Zu diesen Annahmen bestimmt mich nicht nur eine gewisse, min-
destens technische Aehnlichkeit jener Träger mit den, in der Mitte des
elften Jahrhunderts gegossenen Bronzereliefs an einem Portale des Augs-
burger Domes (von denen später) , sondern auch der Umstand, dass in
zweien von den grösseren Löchern der Seitenplatten noch die blechernen
Einsatzstücke befindlich sind, in welche der Schmuck' der Edelsteine
eingelassen war, und dass die erhaltene Fassung der letzteren und die
dazwischen befindliche Filigran-Arbeit durchaus dem in jener Zeit häufig
vorkommenden Schmucke der Buchdeckel entspricht. Und der etAvanige
Zweck dieses sonderbaren Werkes? Vielleicht war dasselbe zum Altar in
der dunkleren Krypta des Domes bestimmt, so dass einige, in denselben
hineingestellte Kerzen den geschliffenen Steinen, mit denen die Seiten
geschmückt waren, ein selbständiges Licht verliehen, was von grossem Effekt
und dem kindlichen Wunderglauben jener Zeit nicht unangemessen gewesen
sein dürfte; so spielen ja die selbstleuchtenden Steine an Schilden und
Waffen in den älteren deutschen Heldengedichten eine grosse Rolle. Eine
genügende Auskunft über dies räthselhafte und durchaus eigenthümliche
Werk möchte aber, wie gesagt, schwerlich zu geben sein.

Sodann befindet sich in dieser Halle die steinerne Brüstung, welche
früher den im Dome -befindlichen altberühmten Kaiserstuhl umgeben hat;
sie hat sonderbare, in Relief gearbeitete Verzierungen; phantastische Thier-
figuren, Schlangen-umwundene Köpfe, Affen mit Kapuzen und Büchern
U.S.W. Der Kaiserstuhl selbst, eine kunstreiche Bronzearbeit mit durch-
brochenen byzantinischen Ranken-Verschlingungen und ähnlichen Figuren,
befindet sich zu Berlin, in der schönen Rüstkammer des Prinzen Carl von
Preussen').

)

Der Sitz des Kaiserstuhles ist von Steio, mit eingelassenen Säulchen auf
den Ecken. Die in der Hauptform sehr einfach gestalteten Löhnen, Rücklehiio
und Seitenlehne, bestehen aus der zolldicken durchbrochen-gearbeiteten Bronze,
Die Rankenverschlingungen entsprechen durchaus der Bildungsweise der Minia-
turen byzantinischen Styles. Sie enthalten mannigfach reiche Blumen, mit einer
Art von Früchten in der Mitte (in der einen auch einen menschlichen Kopf).
Das Blattwerk ist geschweift byzantinisch, bunt und reich, die Behandlung der
Kugler, Kleine Schriften. T. 10

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146

Deutsche Kirchen und ihre Denkmäler.

Endlich werden in jenem vaterländiscfen Museum von Goslar nocli
einige alte Holzfiguren und Bilder, der mehrfach beschriebene Grabstein
der Mathilde, andere Grabsteine, grosse Tapeten mit Heiligenfiguren vom
Ende des sechzehnten Jahrhunderts, so wie einige Säulen aus der Krypta
des Domes, deren abgestumpfte Würfelkapitäle in schwachem Relief ver-
ziert sind, auibewahrt.

Die vorstehenden Mittheilungen gehijren zu einer Reihe von Aufsätzen,
die ich unmittelbar nach der Reise (1832) für den ersten Jahrgang meiner
Zeitschrift „Museum, Blätter für bildende Kunst," niedergeschrieben hatte.
Die Aufsätze brachen mit Goslar ab. Ich finde unter den Blättern jener
Reise noch weitere Notizen und Studien, von denen ich Einiges dieser
Sammlung ebenfalls einverleiben zu dürfen glaube.

Friedberg, im Hessen-Darmstädtischen, zog mich durch seine ma-
lerische Lage auf der Höhe, durch seine schönen Mauerthürme, durch seine
grosse Stadtkirche, — die der Marburger Elisabethkirche ähnlich, wenn
auch minder durchgebildet erschien, — durch seine tief in den Fels ge-
grabenen Brunnen an. Einer dieser Brunnen, das sogenannte Juden- oder
Römerbad, war mir besonders merkwürdig. An seinen Wänden laufen
steinerne Treppen, in sechs Absätzen, jeder Absatz zu 12 Stufen, hinab.

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Die Treppen sind unterwölbt; ihre Podeste ruhen jedesmal auf einer Säule,
der an der Wand eine Console und im Winkel eine Viertelsäule correspon-

Modellirung aber noch immer höchst einfach, mehr einer ausgeschnittenen Zeich-
nung als wirklicher Plastik entsprechend. Das Ganze gehört wohl sehr sicher
dem elften Jahrhundert an.

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III. Reiseblätter vom Jal^r 1832, 147

dirt. Die Säulen haben hohe Kapitale und starke Deckgesimse; die Formen
derselben und des auf dio Kapitale flach aufgelegten Blattwerkes tragen
das Gepräge des frühgothischen Styles. Der Brunnen ist also ein eigen-
thümlich interessantes Denkmal dieser Architektur-Epoche.

Eine Stunde südlich von Friedberg liegt das Dorf Niederweissei.
Auf dem Edelhofe am Ende des Dorfes fand ich ein merkwürdiges, im
Innern sehr wohlerhaltenes und auch im Aeussern nur durch einen geringen
höheren Aufbau für das neue Dach wenig entstelltes Bauwerk romanischen
Styles. Es war mir als eine templerische Anlage bezeichnet worden. Das
Gebäude besteht aus zwei Geschossen; das untere — gegenwärtig als Kuh-
stall dienend — war für gottesdienstliche Zwecke bestimmt. Es hat drei

niedrige Schifl'e von gleicher Höhe, durch zwei-
mal drei Pfeiler mit Rundbogen getrennt. Die
Pfeiler sind viereckig mit Halbsäulen auf den
vier Seiten, die Kapitale der letzteren in einer
rohen Reminiscenz antiker Kapitälform gebildet.
Den Pfeilern correspondiren flache Wandpfeiler.
Einfache breite Gurtbögen verbinden Pfeiler und
Wandpfeiler; dazwischen sind Kreuzgewölbe
ohne Gurte eingesetzt. An den Gewölben be-
merkte ich Spuren alter byzantinischer Malerei,
Gestalten von Heiligen u. dgl. Die Altarnische
ist halbrund, im obern Geschoss achteckig. Im
Aeussern laufen über beiden Geschossen rund-
bogige Friese hin, die des Untergeschosses, von
denen Lissenen niedergehen, noch durch ein an-
derweitiges Ornament ausgezeichnet. An demBo-
gen einer Thür auf der Südseite fand ich eine Na-
mensinschrift, wohl die des Erbauers: Wolframus.
Zu Pforzheim war mir die Schlosskirche wegen der etwas seltsamen
und freilich nicht ganz klar verstandenen Behandlung des romanischen und
des Uebergangs-Styles, die sich daran kund gab, merk-
würdig. Die Westfa^ade (der untere Theil des Thurm-
baues) ist durch horizontale und vertikale Gesimsstreifen
mehrfach in rechtwinkliger Weise getheilt; einem ober-
wärts hinlaufenden zierlich profilirten Rundbogenfries
entspricht aber ein weiter unten befindliches, schwer aus-
ladendes Gesims nicht sonderlich. Besondern rechtwink-
ligen Einschluss hat das in der Mitte befindliche rundbogige
Hauptportal. Dasselbe ist reich, aber schwerfällig geglie-
dert, — dieselbe Gliederung in der Bogenwölbung und
in den Seitengewänden, die zugleich, mehr als es sonst
üblich ist, aus der Mauerfläche vortritt. l)ie gesammte
Weise dieser Gliederung ist hier nach dem Bogenprincip
construirt und in solcher Art an den Seitenwänden hinab-
geführt, während sonst im romanischen Style noch das
umgekehrte Verhältniss vorzuherrschen pflegt, dass nem-
lich die Seitengewände und deren Bedingnisse das Princip
der Gliederung abgeben und dieses (oft ohne alle Modi-
Profii des Kämpfer- fication) im Bogen emporsteigt. _ Das Kämpfergesims des
gesimses am i'oriai. Portales ist ebenfalls reich gegliedert, wenig ausladend.

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148

Deutsche Kirchen und ihre Denkmäler.'

aber ebenfalls von schwerer For-
mation im Einzelnen. — Das
Innere der Vorhalle unter den
Thürmen zeigt einen Ausbau im
schweren romanischen Spitzbo-
gen, mit verbauten älteren rund-
bogigen Theilen. Das Innere des
Schilf-Baues — höheres Mittel-
schilf und niedrigere Seitenschiffe
— hat den Uebergangsstyl; in
eigner Disharmonie stehen hier
die schweren Grundverhältnisse,
der Pfeiler und der massigen
Spitzbögen, welche dieselben ver-
binden, zu der edler durchgebil-
deten Formation der Gurtträger,
welche an den Pfeilern und den
Wänden darüber zum Gewölbe
emporlaufen. — Das zierliche
Querschiff und der Chor sind aus
der Zeit des späteren gothischen
Styles. —

Ausführlicher smd meine Rei-
senotizen über Augsburg und Bam-
berg. Ich stelle das dahin Ge-
hörige im Folgenden zusammen.

Augsburg.

Der Dom von Augsburg, ein
Gebäude aus mannigfach ver-
schiedenen Zeiten , bewahrt die
Reste einer sehr alterthümlichen
Bauanlage, ohne Zweifel desje-
nigen Domgebäudes, welches hier
im Jahre 994 gegründet wurde.
Hiezu gehören die Wände des
Mittelschiffes mit ihren Pfeiler-
stellungen, die ursprünglich ein-
fach viereckig waren und deren
Kämpfergesims nur aus Platte und
schräger Schmiege bestand. Sodann die vielsäulige, zum Theil jedoch ver-
baute Gruftkirche. Die Säulen der letzteren haben Würfelkapitäle oder
solche, die einen völlig rohen und unkünslerischen Uebergang aus der
Rundform der Säule in die viereckige der Deckplatte ausmachen. ~ Etwas
später sind die Thürme. Aus früherer gothlscher Zeit rühren die Ueber-
wölbung des Kirchenschiffes (wobei die Pfeiler desselben mit Halbsäulchen
versehen wurden) und die Anlage des westlichen Chores her. Später sind
die zwiefachen, je durch eine Reihe von Rundsäulen getrennten Seiten-

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III. IJeiseblätter vom Jahr 1882. 165

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149

schiffe, noch später, aus der Schlussepoche der mittelalterlichen Kunst,
der Ostchor.

KäniprcigesimB der
allen Scliiffpfeiler.

Als sehr frühes Denkmal deutscher Kunstthätigkeit im Fache der bil-
denden Kunst sind die alten bronzenen Thilrflügel zu nennen, welche sich
in einer Thür auf der Südseite des Domes — nicht, wie aus äusseren An-
zeichen zu ersehen, in demjenigen Portal, für das sie ursprünglich bestimmt
waren, — befinden. Ein mehrfach sich durchkreuzendes ehernes Rahmen-
werk wird hier durch kleinere Erzplatten , mit Darstellungen in flachem
Relief, ausgefüllt. Es sind, von oben nach unten, sieben Reihen solcher
Platten enthalten; auf der Thür zur Linken, welche breiter ist, je dxei in
der Reihe (zwei breitere, welche eine schmalere einschliessen), auf der Thür
zur Rechten je und zwar breitere. Die Platten haben eine Höhe von

beinahe IV2 Fuss, die breiteren eine Breite von etwas über 1, die schmaleren
von etwas über 72 Fuss. Die Rahmen sind 3-74 Zoll breit.

Die Reliefdarstellungen sind mannigfacher Art und ihrem Gesammt-
luhalte nach schwer zu deuten. Wenn überhaupt ein solcher vorhanden
gewesen, so mag doch zugleich eine, mehr nur dekorirend spielende Sinn-
bildnerei mitgewirkt haben, da die Darstellungen sich zum Theil wieder-
holen. Die gleichen Darstellungen nehmen aber verschiedene, im Ein-
zelnen augenscheinlich willkürliche Plätze ein, was zu der Voraussetzung
führt, dass das Ganze irgend einmal auseinander genommen und, ohne
Beobachtung der ursprünglich vielleicht vorhanden gewesenen inneren
Folge, aufs Gerathewohl wieder zusammengefügt sein mag. Dies macht,
da ohnehin deni meisten Darstellungen die nähere Bezeichnung ihres Inhalts
fehlt, die Ausdeutung des Ganzen doppelt problematiscli. Die Erschaffung
des Adam^), die der Eva, wo in beiden Darstellungen Jehovah als lang-
gewandete Figur mit dem Nimbus erscheint, sind nicht zu verkennen. Ein
Baum mit der Schlange scheint auf das Paradies zu deuten. Eine Dar-
stellung, in der eine mit Tunika und Toga bekleidete bärtige Gestalt mit
einem Stab nach einer aufgerichteten Schlange schlägt, während eine andre,
mit zwei Füssen versehene Schlange vor ihr kriecht, möchte als die Ver-
lluchung der Schlange zu fassen sein. Aber mehrfach kommen andre Dar-
stellungen vor, in denen ähnliche Gestalten in verschiedenartiger Beziehung
zu Schlangen stehen, wobei der ausdeutenden Phantasie freier Spielraum

') Nach P. von Stetten's Angabe in seiner Kunst-, Gewerb- und Hand-
werks-Geschichte von Augsburg, 1779, I, S, 4ß0, soll bei dieser Darstellung die
Jungfrau Maria als gegenwärtig erscheinen. Es ist jedoch davon nichts zu sehen.

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150 Deutsche Kirchen und ihre Denl<raäler.

bleibt. Andre sind nur durch ihre Geberde, ohne weitere Beziehung, cha-
raklerisirt. Ein gekrönter Krieger, in verschiedener Stellung wiederkehrend,
erscheint nach griechischer Sitte nur mit der Clilamys bekleidet. Eine Ge-
stalt, die eine Traube in den Mund steckt, eine weibliche Gestalt, die einem

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Hahn und einem Hahn, wie es scheint, Körner hinstreut, dürften als Le-
bensscenen zu fassen sein, können ebenso gut aber auch ihren symbolischen
Bezug haben Zwei (doppelt vorhandene) Darstellungen des Simson, der
in der einen dem Löwen den Rachen aufreisst, in der andern die Philister

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III. Reiseblätter vom Jahr 1832.

mit dem Eselskinnbacken schlägt, sind als solche deutlich erkennbar; doch
auch sie mögen, nach der Symbolik jener Zeit, noch eine tiefere Bedeu-
tung haben, den Simson
nemlich als ein Sinnbild für
Christus vorführen. Endlich
sind auf zwei Feldern, eben-
falls doppelt, ein plump-
füssiger Centaur und ein
Löwe, auf welchen jener
einen Pfeil abzuschiessen
scheint, vorhanden. Auch
hieb ei liegt die Nothwen-
digkeit einer symbolischen
Ausdeutung nahe. — Im
künstlerischen Belang er-
scheinen die Reliefs aller-
dings noch roh, in der Bil-
dung der Gestalten noch
ohne rechtes Yerhältniss;
namentlich die Köpfe sind
durchgängig zu gross. Doch
sind dies die Fehler einer
beginnenden Kunst, Mo-
tive traditionell byzantini-
scher Bildungsweise sind ge-
ring und nur bei den Ge-
stalten des Jehovah wahr-
zunehmen. Sonst zeigt meist
Alles eine Art freier Behand-
lung, Arme und Füsse, be-
sonders die letzteren, schon
einen Anfang von natürli-
chem Formensinn. Auch hat
die Gewandung hin und wie-
der leichte und freie Motive,
und selbst die Körperbewe-
gungen haben ihanches naiv
Ansprechende. Es ist über-
aus merkwürdig, in diesem
Werk, aus aller Rohheit und
allem Ungeschick heraus,
doch schon das lebendige
Pulsiren eines natürlich rei-
nen Kunst-Triebes wahrzu-
nehmen.

Auf einem Felde jedes
Thürflügels ist ein hervor-
stehender Löwenkopf mit
dem Pfortenring angebracht.
Auf den Kreuzpunkten der Rahmen finden sich kleine menschliche Köpfe,
bärtige und unbärtige, mit schlichtem und mit krausem Haar. Au dem

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152 Deutsche Kircheu und ihre Denkmäler.

äusseren Rahmen jedes Tliürflügels sind an den
Stellen dieser Köpfe einfach styilsirte, aber sehr
wohl gebildete Lilien aufgeheftet.

Bamberg.

Der Dom zu Bamberg ist eins der edelsten und reichsten Baudenk-
mäler des früheren Mittelalters. Dem hohen Mittelschiff schliessen sich
die niedrigeren Seitenschiffe an; auf beiden Seiten, gen Osten und Westen,
geht das Mittelschiff in einen Chor aus. Zu den Seiten jedes Chores stei-
gen je zwei Thürme, auf viereckiger Grundfläche, empor; vor dem west-
lichen Chor erhebt sich der Bau des Querschiff'es , dem Mittelschiff der
Kirche in Höhe und Anordnung entsprechend.

Das gesammte Innere ist mit Kreuzgewölben tiberspannt und von Grund
aus für diese Ueberwölbung angeordnet. Der architektonische Styl ist
überall, mehr oder weniger scharf ausgesprochen, der der Uebergangsepoche,
spätromanisch, im Einzelnen schon an die germanischen (gothischen) Formen
anklingend. Pfeilerreihen, mit Spitzbögen verbunden, tragen im Inneren
die Wände des Mittelschiffes; die Wölbungen sind ebenfalls im Spitzbogen
construirt. Die Pfeiler sind in ihrer Hauptform viereckig, mit in die Ecken
eingelassenen Säulchen , welche ein zierliches Blätterkapitäl tragen. Die
Wulstform der Säulchen zieht sich auch in der Gliederung der Spitzbogen
hinauf. Die Pfeiler sind wechselnd stärker und schwächer; ein Theil der
Gliederung der stärkeren Pfeiler läuft an den Oberwänden des Mittelschiff'es
bis zum Gewölbe empor, als Träger für die Gurte desselben. — Unter
dem östlicken Chore (dem sogenannten Georgenchore) befindet sich eine
geräumige Krypta mit zweimal 7 runden, auch achteckigen Säulen und den
entsprechenden Wandpfeilern. Die Säulen tragen ein rundbogiges Kreuz-
gewölbe mit dicken Gurten. Die Säulenkapitäle haben wenig Ausladung;
sie sind mit schön stylisirtem Blattwerk von romanischer, zum Theil auch
schon dem Germanischen sich annähernder Bildungsweise geschmückt. Zwei
Ilalbsäulen haben, was eigenthümlich beachtensM'erth ist, vortreH'lich gear-
beitete korinthische Kapitäle, den besten von antik römischer Bildung nicht
unähnlich. — Unter dem westlichen Chore (dem sogenannten Peterschore)
ist eine kleine, wenig bedeutende Krypta.

Bei der Uebereinstimmuug der ganzen Anlage unterscheidet man doch
zwei Bauzeiten. Der grössere, östliche Theil, bis zum QuerschilT, ist älter
als das Uebrige (Querschiff', westlicher Chor und die beiden Thüren zu
dessen Seiten). Am Bezeichnendsten für diesen Unterschied ist, neben
feineren Einzelnheiten des Innern, der Umstand, dass die Fensteröffnungen
in jenem Theil noch im Halbkreise, in diesem schon im" Spitzbogen über-
wölbt sind. Beide Theile haben im Aeusseren mannigfach reiche Dekora-
tion. Die Aussenwände der Schiffe sind, nach romanischer Art, mit Lis-
senen und dem liundbogenfriese geschmückt, Beides aber in der zierlichsten
Proülirung, und in den Füllungen der kleinen Rundbogen zum grossen
Theil ein feinstylisirtes byzantinisches Blatterornament. Andre Friese mit
ähnlichem Blattwerk und zierliche Gliederungen ziehen sich ausserdem
darüber hin. — Besonders reichen Schmuck hat die Absis des östlichen
Chores, sowohl in der brillanten Einfassung ihrer grossen Fenster, als in
der Gallerie von gekuppelten Säulchen, die über den letzteren, unter dem
Dachgesims, hinläuft. Auf jeder Seite der Absis, am Fuss der östlichen

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III. Reiseblätter vom Jal^r 1832, 153

Thürme, findet sich ein prächtiges Portal, mit Säulen und Halbkreisbögen,
in denen unter Andern auch das anglisirende Zikzak-Ornament vorkommt,
geschmückt und zugleich mit bildnerischer Ausstattung versehen (worüber
unten das Nähere). Die Thürme steigen über den Portalen in mehreren
Geschossen, durch Rundbogenfriese getrennt, empor. — Ein noch präch-
tigeres Porta], als die ebengenannten, ist am nördlichen Seitenschiff in einem
Vorsprunge des Baues vorhanden. Es ist mit einer namhaften Anzahl von
Säulen versehen, bei denen eigenthümlich bemerkenswerth, dass die nach
innen stehenden von schwächerem, die nach aussen von wachsend stärkerem
Durchmesser sind, also eine gewisse perspektivische Wirkung mit Absicht
erstrebt wurde. Den Säulen entsprechen die Wulste in dem Halbkreisbogen
des Portales. Auch hier ist voller bildnerischer Schmuck vorhanden. —
Die westlichen Thürme sind in ihren oberen Geschossen durch achteckig
erkerartige Vorsprünge auf den vier Ecken, welche durch freistehende
Säulchen mit Spitzbögen gebildet werden, eigenthümlich ausgezeichnet.

Die gewöhnliche Annahme schreibt, auf historische Zeugnisse gestützt,
die Erbauung des Bamberger Domes, wenigstens des älteren Haupttheiles
desselben, Kaiser Heinrich dem Heiligen, d. h. dem Anfange des elften
Jahrhunderts und die westlichen Theile einer gegen Ende des elften Jahr-
hunderts erfolgten Restauration zu. Diese Annahme findet jedoch in den
Ergebnissen der gegenwärtigen kunstgeschichtlichen Forschung (1851) den
bestimmtesten Widerspruch. Das Gebäude gehört in seiner ganzen Eigen-
thümlichkeit dem üppigen Ausblühen einer künstlerischen Stylperiode, und
zwar der romanischen, an, die, wie zahlreiche andre Beispiele darthun,
erst in die Zeit um und nach 1200 fällt. Die consequente Aufnahme des
Spitzbogens und das gleichzeitige Vorhandensein andrer Anklänge in den
Einzelformen an die Eigenthümlichkeiten des gothischen Baustyles bezeich-
nen noch bestimmter jene Epoche der Umwandlung des künstlerischen Ge-
schmackes, die während der ersten Ausbildung des gothischen Systemes in
Frankreich und dem ersten Herübertragen desselben nach Deutschland (im
dreizehnten Jahrhundert) stattfand. Sehen wir uns nach andern historischen
Zeugnissen, die mit der Baugeschichte des Bamberger Domes in Verbindung
zu bringen sein dürften, um, so finden wir zunächst, dass Papst Gregor IX.
im Jahr 1232 einen zwanzigtägigen und 1236 einen vierzigtägigen Ablass
für den Besuch der Domkirche verlieh, was, wenn auch nicht ein Weiteres,
doch ein zu jener Zeit hervortretendes besondres Interesse für dieselbe
erkennen lässt. Etwas später aber, im Jahr 1274, wird ein andrer Ablass
denen, welche zur Herstellung des Bamberger Domes beitrügen, durch
Bischof Konrad von Freisingen ertheilt Es musste sich also zu dieser
Zeit um bauliche Unternehniungen handeln, welche bedeutende Kosten
verursachten, und wir werden hienach wohl nicht irren, wenn wir die Anlage
des Querschiffes und des vy^estlichen Chores mit seinen Thürmen, vielleicht
auch die Ueberwölbung des Mittelschiffes, in diese Zeit setzen. Das Uebrige
gehört dann in die frühere Zeit des dreizehnten Jahrhunderts. Vielleicht
war dasselbe, der vorigen Andeutung entsprechend, in den dreissiger Jahren
dieses Jahrhunderts soweit gediehen, dass der Besuch der Kirche (auch
w Ohl in nicht uneinträglicher Weise) durch den Papst besonders anempfohlen
werden konnte.

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Geschichte der Domkirche zu Bamberg. Als Programm bei der Wieder-
Eröffnuug am 25. August 1837. (Von J. Heller.) Bamberg, 1837. S. 7.

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154 Deutsche Kirchen und ihre Denl<raäler.

Ein so wichtiges Denkmal der Bamberger Dom für die deutsche Archi-
tekturgeschichte ist, ebenso wichtig sind die in ihm enthaltenen Denkmäler
für die Geschichte der deutschen Bildhauerei. Unter diesen sind zunächst

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III. Reiseblätter vom Jal^r 1832, 155

die zur Ausstattung seiner Architektur verwandten Bildwerke in Betracht
zu ziehen. Sie zerfallen in zwei stylistisch verschiedene Classen, welche
den beiden Stylunterschieden in der Architektur des Gebäudes zu ent-
sprechen scheinen.

Zu der ersten Classe, d. h. zu den ältesten Sculpturen, gehört ein Theil
derjenigen, welche sich an dem östlichen Chore (dem Georgenchore) befin-
den. Hier wird, im Innern der Kirche, der Chor von den neben ihm hin-
laufenden Seitenschiffen durch Brüstungswände abgesondert, welche an ihren
äusseren, nach den Seitenschiffen zugekehrten Seiten mit Arkadennischen
von zierlichem spätromanischem Style geschmückt sind. In diesen Kischen
befinden sich Reliefdarstellungen: auf der einen Seite die Verkündigung

und die zwölf Apostel, auf der
andern der Erzengel Michael auf
dem Drachen und die zwölf Pro-
pheten. Im Styl dieser Arbeiten
lässt sich das byzantinische Ele-
ment , wie dasselbe sich im Laufe
des zwölften Jahrhunderts ausge-
bildet hatte, nicht verkennen; die
Behandlung ist überall noch herb
und streng, die Bewegung zuweilen
verschroben, die Körperbildung ge-
legentlich an jene Dickbäuchigkeit
byzantinisirender Werke der ge-
nannten Zeit erinnernd. Dabei fehlt
es aber im Allgemeinen nicht an
Ernst, Würde und Kraft, im Ein-
zelnen nicht an glücklichen, selbst
bedeutenden Motiven, besonders in
der Anordnung des Faltenwurfes.
Vorzüglich beachtenswerth sind die
beiden Reliefs der Verkündigung
Der Engeiiiopf aus der Verkündigung. yjjd dcs Erzengels, beide durch ein

eigenthümliches Pathos, bei jenem in feierlicher Ruhe, bei diesem in ener-
gischem Schwünge, ausgezeichnet. Einzelne flatternde Gewandecken (be-
sonders bei der Darstellung des Erzengels) kommen in ganz gleicher Weise
häufig in Handschriftbildern vom Ende des zwölften Jahrhunderts vor. —
In demselben Style ist sodann ein Relief gearbeitet, welches sich im Halb-
rund des einen der beiden Portale auf der Ostseite des Domes (nördlich
von der Absis) befindet. In demselben sind dargestellt: ein Bischof, St.
Georg, St. Petrus, Maria mit dem Kinde, Kaiser Heinrich und Kunigunde,
ein Geistlicher. Heinrich und Kunigunde tragen bereits Heiligenscheine.
Da nun ihre Heiligsprechung erst im Jahr 1146 erfolgte , so kann auch
das Relief erst nach dieser Zeit gefertigt sein. Und da, allem äusseren
Anschein nach, dies Reliel" und ebenso die Reliefs an den Brüstungswänden
des Chores mit den Architekturtheilen, zu welchen sie gehören, gleichzeitig
sind, so dürfte auch hieraus ein Beweis für das nicht frühere Alter der
letzteren zu entnehmen sein.

Reichen Sculpturschmuck hat ferner, wie bereits angedeutet, das grosse

n Pfister. Geschichte der Teulschen. ■ II, S. 117.

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156 Deutsche Kirchen und ihre Denl<raäler.

Portal des nördliclien Seitenschiffes. Au
den Säulen desselben sind Statuen an-
gebracht: die Propheten, auf deren Schul-
tern , in verwunderlich symbolischer,
doch auch sonst vorkommender Weise,
die Apostel sitzen. Auch diese haben
den Styl der vorgenannten Bildwerke,
und das byzantinisch Dickbäuchige tritt
an diesen freien "Figuren noch unerquick-
licher hervor als an den flachen Reliefs.
In der Füllung des Halbrundes über dem
Portal ist eine Relief-Darstellung des
jüngsten Gerichtes enthalten, in einem
Style, welcher den Uebergang zu der
zweiten Classe der Sculpturen zu bilden
scheint. Namentlich herrscht, wie bei
den letzteren, auch hier schon in.den
Gesichtern eine lachende Mundbewegung
vor, selbst in den Köpfen der Verdamm-
ten , deren Ausdruck im Uebrigen nur
durch zusammengezogene Augenbrauen
angedeutet ist. Unter den Seligen be-
findet sich Kunigunde, die den Heinrich
hinzuführt. Neben dem Relief, auf dem
Kapitälgesims des Portales, stehen zwei
Figuren des schon völlig ausgebildeten
germanischen Styles: der Engel mit der
Posaune und Abraham mit frommen
Seelchen im Schoosse.

Die zweite Classe ist, wie eben be-
zeichnet, die des germanischen Styles.
Sie besteht aus einer Reihenfolge von
Statuen. Zu diesen gehoreii zunächst
(ausser den beiden eben genannten) die
sechs Statuen, welche an den Säulen
des zweiten Portales auf der Ostseite
des Domes (südlich von der Absis) an-
gebracht sind, — Kaiser Heinrich, Ku-
nigunde, St. Stephan (der Märtyrer),
Adam, Eva, St. Petrus. Sie stehen auf
verschiedenartigen, einfach gearbeiteten
Consolen, die aus den Säulenschäften
herauswachsen und unter Baldachinen,
die aus reich zusammengegipfelten klei-
nen Architekturen, ungefähr wiederum
im Charaktei- des Uebergangsstyles, ge-
bildet sind. Ferner gehört hieher eine
Anzahl von Statuen, die sich an den
Pfeilern zur Seite jener Reliefs des öst-
lichen Chores belinden. Sodann eine
Reiterstatue, den heiligen König Steplian

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157

nr. Reiseblätter vom Jahr 1882,

üiL rf a'» einem Pfeiler des Mittelschiffs, zunächst dem-

irm . x> die Gesammtfassung be-

fI vorherrschend, und zugleich ein natur-

gemasses Verhalten, was sich von dem mannigfach Gezwungenen und

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Kunigunde. PorlatsUtue.

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158 Deutsche Kirchen und ihre Denl<raäler.

Verschrobenen der vorgenannten Sculpturen fern hält. Das Eingehen auf
die Bildung der Natur erscheint bei den nackten Gestalten (des Adam und
der Eva) schon sehr beachtenswerth und mit einem unverkennbaren Streben
nach Grazie begleitet. Das Pferd, bei
der ßeiterstatue des Königes Stephan,
zeigt eine vorzüglich erfolgreiche Na-
turbeobachtung, Eigenthümlich jedoch
ist bei den menschlichen Köpfen etwas
vorherrschend Typisches, jener lä-
chelnde Gesichts-Ausdruck, der zum
Theil sogar an die Bildung der Köpfe
der äginetischen Statuen erinnert, wozu
freilich auch die conventioneile Haar-
bildung beiträgt. Die Gewandung hat
einen ruhig klaren Fluss, zum Theil
schon entschieden jene langgezogenen
Falten, die den germanischen Styl l)e-
zeichnen. Bei einzelnen Statuen aber
ist die Gewandung in einer Weise
geordnet und behandelt, die über-
raschend an die Bildungsweise antik

Kopf des II. Slcphanus, am Poilal.

römischer Sculptur erinnert und die Motive der letzteren wirkungsreicli zur
Aufnahme bringt. Ueberhaupt erscheint die deutsche Sculptur in diesen
Statuen wie in einem Entwickelungsmomente begriffen, in welchem das
germanische Element, durch das Medium der Antike hindurch, nach seiner
Entfaltung ringt. Es ist, wie sich Aehnliches in Architekturwerken des
spätronianischen und des Uebergangsstyles, vor der entschiedenen Aufnahme
des gothischen, findet, wo sich ebenfalls (in der Profilirung der Gliederungen
noch mehr, als gelegentlich in dem Blätterschmuck der Kapitale) das Zu-
rückgehen auf rein antike Formen zuweilen in so überraschender Weise
bemerklich macht.

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III. Reiseblätter vom Jahr 1832, 159

Die Sculpturen der Grabdenkmäler reihen sich den besprochenen au ').
Zu diesen gehören zunächst:

Der Sarkophag des Bischofes Suidger von Mayendorf, nachmaligen
Papstes Clemens IL, gest. 1047. Eine einfache viereckige Tumba von
dunkelm Marmor, mit späterem Deckel. Auf den vier Seitenflächen Relief-
darstellungen: an der obern Seite der Papst, auf der Bettstatt liegend und

I

ein Engel neben ihm, auf den andern Seiten symbolische Figuren, der
Glaube mit Schwert und Schild (auf dem Schilde das Lamm mit dem
Kreuze), die Stärke, einem Löwen den Rachen aufreissend, die Gerechtig-
keit mit Schwert und Wage, u. s. w. Man hat die Arbeit fttr eine italieni-
sche des elften Jahrhunderts gehalten,
Avas jedoch in Betracht des Landes
sowohl und noch mehr, als in Betracht der Zeit unzulässig ist. Der Styl
ähnelt dem der zuletzt besprochenen Statuen und die Arbeit wird diesen
ungefähr gleichzeitig sein; docli ist die Technik, bei eigenthümlich ge-
spreizten Gestalten, roher.

Grabmal des Bischofes Günther, gest. 1065. Ebenfalls eine Tumba.
Auf dem Deckel die Gestalt des Bischofes, von der Seite gesehen, das
Gesicht im Profil mit jener, an die Aegineten erinnernden Bildung. Die
Gewandung mit einfach grossen Falten. Ohne Zweifel, wie das Vorige,
aus ähnlich späterer Zeit. Au den Seitenwänden der Tumba sind Vögel
und vierfüssige Thiere vertieft eingegraben, fast an ägyptische Hieroglyphen-
darstellungen erinnernd.

Grabmal des Bischofs Eckbert, Grafen von Andechs, gest. 1237. Sehr
lange Figur, ebenfalls io der schlicht langfaltigen Gewandung.

Grabmal des Bischofs Berthold von Leiningen, gest. 1285. Wiederum
im Profil und derselben einfach grossen Führung der Falten. Das Gesicht
noch hier mit dem conventionell lächelnden'Ausdruck, der also für die
Styl-Eigenthümlichkeiten noch bis zu dieser Zeit charakteristisch bleibt.

l-r

Grabmal des Bischofes Friedrich, Grafen von Hohenlohe, gest. 1351.
Die Gestalt in grossen Linien gezeichnet, in den Falten aber schon schwere
Massen.

Vgl. Beschreibung der bischöflichen Grabdenkmäler in der.Domkirche zu
Bamberg. 1827. (Von J. Heller.)

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160

Deutsclie Kirchen und ihre Denkmäler.

Grabmal des Bischofes Lambert von Brunn, gest. 1399. Halbfigur in
Messing gravirt. Ausgebildet germanischer Styl, noch ohne Manier; schöne
Linien, die Falten weich umgebogen,

Grabmal des Bischofes Albrecht IL, Grafen von Wertheim, gest. 1421.
Manierirte Ausbildung des germanischen Styles. Die Gestalt des Bischofes
in sehr gewundener Haltung; der Faltenwurf in schweren Massen, das
Herabhängende in sehr krausen Schlangenlinien.

Grabmal des Bischofes Anton von Rotenhan, gest. 1459. Kurze Figur,
rohe Arbeit; der Faltenwurf einfach, aber v^^enig feierlich.

Grabmal des Bischofes Georg von Schaumberg, gest. 1475. In Erz ge-
gossen. Einfach und edel; in der Gewandung bereits das eckig geschnittene
Wesen, das in dieser Zeit vorzuherrschen beginnt.

Grabmal des Bischofes Philipp, Grafen von Hauneberg, gest. 1487.
Reicb componirte, sehr zierliche Arbeit. Der Faltenwurf schon in ganz
scharf gebrochener Weise.

Grabmal des Bischofes Heinrich III. Gross von Trokau, gest. 1501; —
das des Bischofes Veit I. Truchsess von Pommersfelden, gest. 1503; — und
das Georgs IL, Marschalks von Ebnet, gest. 1505, — drei gegossene Bronze-
platten mit den Gestalten der Bischöfe, jeder auf einem Löwen stehend,
in einfach edler Würde \md einem klaren Style, — die beiden ersten
muthmasslich, die dritte bestimmt aus Peter Vischer's Werkstätte zu
Nürnberg.

Von aussergewöhnlicher Bedeutung, eins der wichtigsten Werke deut-
scher Kunst aus dem Anfange des sechzehnten Jahrhunderts, ist das Grab-
denkmal Kaiser Heinrich's IL und der Kunigunde, ein prächtiger, reich mit
Sculpturen geschmückter Sarkophag aus weissem salzburgischem Marmor.
Die Arbeit ist von Tilmann Riemenschneider zu Würzburg, von
1499 bis 1513 gefertigt. Oben auf dem Sarkophag ruhen die beiden Ge-
stalten des Kaisers und der Kaiserin im vollen Ornat, beide durch den
Adel der Gesammtfassung und die schönen Köpfe ausgezeichnet; die Hände
sind sehr ausgearbeitet, der Faltenwurf in eckiger Weise scharfgesQhnitten.
An den Seitenflächen sind Reliefs aus der Legende beider Heiligen, malerisch
componirt, mit Feinheit durchgeführt, im Styl etwa der Richtung äes köl-
nischen Malers, welcher als der Meister der Lyversberg'schen Passion be-
zeichnet wird, vergleichbar M-

Von andern Werken der Bildnerei ist ein, in einer Kapelle befind-
licher Schnitzaltar, dem Ende des fünfzehnten Jahrhunderts angehörig,
anzuführen. Er enthält eine Darstellung der Aposteltrennung und ist durch
die vortreffliche Technik, durch den lebendigen Ausdruck in den Köpfen
und einzelne grossartige Gewandmotive ausgezeichnet. — Im westlichen
Chor sah ich Chorstühle aus dem fünfzehnten, im östlichen Chore deren
aus dem sechzehnten Jahrhundert, die letzteren durch ihr Schnitzwerk,
besonders eine Anzahl phantastischer Thierbildungen an den Lehnen,
bemerkenswerth. *

m

Höchst merkwürdig endlich ist ein grosses Crucifix aus Elfenbein, 1972
Pfund schwer, von hochalterthümlich gräcisirender Arbeit, über einem
Altare befindlich. Der gekreuzigte Erlöser steht in sehr ruhiger, feierlicher
Haltung, mit einem langen Schurz bekleidet, die Füsse nicht übereinander,

Eine nähere Charakteristik hei Waagen: Kunstwerke und Künstler im
Erzgebirge und in Franken, S. 83.

mim

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III. Reiseblätter vom Jal^r 1832, 161

sondern nebeneinander auf das Brett genagelt. Von der Darstellung des
Gemarterten, convulsiviscli Bewegten, welche die byzantinischen Künstler in
der Bildung der Crucifixe vorzuziehen pflegen, ist diese Arbeit durchaus
fern. Das Gesicht ist ernst und ruhig, wenn auch ohne besondern Aus-
druck, das Ganze durch ein glückliches Streben nach Form, überhaupt durch
ein eigenthümlich feines Naturgefühl ausgezeichnet-, nur die Hände, beson-
ders die Finger, sind noch starr. Die Arbeit ist aus sechs Elfenbeinstücken
zusammengesetzt: die obere Hälfte des Körpers mit dem Kopfe, die beiden
Arme, der Schurz, die beiden Beine. Es sind mehrfache Restaurationen
damit vorgenommen, doch nicht in der Ausdehnung, dass das Werk hic-
durch in seiner wesentlichen Bedeutung gelitten hätte. * Neu ist, neben
kleineren Ergänzungen, ein grosser Theil des rechten Beins. Nach alter,
wenigstens schon seit einigen Jahrhunderten fortgeführter Tradition ist das
Crucifix dem Dome durch Kaiser Heinrich IL, im Jahre 1008, geschenkt
worden. Wenn dies der Fall, so würde angenommen werden, dass dasselbe
aus der ersten selbständigen, noch frischen Eutwickelungszeit der byzan-
tinischen Kunst herrühre (denn in der vorangehenden altrömisch christlichen
Epoche kann es nicht gefertigt sein, da in dieser noch keine Crucifixe ge-
bildet wurden, auch die Arbeit Nichts von den Nachklängen des speciell
römischen Kunststyles hat); doch kennen wir einstweilen auch aus jener
Zeit Nichts, was der'Würde dieser Arbeit entspräche. Sehen wir dagegen
— wozu uns die Kritik in andern Fällen oft genug zwingt — von der
Tradition ab, so würde der Ansicht, dass das Crucitix aus der schönen
Zeit des künstlerischen Aufschwunges um und nach 1200 herrühre, nichts
Wesentliches entgegen stehen. ■

Der westliche Chor des Domes tritt in das Querschiff vor und wird
von den Flügeln desselben durch Brüstuugswände abgetrennt. An der
Aussenseite der Brüstungswand im südlichen Kreuzflügel, in "den an der-
selben befindlichen Nischen, sind unter der Tünche alte Wandgemälde, Hei-
ligenfiguren darstellend, zum Vorschein gekommen, deren Zeichnung eine
würdige, sehr edle Auslbildung des byzantinischen Styles, wie diese im drei-
zehnten Jahrhundert stattfindet, erkennen lässt. Sie geben somit wiederum
einen schätzenswerthen Beitrag für die künstlerische Entwickelung dieser
Periode.—

Die Kirche zu St. Jacob, 1073 begonnen, 1109 vollendet-, der Chor
vom Jahre 1482. Eine streng romanische Säulenbasilika. Zweimal 7 schlanke
Säulen, jede aus einem Stück, mit dem gewöhnliclTen Würfelkapitäl; (an
einer Halbsäule ist das Kapitäl mit arabischem Blattwerk geschmückt, ähnlich
wie dergleichen in der Euchariuskapelie bei der Aegydienkirche
zu Nürnberg vorkommt). Die Säulenbasen zeigen eine eigenthöm-
liche Umbildung der attischen Form. Kleine, im Halbkreis über-
wölbte Fenster. Ursprünglich flach gedeckt. Gegenwärtig über
Schilf und Seitenschilfen eine gewplbte Bretterdecke.

Die Kirche auf dem Michelsberge, in ihren älteren
Theilen aus dem Anfange des zwölften Jahrhunderts herröhrend:
— nach einem Erdbeben im Jahre 1117 neu gebaut und 1321
geweiht. Hiezu gehören das Querschiff und die Pfeilerstellung
des Langschiffes. Die Pfeiler sind viereckig, mit in die Ecken
eingelassenen Säulenwulsten, welche an den Halbkreisbögen mit
(Si, Jacob.) herumlaufen. Die übrigen Theile, namentlich auch die Fenster des !■

Kugler, Kleine Schriften. I. 11

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162 Deutsche Kirchen und ihre Denkmäler.

Mittelschiffes und der Seitenschiffe, sind gothisch. — In einer Kapelle hinter
dem Hauptaltar steht der Sarkophag des heiligen Bischofes Otto von Bam-
berg (gest. 1139), eine nicht verwerfliche Arbeit aus der Zeit des vierzehnten
Jahrhunderts; oben die Gestalt des Bischofes, an den Seiten kleine Heili-
genfiguren.

Die Karmeliterkirche, früher einem, seit 1157 bestehenden Bene-
diktiner-Nonnenkloster gehörig. An der Kirche ist als einziger Rest roma-
nischen Styles das vermauerte Portal zwischen den beiden Thürmen zu
erwähneo, welches mit dem Zikzak-Ornament und an den Seiten mit zwei
Löwen versehen ist. Von dem Kreuzgange neben der Kirche haben zwei
Seiten noch die alten rundbogigen Arkaden, Die Kapitale sind auf sehr
mannigfache Weise mit Laubwerk, zuweilen auch mit Thieren, verziert,
und zwar mit leicht aufliegendem, schon rein germanischem Blattwerk von
vorzi'iglicher Arbeit.

^ IV.

R E I S E B L Ä T T E R

vom Jahr 1834.
(Museum, Blätter für bildende Kunst, 1834, Nro. 19, ff.)

H alle besitzt schätzbare Denkmäler des Mittelalters. An seinen
Kirchen überraschte es mich, Anklänge an diejenige Weise des gothischen
Bausystems zu finden, die sich in England am Schlüsse des Mittelalters zu
eigenthümlicher Blüthe ausgebildet hat. Besonders ist dies der Fall bei
der Moritzkirche. Man unterscheidet an dieser Kirche verschiedene
Weisen, welche jedoch sämmtlich den Stempel der späteren Zeit tragen;
der westliche (vielleicht ältere) Theil ist einfacher, die Pfeiler im Innern
sind roh achteckig, ohne Gliederung, die Strebepfeiler 'ohne Verzierung;
der östliche Theil, besonders der Chor (vom Jahr 1388), ist reicher orna-
mentirt, die Pfeiler sind mit leichten Halbsäulchen versehen, die Strebe-
pfeiler wachsen organisch in verschiedenen Absätzen empor, und sind an
ihren Seiten mit zierlichem Leistenwerk geschmückt; Fenster und Thören
liegen hier in tiefen Nischen und an der vorderen Einfassung der Bögen
hängt ein frei durchbrochenes Ornament. Schiff und Seitenschiffe sind gleich
hoch, Alles mit reichem Sterngewölbe bedeckt; in der Mitte bilden die
Gurte einen traubenartig niederhängenden Zapfen. Die Verschlingung der
Fensterstäbe ist willkürlich, und, wie das Wesentlichste der angegebenen
Punkte, nach englischer Art gebildet. In der am Markt belegenen Lieb-
frauenkirche (1530—1554) ist das Sterngewölbe noch ungleich reicher;
die Gurte treten hier zuweilen, freischwebend., über einander vor, und in
der Mitte bilden sie einen ähnlichen Zapfen. Hier sind sämmtliche Pfeiler
ohne Gliederung, achteckig, aber mit eingezogenen, coneaven Seitenflächen
und ungemein schlank. Natürlich fehlt aber bei solcher Anordnung sowohl

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IV. Ileiseblätter vom Jahr 1834:. 163

alle Vermittelung zwischen Pfeiler und Gewölbe, als auch die Decke, statt
dem Geiste der gothischen Baukunst nach leicht emporzusteigen, schwer
und drückend wird und einen wirren Eindruck hervorbringt. Im Aeusseren
ist die Marienkirche sehr einfach; sie hat vier, von früheren Bauanlagen

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164 Deutsche Kirclien uud ihre Denkmäler.

herrtlhrciidc Thürme, von denen die an der Ostseite belegenen achteckigen
erlieblich älter sind als das übrige Gebäude; diese gehören dem üeber-
gange aus dem Rundbogen- in den Spitzbogenstyl an, und sind mit sehr
zierliclien Einfassungen und Gesimsen versehen

In der Moritzkirche ist ein reicher Altarschmuck vorhanden, ein Schrein
mit bemalten Holzstatuen und darüber ein zierlich gebildetes Tabernakel
mit frei phantastischem gothischeni Schuitzwerk, Der Schrein ist mit drei-
fachen Flügelthüren versehen, welche sämmtlich mit lebensgrossen ste-
henden Heiligen bemalt sind. Es ist interessant, in diesen Malereien einen
gewissen Uebergang des früheren germanisch-typischen Styles in den spä-
teren des fünfzehnten und sechzehnten Jahrhunderts zu bemerken. In den
Hauptlinien der Gewandung, besonders bei den weiblichen Gestalten, findet
man noch die eigenthümlich grossen, oft weichen Linien, die jener früheren
Zeit angehören; im Einzelnen aber, z. B. im Bruch des Gefältes , treten
bereits spätere Motive ein. In den schönen stillen Gesichtern der Heiligen,
namentlich der Weiber, in der besonderen natiouellen Formation der Köpfe,
in der, ich möchte sagen: giottesken Bildung der Augen u. a. kündigt sich
übrigens ein eigenthümlich gebildeter Meister an; die Technik ist zwar
nocli streng, die Zeichnung scharf, doch fehlt es im Einzelnen nicht an
genügender Durchbildung und Modellinmg. Mehr gilt alles Gesagte von
den vorzüglicheren inneren Bildern; die äusseren, obgleicli denselben Styl
tragend, scheinen vielleicht mehr unter der Aufsicht des Meisters, als
unmittelbar von seiner Hand gemalt. Die Gemälde sind grösstentheils sehr
wohl erhalten. — Auch die Marienkircke besitzt ein merkwürdiges Altar-
blatt. Es ist eine Madonna mit dem Kinde auf dem Monde; die Seiten-
flügel mit riesigen Heiligen. Drunter ist eine Predella mit einer Madonna
und verschiedenen Heiligen von ungemein mildem Ausdruck in den Köpfen.
Ich konnte das Bild nur während des Gottesdienstes sehen, da die mir
zugemessene Zeit keinen längeren Aufenthalt erlaubte

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Fl-

Der Dom von Merseburg gehört im Wesentlichen zwei verschiedenen
Zeiten an. Chor und Querschiff sind im ältesten schweren Spitzbogenstyl,
nach Art der unteren Tlieile des Magdeburger Domes; ebenso die Brüstungs-
wände, welche die Flügel des Kreuzes vom Chore absondern. Diese sind,
auf der äusseren Seite, mit Halbsäulchen verziert, welche durch kleine
Spitzbogen verbunden werden und ungemein zierliche Kapitale im Styl
der Uebergangsperiode tragen. Das Schiff des Domes ist in der Art der
Halle'schen Kirchen, doch minder reich und von schweren breiten Ver-

Aus späteren Reisenotlzen (1840): Die Hallenser Kirchen-Architekturen
dürften unter denen des spätesten Mittelalters zu den interessantesten gehören.
Diesmal sah ich u. A. das Innere der Liebfrauenkirche, die, ohne ein Gan-
zes von organischer Entwickelung zu bilden, doch den Eindruck von Kühnheit
uud reicher Grösse hervorbringt. Die schlank und leicht aufsteigenden Pfeiler,
eigenthümlich wirkend durch die concaven Seitenflächen, das reichverschlungene
Netzgewölbe darüber, das, mehr nach Art einer Decke, in einem flachen Bogen
gebildet ist uud dessen Gurte unmittelbar aus den Pfeilern herausspringen, die
! hinter den Pfeilern innerhalb der Seitenschiffe gelegenen, von Spitzbögen getrage-

nen und mit reichen Brüstungen aus Sandstein versehenen Emporen, — Alles dies
trägt wesentlich zu jenem Eindrucke bei. — ') Ein umfassenderer Aufsatz über
die Altarwerke zu Halle folgt später.

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IV. Ileiseblätter vom Jahr 1834:. 165

hältnissen. Die Kanzel ist mit anniuthigen, sehr geschmadivollen spät-
gothisclien Sculpturen geschmückt.

Der Dom besitzt eine nicht unbedeutende Anzahl von Monumenten der
Plastik und Malerei. Das älteste unter jenen ist das Grabmal des Gegen-
konigs Rudolph von Schwaben (gest. 1080), eine Bronzeplatte, welche die
Figur des Königes in sehr wenig erhobenem Relief, in einfach strengem
byzantinischem Style darstellt. Es ist über dasselbe kürzlich eine Abhand-
lung im Druck erschienen: „Ueber das Grabmal des Königs Rudolf von
Schwaben zu Merseburg von P. A. Dethier. Nebst einem Kupferstich dieses
Grabmales. Aus den Mittheilungen des Thüringisch-Sächsischen Vereines
besonders abgedruckt. Halle, 1834." Der erwähnte Kupferstich giebt im
Ganzen ein ziemlich treues Bild; nur ist der Styl nicht strenge genug
gehalten und zuviel Natur in den Händen , auch ist ein zu starkes Relief
angedeutet. Die Abhandlung erweiset mit hinreichenden Gründen die Aecht-
heit des Monumentes, dass es nämlich unmittelbar nach dem Tode des
Königs gefertigt sei, und enthält sonst dankensAverthe Mittheilungen. Ausser
diesem sind noch eine Reihe späterer, gleichfalls nicht unwichtiger bronzener
Grabmäler im Dome vorhanden.

Unter den Gemälden zog mich vor allen eins an, Avelches an einem
der ersten Pfeiler des Schifl'es hängt. Es stellt auf dem Hauptbilde, in
höchst anmuthiger und edler Composition, eine Vermählung der heiligen
Katharina dar, auf den Seitenflügeln andere Heilige , und wird für ein
Dürer'sches Werk gehalten. Sehr Vieles erinnert allerdings an Dürer, na-
mentlich die Köpfe der männlichen Heiligen; ebenso die AVeise der Malerei,
die dünnen Lasuren im Schatten und die leichten, doch pastos aufgesetzten
Lichter. Im Gefälte scheinen dagegen, wiewohl nur im Einzelnen, fremde
und zwar neuere Motive bemerkbar, auch hat der Ausdruck im Kopf der
Madonna Etwas , das mir sonst nicht an Dürer vorgekommen, nämlich eine
gar grosse Weichheit und Kindlichkeit. Vor der Hand wage ich nicht zu
entscheiden, ob das Bild von Dürer selbst oder von einem sehr geistreichen
Nachahmer herrührt; auf jeden Fall ist es eins der anmuthigsten-Kunst-
Averke, welche mir seither zu sehen vergönnt war. — Von dem (sogenannt)
Cranach'schen Gemälde, welches über den Chorstühlen steht, ist, wie mich
dünkt, schon öfter die Rede gewesen. Es stellt auf der Vorderseite die
Kreuzigung (Luther unter den Feinden des Herrn), auf der Rückseite die
Grablegung dar; letztere eine edle und würdige Composition, wie sie niclit
zu oft bei Cranach vorkommt; sie erinnert lebhaft an seine schöne Darstel-
lung desselben Gegenstandes, welche, leider sehr beschädigt und vergessen,
in der Klosterkirche zu Berlin hängt. — Noch sind eine Menge anderer
Bilder der altdeutschen Schule im Merseburger Dom vorhanden; so im Chor
zwei kleine Schreine mit Schnifzwerk und gemalten Seitenflügeln, welche
letztere, soviel sich in ihrem gegenwärtigen Zustande darüber sagen lässt,
etwas dem Hemling Verwandtes zu haben scheinen; so hoch oben im süd-
lichen Kreuzflügel, nur durch ein gutes Fernglas erkennbar, ein sehr grosses
Bild mit christlich allegorischen Darstellungen — die Jungfrau in der Mitte,
in deren Schooss das Einhorn flüchtet, feierliche Heiligengestalten zu den
Seiten, im Grund eine weite Landschaft; — so viele andere an anderen
Stellen; alle aber mehr oder minder unbeachtet, verstaubt, zum Theil muth-
willigen Verletzungen Preis gegeben. Es ist wahrlich betrübend, der-
gleichen noch heutiges Tages in einer der Hauptkirchen des Preussischen
Staates wahrzunehmen; in Süddeutschland ist mir kein ähnliches Beispiel

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vorgekommen. — In der Vorhalle des Domes steht, aus der unterstädtischen
Kirche von Merseburg dahingebracht, ein uralter Taufstein in streng byzan-
tinischem Styl, mit einer halberhobenen Bogenstellung und Heiligenfiguren
geschmückt.

Naumburg besitzt in seinem Dome ein Gebäude, welches zu den
interessantesten Problemen der Entwickelungsgeschichte der deutschen Bau-
kunst gehört. Das Schiff nämlich, das Querschiff und die Seitenschiffe
haben in der Verbindung der Pfeiler und im Gewölbe den schweren
massigen Spitzbogen, wie derselbe zuerst auftritt; die Oefl'nungen nach
aussen, Fenster und Thüren, sind dagegen im Rundbogen überwölbt und
Strebepfeiler noch nicht vorhanden. Es ist derselbe Styl, wie er am Bam-
berger und Limburger Dom, an der Stiftskirche von Fritzlar, an den unteren
Theilen des Magdeburger Domes u. a. m., erscheint. Du erwartest viel-
leicht , dass ich hier eine besondere Ansicht über die Erbauungszeit der
genannten älteren Theile des Naumburger Domes, somit über die Periode,
darin jener Styl herrschend war, mittheilen werde; doch gestehe ich Dir
ehrlich, dass ich keine Lust habe, unserer Kunstgeschichte, darin ohnedies
so grosse Verwirrung herrscht, noch mehr unerwiesene Hypothesen aufzu-
bürden. Der Stand der Wissenschaft ist dermalen, trotz der naiven Sicher-
heit mancher dilettirenden Gelehrten, noch zu sehr im Dunkeln, um aus
Analogieen weiter zu schliessen; und nicht minder die Geschichte des
Naumburger Domstiftes, um den Bau dieser Theile ausdrücklich vor der
Verlegung des Stiftes von Zeitz nach Naumburg (1028) oder — wie ein
befreundeter Kunstforscher will — ausdrücklich unter Erzbischof Engel-
bert (1206—1242) geschehen zu lassen Nur im Allgemeinen bezeichne
ich jenen Styl als der Uebergangsperiode aus dem byzantinischen (romani-
schen) iu den gothischen (germanischen) angehörig, welche Periode jedoch
nicht in so gar enge Granzen einzuschliessen sein dürfte.

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Was das Detail dieser älteren Theile des Naumburger Domes anbetrifft,
so ist (im Inneren) ein Pfeiler um den anderen mit den zum Gewölbe
empor laufenden Gurtträgern versehen; diese reicher gegliederten Pfeiler
haben demnach die Grundform eines kurzen schweren Kreuzes mit acht
Halbsäulen an den vier vorspringenden Seiten und in den vier Winkeln.
Die Kapitale bestehen aus leichtem, schön und zum Theil durchbrochen
gearbeitetem spät-byzantinischeni Blattwerk mit reichgegliedertem Abakus;
von den Gurtträgern läuft dieser Abakus des Kapitales als Gesims an den
Wänden fort. Das spitzbogige Gewölbe wird durch schwere, geradlinig
profilirte Gurte, welche die gegenüberstehenden Hauptpfeiler verbinden, in
quadratische Räume getheilt; letztere sind durch einfache Kreuzgewölbe
— ohne Gurte — ausgefüllt; nur iu dem, noch zum alten Bau gehörigen
Aufange des östlichen Chores (in seinem ersten Quadrat) kommen Gurte,
aus einem Rundstab bestehend, vor, seltsamer Weise aber in den Graten
des Gewölbes. Die rundbogigen Fenster des MittelschiiVes sind mit einem
Rundstab profilirt; an den Seitenschiilen sind neben einander stehende
Doppelfenster befindlich. Die aussen, unter dem Hauptdach, hinlaufenden
rundbogigen Friese haben zierliche kleine Consolen, auf denen die Rund-
bögen aufsetzen. Seltsam ist das rautenförmige Fenster mit verschlungener
Blume im südlichen Kreuzgiebel. Von den drei vorhandenen Thürmen

Allerdings das letztere, Vergl. die später folgenden Mittheilungen.

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IV. Ileiseblätter vom Jahr 1834:. 167

sind die beiden auf der Ostseite die älteren. Bis zur Höhe der Kirche
viereckig, gehen sie dann ins Achteck über, mit schlanken Halbsäulchea
auf den Eicken, mit mancherlei rundbogigen Fenstern und Gesimsen; das
oberste Geschoss ist zierlich gothisch, aber mit consequenter Beibehaltung
des Rundbogens. Auf der Westseite ist nur ein Thurm, und zwar gen
Norden, ausgeführt; dieser hat die grösste Aehnlichkeit mit den westlichen
Thürmen des Bamberger Domes, indem sich nämlich auf den Ecken sechs-
eckige, durchbrochene, von Säulen und kleinen Spitzbögen getragene Erker
bilden, in denen die Treppen emporlaufen '). Endlich noch, als einer der
wichtigsten Theile des alten Baues, ist die Krypta zu erwähnen, Sie gehört
verschiedenen Zeiten an, und zwar zum Theil augenscheinlich einer noch
früheren, als der des geäammten Oberbaues. In diesem ältesten Theile
der Krypta, dem Mittelstücke derselben, sind die Gliederungen, amAbakus
der Kapitale, an den einfachen rundbogigen Gurten u. a., noch sehr
befangen gearbeitet; die Kapitäle haben noch die Gestalt des abgestumpften
Würfels und der an denselben angewandte Blätterschmuck ist ohne sonder-
liches Relief. Merkwürdig sind an diesen Säulen die sehr verschieden
gebildeten Kannelirungen, die an einer Säule selbst dorisch sind. Die anderen
Theile der Krypta, gen Osten und Westen, entsprechen dem Oberbau des
Schilfes; interessant ist die Art, wie hier stets vier Säulen um einen Mittel-
pfeiler zusammengestellt sind.

Der Dom besitzt kekanntlich zwei Chöre und diese im späteren, go-
thischen Style, Was das Alter derselben anbetrifft, so bin ich sehr geneigt,
gegen die bisherige Annahme, den westlichen , zwar reicheren , für den
älteren zu halten. Die Architektur hat hier, in der Formation des Details,
noch etwas Schlichtes und eigenthümlich Strenges; selbst Manches, was das
Gefühl noch an den früheren Styl der Uebergangsperiode erinnert. Beson-
ders charakteristisch ist die einfach edle Gestaltung der Fensterrosen und
die Art wie die Halbsäulchen, welche die Verzierung der Fensterschmiegen
bilden, mit eigenem Kapitäl bedeckt sind, somit nicht unmittelbar in die
Bögen Übergehn. Beides ist anders an dem Chorschluss auf der Ostseite,
welcher um zwölf Fuss über die Krypta hinaus gebaut ist; hier sind nament-
lich die Fensterrosen bereits willkürlich angeordnet, die Details bereits
vollkommen in gothischer Art formirt.

Die Chöre werden durch Zwischenbauten vom Schilf abgesondert. Der
auf der Ostseite, leider durch modernes Holzwerk ganz entstellt, ruht auf
einer altrundbogigen Säulenhalle; der westliche entspricht wiederum dem
Style des Westehores und ist durch reichen Schmuck von Bildwerken aus-
gezeichnet; er liat, auf der innern Seite, zwei zierliche Treppenhäuser, wo
die Stufen der Wendeltreppe von leichten Säulchen getragen werden.

Was den Totaleffekt des gesammten Domes im Innern anbetrifft, so
kann ich Dir darüber zur Zeit nichts schreiben; es ist eine Menge geschmack-
loser hölzerner Einbauten vorhanden, der Ostchor vom Schiff noch ganz
und gar durch eine moderne Querwand getrennt, so dass alle Hauptformen
der Architektur verdorben werden. Der Dom erwartet noch seine Er-
neuerung, wie solche dem verwandten Bamberger Dome durch d^n kunst-
sinnigen König von Baiern bereits zu Theil geworden ist, — "

Unter den im Dome vorhandenen Bildwerken sind bekanntlich die im

') Dies gilt nur von -dem Untergeschoss des durchbrochenen Baues. Die
beiden Obergeschosso desselben sind spät gothisch.

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168

Deutsche Kircbeu und ihre Denkmäler.

Westchor befindlichen Statuen der Stifter von höchstem kunstgeschicht-
lichem Interesse; ich freue mich, meine bereits ausgesprochene Ansicht nur
bestätigen zu können, dass sie nämlich in naher Verwandtschaft mit den-
jenigen Statuen stehen , welche sich zu den Seiten des einen Ostportales
am Bamberger Dome und eben dort innen, am Ostchore, befinden und dass
sie nur eine weitere Entwickelung des an letzteren begonnenen (germani-
schen) Styles darthun. Für diese Verwandtschaft sprechen auch die auf
gleiche Weise gestalteten Baldachine über den Statuen, welche nach Art
reicher kirchlicher Architekturen gebildet sind. Näher in das Alter, die
Technik und Bedeutung dieser Statuen einzugehn, ist überflüssig, da alles
dies in einer sehr verdienstlichen Schrift dargelegt ist: „lieber das Alter-
thum und die Stifter d^s Doms zu Naumburg und deren Statuen im west-
lichen Chor. Von C. P. Lepsius. Naumburg, 1822." (Erstes Heft der
„Mittheilungen aus dem Gebiet historisch - antiquarischer Forschungen.
Herausgegeben von dem Thüring. Sachs. Verein für Erforschung des vater-
ländischen Alterthums.") Ich bemerke nur, dass dig|^dieser Schrift beige-
fügten Umrisse der Statuen, im Ganzen zwar wohlgelungen, im Einzelnen
jedoch den Ausdruck der Köpfe, den Charakter und bestimmten Styl der
Gewandung nicht ganz wiedergeben.

Beide Chöre enthalten noch einen grossen Theil der alten Glasgemälde.
Besonders zeichnen sich die im westlichen Chore aus, welche noch wesent-
lich den byzantinischen Typus zeigen, jedoch bereits mit derjenigen Frei-
heit, welche derselbe im dreizehnten Jahrhundert (z. B. in den Zeichnungen
des Scheyrer Mönches Conrad) annahm. Die Glasgemälde im östlichen

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') Nach verschiedenen späteren Notizen des Verfassers über die Statuen des
Naumburger Domes:

Die Stellung der Figuren ist meist sehr einfach; dabei stehen sie, -wenig-
stens der Mehrzahl nach, leicht, und es drückt sich schon in dieser Körperbe-
wegung inneres Gefühl vortheilhaft aus. Auch die Gewänder fallen einfach, aber
die verschiedene Anordnung der Mäntel, besonders wo diese vorn aufgenommen
werden, giebt ein reiches Linienspiel. Zugleich ist die Körperbewegung unter
dieser reichen Gewandung meist gut gefühlt und wiedergegeben, zum Theil sogar
die Körperform unter dem Gewände schon mit Kunst angedeutet. Der Ausdruck
der Köpfe ist mannigfaltig, theils zwar noch etwas starr, theils (bei einigen weib-
lichen Köpfen) bereits sehr anmuthig.....

Reicher Sculpturenschmuck belindet sich an dem frühgothisehen Lettner des
Westchores, An dem Mittelpfeiler der Eingangsthür desselben ein Cruciflx (künst-
lörisch minder bedeutend), links eine ungemein schön gewandete klagende Maria,
rechts Johannes, der auch leidlich gut gearbeitet ist; beide ganz im Styl der
Chor-Statuen^ Zu beiden Seiten des Portales wird der Lettner durch einen
hohen, unter Eogenfeldern hinlaufenden Fries mit Reliefs, welche die Passions-
geschichte zum Gegenstande haben, gekrönt. In diesen Darstellungen ist die
Anlage der Gewandung wiederum bedeutend, im Einzelnen selbst grossartig und
mächtig. Auch in der Composition sind merkwürdig geistvolle Elemente, doch
freilich auch viel Starres. Es ist ein Geist, der mit Kraft und Ernst, selbst
nicht ohne regen Formensinn, zur Gestaltung ringt. — Dies ist übrigens nicht
minder d^^r Charakter der Chor-St^ituen, bei denen die Gewandung (der Anlage
nach), die Motive der Geberdung, die Charakteristik im Einzelnen höchst merk-
würdig sind, während allerdings der Mangel an feinerem Naturgefühl bei solchen
Vorzügen um so störender wirkt. Gleichwohl ist nichts eigentlich Conventionelles
wahrzunehmen: — es ist das germanische Formen- und Compositions-Gefühl;
welches sich aus den romanischen (den dem Römischen verwandten) Formen
loslöst, diesen aber zum Theil sehr grossartige Motive verdankt.

Ii,

Hi

I ;

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IV. Reiseblätter vom Jahr 1884.

Chor sind dagegen schon im germanischen Styl. Auch dieser Umstand
dürfte für das grössere Alter jenes Chores sprechen.

Jm östlichen Chore befinden sich ferner zwei sehr bemerkenswerthe

I

169

4

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170

Deutsche Kirchen und ihre Denkmäler.

Bilder von Lukas Cranach, zwei grosse Altarflügel mit kolossalen Heiligen-
figuren auf Goldgrund; naiv anmuthige Frauengesichter und sehr edle und
würdige, in trefTlichster Charakteristik ausgeführte Männerköpfe. Diese
Bilder gehören mit zu den grössten Arbeiten Cranachs und sind namentlich
in Bezug auf die Technik, die man bei der gegenwärtigen zweckmässigen
Aufstellung in Bequemlichkeit untersuchen kann, sehr interessant; der
Meister hat hier mit grosser Leichtigkeit gearbeitet, die Uebermalung ist
oft so dünn, dass die Zeichnung vollkommen durchscheint, was übrigens

]

t-

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IV. Ileiseblätter vom Jahr 1834:. 171

der Ansicht aus angemessener Ferne keinen Eintrag thut. Die Rückbllder
(die ehemaligen Aussenseiten), auf blauem Grunde, sind minder bedeutend
und wohl nur Schularbeiten. Leider hatten die Bilder hie und da gelitten und
sind nicht auf ganz genügende Weise restaurirt. — Im "Westchore steht
eine Reihe anderer bedeutender Gemälde niederdeutscher Schule, die zwar
zum Theil beschädigt, jedoch durch keine Ilestauration verdorben sind.
Unter diesen erwähne ich zuerst zweier Altarflügel, welche zu einem Altar-
schreine gehören, der im südlichen Kreuzarme stellt. Das Schnitzwerk
dieses Schreines ist nicht mehr vorhanden, wohl aber noch der gemalte
Untersatz mit den Brustbildern Christi, der Maria und des Johannes; jene
Flügel enthalten auf ihren Hauptselten die stehenden Figuren Christi (mit
der Dörnenkrone) und der Maria, diese beiden auf Goldgrund, auf den
Rückseiten die Verkündigung; das Bild, darauf die Maria befindlich, ist
der Länge nach durchbrochen. Es kündigt sich in diesen Bildern ein
eigenthümlicher Meister an: die Composition der Figuren ist zwar nicht eben
grandios, die Köpfe dagegen von anziehendem, ungemein mildem Aus- l:

druck; die Malerei ist eigenthümlich weich und zart, die Carnation sehr \

rosig, Avohl zu sehr; auch ist etwas Modernes in dem Ausdruck der Köpfe ^

und mehr noch in der Art des Faltenwurfes nicht zu verkennen; das Ge- ^

sieht der Maria in der Verkündigung ist augenscheinlich cranachisch. Die |

anderen Bilder (mit Ausnahme einiger minder bedeutenden) bilden zusam- "ä

men ein Altarwerk. Das Mittelbild, quer durchbrochen, stellt in nicht
grossen Figuren die Bekehrung des Saulus vor, mit kecken Rittern, wie
sie etwa Cranach malt, und mit weiter Landschaft; ein längliches, darüber
zu stellendes Bild, enthält zwei Engel mit dem Schweisstuch von schöner
Composition, der Untersatz die Brustbilder der vier Kirchenlehrer; die
Flügel enthalten auf der einen Seite weibliche Heilige, auf der anderen den I

Petrus und Paulus. Diese letzten beiden Apostel sind genau einer Dü-
rer'schen Composition, die in seiner kleinen Passion vorkommt, entnommen;
nur sind sie minder kräftig aufgefasst, in den Verhältnissen gedehnter, im
Gefälte ein wenig moderner; die Malerei der beiden Köpfe hat ebenfalls
Vieles, was an Dürer erinnert. Die eine der beiden weiblichen Heiligen,
eine heilige Barbara, ist dagegen ganz eine cranach'sche Figur. Die übrigen
Gestalten sind eigenthümlicher und haben Vieles, was an den Meister des
vorigen "Werkes erinnert; es ist dieselbe weiche, ein wenig moderne An-
muth und ganz dieselbe Art der Malerei, wobei nur jenes allzurosige Colorit
einem in Etwas kräftigeren hintangesetzt ist. In Erwägung dieser ange-
gebenen Umstände bin ich sehr geneigt, beide "Werke dem jüngeren Cra-
nach zuzuschreiben, und ich möchte ihn selbst für den Meister der oben ^
genannten Vermählung der heiligen Katharina im Merseburger Dome hal-
ten; er würde sodann freilich als ein sehr tüchtiger und liebenswürdiger t
Künstler erscheinen. — L
Interessant war es mir, in einem zu den ehemaligen Klostergebäuden :
gehörigen Nebenraume eine Reihenfolge neuer Gemälde zu sehen, welche >
demnächst in dem hohen Chore (dem östlichen) des Domes aufgestellt
werden sollen. Sie sind im Auftrage des Domherrn von Ambach, während t
seines Aufenthaltes in Rom in den Jahren 1820 bis 1824, von deutschen
Künstlern ausgeführt worden und von ihm testamentarisch dem Dome ver-
machf. Sie enthalten, Begebenheiten aus dem Leben Christi darstellend,
die Ilauptlehren der christlichen Religion, und bieten, in gleicher Grösse |
(4 Fuss 9 Zoll hoch, 3 Fuss 6 Zoll breit) ausgeführt, interessante Ver- f

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172

Deutsche Kirchen und ihre Denkmäler.

gleichungspunkte dar. Es sind Bilder von Ph. Veit, Fr. .Olivier, Eggers
Schadow, Vogel, Näcke, Schnorr, Senlf und Rehbenitz. Vielleicht wird es
Dir anmaassend erscheinen, wenn ich über eine solche Reihe berühmter
Nanien ein zum Theil so absprechendes Urtheil wage, wie ich es zu thun
eben im Begriff bin; aber vergeblich habe ich in den Bildern von Veit,
Olivier, Näcke, Schnorr, Senlf ein wahrhaftes, innerlich hervorquellendes
Leben gesucht, — und der Gedanke muss doch Fleisch werden, wenn ein
Kunstwerk auf seine Existenz Anspruch machen will. Die trefflichst stu-
dirte Gewandung, deren liier genug zu finden ist, die besten Reminiscenzen
an Fiesole, meinetwegen selbst an Raphael, und die möglicher Weise vor-
handene Frömmigkeit, die aber nicht zu künstlerischer Begeisterung (man
sollte sagen: Begeistung) gediehen ist, alles dies macht noch kein Bild!
Die Bilder von Eggers und Schadow haben wenigstens Leben und "Wahr-
heit, letzteres zugleich eine grosse eigenthümliche Anmiith und Harmonie
in den Farben; doch "^ch ihnen noch fehlt diejenige Kraft und Hohheit,
welche die Darstellung verlangt. Kur das Bild von Reilbenitz, Christus
und der Versucher in der Wüste, ist von grossartiger Wirkung, wenn es
gleich an Malerei dem Bilde von Schadow bedeutend nachsteht. —

Die Wenzelkirche von Naumburg, ein confuses Gebäude, welches im
Aeusseren mit barocken spätgothischeii Verzierungen versehen, im Inneren
zu Anfange des vorigen Jahrhunderts barbarisch erneut ist, besitzt einen
wahren Schatz an einem Bilde von Lucas Cranach: Christus, welcher die
Kindlein zu sich kommen lässt. Auch dies Bild ist mehrfach besprochen
worden. Was den Zauber der Unschuld, der naiven Grazie und tiefsten
Gemüthlichkeit, — die charakteristischen Eigenthümlichkeiten Cranach's, —
anbetrifft, so dürfte er in diesem Bilde vielleicht auf's Gediegenste hervor-
treten, und Cranach hierin seine besondere Weise wohl am Innigsten aus-
gesprochen haben. Auch enthält dasselbe eine Reihe charakteristiscli ver-
schiedener Weiberköpfe,
Avas eben nicht zu oft bei ihm vorkommt. Die
Malerei des Bildes ist in seiner Art trefflich und scheint in den bedeutend-
sten Theilen wohl erhalten. Da das Bild indess durch WurmfrasS gelitten
hatte, so wurde vor einiger Zeit eine Reparatur erfordert, und bei dieser
Gelegenheit scheint der Restaurator hie und da ein Uebriges gethan zu
haben, was vielleicht minder nöthig gewesen sein möchte. —

f

Schulpforte, am Fusse der hohen Uferberge der Saale erbaut, hat
eine friedlich klösterliche Lage; die Kirche ist wiederum von Wichtigkeit
für die Geschichte der deutschen Baukunst. Es ist eine Kreuzkirche in
cigenthümlich schlichtem und strengem gothischem Style, mit langem und
verhältnissmässig hohem Mittelschiff und niedrigen Seitenschiffen. Doch
zeigen sich an gewissen Theilen noch die Ueberreste eines älteren Baues.
Die Pfeiler des Schiffes nämlich sind von einfach viereckiger Form, und
zwar einer um den andern von länglicher, die Zwischenpfeiler nur von
quadratischer Grundfläche. Jene breiteren P^er nun scheinen ursprüng-
lich durch grosse Rundbögen verbunden zu sein, denen die an der nörd-
lichen Wand des Mittelschiffes, unter den gegenwärtigen grösseren gothi-
schen Fenstern noch vorhandenen kleinen, im Halbkreis überwölbten Fenster
entsprechen. Die Zwischenpfeiler tragen sodann Bögen von gleichem Dia-
meter, welche den grossen Rundbogen kreuzen und solchergestalt ein spitz-
bogiges System zu Wege bringen; vielleicht wurden diese Pfeiler erst
liinzugefügt, als man, beim Beginn des Neubaues, die Mauern des Mittel-

Mühl

i-»

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IV. Reiseblätter vom Jahr 1834. 173

Schiffes crliölite und eine zu grosse Belastung jener weitgespannten Rund-
bogen fürchten musste. Denn dass die angegebene Einrichtung nicht im
Plane lag, beweist der Umstand, dass in dem späteren, westlichsten Theile
der Kirche mehrere gleich starke, quadratische Pfeiler beiindlich sind, an
denen keine Spur des Rundbogens mehr zu finden ist. Die Deckglieder
jener breiteren Pfeiler sind reich gebildet (doch ohne sonstiges Ornament),
die der Zwischenpfeiler etwa nur halb so hoch; über jenen setzen, auf
Consolen, die Halbsäulen auf, welche die Gewölbgurte tragen: an der Rück-
seite der Pfeiler,
nach den Seitenschiffen zu, laufen diese Halbsäulen bis
auf den Boden nieder und durchbrechen die Deckglieder. Das Gewölbe
der Kirche wird durch einfach geformte Kreuzgurte gebildet. Die gpthischen
Fenster des Mittelschiffes sind roh gearbeitet; die Schmiegen von glatt
geradlinigem, ungegliedertem Profil, ebenso die Stäbe einfach viereckig
profllirt; der obere Theil wird durch mehrere einfache dreiblättrige Rosen
ausgefüllt, die jedoch mit den Stäben nicht in organischer Verbindung und
Verhältniss stehen. Das Stabwerk der Fenster am Seitenschiff' hat ein etwas
mehr, mit einem Rundstabe gegliedertes Profil. Von den Streben des Sei- ■>.

tenschiffes schlagen schwere Strebebögen nach dem MittelschiH' hinüber.
Die Facade ist ziemlich reich, doch im Einzelnen einfach gebildet. Zwei
Streben sondern das Mittelschiff von den Seitenschiff'en ^ in der Mitte ein
breites, spitzbogiges Portal mit eignem Giebel; drüber ein grosses, spitz-
bogiges Fenster mit grosser Rose; drüber der hohe, vielleicht, wie aus ein-
zelnen Punkten ersichtlich scheint, im ursprünglichen Plane anders gestal-
tete Giebel mit hoher fensterartiger Nische mit Sculpturen, und abgetreppter
Zinne. Das südliche Seitenschiff' hat hier ebenfalls ein zierlich gegliedertes
Portal. Der Chor (nach einer Inschrift im J. 1261 angefangen und, nach
einer Urkunde, im J. 12C8 vollendet) zeichnet sich auf eigenthümliche
Weise aus. Hier sind, im Innern, die aus drei starken Halbsäulen bestehenden
Gurtträger mit mehreren Umgürtungen und mit zierlich freiem Blätterka-
pitäl geschmückt. Die Schmiegen und das Stabwerk der Fenster sind
reicher profllirt; die vorkommenden Stäbe mit Kapitälchen versehen. Die
Rosen sind wiederum ziemlich willkürlich und zwar auf verschiedene Weise
angeordnet, im Einzelnen sogar barock, wie es gewöhnlich nur in spätest
gothischer Zeit vorkömmt. — Das Innere ist gegenwärtig durch viele schlechte
hölzerne Emporen verbaut und entstellt, vornehmlich durch die Orgel, die,
in der Mitte angebracht , die ganze vordere Hälfte der Kirche dem Gottes-
dienste sogar entzieht. Da es bereits von einer bevorstehenden Renovation
verlautet, so ist zu hoffen, dass vornehmlich diesen Uebelständen wird
abgeholfen und das Ganze in seiner imponirenden Grösse hergestellt werden;
auch dürfte sodann die widerwärtige weisse Tünche wohl einer lebendigeren,
wärmeren Steinfarbe Platz machen, wie eine solche z, B. so schön bei der
Renovation des Regensburger Domes angewandt worden ist.

Die Kirche besitzt in ihrem Altargemälde ein interessantes Werk neuerer
Kunst. Es ist ein Bild von Schadow und stellt in der Mitte den auferstan-
denen Heiland, zu den Seiten die Evangelisten Johannes und Matthaeus
dar; letzteren besonders als eine grossartige feierliche Gestalt mit ausge-
zeichnetem charakteristischem Kopfe. In der Carnation ist das gesammte
Bild vortrefflich, ebenso steht es in schöner Harmonie; sonst erinnert es
auch an das Naumburger Bild, welches ich gestern sähe, und ist vielleicht
ein wenig später. Das Bild wirkt an der Stelle, die es einnimmt, aufs
Erfreulichste, und würde es, ein wenig höher, vielleicht noch mehr.

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174 Deutsche Kirchen und ihre Denkmäler.

Das frühere Altarwerk, ein grosser Schrein mit Schnitzwerk (von nicht
bedeutender Arbeit) und mit bemalten Flügeln ist seit der Aufstellung des
Schadow'schen Bildes in eine dunkle und dumpfe Kapelle (die sogenannte
Evangelistenkapelle) bei Seite gestellt und nicht weiter beachtet worden.
Ich liess mir die Flügel ans Licht tragen, und fand an ihnen die Arbeit
eines Meisters, der, wenn auch eben nicht vom ersten Range, so doch auf
keine "Weise einer solchen Verachtung würdig ist. Sie enthalten auf ihren
Aussenseiten die Figuren Christi (mit der Dornenkrone) und der Maria,
auf den inneren kleinere Darstellungen der heiligen Geschichte, — Erin-
nerungen an bedeutende Werke älterer Meister, namentlich in der gran-
diosen Figur der Maria, im Einzelnen sehr anmuthige und innig ausdrucks-
volle Köpfe. Die Malerei ist leicht, pastos und breit.

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f

Vorn im Schilf der Kirche hängt ein äusserst merkwürdiges byzanti-
nisches Crucifix. Es ist ein grosses Kreuz von Brettern, mit Leinwand,
die einen Gypsgrund trägt, überzogen. Hierauf ist der gekreuzigte Heiland,
in kolossalen Maassen, gemalt, an den Ecken die vier Symbole der Evan-
gelisten. In der Zeichnung des Heilandes, dem hängenden Haupte, dem
geschwellten Bauche u. a., in dem Gefälte des breiten blauen Schurzes, in
der Malerei, die ganz den Miniaturen byzantinischen Styls entspricht, zeigt
sich auf den ersten Blick die eigenthümliche Manier und die frühe Zeit,
welcher dieses Werk angehört; es dürfte wenig Aehnliches in Deutschland
zu finden sein. Doch scheint man von dem grossen geschichtlichen "Werthe
desselben am Orte keine Ahnung zu haben; denn noch ist es von dem
Unrath nicht gereinigt, der bei den Uebertünchungen der Kirche darauf ge-
fallen ist, und die unteren Theile sind zerfetzt und muthvvillig zerkratzt.

Memleben, ein Dorf an der Unstrut, besitzt in den Ruinen seiner
ehemaligen Klosterkirche ohne Zweifel das wichtigste Beispiel für jene
Uebergangsperiode aus dem romanischen (dem sogenannt byzantinischen)
in den germanischen (den gothischen) Baustyl. Das noch Vorhandene ist
Dir im Wesentlichen aus den Beschreibungen, welche Stieglitz iund nach
ihm Fiorillo gegeben haben, bekannt; ich wiederhole, dass die) massigen
Pfeiler im Inneren durch schwere Spitzbögen verbunden werden, dass sie
eine quadratische Grundform haben und Halbsäulen an den Zwischenseiten
als Träger der einfachen, unter den Spitzbögen befindlichen Gurte, dass
keine Spuren von gewölbter Bedeckung, wohl aber noch die Löcher, in
welchen die Balkenköpfe der Holzdecke aufgelegen haben, ersichtlich sind
und dass somit von Strebepfeilern keine Rede ist. Den Rundbogen zeigen
dagegen noch der nunmehr vermauerte Bogen der südlichen Seiten-Tribune,
eine kleine Thür auf der Nordseite des Schiffes, und ebenso — zwar nur
in einer alten Abbildung, welche die Thuringia Sacra aufbewahrt haben —
die Fenster; doch ist das Hauptportal wiederum im Spitzbogen. Die
gewöhnliche Annahme setzt dies Gebäude in die Zeiten Heinrichs I. oder
Otto's I. zurück, da das Kloster gegründet wurde; doch scheinen mir sowohl
das, für so frühe Zeit bisher noch unerwieseue Spitzbogensystem, die dem
Princip nach leichtere (aus Platte und Kehle bestehende) Form der Kapi-
tale der Halbsäulen, die gesammte zwar schlichte, aber sehr gediegene
Technik, als nicht minder die eckig dreiseitige (nicht halbrunde) Grund-
form des Chorschlusses, das zierlich formirte rundbogige Gesims im Aeus-
seren desselben, insbesondere aber das eigenthümlich leichte Verhältniss
in den noch wohlerhaltenen Säulen und Gewölben der Krypta und die

0

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175

zierlich geschmackvol-
len , leicht stylisirten
Blätterkapitäle an erste-
ren, einer solchen An-
nahme widersprechend.
Der Unterschied zwi-
schen der zwar reich
aber ungemein roh ver-
zierten Quedlinburger
Schlosskirche, die ich
unbedenklich für ein
Werk der ersten Zeit
der sächsischen Kaiser
halte, und zwischen die-
ser Klosterkirche von
Hemleben istallzugross,
als dass man beide für
Werke einer Zeit, und
gar, wie es hier doch
der Fall sein müsste,
für Werke Einer Schule
gelten lassen kann. Die
letzgenannte gehört, wie
ich oben erwähnte, je-
ner merkwürdigen Ue-
bergangs - Periode an,
welche noch so viel
Räthselhaftes für uns
hat, und bildet, in Be-
zug auf die vorherr-
schende Schlichtheit der
sonst reicher dekorirten
Details und in Bezug auf
den Mangel des Gewöl-
bes, vielleicht eins der
ersten Beispiele des Ue-
berganges.

Wenn nun das Ge-
bäude selbst nicht der
Ottonenzeit angehört, so
müssen natürlich auch
die Malereien, welche
die dem Inneren des
Mittelschiffes zugewand-
ten glatten Seifen der
Pfeiler verzierten und
die man ebenfalls einer
so frühen Periode zu
vindiciren beliebt, aus
späterer Zeit herrühren.
Sie sollen , eine Figur

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176

Deutsche Kirchen uud ihre Denkmäler.

an jedem Pfeiler, Män-
ner au der Nord- und
Frauen an der Südseite,
die königlichen Stifter
des Baues vorgestellt
haben und waren merk-
würdiger Weise nicht
auf einen Kalkbewurf
oder dergl., sondern un-
mittelbar auf den Stein
(einen röthlichen Sand-
stein) gemalt. Leider
jedoch sind sie gegen-
wärtig durch das Wet-
ter fast so gänzlich ab-
gewaschen , dass nur
schwache Spuren noch
zu erkennen sind, die
indess, wenn man sie
anfeuchtet, ein wenig
deutlicher hervortreten;
die Hauptumrisse der
Figuren lösen sich dann
noch zum Theil von
dem dunkleren Grunde;
hie und da zeigen sich
noch'einzelne Linien der
Gewandung und der Ge-
sichtstheile, so wie ein-
zelne Spuren des farbi-
gen Anstriches. Aber
auch in diesön schwa-
chen Spuren glaube ich
ebenfalls den Styl einer
späteren Zeit als den der
byzantinischen Periode
(der bei uns im zehnten
Jjahrhundert sogar noch
halb karolingisch ist) zu
erkennen, namentlich in
einer gewissen modi-
schen Weise des Co~
stümsundden zum Theil
sehr schlanken Taillen,
was wesentlich erst mit
dem dreizehnten Jahr-
hundert hervortritt,wäh-
rend ältere Darstellun-
gen gemeinhin, bei al-
ler typischen Erstarrung,
noch etwas antik Ideales

tt

mm

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IV. Reiseblätter vom Jahr 1834. 177

in der Gewandung haben. Doch sind wiederum die einzig deutlich erhal-
tenen Züge in dem Gesicht einer mit dem Heiligenschein geschmückten
Fürstin noch in strenger byzantinischer Weise, nicht in der weicheren,
mehr gemüthlichen des germanischen Styles; so dass ich, in Erwägung
dieser zwar sehr einzelnen, doch nicht unsicheren Umstände, geneigt bin,
die Malereien ebenfalls der TJebergangsperiode, d. h. in Bezug auf sie: der
früheren Zeit des dreizehnten Jahrhunderts, zuzuschreiben.

Freiburg an der Unstrut bietet in seiner Kirche ein seltsames Ge-
misch von allerlei Baustylen des deutschen Mittelalters dar; interessant
sind jedoch nur die älteren Theile, die beiden Thürme auf der Westseite
und das Querschiff, welche wiederum der Uebergangsperiode angehören.
Die Thürme, nach unten viereckig, gehen nach oben ins Achteck über und
sind mit zierlichen Halbsäulchen auf den Ecken und rundbogigen Gesimsen
geschmückt. An den Fenstern der Thürme ist merkwürdig, dass im süd-
lichen spitzbogige unterhalb der rundbogigen vorkommen, also früher ge-
macht sind, als diese. Die Details der Fenster sind schlicht profllirt. Der
unter und zwischen den Thürmen befindliche Theil des Inneren der Kirche
hat massige, gegliederte Pfeiler mit Halbsäulen und runde und spitzige
Bögen; es scheinen schon hier verschiedene Bauzeiten durch einander zu
spielen; ebenso steht auch die westlich vorgebaute alt spitzbogige Vorhalle
durchaus in keiner organischen Verbindung mit dem Hauptbau. Das
Querschiff hat im Innern, im Gewölbe, ebenfalls den Spitzbogen, an den
nach aussen gewandten Theilen — den Bögen der Seiten-Tribunen, Fen-
stern und Thüren — den Rundbogen; es enthält im Aeussern zierlich aus-
gebildete Details, namentlich was die Verzierung der Giebelfelder anbe-
trifft. Auch der Thurm über der Mitte des Kreuzes ist in gleichem Style.
Der Chor ist im reinen Spitzbogenstyl und zwar, namentlich im Aeusseren,
recht artig und zierlich gebildet. Das eigentliche Schiff der Kirche gehört
in die spätgothische Zeit; es enthält ganz rohe achteckige Pfeiler und Sei-
tenschiii'e, die dem Mittelschiff' ah Höhe gleich sind. Merkwürdig jedoch
ist, dass man unter dem Kranzgesims der Aussenmauern des Schiffes den-
selben rundbogigen Fries, welcher am Querschiff" und am Untergeschoss
der Thürme hinläuft, fortgeführt hat, doch so, dass er von den Strebe-
pfeilern unregelmässig unterbrochen wird und sich den älteren Theilen der
Kirche, "wie die gesammten Mauern des Schiffes, ohne organische Ver-
bindung anschliesst. Möglicher Weise benutzte man hiezu die vorhandenen
Steine vom Friese der älteren Mauern des Schiffes. — Im südlichen Kreuz-
arme, hoch zwischen den Fenstern, hängt ein altes Bild späterer deutscher
Schule, das nicht gerade schlecht zu sein scheint, über das sich jedoch,
bei der höchst ungünstigen Stellung, nichts Näheres sagen lässt.

Hoch über der Stadt liegt das alle Schloss von Freiburg. Bei schon
einbrechender Dämmerung — die Zeit erlaubte keinen längeren Aufenthalt
— wanderte ich den steilen Pfad hinauf; oben lag die herrlichste, gemach
verdunkelnde Landschaft, aus der nur die Windungen der Unstrut hervor-
leuchteten, zu meinen Füssen hingebreitet. In dem Hofe des wenig be-
wohnten Schlosses war es schauerlich einsam; durch viele lange Gänge
führte man mich zu der Schlosskapelle, die ich, wenn auch nur flüchtig,
zu sehen gewünscht hatte. Diese Kapelle gehört mit in die Reihe jener
interessanten kleinen Bauwerke romanischen Styles, deren sich verschiedene

Kugler, Kleine Scbriflen. I.- 12

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178 Deutsche Kirchen und ihre Denkmäler.

JKiwip.; UUIUHIII,^,««»

auf alten Schlössern, als zu Eger, Landsberg, Nürnberg u. a. 0., finden,
indem man zwei entsprechende Räume , den untern von schwereren, den
obern von leichteren Verhältnissen, übereinandergebaat und dieselben durch
eine viereckige Oeffnung in der gewölbten Decl^e des unteren verbunden
hat. Die Oberkapelle zu Freiburg ist von höchst zierlicher Construction.
Tn der Mitte steht ein Bündel schlanker Säulen von dunklem Marmor, —
vier um einen leichten viereckigen Pfeiler geordnet und mit reichen Blät-
terkapitälen geschmückt, — von dem sich breite Gurte im Halbkreisbogen
nach den gegenüberstehenden Wänden hinüberschlagen-, diese Gurte sind
mit einer Verzierung von hängenden, rundbogig geformten Zacken, ver-
sehen. Zwischen diesen Hauptgurten bilden sich vier kleine Kreuzgewölbe;
an den Wänden stehen einzelne, jenen erstgenannten ähnliche Marmorsäulen.
Jenem Säulenbündel entspricht aber in der Unterkapelle, in die man durch
eine Oeffnung der erwähnten Art hinabschaut, nicht eine ähnliche Einrich-
tung; dasselbe ruht vielmehr auf einem starken Gurtbogen (mit gleicher
Zackenverzierung), der von zwei festen, zu den Seiten stehenden Säulen
getragen wird.

(Nach meinem Notizbuche von 1834.)

Die Gemälde im Dome von Meissen, — dessen Architektur uns durch
Schwechten so vortrefflich dargestellt ist, — besichtigte ich mit dem
Buche von Hirt „Kunstbemerkungen auf einer Reise über Wittenberg und
Meissen nach Dresden und Prag" (Berlin, 1830) in der Hand. Auch mich
fesselte ganz besonders das grosse Altargemälde im Chore, welches in der
Mitte die Anbetung der Könige, auf den Flügeln den Joseph und einige
Apostel darstellt und von Hirt dem in der Eyck'schen Schule gebildeten
Fr. Herlin von Nördlingen zugeschrieben wird. Der einfach grossen An-
lage des Bildes, der lebendig naturgetreuen Charakteristik, der „unvergleich-
lichen Grazie und Anmuth" in dem Kopfe des Christkindes musste ich
dasselbe Lob zollen, wie der ehrwürdige Geleitsmann, dessen Weisungen
ich folgte. Die grossartige Gewandung schien mir der Art des Hubert van
Eyck, — besonders der des Gott-Vater auf dem Genter Altarbilde, — und
vielleicht noch mehr dem Style der altkölnischen Schule zu entsprechen;
die Arbeit im Nackten höchst auffallend nach Eyck'scher Art, nur nicht
ganz so fein; die Haare in der Behandlung ein wenig dicker, conven-
tioneller: die Kleiderstoffe, besonders das Pelzwerk, ohne sonderliche Cha-
rakterisirung. Die schmachvolle Uebermalung des Madonnenkopfes, den Hirt
früher unberührt gesehen hatte und dessen einstige Schönheit er kaum genug
zu preisen weiss, rief auch in mir die lebhafteste Entrüstung hervor.

Nicht minder zogen mich die Cranachischen Gemälde an, zunächst das
über dem Hauptaltare vor dem Chore des Domes, welches auf dem Mittel-
bilde die Kreuzigung Christi und darunter, nach altsymbolischem Bezüge,
die Opferung Isaac's und das Wunder der ehernen Schlange, auf den Innen-
seiten der Flügel die Auffindung des heiligen Kreuzes, auf der Aussenseite
den leidenden Christus und Maria, auf einem zweiten Flügelpaare die
Symbole der Evangelisten darstellt. Bei der Kreuzigung erschien mir
besonders die Gruppe der Maria sehr schön, höchst grossartig aber die der

') Und später durch Puttrich.

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IV. Reiseblätter vom Jahr 1834. 179

Opferung Isaac's: Abraham in lebhaft bewegter Geberde; der Engel, statt
des Armes, geradezu das Schwert fassend; Isaac knieend im weissen
Opfergewande , das in grossen Falten niederfällt. Das bei dieser Gruppe
befindliche Bild des Donators sehr ausgeführt, wie es sonst nicht in Cra-
nachs Art. Unter den vor der Schlange Knieenden ein Kopf, in Cranachs

Manier gemalt, sonst aber gänzlich aus dem Flügelbilde des Genter Altar-
werkes, den Einsiedlern von J. van Eyck (im Berliner Museum), entnom-
men, — mir zur Hälfte sichtbar, mit wildem Blick und wüstem Haar. Hirt
nimmt Antheil des jüngeren Cranach an diesem Bilde an. Den Einfluss
dieses Künstlers meinte auch ich in mannigfachen Aehnlichkeiten mit
meinem Naumburger und Merseburger Meister erkennen zu dürfen, beson-
ders in der Maria und dem Engel aussen, in einzelnen der kleinen Frauen-

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180 Deutsche Kircheu und ihre Denkmäler,

köjjfe auf den Innenseiten der Flügel, auch in andern Nachahmungen
andrer Meister.

Sodann das Gemälde in der Begräbnisskapelle Herzogs Georg des Bär-
tigen: der leidende Christus zwischen Maria und Johannes, darüber ein
Chor von Engeln: Donatoren und Heilige auf den Flügeln. Hirt hält das
ganze Werk für eine Arbeit des jüngeren Cranach, was mir bedenklich
schien. Die Engelchen des Mittelbildes, kleine nackte Genien, fand ich
denen ähnlich, welche über der Vermählung der heiligen Katharina im
Merseburger Dome schweben, aber ungleich anmuthiger, sehr an die Kinder
in dem schönen Bilde der Wenzelkirche zu Naumburg erinnernd. Maria
und Christus, die erstere zwar sehr schön, erschienen mir in auffallend
andrer Manier als der des älteren Cranach. Der neuerlich erfolgten
Restauration des Werkes konnte ich kein sonderliches Lob spenden.

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YOßSTÜDIEN ZUR ARCHITEKTUR-GESCHICHTE.

I.

ÜBER DIE RÖMISCH-CHRISTLICHEN BAUSYSTEME-

(Museum, Blätter für bildende Kunst, 1833, Nro. 41, flf.)

1. Gewölbe und Säule in der antiken Baukunst.

*

Die griechische Baukunst enthält die vollkommenste Ausbildung der
Säule, welche ein gerades Gebälk trägt. Hier ist, mögen die Verhältnisse
des Gebäudes schwer oder leicht sein, stets vollkommenste Harmonie
zwischen dem Tragenden, dem Getragenen und demjenigen Theile, welcher,
als der Vermittler zwischen beiden, das eigentliche, geschlechtliche Er-
kennungszeichen des Baustyles ist, — dem Kapitale.

Das Gewölbe war den Griechen in der Blüthezeit ihrer Kunst unbe-
kannt; oder wenn sie dasselbe kannten , so vermieden sie es absichtlich,
als den ausgebildeten Formen ihres einfach geradlinigen Systemes wider-
sprechend. Damit wir indess ahnen können, wie die Griechen, — falls
ihnen das Geschick eine längere Jugend vergönnt hätte, — auch in diesem
Bausystem ihr feines und edles Gefühl für schöne Form würden offenbart
liaben, so sind uns (zu Athen, in der Nähe des Windethurmes) einige
wenige Bogenstellungen aufbewahrt worden, welche in den Profilirungen
ihrer Kämpfergesimse^ noch acht griechischen Geist athmen und welche in
der Art, wie die Archivolten durch feine geradlinige Gesimse eingerahmt
sind, Alles hinter sich zurücklassen, was von den Römern im Bogen
erbaut ist

Als das älteste urkundlich bestätigte Denkmal des Gewölbebaues, und
zwar im Keilschnitt, gilt die Cloaca maxima zu Rom, aus der Zeit des Tar-
quinius Priscus^); mehrere etruskische Befestigungen zeigen gleichfalls,
wenn auch der Zeit nach nicht so bestimmbar' wie jenes, die frühe An-

Stuart: die Alterthümer von Athen, Lief. XV. pl. III. Inwood: The
Erechthcion of Athens, p, Ibß.
Einzelne ähnliche Bögen hat man neuerdings
auch an andern Orten Griechenlands, namentlich auf Delos, entdeckt. — Be-
schreibung der Stadt Rom von Platner, Bunsen, Gerhard und Rösteil, I. S. 151;
wo die Beweise für das angegebene Alter der Cloaca maxima gegen neuere
Zweifel.

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182 Vorstudien zur Architektur-Geschichte.

Wendung dieser Construction in Italien: wir werden mithin die Elrflndimg
derselben als eine altitalische in Anspruch nehmen, und eine direkte Fort-
bildung der den pelasgischen Völkern eigenen Thesaurenform darin erken-
nen dürfen. Denn wenn auch die bis jetzt noch nicht untersuchten Schutt-
hügel von Babylon, diesem Hauptsitz des Backsteinbaues, künftig, wie
einzelne Gelehrte zu vermuthen fast
geneigt sind, an diesem Ort eine noch
ältere Anwendung des Gewölbes zu Tage fördern sollten, so wird sich
doch schwerlich ein Zusammenhang zwischen jenen fernen Asiaten und den
Völkerschaften Italiens nachweisen lassen.

Im Kömischen Volk aber lebte nicht, wie in den Griechen, ein eigen-
thümlicher Kunstsinn, welcher sich zu einer freien, selbständigen Entwi-
ckelung durchgearbeitet hätte; ihr Element war das Praktische, dasjenige?
was sich auf Nutzen und auf Genuss bezog. Sie waren Meister in der
Anlage von Heerstrassen, Häfen, Brücken und Wasserleitungen, unüber-
troffene Meister in der Einrichtung alles dessen, was zu den Bequemlich-
keiten und Annehmlichkeiten des Lebens gehört^). Jener Mangel an
eigenthümlichem Kunstsinn zeigt sich nicht sowohl darin, dass sie überhaupt
eine fremde Kunst zu der ihrigen zu machen suchten, als vielmehr in der
Art, wie sie die fremde Kunst auffassten. Was bei den Griechen aus dem
Leben des Volkes, aus innerem Bedürfniss hervorgegangen war, das ward
bei ihnen der Gegenstand einer vornehmen Prachtliebe, einer willkürlichen
gelehrten Kennerschaft; was bei den Griechen unmittelbare, lebendige,
organische Form war, das ahmten sie als ein Gegebenes nach, berechneten,
construirten es. Betrachten wir z. B. das dorische Kapital, wie es von
den Griechen und wie es von den Römern gebildet worden ist. Bedeutend
und wirkungsreich in ihrer grösseren Ausladung, elastisch widerstrebend
gegen den Druck des Gebälkes zeigt sich die Linie des Echinus bei den
Griechen; bedeutungslos und nüchtern, nicht widerstrebend, nicht tragend
jene, durch einen willkürlichen Zirkelschlag gebildete Linie bei der
römischen Form.

Somit ist es leicht erklärlich, dass bei den Römern die Baukunst sich
nicht eigenthümlich durchbildete, obgleich sie ein eigenthümliches Princip
für dieselbe besassen; dass sie später, als sie die Schönheit und das Eben-
mass der griechischen Säule kennen gelernt hatten, die letztere als einen
wohlanständigen Schmuck ihrem Gewölbebau hinzufügten; dass sie endlich
als die von ihren ästhetischen Gesetzgebern sorglich eingehegte Kunst den-
noch in Willkür ausartete , beide verschiedenartige Elemente geradezu
vermischten, an die Stelle des Architravs einen Bogen über die griechische
Säule setzten.

Wenn indess die Römer auf der einen Seite jenes feinen Gefühls für
die P'orm entbehrten, so ist dessen ungeachtet ihre Baukunst doch im Besitz
eines eigenthümlichen Charakters, und zwar dessen, welcher sie zu Herren
der Welt gemacht hat. Und diese Grösse und Majestät in der römischen
Baukimst ist durch eben denjenigen Theil, den sie nicht von den Griechen
erlernten, der ihnen bereits früher eigen war, durch den Gewölbebau zu
Wege gebracht.

Griechische Riesenbauten, wie der Dianentempel zu Ephesus, der Ju-
pitertempel zu Agrigent, enthalten nur Vergrösserungen ihrer für mittlere
Verhältnisse berechneten Formen ; sie wirken wesentlich durch die Masse

') Das beweisen insbesondere die neuesten Ausgrabungen i)i Pompeji.

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I. Ueber die römisch-christlichen Bausysteirie. 183

des Gesteines. Die grossen Säle in den Riesenbauten der Aegypter haben
sogar (was eben in der Construction mit geraden Steinbalken liegt, die
keine bedeutende Entfernung der Stützen zulassen) etwas Beklemmendes
und Drückendes. Anders bei den Römern. Hier steigt über dem weiten
Raum der Rotunde ein freies, kühnes Kuppelgewölbe empor; hier spannt
sich über die Seitenmauern des Langbaues ein leichtes Tonnengewölbe ;
hier wölben sich stolze Bogen, den siegreich heimkehrenden Imperator zu
begrüssen ; hier erheben sich Arkaden über Arkaden, um Amphitheater
frei aufzuführen, die ein ganzes Volk zu fassen vermögen.

Freilich sind bei diesen Bauwerken die Theile des griechischen Sy-
stemes, Säule und Gfebälk, Avelche sich ihren Avechselseitigen Beziehungen
gemäss ausgebildet hatten, gewissermaassen willkürlich angewandt und
haben in der Regel keinen wesentlich constructiven Zweck; doch müssen
wir wiederum zugeben, dass sie bei den besseren Gebäuden der Construc-
tion nicht ohne eine gewisse Feinheit untergeordnet sind. So dienen die
Säulen im Pantheon dazu, den breiten Raum der Nischen minder augen-
fällig zu machen; so das über ihnen hinlaufende fingirte Gebälk, den Raum
bis zur Kuppel auf gleiche Weise angenehm zu theilen. So werden Halb-
säulen und Pilaster sammt ihrem Gebälk bei Triumphbögen und Amphi-
theatern angewandt, um, was ein Bedürfniss des Auges ist, dem Bogen
einen rechtwinkligen Einschluss zu geben; zugleich dienen dieselben hier
noch zu einer Verstärkung der Pfeiler. Grössere Willkühr ist es, wenn
bei den Triumphbögen diese Säulen völlig frei aus der Mauer hervortreten,
oder wenn die Mauern innerer Tempelräume auf gleiche Weise mit Säulen
geschmückt werden, welche als Träger von Statuen dienen sollen. Dieser
Umstand hat in der Regel ein widerwärtig verkröpftes Gebälk über den
Säulen zur Folge, eine der unangenehmsten Ausartungen antiker Baukunst.

Constructiv hingegen und nicht mehr als äusserlich hinzugekommene
Zierde erscheinen diese freistehenden Säulen mit vorgekröpftem Gebälk in
dem Friedenstempel und in dem Hauptsaale der Thermen Diocletian's (jetzt
Maria degli angeli) zu Rom^): auf ihnen nämlich ruhen die Gurten oder
vielmehr die Kanten der Kreuzgewölbe, mit welchen jene Hallen bedeckt
sind; die Mauern hinter den Säulen dienen nur als die Widerlagen der
Gewölbe. Mich dünkt, es ist dieser eigenthümliche Gebrauch der Säulen
bereits als Vorspiel mittelalterlicher Bausysteme anzusehen.

Zugleich aber, eben mit den Zeiten des Gallien und Diocletian, tritt
eine noch grössere Willkür und ein vollständiger Beginn der Auflösung
des antiken Systemes ein. So sehen wir, in den Thermen des Diocletian,
zwischen den Fenstern Säulen dreifach übereinandergestellt, deren oberste
statt des Gebälkes nur schräge Giebelgesimse tragen; Säulen, welche das
Kranzgesims tragen und auf Consolen ruhen, an Diocletians Palast zu Spa-
latro und an einem Thor aus Galliens Zeit zu Verona; gewunden canellirte
Säulen an demselben Thor; endlich, was das Bedeutendste ist, freie Bo-
genstellungen auf Säulen, und zwar unmittelbar auf dem Kapitäl derselben
aufsetzend, in Diocletians Palast2). In dieser Verbindung von Säule und
Bogen, in dieser frei phantastischen Benutzung antiker Elemente ist, mitten

Desgodetz: les edifices äntiquea de Ronie, pl. VJI, XXIV. — d'Agin-
court: Histoire de l'art par les monunlens depuis sfl decadence etc.'^ Architeclure
pl. II,
in. Adams: Ruins of the Palace of Diocletian at'Spalatro. Hirt:
Geschichte der Raukunst bei den- Alten pl. XIV, 25,

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184 Vorstudien zur Architektur-Geschichte.

im Verfalle der alten Kunst, der Beginn einer neuen, welche sich im
Mittelalter auf eigenthümliche Weise durcligebildet hat, noch bestimmter
ausgesprochen.

Dass diese Annahme nicht -willkürlich ist, niclit vielleicht nur auf
Zufälligkeiten beruhend, das beweisen gleichzeitig andere Umstände, -welche
der Geschichte der römisclien Staatseinrichtungen angehören und zu den-
selben Resultaten füliren. In dem von Diocletian eingerichteten Amte der
Defensoren in den Städten (welche den Schutzvögten des Mittelalters ver-
glichen werden), in der gleichzeitigen Sonderung der Städte, in der Ein-
führung des Verhältnisses des Gutsherrn zu den Colonen, in der Organisa-
tion einer ganz in Stahl gehüllten Ritterschaft u. s. w. erscheinen nicht
minder Vorzeichen gewisser mittelalterlicher Einrichtungeni). —

Noch ein anderer Umstand verhinderte es, dass jene Durchbildung
eines Bausystemes, dessen Hauptelemente Gewölbe und Säule sind, nicht
schon bei den Römern Statt fand: der furchtbare moralische Verderb,
welcher sich des Volkes bemächtigte und dasselbe in die Hände wahn-
sinniger Despoten, wildester Anarchie und endlich eingedrungener Barbaren
lieferte. Solche Zeiten eignen sich nicht für die Entwickelung einer neuen
Kunst. Einzelne Ruhepunkte, wie namentlich die Regierung Hadrian's,
waren ebensowenig im Stande, neue Lebenskraft in die Adern der Kunst,
als wie des gesammten Staates, zu giessen; und die Werke, welche der
Kunstsinn jenes Fürsten hervorgerufen , wurden von seinen Nachfolgern
keineswegs überboten.

Und dennoch! wenn wir gleich in den Kunstbestrebungen dieser Zeit
nicht mehr die Fähigkeit sehen, gewisse neu erscheinende Elemente ihrer
Bedeutung nach zu verarbeiten, so müssen wir auf der andern Seite
wenigstens die Lebenskraft und die Lebensfülle der griechischen Kunst
bewundern, welche sich so lange, unter so wilden Stürmen, erhalten konnte-,
freilich ist sie mehr und mehr in äusserlicher Nachahmung befangen, frei-
lich artet die Reinheit der Formen mehr und mehr in Schwulstund Ueber-
ladung aus. Doch erst in den Gebäuden aus Diocletian's Zeit sehen wir,
neben manchem Phantastischen in der Erfindung, gewisse Formen auftreten,
welche barbarisch zu nennen sein dürften 2); erst hier werden die Formen
des Ornamentes, wie häufig dasselbe auch angewandt sei, mager und flach.
Und erst in der Zeit Constantin's bemerken wir einen gewissen Mangel in
der Technik und eine, nicht sowohl dürftige, als rohe Einfachheit, welche
an die Stelle der früheren Ueberfülle des Details tritt. Das beweist, z. B.
eine Vergleichung derjenigen Ornamente seines Triumphbogens zu Rom,
welche von dem Trajanischen entnommen sind, mit den zu Constantin's
Zeit gearbeiteten In ihren Ilauptformen aber verräth die Architektur
auch noch in diesen Monumenten ihren hohen Ursprung und örscheint
edel und wohlverstanden^). Ich glaube endlich nicht mit Unrecht zu be-
haupten, dass, ob freiwillig oder gezwungen, die Architektur im Detail

1) F. Ch. Schlosser: Univprsalhist. Uebersicht der Geschichte der alten
Welt, Bd. III, Abthl. 3, S. 9, 16, 413. — Dahin rechne ich z. B., in Diocle-
tian's Palast zu Spalatro, gewisse Glieder in den Gesimsen mit schrägem, unge-
schwungenem Profil uud mit einer Zikzak-Verzierung. —
cVAyincourt, Arch.
■pl. 11, 10—16.
— Raphael und Castiglione an Leo X, in der Beschreibung
von Rom I, 270.

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I. Ueber die römisch-christlichen Bausysteirie. 185

dieser rohen Einfachheit bedurfte, wenn sich dasselbe, nach dem styllosen
Umherschweifen der letzten Zeit, wieder zu strengeren Formen bilden
sollte 0-

2. Die christliche Basilika,

Blit Constantin (306—337) beginnt die Geschichte der mittelalterlichen
Baukunst. Er machte, das Bedürfniss der Zeit wohl verstehend, das Chri-
steuthum zur Staatsreligion und begründete so für die heilige Bauktinst
mit verändertem Zweck eine neue Richtung; zugleich wurde, in den unter
ihm ausgeführten Bauwerken, die Anwendung des von Säulen getragenen
Rundbogens, die bisher nur ausnahmsweise vorkam, allgemein. Freilich
ging, wenn auch nicht der Sinn für grossartige Anlage, so doch die von
früherer Zeit überlieferte Technik immer mehr und mehr verloren, und wir
sehen in den nächsten Jahrhunderten unzählige Gebäude, was insbesondere
Säulen und sonstigen Schmuck anbetrifft, von dem Raube und den Trüm-
mern antiker Meisterwerke errichtet.

Der antike Tempel, wie er durch die Griechen (um nicht zu den
Aegyptern hinaufzusteigen) vorgebildet und von den Römern nachgeahmt
war, bestand in der Regel aus einer Celle, einem Raum von geringer Weite,
welche die Wohnung des im Steinbilde verkörperten Gottes war und wozu
zunächst nur der Priester (nicht eigentlich — oder doch nur ausnahms-
weise — die Gemeinde) den Zugang hatte. Hier wandte die Baukunst
ihre vornehmste Sorgfalt auf eine würdige Ausschmückung der Aussenseite,
und die drei Säulenordnungen, welche den Kreis dieses Bausystemes voll-
kommen abschliessen, waren ihr Ergebniss. Anders bei der christlichen
Kirche. Sie musste einen möglichst weiten Raum enthalten, um eine grosse
Versammlung zu gemeinschaftlichem Gebet, zu gemeinschaftlicher Erbauung
und Gedächtnissfeier in sich aufzufassen; sie musste durch ihre unmittelbare
Umgebung das Gemüth des Einzelnen emjjorziehen und heiligen.

Es ist natürlich, dass die christlichen Gemeinden bereits in den ersten
Jahrhunderten ilirer Entstehung, ehe das Christenthum eine öffentlich an-
erkannte Religion ward, eigener und von dem übrigen Verkehr abgeson-
derter Versammlungsorte bedurften. Grossentheils indess können dies nur
Räume

in Privatwohnungen gewesen sein; doch mögen die Christen au
Orten, wo die Verfolgungen weniger heftig waren, schon damals öffentliche
Gebäude zu diesem Zweck gehabt haben. Das beweist unter andern der
Umstand, dass Constantin nicht nur überhaupt viele Kirchen äüfführen,
sondern auch die in der vorhergehenden Verfolgung zerstörten neubauen
liess^). Dahin kann man ferner die Kirche von ISicomedien rechnen, deren
Zerstörung Lactantius erzählt; dahin die von Bischof Paulinus von Tyrus
in dieser Stadt gebaute Kirche, welche Eusebius'^) beschreibt. Auch kom-
men aus der Zeit vor Constantin bereits eigenthümliche Benennungen für
diese Versammlungsorte vor, als Kirche
(ecdesia), Bethaus (oratorium,
£vxT7]QLov),
Vcrsammlungshaus (convetiticida), Haus des Herrn (dominicum,

-HV^lUKOv) U. S. W.

0 Diese Bemerkung trifft insbesondre die, bereits dem vierten Jahrhundert
zugehörige Form des korinthischen Kapitals mit ungezackten, einfachen Schilf-
blättern, wie solche z. B. in S. Paul bei Rom vorkommt. —
Eusebius H. E.
X.
2. — Ib. X. 4. — 4) Vergl. Platner: Roms Basiliken und Mosaiken ; iii
der Beschreibung der Stadt Rom I, S. 417.

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186 Vorstudien zur Architektur-Geschichte.

Als Constantin im Anfange des vierten Jahrhunderts dem Christentlium
bürgerliche Reclite und Vorrechte gab, als er und seine Nachfolger dessen
Cultus mit orientalischem Pomp ausstatteten, konnte jenes Bedürfniss
seine vollkommene Befriedigung finden. Man begann auf's Eifrigste den
Bau christlidier Kirchen ; natürlich aher nicht nach jilötzlich ausgesonnenen
neuen Plänen, sondern nach dem Vorbilde derjenigen bereits bekannten
Gebäude, welche, was hier wesentlichstes Bedürfniss war, zur Aufnahme
einer grösseren Menschenmenge dienten, — nach dem Vorbilde der Basi-
liken. Auch weihete man nicht selten antike Basiliken zu diesem heiligen
Gebrauch.

Die Basiliken(Königliche Hallen) so genannt von dem Archon
Basileus, dem atheniensischen Oberrichter, welcher in der Basilika von
Athen Gericht hielt, dienten bei den Römern sowohl zu Gerichtssälen, als
zu Börsen für den Verkehr der Kaufleute. Sie hatten zumeist Va bis 72
der Länge zur Breite und waren in der Regel der Länge nach in 3 Schiffe
getheilt. Das mittlere Schiff, dreimal so breit als die Seitenschiffe, war
von diesen durch Sänlenstellungen getrennt und erhub sich über dieselben
und über die, durch eine zweite kleinere Säuleustellung gebildete Gallerie,
so weit, dass es durch Fenster von oben eigenes Licht bekam. Im Hinter-
grunde des Gebäudes, in einer halbkreisrunden Vorlage, befand sich das
Tribunal, auf der Vorderseite häufig eine Vorhalle
{Chalddicum). Die
Lage der Basilika war (von Ost nach West) mit der längeren Seite gegen
Mittag, um im Winter möglichst Wärme aufzunehmen. — Die auf uns
gekommenen kleinen Basiliken von Utricoli und von Alba am Fuciner-Se.e
sind ohne die genannte Gallerie. Die berühmte Basilika des Paulus Ae-
milius erscheint auf dem kajntolinischen Plane mit einer doppelten Säuleu-
stellung auf jeder Seite des Mittelschiffes und mit einer dreifachen vor
dem Tribunal^)-, zugleich auch ohne Seitenmauernwas indess öfter bei
den antiken Basiliken der Fall Avar.

Die christlichen Basiliken'), — für welche dieser Name des
Königlichen Hauses, als wohl passend, beibehalten wurde— wichen in
wesentlichen Punkten nicht von ihrem Vorbilde ab; sie behielten dieselbe
Lage von Ost nach West®). Nur vermehrten sie den Plan desselben häufig
durch die Einfülirung eines Querschilfes, welches in der Breite des Lang-
baues oder um ein Weniges über dessen Seitenmauern hervorragend, die
Tribüne von dem übrigen Theil der Kirche sonderte, und dessen Anwen-
dung die schöne Form des Triumphbogens am Ende des Mittelschiffes zur
Folge hatte. Eine einfache Symbolik, dem Grundplan auf solche Weise
die Gestalt eines Kreuzes zu geben, — vielleicht auch das Bedürfniss einer
grösseren Ausdehnung des Sanctuariums — scheint die Veranlassung zu
dieser Abänderung. Wir betrachten die einzelnen Theile der christlichen

VitTuv V, 1] VJ, 5. Ciampini opera 1, p. 7. Hirt: Geschichte der
Bauk. III, S. 180 ; T. XXII. K. 0. Müller: Archäologie der Kunst S. 342. —
Pirancsi: antichüa Roviatie J, pl. II, 51. Rossini: I sette colli di Roma
pl. yi. — So auch auf einer Müuze bei Ciampini, I, T. XXI, 4. — Vergl.
Ciampini a. a. 0. Platner a. a. 0. —
hidorus orig. Hb. 5: Basilicae prius
vocabantur regum habitacula, nunc autem ideo Basilicae Divina Templa 7iomi-
nantur, quia ibi regi onmium Deo cultus et sacrißcia offeruntur.
— ®) Eine
genaue Orieutirurig scheint indess bei den alten Basiliken Roms gar nicht durch-
geführt. S. demente und die Laterankirche liegen mit ihren ra<;,ideu nach
Osten.

$

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I. Ueber die römisch-christlichen Bausysteirie. 187

Basilika und die Bestimmung, welche ihnen durch Kirchenzucht und
Liturgie gegeben wurde. • <

Vor dem eigentlichen Gebäude (und namentlich bei den grösseren
Basiliken) befand sich in der Regel ein Vorhof
(Atrium, Paradisus, Qua-
driporticus)
in der Form eines Vierecks, so breit wie die Vorderseite der
Kirche; ringsherum mit Hallen umgeben, die nach aussen durch eine Mauer,
nach innen durch Säulenstellungen oder durch Arkaden gebildet wurden.
A'^or dem Eingange in den Vorhof stand ein Vestibulum
(Prothyrurn),
ein Vordach, von 2 oder 4 Säulen getragen. In der Mitte des Vorhofes
ein reich verzierter Brunnen
(Cantharus) zum Waschen der Hände, bevor
man die Kirche betrat, — als Symbol für die Reinigung der .Seele (das
heutige Besprengen mit Weihwasser). Zugleich diente der Vorhof als Auf-
enthalt für die Btissenden
(Lugentes, Pcenitentes), so wie zum Begräbniss-
platz für vornehme Personen. Ein Theil dieses Vorhofes hat sich bei den
meisten alten Kirchen als Porticus (m
antis) erhalten.

Das Innere der Basilika schied sich in zwei Haupttheile, deren vor-
derer, der grössere, für die Laien und niederen Geistlichen, der kleinere
für die Priester und den Altardienst bestimmt war. Der vordere Theil
(Aula, Templum), durch verschiedene Thüren, deren mittlere die könig-
liche
(Porta regia) hiess, mit dem Portikus verbunden, wurde der Länge
nach durch 2, zuweilen 4, Säulenreihen in3, zuweilen 5, Schiffe
(Navis,
Deamhraculum)
getrennt. Die Säulen Avaren meist ungleich, Spolien
verschiedener antiker Gebäude; über ihnen ruhten, von Halbkreisbögen,
zuweilen von geradem Gebälke, getragen, Mauern von nicht unbeträchtlicher
Höhe. Bei den Bogenstellungen blieb die Entfernung der Säulen vonein-
ander zumeist noch dieselbe engere, welche durch das gerade Gebälk
gebräuchlich geworden war. Die Bögen, mit oder ohne Einfassung der
Archivolte, setzten in der Regel unmittelbar über dem Kapital auf; erst später
wurde, was bei der Verbindung von Bogen und Säule nothwendig ist,
ein Aufsatz über dem Kapitäl, als Kämpfer (Impost) für den Bogen, allge-
mein. Ueber den Bögen lief ein gerades Gesims in horizontaler Richtung
hin. Ihr Widerlager fanden die Bögen an hervortretenden Wandpfeilern
oder, wenn ein QuerschitF vorhanden war, an selbständigen starken Pfei-
lern. Die Seitenmauern des breiteren Mittelschiffes, in der Regel mit
Gemälden oder Mosaiken geschmückt, erhoben sich soweit über die Seiton-
schiffe, dass die Dächer der letzteren an denselben eine Widerlage finden
und dass Fenster, zur Erleuchtung des Mittelschiffes, in ihrem oberen
Tlieil angebracht werden konnten. Eine Gallerie über den Seitenschiffen,
durch eine zweite kleinere Säulenstellung gebildet, deren Dasein Vitruv
in der antiken Basilika als Regel angiebt, kommt in der christlichen selten
vor. Bei der füufschifflgen Basilika wurden die Wände, welche über den
Säulenreihen zwischen den äusseren und inneren Seitenschiffen ruhten,
feiisterartig durchbrochen. Das äussere Seitenschiff" war ein wenig nied-
riger als das innere, beide hatten ein gemeinschaftliches Dach. Das Quer-
schiff war mit dem mittleren Langschiff gleich hoch. Die Fenster in den
Seitenwänden, deren Anzahl den Zwischenräumen zwischen den Säulen
und Wandpfeilern im Innern entsprach, so wie die Fenster in der Giebel-
mauer, waren im Halbkreisbogen überwölbt und statt des Glases mit Mar-
morplatten, welche mehrere Reihen kleiner Oeffnungen enthielten, ausge-
setzt. Später wurden sie durch eine oder zwei dünne Säulen in Arkaden
abgetheilt. In der Regel scheint die Basilika eine Decke von flachem

fr

; i

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188 Vorstudien zur Architektur-Geschichte.

Tafelwerk (Laquear, Lacunar), welche mit Metall belegt oder farbig ver-
ziert war, gehabt zu haben i). Gegenwärtig sieht mau bei den meisten alten
Basiliken frei in das Balken- und Sparrenwerk des Daches hinein; die
Querbalken ruhen auf mehr oder minder zierlich geschnitzten Consolen.
Die Fussböden wurden später, im 12ten und 13ten Jahrhundert, mit musi-
vischen Ornamenten
(Opus Alexandrinum) geschmückt; so erscheinen
gegenwärtig die meisten Basiliken.

Der hintere Theil der Basilika war das reich geschmückte Aller-
heiligste
(Sanctuarium^ Sancta Sanctoriiin). Dasselbe ward, wenn ein
Qiierschiif vorhanden war, durch einen grossen Bogen, Triumphbogen
(Arcus trmmplialis oüqy principalis), der in der liege! auf zwei hohen
Säulen an den Enden des Mittelschiffes ruhte, und sein Widerlager an den
hier befindlichen Pfeilern fand, von dem Mittelschiff getrennt, zuweilen
durch Vorhänge den Blicken der Ungeweihten verhüllt. Nach dem Schiff
zu war dieser Triumphbogen mit musivischen Bildern, meist aus der Apo-
kalypse (mit den Triumphen Christi), geschmückt. Zu dem von Schranken
(Cancelli) umgebenen, durch einige Stufen erhöhten Sanctuarium gehörte
die halbkreisrunde, mit einem halben Kuppelgewölbe versehene Vorlage des
früheren Tribunals, die Tribüne, so wie der Raum zunächst vor derselben, in
welchem der Ilauptaltar gelegen war.

Die Tribüne (Trihuna, Apsis, Absida, Preshyterium) diente, wie
in der heidnischen Basilika zum Aufenthalt des Richters und der Asses-
soren, so in der christlichen zum Aufenthalt des Papstes oder des stell-
vertretenden Bischofes und der höheren Geistlichkeit. Im Hintergründe
derselben befand sich der auf Stufen erhöhte Bischofstuhl
(Cathedra) \ zu
beiden Seiten, im Halbkreise umher, die Bänke der Priester. Das Gewölbe
der Tribüne war, wie die Aussenseite des Triumphbogens, mit musivischen
Gemälden verziert, welche in der Regel die Figuren des Heilandes und
besonderer Heiligen darstellten. In späterer Zeit erschienen zu den Seiten
dieser Tribüne, an den Enden der beiden Seitenschiffe, zwei ähnliche
kleinere Nischen.

Der Ilaup taltar ?nq;i<5) war auf einer oder einigen Stufen

erhöht und mit einem Altarhäuschen (Tahernaculum, Ciboriim) überbaut.
Letzteres bestand aus 4 Säulen zu den Ecken des Altares, welche Rund-
bögen und darüber einen flachen Giebel trugen, zuweilen mit einer Kuppel
Später erscheint ein gerades Gebälk über den Säulen, darüber eine kleine
Säulenstellung mit flachem Giebel.

Unter dem Hauptaltar befand sich in der Regel eine unterirdische
Kapelle
(Confessio, Testimonium, Memoria, Crypta), in welcher die
Gebeine des Heiligen ruhten, von dem insgemein die Kirche den Namen
führte. Der Zugang zu dieser Kapelle war durch ein Marmorgitter ver-
schlossen-. Die Form derselben war verschieden, bald ein einfaches Gruft-
gewölbe, bald ein architektonisch ausgebildeter Raum.

Der Ursprung und das Vorbild dieser Confessionen ist in den Kata-
komben von Rom^)
(Catacimiha, Arenaria, Crypta) zu suchen, welche,
ursprünglich Puzzolangruben, sodann als Begräbnissorte, insbesondere für

S. die Belege dafür bei d'Agincourt, Arcli. p. 124. — d'Agincourt:
Arch. p. 16 etc., woselbst auch (p. 21, n.) die Literatur über die Katakomben
bis auf ihn angegeben ist. Vergl. Rösteil; Rom's Katakomben und deren
Altertbümer, in der Beschreibung von Rom, I,
S. 355.

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1. üeber die römisch-christlichen Bausysteme.

Christen, als Zufluchtsorte derselben in den Verfolgungen, später (vom 4ten
.Jahrhundert ab) zur Feier der Märtyrerfeste dienten. Sie bestehen zu-
meist aus engen, häufig verworrenen -Gängen, in deren Seitenwänden die
niedrigen Grabstätten angebracht sind; sodann finden sich kleine archi-
tektonisch ausgebildete Räume, die indess fast immer nur wenige Fuss in
den verschiedenen Dimensionen haben und mit Malereien geschmtickt sind.
Diese Räume wurden als Kapellen für die genannten Märtyrerfeste benutzt
oder dazu eingerichtet. Man hat angenommen, dass gewisse, in grösseren
Nischen angebrachte und mit Marmorplatten belegte Grabstätten die Gebeine
besonderer Märtyrer enthalten, was indess aus andern Umständen zweifel-
haft bleibt. Da aber an einem solchen Feste in den kleinen unterirdischen
Kapellen nur wenig Menschen Antheil nehmen konnten, so baute man
über dem Eingange derselben eine Kirche, in welcher sich die Menge zum
Gebet versammelte. Hieraus sodann bildete sich die Sitte, das Grab des
Heiligen unter dem Altar als Confession anzulegen.

Im Mittelschiff, zunächst dem Altar, befand sich ein von Marmor-
schranken in einem länglichen Viereck umgebener Raum, der Chor (C/iorws),
in welchem sich die niederen Geistlichen
(Clerici minores) aufhielten,
welche den Chorgesang verrichteten Auf jeder Seite des Chores stand
eine Kanzel
(Amho), von deren einer das Evangelium, von der andern
die Epistel verlesen wurde 2). Neben der Kanzel des Evangeliums stand'in
der Regel eine kleine Säule zum Aufstecken der Osterkerze
(Cereum
paschale).
— In den Enden der Seitenschiffe (wenn ein Querschifl'
vorhanden war, etwa in den Flügeln desselben), zu den Seiten des Sanctu-
ariums waren ebenfalls 2 durch Schranken gesonderte Räume; der eine
von diesen hiess
Sejiatorimn, als für die Senatoren (d. h. vornehmen Män-
ner) und Mönche (für solche die nicht in Klöstern lebten), der andere
Matronceum, als für die vornehmen Frauen und Nonnen bestimmt. Auch
in den übrigen Theilen der Kirche standen die Männer auf der einen, die
Frauen auf der andern Seite; in der Mitte des Hauptschiffes, vom Chor
nach dem Eingange zu, war eine Schranke behufs dieser Trennung gezo-
gen. Bei Basiliken, welche eine Gallerie über den Seitenschiffen hatten,
war diese der Sitz für die Frauen. — Endlich war zuweilen auch noch,
vielleicht als Nachahmung griechischer Einrichtungen seit Justinian, ein
schmaler Raum zunächst dem Eingange durch eine in der Breite des
Gebäudes gezogene Schranke getrennt. Derselbe hiess
Nartliex (Geissei,
vermuthlich von seiner länglichen Form) und diente zum Aufenthalt der-
jenigen, welche nicht zur kirchlichen Gemeinschaft gehörten, aber zum
Anhören des Evangeliums und der Epistel und deren Auslegung
{Missa
catechumenorwn)
zugelassen wurden. Auch der Portikus wird Narthex
genannt.

Im Aeusseren waren die Basiliken in der Regel sehr einfach. An
den Seitenw^änden des Mittelschiffes und der niedrigeren Seitenschiffe liefen
die Reihen der im Halbkreis überwölbten Fenster hin; ebenso an der
Giebelwand, wo zuweilen 2 Reihen derselben übereinander angebracht
waren. In dem flachen Giebel selbst befand sich ein kreisrundes Fenster.

So erhielt sich der Chor in Italien bis In's l5te und 16te Jahrhundert; später
verlegte man ihn in das Sanctaariura. — Zuweilen kommt auch nur Eine
Kanzel mit einer höheren Abtheilung für das Evangelium, einer niederen für die
Epistel, vor.

189

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190 Vorstudien zur Architektur-Geschichte.

Diese Giebelseite über dem Portikus war, als die Haupt- und Eingangs-
seite des Gebäudes, vor den langen Seiten ausgezeichnet, zuweilen mit
musivisclien Gemälden verziert.

Glo cken-Thürme waren den Basiliken ursprünglich nicht eigen,
da ihr Gebrauch beim christlichen Gottesdienst erst mit dem achten Jahr-
hundert herrschend wurde. Die alten Thürme an den römischen Basiliken
welche zumeist dem neunten Jahrhundert angehören, sind in Einem Style
gebaut, viereckig, anstatt der Fenster mit kleinen, von Säulen gebildeten
Arkaden in mehreren Stockwerken übereinander, und mit niedrigem Dach.
Sie stehen stets an der Vorderselte der alten Kirchen (zuweilen unabhän-
gig neben denselben), zur Rechten, wenn die Tribüne gegen Morgen, zur
Linken, wenn dieselbe gegen Abend liegt.

Verschiedene Kapellen {^Oratoria), von viereckiger Form — meist
mit einer eigenen kleinen Tribüne, — von runder Form, insbesondere
Taufkapellen, kleinere Basiliken, Klöster und andere Gebäude wurden im
Verlauf der Zeit neben den grösseren Basiliken errichtet. Dahin gehören
auch die Triclinien, grosse Säle mit einer oder mehreren Tribunen
oder Nischen, zur Bewirthung der Pilger, zur Feier besonderer Agapen
(christliclier Liebesmahle) u. s. w.

Die Form der Basilika war indess nicht1 als so unbedingt wesentlich
bei dem Bau der christlichen Kirchen angenommen worden, dass man nicht
auch andere der vorhandenen Formen benutzt hätte. Dies ergiebt sich
schon durch den Umstand, dass man auch heidnische Tempel ohne "Wei-
teres zu christlichen Kirchen weihete^}.

So war die Form der Rotunde verschiedentlich bei dem Bau christ-
licher Kirchen angewandt. Doch bediente man sich hier, um einen grös-
seren Raum zu gewinnen und zweckmässig zu beleuchten (denn zu einer
Kuppel von der Ausdehnung des Pantlicons fehlten zumeist Mittel und
Kräfte) eines ähnlichen Ausweges, Avie bei der Basilika: indem mau näm-
lich die Wände eines mittleren Raumes, die von einer kreisrunden Säulen-
stellung getragen wurden, cylinderförmig über das Dach der Seitenräume
erhob und mit Fenstern versah. Dieser mittlere Raum erhielt in der Regel
ein Kuppelgewölbe; doch erscheint er auch, gleich der Basilika, flach
gedeckt.

Unter den Gebäuden dieser Form war die runde oder achteckige
Taufkirche
(Baptisteriwn) das wichtigste. Baptisterium^) ist der Name
des Schwimmteiches in den Thermen der Alten; warme Schwimmteiche
waren in Rom seit Mäcenas gebräuchlich. Sie hatten eine runde oder acht-
eckige Form, um durch ihre grossen Fenster möglichst viel Licht und Sonne
aufzunehmen. Diese Räume schienen den Christen zur Ausübung der
Taufceremonie, welche zu Anfang bekanntlich in völligem Untertauchen
bestand, geeignet; man widmete deren zu diesem heiligen Gebrauch, man

Dahin gehört insbesondere das Pantheon, welches um 610 als S.
Maria ad martyres geweiht ward. — Die wiederkehrende Achtzahl bei christ-
lichen Taufkirchen und Taufsteinen hat eine mystische Bedeutung in Bezug auf die
Auferstehung Christi am 8ten Tage, d. h. am ersten Wochentage nach dem Sab-
bath (Siebenten). S. von der Hagen: Briefe in die Heimat, IV. S. 293.— ') Hirt:
a. a. 0. III., S. 243.

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I. Ueber die römisch-christlichen Bausysteirie. 191

behielt ihre Gestalt als Vorbild, sowie ihren Namen bei, welchem letzteren
man eine symbolische Bedeutung unterlegte, ähnlich, wie es bei der Basi-
lika geschehen war. In der Regel hatten nur die Kathedralen in den frühe-
ren Zeiten das Vorrecht der Taufe; in der Nähe dieser Hauptkirchen findet
man daher als Nebengebäude die Baptisterien.

3. Veränderungen im christlichen Basilikenbau.

Vom Anfange des vierten bis etwa zum Anfange des elften Jahrhun-
derts wurde, im Occident, die Form der Basilika für das christlishe Gottes-
liaus angewandt, — im Allgemeinen nach den angegebenen Principien,
im Einzelnen aber mit Veränderungen, welche durch verändertes Bedürf-
niss und Vermögen der späteren Zeit hervorgebracht wurden. Das vierte
bis siebente Jahrhundert bildet die erste, das achte bis zehnte Jahrhundert
die zweite Periode des altchristlichen Basilikenbaues. Die Verschieden-
heiten in den Bauweisen dieser beiden Perioden sind von einem neueren
Forscher, Cordero, in seinem
Ragionamento delV italiana Architettura
durante la dominazione Longoharda
, §. II., zusammengestellt worden ;
ich lasse diesen Theil seiner inhaltreichen Schrift in der üebersetzung fol-
gen. Ich bemerke nur vorher, dass Cordero die Baukunst des Mittelalters
in eine alt- und neugothische (byzantinische oder, romanische, und
gothische oder germanische) und die altgothische in zwei Perioden theilt,
davon die erste eben bis zum elften Jahrhundert geht; und dass er ge-
wisse eigenthümlich orientalische Motive in der Baukunst annimmt,
durch welche namentlich die Reinheit der classischen Architektur gebrochen
und das sogenannte Verderben des Mittelalters hereingeleitet sei. Folgen-
des ist, was er über den bezüglichen Gegenstand sagt.

}

.... Wenn wir die Bauart all' dieser heiligen Gebäude (des achten
bis elften Jahrhunderts), insbesondere der Basilika von Pola (in Istrien)
und S. demente (al monte Celio) zu Rom, betrachten, so möchten wir auf
den ersten Blick geneigt sein, keinen Unterschied zwischen dieser und der
Bauart der römischen und ravennatischen Basilikendes fünften oder
sechsten Jahrhunderts anzunehmen; so sehr stimmen dieselben noch in
vielen Dingen überein. Und dies eben ist das Urtheil des trefflichen
d'Agincourt und vieler anderen Schriftsteller, die sonst in diesem Zweige
des Wissens Autorität haben

Untersuchen wir aber die Bauart dieser Periode genauer, so bemerken
wir gleichwohl an ihr nicht wenig Eigentliümlichkeiten, welche zumeist
aus Einflüssen der orientalischen Architektur entstanden sind. An den
älteren Basiliken von Rom und von Ravenna kommen dieselben nicht vor,
wenn sie nicht, was freilich häufig der Fall ist, in den in Rede stehende
Jahrhunderten hinzugefügt sind. Diese verschiedenen Eigenthümlichkeiten

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192 Vorstudien zur Architektur-Geschichte.

sind bemerkbar genug, um dieselben als charakteristische Unterscheidungs-
zeichen der früheren von den späteren Basiliken hinstellen zu können: wir
wollen dieselben näher untersuchen.

Eine dieser Eigenthümlichkeiten, die mir besonders häufig an den hei-
ligen Gebäuden des neunten Jahrhunderts aufgefallen ist, besteht in der
Gestalt und der grösseren oder geringeren Anzahl ihrer Fenster. Die
Basiliken aus den ersten Jahrhunderten des Mittelalters, von Constantin bis
auf Karl den Grossen oder bis kurz vor der Regierung dieses Fürsten,
hatten in der Regel eine grosse Anzahl weiter Fenster; die Gebäude selbst
waren sehr geräumig, gleich den profanen Basiliken der Alten, welche
ursprünglich zum Vorbilde jener gedient hatten. Gegen die Mitte des achten
Jahrhunderts aber, als die Neuerungen der Byzantiner und Araber in den
westlichen Ländern Eingang fanden, ward das Licht verhasst und man ver-
langte Fenster von immer schmalerer, mehr länglicher, engerer Form, mit
divergirenden Seitenflächen, und in geringerer Anzahl.

Yiele Beispiele über die Eigenthümlichkeiten tler Fenster sind bereits
von Ciampini beigebracht i); ich könnte diesen nicht wenige aus eigener
Beobachtung hinzufügen. Doch mögen die folgenden, für frühere sowohl,
als spätere Zeit, als Beweis für meine Behauptung genügen. In Rom exi-
stiren noch in ihrem früheren Zustande eine Menge der alten Fenster in
der von Constantin errichteten Basilika S. Maria maggiore; sie sind weit
und von regelmässiger Form, im Verhältniss der Höhe zur Breite wie 8
zu 5. Ebenso waren die Fenster der alten Basilika des heiligen Petrus
auf dem Vatikan, nach den Berichten Ciampini's und nach den Zeichnun-
gen Alfarano's von beträchtlicher Weite, und zwar im Verhältniss von
4 zu 3. Auch die Fenster von S. Paolo fuor delle mura, von den Rotun-
den S. Costanza und S. Stefano, von S. Martino ai monti, S. Sabina, über-
haupt aller römischen Kirchen aus dem vierten, fünften und sechsten Jahr-
hundert, ehe sie in folgender Zeit mehr oder weniger verändert wurden,
entsprachen dieser Einrichtung.

Dasselbe habe ich auch in Ravenna bemerkt, wo die Fenster der präch-
tigen Basilika S. Apollinare in Classe, aus den Zeiten der Gothen und des
Justinian, sehr zahlreich und weit, so breit wie hoch, sind. Dasselbe
Verhältniss bemerkt man auch in denen von S. Vitale, obgleich diese, dem
Styl des Gebäudes entsprechend, von anderer Form sind, mit Säulchen in
der Mitte. Und so überhaupt sind in Ravenna die Fenster von allen
anderen Gebäuden aus den Jahrhunderten des Honorius, des Galla Placidia
und des Theodorich

An der Kathedrale von Pola hingegen, an der Basilika S. demente al
monte Celio und an allen andern Kirchen des neunten und folgenden Jahr-
hunderts sind oder waren alle, zum ursprünglichen Bau gehörigen Fenster
sehr klein und in der angegebenen Weise eingerichtet. Die wenigen, in
San demente noch vorhandenen alten Fenster sind so lang und so eng,
dass das Verhältniss ihrer Dimensionen wie 5 zu 1 ist. Einen sonderbaren
Umstand bemerkt man in einer der ältesten Basiliken, dass nämlich die-
selben Fenster die Anfangs weit waren, im neunten oder zehnten Jahr-
hundert verengert, nachmals aber, gegen das vierzehnte Jahrhundert, aufs
Neue erweitert worden sind. Und nicht selten endlich ist es, dass man

Vetera monim. V. /; c. 9] p. 75. — Sev er an o. Memorie sacre.
— Amadesi: Chron. antist. ravennatum. Vol. I, p. 91.

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I, lieber die römisch-christlichen B^usysteine.

in vielen Gebäuden des elften, sogar'noch des zwölften Jahrhunderts, die
zu der ersten Periode des altgothischen Styles gehören, so enge Fenster
sieht, dass sie, durchaus wie lange schmale Schiessscharten, zwölf- oder
sechzehnmal so hoch wie breit sind.

Dieser Gebrauch wurde übrigens nicht nur in Italien, sondern auch in
dem gesammten übrigen Europa eingeführt; und obgleich die Klrchenfen-
ster bei der Veränderung, die der altgothische Styl um den Beginn seiner
zweiten Periode erlitt, ein wenig von ihrer ursprünglichen Grösse wieder
erlangten, so sieht man doch Fenster von der, bei den ältesten christlichen
Basiliken gebräuchlichen Weite nicht eher als an den Gebäuden des neu-
gothischen Styles. -

Ich weiss nicht, woher eine solche Liebe zur Dunkelheit bei uns in
diesen Jahrhunderten der Yerderbniss entstanden ist. Indess zeigen sich,
zur Zeit des Justinian, die Fenster der Sophienkirche zu Constantinopel
bereits von entschieden kleinerer Gestalt; und in unseren Kirchen gab zu
jener Verengung, zu jener Schiessschartenform' der Fenster, vielleicht die
Seltenheit oder der Mangel des Glases und der durchsichtigen Steine, mit
denen sie verschlossen und die Tempel vor dem Wetter geschützt werden
konnten'), die Veranlassung gewiss mehr, als das Bedürfniss der Sammlung.

Ausser den Fenstern aber sind an den Gebäuden jdes achten, neunten
und zehnten Jahrhunderts noch verschiedene findere Eigenthümlichkeiten
zu bemerken, die nicht minder zu ihrer Unterscheidung von den _ älteren
dienen. Ich will sie in derselben Ordnung aufzählen, wie sie sich mir bei
solchen Untersuchungen dargethan.

Zuerst also bemerkte ich in fast allen italienischen Kirchen nach Karls
des Grossen Zeit den Boden vermittelst einer Stufe in zwei Theile geson-
dert; diese Stufe befindet sich ungefähr in der Mitte der Kirche, bei dem
Anfang der Schranken, die den, in der Mitte des Hauptschiffes, vor dem
Altar, gelegenen Chor einschliessen.

Bei dem Bibliothekar Anastasius, der, in seinen Lebensbeschreibungen
der Päpste, doch so oft der römischen Kirche und ihrer einzelnen Theile
erwähnt, linde ich der Chöre, die auf eine solche Weise gestellt und mit
Schranken umgeben waren, nicht vor der Zeit des Papstes Gregor II., gegen
die Mitte des achten Jahrhunderts, erwähnt^); während im Gegentheil,
unter dem Pontifikat des prachtliebenden Hadrian L, des Freundes von
Karl dem Grossen, und Linter seinem Nachfolger Leo HI., die Erwähnung
der Chöre oder Presbyterien, welche entweder von diesen Päpsten neu ein-
gerichtet oder mit Schranken von Marmor und Erz umgeben wurden, sehr häufig
ist Mir ist es somit sehr wahrscheinlich, dass damals der Gebrauch,
jener Stufe eingeführt worden sei, um denjenigen Theil der Kirche, in

') In basilica constantiniana D, N. Jesu Ch. fenestraa de absida ex vitro
diversis coloribus conclusit, et decoravit, et alias fenestrad basilicae ex metallo
cyprino reparavit. Anast. bibl, in vita Leonis III. p. 408. — ä) Hic (Orego-
rius) F. p, concessas sibi columnas sex onychinas volubiles ab Eutychio exarco
duxit eaa in ecclesiam B. Fetri Ap.; quas statuit circa praesbiterium ante con-
fessionem . . . juxta alias antiquas sex lithoparias, supra quas posuit trabes, et
vestivit etc. Anast. bibl. in vita Oregorii IT. n. 194. — '') Fecit et rüg es in
praesbiterio a parte virorum et mulierum .... nec non et alias rugas in caput
praeshiterii ante confessionem .... rugas in ingresm praesbiterii. Ib. in vita
Hadriani 1. n. 349 et 361. , '

Kiislcr, Kleine Schrificn. I ' '13

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194

Vorstudien zvir Arcliitektur-Gescliichte.

Avelcliem der Clior mit seinen Kanzeln eingerichtet werden sollte, über den
andern zu erhöhen.

Der Boden der alten Basiliken hingegen, die vor dieser Zeit erbaut
waren, lag bis zur Confession oder bis zur Tribüne durchaus in einer und
derselben Ebene, ohne Stufen und Erhöhungen irgend einer Art. Und
wenn wir heutiges Tages dergleichen in jenen Gebäuden bemerken, so
können wir es bestimmt als spätere Umänderungen, der veränderten kirch-
lichen Disciplin entsprechend, annehmen. Dies erhellt zur Genüge aus
dem Umstände, dass in diesen alten Basiliken, gerade da, wo solche Er-
höhungen nachmals hinzugefügt worden sind, die Basen der Säulen, oder
selbst ein Theil der Schäfte, auf ungehörige Weise eingegraben erscheinen.
Die Beispiele von Veränderungen der Art sind übrigens nicht selten.

Ich habe sodann bemerkt, dass man in den Peristylen dieser Kirchen
anfängt, Pfeiler an die Stelle der Säulen unter die Bögen zu setzen* aber
Pfeiler von einfach viereckiger Form, ohne Streben, Pilaster oder Halb-
säulen-, sehr verschieden von jenen so seltsam gebildeten und zusammen-
gesetzten, welche später, gegen das elfte Jahrhundert, in der zweiten
Periode dieses altgothischen Styles in Gebrauch kamen. So wurden diese
Kirchen zum Theil bereits des vornehmsten, oder vielmehr des einzigen
Schmuckes, der ihnen in diesen Tagen der Armuth noch übrig geblieben
war, beraubt, — ich meine, der Säulen.

Im Anfang waren dieser Pfeiler nur zwei; soviel und nicht mehr sieht
man in der Basilika S. demente und in fast allen anderen oben genannten.
Diese Pfeiler befanden sich an der Stelle, wo die erwähnte Stufe den An-
fang des Presbyteriums bezeichnete. Von da ab ward die Zahl derselben
nach und nach vermehrt; so dass man, vom elften Jahrhundert ab, in der
zweiten Periode des altgothischen Styles, als die mittelmässige Grösse der
früheren Kirchen nicht mehr genügte und weitere und geräumigere Tempel
und Kathedralen verlangt wurden, die Anwendung der Säulen fast gänz-
lich unterlassen musste; denn oft wäre es unmöglich, stets zu kostbar
gewesen, Säulen von solcher Festigkeit, dass sie ihrem Zwecke genügt
hätten, anzuschaffen, Pisa zwar und einige wenige andre Städte haben
solche Wunderwerke unternommen.
 I

Ferner habe ich bemerkt, dass es gegen das neunte Jahrhundert mehr
als früher in den Gebrauch kam, Gewölbe an die Stelle des hölzernen
Täfelwerkes oder des einfachen offenen Sparrenwerkes zu setzen, mit
welchem die ältesten Christen in ihren Basiliken zufrieden waren. Auf
diese Weise wussten die Architekten jener Tage die übertriebene Höhe der
über den Bögen der Peristyle befindlichen Mauern zu verringern und ihren
Gebäuden bessere Verhältnisse zu geben; wenn sie damit nicht zugleich
der Solidität und jener erhabneren Pracht Eintrag thaten, Avelche letztere,
abgesehen von den Regeln des reinen Geschmackes, stets in der ostiensischen
Basilika ausserhalb Rom's (S. Paolo), in S. Apollinare in Classe, in S-
Frediano zu Lucca u. s. w. den Beschauer ergreift. Im Orient indess war,
wie es scheint, der Gebrauch, die heiligen Gebäude, besonders ihre Seiten-
schilVe, mit Gewölben zu bedecken, schon zur ^eit des Justinian allgemein,
da Procop, in seiner Abhandlung über die von diesem Kaiser errichteten
Gebäude, ausdrücklich sagt, dass sie mit Gewölben bedeckt waren ').

m

') Quas fastigiata testudo, et aurum-venustant. Procop. de aedificiis
Jusliiiiani. In orat L

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1. Ueber die römiscli-cliristiicheu Bausysteme. 195

Dann ist es mir aufgefallen, dass, wenn man in den Basiliken von
Ravenna und in anderen Gebäuden des fünften oder sechsten Jahrhunderts
alle Kapitale, oder wenigstens den grössten Theil derselben, nach orienta-
lischer Art, wie die der Sophienkirche oder die von S. Vitale'), gebildet
sieht, dies nicht bei den Basiliken der anderen italienischen Städte aus der
in Rede stehenden, späteren Periode der Fall ist; in der Regel gehören
hier die Kapitäle, wie sie auch — wenn nicht vielleicht selbst Werke
aus besserer Zeit— roh gearbeitet sein mögen, irgend einer Ordnung der
römischen Architektur an, zumeist der korinthischen oder der componirten.
Die der Basilika S. demente sind alle ionisch und wahrscheinlich älter
als das Gebäude. Die Kathedrale von Pola zeigt zwar in diesem Umstände,
so wie in der schon ein wenig zur Spitze sich neigenden Form ihrer
Bögen einige Ausnahmen; aber man muss bedenken, dass diese Stadt zu
jener Zeit noch mehr griechisch als italienisch war.

Ausser den Kapitälen und den Kranzgesimsen sieht man selten Sculp-
turen in den Kirchen des neunten und zehnten Jahrhunderts; und wenn
deren einige vorkommen, wie die an den Schranken in S. Clemente, so
sind sie entweder iu maurischem oder orientalischem Geschmack, oder in
jenem Styl, welcher Verschlingungen, Blätter und andere ähnliche Arabesken
in sehr tlachem Relief bildet und besonders zur Zeit der Longobarden, im
siebenten und achten Jahrhundert, angewandt wurde. Sculpturen, die in
der That, was ihren Styl anbetrifft, nicht durchweg zu verachten sind; die,
wenn sie einerseits auch nicht mit den Antiken verglichen werden dürfen,
andererseits doch bei weitem weniger barbarisch und roh sind, als wie jene
gräulichen Fratzen von Ungeheuern, Menschen und Thieren, die, vom elften
Jahrhundert ab, so häufig zuz Verunstaltung der Dekorationen in den hei-
ligen Gebäuden dienten; Darstellungen, um derenwillen, im Anfange des
zwölften Jahrhunderts, der heilige Abt Bernhard in einem Briefe an den
heiligen Abt Theodor grosse Beschwerden erhob. Andre jedoch, die die-
selben als Symbole betrachteten, unter deren Schleier die geheimeren Wahr-
heiten der Religion ausgedrückt seien, waren minder streng in ilirer Ver-
dammung Wenn dies von einigen jener Darstellungen in Wahrheit«
gesagt werden kann, — so von der offenen oder halbgeschlossenen Hand,
von den Thieren und Menschen, die von Ungeheuern verschlungen werden,
von jenen Labyrinthen, die, mit entsprechenden Beischriften, häufig beim
Eintritt in die gothischen Kirchen vorkommen, wie man deren z. B. noch
in der Kathedrale von Lucca, in denen von Strassburg und Amiens sieht,
früher auch in der Kirche von San Michele zu Pavia*); so ist doch ohne
Zweifel der grösste Theil dieser Sculpturen nichts weiter, als abenteuer-
liche Phantasieen von rohen Künstlern der Zeit.

Eine andere Eigenthümlichkeit habe ich, nach der Angabe Ciam-

') d'Agincourt a. a. 0. T. LXIX n. 8, 9.— 2) d'Agincourt. T. LXV.

— So findet sich folgende Stelle in den Vorschriften, welche der heilige Erz-
bischof Carl Borromaeus in seiner vierten Provincial-Synode über den Kirchen-
bau erlassen hatte:
übi ostium sculptura leonum ornari debet exemplo templi
Salomojiis, qui in basibus illos sculpi jussit ut praesulum indicaret vigilantiam.

— ••) Das Labyrinth der Kirche von Pavia war von Reimversen begleitet, z. B.:
Theseus intravit monstrumque biforme necavit. S. Ciampini. De aacria aedif.
c. JV, p. 129.
Vom Theseus spricht ebenfalls die Beischrift des zu Lucca be-
findlichen. S. Guida di Lucca, facc, 27.

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212

Vorstudien zur Aroliitektur-Geschiclite.

pini's '), ebenfalls an den Basiliken dieser Zeit bemerkt, nämlich die, dass
zuweilen das eine der Seitenschille breiter ist als das andre.. In der ge-
nannten Kirche S. Clemente ist das linke Seitenschiff um ein Drittel breiter
als das rechte. Diese Verschiedenheit, die indess nicht überall gleich ist,
war bestimmt nicht zufällig; ich habe sie an sehr vielen Kirchen, die im
Styl dieser Zeit, auch nach dem Jahre 1000 erbaut sind, besonders in
Toscana, wahrgenommen. In den Gebäuden des mehr ausgebildeten gothi-
sclien Styles hingegen sieht man diesen Gebrauch nicht mehr, und noch
weniger in den alten Basiliken aus der Zeit vor dem achten Jahrhundert.
Procop giebt uns darüber, indem er von den Basiliken seiner Zeit spricht,
folgenden Aufschluss: „Auf beiden Seiten sind die Portiken (Seitenschiffe)
. . . deren einer die betenden Männer, der andre die Weiber in sich auf-
nimmt; im Uebrigen sind sie nicht von einander verschieden 2)."

AVeiter habe ich gefunden, dass man sowohl in der Kirche San Cle-
mente, als in den anderen gleichzeitigen, noch nicht jene sehr bedeutende
Erhebung des Bodens vor der Tribüne bemerkt, die sich nachmals, um
das elfte Jahrhundert, sowohl in Italien als jenseit der Alpen, in den
meisten, der zweiten Periode des altgothischen Styles angehörigen Gebäuden
angewandt findet. In den ältesten Basiliken ist die Tribüne kaum eine
oder zwei Stufen über dem übrigen Boden der Kirche erhöht. Später,
gegen das neunte Jahrhundert besteht die Zahl dieser Stufen schon aus drei
oder vier, und soviel sind es in S. Clemente. Endlich, mit dem Anfange
des elften Jahrhunderts .stieg ihre Zahl bis auf 10 oder 12; indem man
damals anfing, den Tribunen eine grössere Ausdehnung als früher zu geben,
zumeist, um in ihnen den Chor anzubringen.

Zwei Motive, wenn ich es recht verstehe, haben besonders dies immer
höhere Anwachsen bewirkt. Einmal war es die blosse Absicht, dem Chor
oder Presbyterium eine ausgezeichnetere Lage zu geben, es auf dem so
erhöhten Boden der Tribüne dem Altar näher zu bringen und zugleich das
Mittelschiff freier zu machen. Sodann verband sich mit diesem Grunde ein
anderer, der nämlich, dass man auf solche Weise leichter im Stande war,
unter dem Altar jene unterirdischen Sanktuarien, die Confessionen, in
denen man besonders die Reliquien der Heiligen verehrte, mit grösserer
Pracht und minder tief anzulegen.

Das älteste Beispiel, welches mir von einem auf solche Weise erhöhten
und mit dem Bau der Kirche gleichzeitigen Presbyterium oder Tribüne vor-
gekommen, ist das von S. Miniato al monte bei Florenz; einer Basilika,
die nach dem einstimmigen Zeugniss aller florentinischen Geschichtschreiber
gegen das Jahr 1013 von dem Erzbischof Hildebrand, zur Zeit des Königes
und nachmaligen Kaisers, Heinrichs II. gegründet ist '^), die in demjenigen
Theile ihres Innern, wo sie im dreizehnten Jahrhundert nicht verändert
worden ist, sich noch wenig von der von S. Clemente unterscheidet*).

Nach der Basilika S. Miniato zeichnet sich in Italien durch diese Ei-
genthümlichkeit die alte Abteikirche von Montecasino aus, die bekanntlich
im Jahre 1066 von dem Abt Desiderius gegründet wurdehier waren es
schon acht Stufen, auf denen man zum Hauptaltar emporstieg Nach

Ciampini. Vet. monim. V. I, p. 16. Maffei. Verona illust. p. JJI, c. 3.
— Proeop. De aedißciia Justiniani. In orat. I. — 3) Machiavelli,
Storie fiorentine, Lib. L - d'Agincourt. T. XXV. n. 23. — Leo Host,
Chron Mont. Casin. L. III, c. 28.
bei Muratori R. It. Scr, v. IV. ~ Erasmi
Gattola. Ilist. Abbat. Casin. v. I, p. 164.

'fM'---'

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I. Ueber die römisch-christlichen Bausysteirie. 197

dieser Zeit, d. h. gegen das Ende diis elften Jahrhunderts, wurde die l^r-
richtiing dieser Confessionen , "welche die alten Krypten oder Katakomben
ersetzen mussten, und der Gebrauch, den Boden der Tribüne zu erhöhen,
sowohl bei uns, me in dem übrigen Europa, fast Regel

Damals nun trat die zweite Periode des altgothischen Styles in Italien
ein und begann zunächst damit, dass den Tribunen eine grössere Tiefe
gegeben wurde, wodurch die Kirchen das lateinische Kreuz in ausgedehn-
terer und bestimmterer Form zum Grundplan bekamen. Und nicht selten
wurden damals in den Basiliken aus älterer Zeit, die entweder gar keine
oder eine zu niedrige, dunkle und enge Confession hatten, Erhöhungen der
Art aufgeführt, ohne^dass man bedachte, dass man auf diese Weise die
ursprüngliche Architektur der Kirche verderbe , dass man die Höhe des
Bogens der Absiden ausser Verhältniss verringere, und dass man endlich
auf die unschicklichste Weise einen grossen Theil von den Schäften der
Säulen, die der Abside zunächst standen, verstecke. Daher sind, nach
meiner Meinung, diejenigen Kirchen, in denen eine allmählige Erhöhung der
Art Statt gefunden hat, was auch die Veranlassung gewesen sei, bestimmt
älter als das elfte Jahrhundert; um den Anfang dieses Jahrhunderts oder
später erbaut dagegen diejenigen, in denen eine solche Einrichtung sich
als gleichzeitig mit dem Gebäude ausweist. Zu den ersten, um hundert
anderer zu geschw^eigen, gehören, in Rom: die alten Basiliken S. Giovanni
e Paolo, S. Pancrazio, S. Grisogono u. s. w.; in Ravenna: S. Apollinare
in Classe; in Lucca: S. Frediano und S. Michele; in Istrien: die Kathe-
drale von Pola u. s. ^v. Zu den zweiten, um nur solcher zu erwähnen,
die meinem Vorhaben entsin-echen, die Basiliken S. Michele magiore zu
Pavia, S. Zenone in Verona, die Kathedralen von Parma, von Modena
u. s. w.

Endlich habe ich bemerkt, dass unter den heiligen Gebäuden aus der
Zeit Karls des Grossen, aus dem neunten und zehnten Jahrhundert, die-
jenigen noch selten sind, welche-im Plan die Gestalt eines vollständigen
lateinischen Kreuzes zeigen, obgleich einzelne Beispiele der Art auch in
den Basiliken der früheren Zeit vorkommen: in den Kirchen von gothischem
Styl begann diese Form sich erst mit dem elften Jahrhundert mehr zu
verbreiten. Viel seltener aber war in jenen Gebäuden noch die Form des
griechischen Kreuzes oder die runde oder achteckige Form, wenn sie nicht
etwa zu Baptisterien bestiijimt waren.

Zu jener Zeit war, trotz des Beispieles, welches die Aachener Kirche
gegeben hatte, der Gebrauch, die Säulen zum blossen Schmuck anzuwenden,
no'ch nicht abgeschafft. Damals waren die doppelten Gallerieen in den
Basiliken noch nicht im Gebrauch oder- nur sehr selten; man theilte nocli
nicht, nach byzantinischer Manier, Bögen und Fenster durch kleine Säulen.
Drei Absiden waren zwar zuweilen vorhanden, eine am Ende'eines jeden
Schiffes, wie dies noch heute in S. demente "in Rom der Fall ist, und
ihnen entsprechend, drei Altäre; diese aber nicht in grösserer Anzahl, wie
man nachmals, seit dem elften Jahrhundert, eine solche Einrichtung traf.
Auch war es damals noch nicht Sitte, die Fa^aden mit werten musivischen

') Veruiuthlich war der Pap^t Paschalis 1. der erste, welcher das Beispiel
zu einet ähnlichen Erhöhung in der Basilika S. Maria niaggiore zu Rom, gegen
das Jahr 820, gab:
ut Pontifex consortia populorum declinarc potuisset, S.Ana-
stasius im Leben dieses Papstes.

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198 Vorstudien zur Architektur-Geschichte.

Werken zu bedecken, wie es später, gegen das Ende des elften und beson-
ders im'zwölften Jahrhundert, wiederum geschah, und wie es zuweilen in
den früheren Jahrhunderten bereits geschehen war; und wenn es vorkam,
dass die Ahsidcn so geschmückt wurden^), so war dieser Fall in jener
Zeit, ausser Rom, bestimmt höchst selten; denn Leo, der Kardinal von
Ostia, am Ende des elften Jahrhunderts, fürchtete weder eine Unwahrheit
noch eine Uebertreibung zu sagen, als er schrieb, dass im neunten und
zehnten Jahrhundert und noch früher die Kunst des Mosaiks bei den La-
teinern gänzlich verloren gewesen sei Ferner machte man zu jener Zeit
die Giebel an den Paraden nicht höher als die Kirchen selbst; noch die
Pfeiler so zusammengesetzt, noch die Gewölbe so häufig. Dennoch ist es
merkwürdig, dass alle diese und die anderen Eigenthümlichkeiten, welche
die zweite Periode des altgothischen Baustyles charakterisiren, bereits
in den Gebäuden des Styles , von dem die Bede ist, angewandt erschei-
nen , wenigstens insofern derselbe sich, in den beiden obengenannten
Jahrhunderten, in seinem ersten Zustande erhielt. Ein Styl von grosser
Einfachheit, oder vielmelir Armuth, bereits im Anfange, durch die Ungunst
der Zeiten, eines jeden nicht nothwendigen Ornamentes beraubt; doch nicht
ohne Würde und selbst nicht ohne eine gewisse Schönheit, denn, wie ich
bereits zu Anfange gesagt habe, noch sehr wenig hatte er sich von der
festen Architektur der ältest christlichen Basiliken entfernt. Dieser Styl
war damals in ganz Italien allgemein, man wandte ihn, bis zum Ende des
zehnten Jahrhunderts, von den Küsten von Istrien bis Rom, bis Montecasino,
bis Benevent an; und nicht vor dem Anfange des zwölften Jahrhunderts,
da bei den anderen Nationen das Neugothische sich bereits geltend zu
machen begann, wurde er gänzlich verlassen. —
So weit die Bemerkungen Cordero's. —

r.j-

I

■'h
- ■

») Anast. Bibl. de vitis rom. pont. n. 305, 378, 398, etc. — 2) Amio
incarn. MLXVI .... Desiderius legatos Constantinopolin ad locandos artißces
dt'stinat peritos utique in arte musiaria, et quadrataria . ... et quoniqm artium
istarum ingenium a quingentis et ultra jam annis magistra latinitas iiitermiserat
.... ne id ultra Italiae deperiret studuit .... pueros erudiri etc. Chron
Mont. Casin, L. III, c.
2,9. Uia auch von meiner Seite eine Conjectur den
vielen zur Erklärung dieses Ausspruchs vorgelegten Conjecturen hinzuzufügen,
eines Ausspruches, dem sowohl durch die gleichzeitigen Schriftsteller wider-
sprochen wird, als auch durch die Mosaiken von Rom selbst, die er, ein Kar-
dinal der römischen Kirche, sehr wohl in Bezug auf die noch nicht ferne Zeit
ihrer Entstehung und auf die Künstler kennen musste: so bin ich der Meinung,
dass zwar die Kunst des Mosaiks in Italien nie gänzlich ausser Gebrauch ge-
kommen war, dass aber das Geheimniss oder das
,,ingenium" dieser Kunst,
welches dazumal besonders in der schwierigen Zubereitung des gefärbten Glas-
schmelzes bestand, bei den Italienern seit langer Zeit füglich vergessen sein
konnte. Bei den Griechen hingegen, wo diese, für die stolzen Dekoratioueu
ihrer Gebäude nöthige Kunst stets in Ehren blieb, war das
„ingenium" oder die
Ausübung derselben erhalten, und zu ihnen, mochten sie uuu In Italien wohnen
oder nicht, musste man, so oft man die italienischen Gebäude mit Mosaiken
schmücken wollte, seine Zuflucht nehmen, bevor unsere Maler, um die Zeit des
zwölften Jahrhunderts, die nÖthigen Fähigkeiten wiedererlangt hatten.

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I, Ueber die römisch-christlichen Bausysteme. 19U

4. Byzantinisches Bausystem, als eigenthümliche Modificiruug des

römisch-christlichen.

Aber kränze du nun, ehrwürdige Bon^a den Kaiser,
Ihn, den Lebenerhalter, das Ziel unsterblicher Hymnen*,
Nicht weil er nun dein Joch auflegte den Völkern der Erde,
Nicht weil er deinem Gebiet unendliche Gränzen gesteckt hat,
Jenseit äusserster Wälder und rollender "Wogen des Meeres:
Nein, weil er dir im Schooss einen unermesslichen Tempel
Gründend, herrlicher dich als die Thymbrische Roma gemacht hat.
Fort nun! fort mit dem Ruhme des capitolinischen Berges!
Denn mein Kaiser erschuf ein soviel grösseres Wunder,
Soviel Gott, der lebend'ge, gewaltiger ist als ein Steinbild.

Pauli Sil. descr. magn. eccl.

Constantin hatte die kaiserliche Residenz von Rom nach Byzanz ver-
legt und in diesem Orte, welcher ein neues Rom werden sollte, die Pracht-
gebäude und öflfentlichen Plätze des alten nachgebildet. Byzanz, nach ihm
Constantinopel genannt, hatte einen kaiserlichen Palast, ein Forum, Säulen-
gänge, Hallen, Bäder, auch ein Capitol, sammt sieben Hügeln, erhalten.
Statt der heidnischen Tempel aber waren mit grosser Pracht eine Menge
christlicher Kirchen erbaut worden®); als die ausgezeichnetsten unter diesen
werden die Kirchen der heiligen Weisheit, des heiligen Frie-
dens und der heiligen Kraft
{ayiag Hotpias, ayiag 'Ei^'^vrjg, aylag
^vvccfisag') genannt. Wir haben keinen Grund zu bezweifeln, dass sie,
gleich jenen ältesten Kirchen von Rom, die Form der Basilik^en hatten.

Es war nicht das Verdienst der griechischen Kaiser, dass dieser öst-
liche Theil des alten Römerreiclies nicht, so wie der westliche Theil,
andringenden Barbaren gänzlich erlag; die Kaiser waren Creaturen ihrer
Leibwache oder der Hofränke. Erst Justinian I. (527—565) hatte Willen
und Kraft, seinem Staate wieder grössere Ausdehnung zu verschaffen, den-
selben durch eine geregelte Verfassung zu sichern, der Kunst durch die
Ausführung wtirdiger Werke einen neuen Schwung zu geben. Er sorgte
für den Festungsbau, für den Bau von Wegen und Dämmen, von Kanälen
und Brücken, er liess eine grosse Menge von Städten gründen, wiederher-
stellen oder verschönern.

Die Kunst beruhte wesentlich noch , gleich dem Gesammtieben des
byzantinischen Staates, auf römischen und römisch-christlichen Grundlagen.
Doch bildete sich neben dem System der römischen Basilika unter Justi-
nian ein neues für den byzantinischen Kirchenbau, welches, obgleich in
seinen Elementen ebenfalls der älteren römischen Baukunst angehörig, den-
noch dieselben auf eine eigenthümliche Weise in Verbindung brachte. Es
enthält dies neue System die Aufgabe, eine Kuppel von grösseren Dimen-
sionen über vier, durch weitgespannte Bögen verbundenen Pfeilern aufzu-
richten''); so dass der unter dieser Kuppel befindliche Raum als Haupttheil
des Gebäudes, die übrigen als bloss beigeordnete erscheinen. Das bedeu-
tendste Gebäude dieser Art ist die unter Justinian neu erbaute Sophien-

1) Constantinopel. — 2) Vergl. Ciampini III, c. 27 sqq. — Ein Vorspiel
dieses Systemes ist bereits das kleine Kirchlein S. Nazarlo e Celso bei Ravenna,
um 440 gebaut.

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200

Vorstudien zur Architektur-Geschichte.

kirche; Avir lassen deren Beschreibung, so weit es nach den vorhandenen
Miltein möglich ist, folgen.

Ecclesia Sanctae Sophiae, ^Ayia SocpLa, Heilige Weisheit
(d. i, Wort Gottes oder Christus) oder Magna ecclesia, die grosse
Kirche'). Ursprünglich von Constantin dem Grossen gebaut, nachmals
von seinem Sohn Constantius, um 360, beträchtlich erweitert. Wahr-
scheinlich in Basilikenform; oblong^) und mit hölzerner Bedekung. Diese
Decke brannte im Jahre 404 ab; Theodosius II. liess sie durch den Bau-
meister Rufinus mit" einem Tonnengewölbe^) versehen. Im Jahre 530
Avard
die Kirche abermals durch Feuer vernichtet. Nun begann Justinian den
Bau derselben nach einem noch erweiterten und durchaus neuen Plane,
unter Leitung des Anthemios von Tralles {TioXv(iri%avoq) und seines Gehülfen,
des Isidoros von Milet; bei Codinus und dem Anonymus wird auch ein
Baumeister Ignatius angeführt. 537 bereits war dieser Bau vollendet. Nach
wenigen Jahren stürzte bei einem Erdbeben die Hauptkuppel ein. Justi-
nian ordnete indess eine Wiederherstellung des Gebäudes an, welche im
fünften Jahre nach dem Einsturz vollendet wurde. So steht dies merk-
würdige Gebäude noch heute, mit einzelnen Restaurationen nachfolgender
Kaiser und mit geringen Abänderungen, die es insbesondere seit seiner
Umwandlung in eine Moschee erlitten.

Was die Anordnung des Planes betrifft, so ist die Grundlage der älteren
Basilikenform noch zu erkennen: ein viereckiger Raum, um ein weniges
länger als breit, der Länge nach in 3 Schüfe geschieden; am Ende des
breitenMittelschiflFes die Tribüne. Wesentliche Veränderungen wurden indess
durch das grosse Kuppelgewölbe zu Wege gebracht, dessen Anwendung
von lustinian, vielleicht um das bewundertste Bauwerk Roms, das Pan-
theon, zu überbieten, also angeordnet war. — Die Kuppel (•9'dAos, ^/ut-
GcpcciQiov, HOQvg, TcrjXri^., — testudo, trulla), in halber Kugelform, über-
deckt den mittleren quadratischen Raum des Mittelschiffes. Sie ruht auf
4 grossen Halbkreisbögen
(^ävrv^, auch äipig), welche von 4 statken Pfei-
lern getragen werden; Widerlagen, die sich seitwärts bis über die Seiteo-
mauern des Gebäudes hinauserstrecken, verstärken die Pfeiler. Die Zwi-
schenräume zwischen den grossen Bögen und dem Grundkreise der Kuppel
werden durch dreieckige Gewölbstücke, Pendentifs, gebildet. Gen Osten,
nach der Tribüne zu, verengert sich jener quadratische Mittelraum, und

i;-

S. Corpus, hist. Byz.: Procopius de aedificiis Justiniani-, Paulus Süen-
tiarius descr. magnae eccl.; Codinus de off. magnae eccL et aulae Constant,
Du Qange Constanlinopolis Christiana l. III. Banduri Imperium Orientale
(t. 1: Anonymi antiquitt. Constantt. l. 4,- — t. II: Commentt. in antt. l. dj —
t. 1. Qyllii Topogr. Constant, l.
2, l. 3.). Ciampini op. III, c. 27, 59.
D^Ohsson Tahleau gencral de l'empire Othoman. Museum Worsleyanum II,
p. 103 sq. D'Agincourt, XXVI, 1, 2 etc.
(Wir sehen gegenwärtig (1852), nach
inzwischen schon vorangHschrittener Forschung, sehr umfassenden Mrttheilungen
entgegen, durch welche uns die KenutniSs des byzantinischen Bausystems in der-
selben Weise, wie dies bei andern .Baustylen der Fall ist, näher gerückt werden
wird. Ich habe indess geglaubt, dass die obige einfache Zusammenstellung aus
den älteren Materialien dennoch nicht völlig überflüssig und somit an dieser
Stelle beizubehalten sein dürfte.) —
Anonytnus, Codinus: 8qoiliik6v, — dictum
videtur a stadiis cursoriis , quae in majorem longitudinem quam latitudinem
porriyunlur. Du C. — '') Anonym: dia kvIcvSqikcov v.ct^UQOiv.

bSS

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I. Ueber die römisch-christlichen Bausysteme.

201

zwar im gedrückten Halbkreise; dieser Theil ist, seiner Grundform ent-
sprechend, durch eine Halbkuppel (ofa
zig äUrj aiptg) bedeckt, welche
eines Theils auf zweien jener grossen Pfeiler ruht (und sich dem über
ihnen befindlichen grossen Bogen anschliesst), anderen Theils auf zwei klei-
neren Pfeilern, welche vor den Seiten der Tribüne stehen. Letztere sind
wiederum durch einen Bogen {avtv^y verbunden (welcher einen halbrunden
Einschnitt in die genannte Halbkuppel macht) und an welchen endlich die
kleinere Halbkuppel (
hoyxcc) der Tribüne (äipig) lehnt. Zwischen den
kleineren und den grösseren Pfeilern befinden sich, auf beiden Seiten der
Tribüne, kleinere, der Tribüne ähnliche Nischen (Koyxa), gleich jeuer
bedeckt mit halbem Kuppelgewölbe, welches ebenfalls einen halbrunden
Einschnitt in die grössere Halbkuppel macht. Das Gewölbe dieser Nischen
ruht aber nicht, wie das der Tribüne, auf Mauern, sondern auf je 2 über
einander befindlichen Säulen-Arkaden; die unteren dieser Arkaden bestehen
aus je 2, die oberen aus je 6 Säulen. — Auf gleiche Weise ist der gegen-
über liegende westliche Raum angeordnet; nur fehlt hier am Schluss die
halbrunde Vorlage der Tribüne. Statt deren schliesst das hier befindliche
Ilauptportal den Raum gerade ab, so wie ein grosses, im Halbkreis über-
wölbtes, durch 2 'Säulen in 3 Theile gesondertes Fenster statt der Halb-
kuppel der Tribüne erscheint. Auf der Nord- und Südseite wird der Raum
unter den grossen Bögen, welche die Kuppel tragen, durch eine gerade
Wand geschlossen, die auf 2 übereinander befindlichen Säulen-Arkaden
ruht; die unteren Arkaden bestehen aus je 4, die oberen kleineren aus je
6 Säulen. Auf diese Weise bildet sich zwischen Portal und Tribüne ein
Mittelschiir von zum Tlieil beträchtlicher Breite, in der Mitte von jener
grossen Kuppel überwölbt. — An der Nord- und Südseite desselben befin-
den sich die schmaleren niedrigen Seitenschiffe
("Jcd-ovaa, porticus), deren
jedes durch die Pfeiler und ihre Widerlagen (zwischen welchen ein breiter
Durchgang befindlich) in 3 Räume gesondert wird. Die einzelnen Räume
sind gewölbt, die Gewölbe ruhen auf je vier Säulen. — An der Westseite
endlich, in der ganzen Breite des Gebäudes, ist eine schmale innere Vor-
halle (NdcQ&i^^f nQovaog), welche mit den genannten Räumen durch 7 Thüren
in Verbindung steht. — Ueber den Seitenräumen und über der Vorhalle
befindet sich eine Gallerie
{vnqsqtpa, porticus superior). Sie öffnet sich
nach innen zu durch die oberen Arkaden in den Seiten- des Mittelraumes,
durch die oberen Arkaden in den, neben der Tribüne und dem Eingange
befindlichen Nischen, so wie durch die aus 2 Säulen bestehende Arkade
über dem Eingange. Ueberall sind Brüstungen
(plutei) zwischen den
Säulen angebracht. Die Gallerie ist gewölbt, in den Eckräumen mit Kup-
peln; die Gewölbe werden, wie in den unteren Eckräumen, durch Säulen
gestützt. Man gelangt von ausserhalb in diese Gallerie durch Treppen
(noxliag), welche in den Widerlagen der Pfeiler angebracht sind. — Ueber
denjenigen Theilen der Gallerie, welche sich nach dem mittleren, unter
der Hauptkuppel befindlichen Räume öffnen, befindet sich, zwischen den
grossen Bögen, eine zweite kleinere Gallerie, durch eine Arkade von 6
Pfeilern gebildet. Die Mauer über dieser Gallerie bis zum Gipfel des
Bogens enthält auf jeder Seite 2 Reihen; im Halbkreis überwölbter Fenster,
in der oberen Reihe je 5, in der unteren je 7. Die Kuppel ist nach unten
zu mit einem Kranz von 24 (nach Gyllius von -40) Fenstern durchbrochen;
unter den Fenstern, am Grundkreise der Kuppel, läuft eine von Consoleii ,
getragene Gallerie hin. In den Halbkuppeln, welche sich zu beiden Seiten

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202

Vorstiidieu zur Arcliitektur-üeschichto.

an jene lehnen, so wie in der Halbkuppel der Tribüne, sind je 5, in den
Halbkuppeln der, zu den Seiten der Tribüne und des Einganges befindlichen
Nischen, je 3 Fenster. An den Seltenwänden der oberen und unteren Gal-
lerie, so wie der Seitenschiffe, sind ebenfalls Fenster befindlich. Sämmt-
liche Fenster sind im Halbkreis überwölbt. — Die Vorhalle, welche sich
nach innen zu duch 7 Thtiren öffnet, deren mittlere höher als die übrigen
(nvXcov ßaaUiKog), hat nach aussen 5 Thüren, dazwischen 3 mal 4 Fenster.
Verschiedene Thüren befinden sich in den übrigen Seitenwänden. Sämmt-
liche Thüren zeigen einen geraden Sturz.

Die Wände und Wölbungen des Gebäudes sind aus gebrannten Ziegeln
erbaut; die Bekleidung derselben besteht zum Theil aus verschiedenfarbigem
Marmor und edlen Steinen und Metallen, zum Theil aus musivischen Ge-
mälden; auch der Fussboden hat musivischen Schmuck. Die grösste Pracht
war bei der Ausschmückung des Allerheiligsten angewandt. Der Marmor
zu den Wänden und Säulen ist grossentheils von antiken Gebäuden ent-
nommen. Die Blätterkapitäle der Säulensind mit ausserordentlicher
Zartheit in durchbrochener Arbeit gemeisselt (S. Vitale in Ravenna) ; an
einigen befindet sich das Monogramm des Justinian und seiner Gemahlin,
der Theodora. 'Auf den Kapitälen scheint ein besonderes Kämpfergesims
zu liegen, welches die ArchivoJten der Bögen trägt. Es werden Glasschei-
ben in den Fenstern erwähnt. Unzählige silberne Lampen, in verschie-
denster Gestalt und Verbindung, erhellten zur Nacht die Kirche; die kost-
barsten Gefässe waren im Ueberfiuss vorhanden.

Die Länge des Gebäudes von der Thür bis zur Tribüne beträgt nach
Evagrius (bei Du Gange) 190 Fuss, die Breite 115 Fuss. Gyllius giebt die
Länge auf 240 Fuss, die Breite auf 213 an; mit letzterem stimmt der von
Grelotius gegebene Grundriss. Das Museum Worsleyanum bestimmt die
Länge auf 250, die Breite auf 228 Fuss. Die Hohe der Kuppel über dem
Fussboden beträgt nach Evagrius 180 Fuss; die Höhe der grossen Bögen,
welche die Kuppel tragen, giebt Gyllius auf 142 Fuss an, welches Maass
dem von Evagrius gegebenen zu entsprechen scheint. Der Durchmesser
der Kuppel hat, nach dem Museum Worsleyanum, 108 Fuss.

An der Westseite befindet sich ein viereckiger Vorhof (avl^; ya^-
aovoaraGiov, von Garcio — Gargon, Diener der Vornehmen, die hier zurück-
bleiben mussten), innen von 4 Portiken, die mit Musiven geschmückt waren,
umgeben. In der Mitte desselben ein Springbrunnen von Jaspis
{cpicclr];
XsovTccQiov,
von den Löwen, aus deren Mäulern das Wasser strömte). Aehn-
liche Portiken befanden sich auch auf der Nord- und Südseite. Auf der
Südseite steht noch das achteckige Baptisterium mit einer Stellung von 8
Säulen im Innern.

In der äusseren Ansicht erscheint durchaus die mittlere, verhältniss-
mässig flache Kuppel als vorherrschend , zu welcher sich die niedrigen
Dächer, die kleinen Kuppeln auf den Ecken, die Halbkuppeln malerisch
emporbauen.

M

I

k:

Die Bedeutung und Benutzung der inneren Räume ist folgende: —Das
Allerheiligste
(ß^i^cc, IsquteIov, aövrov) begriff in dieser Kirche, wie

Grelotius (bei Banduri): Orec gothise, harhariai. — Eine besondere
Sorgfalt und Mühsamkeit in der Ausführung des Ornaments liegt überhaupt im
Charakter der byzantinischen Kunst; das beweisen unter andern die griechischen
gemalten Pergament-Haudschriften.

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m

SM

■^'tmam

1

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-ss-

II. Die Kirche S. Micclielo inaggiore zu Pavia.

gewöhnlich, die Tribüne und den Raum zunächst vor derselben, in Avelchem
der Altar stand. Silberne Schranken {jKLynUdfg ie^al), welche zwischen
den, vor der Tribüne befindlichen kleineren Pfeilern gezogen waren, trenn-
ten dasselbe von dem übrigen Raum der Kirche. Die Schranken waren
mit Säulen und Bildwerken und mit dem Namenszuge des Justinian und
der Theodora geschmückt; drei Thüren
(ayia &vQta), mit Teppichen ver-
hängt, führten in das Innere des Allerheiligsten. An der halbkreisrunden
Wand der Tribüne standen die Bänke der Prieijter (cw'O'povos). Vor ihnen,
auf einigen Stufen erhöht, der kostbare, goldene, mit einem überaus präch-
tigen Ueberbau
(nißcoQiov) versehene Altar (&v<sio:6ti]qiov, zQUititr] leQrj)-,
Purpurteppiche zwischen den Säulen des Ciboriimis verhüllten denselben.
— Der Gesammtraum vor dem Allerheiligsten hies Naos (vao?); der Theil
des Naos zunächst den Schranken des Allerheiligsten, zwischen den beiden
Nischen zu deren Seiten, Solea {colia). Letzterer, dessen Boden um ein
Weniges über dem übrigen Naos erhöht war, diente (dem Chor der latei-
nischen Kirche entsprechend) zum Aufenthalt der niederen Geistlichkeit.
In der Mitte desselben, zunächst dem unter der Kuppel befindlichen Haupt-
raume, stand eine Kanzel
{afißcov) mit 2 Treppen. Die eine der beiden
erwähnten Nischen
(itQo&satg) diente zu den Vorbereitungen des Altar-
dienstes, die andere
{öiukovikov) zu den Lectionen der Diakonen nach voll-
brachter Messe. — In dem übrigen Theil der Kirche befand sich das Volk,
die Weiber auf den Gallerieen
{yvvaiKelov). — Die innere Vorhalle
(vß^'S'??!) war insbesondere der Ort für die von der kirchlichen Gemein-
schaft Ausgeschlossenen, welche zwar den Vortrag der heiligen Schrift und
die heiligen Gesänge hören durften, vom Anschauen der Mysterien aber
gänzlich getrennt waren. Doch kommt der Name vdQ&rj^ nicht bloss für
die eine oben beschriebene Vorhalle vor: er wird allgemeiner für sämmt-
liche neben der Kirche gelegenen Portiken gebraucht, welche zu ähnlichem
Zweck dienten. Bei der Sophienkirche werden einmal 4 Nartheken erwähnt,
d. h. die Vorhalle mit dem vor ihr befindlichen Portikus und die beiden
Portiken auf der Nord- und auf der Südseite der Kirche. Endlich scheint
auch im Innern der griechischen Kirche, wie zuweilen in der lateinischen,
wenn der äussere Narthex nicht hinreichte, ein schmaler Raum zunächst
der Thür zu gleichem Zweck gesondert worden zu sein.

Zu den Seiten der Tribüne, ausserhalb der Mauern der Kirche, befanden
sich einige mit dieser verbundene Räume, welche als Sakristeien
{Secre-
tarüini, diaconicum, metatorium, vestiarnmi, scevophylacium etc.)
dienten.

IL

DIE KIRCHE S. MICCHELE MAGGIORE Zü PAVIA.

203

(Museum, Blätter für bildende Kunst, 1834, Nro. 6, f.)

Die in der Ueberschrift genannte Kirche hat lange für einen charak-
teristischen Bau aus der Zeit der longobardischen Herrschaft in Italien
gegolten. Indem diese durchaus willkürliche Annahme wiederholt und

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204

Vorstudien zur Architektur-Geschichte.

Schlussfolgen aus ihr auf andere Bauwerke angewandt wurden, ist sie die
Ursache mannigfacher Verwirrung in Bezug auf die Kunstgeschichte des
Mittelalters geworden. Erst neuerdings hat ein Italiener, Cordero , ein
erfreuliches Licht über diese Verhältnisse ausgebreitet. Wir legen unseren
Lesern die Hauptpunkte seiner Untersuchung über das Geschichtliche dieses
höchst interessanten Monumentes vor, die ein nachahmungswürdiges Bei-
spiel besonnener kunsthistorischer Kritik sind.

Vorher indess führen wir unsere Leser zu dem Gebäude selbst und
zwar mit den Worten eines berufenen Berichterstatters, des Hrn. Prof.
F. H. von der Hagen (in seinen „Briefen in die Heimat," Bd. H, S. 7.)

Basilika S. Micchele (sagt derselbe) ist ansehnlich, meist ausgeführt
und wohl erhalten. Der Giebel hat 3 Thüren, sehr reich an Bildwerken, der-
gleichen auch in vielen wagerechten Streifen die Wand bedecken , sowie zum
Theil, von unten auf, die wohl nicht ganz fertigen, aus mehren Säulen ver-
schmolzenen 4 Pfeiler, die zwischen den Thüren und an den PJcken bis zu der
sehr flachen Abdachung durchlaufen. So erinnert das Ganze, auch durch den
Inhalt mancher Bildwerke selber, auffallend an die mit Hieroglyphen ganz bedeck-
ten Eingänge der alten Aegyptischen Tempel, lieber den Thüren sind kleine
Bogenfenster, darüber ganz runde, und oben am eigentlichen Giebel steigt von
beiden Seiten eine kleine Säulenstellung mit Bögen bis zum Gipfel auf. Noch
grösser und prächtiger verziert mit_ Laubwerk, Blumen und Fruchtgewinden, Vö-
geln, Greifen u, s. w., ist die Seitenthür am rechten Arm des nur schmalen
Kreuzes; am Thürbalken ist Christi Brustbild, im Halbrund darüber ein Engel
mit geöifneten Flügeln. Der Ifohe Giebel ist aber glatter und hat nur schmale
Halbsäulen, wie der Chor. Im Winkel zwischen diesem Kreuzesarm und dem Chor
steht der einfache Thurm mit ähnlichen Säulenstellungen, wie die am vorderen
Giebel; dergleichen auch am Chor und, in 2 Reihen übereinander, an der aussen
achteckigen Kuppel umlaufen. Das Innere hat Aehnlichkeit mit dem Züricher
Münster, darin, dass die beiden Seitenschiffe, durch Theilung in zwei Stock-
werke, eine .4rt von Gallerie oder Loge bilden, deren Brüstung die Bfeiler des
höheren Mittelschiffes verbindet. . . . Die Pfeiler sind hier aber nicht blosse
Mauerpfeiler, sondern mehr aus Ecken und Bögen mannigfaltig verbundene Säu-
lenpfeiler, die abwechselnd an der anstossenden Gallerie in zwei Stockwerken
absetzen, oder bis zum Gewölbe durchlaufen, und alle die mannigfaltigsten Säu-
lenknäufe haben, mit Palmen, Vögeln, Schlangen, Menschenfratzen und einer Vor-
stellung des Sündenfalls. Alle Bögen sind rund. — Ganz ähnlich, nur kleiner,
ist der Giebel von S. Giovanni in Borgo; die Wand ist aber nicht so reich
und regelmässig verziert, und nur einzele Bildwerke, wie alte Bruchstücke, ein-
gemauert. Ueber den drei Thüren ist zunächst, ausser den einzelnen Fenstern,
noch ein kleiner Säulengang mit Bögen , die ebenfalls alle rund sind. Sie hat
kein Seitenschiff und Kreuz."

Folgendes ist, was Cordero im ersten Abschnitt seiner genannten Schrift
über die in Rede stehende Kirche sagt.

-Li

'üi^iUlÜi

„Die Schriftsteller, welche von den Angelegenheiten Pavia's handeln
und nach ihnen der berühmte d'Agincourt in seiner trefflichen Geschichte der

') In seinem schon oben erwähnten: Ragionamento dell' ilaliana Architet-
lura- durante la dominazione Longobarda.
—^ Ghisoni. Flavia Papia, Vol.
I., p.
2,9.

-ocr page 217-

II. Die Kirche S. Micchele maggiore zu Pavia.

Kunst nach den Monumenten, sowie nicht Avenig andere von denen,, welche
über die italienische Architektur in den ersten Jahrhunderten des Mittel-
alters geschrieben, haben keinen. Anstand-genommen,'zu behaupten, dass
in unseren Gegenden ^ während sie der Herrschaft der Longobarden unter-
worfen waren, eine. Bauweise vorgeherrscht habe, die, wenn nicht jenem
Volke, so doch seiner Zeit ganz eigenthümlich und von der bisher hier
angewandten sehr vei-schieden sei. Folgendes aber ist der Schluss, mit
welchem sie eine solche Meinung begründen. Es hat keinen Zweifel, sagen
sie, und wir wissen es durch den Diakonus Warnefrid'); drfss in Pavia
seit den Zeiten des Königs Grimoald, gegen die Mitte des siebenten Jahr-
hunderts, ein Tempel oder eine Basilika, dem Erzengel S. Michael gewidmet,
vorhanden war; und dass derselbe Tempel ebenso gegen die Mitte des
zehnten Jahrhunderts und um den Anfang des elften existirte, da man aus
den gleichzeitigen Historikern weiss, dass in demselben die Fürsten Italiens
die Krone zu empfangen pflegten Nun sehen wir .noch gegenwärtig in
dieser Stadt eine, San Micchele genannte Kirche, von majestätischer, alter
Architektur, deren Styl noch nicht ein gänzlich gothischer ist, zugleich
aber durchaus fern von der Architektur der Griechen oder Römer, und also
einer Periode, die in der Mitte steht zwischen-beiden Bauweisen, zugehören
muss. Es wird dies somit ein-Gpbäude aus den Zeiten der Longobarden
sein und seine Architektur gewiss ein vorzügliches Beispiel'von dem Bau-
system, welches in jener Zeit und von jener Nation beobachtet wurde.

D'Agincourt, nachdem er eine Zeichnung dieser Kirche von Pavia,
zusammen mit jener vön Santa Giulia" und San Tommaso in limine bei
Bergamo beigebracht -') und nachdem er diese Gebäude als Beispiele der
in jener Zeit herrschenden Architektur dargelegt, drückt" sich folgender-
gestalt, in seinem grosseh obengenannten Werke, aus: „In Pavia und in
der Provinz Bergamo, welche iiachmals den Namen der venedischen Lom-
bardei annahm, finden sich einige Kirchen, die", obgleich man die Zeit
ihrer Erbauung nicht bestimmt weiss, doch ohne Zweifel von den Lon-
gobarden im sechsten, siebenten oder achten Jahrhundert erbaut sind; sie
sind noch gegenwärtig genügend erhalten, um darzuthun, welches ihre erste
Form und der Styl ihrer Dekorationen waren." Darauf giebt er eine Be-
schreibung dieser Kirchen und fährt also fort: „Diese Gebäude enthalten
im Allgemeinen die Fehler, -tvelche der Periode des Verfalles der Kunst
eigen sind; aber die innere Eintheilung, noch mehr die Fagaden, der Styl
der Kapitäle, die Eigenschaft ihrer Ornamente mit Figuren von Männern,
Weibern und Thieren, die kaum der Natur ähnlich sind, die Pilaster oder
Strebepfeiler, die Säulen, die von der Erde bis zum Gipfel des Gebäudes
emporreichen und die im Inneren von einer Ordnung zur anderen, ohne
Architrav und ohne'Kranzgesims übergehen: alle diese seltsamen und miss-
gestalteten Eigenthümlichkeiten bilden den Charakter eines Baustyles, dessen
Gebrauch im sechsten Jahrhundert vorzuherrschen begann und in den bei-
den folgenden Jahrhunderten sich allgemein ausbreitete."

205

Derselben Meinung sind die gelehrten Verfasser der Antichitä longo-
bardiche-milanesi'^),
und der Cav. Rosmini in seiner Storia di Milano^')-,
nach ihnen, der treifliche Verfasser des Guida di Pavia und schliesslich

1) De gestis Longobardorum. Lib, V. c. 3. — Mnratori, Annali d'Italia,
agli anni 950, 1004.
— ^^ D'Agincourt. Histoire de Varl etc. Section de VAr-
chiteclure. Tab. XXIV. — Vol. I. facc. 120. — Vol. J. facc. 59,

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206 Vorstudien zur Architektur-Geschichte.

der gelelu'te ßobolini in seinen Notizie appartenenti alla storia della sua
patria. Pavia.

Der genannte Guida drückt sich also über den in Frage stehenden
Gegenstand ans: „diese Basilika (San Micchele inaggiore) ist gewiss nicht
aus späterer Zeit als das siebente Jahrhundert, da sie bereits zur Zeit des
Königs Grimoald, d. h. gegen die Mitte dieses Jahrhunderts existirte . . .:
aber wenn man nach dem Alter ihrer Structur urtheilen wollte, so müsste
man sie vielmehr als ein Gebäude des sechsten Jahrhunderts benen-
nen')." Und der andere, indem er von den Kirchen von Pavia spricht,
die man für longobardischcn Ursprungs hält, schreibt folgendermaassen:
„Man darf vermnthen, dass unsere berühmte Basilika San Micchele ihren
ersten Ursprung dem Könige Agilulf verdankt, zur Zeit als derselbe noch
Arianer Avar, wenn es nicht in der That nicht ohne Grund wäre, diesen
Ursprung in den Zeiten der gothischen Könige zu suchen." Und anderswo
fügt er hinzu: „Die Mehrzahl der Schriftsteller von Pavia eignet die Grün-
dung von San Giovanni in Borgo dem longobardischen Könige Rotar zu;
und es gehört, nach der Meinung des Ch. Seroux d'Agincourt, die Archi-
tektur derselben gerade in das siebente oder achte Jahrhundert ^j."

Als Muratori, ein etwas strengerer Kritiker als die erwähnten Schrift-
steller, der genannten Kirche San Micchele erwähnen musste und bemerkt
hatte, wie die Schriftsteller von Pavia und mit diesen Sigonius, ohne
irgend einen Beweis anzuführen, behaupten, dass diese Basilika von Con-
stantin dem Grossen erbaut sei, so begnügte er sich zweifelnd hinzuzu-
fügen: es wäre im Gegentheil um Vieles wahrscheinlicher, dass dies Ge-
bäude ein Werk der Longobarden sei, indem zu jenen Zeiten die Verehrung
der Völker gegen den P>zengel S. Michael geblüht habe Und sehr ver-
ständig war dieser Zweifel des unsterblichen Mannes; denn es giebt kaum
etwas mehr Thörichtes, als wenn man behaupten will, dass eine Kirche oder
irgend ein anderes Gebäude wirklich in eine gewisse Zeit gehöre, und zwar
aus dem einen Grunde, dass gerade in derselben, wenn gleich,sehr ent-
fernten Zeit, in derselben Stadt eine Kirche vorhanden war, welche den-
selben Namen führte. Und es giebt nur zuviele Schriftsteller, die auf eine
solche Weise verfahren und um so mehr irren, als sie von ihren städtischen
Angelegenheiten zu handeln hatten^).

Wenn Schlussfolgen der Art Gültigkeit hätten, so würden die Gebäude
der Longobarden, statt sehr selten in Italien zu sein (wie sie es wirklich
sind), sich sehr häufig in all den Gegenden und Städten vorfinden , die
einst dieser Nation unterworfen waren. Die einzige Stadt Lucca, zum Bei-
spiel, würde noch heute vielleicht nicht weniger als zehn Kirchen ans jener
Zeit in iliren Mauern einschliessen, da soviele sich dort vorfinden, die
gegenwärtig mit denselben Namen bezeichnet werden, durch welche, wie
man aus authentischen Dokumenten weiss, in dieser Stadt, im siebenten
und achten Jahrhundert, eben soviel Kirchen unterschieden waren.

I

■f;

S l'

Und wenn die Architektur aller dieser Gebäude sich insgesammt mit
denselben charakteristischen Kennzeichen darstellte, was der Fall sein
müsste, wenn die Longobarden, und somit Italien unter ihrer Herrschaft,
einen eigenthümlichen Baustyl gehabt hätten, so würde gewiss keine andere

t) Malaspiua. Guida di Pavia-, Pavia 1819 facc. 56. — Vol. J. facc.
63 e 126. Op. cit. Pavia 1823—1826. — Antiq. med. aevi. T. II, col. 582.
IHss. XXVIl. Annali etc. Vol. IV. 112.
— Lvjpi. codex diplom, Berijom, p. 207.

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II. Dift Kirche S. Miochele inaggiore zu Pavia. 207

Periode in der Geschichte der Baukunst des früheren Mittelalters klarer
und unzweifelhafter sein, als eben diese. —

Eine Kirche, welche zu Pavia dem Erzengel S. Michael gewidmet und
gegen die Mitte des siebenten Jahrhunderts, zu den Zeiten des Königs Gri-
moald vorhanden war, nennt Warnefrid, und zwar an der Stelle seiner
Geschichte, wo er erzählt, dass Unulph, der Vertraute des Königes Bertarid,
nachdem er die Flucht seines Herrn aus dem königlichen Palaste, der von
Grimoald zu seiner Wohnung bestimmt war, bewerkstelligt hatte, ein Asyl
in der benachbarten Basilika des Elrzengel S. Michael suchte i). Dies Fak-
tum, obgleich es der Geschichtschreiber nicht ausdrücklich sagt, muss, nach
dem Zusammenhange, sich in Pavia ereignet haben. li

Auch in dem folgenden Jahrhundert findet man diese Basilika von
demselben AVarnefried erwähnt, in dem Theil seiner Geschichte, wo er •

erzählt, dass, während der König Luitprand in seinem Falaste, ohne Zweifel j

zu Pavia, zu Gericht sass und ein Urtheil gegen einige Longobarden aus T

Friaul fällte, einer von diesen, Namens Hersemar, um sich seinem Unwillen
zu entziehen, ebenfalls in diese-Kirche entfloh^); so dass man sich die-
selbe, auch durch diese Erzählung, als verbunden mit der königlichen Woh-
nung denken muss. - ,

Nach dieser Zeit aber geschieht ihrer nicht mehr. Erwähnung in der
Geschichte der Longobarden, 'und ebenso wenig kann man eine Nachricht
über sie aus den alten Dokumenten der Stadt Pavia schöpfen, da die
Archive mehr als einmal verbrannt und zerstreut worden und sehr wenig
Dokumente, älter als das elfte Jahrhundert, erhalten sind.

Bei den Schriftstellern, die in die Zeit um den Schluss des ersten Jahr-
tausends gehören, wird aufs Neue, gegen die Mitte des zehnten Jahrhunderts,
zu Pavia eine Kirche erwähnt, welche dem heiligen ^Michael gewidmet
war; und sie wird San Micchele maggiore genannt, vielleicht um sie von
einer anderen zu unterscheiden, die gleiches Namens, aber geringer an
Umfang oder anderweitigen Eigenschafton war und in derselben Zeit dort
vorhanden sein konnte. Auch wird dies nicht wunderbar scheinen, wenn
man bedenkt, dass die Verehrung sehr gross war, welche sämmtliche Bar-
baren, insbesondere aber die Longobarden, zu jenen Zeiten diesem heiligen
Engel darbrachten; der König Luitprand z. B. pflegte sein Bild auf seinen
Fahnen zu tragen und er hatte auch dieAbsiclit, dasselbe auf seine Münzen
prägen zu lassen.

Was indess auch der Ursprung dieser Benennung sei, so kann man
doch nicht zweifeln, dass in einer kurzen, von Muratori herausgegebenen
Chronik der Könige Italiens von ihr gesprochen werde, wo man folgendes
liest:
In Basilica S. Michaelis que dicitur major, fuerunt electi et coronati
Berengarius et Adalhertus filius ejus %
Und diesselbe Faktum findet sich
wiederholt in den
Annali lamhecianiund bei dem novalesischen Chrono-
graphen. :

Cuvi ünulfus in beati archangeli Michaelis basilicam confugium fedsset
etc. De gestis Longobardorum. Lib. VI. c. öl
Siehe auch: Assemanno. Script,
hist. ital. Tom. I. p. 454, — Tunc rex in iudicio residens .... praecepit.
Hoc modo iis Longobardis comprehemi», Ilersemar, qui unus ex eis fuerat, em-
ginato gladio .... in basilicam beali Michaelis confugit,
Pauli Diaconi: De
gestis Longobardoruin. Lib, V. 1. c. 51.
— Muratori Annali d'Jtalid, all'

anno 950. — *) Berengarius ■ cum filio suo Adalberto . .... in civitate Papia, (

ad absidam S. Michaelis sie electi sunt reges. Lib. V. c. 4, j

i

-ocr page 220-

208 Vorstudien zur Arcliitektur-Gesclnchte.

In derselben- kurzen Chronik geschieht.ilirer aufs Neue Erwähnung,
und zwar in den ersten Jahren des folgenden elften'Jahrhunderts, indem
dort gesagt wird, dass der Kaiser Heinrich IL, im Jahre 1004, nachdem er
zu Pavia angekommen, erwählt und zum König von Italien gekrönt wurde:
inter hasilicam S. Michaelis que dicitur majore '^). Und in einer Schenkung,
• • Avelche der Kathedrale von Pavia von Otto, dem Sohne des Königes Arduin,

im Jahre 1008 gemacht wurde, heisst es: Actum apud Papiam in palatio
jiixta ecclesiam-S. Michaelis^).
Nach dieser Zeit aber, unter Kaiser Con-
rad (II.) dem Salier, fielec die Paveser in Ungnade, weil sie den könig-
lichen Palast zerstört hatten, und Pavia verlor das Vorrecht, den Königen
von Italien in seiner fürstlichen Pfalz die Krone zu geben. Es wird von
derselben," soviel ich weiss, bis auf die Zeiten des Kaisers Friedrich I.
nicht mehr gesprochen; davon hernach.

Wenn es nunmehr aus all diesen Angaben hinlänglich klar ist, dass
dieser Tempel zu Pavia schon zur Zeit der Longobarden vorhanden und
mit dem Palast der Könige verbunden war, und dass er sich, während des
zehnten und im Anfange des elften Jahrhunderts, stets an demselben Orte
befand; so ist dadurch noch nicht auf gleiche Weise erwiesen, dass dieser
selbe Tempel, in dem langen Zeitraum zwischen der Regierung des Gri-
moald und der des Kaiser Heinrich II., nicht zerstört \md aufs Neue und
' in einem anderen Styl wiederhergestellt sein" konnte; und noch weniger,
dass die gegenwärtig zu Pavia vorhandene und dem heiligen Michael ge-
widmete Kirche ebendieselbe sei, welche sich dort schon zur Zeit der Lon-
gobarden. befand und in späteren Jahrhunderten
maggiore genannt wurde.
Und dies vornehmlich aus dem Grunde, dass man, wenn es sich von den
heiligen Gebäuden des ersten Jahrtausends christlicher Zeitrechnung han-
delt, immer mit .ziemlicher Ge\vissheit voraussetzen darf, dass dieselben
entweder gänzlich erneuert oder wenigstens zum grossen Theil umgeändert
auf uns gekommen sind; denn das elfte und die beiden folgenden Jahr-
hunderte erscheinen als die Zeit allgemeiner Erneuung in den zeichnenden
Künsten, sehr bedeutender Umwandlungen in der Baukunst. Und wenn
man dies nicht von allen Gebäuden ohne Ausnahme sagen kaön, da in
i Kom, in Lucca, in Brescia, besonders aber in llavenna, sowiejin einigen

wenigen anderen Orten Italiens, einige Kirchen aus den ersten Jahrhun-
derten des Mittelalters ziemlich in ihrem ersten Zustande erhalten sind,, so
sind gleichwohl diese Ausnahmen von der allgemeinen Regel sehr selten.
Selbst die Hauptbasiliken von Rom, gegründet durch Constantins Frömmig-
keit und alle nachmals von seinen Nachfolgern erneut, Denkmäler, so höchst
würdig der Verehrung durch ihren Ursprung und durch die Hejrrlichkeit
der Gesammt-Anlage, ~ welchen Restaurationen, Abänderungen und Er-
weiterungen sind sie nicht unter den Pontiflcaten Hadrians I., Paschalis IL,
Honorius III., Sixtus V. und noch anderer, je nach dem Bedürfniss der
kirchlichen Gebräuche und des verschiedenen Geschmackes verschiedener
I Zeiten, unterworfen gewesen!

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Die gothischen Könige hatten einen Palast zu Pavia; es hatten dort
mehr als einen die Könige der Longobarden; und, soviel uns der Anonymus
des Valesius versichert, waren dort noch die Thermen, das Amphitheater
und andre Monumente des alten Ticinum. Von all diesen Gebäuden, welche
doch die "festesten und grandiosesten in dieser Stadt sein mussten, ist keine

1

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'} Muratori Ann. d'It, nun. 1004. -) Ib. ann. 1008.

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209

II. Die Kirche S. Micchele raaggiore zu Pavia.

Spur erhalten. Die Kirche San Micchele, nach so vielen politischen und
natürlichen Unglücksfällen, nach so mannigfachem Wechsel der Herrschaft,
der Pavia, vom Reich des Grimoald bis auf unsere Tage unterworfen war,
sie hätte also mehr als jene Monumente den Stürmen der Zeit, so vielen
Gelegenheiten zum Verderb widerstehen können? Dies ist nicht wohl
glaublich, um so weniger, wenn man damit verbindet, was der Geschicht-
schreiber Liutprand, ein Paveser und Genosse eben jener Zeit, uns erzählt,
dass nämlich, im Jahre 924, diese Stadt von den ungrischen Hülfstruppen
des Kaisers Adalbert verbrannt und in einen Haufen Steine verwandelt
wurde, wie es schon durch die Hand der Hunnen mit Aquileja geschehen
war, so dass diese Stadt sich nicht mehr erheben konnte In dieser
Feuersbrunst kam der Bischof von Pavia, Johann, und mit ihm der von
Vercelli ums Leben; und so gross war dies Elend, dass der Chronist Fro-
doard, der eben in jener Zeit lebte, schreibt, es hätten von der gesammten
Volksmenge nicht mehr als zweihundert Personen sich retten können, es
seien drei und vierzig Kirchen abgebrannt, so dass seit langer Zeit in keiner
Stadt der Christenheit ein so grosses Elend sei gesehen worden

Dass in dieser Zerstörung auch die fürstliche Basilika ein Raub der
Flammen wurde, schliesse ich aus einem anderen Umstände, den derselbe
Historiker Liutprand erzählt, dass nämlich Hugo, Herzog der Provence,'
nachdem er im Jahr 926 von den Grossen Italiens zu Pavia erwählt wor-
den war, nicht hier, in der Basilika San Micchele, wie es bisher Sitte
gewesen war und auch später geschah, die königliche Krone empfing, son-
dern dass er sich nach Mailand begab, um dieselbe in der Kirche des hei-
ligen Ambrosius vom Erzbischof Lambert zu empfangen

Und noch hatte sich Pavia von diesem Unglück nicht gänzlich erholt,
als es einen zweiten Brand zu erdulden hatte, der daselbst, im Jahr 1004,
von den deutschen Soldaten Heinrichs II. angelegt worden war und der,
wenn wir dem Arnulf glauben, fast ebenso wüthete, wie der erste *).

In dieser zweiten Katastrophe wurde auch der königliche Palast, der
bereits, nach dem ersten Brande von 924 , wieder gebaut worden war,
von neuem eine Beute der Flammen. Kann es nunmehr, frage ich, möglich
sein, dass die Basilika San Micchele, welche, wie gesagt wurde, mit dem
Palast verbunden war, auch diesmal so unverletzt habe hervorgehen können,
dass auch jetzt nicht Restaurationen sichtbar werden sollten, zum vrenig-
sten nicht an dieser grossen Menge von Figuren, Ornamenten und anderen

ü

1) Usta est olim formosa Papia, anno dom. inc. DCCCCX.XIV. . . Sulando
duce UTÜur infelix olim formosa Papia.- Vulcanusque quos attollens flatibus
artus templa Dei, patriamque simul consccndit in omnem etc.
Liutpraudi ticin.
ecclesiae levitae Bistoriar. Hb. III. c. '1.
bei Muratori R. ital. Script. Vol. II,
p. 162. — Papiam quoque urbem populosissimam atque opulentissimam igne
succendunt, ubi opes periere innumerabiles. Ecclesiae quadraginta tre's auccensae,
Vrbis ipsius episcopus cum episcopo Vercellensi, qui secum erat, igne fumoqüe
necatur atque ex illa -pene innumerahili muliitudine ducenti tantum superfuiese
memoratur. In Chronic,
bei Du-Chnsne Hist. FranQ. Script. Vol. II. p. 594. —
•■') Muratori. Annali d'Italia, alV anno 926. — *) Cum non ad votum siöi ob-
temperasset, uno totam Papiam concremavit incendio. Hist. Medial. Lib. 1. —
In einer Angabe, welche Muratori* in den Annalen, unter dem Jahre 924, zur
Zeit des Königs Hugo, mittheilt, liest man:
In civitate Papia, in paladum no-
viter aedißcatum . % . . in caminata dormitorrii ipsius palacii.

Kiigler, Kleine Schrincn. I.

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Vorstudien zur Arcliitektur-GescMchte.

feinen Sculpturen, die zum grossen Theil in einem zerbrechlichen Sand-
stein ausgeführt sind? die, obgleich seit zwölf Jahrhunderten, wie man
sagt, den Beschädigungen von Menschen und Wettern ausgesetzt, noch nicht
gänzlich zerstf5rt sind?

Oder sollen wir glauben, dass, wenn dies Gebäude damals wiederher-
gestellt wurde, dies sich nicht aus dem Styl seiner Architektur erkennen
lassen sollte, der sich doch von verschiedenem Charakter, je nach der Ver-
schiedenheit der Jahrhunderte, zeigen müsste, und nicht ganz in einem
Wurf und in übereinstimmender Manier, wie es wirklich der Fall ist?

Aber es wächst noch die Schwierigkeif, wenn man bedenkt, dass nicht
bloss die Kirche San Micchele das Glück gehabt hätte, diesem Verderben
zu entrinnen und nicht in die Zahl jener abgebrannten 43 Kirchen mit
eingeschlossen zu sein, sondern auch die Kirchen Sau Giovanni in Borgo,
San Pietro in ciel d'oro, Santa Maria rotonda, Sant' Agata, San Romano,
Santo Ambrogio und noch andere, welche sämmtlich, ebenso in den Jahr-
hunderten der Longobarden erbaut, entweder noch existiren oder, wie es
bekannt ist, erst seit Kurzem abgebrochen oder neu gebaut sind. Wenn
dies Factum wahr ist, wenn diese Kirchen, wie man es glaubt, Werke der
Longobarden waren oder wirklich sind , so müssen wir also die Dinge,
welche Liutprand sowohl als Frodoard, bald nach jenem grossen Ereigniss,
ihren Zeitgenossen als Begebenheiten ihrer Zeit und unter ihren eigenen
Augen geschehen, erzahlten, für Thorheiten ausgeben! Ich überlasse es
dem gesunden Urtheil eines Jeden, zu entscheiden, ob in alledem irgend
eine Wahrscheinlichkeit ist.

Nach alledem scheint es mir, dass man bereits zur Genüge schliessen
kann, dass die Basilika San Micchele maggiore in ihrer gegenwärtigen Be-
schaffenheit nicht dieselbe ist, welche sich einst in Pavia, zur Zeit der
Longobarden, befand, und dass bis jetzt die Zeit ihrer Erbauung unbe-
stimmt ist. Aber wenn dies sich so verhält, welcher Zeit wird man sie
dann zuschreiben müssen? Gewiss wird man einem der blühebdsten und
glücklichsten Jahrhunderte, welche diese Stadt im früheren od|er späteren
Mittelalter erlebt hat, den Vorzug geben müssen; einer Zeit, in welcher
die Baukunst in Italien, wie auch verderbt und entartet, doch schon wieder
einen gewissen Werth erhalten haben musste. Niemand, meine ich, wird
behaupten, dass diese Zeit die der longobardischen Herrschaft gewesen sei,
oder vielmehr das siebente Jahrhundert, welches man als die Erbauungs-
zeit dieser Kirche angiebt. Wenn Pavia damals in einer glücklichen Lage
Avar, soweit dies nämlich die italienischen Städte im früheren Mittelalter
sein konnten, so gilt dies wenigstens riicht für die Baukunst. A^^enige Ge-
bäude, und diese ausser aller guten Ordnung und schmuckleer, entstanden
zu jener Zeit in unseren Gegenden; so dass, mit Ausnahme des zehnten
Jahrhunderts, diese edelste Kunst nie in so tiefen Verfall gerathen ist wie
damals, wenn wir aus dem, was auf uns gekommen ist, urtheilen dürfen.

Und in Wahrheit, wenn man nicht jenen Magister casarius, Natalis
genannt und aus der Lombardei gebürtig, der, ein Gründer einer Kirche
zu Lucca, im Jahr 805, nicht seinen eigenen Namen zu schreiben wusste-^);

Ego Natalis, homo transpadanus, magister camrius, cdificavi ecclessiam
beatae Mariae Virginis. , . . intra hanc civitatem {lucanam) in fundamento meo
. . . Signum
f manus Natalis qui hanc cartulam fieri rogavit. Ein authentisches
Dokument aus dem Archiv des Bisthums von Lucca, bei
Bertini. Storia eccles.
di Lucca
Vol. H. Doc. VI face. 9.

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II. Die Kirche S. Micchele maggiore zu Pavia. 211

und jene drei gleichfalls italienischen Künstler, Ursus, Joventinus und Jo-
vianus, die, unter der Regierung des Liutprand, ihre Namen auf barbarische
"Weise in ein steinernes Tabernakel oder Ciborium gemeisselt haben, davon
man gegenwärtig einige Fragmente im lapidarischeu Museum von Verona
sieht, Künstler, die vermuthlich nicht mehr als rohe Steinhauer waren, —
wenn man diese nicht berücksichtigen will, so ist auch nicht der Name
eines einzigen Architekten aus den Zeiten der Longobarden auf uns ge-
kommen

Und auf ähnliche Weise dürften jene Magistri Comacini (vermuthlich
von Como) nicht mehr als einfache Maurermeister sein , welche man vom
König Rotar in seinen Gesetzen erwähnt findet, wo es unter No. 144 so
heisst:
Si magister comacinus cum collegis suis domum ad restaurandum
vel fabricandum super se placito de Mercede susceperit etc.

Was Pavia anbetrifft, so war diese Stadt dazumal zwar der gewöhn-
liche Sitz der longobardischen Könige, aber sie war zu jener Zeit weder
so reich noch so mächtig, wie nachmals. Und jene Monarchen selbst
konnten nicht im Besitz grosser Reichthümer sein, da sie wirklich nicht
mehr waren, als die obersten Magistrate eines militärischen Staates, in
welchem fast so viel unabhängige Herren waren, als Herzöge in den Pro-
vinzen. Und wenn die Völker ein wenig unter der Regierung des Cuni-
bert und des Liutprand aufathmeten, die nicht geradezu wie Barbaren
herrschten; wenn es scheint, dass damals die Künste auf gewisse Weise
begünstigt wurden, so lässt sich dasselbe nicht von den Zeiten des Gri-
moald und der anderen Vorgänger in der Herrschaft sagen. ,

Es konnte sich aber die Stadt Pavia auch nicht im neunten oder im
zehnten Jahrhundert in einem so glücklichen Zustande befinden, daraus
man etwa schliessen könnte, dass sie damals genügendes Vermögen und
Kenntniss besessen habe, um nicht nur ein so prächtiges Gebäude, wie es
ihre Kirche San Micchele ist, zu errichten, sondern auch San Giovanni in
Borgo und die anderen, diesen ähnlichen, welche,in derselben Stadt sind ^
oder waren; welche, da sie in demselben Styl erbaut sind, auch, wie man
vernünftiger Weise voraussetzen muss, alle als Werke einer und derselben
Zeit zu betrachten sind. Denn ich wüsste nicht wohl zu sagen, ob, nach
dem Tode Karls des Grossen bis zum elften Jahrhundert, das Schicksal
unserer Vorfahren, stets in der Willkür von Fremden oder von Usurpatoren,
besser geworden sei, als es unter dem friedlichen Regiment der Longobar-
den gewesen war, die bald Christen und Italiener, wie wir, geworden
waren. Die Anarchie, die bürgerlichen Zwistigkeiten, die äusserste Unwis-
senheit dieser beiden Jahrhunderte, verbunden mit den fortwährenden Ein-
fällen der Ungarn und der Saracenen und mit jeuer Furcht, welche das
verkündete Ende der Welt erweckt hatte, machten diese Periode so traurig,
dass man sich nicht nur alles Bauens enthielt, sondern auch die älteren
Gebäude in Trümmer fallen liess. -

Das zehnte Jahrhundert insonderheit hatte jeden Gedanken von guter
Architektur ausgelöscht; auch die technische Fertigkeit der Magistri casarii
oder comacini (oder „deutschen Meister"), die in gewisser Weise bisher den
Mangel jener hatte ersetzen können, war, aus Mangel an Uebung, vergessen.
Damals erst, gegen den Schluss dieses Jahrhunderts, war es, dass Otto der

') Mafifei. Verona iUust. Lib. XL parte 1. — Muratori. Rerum italic.
scriptores Vol. •/. par.
2, p. 25, ,

«5«
'S

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212 Vorstudien zur Architektur-Geschichte.

Grosse eine Wehr gegen diese Auflösung herzustellen suchte; dass die
orientalische Architektur auf's Neue sich den Häfen Italiens näherte; und
dass sich, an den Küsten von Istrien und von Venedig, jene grosse Um-
wandlung der Baukunst vorzubereiten begann, welche nachmals, mit dem
Beginn des elften Jahrhunderts, zuerst bei uns, sodann in dem gesammten
übrigen Theile des Occidents bewirkt wurde. Das einzige Gebäude von
einiger Bedeutung, an welches man, in italienischen Gegenden, in diesem
zehnten Jahrhunderte die Hand legte, ist die lateranensische Basilika, welche
Papst Sergius III. aus den Trümmern, darin sie schon seit mehreren Jahren
lag, wieder emporsteigen liess. Aber es wurde dies Werk zu den Wun-
dern gerechnet, sogar fehlte es an menschlichem Beistand:
non enim erat
spes, neque solatium de restitutione illius,
wie der Diakonus Johannes, der
zu jener Zeit lebte, schrieb

Der wirkliche Anfang der Wiederbelebung der Architektur bei uns,
jedoch, wie ich (oben) gesagt habe, mit Principien, welche sich von denen
der antiken Kunst sehr unterschieden, war im elften Jahrhundert; das
glücklichste Jahrhundert für Italien, oder, wenn es so besser scheint, das
mindest rohe und unglückliche, soviel deren seit den glücklichen Tagen
des Trajan und der Antonine verflossen waren. Damals, vermöge der Ge-
genwirkung gegen das Feudalwesen, vermöge der Privilegien, welche den
Gemeinden ertheilt wurden, und vermöge der anderen weisen Anordnungen
des ersten der Ottonen, der hiedurch, auch bei uns, fast wider unseren
Willen, der Grosse genannt werden muss, erstanden auf's Neue der Geist
und die Industrie der Italiener, vervielfältigten sich die Schulen, belebte
sich der Handel, wurden unsere Häfen in Kurzem die Emporien des ge-
sammten Occidents, und zögerten auch die zeichnenden Künste, welche
stets dem öffentlichen Glücke folgen, nicht, neue Lebenszeichen zu geben.
Damals sah man eine jede Stadt ihre alten Ruinen wiederherstellen, den
Umkreis ihrer Mauern ausdehnen, und mit den anderen wetteifern, welche
von ihnen die bedeutendsten und prächtigsten Gebäude aufführen würde.
Venedig und Pisa, die sich bereits grosser Reichthümer durch ihren Handel
mit dem Orient erfreuten, waren die ersten, welche das. edle Beispiel gaben,
! und ihre Kathedralen, die gerade in diesem elften Jahrhundert entstanden,

^^ I sind bewunderungswürdige Werke auch für unsere Tage. Ihnen folgten

■j I die Gemeinden von Ancona, Modena, Lucca, Ferrara, Verona, Bergamo,

^ I Mailand, Pistoja, Rom, Parma, Piacenza, und von allen anderen bedeu-

l i tendern Städten der Zeit. Auch die Reformen des Mönchswesens, welche

'j ^ in dieser Zeit in dem gesammten Occident statt fanden, trugen nicht wenig

5 ' zur Erneuerung der alten zerstörten Abteien und zur Verbreitung desjieuen

tBaustyles über die Alpen bei. Derselbe Geist der Religion, welcher in
I diesem Jahrhundert ganz Europa: mit einem heiligen Eifer entflammte und

^ ? zum Zuge in das lieilige Land antrieb, derselbe Geist belebte bei i^rns auch

, jj die Architektur und mit ihr nach und nach die bildenden Künste, ihre

J/ 1 treuen Begleiterinnen,.

I i Auch Pavia behauptete in jenen Tagen eine der ersten Stellungen unter

den bedeutenderen Städten Italiens, und bereits am Ende des elften Jahr-
hunderts regierte es sich nach eigenen Gesetzen; sein Reichthum ist zur
Genüge an dem damaligen, höchst ausgedehnten Umlauf seines Geldes zu
erkennen. In dieser Zeit nun, d. h. gegen den Schluss des elften Jahr-

') Muratori. Annali d'Italia, all' anno 907.

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213

mfF

II. Die Kirche S. Micchele magglore zu Pavia.

hunderts, meine ich, dass seine Bürger, dem allgemeinen Beispiel folgend,
den Beschluss fassten, ihre Basilika San Micchele von Grund aus, in der
Weise, wie wir sie gegenwärtig sehen, wiederzubauen. Wirklich erscheint
sie nach langem Stillschweigen, aufs Neue zu ihrem alten Glänze zurück-
gekehrt, im Jahre 1156, als dort der Kaiser Friedrich I. unter allgemeinem
Jubel empfangen wurde:
In ecclesia S. Michaelis, ubi antiquum regum Lon~
gobardorim palatium fuit, cum midto civium tripudio coronatur'). —

Nach dieser Darlegung zieht Cordero den Styl und die Eigenthümlich-
keiten der Architektur dieses Gebäudes in Betracjit und beweist, Avie der-
selbe auf keine Weise dem Jahrhundert der Longobarden zugeschrieben
werden kann, sondern wirklich der genannten Zeit angehört. Er giebt zu
dem Ende ein sehr ausführliches Bild von den verschiedenen Baustylen,
welche in Italien vom Beginne des Mittelalters bis zum Ende des zwölften
Jahrhunderts herrschend waren und sich einer aus dem anderen entwickel-
ten. Es ist daraus in diesen Blättern bereits Einiges mitgetheilt worden.

») Otto Frisiiig. De gestis Friderid. Lib. II. c." 21. -

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BERICHTE UND KIUTIKEN.

1833—1835.

Album d'un voyage en Turquie fait par ordre de sa Majest6 l'Empereur
Nicolas I. en 1829 et 1830 par C. Sayger et A. Desarnod. Lithographid
h Paris, chez Engelmann et Comp. (Gross Fol. Die Lieferung zu 6 Blättern.)

(Museum, 1833, No. 1.)

P)

Das genannte Prachtwerk, davon nns zwei Lieferungen vorliegen, ent-
hält, seiner Benennung als Album entsprechend, mannigfache Gegenstände.
Auf Vignetten-artige Architektur-Bildchen folgen Ansichten von Orten und
Gegenden, die durch den russischen Krieg merkwürdig geworden sind, zum
Theil von kriegerischen Scenen belebt; neu entdeckte antike Sculpturen
wechseln mit geometrischen Grund- und Aufrissen merkwürdiger Archi-
tekturen. Eine vortreffliche Ausführung zeichnet dieses Werk zunächst
aus; statt weiterer Empfehlung w4rd es genügend sein, hier nur Namen der
Lithographen, wie Villeneuve, Bichebois u. a., und Adam als den
Zeichner der Staffage zu nennen. Ein schöner Effect in Licht und Luft,
ein warmer Ton in der Zeichnung, eine sorgfältige Durcharbeitung und ein
sauberer Druck geben demselben einen Platz unter den Meisterwerken
französischer Lithographie. Mehrere dieser Blätter sind, was bei blossen,
nach der Natur aufgenommenen Veduten nicht immer der Fall ist, voll-
kommen abgeschlossene Kunstwerke. ...

Dass die Zeichner uns, ausser den Bildern des Lebens und der Gegen-
wart, auch Früchte antiquarischer Forschungen mittheilen, müssen wir
ihnen Dank wissen. So enthält das erste Heft eine Zeichnung nach der
Statue eines liegenden Silen's, das zweite Heft Zeichnungen nach den Re-
liefs zweier griechischer Monumente (wie es scheint, Grabmonumente). Wich-
tiger — denn unsre Kenntniss des arabischen Baustyles steht einstweilen
noch auf schwachen Füssen — sind die Linear-Zeichnungen der Moschee
Selim's zu Adrianopel, welche uns hier in Grund- und Aufriss, in Durch-
schnitt und perspectivischer Ansicht vorgelegt wird. Dies Gebäude ist im
Grundriss wesentlich viereckig (mit einem, gleichfalls viereckigen Ausbau
auf der hinteren Seite); in einer gewissen Höhe aber geht dessen Form,
durch die Vermittelung halber Kuppeln über den Ecken, in das Achteck

i;

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Berliner Museum. — Tizian. 215

über. Es ist von einem grossen Kuppelgewölbe bedeckt, das minder auf
den Wänden ruht, als auf acht starken, freistehenden Pfeilern im Innern
der Moschee, von denen nur die beiden hinteren mit der Mauer verbunden
sind. Die Vermittelung aus dem Achteck in den Grundkreis der Kuppel
wird im Innern durch jene kleinen stalactitenartigen Gewölbe zu Wege
gebracht, welche aus den arabischen Bauten in Sicilien und Spanien bekannt
sind. Vier hohe schlanke Minarets, welche in vier Absätzen allmälig dünner
Averden, schiessen neben den Ecken des Gebäudes empor. Die Moschee hat
einen viereckigen Vorhof, der von offnen, mit kleinen Kuppelgewölben
bedeckten Hallen innerhalb der Mauer umgeben ist. Diese Hallen ruhen
auf Säulen, deren Kapitale grosse Rundbögen, oder, bei engerem Zwischen-
räume, geschweifte Spitzbögen tragen. Ausserdem kommt auch der gewöhn-
liche Spitzbogen vor. — Wir wagten nicht bei dieser Beschreibung der
Moschee mehr ins Detail zu gehen, denn die Treue der Zeichner schien
uns hier aus mehreren Umständen ein wenig zweifelhaft. Vielleicht
bringen uns die folgenden Hefte einzelne Details dieses höchst merkwür-
digen Gebäudes.

Berliner Museum. — Tizian.
(Museum, 1833, No. 8.)

Die Gemäldegallerie des Berliner Museums zeichnet sich durch eine
grosse historische Vollständigkeit — die erste Forderung an eine öffent-
liche Gallerie — vor andern Sammlungen aus; man hat, für die verschie-
denen Länder und Zeiten, die Belege mit gleicher Sorgfalt und mit gleichem
Glück erworben und angeordnet. Nur einige der ersten Meister sind noch
durch minder bedeutende Werke vertreten, oder es fehlt ihr Name über-
haupt noch im Katalog. Zwar waren in den Sammlungen, daraus die Gal-
lerie des Museums zusammengesetzt oder ausgewählt wurde, bekanntlich
mancherlei erste Namen vorhanden; doch hatte man die löbliche Absicht,
ein Gemälde mit zweifelhaftem Taufschein lieber einem geringeren Künstler
zuzuschreiben , als durch leeren Namenprunk das Auge des unbefangenen
Beschauers irrezuleiten. Indess, bei den bedeutenden Mitteln, welche durch
die Freigebigkeit Sr. Majestät des Königs dem Museum zu Gebote stehen,
lässt sich hoffen, dass jenem Uebelstande in wenigen Jahrzehnten abge-
holfen sein wird.

So eben ist ein neuerworbenes Bild von Tizian (dessen Werke in der
sonst reich vorhandenen venezianischen Schule gänzlich fehlten) aufgestellt.
Nicht bedeutend an Umfang, noch an Composition, reicht dasselbe gleich-
wohl hin, die Stelle, welche dieser grosse Künstler in der Geschichte der
Kunst einnimmt, hinlänglich zu bozeichnen. Es ist das Portrait von Tizians
Tochter Cornelia, Kniestück, überlebensgross; von dem Abbate Cellotti,
welcher dasselbe aus dem Besitz einer venezianischen Familie an sich
gebracht, zu Florenz gekauft. Halb dem Beschauer den Rücken zuwendend,
blickt sie über die rechte Schulter nach diesem zurück, indem sie mit beiden
Händen eine silberne Schüssel mit Früchten emporhebt. Sie trägt ein schweres

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Berichte und Kritiken.

goldstoffencs Kleid, einen leichten Flor, welcher über den entblössten Nacken
zurückfällt, eine Perlenschmir nm den Hals und ein reich mit Steinen ge-
schmücktes Diadem im röthlich blonden Haar, das fast a la Chinoise zurück-
gestrichen ist. Ein dunkles scharfes Auge, darüber sich das Augenlied
leise, wie winkend, -senkt; feine, scharfgezirkelte Augenbrauen; uaf der
flachen Stirn ein leichter Schatten über dem linken Auge; eine gerade,,
wenig gehobene Nase; ein lechzend geöffneter Mund, ein zartgerundetes
Kinn,—dies sind die Hauptformen des Gesichtes. Nirgend scharfe Linien;
die Sonderung der Formen, insbesondere bei der Wendung des Halses und
des Kopfes, durch die leisesten Uebergänge des Helldunkels vermittelt, und
dessen Schmelz minder in der Nähe, wo Alles unbestimmt verschwimmt,
als in der Entfernung von einigen Schritten bemerkbar; eine durchsichtige,
klare, innerlich warme Farbe, aber kein Weiss, kein Roth, Blau oder Grün.
Was Tizian je in der Malerei des Fleisches, d. h. in der Darstellung des
Lebens, vermocht hat, davon giebt dies Bild ein vollgültiges Zeugniss.
Seltsam contrastirt mit den nackten Theilen das schwere, ungefüge Gewand;
aber es dient nur, den Zauber, der in jenen liegt, zu erhöhen. Das Bild
macht den Eindruck, als habe eins der griechischen Götterweiber, — ver-
lockend, wie sie das Mährchen des Mittelalters auffasst, — sich gefügt, dem
sterblichen Menschen in gewohnter Tracht zu erscheinen; als sei es bereit,
die lästige, ungehörige Hülle von sich zu werfen, in ewig reizender Jugend
„den alten Göttern wieder zuzueilen."

Ueber Münchens Kunstschätze und künstlerische, der Oeffentlichkeit
gewidmete Bestrebungen von Julius Max Schottky, Professor.
Erste Abtheilung: Malerei. München,
1833.

(Museum, 1833, No. 9. f.)

I-

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8 !

Eine brauchbare und interessante Compilation.

Der Verfasser giebt zuerst Andeutung über München's frühere
und gegenwärtige Kunstgeschichte, indem er letztere eine Ge-
schichte der Kunstförderung durch Baierns Regenten nennt, welche insbe-
sondere seit dem fünfzehnten Jahrhundert eifrig bemüht gewesen, Kunst
und Wissenschaft allmählig heranzubilden und zu püegen. Er fängt, nach
einigen Rückblicken auf das fünfzehnte Jahrhundert, mit dem Regierungs-
antritte Herzog Albert V., des Grossmüthigen (1550), des Lorenzo Medici^
von Baiern, an. Unter diesem Fürsten begannen Kunst und Wissenschaft
aufzuleben, sein Hof war mehr als königlich: ^Sänger, Künstler, Gelehrte,
auch Schalksnarren" begleiteten ihn häufig. Er habe zuerst daran gedacht,
eine Sammlung von -Kunstsachen, besonders Alterthümern, anzulegen; alte,
dahin bezügliche Rechnungen werden mitgetheilt. Unter den Nachfolgern
Albert's wird besonders Maximilian L (im Anfang des siebzehnten Jahr-
hunderts) gerühmt. Dieser Fürst habe eine grosse Menge Künstler beschäf-
tigt, habe das herrliche Bronze-Denkmal für Kaiser Ludwig den Baier in
der Frauenkirche errichten, die Residenz und in ihr die „schöne oder
reiche Kapelle," ein überaus kostbares Reliquien-Behältniss,. erbauen lassen,

21G

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Ueber Münchens Kunstschätze etc. 217

habe die Gemäldegallerie gegründet, die grosse Gallerie bereichert und
endlich ein bedeutendes Antiquarium-und eine eigne Kunstkammer zusam-
mengebracht. Ueber den abenteuerlichen Inhalt und die höchst naive Auf-
stellung der letzteren theilt der Verfasser aus Martin Zeiller's gleichzeitiger
Schilderung Verschiedenes mit; der französische Novellist Balzac hätte^
als er in seinem Peau de chagrin den Trödd eines haibverrüclLten Kunst-
händlers beschrieb, bei Zeil 1er in die Schule gehen und ein. launigeres
erstes Kapitel schreiben können. Wir geben unsern Lesern ein paar
Zeilen daraus zur Probe:

— „Das Para;dies flach in Holz geschnitten, über die maassen schön,
gross und hübsch erhebt; wenn man's aufthut, so ist inwendig auch flach
in Holz geschnitten die Schlacht zu Mühldorf, und unter derselben zween
bairischer Fürsten Conterfei. Ein halbe Hirnschale und Kopf von einem
Satyrq; ein schwarzer Strahl- oder Wetterstein vom Himmel. Mehrerlei
flache und runde, grosse und kleine Holzschnitte; ein ganzer Elendfuss,
oben" mit Silber gefasst, daraus zu trinken, wie man's zu Danzig macht.
Auf einem Tisch geschmelzte Trüchlein, ein geschnittener runder helfen-
beinerner Trog, wie ein antikisches Grab. Kaiser Friedrichs Gemahls Braut-
hemd'; ein krystalliner Knopf von Kaiser Friedrichs Sessel; ein silberner
Küriss-Eeiter. Unter dem Tisch hölzerne geflochtene und geschlossene
Pfannenstiel; mehrerlei Schuh, der Herzogin Jacobe zu Gülch Pantoffel.
Daneben und unter dem Tisch antikische Bilder. Auf einem Tisch Herzog
Christophs in Baiern "Wehr, mit ganz silberner hübsch gearbeiteter Schei-
den. Hansen von Frundsperg Wehr, deren Scheide mit eines Franzosen
Haut überzogen, mit welchem er sich gebalget und ausgedingt, dass der
üeberwinder des Ueberwundenen Haut über sein Wehrscheid ziehen
solle." U. s w.

Nach dem genannten Fürsten erwähnt der Verfasser besonders der
Verdienste des Max Joseph HL, der die Akademie der Künste gestiftet,
sodann wird Carl Theodor als ein besonderer Beförderer der Kunst genannt,
der sämmtliche Gallerien bereichert, das gegenwärtige Lokal^der Gemälde-
gallerie im Hofgarten erbaut habe. Den Schluss machen die allgemein
bekannten Verdienste des verstorbenen Königs, Maximilian Joseph, so wie
des jetztregierenden um die Beförderung der Kunst. —

Hierauf wendet sich der Verfasser zu den gegenwärtig vorhandenen
Gebilden der Malerei, im ersten Abschnitt zu der Pinakothek.
Ueber die in ihr auszuführenden Fresken, die Geschichte der neuen Malerei
darstellend, wird ein ausführlicher Bericht vorgelegt.

Dann folgt eine Besprechung der königlichen Gemäldegallerie.
Zusammengesetzt aus grösseren Hauptsammlungen — aus der ursprünglichen
von München, dann aus jenen von Düsseldorf, Mannheim und Zweibrücken,
— ist diese Gallerie besonders reich an Kunstschätzen aus der altober-
deutschen Malerschule, die ihr aus den aufgehobenen Klöstern und Abteien
zugeflossen, und an Werken der niederländischen Schule, (insbesondere an
Bildern von Rubens), die früher der Düsseldorfer GaUerie angehörten. Der
Verfasser führt die vorzüglichsten Schätze dieser Gallerie, alphabetisch
geordnet, auf und schaltet, um das ermüdende Katalogisiren zu unter-
brechen , manches Urlheil sachkundiger, wenn auch bisweilen überspru-
delnder Kunstfreunde über einige derselben ein: — Schorn, v. Quandt,
Speth, Johanna Schoppenhauer, Burtin, Hirt, Hegner, Heinse, JRittershausen
(in seinen „vornehmsten Merkwürdigkeiten der Residenzstadt München" vom

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218

Berichte und Kritiken.

Jahre 1788), — später Göthe, Waagen, Araalia v. Helwig u. a. m. Es
ist interessant, die verschiedenen Physiognomieen, welche in dieser etwas
gemischten Gesellschaft auftreten, zu beobachten: den anspruchlosen, beson-
nenen Forscher, den altmeisterlichen Kenner, den gemüthlichen Kunstfreund,
den Dichter, den Enthusiasten u. s. w. Freilicli durfte es nicht des Ver-
fassers Absicht sein, in dieser Zusammenstellung so höchst verschieden-
artiger ürtheile eine Art Gesammtkritik der Gallerie, einen Leitfaden für
den Beschauer derselben, eine Schilderung ihres Zustandes für den Ent-
fernten vorlegen zu wollen; es durfte ihm nur darum zu thun sein, dem-
jenigen , der mit gesunden Augen und mit Gefühl für wahre Kunst jene
Bildersäle betritt, eine angenehme Unterhaltung durch die Vergleichung
dieser Ansichten zu gewähren. War jenes der Fall, so hätten wir aller-
dings mancherlei an der Auswahl des Verfassers auszusetzen; wir würden
dann über manch ein Bild weniger, über manch eines mehr gesagt wünschen.
Van der Werf's Bilder z. B., deren „Vollendung, Harmonie , magische
Behandlung und edle Figuren" in der Einleitung gepriesen werden, möchten
denn doch in ihrer elfenbeinglatt-geleckten Manier füglich eher in eine
Raritätenkammer gehören. Den überzuckerten Bildern von Carlo Dolce
(die freilich alle bei der Anwesenheit des Referenten in München, von
Damen, copirt wurden) möchte es nützlicher sein, wenn sie hier mit Still-
schweigen übergangen würden. Auch scheint die Redeweise der Ueber-
schwenglichen (Heinse, Eittershausen) nicht füglich mehr an der Zeit. Die
Entzückung z. B, des Ardinghello-Heinse über die Himmelfahrt Mariä von
Guido "Reni dünkt uns heuer ein wenig fabelhaft, zumal wenn auf uns das
Bild doch nur den Eindruck einer wohlberechneten Theaterscene macht. —
Dagegen wird über manch ein erstes Meisterwerk gar nichts gesagt. So
hat der Verfasser für Tizians Bilder, die er nur nach den Bezeichnungen
des Cataloges aufführt, gar kein begleitendes W^ort, — dessen sie für den
Beschauer allerdings entbehren können, — mitgetheilt; und es sind doch
nie Portraits mit so ergreifender Wahrheit, mit solcher inneren Lebens-
wärme und Kraft, mit solcher Verherrlichung der irdischen Gestalt gemalt
worden. Und das eine gewaltigste der grösseren Bilder von Tizian, ^Venus,
welche eine Bacchantin in die Geheimnisse des Bacchus einweiht," möchte
ich ein fast grausig schönes Bild nennen; so berührt es und ergreift es mit
allen Schauern des Venusberges, davon die alten Lieder singen. Dies ist
jene vollendete Meisterin, jene zauberische Königin, mit der Melancholie
der Befriedigung auf ihrer Stirn; dies ist eins jener Opfer, die sich ihr
freiwillig und olme Rückhalt hingeben; dieser Faun, welcher gleichgültig
und .von dem Reiz der jungen Bacchantin unberührt zurückschaut, ist einer
jener Dämonen, welche im Dienste der Zauberin stehen. Es ist gut, dass
nicht weit davon Dürer's zürnende\ Apostel hängen, und das stille, beseli-
gende Bild von Francesco Franciawelches die Jungfrau mit ihrem Kinde
im Rosenzwinger darstellt. Das gewaltige blasse Bild von Franz Zurbaran
(den man mit Unrecht den spanischen Caravaggio nennt, denn er ist inehr),
Maria und Johannes, die von Jesu Grabe heimwandern, hat'der Verfasser
gar nicht angeführt. ,

Die königl. Bildergallerie zu Schieissheim, 1649 Gemälde in
45 Zimmern. Hier befinden sicli jene Kunstschätze der altoberdeutschen
Schule, welche oben erwähnt wurden und darüber der Verfasser mit den
Worten des Gallcrie-Direktor von Mannlich u. a. sagt: „Unter einer Zahl
von 500 Gemälden der ältesten Meister, welche aus verschiedenen Provinzen

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Deutschlands hieher zusammengebracht wurden, fand sich nicht ein einziges
Bild, das nach einem andern copirt oder zweimal in der Sammlung vor-
handen wäre; nur erst aus einer etwas spätem Periode, nach wirklicher
Entstehung der deutschen Schule (?), finden sich einige und doch nur
wenige Copieien." Hier befindet sich ferner für jetzt die bertlhmte Bois-
seree'sche Sammlung, welche der König von Baiern angekauft und in
welcher die grössten Kunstkhätze der niederdeutschen und niederländischen
Schule enthalten sind. Der Besuch von Schieissheim, so wie der Moritz-
kapelle von Nürnberg, welche, als eine der Filial-Gallerieen von München,
auch manch ein bedeutendes Bild beider Schulen enthält, wird die beste
Gelegenheit zu einem gründlichen Studium der deutschen Malerei im Mit-
telalter geben. Der Verfasser führt uns in dieser Gallerie auf ähnliche
Weise und mit ähnlicher Gesellschaft, wie in der vorigen, und"wir finden
uns hie und da zu ähnlichen Ausstellungen veranlasst. So fehlt zum Bei-
spiel ganz eine Erwähnung des hier befindlichen Altargemäldes von Dürer,
welches von der Baumgärtner'schen Familie in der Katharinenkirche zu
Nürnberg gestiftet worden, und dessen einer Flügel (No. 153) insbesondere
eins der trefflichsten Bilder dieses grossen Meisters ist. Es stellt einen der
Donatoren vor; einen geharnischten rothgekleideten Ritter mit einer Lanze
in der Hand, vor einem weissen Pferde stehend, — eine Schlucht und
darüber in der Ferne eine Burg; scharf gezeichnet und leicht, mehr getuscht,
als wie gemalt; eine eigenthümlich phantastische Gestalt, von überraschen-
der Verwandtschaft mit dem berühmten Dürer'schen Ritter in: Ritter, Tod
und Teufel. Statt dessen theilt uns der Verfasser eine philosophische Ab-
handlung des Dr. Rosenberg über die falsche Auffassung von Dürer's Lucrezia
mit, welches Bild freilich nichts weiter ist als irgend ein Studium, dazu
dem Meister vielleicht Frau Agnes gestanden. Ebenso wünschten wir, dass
in Altdorfer's reichem Bilde, den Sieg Alexanders des Grossen über den
Darius darstellend, minder des „beispiellosen Fleisses und der höchst schätz-
baren Ausführung" erwähnt wäre, als vielmehr der wahrhaft grossartigen
landschaftlichen Anordnung des Ganzen, (so dass das Einzelne nirgend
störend hervortritt) und der phantastischen Weise, wie in der Ferne die
weite Landschaft mit Städten, Flüssen und Gebirgen und der hohe, wolken-
bedeckte Himmel sich anschliesst, darin auf der einen Seite der Mond auf-
geht, auf der andern die untergehende Sonne aus einer Wolkenhöhle zurück-
schaut; Aehnliches kennen wir in neuerer Zeit nur aus den Bildern von
Martin: die Sündfluth, der Durchzug der Juden durch's rothe Meer, das
Fest des Belsazar u. s. w. Insbesondere aber hätte der Verfasser den in
Zimmer XVni befindlichen Gemälden eine grössere Aufmerksamkeit widmen
müssen. Hier befinden sich die vortrefflichsten Niederländer, . und unter
ihnen verschiedene, deren Hauptvorzug weder in jener übersorgfältigen
Pinselführung, noch in jener ängstlichen Abschrift eines höchst uninteres-
santen , nicht selten brutalen Lebens besteht, sondern die sich mit Humor
und Laune darüber zu erheben und das Gemeine durch die seltsame Gran-
dezza, welche sie ihm ertheilert, auf eine lustige Weise zu adeln wissen.
Unter andern auch hängt in diesem Zimmer ein kleines Bild von dem
jüngeren Teniers, welches wie so manches andere von diesem Künstler
(und auch manches von seinem Vater), als ein Vorläufer seines genialen
Meisterstückes, die Versuchung des heiligen Antonius darstellend, in der
Gallerie des Berliner Museums, zu betrachten ist: — eine Zauberin, welche
Geister beschwört. Sie kniet vor einer Lampe und schnürt einem seltsamen

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220

Berichte und Kritik eu.

Unthier, einer Art Fisch, die Kehle zu, indem sie sich nach dem Geister-
spuk hinter ihr umsieht, — tolles Gesindel! Da reitet einer auf einer
fabelhaften Bestie mit einem Pferdeschädel; er hat in die Nase seines
eigenen Schädels ein Klarinet hineingesteckt, darauf er lustig fingert; er
trägt ein kleines Mäntelchen und statt der Mütze einen Leuchter mit bren-
nendem Licht. Entsetzt flüchtet das übrige Fratzenvolk. Es müsste interes-
sant sein, in diesen kleineren Vorläufern die Entwickelungsgeschichte des
genannten grossen Possenspieles, wo alle diese tollen Gebilde um den
% armen Heiligen her ihr Wesen treiben, zu verfolgen.

lieber die Boisser^e'sche Sammlung ist viel geschrieben, und es
konnte dem Verfasser nicht schwer fallen, manch eine geistreiche Ansicht
liebenswürdiger Kunstfreunde und Freundinnen mitzutheilen. Der geschicht-
liche Werth dieser Sammlung und ihr Kunstwerth an sich ist zu weltbe-
kannt, als dass wir hier etwas von jenen Mittheilungen wiederholen dürften;
Max von Schenkendorfs frommer Wunsch, dass diese Bilder an Künstler-
hand durch alle deutschen Lande gehen möchten, hat sich durch die
Strixner'schen Lithographieen auf eine so seltene Weise erfüllt, wie es
wohl kaum der begeisterte Dichter geahnt hatte. Eine Bemerkung nur
erlaubt sich Referent. Man ist noch immer der Meinung, dass erst in dieser
sogenannten niederdeutschen Schule, von van Eyck bis Schoreel,
sich eine eigenthümlich deutsche Malerei entwickelt, dass erst sie sich von
den byzantinischen Fesseln losgerissen habe; auf letzteres deutet die, wenig-
stens für Gemälde der Boiss^ere'schen Sammlung noch angewandte Bezeich-
nung einer „byzantinisch-niederrheinischen Schule." Doch wird
sich nachweisen lassen, dass in Deutschland die Nachahmung byzantinisch-
römischer Typen bereits mit dem dreizehnten Jahrhundert, da letztere bis
zum Ekel verzerrt erscheinen, wenn auch nicht aufhört, so doch durch das
Auftauchen einer anderen, eigenthümlichen Formenbildung mehr und mehr
beschränkt wird. Dieser neue Styl ,• welcher sich durch einen edleren
Charakter in den Figuren, durch leichtere Verhältnisse des Körpers und
durch eine freiere Haltung desselben, insbesondere durch weich'e, lange
und grossartige (nie eckig gebrochene) Linien des Faltenwurfes auszeichnet,
ist gleichzeitig mit dem Erwachen einer nationalen Poesie, mit der Ver-
breitung des Spitzbogenstyles in der Baukunst, und dürfte am besten, wie
Baron Rumohr für letzteren vorgeschlagen, den Namen eines germani-
schen Styles verdienen,'indem er, vom Anfange des dreizehnten bis zum
Anfange des fünfzehnten Jahrhunderts, wie insbesondere in Deutschland,
so überhaupt in den Ländern herrschend ist, Avelche unter germanischem
Einfluss-standen. Zu ihm gehört jene fälschlich sogenannte byzantinisch-
niederrheinische Schule; als seine Blüthe vielleicht sind die Werke, welche
man dem Meister Wilhelm von Köln zuschreibt, zu betrachten. Ich weiss
nicht, ob die durchgeführte Charakteristik, die sorgfältige Ausführung
in den kleineren Nebendingen, welches wesentliche Eigenschaften des spä-
teren niederländischen Styles sind , überall für jene grossartigere Würde
entschädigen. —

Nach diesen königlichen Sammlungen führt /uns der Verfasser in die
bedeutendsten Privat-Bildersammlungen von München, zunächst in
die herzoglich von Leu chtenbergi sch e Gallerie. Die für eine Privat-
sammlung seltene Vollständigkeit an Proben aus allen Zeitaltern und Schulen
(vornehmlich neuerer und neuester Zeit), verbunden mit der Schönheit der
Gegenstände, macht diese Galleric bekanntlich zu einer der grössten Sehens-

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lieber Münchens Kunstschätze etc. 221 i

Avürdigkeiten Münchens. Der Verfasser theilt auch hier, indem er die I

einzelnen Meister ali^habetisch aufführt, eigene und anderer Kunstkenner I

Bemerkungen mit; aber auch hier vermissen wir für dies oder jenes
Hauptbild die einführenden Worte, während wir bei minder bedeutenden :f

aufgehalten werden. Die schönen Bilder von Tizian, die tiefleidenschaft-
lichen Bilder von Giorgione werden eben nur erwähnt; Murillo's wunder-
liebliche Madonna >\ärd zwar etwas näher beschrieben, doch stimmen wir v
nicht ganz mit der Ansicht des Verfassers, wenn er in der Mutter „ganz
I
Frömmigkeit" sieht: dies schelmische Zucken in dem linken Mundwinkel, • '
diese niedergeschlagenen grossen, schwarzen Augen, die unter den langen
Wimpern leise hervorzublicken' scheinen, contrastiren halt ein wenig mit
dem Heiligenschein. Ein gewaltiges Bild desselben Meisters und nicht
minder eine Zierde dieser Gallerie ist der daneben hängende grosse Pilger-
Engel, zu dessen Seite ein Bischof kniet; er sieht mit seinem bleichen
Gesicht, das so seltsam von dem dunklen Haar überschattet wird, fast aus
wie der Engel des Todes; und dazu passen auch seine grossen Schritte
und das vom Winde in dünnen Falten scharf zurückgetriebene Gewand.

Andre Privatsammlungen, die des Professor Hauber, des Staatsrathes i

Ritter v. Kirschbaum, des Geheimerathes Ritter v. Klenze, des Canonicus
Speth, des Inspector Gündter, folgen. Dann eine kurze Beschreibung der
bekannten Fresco - Gemälde in den Arkaden des Hofgartens. . f

Hierauf das Königl. K ab in et der Handz eichn ungen und Elfenbein- f^

Schnitzwerke, das mancherlei Bedeutendes enthält. Die Handzeich-
nungen, 9000 an der Zahl, sind musterhaft geordnet und aufbewahrt; unter
die vorzüglichsten gehören fünf Blätter von Raphael, von denen das ausge- . .

zeichnetste unter Glas und Rahmen hängt: der, Leichnam eines Bischofs, um
welchen sich, Heilung erwartend, Blinde, Lahme etc. sammeln. — Von den .

Elfenbein-Schnitzwerken erwähnt der Verfasser insbesondere der verschie- »

denen älteren, die der Zeit des sogenannten byzantinischen Styles ange-
hören (deren aber leider kein einziges ein bestimmtes äusseres Datum hat, J;
was bei unseren noch geringen Kenntnissen dieser früheren Perioden der »
mittelalterlichen Kunst so wünschenswerth ist). Mit Recht macht der Ver-
fasser auf ein dort aufbewahrtes seltenes Kästchen von Bronze (wahrschein-
lich ein Reliquienkästchen) aufmerksam, welches von vier sitzenden Figuren
(den Aposteln?), die ein Buch auf dem Schoosse haben und lesen oder
schreiben, getragen wird, und dessen Seiten, so wie der dachförmige Deckel, ;
mit Reliefs aus der heiligen Geschichte geschmückt, sind. Der Verfasser
bezeichnet das Alter dieses Kästchens unbestimmt, als in das früheste
christliche Alterthum hinaufreichend, zugleich aber vergleicht er es mit den
Sculpturen am Portal der (im zwölften Jahrhundert erbauten) Schotten-
kirche von Regensburg. Ich glaube, dasselbe, nach gewissen Kennzeichen,
für ein Werk des elften Jahrhunderts halten zu dürfen. Die Arbeit ist sehr
roh und erinnert, durch eine gleiche Ahnung von Form im Nackten, durch
ähnliche Behandlung des Faltenwurfes und noch mehr der Köpfe» sowohl
an die Reliefs der alten Bro'nzethüren im Augsburger Dom (vom Jahre 1047); r
als sich auch, in den eigenthiimlich verschobenen Stellungen, Erinnerungen "
an die Malerschulen des elften Jahrhunderts bemerken lassen, wie solche
in den prächtigen Bamberger Handschriften der Zeit, welche in der Münchner r
Bibliothek befindlich sindj auftreten. ;

Die beiden folgenden Kapitel sind dem Königl. Kupferstich Kabi-
nett so wie den Malereien der Königl. Porzellanfabrik gewidmet, ?

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Berichte und Kritiken.

welche letztere, unter der artistischen Leitung des Architekten, Professor
Gärtner, Trefflichstes leistet.

Umständlicher verbreitet sich der Verfasser über Münchens Leistungen
im Gebiete der Glasmalerei, sowohl wie dieselbe auf würdigste "Weise
wieder zum Schmuck der Kirchenfenster (des Regensburger Domes) ange-
wandt wird; als auch, wie sie kleinere, höchst ausgeführte Gemälde, auf
eine einzige Glastafel gemalt und fest geschmolzen, darstellt. Die Herren
Boisseröe und Bertram haben verschiedene der schönsten Gemälde ihrer
ehemaligen Sammlung auf diese Weise copiren lassen, und Referent selbst
ist Zeuge des zaubrischen Eindruckes, welchen diese ätherischen, körper-
losen Gebilde auf den Beschauer hervorbringen.

Belehrend und interessant ist eine folgende grössere Abhandlung über
die Entstehung und Ausbildung der Lithographie und ihres
Druckes (zum Theil nach den Mitheilungen des Canonicus Speth). Der
Verfasser schliesst mit Aufsätzen über den Kunstverein, über München's
Kunsthandlungen und über die Königl. Akademie der bildenden
Künste. Im Anhange theilt er, als eine werthe Reliquie, die Briefe
von Göthe an den Maler Eugen Neureuther, den bekannten Ara-
besken-Zeichner, mit.

Das Buch wird besonders den Fremden, welche ein Kunstinteresse nach
Mtinchen führt, erwünscht sein.

Auswahl der vorzüglichsten Gemälde der Pinakothek, herausgegeben von
der literarisch-artistischen Anstalt der J. G. Cotta'schen Buchhandlung in
München. Vierte Lieferung. Gross Roy. Fol.

(Museum, 1833, No. 12.)

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Diese Lieferung enthält die Himmelfahrt der Maria von Rubens, das
Christkind mit dem kleinen Johannes in einer Landschaft von demselben,
beides lithographirt von Ferd. Piloty,.und das Innere einer Bauernschenke
von D. Teniers, lith. von R. Leiter.

Wenn überhaupt ein Meister, so ist namentlich Rubens für lithogra-
phische Nachbildung, wie die vorliegenden Blätter, geeignet. Jener Lebens-
drang und jene Lebensfülle, welche ihn stets über die Grenzen einer
strengeren stylistischen Auffassung hinaustreiben, jene wilde Kraft in Wahl
und Zusammenstellung von Farben und Lichtern, jene Freiheit eines breiten,
markigen Pinsels, endlich jene nachlässige Genialität oder geniale Nach-
lässigkeit, welche sich gar nicht selten in seinen Bildern kund giebt, alles
dies dünkt uns leichter und lebendiger im Steindruck, als in den verschie-
denen Arten des Kupfeistiches erreichbar. Der Zeichner der genannten
Bilder von Rubens hat diese Aufgabe trefflich gelöst: Charakter, Leben
und Farbe sind, so weit es eine Zeichnung im Stande ist, wiedergegeben.
Doch gebührt auch dem Druck von Flachenecker und Hohe alle Anerken-
nung: wir haben in Berlin die trefflichsten Steinzeichnungen in der Regel
bisher nur verätzt oder dumpf gedruckt erhalten.

Nicht minderes Lob gebührt der Lithographie nach einem der gemüth-

222

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Vita dl Benvenuto Cellini etc. 223

liclieren Bilder von Teniers; auch hier ist der Chmkter des Originals
walir und lebendig aufgefasst, auch hier die eigenthümlich leichte, ich
möchte sagen, launige Pinselführung ohne Zwang wiedergegeben, welche
den Bildern von Teniers, ihrem Gegenstande gemäss, eigen ist.

AFIOS AYVOYSTINOS KAI HAIS 2X0AASTIKOS.

Eine also bezeichnete Lithographie, die an einem hiesigen Kunstladen
(bei Sachse & Comp.) aushängt, zieht seit einigen Tagen die Aufmerksam-
keit der Vorübergehenden auf sich. Sie stellt einen nackten Knaben dar,
der am Meeresstrande aus vier Büchern einen Kasten zusammengestellt hat,
und bemüht ist,'mit der hohlen Hand das Meer hineinzuschöpfen; zwei
dieser Bücher tragen die griechische Aufschrift: Logik und Phänomenologie.
Vor dem Knaben steht der heilige Augustin, der ihm die Eitelkeit seines
Treibens zu bedeuten scheint. Eine Unterschrift sagt, dass das Original
dieser Darstellung mit obiger Angabe sich als Handzeichnung in einem zu
Athen neu entdeckten Cod. Mspt. von den Werken des heiligen Augustin,
in einer griechischen Uebersetzung, finde. Die hiesigen Philosophen, welche
den Knaben auf sich beziehen, zweifeln an der Aechtheit des Bildes. Kenner
wollen -in den Linien des Faltenwurfes mehr altitalienische Motive (des
dreizehnten und vierzehnten Jahrhunderts) als byzantinische finden; die
Formen des Nackten scheinen durch den Lithographen berichtigt. Es frägt
sich demnach, ob der Künstler ein Athener, oder ein Pisaner, — oder ob
er vielleicht ein Berliner gewesen ist? —

Vita di Benvenuto Cellini, orefice e scultore Fiorentino, scritta da lui
medesimo. Giusta l'autografo pubblicato dal Tassi. Lipsia presso Leopoldo
Voss. 1833. (2 Bände in gross 12.)

(Museum, 1833, No. 17.) -

Benvenuto Cellini hat seinen Nachruhm fast mehr seinen Schriften als
seinen plastischen Werken zu verdanken; vor allen seiner Lebensbeschrei-
bung, welche mit künstlerischer Einfalt das Bild eines höchst eigenthüm-
lichen Charakters und, was wichtiger ist, in diesem und um ihn das Bild
einer merkwürdigen, mannigfach bewegten Zeit vor uns entfaltet. Dies
Buch führt uns unmittelbar in die Verhältnisse* und Zustände Italiens um
die Mitte des sechzehnten Jahrhunderts, und wir erkennen daraus die Mög-
lichkeit, dass die Kunst, welche zu Anfange des Jahrhunderts ihren höch-
sten Gipfel erreicht hatte, so schnell wieder herabsank. Denn wo an die
Stelle des Gemeinsinnes und hoher durchgreifender Begeisterung, Willkühr
und Liebhaberei und leere Prunksucht getreten sind, da ist es um den
Inhalt der Kunst gethan, wie lange auch äussere Schönheit und Correktheit
der Form sich in den Werken erhalten mag.

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Berichte und Kritiken.

Cellini's Treben ist durcli Götlie's meisterliche Uebersetzong auch bei
uns völlig eingebürgert. Doch ist zu bedauern, dass dieselbe, so wie die
Üebersetzungen anderer Nationen (in's Englische von Thom. Nugent, 1771,
und von Tliom. Roscoe, 1823; ins Französische von T. de St. Marcel, 1822.)
nur nach einer mangelhaften, zum Theil fehlerhaften Ausgabe veranstaltet
vi^erden konnte. Die Originalhandschrift nämlich war längere Zeit ver-
schwunden und die Ausgabe sowohl, welche Göthe vor sich hatte (mit
dem erdichteten Druckort Köln, eigentlich Neapel, 1728, von Antonio
Cocchi) als auch die folgenden sechs italienischen Ausgaben (Florenz, Mal-
land, Pisa, 1792—1824) sind Abdrücke mehr oder minder mangelhafter
Copieen, welche nur insgeheim und in Eile hatten angefertigt werden
können , da die frühern Eigenthümer sehr eifersüchtig auf den Besitz des
Originales gewesen waren. Erst im Jahre 1810 wurde dasselbe von L. de
Poirot zu Florenz wieder entdeckt und bei seinem Tode, 1825, der Lauren-
zianischen Bibliothek vermacht. Es ist zum Theil von Bpnvenuto's eigener
Hand geschrieben, zum Theil von ihm dictirt worden , wie er sich selbst
in einem Briefe an Benedetto Yarchi darüber äussert: „Ich habe dies mein
Leben mit eigener Hand zu schreiben angefangen, wie man aus einigen ein-
gehefteten Blättern sehen kann; aber da ich bedachte, dass ich zu viel
Zeit verlöre, und da es mir eine unmässige Eitelkeit schien, so kam her-
nach ein Söhnlein des Michele di Goro von der Pieve zu Groppine zu mir,
ein Kind von ungefähr 14 Jaliren, und es war kränklich. Ich fing an ihn
schreiben zu lassen, und während ich arbeitete, dictirte ich ihm mein Leben;
und weil mir die Sache Vergnügen machte, so arbeitete ich viel' eifriger
und brachte viel mehr zu Staude ')•" Dieser Notiz geht ein Sonett vorher,
welches wir, als bezeichnend für den Charakter dieses merkwürdigen Künst-
lers, in freier Uebertragung folgen lassen:

„Ich schreibe dies mein miihereiches Leben,

Der ich dem Schöpfer schuld' ein jeglich Gut:

Die Seele, die er hielt in sichrer Hut,

Denn ob ich viel und Kühnes raocht' erstreben,

Stets hat im Unglück Rettung er gegeben, —

Leben, Kuhm, Kraft, nicht wie sich's Jedem thut,
Sitte, Gestalt, Schönheit und festen Muth,
Dass ich mich über Viele darf erheben.

Nur Eins schmerzt mich im innersten Geroüthe,
Die theure Zeit, in Eitelkeit verloren: —
ünsre Gedanken führt der Wind von hinnen!

Doch werf ich ab solch' ungeziemend Sinnen,

Ich, ein Willkoramner dort wie hier, geboren
In dieses werthen Toskerlandes Blüthe •'')."

Ein genauer Abdruck dieser Originalhandschrift, durch Francesco Tassi
veranstaltet, erschien im S^ahre 1829 zu Florenz in 3 Bänden in 8. Die
beiden ersten Bände enthalten das Leben mit Erläuterungen und Varianten;
der dritte, Documente, Briefe, Gedichte, die sich auf Cellini beziehen und
zum Tlieil von ihm selbst verfertigt'sind, meist noch nicht herausgegebene
Gegenstände, aus der Bibliothek Riccardi entnommen. -Ausäerdem ist ein

S. die Vorrede der vorliegenden Ausgabe, X. — Benvenuto. — •''} Fiore,
Wortspiel in Bezug auf Florenz.

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Vita di Benvenuto Collini etc. 225

«t

Portrait Cellini's, nach Vasari gestochen, beigefügt; vier radirte Umrisse
nach seinen Werlien, gezeichnet von G. Rossi und V. Gozzini; ein Facsi-
mile und ein lithographisches Blatt mit dem Wappen der Cellini.

Die vorliegende Ausgabe ist ein sorgfältiger, reiner und geschmackvoller
Abdruck der eben genannten oder vielmehr ihrer ersten beiden Bände. Die
(grossentheils sprachlichen) Anmerkungen sind weggelassen und nur eine
kritische Auswahl derselben in einem alphabethischen Anhange beigefügt.
Die hier vorkommenden biographischen Notiz^en sind von dem deutschen
Herausgeber aus Quellen, welche dem italienischen theils unbekannt, theils
von ilim vernachlässigt waren, ergänzt und berichtigt. In der Vorrede sind
ausser den Nachrichten über die Handschrifteil und deren Ausgaben ver-
schiedene Urtheile über die Werke Cellini's mitgetheilt und zwar von
Vasari, Baldinucci, Baretti, Giulianelli, Tiraboschi, Parini, Missirini. Von
den Kupferbeilagen der Tassi'schen Ausgabe ist das Portrait Cellini's durch
einen sauberen Stahlstich von F. Wagner wiedergegeben: der Meister ist
hier in späteren Jahren dargestellt, mit schwarzem Barett, langem, grauem
Bart und mit einer Stirn, welche an Michelangelo, sein hohes Vorbild in
der Kunst, erinnert. Ausser diesem Portrait sind auch die vier erwähnten
Umrisse nach Werken von Cellini beigefügt, und zwar: die Büste des Gross-
herzogs Cosimo I. mit dem reich mit Masken, Schnörkeln und Laubwerk
verzierten Harnisch; die Büste des berühmten Bindo Altovitl; die bekannte
Statue des Perseus, welche in der Loggia auf dem Markte zu Florenz steht;
und das kostbare, mit vielen Figuren geschmückte goldne Salzfass, welches
or für Franz I. von Frankreich arbeitete und welches sich jetzt in der
Ambraser Sammlung zu Wien befindet.

Vergleichen wir nun den vorliegenden Text mit dem bei uns gebräuch-
lichen Göthe'schen, so bemerken wir allerdings an letzterem den Mangel
mancher Züge, welche zur Vervollständigung des Bildes wohl nöthig sind.
Namentlich werden, bei aufmerksamem Lesen der deutschen Uebersetzung,
an verschiedenen Stellen grössere Lüken von selbst bemerkbar. So fehlt
hier z. B, die ganze Erzählung des Pestanfalles, den Celliiii im Jahre 1524
zu Rom ausgestanden; und doch ist nachher zu den Seinigen das Gerücht
seines Todes gekommen. So fehlt die ausführliche Beschreibung der freilich
sehr wenig edlen Rache, welche er zu Paris an seinem ungetreuen Diener
Paul Micceri nahm, und auf welche doch die umständliche, freimüthige
Einleitung hinweist, u. a. m. Auch die Terzinen über seine Gefangenschaft
nebst anderen kleineren Versen werden in der neuen Ausgabe an gehöriger
Stelle mitgetheilt.

Wir schliessen mit dem Wunsche des deutschen Herausgebers, dass
auf den Grund dieses gereinigten und zu seiner eigenthümlichen Kraft und
Schönheit zurückgeführten Textes eine neue Uebersetzung veranstaltet oder
lieber eine Berichtigung und Vervollständigung der Göthe'schen unternommen
werden möge.

i . m

Kugler, Kleine Schririen, 1. . . 15

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226

Berichte und Kritiken.

Supplement zu C. Norm and's vergleichender Darstellung der architekto-
nischen Ordnungen der Griechen und Römer und der neueren Baumeister.
Herausgegeben und gezeichnet von J. M. Mauch, Architekten und Lehrer
am Königl. Gewerbe-Institut zu Berlin. Mit 16 Kupfertafeln in Folio und
erläuterndem Texte. Potsdam, 1832. Verlag von Ferdinand Riegel.

(Museum, 1833, No. 26.)

Das Werk von Normand: ^Nouveau Pai'alVelle des ordres d'ArcM-
tecture etc.^^
hatte die Absicht, Künstlern, angehenden Architekten und
Dilettanten die genauen Verhältnisse der classischen architektonischen Ord-
nungen vor Augen zu legen, welche die berühmtesten Denkmäler alter und
neuer Zeit sclimücken, und in einem einzigen Bande die Grundsätze dieser
Ordnungen zu vereinigen, die sich zerstreut in einer grossen Anzahl seltener
und kostspieliger Werke vorfinden. Es besteht in einem Bande von fünf
und sechzig Kupfertafeln mit erläuterndem Text. Der grosse und allgemeine
Beifall, welchen dies Werk fand und welcher die Zweckmässigkeit des
Unternehmens am besten verbürgte, war die Ursache, dass dasselbe in
Kurzem auch in andre Sprachen, — in's Englische von A. Pugin, in's
Deutsche von M. H. Jacobi (1833 bei F. Riegel) — übersetzt, und dass
durch ermässigten Preis für eine noch weitere Verbreitung desselben ge-
sorgt wurde.

Gleichwohl hat dies Werk bedeutende Mängel, die um so fühlbarer
wurden, je mannigfacher man sich desselben, seiner anderweitigen Zweck-
mässigkeit zufolge, bediente. Es neigt sich nämlich im Wesentlichen noch
zu jener Richtung der vergangenen Jahrhunderte, die in der Art und Weise,
wie die Römer die classische Architektur und die Bildung der architekto-
nischen Formen auffassten und anwandten, die höchste und schönste Ent-
wickelung dieser Kunst findet. Es giebt vorherrschend Beispiele von alt-
römischen Monumenten oder von solchen, welche im Geiste derselben von
neueren italienischen oder französischen Meistern (Palladio, Scamozzi,
Vignola, Serlio, Alberti, de Lorme, Goujon etc.) erfunden sind, während von
griechischen Monumenten nur etwa 10 Beispiele vorgelegt werden. Dies ist
die Richtung, welche noch von den Franzosen befolgt wird. Die neueren
deutschen Architekten (wenigstens diejenigen, in welchen der Begriff von
der Bedeutsamkeit ihrer Kunst wahrhaft aufgegangen ist) haben aber in
uns, durch Lehre und That, das Gefühl für eine reinere und mehr organi-
sche Formenbildung geweckt: wie sich dieselbe an den Monumenten des
hellenischen Alterthums, und zwar jener glücklichen Pericleisehen Periode,
auf eine ewig wahre und, unter gleichen Umständen, stets gültige Weise
ausspricht. Wir haben wenigstens die Ueberzeugung gewonnen, dass, wenn
auch veränderte Bedürfnisse und Bedingnisse vielleicht eine andere Gestal-
tung des architektonischen Systemes bewirken sollten, das Studium der
griechischen Ordnungen stets die sicherste ästhetische Grundlage, die
bestimmteste Anschauung von dem nothwendigen Organismus architektoni-
scher Formen für den Baukünstler gewähren wird.

Das vorliegende Werk des Hrn. Mauch, welches sich als Supplement
zu dem Normand'schen ankündigt, füllt die gerügte Lücke des letzteren
auf eine höclist erwünschte Weise aus, indem es die Muster der griechischen

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Supploment zu G. Normand's vergleichender Darstellung etc. 227

Säulenordnungen, insofern diese nicht schon bei Norraand enthalten waren,
vorführt und an ihnen sowohl die harmonische Consequenz ihrer Verhält-
nisse zeigt, als auch jene schöne Freiheit, welche ein Eigenthum der origi-
nalen, noch durch keine willkürlichen Schulregeln eingezwängten Kunst
ist. Zugleich giebt der Herausgeber einige bei Normand und anderen ähn-
lichen Werken übergangene Eigenthümlichkeiten an, wodurch die Zeich-
nungen etwas voller und der Text in gleichem Maasse ausführlicher wird.
So z. B.
Avas die Construction der Decken betrifl't, die in wesentlicher Ver-
bindung mit den Gebälken stehen und eigentlich mit zur Ordnung eines
Peristyls gehören; so die Construction der Traufe und der Sima des Kranz-
gesimses, nebst der Dachbedeckung u. s. w.

Die Zeichnungen sind mit möglichster Genauigkeit zum Theil nach den
grossen, meist englischen Kupferwerken (nach
StuarVs Antiquities of Athens
und dem 1830 erschienenen tl&c\v Aen ünedited antiquities of

Attica, den Antiquities of Jonia, nach Vulliamy^s Examples of ornamental
sculpture in architecture,
nach Hittorfs Architecture antique de la Steile,
und de la Gardette's Ruines de Paestum) genommen, und ihre Maasse auf
die zur Vergleichung bequemen Modultheile reducirt; zum Theil sind sie
vom Herausgeber, auf seinen Reisen in Italien, nach den Originalen selbst,
die bisher nur mangelhaft herausgegeben oder noch ganz unbekannt geblieben
waren, gezeichnet. Die bei fehlenden Theilen hier und da angebrachten
Ergänzungen sind auf ein strenges Studium^ der griechischen Architektur
gegründet. Der Text verbreitet sich auf zweckgemässe Weise sowohl über
die geschichtliche und locale Stellung der betreffenden Monumente und
erklärt ihre constructiven und sonstigen formalen Eigenthümlichkeiten, als
er auch, wo es anging, den Zusammenhang des Säulenbaues mit den Ge-
bäuden nachweist, weil dessen Verhältnisse von der Dimension, Anordnung
und Physiognomie des Ganzen abhängig sind.

Die Ausstattung des Werkes lässt nichts zu wünschen übrig; der Stich
der Platten ist rein und bestimmt von C. Mare zu Berlin ausgeführt.

Schliesslich bemerken wir, dass es nicht unzweckmässig erscheinen
dürfte, wenn auch noch die anderen Richtungen des Normand'schen Werkes
vervollständigt würden. Die charakterisirenden Formen der römischen Archi-
tektur, obgleich ihnen allerdings jene freie Genialität der griechischen man-
gelt, sind doch keineswegs« so eng abgeschlossen, wie es nach den, wenn
auch zahlreicher mitgetheilten Beispielen bei Normand der Fall scheint;
namentlich findet sich ein grosser Reichthum zum Theil sehr geschmack-
voller freier, compositer kapitäle (wir meinen nicht die eigentlich soge-
nannten römischen), welche mannigfach anzuwenden und nachzubilden sein
dürften. Sodann aber dünkt es uns nicht wohl schicklich, dass der ange-
hende deutsche Architekt unter den Musterbeispielen der neueren, die
Grundsätze der classisc^ien befolgenden Architektur nur fremde (von italie-
nischen und französischen Meistern) vorfinde, während das Vaterland selbst
die vortrefflichsten aufweist. Ich erinnere nur an zwei Männer, denen
Berlin seine schönsten Zierden verdankt: an den majestätischen und phan-
tasiereichen Schlüter und an seinen grossen Nachfolger, Schinkel,
welcher die griechische Formenreinheit mit freier Originalität verbindet,
wie keiner der Neueren.

Ob es, ausser diesen Vorbildern der architektonischen Ordnungen, auch
noch solcher bedürfen wird, welche die dem classischen Alterthum fremde,
in der (bei uns sogenannten) byzantinischen und in der maurischen Kunst

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Berichte und Kritlkeu.

nicht ohne Glück durchgefül-.rte Verbindung des Bogens mit der Säule in
ihren verschiednen Weisen darstellten, das überlassen wir dem Ermessen
nnd dem praktischen Vorgange der Architekten unserer Zeit.

Sechs der schönsten und seltensten Holzschnitte von Alb recht Dürer
in originalseitigen treuen Kopien mit der Feder auf Stein gezeichnet von
August Küntzel in Berlin. Gedruckt in der lithographischen Anstalt

von F. Storch.

(Museum, X833, No. 28.)

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r?

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Unter diesem Titel wird in Kurzem die erste Lieferung eines Werkes
erscheinen, auf welches wir die Freunde der älteren deutschen Kunst,
insbesondere jenes grossen fränkischen Meisters, aufmerksam machen.

Herr A. Küntzel hat schon in früheren Blättern, namentlich in einem
Johannes nach Dominichino und einem Portrait Melanchthon's nach Lucas
Cranach, ein bedeutendes Talent für die Zeichnung mit der Feder auf Stein
entwickelt; die zartesten Schraffirungen, besonders in den Fleischpartieen
des letztgenannten Portraits, sind mit gleicher Sicherheit, Freiheit und Eein-
heit geführt, wie die in den Gewändern, welche durch die stärksten Striche
gebildet werden. Die Arbeit Avetteifert mit dem Kupferstich. Doch dünkt
ims, hat ein solcher Wetteifer hier mehr den Zweck, zu zeigen, was in
dieser Art der Vervielfältigung zu leisten sei, als dieselbe wirklich mit dem
Kupferstich auf gleicher Höhe fortzuführen-, letzterer wird immer, zum
wenigsten durch die grössere Menge technischer Mittel, die ihm zu Gebote
stehen, der Federzeichnung überlegen bleiben. Trefflich aber eignet sich die-
selbe zur Nachahmung der Holzschnitte jener älteren Meister und dter gleich-
zeitigen, dem Holzschnitt verwandten Federzeichnungen; die von Strixner
nachgebildeten Randzeichnungen Dürer's, deren Originale sich in der
Münchner Bibliothek befinden, bestätigen dies auf's Bestimmteste.

Noch mehr die uns vorliegenden Blätter des in der Ueberschrift genannten
Werkes. Was dessen Inhalt betrifft, so wird dasselbe aus folgenden Blät-
tern bestehen.

Erste Lieferung.

1) Brustbild dös Kaisers Maximilian I. Gross Folio. (NacTi einem, bis jetzt
noch von keinem Schriftsteller beschriebenen Original-Holzschnitte von
A. Dürer. Mit Bartsch No. 154 nicht zu verwechseln.)

2) Triumphwagen des Kaisers Maximilian I, Aus acht zum Aneinandersetzen
bestimmten Gross-Folio-Blättern bestehend. (Kopie nach der ersten Aus-
gabe von 1522, mit deutscher Erklärungsschrift. Bartsch, Peintre-graveur,
No. 138.)

3) St. Christoph durch das Wasser schreitend. 1525, Gross Folio, (Bartsch
No. 105.)

Zweite Lieferung.

4) Brustbild des Ulrich Varnbüler. 1522. Gross Folio. (Bartsch, No. 155.)

5) Die heilige Dreieinigkeit. 1511. Gross Folio. (Bartsch, No. 122.)

228

1

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Ueber das Bild von Tizian etc. 229

6) Die grosse Säule mit dem Satyr. 1517. Aus vier zum Uebereinander-
setzen bestimmten Folio-Blättern bestehend. (Bartsch, No. 129,)
Sämmtliche Originale befinden sich in der rühmlichst bekannten Sammlung
des Königl. Preuss. General-Postmeisters und Bundestags-Gesandten Herrn
von Nagler, in Berlin..

Die uns vorliegenden Blätter, No. 1 und 2 und die beiden ersten Stücke
von No. 3 (den Wagen selbst mit den umgebenden allegorischen Figuren
darstellend) sind durchaus als getreue Facsimile's zu bezeichnen; dieEigen-
thümlichkeiten der Schrafflrung,. die Sonderbarkeiten des Gefältes, die Zufäl-
■ ligkeiten in gle;ichgültigen Nebendingen sind eben so sorgsam und mit
unverkennbarstem'Fleiss nachgebildet, "Wie auch in wesentlicheren Dingen
der hohe Geist des Meisters ungetrübt wiedergegeben ist. Sehr angenehm
wird einem jeden Verehrer Dürers, einem jeden Forscher und Sammler
eine .solche Erneuerung'der genannten vortrefflichen Holzschnitte sein; um
so mehr als ihre mehr oder minder grosse Seltenheit die Anschaffung sehr
erschwert. Denn von dem Brustbilde des Kaiser Maximilian und von der
grossen Säule sind die Originale so ausserordentlich selten, dass von
Ersterem nur ein Exemplar bekannt ist, und von Letzterer selbst öffent-
liche Sammlungen nur unvollständige Abdrücke besitzen, (Auch Bartsch
kennt nur drei Blätter derselben.) Dazu kommt, dass nach diesen Holz-
schnitten , ausser dem Triumphwagen, keine treuen Kopien existiren,
und dass die alte Kopie nach dem Triumphwagen dem Original an Selten-
heit gleich steht.

Um das Anschaffen dieser Kopien jedem Liebhaber und Sammler zu
erleichtern, hat der Herausgeber für dieselben den überaus billigen Subscrip-
tionspreis von Vier Rthlrn. (auf chinesischem Papier von 6 Rthlrn. 6 gGr.)
festgestellt; nach geschlossener Subscription tritt der erhöhte Ladenpreis von
6 Rthlrn. (auf chin. Papier von 8 Rthlrn. 12 gGr.) ein. Der Druck der
vorliegenden Blätter ist sehr sauber und klar; starke Cartons von gedämpfter
Farbe dienen auf zweckmässige Weise als Untersatzbogen. Der Titel-Um-
schlag ist mit einer phantastischen Rand-Arabeske geschmückt, welche von
dem Herausgeber aus den bekannten Dürer'schen Randzeichnungen zusam-
inengestellt ist.

Ueber das Bild von Tizian in der Gemälde-Sammlung des Königlichen
Museums zu Berlin, verglichen mit den Wiederholungen desselben.

(Museum, 1833, No. 30.)

Das Bild von Tizian, seine Tochter darstellend, die eine Schüssel mit
Früchten emporhebt'), eine der schönsten Zierden der Gemälde-Sammlung
im Königl. Museum zu 'Berlin, ist eins von den verschiedenen Exemplaren
dieses Gegenstandes, welche, mit grösseren oder geringeren Abänderungen,
in veschiedenen Gallerieen vorkommen und sämmtlich den Namen desselben
Meisters tragen. Die Vergleichung von einigen dieser Bilder mit dem

Vergl, die nähere Beschreibung oben, S. 215.

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BericLte uiid Kritiken.

unsrigen dürfte zu interessanten Resultaten führen; so weit eine solche aus
Beschreibungen oder Abbildungen möglich ist, möge sie hier folgen.

Zuerst erwähne ich eines Kupferstiches von W. Hollar, mit der Jahr-
zahl 1650 und mit folgender Unterschrift;
Johannina Vesella Pic-
tressa, filie {sie) prima da Titiano. Franciscus van den Wyngarde
excudit. Ex collectione Johannis et Jacohi van Verle.
Es ist hier nicht
mein Zweck, über diese Nachricht von einer älteren Tochter Tizians,
Johannaand dass dieselbe eine Malerin gewesen, Untersuchungen anzu-
stellen; bekanntlich wird dies von den Neueren als ein Mährchen betrachtet,
und nur von einer Tochter des Tizian, Cornelia oder Lavinia, Gemahlin
von Cornelio Sarcinello, gesprochen. Die auf dem in Rede stehenden
Kupferstich Dargestellte gleicht in der Stellung im Allgemeinen dem Ber-
liner Bilde, indem sie mit beiden Händen eine Schüssel mit Früchten bis
etwa zur Höhe der Stirn emporhebt und über die Schulter nach dem
Beschauer zurückblickt; doch unterscheidet sie sich von jenem zuvörderst
durch ein verändertes Costüm, indem sie mit einer Art idealer Tunika
bekleidet ist, welche durch einen, tief, über den Hüften, befindlichen
Gürtel zusammengehalten Avird; kurze, hängende Aermel zeigen den Arm
entblösst, und der Schleier, welcher über den Nacken zurückfällt, hat vol-
lere Massen, Das Gesicht hat ungefähr dieselben Hauptformen, der Mangel
eigentlicher Aehnlichkeit mit unserem Bilde dürfte, möglicher Weise, als
ein Fehler des Kupferstechers zu betrachten sein; das Haar ist im Wesent-
lichen auf gleiche Weise geordnet, doch ist es lockiger und ohne Schmuck.
Wichtiger aber dünkt mich sodann die Verschiedenheit, welche in der Art,
wie die angegebene Stellung aufgefasst ist, bemerkbar wird. Während die
Fruchtträgerin in dem Berliner Bilde sich stark hintenüberlegt, während
sie an der grossen ehernen Schüssel entschieden schAver trägt und dieselbe
fest auf den Handflächen ruhen lässt, während sie in einer lebhaften, aber,
ich möchte sagen, rhythmisch feierlichen Bewegung begriffen ist, steht die
andere in dem niederländischen Kupferstich gerader, ist ihre Bewegung
durchaus minder heftig, trägt sie bei weitem leichter und nur mit den
Fingerspitzen. Diese absichtliche, schon mehr gesuchte Zierlichkeit, welche
eigentlich nicht wohl zu der scliweren Schüssel und zu der Naivetät eines
originalen Kunstwerkes passt, lässt mich vermuthen, dass das Bild, dem
der Kupferstich entnommen, vielleicht nur eine Nachahmung (nicht eigent-
licli Kopie) eines Tizian'schen Originales sein mag. Uebrigens ist zu bemer-
ken, dass im Grunde des Kupferstiches nur eine leichte Schattirung ange-
deutet ist und in der Schüssel nur zwei grosse Melonen befindlich sind; in
dem Berliner Bilde wird der Hintergrund auf der einen Seite durch eine
Mauer und einen rothen, emporgehobenen Vorhang, auf der andern Seite durch
die Aussicht aus einem Fenster in eine hüglige Landschaft gebildet, auch
trägt sie in der Schüssel Trauben, Feigen, kleinere Melonen, Rosen u. s. w.

Ein zweites, dem unsrigen verwandtes Bild befindet sich in der Gemälde-
Sammlung des Hrn. Coesvelt zu London. Passavant, in seiner „Kunstreise
durch England und Belgien" (S. 82) sagt darüber Folgendes: „Die Tochter
des Tizian eine Schüssel emporhaltend, halbe Figur. Es ist dieses eine
vorzügliche Originalwiederholung oder vielleicht auch das erste Bild von
mehreren ähnlichen bekannten dieser Art. Die Farbe daran ist von vorzüg-
licher Schönheit und Kraft, und das Bild ist vollkommen erhalten."

Ein drittes befand sich früher in der Gallerie Orleans. Die Descrip-
tion des tableaux du palais royal^ Parisy
1727, gicbt (p. 472) folgende

230

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Ueber das Bild von Tizian etc. 231

Beschreibimg desselben: „ia Cassette du Titien. Auf Leinwand gemalt,
3 Fuss 6 Zoll hoch, 2 Fuss 11 Zoll breit; Lebensgrösse, Kniestück. Ein
schönes Mädchen, welches für die Tochter des Tizian gilt, hält eine Schaale,
darauf ein mit Steinen geschmücktes Kästchen, welches sie erhebt, wie um
es sehen zu lassen; hinter ihr, zur Linken, sieht man einen, nach Art
eines Festons zurückgeschlagenen, Vorhang, zur Rechten Etwas vom freien
Himmel." Eine Anmerkung fügt hinzu: „Man ist der Meinung, dass Tizian
in dieser Schaale ursprünglich das Haupt des Täufers Johannes gemalt
habe." Füssli (Künstlerlexicon H, S. 2044) scheint, nach seiner gewohnten
Weise, die in dieser Anmerkung mitgetheilte Meinung für etwas ungereimt
zu halten; wir werden gleich sehen, dass dieselbe, wenn auch eben hier
vielleicht nicht gültig, so doch sehr wohl im Einklang mit dem Gesammt-
Charakter des Bildes sein mochte. Die
Description giebt als früheren
Besitzer dieses Bildes den Chev. de Loraine an. Später, im Jahre 1799,
wurde es, wie bekanntlich ein grosser Theil jener Gallerie, in London
verkauft, und zwar an Lady Lucas, für 400 Pfund. Wenn Passavant (a. a.
0. S. 276), aus dem ich diese Notiz entnehme, das Bild als „Tizians Toch-
ter, einen Helm haltend" bezeichnet, so scheint hier ein Versehen in der
Uebersetzung des .Kataloges Statt gefunden zu haben, indem vermuthlich
das englische
Casket (Kästchen) mit Cask (Helm) verwechselt ist.

Eine vierte Wiederholung endlich desselben Gegenstandes, für uns die
interessanteste, ist in dem König]. Museum zu Madrid vorhanden. Hier ist
wirklich, eben wie es bei dem letztbesprochenen Bilde angedeutet wurde,
in der Schaale, welche jenes Mädchen emporhebt, das Haupt des Täufers
enthalten. Uebrigens gehört dies Bild nicht, wie man zu vermuthen geneigt
sein dürfte, zu denjenigen, welche^bereits unter den Regierungen Karl's V.
und Philipp's IL nach Spanien kamen, vielleicht gar dort selbst, wie die
Spanier zu erweisen sich bemühen, von Tizian gemalt wurden; erst um
die Mitte des siebzehnten Jahrhunderts kam es dahin. Vorher nämlich in
der Gemälde-Sammlung Karl's I. von England befindlich, wurde es nach
dessen Enthauptung, für 150 Pfund, sammt anderen Kunstschätzen, von
dem spanischen Gesandten Don Alonzo de Cardenas, gekauft und nach
Madrid gebracht (S. Passavant a. a. 0. S. 262 und 267). In einem der
neuesten Hefte der
Coleccion litografica de cuadros del rey de Espaiia el
Senor Don Fernando VII.
(34 Cuaderno) wird uns eine Steinzeichnung
nach demselben mitgetheilt, die eine klare Anschauung davon giebt und
eine gewisse Vergleichung mit unserem Bilde zulässt. Der diesem Blatt
beigefügte Text sagt Folgendes:

„Salome mit dem Haupte des Täufers, von Tizian, Wir
sehen auf dieser Tafel das Bild eines blonden Mädchens, zierlich geschmückt,
angethan mit einem Schleier, .einem leinenen Hemd mit breiten Aermeln
und einem Oberkleide .von karmoisinrother Seide. Sie trägt.eine Schaale
mit einem abgeschlagenen männlichen Haupte, welches, obgleich entstellt,
doch Ehrfurcht einflösst. An diesen letzten Zeichen erkennen wir die Salome,
welche das Haupt des Täufers zeigt. Wenn wir aber auf der einen .Seite
die Unschicklichkeit des gewählten Momentes in allem, was Ausführung
und Gegenstand betrifft, und ebenso in Rücksicht auf die Züge einer Vene-
zianerin, dahin gestellt sein lassen, so wagen wir doch den Künstler zu
fragen: wie er der Leinwand das Andenken an einen so ungeheuren Frevel
aufprägen konnte, ohne in der Jungfrau die Wollust, die Frechheit, die
Grausamkeit, die Abscheulichkeit eines Herzens darzustellen, welches mit

i

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232 Periclite und Kritiken.

Sprüngen und unzüchtigen Stellungen den Tod des Heiligsten unter den,
von menschlicher Mutter Gebornen erkauft? Etwa darum, weil dieselbe
in diesem schönen Gesichte, in diesen Formen, welche Liebenswürdigkeit
zeigen und das Herz anziehen, statt Abscheu zu erwecken, als jene verruchte
Tänzerin, als jene Tochter der Herodias erkannt werden muss? Ungeachtet
dessen hat das Bild einen grossen "Werth durch die Reinheit der Zeichnung,
durch die Harmonie und Schönheit des Colorits, welches von solcher Wahr-
heit ist, dass man das Blut unter der zarten Haut rinnen zu sehen glaubt.
Es genügt zu sagen, dass es von Tizian herrührt. — Das Bild befindet sich
im Königl. Museum: es ist 3 Fuss 2 Zoll hoch, 2 Fuss 10 Zoll breit»).

Jose Musso y Valiente.'-^

Die spanische Lithographie lässt eine sehr bedeutende Aehnlichkeit des
Originales mit unserem Bilde erkennen: nur trägt hier das schöne Mädchen
noch mehr, lehnt sie sich noch mehr zurück, ist ihre Bewegung noch leiden-
schaftlicher. Und eben diese grössere Leidenschaftlichkeit, dies kühnere
Vortragen der Schüssel, sowie das leichtere, prächtigere Kostüm und der
mehr fliegende Schleier, Alles dies giebt zu erkennen, dass hier eine Tän-
zerin dargestellt ist, deren BeMegungen noch von wildem, bacchantischem
Taumel erfüllt sind. Auch das Gesicht ist unverkennbar dasselbe, wie es
auf unserem Bilde verlockend auf den Beschauer blickt, nur mit leisen
Nüancen, welche
Aviedenmi für eine Salome nöthig waren und welche die
tiefe "Weisheit des Künstlers zeigen: das Auge ist minder scharf, schwim-
mender, wollüstiger; die Nase ein wenig stumpfer, und um den schönen
Mund zuckt es, wie ein leiser Hohn.

Die Ausstellungen, welche der spanische Beschreiber an der Auffassung
des Gegenstandes macht, begreife ich nicht; es spricht sich in denselben
ein gänzliches Verkennen, sowohl des Charakters der Salome, als des
Momentes aus, in welchem das Furchtbare geschah.

„Und es kam, so sagt die Schrift, ein gelegener Tag, dass Herodes auf
seinen Jahrstag ein Abendmahl gab den Obersten und Hauptleuten und
Vornehmsten in Galiläa. Da trat hinein die Tochter der Herodias,und tan-
zete: und gefiel wohl dem Herodl und denen, die am Tische sassen.
Da sprach der König zum Mägdlein: Bitte von mir, was du willst, ich will
dir's geben. Und schwur ihr einen Eid .... Sie ging hinaus und sprach
zu ihrer Mutter: Was soll ich bitten? Die sprach: Das Haupt Johannis,
des Täufers. Und sie ging bald hinein mit Eile zum Könige, und bat
und sprach: Ich will dass du mir gebest jetzt so bald auf einer Schüssel

das Haupt Johannis, des Täufers.....Und der Henker . . . trug her sein

Haupt auf einer Schüssel, und gab's dem Mägdlein; uiid das Mägdlein gab's
ihrer Mutter." (Ev. S. Marci 6, v. 21.)

Musste das Mädchen, das zu nächtlicher Weile, den versammelten
Männern zur Augenlust, tanzte und ihnen wohlgefiel, nicht schön sein?
nicht unwiderstehlich schön, wenn der gutmüthige König, der dem Propheten
,,in vielen Sachen gehorchte und ihn gern hörte" (a. a. 0. v. 20), ihrem
Begehren so schleunig und ohne nur Ausflüchte zu suchen, willfahren liess ?
Konnte die Hast, mit welcher sie selbst dem furchtbaren Befehl der Mutter
gehorsamte, anders als im bacchantischen Rausche möglich sein? konnte
sie wenigstens, anders aufgefasst, noch ein Gegenstand für wahrhaft künst-

lerische Darstellung bleiben?

Und sind dies etwa die reinen Züge einer

Das Berliner Bild ist .3 Fuss Zoll hoch, 2 Fuss 7'/g Zoll breit.

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233

Ueber das Bild von Tizian etc.

Vestalin? — Gerade aber der Schauer, den der Contrast zwischen dieser
üppigen, verführerischen Tänzerin und dem heiligen, still zürnenden Lei-
chenhaupte des Propheten hervorbringt, ist das Tiefbedeutsame in diesem
Bilde. Aehnliches zwar habe ich stets vor den Bildern Tizians ejnpfunden,
auch wenn das Memento mori nicht so, wie hier, auf den Händpn getragen
ward; ich konnte mich bei seinen glühenden Gestalten nie des alten Liedes
vom Venusberge erwehren.

Wenn nunmehr die, in sämmtlichen Bildern wiederkehrende, für eine
Portraitfjgur wenigstens sehr gewagte Stellung, wenn die eigenthümlichen,
— um den Ausdruck des spanischen Beschreibers zu brauchen:*-— die
venezianischen Züge des Gesichtes eben in dem Madrider Bilde ihre tiefere
Bedeutung finden, und hier ein dichterisches Ganze sich, darstellt; so fragt
es sich ferner, in welchem Verhältniss, sowohl die andern, als namentlich
das Berliner Bild, zu jenem stehen. Ich habe bereits die charakteristischen
Unterschiede der Stellung in den beiden letztgenannteil Bildern angeführt^,
aus denen hervorgeht, dass von einer eigentlichen Kopie des einen nach
dem andern nicht die Rede sein kann; dies bestätigt auch noch der Umstand,
dass das gelbseidene, blumig gewirkte Kleid der Berliner Fruchtträgerin mit
langen, engen, bis an die Handgelenke reichenden Aermeln versehen ist,
während die Madriderin ein kurzärmliges Kleid trägt. "Würde ein Kopist
einen der schönsten Theile eines Tizian'schen Bildes verhüllen? oder würde
er, umgekehrt, es wagen, wo Tizian bekleidete Arme gemalt, das Original
übertreffen zu wollen?

Wichtiger aber, als all diese äusseren Gründe für die Originalität
unseres Bildes, — die-des spanischen scheint mir, der obigen Darstellung
zufolge, gleichfalls nicht wohl zweifelhaft, — spricht das innere Leben,
welches dasselbe durchdringt, es zu einem der ersten Sterne unserer Gallerie
macht, vermöge dessen das Bild, wie klein auch in seinen Dimensionen,
doch die Stellung Tizians zu der übrigen Kunstwelt würdig vertritt. Welch
eine Modellirung mit den leisesten, klarsten Schatten! welch eine Kraft
und Intensität der Färbung, ohne dass irgend eine besondere Farbe hervor-
springt! Welch eine Macht und Fülle des Lichtes, ohne dass irgend ein
blendender Effekt den Beschauer verwirrt! Wo soll die Sprache Worte
hernehmen, um diese Wahrheit, dies Leben, diese originelle Naivetät genü-
gend zu bezeichnen! Dies Alles lässt sich nicht beschreiben oder beweisen,
nur fühlen. Wirf einen Blick auf das nebenhängende berühmte Bild von
Licinio Pordenone, die Ehebrecherin vor Christus, welches stets als ein
Muster im Colorit gerühmt ward: wie grau erscheinen die lebhaften Farben
dieses Bildes, wenn dein Auge eben auf dem der Cornelia verweilte! wie,
ich möchte sagen, leblos diese meisterlich gemalten Köpfe! wie kalt, im
höchsten Grade kalt, jenes in seinen Formen doch so üppig schöne Weib

Uebrigens ist es bekannt, dass Tizian in der langen Bahn seines künst-
lerischen Wirkens, zumeist wohl auf Bestellung, verschiedene, besonders
beliebte Werke seines Pinsels wiederholt hat; auch nehme ich keinen
Anstand, an die Originalität auch noch anderer Wiederholungen des in
Bede stehenden Bildes zu glauben. Gewiss war p ein Gegenstand, der

0 l^ie lietouchen, welche bei näherer Untersuchung das schärfere Auge des
Kenners auf dem Tizian'schen Bilde entdeckt, thun gleichwohl seiner grossen
Wirkung nicht den mindesten Abbruch, und sind somit erst recht ein Beweis für
die Aechtheit und den ausserodentUchen Werth dieses Bildes.

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234 Berichte und Kritiken^,

den Zeitgenossen sehr gefallen, den Vornehmen zum Schmuck eines fest-
lichen Zimmers vor vielen willkommen sein musste. Auf Originalwieder-
holungen deuten auch die verschiedenen Gegenstände, welche bei den ver-
schiedenen Bildern, wie zur Benennung derselben, in der emporgehobenen
Schaale vorgestellt sind.

Sehr wichtig endlich dürfte es für uns sein, zu erforschen, welche
Stelle unter diesen verwandten Bildern das unsrige einnimmt: ich will nur
versuchen, über das Verhältniss, in dem es zu dem Madrider Bilde steht,
welches ich als den eigentlichen Mittelpunkt, als die Hauptdarstellung
bezeichnet habe, eine Andeutung zu geben. Unser Bild ist ohne Zweifel
ein früheres. In allen Theilen erscheint dasselbe als einfaches Portrait,
zwar als ein Portrait ersten Ranges, doch überall nur als Nachbildung der
einzelnen Natur mit ihren Zufälligkeiten und Besonderheiten. Zu dem
Madrider Bilde aber steht es gewissermassen, wenn ich mich bei einem so
vollendeten Meisterwerke so ausdrücken darf, in dem Verhältniss einer
Studie, indem jenes viel, auch im Einzelnen Anklingendes zeigt, aber Alles
dem Zweck des dargestellten Momentes gemäss modiflcirt und verändert;
und zwar dies auf eine solche Weise, dass, was wiederum meist nur künst-
lerisch nachzufühlen ist, nie die Veränderungen in umgekehrtem Verhältniss
können Statt gefunden haben. Ueber die veränderte Stellung überhaupt,
über die Züge und den Ausdruck des Gesichtes habe ich schon gesprochen;
Aehnliches wird auch an mehr untergeordneten Theilen bemerkbar, nament-
lich an dem schweren Kleide. In unserem Bilde zeigt sich hier überall ein
bestimmter Modeschnitt und demgemäss, von der Taille niederwärts, gewisse
eingenähte Falten. In dem Madrider Bilde ist, mit Ausnahme der Aermel,
ein ähnlicher Schnitt, mit ähnlichen Falten, selbst das Perlenschnürchen
um die Taille, beibehalten, doch werden, besonders eben im Faltenwurf,
viel freiere Motive bemerkbar. Die Schulter sodann ist bei unserem Bilde
durch den höher hinaufgehenden Aermel bedeckt; bei jenem dagegen wird
der überaus zarte Ansatz der Schulter gegen den Hals hin bemerkbar; hätte
ein Künstler sich eine solche Feinheit, nachdem er sie einmal geschaffen,
bei einer Wiederholung entgehen lassen?

Ob aber Tizian unser Bild in der bestimmten Absicht gemalt, dasselbe
zugleich als Studie zur Salome zu benutzen, oder ob der Gedanke zu letz-
terer erst später, nach Vollendung des ersten, in ihm entstanden, — wer
wagt es, in die geheime Werkstatt des künstlerischen Schafl'ens einzudringen?

Malerische Ansichten der merkwürdigsten und schönsten Cathedralen, Kirchen
und Monumente der gothischen Baukunst, am Rhein, Main und an der Lahn.
Nach der Natur aufgenommen und gezeichnet von L. Lange, lithographirt
von Bor um und andern Künstiern in München. Frankfurt a. M. verlegt

bei Carl Jügel. 1833.

(Museum, 1833, No. Söi)

Dies Werk, davon die erste Lieferung uns so eben vorliegt, verspricht
einem sclion lange empfundenen Bedürfniss abzuhelfen. Was bisher nämlich
in Bezug auf bildliche Darstellung und Herausgabe mittelalterlicher Archi-

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Malerische Ansichten der merkwürdigsten und schönsten Cathedralen etc. 235

tekturen in Deutschland geschehen ist, bezieht sich, mit einzelnen wenigen
Ausnahmen, wesentlich auf eine wissenschaftliche, kunstgeschichtliche
Erforschung und auf eine ästhetische Analyse derselben; das grössere Pu«-
blikum aber verlangt Totaleindrücke, welche nur in malerischen Ansichten
gegeben werden können. Denn allerdings kann nur mit solchen die Kunde
von den Monumenten der Vorzeit, das Bewusstwerden des geschichtlichen
Grundes, über welchem die Gegenwart erwachsen ist, in das Volk einge-
hen. Doppelten oder vielmehr eigentlichen Werth erhalten die malerischen
Ansichten natürlich aber nur durch grösstmögliche Treue in Gesammtauf-
fassung und Ausführung des Details; sie werden alsdann dem Kenner nicht
minder wie dem Laien interessant.

Dies beabsichtigt das vorliegende Werk und es nimmt die Theilnahme
von verschiedenen Seiten in Anspruch. „Möge den Architekten, so heisst
es im Vorwort, die richtige und wahre Darstellung der Formen, die er
hier wiedergegeben findet, interessiren, während dem Geschichtsforscher die
historischen Beziehungen wichtig sind, die sich mit den meisten dieser
Monumente verbinden; der Kunstfreund und Sammler wird sich durch
Gegenstand und Darstellung gleich angezogen fühlen, und jeder Gebildete,
der jemals den klassischen Boden besuchte, dem diese Abbildungen entnom-
men sind, wird gewiss in denselben eine eben so angenehme Erinnerung
finden, als der Einheimische sie gern als befreundete Gegenstände, denen
er mit heimathlicher Liebe zugethan ist, begrüssen wird."

Die erste Lieferung (8 Blätter in Folio mit 1 Bogen Text) entspricht
diesen verschiedenseitigen Anforderungen auf's Erfreulichste. Die Gegen-
stände, kirchliche, sowie auch bürgerliche und andere Architekturen, sind
so aufgefasst, dass sie ebensowohl anmuthige und interessante Bilder geben,
als sie durch Wahrheit und Richtigkeit (Referent kennt die meisten aus
eigener Ansicht und aus besonderem, an den Gebäuden selbst vorgenomme-
nem Studium) sehr füglich als Grundlagen zu kunstgeschichtlicher Forschung
benutzt werden können. Der Zeichner, Herr L. Lange, durch die unter-
nommene Herausgabe der deutschen Städteansichten (auf die wir in Kurzem
zurück zu kommen gedenken) rühmlichst bekannt, vereinigt die Talente
des wissenschaftlich gebildeten Architekten mit denen des Malers; die
Standpunkte sind mit richtigem Takt gewählt, die Ansichten in Ton und
Haltung übersichtlich und wohl verbunden, die Staffage nett und lebendig.
Die Arbeit der Lithographen, vornehmlich des Herrn Borum, von dem die
meisten und bedeutendsten Blätter der ersten Lieferung herrühren, schliesst
sich den besten in dieser Art an, der Druck, bei Hanfstängl und bei Lacroix
in München, ist rein und klar. Der begleitende Text enthält geschichtliche
Nachweisungen über die Bestimmung und Erbauung der dargestellten Gegen-
stände und artistische Andeutungen, um auch dem Laien eine Uebersicht
von dem Entwickelungsgange unserer Baukunst im Mittelalter zu geben.

Die in der ersten Lieferung enthaltenen Ansichten sind: die Sachsen-
hauser Warte bei Frankfurt a. M.; der Dom zu Mainz; das steinerne Haus
zu Frankfurt a. M.'; Templer-Kirche zu Bacharach am Rhein; der Dom zu
Andernach; die Domkirche zu Bonn; "Rathhaus zu Göln; alter Thurm zu
Andernach am Rhein. Von einzelnen derselben existiren zwar bereits
Ansichten; doch sind diese zum Theil fehlerhaft, wie D. Quaglio's Ansicht
der Templer-Kirche von Bacharach, die verkehrt und mit vielen willkür-
lichen Abänderungen gezeichnet ist: zum Theil sind sie von anderen Stand-
punkten aus aufgenommen, wie die, ebenfalls von D. Quaglio gezeichneten

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236

Berichte und Kritiken.

Ansichten des Bonner und des Andernacher Domes in dem jüngst vollen-
deten Werk von Boisseröe über die Bauwerke des Niederrheins. Ueber-
haupt aber fehlt die Vereinigung derselben in einem Werke, wie das
vorliegende, noch ganz. Andere dagegen, wie namentlich die schöne Ansicht
des Mainzer Doms, sind den Kunstfreunden im höchsten Grade erwünscht;
wir bedauern nur, dass von diesem merkwürdigen Gebäude nur eine
Ansicht, von der Ostseite, gegeben ist, wo der Dom freilich einen freieren
Ueberblick gewährt. Die reichere, phantastischere Westseite mit ihren
Minaret-artigcn Thürmen,. würde ein noch mehr interessantes und eigen-
thümliches Bild geben; hier sind zwar Häuser dem Chore vorgebaut; doch
würde sich aus dem obern Geschoss eines der auf der andern Seite des Platzes-
gelegenen Häuser gewiss ein zweckmässiger Standpunkt auffinden lassen.

Ein zierlicher Umschlag, der auf der Rückseite das alte Wappen der
Stadt Frankfurt am Main zeigt, vereinigt die einzelnen Blätter zum Heft;
die Gesammtausstattung, Paj)ier u. a., ist geschmackvoll Tind den Ansprü-
chen, welche heutiges Tages an ein Unternehmen der Art gemacht werden,
durchaus entsprechend.

Da's Ganze ist bis jetzt auf sieben bis acht Lieferungen angelegt; die
Einleitung nennt 58 mitzutheilende Gegenstände, von denen sämmtliche
Zeichnungen bereits vollendet sind. Der Preis des Heftes, in der Subscrip-
tion, ist 3 Rthlr. auf weissem, 4 Rthlr. auf chinesischem Papier. Wir
wünschen, dass das Publikum diesem sehr empfehlungswerthen, wahrhaft
vaterländischen Unternehmen mit derjenigen möglichst lebendigen Theil-
nahme entgegen kommen möge, welche nicht nur eine schnelle Förderung
des Vorgesetzten, sondern gewiss auch eine grössere Ausdehnung des Planes
bewirken wird; so dass auf diese Weise vielleicht ein Nationalwerk ent-
stehen dürfte, welches die bedeutendsten Monumente des Mittelalters im
gesammten deutschen Vaterlande umfasste.

Ornamente aller klassischen Kunstepochen nach den Originalen in ihren
eigenthümlichen Farben dargestellt von Wilhelm Zahn, Königl. Preuss.
Professor. Berlin, bei G. Reimer.

(Museum, 1833, No. 88.)

Dies Werk, welches sich dem früheren grossen Werke desselben Heraus-
gebers ,' Pompejanische Ornamente enthaltend , auf willkommene Weise
auschliesst, erscheint in Heften in klein Folio, das Heft mit 5 Blättern
Ornamenten und einem Blatt Text. Uns liegt so eben das kürzlich erschie-
nene dritte Heft vor, welches aus Mantuanischen Ornamenten, von
Giulio Romano und dessen Schülern gemalt, gleich dem ersten Hefte,
zusammengesetzt ist; (das zweite Heft ist noch nicht erschienen). Von
besonderem Interesse ist hierin die Zusammenstellung der Farben, vornehm-
lich das Verhältniss des Grundes zu dem darübergelegten Rankenwerk. Ein
weisser Grund giebt dem Ganzen stets eine gewisse Lieblichkeit und Zart-
lieit, umsomehr, als derselbe sich wesentlich für feinere Formen eignet.
Von bedeutendster Wirkung aber erscheint ein kräftiger, rothbrauner Grund,

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Denkmale der Baukunst vom 7ten bis zum 13ten Jahrhundert etc. 237

Aer fast alle darauf gesetzten Farben ungemein hebt; dies ergab sich auch
schon aus der Betrachtung der Pompejanischen Ornamente. Unangenehm
erscheint uns diejenige Anordnung, wenn zu den verschiedenen Seiten einer
Hauptranke der Grund verschieden gefärbt ist, wenn die zarte, spielende
Linie, ihrem Charakter durchaus zuwider, zu einer festen Gränzscheide
wird. Auch abgesehen von diesem einen, mehrfach wiederkehrenden
Umstände, würden wir den Architekten mehr ein Studium als eine Nach-
ahmung der hier vorgelegten Muster empfehlen: sie sind aus besonderen
Umständen und architektonischen Verhältnissen, aus dem besonderen
Geschmack einer Zeit hervorgegangen, der nicht überall anklingen dürfte.
Auch die Stylisirung, zuweilen zwar sehr anmuthig und gefühlt, hat doch
mehrfach etwas Aengstliches und Unfreies. Der Mittelweg, welcher in der
Stylisirung gemalter Ornamente zwischen den strengeren Bildungen des
Meisseis und den freien Naturformen zu halten ist, dürfte nicht überall
ganz bequem zu erfassen sein. -- Ob von gemalten Ornamenten aus der
Schule jener grossen und edlen Meister des fünfzehnten Jahrhunderts, eines.
Brunelleschi, Alberti u. A,, vielleicht noch Genügendes erhalten ist? Hier
wäre gewiss Vorzüglichstes zu erwarten.

Der farbige Druck in diesen Blättern (von C. Hildebrandt) ist sehr
sauber und nett, die Farben von angenehmer Kraft und Klarheit; auch im
Uebrigen die Ausstattung des Werkes empfehlenswerth.

Denkmale der Baukunst vom siebenten bis zum dreizehnten Jahrhundert
am Niederrhein, herausgegeben von Sulpiz Boisserße. München, in der
J. G. Cotta'schen literarisch-artistischen Anstalt. 1833. (Folio. 72 litbogra-

phirte Blätter, 41 Seiten Text.)

(Museum, 1833, No. 39.)

Der Name Boisseröe hat einen guten Klang, wenn es sich um unser
Interesse an der Kunst des deutschen Mittelalters handfeit. Vieles, was
uns heutiges Tages als eine gewohnte Erscheinung, als ein alltägliches
Wissen, oft als ein Bedürfniss bedünken will, verdanken wir lediglich- der
unermüdlichen Sorgfalt dieser edlen Familie für Erhaltung und Wiederher-
stellung mittelalterlicher Kunstwerke. So war lange Zeit, bis neuerdings
ein kunstsinniger Monarch jene berühmte Gemäldegallerie zu seinem und
seines Volkes Eigenthum machte, ihr Haus ein Wallfahrtsort für A116,
denen deutsche, Kunst und deutsche Geschichte am Herzen lag, und in den
Jahren der Unterdrückung hat manch Einer aus dem Bilderschatz, den sie
vom Untergange gerettet, Trost und Kraft zum Widerstande gesogen. So
sind diese Bilder nunmehr, in meist sehr wohlgelungenen lithographischen
Nachbildungen, der Schmuck vieler deutschen Zimmer geworden, und blicken,
in ihrer frommen Abgeschlossenheit und Beschränktheit, mahnend in das
vielfach zerstreute und zerstreuende Treiben der GegenAvart nieder. So ist
in dem grossen Prachtwerk, welches der Herausgeber des in der Ueber-
schrift genannten Werkes bereits über den Kölner Dom veranstaltet hat,
ein würdigstes, Jedermann zugängliches und verständliches Denkmal für

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238 Berichte und Kritiken^,

die Herrlichkeit des deutschen Mittelalters gestiftet, welches einen jeden
Empfänglichen, vornehmlich aber den vornrtheilsfreien Künstler, zur Bewun-
derung hinreissen und den, welcher die Kunst in ihrer geschichtlichen
Entwickelung verfolgt, für viele mühevolle und nicht zu häufig erfreuliche
Wege in höchstem Maasse schadlos halten muss; denn, was der alten Welt
der Parthenon, das ist für die neue der Kölner Dom: der Angelpunkt, um
welchen sich alles geistig thätige Leben der Zeit dreht.

Die Entwickelung der Baukunst des Mittelalters bis zu diesem glän-
zenden Culminationspunkte liegt noch immer sehr wenig klar vor uns, auch
wenn wir, wie es sich gebührt, den schöpferischen Geist des grossen Mei-
sters, von dem der Entwurf zu diesem wunderbaren Gebäude herrührt,
anerkennen: die Motive mussten ihm gegeben sein. Mit Dank müssen wir
daher alle Unternehmungen empfangen, deren Absicht es ist, uns mit den
Gebäuden vorangehender Epochen bekannt zu machen. Ein solches ist das
in der Ueberschrift genannte, welches nunmehr vollendet ist und uns eine
sehr bedeutende Reihe von baulichen Monumenten vorführt.

Die Ufer des Niederrheins von Koblenz bis Cöln sind reich an Gebäuden
des rundbogigen Baustyles, welchen Hr. S. Boisseri^e, wie es früher bereits
Hr. Prof. von der Hagen vorgeschlagen, passend den romanischen nennt;
passend besonders, wenn man dieser Benennung gegenüber die spitzbogige
E Bauart, nach dem Vorschlage des Hrn. von Rumohr, als die germanische

1 bezeichnet. Noch reicher waren jene Gegenden an Gebäuden der Art vor

I den Zerstörungen, welche im Anfange unseres Jahrhunderts durch die Auf-
K , hebung so vieler kirchlichen und klösterlichen Anstalten herbeigeführt
P wurden. Gerade indess diese Zerstörungen weckten die Aufmerksamkeit
I. des Yerftissers, und durch die Theilnahme liebevoller Geschwister und eines
P . stets anregenden Freundes unterstützt»), war er so glücklich, von den wich-
Ij tigsten der zum Untergang bestimmten Gebäude Zeichnungen zu sammeln,
P und damit 1809 den Grund zu gegenwärtigem Werk legen zu können. Diese
Ii edelmüthige und so höchst nachahmungswürdige, leider nur so selten nach-

II geahmte Sorgfalt des Verfassers ist hier der Punkt, welcher insbesondere
II den grössten Dank aller Vaterlandsfreunde verdient. Nachdem der Verfasser
II sich in den Besitz dieser Messungen und Abbildungen gesetzt hatte, suchte
K er sich dergleichen auch von den merkwürdigsten Denkmalen zu verschaffen,
I - welche noch erhaften blieben.

E , Das vorliegende Werk enthält eine Auswahl der also entstandenen

i Sammlung, die nicht nur das kirchliche sondern auch das klösterliche und

städtisch-bürgerliche Bauwesen, so wie die verschiedenen Künste berück-
I sichtigt, welche dabei mitgewirkt haben: 12 Kirchen (St. Maria auf dem

i Kapitol, St. Martin, St. Aposteln in Köln; Abteikirche zu Laach, zu Heister-

I bach; Kirche in Andernach; St. Quirin in Neuss; Kirche in Sinzig; Münster

I in Bonn; St. Geron, Klosterkirche Sion, St. Kunibert in Köln), 2 Tauf-

■ kapellen (St. Martin in Bonn und bei St. Georg in Köln); verschiedene

■ . Klostergebäude (ausser bei den genannten Klosterkirchen, die Kreuzgänge
H von St. Pantaleon und St. Gereon in Köln, das Kapitelhaus und den Kreuz-
Ii gang der Abtei Rommersdorf, und die Klostergebäude der Abtei Altenberg
Bä^ bei Köln); 3 Wohnhäuser; das Ehrenthor in Köln; und den mit sauberem

I Das in der Ueberschrift genannte Werk widmet der Verfasser, j,in dank-

ip;; barer Erinnerung," seinem Bruder Melchior, seiner Schwester Marianne

1 j, ' lind seinem Freunde Johann Bertram.

IT,'

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Denkmale der Baukunst vom 7ten bis zum 13ten Jahrhundert etc. 239

Schmelzwerk geschmückten Altartisch zu Komburg bei Schwäbisch-Hall:
— Perspektivische Ansichten, Grund- und Aufrisse, Durchschnitte und
einzelne Details. Die Messungen und Zeichnungen sind von verschiedenen
Bauverständigen und Künstlern besorgt worden. Vor allen war Baurath
Schauss in Köln dafür thätig, auch überliess er dem Verfasser eine Samm-
lung von Rissen, wozu er den Anfang schon früher gemacht hatte, als jener
den Gedanken zu der seinigen fasste. Mit und nach ihm arbeiteten Maler
Fuchs und Architekt Dupont in Köln, Hofmaler D. Quaglio und Archi-
tekt Kurz in München. Dann war dem Verfasser der Stadtbaumeister
"Weyer in Köln mit Zeichnungen von der St. Kunibertkirche, und Archi-
tekt Schopen mit jenen von der Kirche seiner Vaterstadt Neuss behOlf-
lich; vorzüglich aber hatte er sich der freundschaftlichen Beiträge des
Bauinspektors v. Lassaulx in Koblenz zu erfreuen.

Wo so vieles Treffliche und Anerkennenswerthe geleistet ist, da scheint
es fast Unrecht, wenn wir unsere Wünsche für ein solches Unternehmen
nicht mit dem Geleisteten bescheiden, sondern noch mehr verlangen; —
wenn wir hier z. B. mehr und in hinlänglicher Grösse gezeichnete Details
vermissen, namentlich Profile der verschiedenen Gliederungen (der Fenster-
Einfassungen, der Gewölbgurten, u. a.), deren verschiedene Formation so
charakteristisch für die Fortbildung architektonischer Style isf, der Verfasser
theilt nur zu den Säulen gehörige Details mit'). Auch würden Mitthei-
lungen dieser Art das Werk nicht vertheuert haben, wenn die zumeist
überflüssige Schattenangabe bei Aufrissen und Durchschnitten, so wie der
noch weniger nothwendige Unterdruck mit einer gelben Platte, darin die
Lichter ausgespart sind, unterblieben wäre. Für den Laien sind wesentlich
nur die perspektivischen Ansichten, nicht jene Bisse; und der Kenner weiss
sich in blossen Linearzeichnungen, mit Hülfe des Grundrisses, schon zurecht-
zufinden. Wir können für unsere Studien leider nicht die Mittel englischer
Lords anwenden. — Indess, ich wiederhole, wo wir im Wesentlichen zu
so grossem Dank verpflichtet sind, dürfte es unbillig sein, Mehreres und
Anderes zu verlangen.

Anders aber verhält es sich mit einigen anderen Punkten des vorlie-
genden Werkes und hier wird es Pflicht, mit freimüthigem Tadel die Fehler
des hochgeachteten Hrn. Verfassers darzulegen. Dieselben betreifen den
wissenschaftlichen Theil, und vornehmlich zwei Hauptpunkte, von denen
hier gesprochen werden muss.

Der erste bedeutendere Fehler ist der, dass der Hr. Verfasser Denk-
male der Baukunst vom siebenten Jahrhundert ab herauszugeben meint,
während ich sehr zweifelhaft bin, ob irgend nur_Erhebliches aus dem
zehnten Jahrhundert in diesem Werke enthalten sei. Es ist nöthig, dies
an den einzelnen betreifenden Gebäuden nachzuweisen.

Als ältestes Gebäude führt der Hr. Verfasser die im Jahre 1812 abge-
rissene Taufkapelle St. Martin in Bonn auf, von der er leider nur
eine äussere Ansicht mittheilt. Er setzt dieselbe in das siebente Jahr-
hundert, aus dem einen Grunde, weil ihre Bauart die grösste Aehnlichkeit
habe mit jener der Marienkirche auf dem Kapitol in Köln, welche am
Ende eben dieses Jahrhunderts erbaut sei. Da diese letzte Annahme, wie
ich gleich zeigen werde, durchaus willkürlich und fehlerhaft ist, so fällt

Auch in dem grossen Prachtwerk über den Kölner Dom fehlt es leider
zumeist an den nöthigen Details der angegebeneu Art.

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240 Berichte und Kritiken^,

die angegebene Bestimmung des Alters der Martins-Kapelle von selbst
zusammen, und wird, im Fall man jene „grosste Aehnlichkeit" mit der
genannten Marienkirche gelten lässt (die freilich zwischen einer von Säulen
getragenen Rotunde und einer weitschiffigen, auf Pfeilern ruhenden Kreuz-
Idrche nicht allzugross sein dürfte) in eine beträchtlich spätere Zeit hinab-
zurücken sein. Doch auch ohne Vergleich mit anderen Gebäuden bestimmt
sich das Alter der Martinskapelle, sogar aus der einfach äusseren Ansicht
des Gebäudes, von selbst. Hier zeigt sich bereits ein ausgebildetes System
jener durchlaufenden Friese mit nebeneinandergestellten, wenig erhabenen
kleinen Rundbögen, von denen sich, in gemessenen Entfernungen, Lissenen
herniederziehen; ein System, welches die Massen des Gebäudes bereits auf
eine anmuthige Weise sondert. Bekanntlich gehört dasselbe dem mehr
massenhaften rundbogigen (romanischen) Baustyle an, welcher seine ersten
Anfänge im zehnten Jahrhundert hat, sich im elften, ausbildet und im
zwölften bereits zu einer besondern Anmuth, häufig sogar Zierlichkeit ent-
wickelt. Vor dem zehnten Jahrhundert ist von Anfängen der Art noch
nichts zu bemerken; die Zeit der Karolinger befolgt, wie jeder Geschichts-
kundige weiss, in den Gegenständen der höheren Kultur, überall noch
antike (wenn auch entstellte) Vorbilder. Somit würde die Martinskapelle
erst in das elfte, wenn nicht gar, möglicher Weise, in das zwölfte Jahr-
hundert gehören. Denn „der Geschichtsforscher (ich bediene mich der
Ausdrücke des Hrn. Verfassers) darf eine immer wiederkehrende Thatsache
nie aus den Augen verlieren, dass nämlich in den Zeiten, wo wesentliche
Veränderungen in der Baukunst eintraten, und ziemlich lange nachher, die
ältere Bauart bei manchen Gebäuden noch angewendet wurde" u. s. w.

Als das nächst der Martinskapelle älteste Gebäude dieser Gegenden
nennt der Verfasser die erwähnte Stiftskirche St. Maria auf dem
Kapitoi in JCöln, welche von der Plectrudis, Gemahlin des Pipin von
Heristal, im Jahre 700 errichtet sei. „Das Gebäude der Marienkirche (sagt
er) ist, soviel ich weiss, das einzige- von dieser Bedeutung und Vollstän-
digkeit, welches irgend aus dem siebenten oder achten Jahrhundert noch
besteht. Die Hauptanlage desselben ist noch ganz in ihrer
ursprünglichen Gestalt erhalten." In Bezug auf diese Angaben nur
Folgendes. Jedermann weiss, wie im höchsten Grade schwierig das Alter
der Gebäude gerade in diesen dunkelsten Jahrhunderten des Mittelalters zu
bestimmen ist, wie sehr viel also darauf ankommt, ein festbestimmtes
bedeutenderes Gebäude dieser Zeit zu haben, um aus dem Styl desselben
Schlussfolgen für andere zu ziehen. Der Verfasser indess begnügt sich mit
der einfachen Angabe, dass die genannte Kirche die im Jahre 700 errich-
tete sei, ohne dabei auch nur den geringsten Zweifel zu äussern, geschweige
denn zu widerlegen. Doch giebt es ohne Zweifel kaum etwas Unpassen-
deres als die Annahme, dass dies oder jenes, an einem bestimmten Orte
erhaltene Gebäude einer bestimmten Frühzeit der,Geschichte zugeschrieben
werden müsse, und dies aus keinem andern als dem einzigen Grunde, dass
in jener Frühzeit ein Gebäude desselben Namens an demselben Orte vorhan-
den war. Die gegenwärtige Kirche Maria auf dem Kapitol enthält aber, im
Ganzen wie in den Details, so durchweg die Eigenthümlichkeiten eines
beträchtlich späteren Styles, dass wir jene ganz vage Angabe ihres Alters
auf keine AVeise gelten lassen dürfen. Hier ist nichts mehr von dem anti-
kisirenden Charakter zu bemerken, der den Gebäuden des siebenten und
achten, selbst noch des neunten Jahrhunderts eigen ist; nichts mehr von

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üeukmale dor Baukunst vom 7ten bis zum 13ten Jahrhundert etc. 241

dem eigentlichen, gewölblosen Basilikenstyl, der sogar in diesen Jahrhun-
derten des bedeutendsten Verfalls der Baukunst auch noch die Würde und
Majestät, welche die Bauwerke des vierten und fünften Jahrhunderts zeigen,
eingebüsst hatte, und mit seinen geringen Dimensionen, mit seinen Schiess-
scharten-ähnlichen Fenstern, mit seiner schon zu sehr, gesunkenen Technik
ein trauriges Bild Jener Zeit liefert, welche zwischen dem Untergänge der
alten Welt und dem Beginn der neuen liegt. Die Form des Grundrisses
dagegen, die bereits ein vollständiges lateinisches Kreuz und eine eigen-
thümliche Anordnung (eine Wiederholung der Hauptabsis au den beiden
Enden des Querschiffes) zeigt, welche den, mindestens dem elften, wenn
nicht beide dem zwölften Jahrhundert zugehörigen Kirchen St. Martin und
St. Aposteln zu Köln entspricht; die»Durchführung des Umganges hinter
diesen Absiden, von denen derselbe_ durch freie Säulenstellungen getrennt
ist; die weiten und leichten Verhältnisse im Inneren des Gebäudes; die
kühn gespannten Gewölbe und die, durch diese nöthig gewordenen Pfeiler
im Innern, Strebebögen im Aeusseren; die Anwendung einer bereits nicht
unbedeutenden und kunstreich angeordneten Gruftkirche; die kleine rund-
bogige Gallerie im Aeusseren, unter dem Dach der Hauptabsis; der rund-
bogige Fries unter dem Dach des Mittelschiffes, welcher sich in Lissehen-
artigen Streifen zu den genannten Strebebögen niedersenkt: — Alles dies
sind zu unwiderlegliche Kennzeichen des elften, zum Theil des zwölften
Jahrhunderts, so dass wir dies Gebäude nothwendig als das Werk dieser
späteren Zeit, und zwar als eine besondere Zierde derselben, anerkennen
müssen. — Ein Paar schwache Stützen, welche der Verfasser noch beiläufig
für seine Meinung vorzubringen scheint, ergeben sich von selbst als wenig
zureichend. Die eine ist eine Vergleichung mit dem" alten, angeblich im
Jahre 814 erbauten Dome zu Köln, davon derselbe in dem früheren Werke
über den Kölner Dom eine, nach der (sehr ungenügenden) Beschreibung
bei Gelenius entworfene Zeichnung mittheilte; — doch fragt sich, im Fall
Beschreibung und Zeichnung auch richtig sind, ob dieser Dom nicht, in
den 434 Jahren bis zur Gründung des noch vorhandenen Gebäudes, eben-
falls einen Umbau erlitten haben kann? Ausserdem scheint noch eine
angestellte Vergleichung der kleinen Arkade unter dem' Dach der Haupt-
Absis mit den bei der Taufkapelle St. Martin zu Bonn und bei S. Micchele
zu Pavia vorhandenen, auf jene frühere Zeit hindeuten zu sollen. Ueber die
Martinskapelle habe ich bereits gesprochen. Die genannte Kirche von
Pavia ist der Verfasser zwar bereits für ein Werk des zehnten Jahrhun-
derts zu halten geneigt; doch muss ich gestehen, dass mich die Unent-
schiedenheit, mit welcher diese Meinung ausgesprochen wird, argwöhnisch
macht. Es gilt bekanntlich diese Kirche, seit die Meinung der pavesischen
Topographen durch d'Agincourt in seiner
Ilistoire des arts etc. sanctionirt
worden ist, für ein Muster der long^bardischen Architektur, d. h. derjenigen,
welche in Italien, und natürlich auch in den benachbarten Ländern, vom
sechsten bis achten Jahrhundert herrschte; alle ähnlichen für diese Zeit
aufgestellten Beispiele stützen sich auf diese Autorität; ich vermuthe, dass
auch des Verfassers Meinung in Bezug auf die gleichzeitig genannte Kölner
Marienkirche durch dieselbe influirt wurde. Uebrigens ist durch Cordero')
bereits zur Genüge erwiesen, dass die Zeit der Erbauung der gegenwärtig

Vergl. oben, S. 204, fif.

Kugicr, Kleine SchriFlcn. I.

16

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242 Berichte und Kritiken^,

in Pavia vorhandenen Kirche S. Micchele gegen das Ende des elften Jahr-
hunderts fällt; so dass auch schwerlich die Annahme des Herrn von Rumohr,
der wenigstens in ihren Fundamenten longobardischen Bau erkennt, halt-
bar sein dürfte.

Von der Abteikirche St. Martin in Köln ferner, welche im Jahre
977 neu zu bauen angefangen wurde, dürften höchstens die einfachen Pfeiler
des Schiffes mit ihren einfachen Halbkreisbögen in diese Zeit gehören
(obgleich auch diese Annahme nicht unzweifelhaft hinzustellen ist). Alles
Uebrige, vornehmlich aber der ganze Kaum des Chores und Kreuzes, den
der Verfasser für gleich alt hält, gehört nothwendig wenigstens in das
Ende des zwölften Jahrhunderts, wie sich aus der kunstreichen Anordnung
des Ganzen, besonders aber aus den zierlichen und überzierlichen Einzel-
heiten sehr leicht ergiebt. U. s. w. —

Die zweite Rüge, welche zu machen ich mich genöthigt sehe, ist die,
dass das vorliegende "Werk den Zweck haben will, die Entwickelung der
romanischen Baukunst, vornehmlich in Bezug auf den um 1200 stattfinden-
den Uebergang in den spitzbogigen Baustyl, nachzuweisen. Allerdings
zeigen sich hier, am Ende der Periode des genannten romanischen Bau-
styles (am Ende des zwölften und im Anfange des dreizehnten Jahrhun-
derts), allerhand eigenthümliche Ausbildungen und Ausartungen; aber von
Motiven, welche irgendwie in den germanischen Baustyl hinüberdeuteten,
ist fast gar keine Spur zu bemerken. Denn wenn auf die Thürme ein
Geschoss mehr gesetzt wird, um sie höher zu machen, so hat das eben noch
nichts mit dem elastisch Emporstrebenden jenes Styles gemein; und wenn
die Form des Spitzbogens zufällig, aus Nachahmung anderswo schon vorhan-
dener Spitzbogenbauten, vorkommt, so ist das eben noch ausser dem orga-
nischen Zusammenhange, der doch die Hauptsache ist. Zu jenen späteren
Eigenthümlichkeiten gehören die durchgeführte Nischeneinrichtung, wie in
der Kirche von Heisterbach, die mannigfachen, zum Theil sehr willkür-
lichen Fensterformen, die hie und da sogar beinah an Kirchenfenster aus
der Zeit des Haarbeutelstyles erinnern, u. a. m. Die Rotunde von St.
Gereon in Köln dürfte vielleicht als das einzige Beispiel jenes üeberganges
anzusehen sein; doch ist hier der Spitzbogen wiederum schon beträchtlich
vorherrschend, die ganze Anlage aber sehr verschieden von früheren und
späteren Bauwerken.

Es ist im Gegentheil sehr interessant, zu beobachten, wie sich in diesen
niederrheinischen Gebäuden eine eigenthümlich abgeschlossene Bauweise,
die in sich Beginn und Ende hat, ausspricht und von der mittel- und ober-
rheinischen wohl unterscheidet. Ich möchte sie, in ihrem, mehr in die
Breite als Höhe gehenden Charakter eine klösterliche Bauweise nennen.
Die schöne Abteikirche von Laach nur erhebt sich , was wenigstens die
mitgetheilte äussere Ansicht betrifft, zu freieren, edleren Verhältnissen. —

Es schien nöthig, den geneigten Leser auf diese unhaltbaren Stellen
des in Rede stehenden Werkes aufmerksam zu machen; um so mehr, als
der berühmte Name des Verfassers leicht als ein Bürge für die darin
niedergelegten Aussprüche angesehen werden und sehr bedeutende Verwir-
rung für die Geschichte der Kunst, oder vielmehr der Kultur überhaupt,
begründen dürfte. Dass dies geschehen wird, beweist z. B. schon der
Umstand, dass mehrere Stücke des Textes, namentlich das über die Kölner
Marienkirche, in das Schorn'sche „Kunstblatt" aufgenommen sind, ohne dass
irgend Zweifel gegen die Gültigkeit der mitgotheilten Behauptungen ausge-

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Coleccion litograflca de cuadros del rey de Espana etc.

sprochen wären. Auch muss ich leider schliesslich noch bemerken,' dass
diese irrigen Ansichten des Verfassers die bedeutenden Hoffnungen, welche
sein schon lange gegebenes Versprechen eines Werkes über die Entwicke-
lung der Kirchenbaukunst erregte, sehr herabstimmen müssen.

Gleichwohl wiederhole ich, dass die vielfachen Verdienste des Verfas-
sers um die Kenntniss des deutschen Mittelalters von seiner herrlichsten
Seite, auch durch das vorliegende Werk, stets so gross bleiben werden,
dass sein Name nie ohne die grösste Hochachtung und Dankbarkeit genannt
werden darf.

Coleccion litografica de cuadros del rey de Espaua el senor Don Fer-
nando Vn, que se conservan en sus Reales Palacios, Museo y Academia
de San Fernando, con inclusion de los del Real Monasterio del Escorial:
Obra dedicada a S. M. y litografiada por habiles artistas, bajo la direccion
de D. Jose de Madrazo con el texto por D. Jose Musso y Valiente.

— 37. Cuaderno. — Madrid, en el Real Establecimiento iitogräfico.

(Museum, 1834, No, 19.)

Dies lithographische Prachtwerk, welches uns mit den reichen Schätzen
der königlich spanischen Gemälde-Sammlungen, besonders mit dem von
dem verstorbenen Könige Ferdinand VII. gestifteten königl. Museum des
Prado zu Madrid bekannt macht, ist bereits bis zur 37. Lieferung gediehen,
die kürzlich erschienen ist und uns so eben vorliegt. Das Werk, welches
sich im Inlaude eines bedeutenden Absatzes erfreut, ist in Deutschland sehr
selten, in Berlin nur in der Bibliothek der 'konigl. Akademie der Künste
vorhanden; es bezeugt, dass Spanien sich nicht nur — wie wir zu glauben
nur zu leicht geneigt sind — an'dem Ruhme einer früheren Kunstblüthe
und prächtiger*Sammlungen genügen lässt, sondern dass auch gegenwärtig
Bedeutendes wenigstens für die Förderung der künstleriscken Technik
geschieht. Im Einzelnen sind in dem genannten Werke, durch das königl.
spanische lithographische Institut, Blätter^geliefert, welche den Besten der
Art nicht nachstehen und namentlich die Leistungen Berlin's in diesem
Fache — mit Ausnahme einiger wenigen, die jüngst erschienen sind —
bedeutend übertreffen.

Das vorliegende Heft enthält die folgenden vier Blätter: eine Hirsch-
jagd nach Paul de Vos, Cadmus und Minerva nach P. P. Rubens, die
Flucht nach Aegypten nach Allessandro Turchi und das Marterthum des
heiligen Stephan nach Juan de Juanes. Die beiden ersten Blätter, nament-
lich das zweite, sagen uns in ihrer Behandlung weniger zu; mehr das
dritte, welches von C. Palmaroli kräftig und in guter Haltung lithogra-
phirt ist; dies Blatt ist zugleich durch die einfache, würdige Composition
ansprechend, auch wird der Ausdruck in den Köpfen des grossen Origi-
nales, sowie dessen Colorit und Helldunkel im Texte rühmlichst erwähnt.
Vorzüglich gelungen ist das vierte, von A. Guglielmi mit Sorgsamkeit und
Verständniss lithographirte Blatt. Es beschliesst eine Reihe von Darstel-
lungen aus dem Leben des heiligen Stephanus, welche sämmtlich von Juan

243

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244 Berichte und Kritiken^,

de Juanes gemalt sind und in den früheren Lieferungen des in Rede
stehenden Werkes bereits mitgetheilt waren. Voi'u kniet der Heilige, im
geschmückten Diakonengewande, die Hände betend erhoben; liinter ihm
die Steinigenden, durcheinandertobend; im Hintergrund sitzt Saulus, eine
edle Gestalt, in der man den künftigen Paulus erkennt, die Mäntel der
Zeugen zu seinen Füssen. Wenn Einzelnes in dieser Composition, nament-
lich in den Gestalten und der Gewandung der Peiniger, minder anspricht,
so ist dagegen der innerliche, lebendige Ausdruck in den Köpfen um so
anziehender; es ist interessant, den Nachklang der älteren spanischen Schiile
lind spätere, italienische Studien sich hierin begegnen zu sehen.

Sammlung der vorzüglichsten Werke aus der königlichen Gemälde-Gallerie
zu München und Schleissheim, herausgegeben mit seiner Majestät des Königs
Ludwig 1. von Bayern allerhöchster Genehmigung von Ferdinand Piloty

in München 1834.

• >
i-

.k

(Museum, 1834, No. 20.)

Dies Werk in gross Imp. Folio, welches durch ein kalligraphisches
Prachtblatt mit voranstehendem Titel eröffnet wird, scheint eine Fortsetzung
der von der literarisch-artistischen Anstalt der J. G. Cotta'schen Buchhand-
lung in München herausgegebenen „Auswalil der vorzüglichsten Gemälde
der Pinakothek" zu bilden und schliesst sich derselben würdig au. Die
vorliegende erste Lieferung enthält, ausser dem Titelblatt, zwei Lithogra-
phieen: Eine Darstellung des Gekreuzigten nach Rubens
(y^Et indinato
Capite, tradidit Spiritum'^),
auf Stein gezeiclmet v. Ferdinand Piloty,
und „Das Testement" nach David Wilkie, nach dem Original-Gemälde
auf Stein gezeichnet von Job. Woelffle, beide aus der königlichen
Central-Gemälde-Gallerie in München, und gedruckt in der lithographi-
schen Kunstanstalt von Strixner imd Zach in München. Beide Blätter
bewähren, Avas Zeichnung und Druck betrilft, den Ruhm, welchen München
bereits seit längerer Zeit in diesem Zweige des Kunsthandwerkes besitzt.
Lieber die treffliche Weise, wie Piloty namentlich Bilder von Rubens nach-
zubilden versteht, haben wir bereits früher zu sprechen Gelegenheit gehabt;
sollen wir etwas an dem vorliegenden sonst sehr harmonischen Abdruck
des Blattes nach Rubens aussetzen , so möchten dies die vielleicht zu
schwarzen Schatten an den nackten Partieen sein. Nicht minder ist die
Charakteristik, das Leben und die Gesammtharmonie des anderen Blattes
nach Wilkie zu rühmen, wenn schon uns hier einige Köpfe und Hände
nicht ganz genügen.

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Künstler-Geschichten, mitgetheilt von August Hagen otc. 245

Künstlei'-Gcschichten, mitgetheilt von August Hagen. Erstes und zweites
Bändchen. Auch unter dem Titel: Die Chronik seiner Vaterstadt yom
Florentiner Lorenz Ghiberti, dem berühmtesten Bildgiesser des fünfzehnten
Jahrhunderts, Nach dem Italienischen von August Hagen. Leipzig:

F. A. Brockhaus. 1833.

n

(Museum, 1834, No. 23.) :

• Selten findet es sich, dass das Studium der Geschichte anders denn
fils ein todtes Zusammenvs^ürfeln fragmentarischer Nachrichten von Ereig-
nissen und Zuständen der Vergangenheit betrieben, dass der Faden erkannt
wird, welcher sich durch diese Fragmente hindurchschlingt und ihren Zusam-
menhang nachweist; ungleich seltner Jedoch, dass dieselben, mit poetischer
Divination belebt, sich zu einem Ganzen zusammenfügen und ein leben-
diges Bild zur unmittelbaren Anschauung bringen. Das in der Ueberschrift
genannte Werk neigt sich zu der letztgenannten seltneren Richtung; wir
würden demselben unbedenklich eine solche, nach unserer Ansicht sehr
ehrenvolle Stelle anweisen, wenn uns nicht verschiedene Umstände in
unserem Urtheil zweifelhaft mächten.

Es ist unstreitig eine der anziehendsten und dankbarsten Aufgaben, das
künstlerische Treiben von Florenz, während des fünfzehnten Jahrhunderts,
und das Verhältniss desselben mit den übrigen intellektuellen und politi-
schen Richtungen des Staates 'darzustellen. Welch ein lebendiges Ringen
mannigfacher jugendlicher Kräfte! welch eine Reihe berühmter Namen unter
den Baumeistern, Bildhauern, Malern, den Gelehrten und Dichtern! welch
ein grossartiger Mittelpunkt aller geistigen Bestrebungen in der edlen Familie
der Mediceer! Die Geschichte bietet kaum ähnliche Glanzpunkte dar. —
Der Verfasser, der sich die Lösung dieser Aufgabe gestellt hat, fingirt, dass
sich der von Ghiberti geschriebene Commentar über die Kunstgeschichte
(der itbschnitt, welcher von der neueren Kunst handelt, ist bekanntlich bei
Cicognara,
storia della scultura, II, p. 99 sqq. abgedruckt) vornehmlich
mit den Zeitgenossen, den Künstlern des fünfzehnten Jahrhunderts, beschäf-
tige, dass er sowohl deren künstlerisches Wirken, soweit es sich besonders
auf Florenz erstreckt, als auch ihre^ sonstigen bürgerlichen und häus-
lichen Verhältnisse, ihre Freuden und Leiden, darstelle und gleichfalls
nicht unterlasse, von den öffentlichen Ereignissen und anderweitigen Bege-
lienheiten und Personen, welche auf die Kunst der Zeit einge.Avirkt, ausführ-
lich Kunde zu geben. Die Hauptquelle, daraus der Verfasser geschöpft,
ist, ausser den wenigen Notizen, welche der erwähnte Commentar des
Ghiberti selbst darbot, das bekannte Werk des Vasari, welches, in der
mehr oder minder novellistischen Anlage der einzelnen Künstler-Biogra-
l)hiecn, den trefflichsten Stoff zu solcher Arbeit enthält. '

In sechs und zwanzig Abschnitten, deren jeder für sich ein ziemlich
geschlossenes Bild giebt, führt uns der^Verfasser in die Ateliers der Künstler
und die Studirzimmer der Gelehrten, in die Kirchen, die Raths-Versamm-
iungeu und in den Palast der Mediceer. Wir lernen den Johann von
Medici, seinen grossen Sohn Kosmus, den Vater des Vaterlandes, und den
odlen, feurigen Enkel des letzteren, Lorenz, kennen; ebenso die Freunde
lind Anhänger dieses Hauses, wie dessen gefährliche Widersacher; sodann

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Berichte und Kritiken,

von Baukünstlerii den strengen und gewaltigen Brunellesco, den feinen
und gelehrten Alberti u. A.; von Bildnern den sinnigen Ghiberti, den beweg-
lichen Donatello, den besonnenen Lucas Robbia und ihre Schüler; von
Malern den tiefen, verschlossenen Masaccio , den lebenslustigen Filippo
Lippi, den frommen Johann von Fiesole, den düstren Piero di Cosirao, den
seltsamen Cosimo Rosselli, den alten Perspektiv-Maler Paul Uccello, den
eifrigen Andreas Verocchi, den grossen Schüler des letzteren, Leonardo da
Yinci u. a, m.; die Gelehrten Poggio, Guarino und Bruui, Filelfo und
Ficino, den Stifter der platonischen Akademie. Auf dem Grunde der
grossen politischen Ereignisse, darunter vornehmlich die Vertreibung des
Kosmus von Medici und seine Rückkehr den Mittelpunkt bilden, entwickelt
sich das künstlerische Treiben, welches jedoch zumeist auch als öfl'entliche
Angelegenheit gilt. Hier ist es insbesondere die Vollendung des Dombaues,
die Errichtung der ungeheuren Kuppel durch Brunellesco, welche sich
durch das ganze Buch hinschlingt; die Fertigung der Bronzethüren für die
Taufkirche durch Ghiberti, einer Menge anderer öffentlicher Kunst-Monu-
mente schliessen sich daran an. Doch auch an geheimeren Beziehungen,
welche den Charakter der dargestellten Personen weiter entwickeln helfen,
fehlt es nicht; manch ein zartes Verhältniss geht an uns vorüber und
namentlich ist für uns in dieser Beziehung die Geschichte des Filippo
Lippi, seine Entführung der schönen Tochter des Franz Buti und sein trau-
riges Ende von Interesse.

Der Verfasser zeigt sich zu einer solchen Arbeit sehr wohl berufen;
seine Schilderungen und Erzählungen haben Leben, Charakter und meist
eine sehr erfreuliche prägnante Kürze. So wenig das Buch ein Roman zu
nennen ist — es will eben nur Geschichtliches darstellen — so verfolgen
wir dasselbe doch mit gleichem Interesse, wie etwa eine anziehende Dich-
tung; und selbst wo sonst ein trocknes Aufzählen und Beschreiben von
Kunstwerken abstösst, da sehen wir hier das Leben des Künstlers in seinem
"Werke, seinen Eifer bis zur Vollendung und die Theilnahme des Schauen-
den. Trefflich sind die gegebenen Mittel benutzt; man vergleiche die
Skizze, welche Vasari im Leben des Brunellesco von den merkwürdigen
Verhandlungen wegen des Dombaues giebt, mit des Verfassers bewegter
Schilderung zu Anfange des Buches, wo alles Einzelne Fleisch und Blut
gewonnen hat; meisterlich sind einzelne abgerissene Charakterzüge zu einem
Ganzen vereinigt. Wir würden dies Buch, wie gesagt, für vollendet in
seiner Art anerkennen, wenn uns nicht einige Umstände Bedenken erregten.

Dies sind nämlich verschiedene Verstösse des Verfassers gegen die
geschichtliche Treue, welche, wie wir glauben, auch bei einer solchen, mehr
dichterischen Darstellung der Geschichte nicht unberücksichtigt bleiben
darf. Der Verfasser lässt Künstler als gleichzeitig mit andern auftreten,
deren Existenz und Blüthe ungleich später fällt, deren künstlerische Eigen-
thümlichkeit eben durch jene älteren bedingt ist. So tritt z. B. Cosimo
Rosselli gleich zu Anfange des Buches zur Zeit der Verhandlungen wegen
des Dombaues (um 1420) auf und zwar bereits dem alchymistischen Treiben
hingegeben (was geschichtlich erfolgte, nachdetia er bereits seine Haupt-
werke gemalt hatte und was eben als der Gnxnd der handwerksmässigen
Manier in seinen späteren Bildern zu betrachten ist), während seine künst-
lerische Blüthezeit noch in die siebziger Jahre desselben Jahrhunderts fällt.
So wird ebenfalls Piero di Cosimo, der Schüler des ebengenannten und
ein in der Technik bereits sehr vorgeschrittener Künsticr, zu einem Ncben-

246

f«;

U'

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Künstler-Geschichten, mitgetheilt von August Hagen etc. 247

buhler des Filippo Lippi gemacht (nämlich nicht in der Kunst, sondern
in der Liebe) während er gleichwohl dreissig bis vierzig Jahre jünger ist;
uud er muss gleichzeitig mit jenem sterben, während sein Tod über fünfzig
Jahre später erfolgt ist. So schaut Leonardo da Vinci dem Masaccio bei
seinen Arbeiten in der Kapelle Brancacci als ein schon erwachsener Jüng-
ling zu, während er erst etwa neun Jahre nach dessen Tode geboren wurde.
Ja der Verfasser geht soweit , dass er die Vollendung der Kapelle Bran-
cacci, welche bekanntlich ein Werk des jüngeren Filippo Lippi (zum Unter-
schiede vom Vater gewöhnlich Filippino genannt) ist, dem älteren Filippo
selbst zuschreibt. Dergleichen muss nothwendig wenigstens dem Laien,
für den doch ein Buch, wie das vorliegende, zunächst geschrieben ist,
mannigfache Verwirrungen erregen.

Auch Anderes können wir nicht umhin zu rügen. ^ Die Art z. B. wie
der Verfasser das düstere, phantastische Wesen des Piero di Cosimo aufge-
fasst hat, scheint uns keinesweges in der Biographie desselben bei Vasari
begründet zu sein. Bei letzterem erscheinen alle seine Seltsamkeiten als
Ergebniss einer bizarren, hypochondrischen Laune, oft nicht ohne eine
gewisse Gutmüthigkeit, während ihn der Verfasser zu' einem dreifachen
Mörder stempelt. Er muss, "weil er Kiudergeschrei nicht hören kann, ein
eignes Kind umgebracht, er muss dem Masaccio und dem Filippo Lippi
das Gift, dem man beider Tod zuschreibt, beigebracht haben. Es dünkt
uns im Gegentheil, als ob die ganze Darstellung des Verfassers ungleich
gewonnen haben würde, _wenn all jene Tollheiten des Piero eben ohne
einen solchen besonderen Grund geblieben wären; er hätte alsdann eine
treffliche komische Person gegeben. Auch hätte der Verfasser füglich eine
andere Person als böses Priucip benutzen können, wenn er darum sonst
verlegen war; wir meinen nämlich den Andrea del Castagno, dessen Name
in der Geschichte genugsam gebrandmarkt ist und den der Verfasser nur
obenhin erwähnt; schon die Art wie er — bei Vasari — sich in das Ver-
trauen des Domenico Veneziano einschleicht, ihm dann das Geheimniss
der ^Imalerei ablockt und ihn Abends bei der Serenade ermordet, bietet
treffli^sten Stoff zu einer Novelle.

Endlich auch hätten wir wohl gewünscht, dass der Verfasser, indem
er die vorzüglichsten Florentiner des fünfzehnten Jahrhunderts, indem er
selbst so späte Meister, wie den Leonardo da Vinci, aufführt, manch einen
Andern nicht so ganz tibergangen habe. Wir meinen vornehmlich den
Domenico Ghirlandajo, dessen kirchliche Gemälde, mit den Portraits seiner
Zeitgenossen , recht als eine Verherrlichung der florentinischen Republik
zu betrachten sind, der überhaupt unter den Malern seiner Zeit unstreitig
einer der ersten ist. '

Doch genug dieser einzelnen Ausstellungen, wo so viel des Trefflichen,
im Ganzen so Genügendes und Empfehlenswerthes geleistet ist. Das Buch
wird sich, bei dem gegenwärtigen grossen Interesse für die Künstler jener
Zeit, gewiss viele Freunde und Leser erwerben; es eignet sich besonders
zum Vorlesen uud zur Vergleichung mit den zum Theil reichlich vorhan-
denen Kupferstichen nach Werken der bezüglichen Künstler.

Die Dedication des Buches lautet: „Herrn Geheimen Oberbaurath, Pro-
fessor und Ritter Schinkel, Herrn Professor und Ritter Rauch und Herrn
Professor und Ritter Wach, des erhabensten Herrschers erhabenen Künst-
lern." Der zweifache Titel lässt eine Folge ähnlicher Künstlergeschichten
erwarten, wie der Verfasser bereits früher ein Buch der Art, „Norica"

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Burichte und Kritiken.

betitelt (das Künstlerleben von Nürnberg zur Zeit Dürers enthaltend), heraus-
gegeben hat. Wir sind überzeugt, dass, wenn er mit seinem schönen Talente
noch grössere geschichtliche Strenge verbindet, er in jeder Beziehung Treff-
liches und Beifallswürdiges leisten wird.

Leonardo da Vinci von Hugo Grafen von Gallenberg. MitLeonardo's

(in Kupfer gestochenem) Bildniss und vier Stein(druck)tafeln. Leipzig, 1834.

8. S. 268 und XU.

^(Museum, 1834, No. 27, f.)

?

Der Leser, welcher aus dem" ebenso schlichten wie bedeutsamen Titel
dieses Buches auf den Inhalt desselben schliesst, wird ohne Zweifel ver-
muthen, dass hierin das Leben des Leonardo, die Verhältnisse, in denen
er zu seiner politisch bewegten Zeit stand, seine künstlerische Entwicke-
lung und Wirksamkeit, überhaupt sein allseitiges unbegränztes Streben
dargestellt seien, und zwar, wie alles dies aus der eigenthümlichen Anschau-
ung des Verfassers hervorgegangen. Die Vermuthung ist aber falsch.

Der Verfasser selbst sagt in seiner (von Wien, Mai 1833, datirten)
Vorrede, dass er ursprünglich nur eine deutsche Uebersetzung von dem
Werke des Italieners C. Amor et ti:
Memorie storiche su la vita, glistudj,
e le opere cli Lionarclo da Vinci
zu liefern beabsichtigt habe; dass seine
hinzugefügten Erläuterungen jedoch bald so angewachsen seien, dass er
sich genöthigt gesehen, dieselben mit den Angaben Amoretti's zu einem
Ganzen zu vereinigen. Das Buch ist somit gleichwohl nichts mehr als eine
Uebersetzung von Amorettis Werke mit „Erläuterungen" des sog. Verfassers.

Amoretti verspricht, zufolge des von ihm gewählten Titels, „histMische
Denkwürdigkeiten über das Leben, die Studien und die Werke LeonaTOo's."
In diesem Betracht ist seine Sclirift höchst bemerkenswerth und von grosser
AVichtigkeit für das Studium der Kunstgeschichte. Aufs Sorgfältigste sind
liier die einzelnen, oft selir abgerissenen Zeugnisse zusammengetragen,
welche bei den Zeitgenossen oder in Leonardo'» eigenen Handschriften
zerstreut, sich vorfinden und aus denen mit Sicherheit über seine Lebens-
umstände, Arbeiten und Pläne, besonders in Bezug auf deren Zeitbestim-
mung, Schlüsse gezogen werden können. Angaben über seine Sqhriften,
seine Studien, seine künstlerischen und mechanischen Produktionen schliessen
das Werk. Es ist die trefflichste und eine durchaus nothwendige Vorarbeit,
iini Leonardo in seiner ganzen grossen Eigenthümlichkeit darstellen zu
können. Wir müssen dem Verfasser des deutschen Buches für die gute
Absicht, jenes durch eine Uebersetzung auch bei uns mehr zu verbreiten,
dankbar sein.

Ist das neue Buch also nur eine Uebersetziing, so wäre freilich zu
wünschen gewesen, dass das, was der Verfasser hinzugetragen, wenn auch

.SiS'sl

M Abgedruckt vov äov \usgixh^ \on Leonsivdo's l'rattato della pittura. welche
die typographische Gesellschaft für die italienischen Classiker zu Mailand, 1804,
veranstaltet hat.

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249

wüiiÄiPiee

Leonardo da Vinci von Hugo Grafen von Gailenberg etc,

vielleicht Bedeutendes, doch gesondert, in Anmerkungen und Nachträgen,
gegeben wäre. Man wüsste sodann wenigstens gleich, ohne Amoretti's
Buch selbst zur Hand zu nehmen, wo dieser aufhörte und wo der Graf
Gallenberg aniinge. Da dem jedoch nicht so ist (und es wechseln beide
Verfasser wirklich auf eine eigenthümlich naive "Weise, ohne Beiderseitiges
irgend zu verschmelzen), so bleibt dem Leser vielleicht die Hoffnung, durch
sonderlich neue, geistreiche Gedanken entschädigt zu werden? —Aber der
Leser irrt auch hier; es werden nur gelegentlich einige höchst bekannte
kunstgeschichtliche Erläuterungen von Sulzer, Fiorillo, Lanzi u. dergl., nur
einige Erklärungen Leonardo'scher Bilder von Wessenberg, Göthe u. a.
mitgetheilt. Bruchstücke aus der begeisterten Charakteristik, welche von
Quandt der Uebersetzung von Lanzi's Geschichte der Malerei in Italien
hinzugefügt, finden sich zwar auch hie und da eingestreut, ohne dass jedoch
dieser treffliche, leider so kurze Aufsatz dem Verfasser als Norm zu einer
irgendwie geistreicheren Darstellung gedient hätte;

So hat wenigstens der Verfasser, wie er in der Vorrede verspricht,
„mit der Sorgfalt einer Biene alles, was nur in dieser Beziehung wichtig
sein konnte," gesammelt? — Auch das nicht. Der Verfasser übersetzt z. B-
Amoretti's, im Jahre 1804 geschriebene Angabe, dass Leonardo's Bild,
Christus unter den Schriftgelehrten, von „einem Engländer" gekauft worden
sei, ohne hinzuzufügen, dass das Bild seitdem eine Hauptzierde der engli-
schen National-Gallerie geworden, ist; er giebt, ebenfalls nach Amoretti,
das allegorische Bild der Eitelkeit und Bescheidenheit als im Palast Bar-
berini zu Rom befindlich an, ohne in der Uebersetzung des Lanzi (die er
öfters anführt) gelesen zu haben, dass das Bild seitdem in den Palast
Sciarra Colonna gekommen ist; er erwähnt nirgend der sehr bedeutsamen
"Winke und Angaben, welche v. Rumohr im zweiten Bande seiner italieni-
schen Forschungen über Leonardo und mehrere seiner "Werke gegeben hat.
U. s. w. Ja, der Verfasser geht soweit, dass er sogar augenscheiplichste
Irrthümer Amoretti's, ohne darüber weiter nachzudenken, wiederholt.
Amoretti erzählt z. B., Leonardo habe den Plan gehabt, die Basilika S.
Lorenzo zu Florenz durch mechanische Vorrichtungen so zu erheben, dass
durch eine untergelegte Treppe dem Gebäude die nöthige Bedeutsamkeit
gegeben werden könnte. Bei einem neuen, weitläuftigen, aus vielfachen
Coustruktionen zusammengesetzten Gebäude wäre ein solches Unternehmen
lächerlich gewesen. Vasari berichtet dasselbe von der alten kleinen Tauf-
kapelle S. Giovanni, einem einfach achtseitigen Gebäude, wobei der genannte
Plan nur sehr kühn war.

Endlich ist noch zu erwähnen, dass Graf Gallenberg eine andre, grössere
Kapiteleintheilung gemacht hat als Amoretti. "Wir haben an sich nichts
gegen diese. Aber Amoretti's jedesmal bedeutende Kapitelanfänge unter-
brechen nun oft störend den Faden des Textes. Dann finden sich Absätze
bei Graf Gallenberg, wo der Inhalt des Textes eine enge Verbindung fo'r-
derte und umgekehrt finden sich Zusammenziehungen, wo Absätze augen-
scheinlich nothwendig waren. Dies jedoch mag vielleicht dem Setzer zuzu-
schreiben sein, der wenigstens das Seine gethan hat, um durch eine Masse
ärgerlicher Druckfehler (denen kein Verzeichniss derselben abhilft) das
Mangelhafte des Buches zu vervollständigen.

Verdrehungen wie: Cinuabur, Felibinu, statt: Cimabue, Felibien,
werden zwar dem Inhalte nicht schaden, da sie jedermann als solchc
erkennt; dagegen liest man unzähligemal: Lanzi, statt; Tanzi, zw« höchst

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m

1

31

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250 Berichte und Kritiken^,

verschiedene Autoren! u. a." Ebenso sind fast alle Citate von Leonardo's
Handschriften verdruckt, so z. B. Seite 54: Z. A. statt Q. A; S. 57: 12 K.
statt Q. R; S. 66: 2 K. statt: Q. R. u. dergl. m.

Wozu überhaupt das Buch, unter solchen Umständen, herausgegeben
sein mag? Wir wissen es nicht; doch mag es zuweilen wünschenswerth
sein, auf dem Titel kunstgeschichtlicher Werke als Verfasser genannt zu
werden. Wir bitten indess den geneigten Leser, der sich über Leonardo
unterrichten will, lieber Amoretti's anspruchloses und praktisches Original
zur Hand zu nehmen. —

Wir können bei dieser Gelegenheit nicht umhin, den interessanten
Brief mitzutheilen, welchen Leonardo zur Empfehlung seiner Talente an
Lodovico Sforza von Mailand geschrieben hat. Amoretti giebt denselben
als einen Beleg für die verschiedenartigen Richtungen und Kenntnisse
Leonardo's; doch ist es, um den besonderen Ton des Briefes recht zu ver-
stehen, nöthig, dass wir die Zeitverhältnisse, unter denen er geschrieben
wurde, ins Auge fassen. Lodovico hatte seine Herrschaft durch Usurpation
errungen; sein Regiment war das einer militärischen Despotie, und musste
ein solches, zur Erhaltung seiner Herrschaft, bleiben. Gleichwohl sorgte
er auf's Eifrigste, eigenem Hange gewiss eben so sehr als dem Beispiel
anderer italienischer Herren folgend, für die Pflege der Wissenschaften und
Künste. Gelehrte, Dichter und Künstler wurden an seinen Hof beschieden,
unter ihnen Leonardo da Vinci; letzterer, wie Vasari uns berichtet, als
ausgezeichneter Musiker (er hatte namentlich eine höchst eigenthümliche
Lyra erfunden) und Improvisator. Diese Angabe wird zwar von Amoretti
als wenig ehrenvoll bestritten; Leonardo, so sagt er, könne nur nach Mai-
land berufen sein, um dort seine, nachmals so berühmte Akademie zu
stiften. Doch sehe ich nicht ein, warum jenes nicht der Anlass, dies die
Folge seines dortigen Aufenthaltes gewesen sein könne; Göthe, um ein Bei-
spiel aus unserer Zeit anzuführen, ward auch nur als Freund und Dichter
an den Hof von Weimar beschieden, nicht um die Stelle eines ersten
Ministers su bekleiden, die ihm nachmals zu Theil wurde. Im Gegentheil
scheint der in Rede stehende Brief gerade in der Absicht von Leonardo
geschrieben zu sein, um eine seinen Fähigkeiten angemessnere Wirksamkeit
zu erlangen; es geht aus demselben hervor, dass er sich bereits am Mailän-
der Hofe befand, dass er aber eben noch keine bedeutende Stellung haben
konnte. Indem Leonardo vor Allem seiner Talente für Kriegskunst gedenkt,
so durfte er hiedurch bei Lodovico gewiss am meisten auszurichten holfen.

Graf Gallenberg sagt von diesen Rücksichten, unter denen der Brief
uothwendig betrachtet werden muss, kein Wort. Ueberdies ist seine
Uebersetzung ebenso breitschweifig, wie häufig sinnentstellend. Die unten
beigefügten Anmerkungen mögeii dem geneigten Leser einige Beispiele
davon geben.

In möglichst wörtlicher Uebersetzung lautet der Brief folgendermaassen:

„Indem ich, gnädigster Herr, gegenwärtig zur Genüge die Proben aller
derer gesehen und betrachtet habe, welche sich für Meister und Verfertiger
von kriegerischen Instrumenten halten, und (da ich überzeugt bin,) dass die
Erfindungen und Arbeiten besagter Instrumente sich durchaus nicht vom
gemeinen Gebrauche entfernen: so werde ich mich bemühen— ohne jemand
anders zu beeinträchtigen — Ew. Durchlaucht mich verständlich zu machen
und meine Geheimnisse zu eröffnen. Und indem ich letztere zu Dero belie-
biger Verfügung für gelegene Zeit darbiete, so hoffe ich auf einen günstigen

I

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267

Leonardo da Vinci von Hugo Grafen von Gallenberg etc. 251

Erfolg in den sämmtlichen Dingen, welche kürzlich im Folgenden ange-
führt sind."

1. „Ich verstehe sehr leichte Brücken anzufertigen, welche aufs bequemste
zu transportiren sind und durch deren Hülfe man die Feinde verfolgen, so
wie ihnen, wenn es Noth thut, entfliehen^) kann; und andere, welche
sicher, durch Feuer und Kampf nicht anzugreifen sind und leicht und
bequem geschlagen und abgetragen werden können. Auch verstehe ich
die der Feinde zu verbrennen und zu zerstören."

2. „Ich weiss bei der Belagerung eines Ortes das Wasser aus den Grä-
ben *) zu leiten, alle Arten Brücken von Leitern und andere Instrumente
anzufertigen, welche zu besagter Expedition gehören."

3. „Item, wenn man wegen der Höhe der Wälle oder wegen der Festig-
keit des Ortes und seiner Lage, in dessen Belagerung keinen Gebrauch
von den Bombarden (alte
Kanonen) machen könnte: so verstehe ich eine
jede Schanze oder Befestigung zu zerstören, sofern sie nicht auf einem
Felsengrunde steht."

4. „Ich verstehe auch Bombarden anzufertigen, die sehr bequem und
leicht zu tragen sind; aus denen .man kleine üngewitter schleudern kann
und deren Rauch dem Feinde grossen Schrecken, Schaden und Verwirrung
zufügen wird."

5. „Item verstehe ich durch unterirdische, enge und gewundene Gänge,
die ohne irgend ein Geräusch gemacht werden, zu einem gewissen (Orte)
zu gelangen, dafern es nöthig wäre, unter Gräben®)
und Flüssen hinzugehen."

6. „Item mache ich bedeckte, sichere und unangreifbare Wägen');
wenn diese zwischen die Feinde und ihre Artillerie eindringen, so wird
eine jede, noch so grosse Menge von Soldaten geworfen werden. Hinter
denselben wird die Infanterie unverletzt und ohne Hinderniss folgen können."

7. „Item, wenn es Noth thut, so werde ich Bombarden, Mörser und
Passavolanten (an'^dre Feldstücke) von schönster und zweckmässiger Gestalt,
gegen den gemeinen Gebrauch, anfertigen."

8. „Wo die Bombarden nicht angewandt werden können, werde ich
verschiedene Arten von Wurfmaschinen und Schleudernund andre Instru-
mente von wunderbarer und neuer Wirkung verfertigen; und überhaupt
werde ich nach der Verschiedenheit der Fälle verschiedene und unzählbare
Dinge zum Angriff in Stand setzen."

9. „Und wenn man sich auf der See befinden sollte, so verstehe ich
mich auf viele Instrumente, welche zum Angrill' und zur Vertheidigung
tauglich sind; auf Schiffe, welche allen, auch den grössesten Bombarden
Widerstand leisten; auf Pulver und Rauch."

10. „Zur Friedenszeit glaube ich vollkommen, im Vergleich mit jedem
Anderen, in der Architektur, in der Errichtung von -öffentlichen und

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n

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') Fuggire. G. G. übersetzt: „mit denen man den Feind ... in die Flucht
schlagen kann." —
Securi et inüffensihili da fuoco et battaglia. G. G.
übersetzt: „sehr sichere, die nicht angegriffen werden können, Feuer sprühen
und zum Kriege tauglich sind.« (Sic!) —
Et {sc. ho) modi. G.G. über-
setzt unnöthig breit: ,,Dann habe ich auch endlich die Art und Weise ersonnen."
— Fossi. G. G. übersetzt: „Laufgräben." — Minuti ditempesta. G. G. über-
setzt: „brennende Stoffe," —
fossi. G. G. übersetzt: „Wälle." — ') carri
coperti sicuri ed inöffensibüi.
G. G. übersetzt: „sichere, bedeckte', defensive
offensive Karren." — «)
briccole, manghani, trahuchi; bei G; G. ausgelassen.

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252 Berichte und Kritiken^,

Privat-Gebäuden, in der Leitung des Wassers von einem Orte zum andern.
Genüge zu leisten."

„Item verstehe icli mich auf Sculptur in Marmor, in Bronze und Thon;
ebenso auf Malerei, so dass man Vergleichungen mit einem jeden Anderen
anstellen möge, uud sei er, wer er wolle."

„Auch werde ich die Arbeit des bronzenen Pferdes beginnen können,
welches ein unsterblicher Ruhm und eine ewige Ehre sein wird des
glücklichen Gedächtnisses Eures erlauchten Vaters uud des berühmten
Hauses Sforza" ').

„Und wenn jemand einige der obengenannten Dinge für unmöglich und
unausführbar halten möchte, so erbiete ich mich bereitwilligst, einen Versuch
in Eurem Park anzustellen , oder wo sonst es Ew. Durchlaucht belieben
wird. Denen ich mich unterthänigst, soviel ich kann, empfehle." U. s. w.

Studien nach alten florentinischen Malern, gezeichnet und geätzt von C. L.
Kuhbeil. Berlin 1812. 57 Blätter in 4 Heften, Folio.

(Museum, 1834, No. 33, f.)

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Unter den Kupferwerken, welche dem Studium der alten toskanischen
Meister zu Hülfe kommen, sind bekanntlich die grossen und ausgeführten
Blätter des Italieners Lasinio die bedeutendsten; die 40 Prachtblätter
nach Wandgemälden des Campo Santo von Pisa, die Collektion von (gegen-
wärtig) 32 Blättern nach anderen, in Florenz vorhandenen Wandmalereien
u. a. lassen uns einen bedeutenden Blick in das Kunstleben des vierzehnten
und fünfzehnten Jahrhunderts werfen. Doch sind diese eben genannten
Werke, sowie einige andre hieher bezügliche, so kostbar, dass sie selten
anderswo, als in grossen öffentlichen Bibliotheken zu finden sein dürften.
Zugänglicher pflegt das bekannte Werk von d'Agincourt zu sein, welches
iiuless in seinen kleineren Abbildungen insgemein wenig brauchbar ist.
Ebenso das bekannte Werk der Etruria pittrice, darin aber jedem ein-
zelnen Künstler nur ein Blatt gewidmet ist. Das Werk der Gebrüder
Riepenhausen, „Geschichte der Malerei in Italien" u. s. w., welches in
den beiden vorhandenen Heften Umrisse nach Byzaiitinern, nach Cimabuc,
Andrea Tali , BuH'almaco, Guido von Siena und besonders nach Giotto
liefert, ist nur mit Vorsicht zu gebrauchen, indem die Darstellungen meist
bedeutend modernisirt sind. Anderes Vorhandene endlich (z. B. M-as
Ruscheweyh nach Giotto und Ficsole gestochen) besteht zumeist nur aus
einzelnen Blättern und giebt somit wenig für eine allgemeinere Uebersicht.

') Worte eines Sterblichen! Zwar fertigte Leonardo das Modell zu der
culossaleri Reiterstatue des Francesco Sforza, oder wenigstens zu dem Pferde;
aber es kam nicht zum Gusse, da nachmals, wie es scheint, Lodovico keine
Gelder mehr zu solchem Werk übrig hatte. Und als Mailand im J, 1499 von
den Franzosen erobert ward , diente das Modell den gaskonischen Armbrust-
schützen als Zielscheibe.

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Studieii nach alten iloreutiuischeu Malern etc.

Unter diesen Umständen scheint es mir niclit unzweckmässig, an das
in der Ucberschrift genannte Werk zu erinnern, welches ich bisher nirgend,
bei Gelegenheit kunstgeschichtlicher Untersuchungen, erwähnt gefunden
habe, welches somit nicht diejenige Verbreitung erlangt haben kann, die
es vor anderen verdient. Dasselbe besteht", wie der Titel besagt, wesent-
lich, aus Studien^ es sind minder ganze Gemälde, welche wiedergegeben
werden (obgleich deren ebenfalls vorhanden sind), als vielmehr^einzelne
charakteristische Figuren und Gruppen, welche die Eigenthümlichkeiten
der bezüglichen Meister darlegen. Die Arbeit ist schlicht und eben wie
man es bei künstlerischen Studien gewohnt ist, einfache Umrisse, oder
Umrisse mit zumeist geringer Angabe der Schattirung; überall aber trägt
dieselbe das Gepräge der grössten Strenge und Redlichkeit, welche für
Werke solcher Art nöthiger sind, als.sie insgemein gefunden werden, welche
das vorlieg(;nde, in Bezug auf den unmittelbaren Gebrauch, selbst den
grossen Prachtblättern Lasinio's an die Seite stellen, und um so mehr, als
dasselbe ungleich leichter zu beschaffen ist.

Das erste Heft enthält, ausser zwei Ansichten der Kirche-und des
gesammten Klosters von Assisi, Studien nach Giotto; einige wenige nach
den Wandmalereien, .welche man ihm in der Oberkirche des heiligen Fran-
ciscus zu Assisi zuschreibt (unter diesen auch eine Figur nach Giottino),
mehrere nach den kleinen Gemälden, welche sich zu Kuhbeil's Zeit noch
in der Sakristei von S. Croce zu Florenz befanden, nunmehr aber in die
Gallcrie der Akademie und in den Handel, (zwei von ihnen in das königl.
Museum zu Berlin) gekommen sind. Unter letzteren sind mehrere ganze
Gemälde wiedergegeben, und darunter einige, — wie z. B. Christus, der
nacli der Auferstehung den Frauen im Garten erscheint, und wie noch
mehr Thomas, der seine Finger in die Seite Christi legt, mit den anbetend
knieenden Jüngern, —welche allein hinreichend darthtm, dass den Werken
Giotto's keinesweges jene Feier und hochheilige Würde mangelt, .die man
ihm neuerdings abgesprochen hat. — Das zweite Heft enthält Studien nach
Taddeo Gaddi, eines Theils nach den. Wandgemälden,.'welche sich in
der Kapelle Baroncelli (Giugni) zu S. Croce in Florenz befinden und das
Leben der heiligen Jungfrau (das bereits von Lasinio gestochen) und das
liCben der heiligen Magdalena darstellen-, anderen Theils nach den Wand-
gemälden im Kapitel des Klosters S. Maria Novella> 'an deren Acchtheit
Herr von Rumohr zweifelt (Italienische Forschungen II, S. 80). Letztere,
mögen sie nun von Taddeo oder von einem anderen alten Meister her-
rühren, erscheinen indcss durchaus als höchst ausgezeichnete, gewaltige
Werke, sowohl in den lebendig bewegten historischen Darstellungen ;■ als
in den feierlich' grossartigen Gestalten der Propheten und Kirchenlehrer. —^
Das dritte Heft enthält Studien nach Masaccio, und zwar nach denjenigen
früheren Gemälden aus der Passionsgeschichte Christi und aus dem Leben
der heiligen Katharina, welche er in der Kapelle der heiligen Katharina,
in der Kirche S. demente zu Rom, ausgeführt hat, und die gegenwärtig
leider durch Nässe sehr verdorben sind< Schon hier erscheint Masaccio,
obgleich im Ganzen noch zu der Weise der späteren Giottisteri sich hin-
neigend , doch im Einzelnen bereits in seiner höheren und freieren
Richtung. Den genannten Blättern ist noch die Nachbildung einer dem
Masaccio zugeschriebenen Handzeichnung beigefügt. Von den späteren
Arbeiten Masaccio's - in der Kapelle Brancacci, in der Karmeliterkirclie
/u Florenz, liefert die "genannte von Lasinio gestochene Collcktion einige

253

P

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254 Berichte und Kritiken^,

Blätter •). Ausser diesen Studien nach Masaccio enthält das dritte Heft
nocli einige nach anderen Meistern. So zuerst ein Blatt nach einem, dem
Buffalmaco zugeschriebenen Gemälde in S. Francesco von Assisi, einige
schöne Gruppen aus einer Auferweckung des Lazarus, im giottesken Style.
Einige Blätter nach den Malereien aus der Geschichte desNoah, welche
Paolo Uccello,.in grüner Farbe, in einem Gange des Klpsterhofes von
S. Maria Novella zu Florenz ausgeführt; diese Malereien gehören zu den
wenigen erhaltenen jenes alten Meisters der Perspektive und zeigen ihn
auch in der Auffassung und Darstellung der Figuren würdiger und ernster,
als man es nach Vasari fast vermuthen sollte. Endlich drei Blätter nach
Pinturicchio, dem talentvollen Mitschüler Raphaels; zwei von den
Malereien, womit die Aussenmauern jener kleinen Kapelle bei Assisi
geschmückt sind, über welche die grosse Kirche S. Maria degli angeli
erbaut worden ist; das dritte mit einer Figur aus einem Gemälde in S.
Maria del Popolo zu Rom. — Das vierte Heft endlich enthält zuerst eine
Reihe Studien nach den merkwürdigen alten Gemälden in der Kirche des
heiligen Benedikt bei Subiaco, die zwar, wie verschiedene der obengenann-
ten , ebenfalls durch Nässe und dergl. bereits bedeutend gelitten haben,
immer aber noch durch ihre Naivetät, durch die Wahrheit des Ausdrucks,
durch einzelne grossartige Gestalten sehr interessant sind. Hierauf folgen
mehrere Blätter mit einzelnen Gruppen aus den phantastischen Gemälden
der Brüder Orcagna (Arcagno), verschiedene aus dem berühmten Trionfo
della morte des Andrea im Campo Santo zu Pisa, andere aus der daneben
befindlichen Hölle des Bernardo , noch ein anderes aus dem Gemälde der
Hölle, Avelches beide Brüder gemeinschaftlich in S: Maria Novella zu
Florenz gemalt. Eins dieser Blätter enthält auch eine Figur aus den Wand-
gemälden des Benozzo Gozzoli im Campo Santo.

Diese Inhaltsangabe wird genügen, um die Wichtigkeit des Kuhbeil-
schen Werkes für das Studium der Kunstgeschichte darzuthun; nicht minder
wird dasselbe für den schafl'enden Künstler interessant sein, der einige Bei-
spiele von der grossartigen Einfalt jener früheren Meister zur Hand zu
haben wünscht.

1) Da die Blätter Lasinio's nach den Malereien der Kapelle Braacacci eine
so grosse, zum Theil unbegreifliche Verwirrung der Unterschriften enthalten, so
möge hier eine Berichtigung derselben folgen : No. I.
Martirio di S, Pietro, nach
L. von Masaccio, nach v Kumohr (It. F. II, S. 249) von Fllippino Lippl, —
No. II.
J SS, Pietro e Paolo rcsuscitano un Fanciullo, nach L. v. Masaccio, nach
Vasari von demselben, aber beendet von Filippino. — No. III.
Vocaziöne alV
Apostolato dei SS. Pietro ed Andrea,
nach L. von Masolino, nach Vasari (denn
GS stellt nicht den angegebenen Gegenstand dar, sondern Christus ynd seine
Jünger, denen der Zoll abgefordert wird)- von Masaccio. — No. IV. S.
Pietro
risana lo storpio davanli la Porta del Tempio
und S. Pietro guarisce dal male
Petronilla sua Figlia,
nach L. richtig als von Masolino bezeichnet. — No. V.
Caduta dei primi Padri c Liberazione di S. Pietro, nach L. von Masaccio e
Masolino (?). — No VI.
Miracoli dei S. S. Apostoli Pietro e Giovanniü&ch.
L, von Lippi, nach Vasari von Masaccio. — No. VII. S. Pietro che battezza e
predica agV Idolatri,
nach L von Lippl, nach Vasari die Taufe von Masaccio,
die Predigt von Masolino

Auch in dem Werke über das Campo Santo von Pisa findet sich eine ähn-
liche falsche Bezeichnung, indem der Tod des heiligen Ranieri von Lasinlo dem
Simone Memmi zugeschrieben wird, der nach Vasari von Antonio Veneziano her-
rührt, was auch die Ansicht selbst des blossen Kupferstiches bestätigt.

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fei
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Beiträge zur Gescbichtö der Ausbildung der Baukuiist etc. 255

Beiträge zur Geschichte der Aiisbildung der Baukunst, Von Dr. C. L.
Stieglitz, d. Aelt. Nebst erläuternden Beilagen und 25 Steindrücken. —
Erster Theil. (S. 206 in 8. und 10 Tafeln). Leipzig, 1834.

(Museum, 1835, No. 4.)

Ein Andres ist es, wenn ein junger Autor zum ersten Male vor das
Publikum tritt, ein Andres, wenn ein verdienter Veteran die Resultate
langjähriger Studien zusammenfasst, um hiemit vielleicht seinen Arbeiten
den Schlussstein hinzuzufügen. Werden wir das Werk des Ersteren zugleich
als eine Empfehlungskarte ansehen und ausser dem Realen seines Inhalts
auch die Art und Weise seiner Technik betrachten, um danach unsere
Erwartungen für die Zukunft zu bestimmen; so müssen wir bei Letzterem
nothwendig auf die ganze Bahn seines Schaffens zurückblicken und, um
nicht ungerecht zu sein, den Standpunkt im Auge behalten, welchen die
Wissenschaft einnahm, als der Autor begann. Wir müssen bedenken, dass
wir mit grösserer Leichtigkeit weiterschaffen können, wenn wir durch die
Arbeiten der Vorgänger gestützt werden, als wenn wir uns einen ganz
neuen Weg eröffnen müssen; und dass ein Menschenleben schwerlich zur
Begründung und Vollendung einer Wissenschaft hinreicht.

Seit 43 Jahren ist Hr. Stieglitz für das Fach der Geschichte der
Baukunst thätig gewesen. Als er im Jahre 1792 mit seiner Geschichte
der Baukunst bei den Alten begann, fand er wenig gründliche Vorar-
beiten über diesen Gegenstand vor. Aus den Schriften der Alten und nach
den Grundsätzen der Kunst musste er sich selbst das Gerüst für ein solches
Werk hinstellen. Neue Forschungen, neue Entdeckungen erweiterten seinen
Gesichtskreis, so dass ihm jene erste Arbeit nicht mehr genügend schien;
und seine Archäologie der Baukunst (1801, — immer noch ein sehr
brauchbares Handbuch!), sowie seine Archäologischen Unterhaltun-
gen (1820) dienten dazu, die gewonnenen Erfahrungen einer öffentlichen
Benutzung vorzulegen. Doch blieb der Verfasser nicht einseitig bei der
classischen Kunst stehen. Gleichzeitig waren wichtige Entdeckungen von
den Monumenten vorklassischer Völker (besonders der Aegypter'und Inder)
erfolgt, sowie im Vaterlande die edle Kunst des Mittelalters wieder einer
ehrenhaften Untersuchung gewürdiget worden. Den geschichtlichen Ent-
wickelungsgang der letzteren darzulegen erschien im Jahre 1820 sein Buch
von altdeutscher Baukunst. Als ein Ganzes stellte der Verfasser
im Jahre 1827 seine Geschichte der Baukunst vom frühesten
Alterthum bis in neuere Zeiten zusammen, das einzige Werk, wel-
ches wir bis jetzt über diesen so höchst wichtigen Zweig der Culturge-
schichte besitzen.

Doch auch in den letzten 8 Jahren ist im Einzelnen vieles Bedeutende
für diesen Zweig der Wissenschaft geleistet, vieles Neue entdeckt worden,
welches der Verfasser unablässig sich zu eigen zu machen strebte. Das
in der Ueberschrift genannte Werk, dessen jüngst erschienener erster Theil
die Periode des gesammten Alterthums umfasst, enthält eine neue Revision
des früher Aufgestellten und sucht Vollständigkeit und Kürze auf gleiche
Weise zu vereinigen.

Freilich können wir uns nicht bergen, dass unterdessen der Standpunkt

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256 Berickt« und Kritiken.

der Wissenschaft selbst unvermerkt ein andrer geworden ist und dass wir
jetzt Ansprüche auf ein consequenteres ästhetisches System und auf schärfere
historische Kritik machen müssen, als wir auch in dem letztgenannten Werke
zu Grunde liegend finden. Gleichwohl dürfen wir die Pflicht der Dank-
barkeit gegen unseren rüstigen Vorarbeiter nicht aus den Augen setzen;
ihm verdanken wir es vor vielen Andern, dass, wir jetzt ein Gebäude auf-
zuführen im Staude sind, wozu wir den Grund schon vorbereitet finden.

lieber das Allgemeine des vorliegenden Werkes können wir uns in
dieser Anzeige kurz fassen. Die Art und Weise des Verfassers ist dem
Leser aus seiner Geschichte der Baukunst, deren Gang im Wesentlichen
beibehalten wird, bekannt. Einzelnes, Avie z. B. das Kapitel von der Bil-
dung der Gestalten, ist kürzer und anschaulicher behandelt, Andres durch
die Entdeckungen der neusten Zeit vermehrt oder berichtiget worden. Wir
begnügen uns, einige Punkte, die uns während des Lesens als bedenklich
aufstiessen, hier in Erwägung zu ziehen.

Was zuerst den altindischen Höhlenbau anbetrifft, so behandelt
der Verfasser denselben als ein Beispiel des höchsten Alterthums, ohne
jedoch andre wesentliche Gründe vorzubringen, als den: „dass die späteren
Geschlechter, die es verstanden, auf freier Erde Bauwerke zu errichten,
wohl schwerlich die mühsame und zeitfordernde Arbeit der Felsenaushöh-
liing imternommen haben würden." (S. 10). Hiegegen spricht jedoch ein-
fach der Umstand, dass gar nicht selten in diesen Höhlenbauten Architek-
turen
vorkommen, an denen sämmtliche Theile eines entwickelten Freibaues
sichtbar werden. Andre Forscher, wie Langles in seinen
Monumens aneiens
et modernes de Vllindostan,
haben dagegen in der gewölbartig ausgehauenen
Decke einiger Monumente (die jedoch überall auf den frühesten Entwicke-
lungsstufen der Kunst, bei den Aegyptern, den Mexikanern, in den Tholen
der ältesten Bewohner Griechenlands u. s. w. vorkommt), sowie in dem
sogenannten „korinthischen" Kapitäl einzelner Tempel') und andern geringe-
ren Kennzeichen, eine Nachahmung ägyptischer, griechischer, römischer,
christlicher u. s. w. Bauformen gesehen, die von abyssinischen Künstlern
im,Anfange des Mittelalters nach Indien hinübergetragen sein sollen; —
Ansichten, die um ein Paar Jahrtausende auseinander stehen!

Um zwischen diesen, durch nichts Wesentliches begründeten Annahmen,
einigermaassen sichere Ilaltpunkte zu gewinnen, scheint es, bei dem Mangel
direkter historischer Nachweisungen, ain Besten, wenn wir einen Seiten-
blick auf andre Verhältnisse der indischen Geschichte , namentlich ihrer
Literatur, werfen. Die grossen epischen Gedichte, deren Abfassung etwa
um die Zeit des Jahres 1000 v. C. G. fällt 2), erwähnen der Höhlentempel
nicht, Avährcnd letztere dagegen in ihren Bildwerken Scenen, die äus jenen
entnommen sind, darstellen; wir werden somit den Höhlentempeln, bei
ihrer hohen Bedeutsamkeit und weiten Verbreitung, ein jüngeres Alter mit
Bestimmtheit zuertheilen können. Sodann finden wir in den Tempeln mit

') Es sind zwei neben einander befindliche Tempel zu Ellora, die überdies
zusammen eine Gesammtaulage bilden. Unter dem Kapitäl fallen auf die Ecken
des Schaftes grosse Blätter nieder, die allerdings eine ferne Aehulichkeit mit dem
Akanthus zu haben scheinen. Es ist unbegreiflich , wie selbst K. O. Müller in
seinem Handbuch der Archäologie der Kunst (S. 279) auf diesen ganz «verein-
zelten und von dem sonst ziemlich "consequeuten System der indischen Kunst
abweichondcn ünistaud irgend ein Gewicht logen konnte. — S. Von Bohlen:
das alte Indien, C. 5, 2().

~ /

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Beiträge zur Geschichte der Ausbildung der Baukunst etc.

gewölbartig ausgehauener Decke, welche bereits einen bestimmten Fortschritt
des Systemes andeutet, entschiedene Spuren des Buddhismus, einer Sekte,
die sich von dem allgemöinen Brahmadienste losgetrennt hatte und etwa
um 500
V. C. G. auftrat Der Ursprung des Höhlenbaues dürfte somit
zwischen 1000 und 500 fallen. Doch musste eine lange Keihe. von Jahren
zur Entwickelung, Ausbildung und endlichen Ausartung des Systemes vor-
übergehen; ich glaube also, dass wir nicht gerade falsch schliessen werden,"
Avenn wir die Blüthe desselben — analog der griechischen Culturgeschichte
— gleichzeitig mit der Blüthe des indischen Drama's, d. h. im letzten Jahr-
hundert vor C. G., annehmen. Die grosse Profiision endlich und die Will-
kürlichkeit in der Ausführung verschiedener Monumente, namentlich des
ungeheuren Kailasa zu Ellora, stimmen wenig mehr zu der Klarheit und
dem Adel, die uns aus Kalidasa's Dramen entgegenwehen; wir sind somit
gewiss berechtigt, diese in eine noch spätere Zeit der Geschichte hinabzu-
setzen. Diese flüchtigen Bemerkungen mögen genügen, um den Ursprung
der Baukunst aus dem Höhlenbau zurückzuweisen, der überdies von keinem
Einfluss auf die weitere Ausbildung derselben erscheint und im Gegentheil,
wie gesagt, mannigfache, durch den Freibau dargebotene Modificationen in
sich aufgenommen hat.

Den ägyptischen Pyramiden scheint der Verfasser (S. 44) ein
jüngeres Alter zuzuschreiben als den meisten der übrigen Monumente
Aegyptens. Er schliesst dies vornehmlich aus dem Umstände, dass die
Pyramiden sich vornehmlich in der Gegend von Memphis finden, während
in den angeblich früher cultivirten Theilen Oberägyptens keine dergleichen
vorkommen. Aber es ist aus den neueren Untersuchungen bekannt, dass
gerade die älteste Periode. der ägyptischen Geschichte, vor der syrisch-ara-
bischen Eroberung durch die Hyksos, sich vorzugsweise um Memphis con-
centrirt, und dass die genannten Pyramiden die einzigen Ueberreste dieser
frühesten Zeit sind. Die beiden in Ober-Nubien vorhandenen Pyramiden-
Gruppen, auf welche der Verfasser ein grösseres Gewicht legt, gehören
unstreitig in die Zeit der römischen Kaiser, da hier die Reiche von^Napata,
Meroe, Axum blüheten. Sie sind von kleinlicher Bauart, käine über 100
Fuss hoch. Die häufige Anwendung, theils der Pyramiden-, theils der
Obeliskenform in diesen Gegenden scheint keinen anderen Grund zu haben
als ein äusserliches Wohlgefallen an ihrer imposanten Erscheinung.

Was den Bau des Salomonischen Tempels anbetrifl't, so ist es
bekannt,' dass der Yerfass.ier zuerst gründlichere Ansichten über denselben
aufgestellt hat, indem er, von keinem einseitigen Principe befangen, dem-
selben seine richtige Stellung zwischen ägyptischer und phönicischer Bau-
weise anwies. Auch im vorliegenden Werke hat er diesem Tempel eine
ausführliche Beilage (S. 63—87) ge^vidmet und auf 3 Tafeln dessen Restau-
ration vorgelegt. Indem~wir das Verdienstliche dieser Arbeit keineswegs
verkennen, möge man uns jedoch eine Bemerkting gestatten. Einer der
schwierigsteh Punkte bei der Herstellung des Tempels ist bekanntlich die
Vorhalle, deren Höhe in der heiligen Schrift (Chronik H, C. 3, v. 4) auf
120 Ellen, bei einer Länge von 20 und einer Breite von nur 10 Ellen,
angegeben wird. Ein seltsames Verhältpiss, welches von den meisten
Forschern geradehin als eine falsche Angabe der freilich unzuverlässigen

<) S. Von Bolilen: das alte Indien, C. 2, §. 20 ff.

KugU-r, Kleine Schriften. 1.

257

1

17

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258 Berichte und Kritiken^,

Chronik verworfen wird. Der Verfasser sucht diese Angabe dadurch zu
retten, dass er der Vorhalle eine, den ägyptischen Pylonen ähnliche Ein-
richtung giebt nnd zwei thurmähnliche Aufbaue, jeden zu 60 Ellen, annimmt.
Doch müssen wir gestehen, dass uns diese Auslegung gezwungen erscheint.
Wie sehr letzteres der Fall ist, geht besonders aus der Zeichnung des
Verfassers hervor, indem er (T. 7) die beiden Theile des Pylon, bei seiner
geringen Grundfläche, nur durch zwei Schornstein-ähnliche Zacken andeuten
konnte, die über der sonst ungetheilten Pyramide des Einganges empor-
steigen. Will man die genannte oder überhaupt nur eine bedeutende Hölie
der Halle beibehalten, so könnte man sich vielleiclit dadurch helfen, dass
man die angegebenen Maasse der Länge und Breite nur vom Inneren (vom
Lichten) annähme und die äusseren Dimensionen beliebig vergrösserte.
Freilich würde dann der weltberühmte Tempel leicht als ein blosses
Appendix der Halle erscheinen.

Die beiden ehernen Säulen Jachin und Boas stellt der Verfasser (nacli
dem Luther'schen Texte) vor den Tempel, im Gegensatz der neueren
Annahme Meyer's, der dieselben das Dach der Halle tragen lässt, indem
der Grundtext sie als „an der Halle befindlich" bezeichnet. „Sollte auch
der Philolog (sagt der Verfasser} die Meinung Meyer's gelten lassen, der
Architekt wird nie beipflichten. Nur durch eine freie Aufstellung erhalten
die Säulen das Feierliche und die bedeutungsvolle Würde, die der Zweck
der Aufstellung der Säulen ist." Wir sehen diesen Grund nicht recht ein.
Im Gegentheil scheint Meyer's Annahme die einfachere, ob wir schon nicht
vergessen, dass verschiedentlich vor orientalischen Monumenten freistehende
Säulen und Pfeiler gefunden werden. Doch fühlen wir uns nicht berufen,
über diese streitigen Punkte zu entscheiden. Wir überlassen dies am
Ijiebsten einem kunstgelehrten Freunde, von dem uns schon seit längerer
Zeit ein ausführliches Werk über den Salomonischen Tempel versprochen
ist, und dem diese Zeilen eine freundliche Mahnung sein mögen.

Unter die ältesten üeberreste griechisch-dorischer Bauweise
rechnet der Verfasser (S. 90 f.) die Tempel von Koriuth und Metapont,
den grossen Tempel von Pästum , die Tempel von 'Selinus, Segesta, die
sogenannten Tempel der Juno und Concordia zu Agrigent, den Apollo-
Tempel zu Dolos u. a. m. Was die genannten grossgriechischen und sici-
lischen Monumente anbelangt, so sind wir jedoch wenig berechtigt, die-
selben in Bausch und Bogen einer so frühen Zeit — vor den Perser- und
Karthagerkriegen — zuzuschreiben. Wir werden im Gegentheil gewisse
Eigenthümliclikeiten, der massenhafteren Verhältnisse und schwereren For-
mation , die wir an diesen Gebäuden bemerken, minder einem höheren
Alter als vielmehr dem localen Grunde eines eigenthümlich derben Doris-
mus, der in diesen westlichen Ländern, am fernsten von asiatischem Ein-
fluss, am schärfsten auftritt, zuschreiben müssen. Wenn wir auch den
mittleren von den drei grossen Tempeln auf der Burg von Selinus als vor
den Perserkriegen gebaut annehmen wollen ~ in Bezug auf die sehr alter-
thümlichen Metopen-Reliefs (obgleich auch hier ein gleicher localer Styl
Einfluss gehabt haben dürfte), — so wissen wir dagegen bestimmt, dass der
grosse Dipteros (der sogenannte Jupiter-Tempel) auf dem östlichen Hügel
von Selinus, der ebenso noch beträchtlich schwere Formationen zeigt, im
Jahre 409 v. C. G,, bei der Eroberung der Stadt durch die Karthager, noch
unvollendet war und diesen Zustand in seinen Ruinen erhalten hat. Ja
der Minerveu-Tempel zu Syracus (jetzt S. Maria delle colonne) zeigt

I.' 1-

'II

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Beiträge zur Gescbichtö der Ausbildung der Baukuiist etc. 259

(iieselben schweren Hauptverhältnisse, verbunden mit einer Menge einzelner
Details, die aufs Augenscheinlichste eine beträchtlich spätere Zeit seiner
Erbauung darthun und deutlich auf das dritte Jahrhundert vor Chr.
Gr.
hinweisen, da sich in Kunst und Literatur mannigfach archaistische Bestre-
bungen der Art geltend machten. Aus gleichem Grunde, wie bei letzterem,
m()chten auch schwerlich triftige Beweise zu finden sein, um dem bekannten
Tempelruin zu Korinth das usurpirte hohe Alter bestätigen zu können. Wie
der Verfasser aber darauf kommen konnte, die beiden genannten Tempel
von Agrigent und sogar den Apollo-Tempel von Delos, die eine nahe Ver-
wandtschaft mit den ächthellenischen Gebäuden aus der Zeit des Perikles
darthun, so beträchtlich zurückzudatiren, sehen wir nicht wohl ein.

Ebenso unbegründet und nur aus einseitigen Voraussetzungen hervor-
gegangen ist es, wenn der Verfasser die prachtvollen Kapitale des Erech-
theums erst der Vollendung des Baues nach dem Jahre 409 v. Chr. G.,
da die bekannte, im britischen Museum befindliche Bauinschrift abgefasst
wurde, zuschreibt. Nur von den Kapitälen der Halbsäulen auf der West-
seite können wir diese Ansicht gelten lassen. Hier zeigt das Ornament
des
Halses, obgleich dasselbe noch reicher ist als an dem zierlichen viersäu-
ligen Portikus der Nordseite, wirklich eine spätere, minder reine und edle
Form: die Palmetten, sowie die kleinen Voluten,' daraus sie hervorwachsen,
haben etwas Schweres und Gedrücktes, und, die Kelche sind minder streng
gebildet. Wir verdanken diese Kenntniss den ausführlichen und genauen
Zeichnungen, welche Hr. Schaubert neuerlichst von den Details der
athenischen Gebäude ausgeführt hat.

Die Construction endlich, welche der Verfasser für die Zeichnung des
dorischen, sowie des ionischen Kapitals vorschlägt und welche er aus der
Eilinie durch verschiedene Hülfs- und Querlinien abstrahirt, scheint uns
dem einfachen Sinn und dem freien Gefühle der griechischen Kunst wenig
angemessen (wenngleich wir nicht in Abrede stellen wollen, dass dieses
Gefühl den einfachsten Gesetzen der Natur entsprechend ist). Auch stimmt
dieselbe wenig mit den erhaltenen Monumenten überein, namentlich das
so gewonnene Profil des dorischen Echinus weder mit den attischen Monu-
menten aus der Zeit des Perikles, noch mit den vom Verfasser besonders
vorgezogenen Kapitälen von Korinth und Metapont. Die hieher bezügliche
Zeichnung auf Tafel 9 aber ist jedenfalls unrichtig; das Blatt wird gewiss
umzukehren und der Abacus auf die linke Seite der Figur zu setzen sein:
— wir können nicht voraussetzen, dass der Verfasser uns das Profil des
dorischen Echinus in einer Karnieslinie construiren wollte.

Die beträchtlichen Beilagen des Buches handeln, ausser der oben-
genannten über den Salomonischen Tempel, von den Musen, von der
Form der ältesten griechischen Münzen, vom Theater der
Alten, von den Arabesken und von den Gegenständen der Archi-
tektur auf Münzen.

Druck und Papier dieses Buches sind sehr anständig, die lithogra-
phirten Tafeln aber nicht; es scheint ip letzterem Bezüge ein eigener
Unstern über unsern architektonischen Handbüchern zu walten.

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260 Berichte und Kritiken^,

Die Lehre von den Säulenordnungen der Griechen, abgeleitet von den Monu-
menten. Zum Gebrauch ,für ausführende Architekten und zur Belehrung für
angehende Baumeister in Kürze dargestellt von J, Eduard Hess, Königl.
Preiiss. Kegierungs-Bau-Condukteur. Magdeburg, 1835. 8. S. 253.

(Museum, 1835, No. 6.)

In den früheren Werken, welche den im Titel angeführten Gegenstand
behandelten, ging mau insgemein von den Vorschriften des Altmeisters der
Architektur-Lehre, Vitruv's, aus und suchte auf dieser Grundlage ein festes
System zu erricliten; es ist aber bekannt, wie wenig die erhaltenen Monu-
mente, vornehmlich aus der Blüthezeit Griechenlands, mit seinen Anord-
nungen übereinstimmen. Man hat sich neuerdings somit zu den treueren
und wahrhaftigen Kunden über den reinen Styl der griechischen Kunst
gewandt; man hat sich die Monumente selbst zum Muster genommen. Doch
war es, bei der Zerstreuung ihrer Aufnahme in verschiedenen volu-
minösen Werken und bei der mannigfachen Verschiedenheit ihrer Verhält-
nisse und Formenbildungen sehr wünschenswerth, hier durch ein Handbuch,
welches die verschiedene Ausbildung des griechischen Baustyles darstellte,
zu einer bequemeren Uebersicht zu gelangen. Denn die griechische Archi-
tektur hat vor der Hand einmal das Bürgerrecht bei uns erhalten, und
jedenfalls ist die aus den einfachsten Verhältnissen hervorgegangene und
klar durchgeführte Bildung ihrer Formen als die solideste Schule für den
ausübenden Künstler zu betrachten.

Das vorliegende Werk erfüllt den ausgesprochenen ZAveck auf befrie-
digende Weise und ist als ein brauchbares Handbuch zu empfehlen. Man
wird in demselben die verschiedenen Ordnungen der classischen Baukunst
nach ihren Avechselnden Gesammtverhältnissen , nach der Formation ihrer
einzelnen Theile bis in das geringste Detail hinab, zugleich auch die
übrigen bei der Ausbildung der antiken Tempel-Architektur wirksamen
Umstände in einem klaren und wohlgeordneten Vortrage dargestellt finden.
Man wird sich desselben sowohl als Leitfaden beim Studium der Monu-
mente, als auch zum Nachschlagen, um sich über die Besonderheit einzelner
Fälle zu unterrichten , mit gutem Erfolge bedienen können. Es ist mit
sorglichstem Fleiss zusammengetragen, und wir bedauern nur, dass dem
Verfasser einige der neuesten Kupferwerke, namentlich die
ArcMtecture
antique de la Sicile
von Hittorfund Zanth und die Eocpedition SQienti-
fiqm de Moree
von Abel Blouet, nicht bekannt zu sein scheinen.

Der Verfasser hat eine kurze „historische Einleitung" vorangeschickt
und kommt auf dieselbe noch an einigen Stellen des eigentlichen Textes
zurück. Diese können wir leider nicht billigen; es ist hier dieselbe Willkür
in der Zeitbestimmung einer grossen Menge von Monumenten, wie sie sich
in vielen architekturgescliichtlichen Werken vorfindet und wie wir uns eine
solche jüngst an dem neusten Werk von Stieglitz zu rügen genöthigt sahen.
Statt vieler geben wir nur ein Beispiel. Das Erechtheum setzt der Ver-
fasser S. 9 nach der Zeit des peloponnesischen Krieges und vermuthet dem-
zufolge (ebenfalls ohne weiteren Grund), dass der Erzkünstler Kallimachus,
von dem die merkwürdige Bronzelampe in diesem Tempel herrührte und
dem Vitruv die Erfindung des korinthischen Kapitals zuschreibt, dessen

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Beiträge zur Gescbichtö der Ausbildung der Baukuiist etc. 261

Erbauer sei; S. Ü8 jedoch beruft er sich auf die bekannte Bauinschrift über
das Gebäude, welche dasselbe mehrere Jahre vor dem Schlüsse des Krieges
bereits als seiner Vollendung nahe (der Bau war vermuthlich durch die
Noth des Krieges unterbrochen) beschreibt. Ein genaueres Eingehen in die
historischen und lokalen Verhältnisse bei der Ausbildung des griechischen
Baustyles, die sich zum Theil eben in der Formenbildung selbst ergeben,
wird auch die mannigfache Verschiedenheit dieser Formen an den Monu-
menten in ein helleres Licht setzen, und zugleich die Schönheit der grie-
chischen Architektur nicht als ein blosses Abstractum, sondern als bedingt
durch die verschiedenartigsten Culturverhältnisse erscheinen lassen.

Letzteres jedoch war die Absicht des Verfassers nicht und konnte es
auch in der Beziehung, in welcher sein "Werk gearbeitet ist, kaum sein.
Die historischen Angaben sind somit ohne sonderlichen Einfluss auf die
wesentlichen, für den praktischen Bedarf der Gegenwart bestimmten Tlieile
des Buches.

Wir bemerken schliesslich, dass der Verfasser, um die Hinzufügung
kostbarer Kupferplatten zu vermeiden, sich im Allgemeinen auf das bekannte
und verbreitete Werk Normand's: Vergleichende Darstellung der archi-
tektonischen Ordnungen der Griechen und Römer und der neueren Bau-
meister, übersetzt von Jacobi, und dessen Fortsetzung von Manch bezogen
hat; wir sprechen mit ihm den Wunsch aus, den er, in Bezug auf dasselbe,
in der Vorrede S. VII äussert: „Es wäre von Nutzen, dass eine nochmalige
Fortsetzung jenes Kupferwerks eine in eijiem kleinen Maassstabe zusammen-
gestellte Uebersicht von den Grundrissen, Ansichten und Profilen (!) der
vorzüglichsten Griechischen Gebäude enthielte, und somit dem Ganzen
einen höheren Grad der Vollständigkeit gewährte; das Studium der alten
Architekturwerke der Griechen und Römer würde durch Bearbeitung dieser
Gegenstände für Diejenigen um Vieles zugänglicher gemacht werden, denen
grössere Werke nicht beständig zu Gebote stehen."

Beiträge zur Geschichte der Ausbildung der Baukunst, Von Dr. C. 1^.
Stieglitz d. Aelt. Nebst erläuternden Beilagen und 25 Steinzeichnungen.
Zweiter Theil (S. 201 in 8. und 15 Tafeln). Leipzig, 1834.

(Museum, 1835, No. 12.)

Im Allgemeinen haben wir über den eben erschienenen zweiten Theil
des vorliegenden Werkes dasjenige zu wiederholen, was wir bereits vor
Kurzem über den ersten bemerkt: dass wir, bei aller Hochachtung vor den
früheren Verdiensten des Verfassers, gleichwohl zugestehen müssen, dass
der gegenwärtige Zustand der Wissenschaft eine wesentlich veränderte,
gründlichere Behandlung der Geschichte der Baukunst nothwendig macht.^
Einzelne, wie es uns scheint, beachtenswerthe Mittheilungen, werden wir
im Folgenden bemerken.

Die Art und Weise des Verfasser's ist gleich im Anfange des Buches
zu erkennen, wo er, S. 12, die Grundzüge der christlichen Kunst vorlegt:
„Der Zweck der heidnischen Kunst (sagt er) war sinnliche Schönheit, die

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262 Berichte und Kritiken^,

christliche, ihrem Charakter gemäss, konnte diesen Zweck nicht verfolgen;
der ihrige war vielmehr geistige Schönheit. Ihr galt kein blosses Sinnen-
spiel; auf Herz und Gefühl zu wirken, war ihr Bestreben. Dieses durch-
drang auch die Künstler, die Schöpfer der zur Verehrung Gottes geweihten
Gebäude, und in ihren Werken suchten sie die sinnliche Schönheit durch
den Ausdruck des Geistigen zu erhöhen und zu verklären." — Wir wissen
nicht, wie sich in den Formen der Baukunst sinnliche und geistige Schön-
heit unterscheiden sollen; sie sind überall auf gleiche Weise sinnlich und
geistig. Die Schönheit der christlichen Baukunst (der gothischen) lässt sich
so wenig, wie die der griechischen, durch inhaltlose Worte bestimmen.

Die Einrichtung des altchristlichen Basilikenbaues, die sich der ange-
führten Einleitung nothwendig anschliessen musste, hat der Verfasser erst
später, bei der Betrachtung des gothischen Baustyles , eingereiht. Diese
Darstellung ist nicht genügend und frei von Fehlern. Wenn der Verfasser
■i. B. sagt (S. 46), dass ursprünglich die Balkenlage des Daches im Innern
der Basiliken sichtbar gewesen sei, wie es jetzt häufig der Fall ist, so
widersprechen dem diejenigen Stellen alter Kirchenscribenten, welche bereits
von d'Agincourt
(Hist. des arts etc. Architecture, p. 124) zusammengestellt
sind. Noch weniger begründet ist die Annahme (S. 47), dass der Chor
und der mit Schranken umgebene Platz für die Clerici minores zwei ver-
schiedene Räume gewesen seien; es ist allgemein bekannt, dass beides ein
und dasselbe Avar, wie es noch gegenwärtig zu S. demente in Rom zu
sehen ist. Des Triumphbogens, einer charakteristischen Eigenthümlichkeit
der grösseren Basiliken, wird gar nicht gedacht.

Was der Verfasser vor der genannten Einleitung über den byzantini-
schen Baustyl, vornehmlich über die Sophienkirche zu Constantinopel sagt,
ist noch weniger genügend. Die, nächst der Kuppelanordnung, höchst eigen-
thümliche Einrichtung der Tribüne mit ihren oflenen
Seiten-Nischen, die
ebenso charakteristische Anordnung der oberen Gallerien ist gar nicht, oder
sehr mangelhaft dargestellt. Der Tadel des Verfassers, besonders über das
rohe Aeussere dieses Gebäudes, ist unbegründet, indem dasselbe auf seinen
Hauptseiten ursprünglich von Säulengängen umgeben war. Die weitere
Anwendung des byzantinischen Baustyles im Orient, sein Einfluss auf den
Occident ist gleichfalls nur oberflächlich angedeutet; S. Vitale zu Ravenna
(S. 16), S. Marco zu Venedig (S. 8) werden kaum weiter als nur dem
Namen nach erwähnt.

Ueber den arabischen Baustyl verbreitet sich der Verfasser etwas aus-
führlicher; aber er giebt auch hier mehr Einzelheiten als den durchgrei-
fenden Ueberblick eines Systemes; vornehmlich fehlt die Bezugnahme auf
jene merkwürdigen alterthümlichen Bauten, die wir aus der
Descriptiou de
l'Egypte
kennen gelernt haben und die für die Anfänge dieses Styles so höchst
wichtig sind. Auf diese, namentlich die Cisternen, gestützt, würde der
Verfasser auch nicht die merkwürdigen doppelten Bogenstellungen, welche
die Moschee von Cordova bilden, übersehen haben. Gründlicheres über-
haupt über die arabische Baukunst in Spanien würde aus dem grossen
hieher bezüglichen Aufsatze Schorn's, der vor mehreren Jahren im Tübinger
Kunstblatt stand, zu entnehmen gewesen sein.

Ueber den sogenannt byzantinischen (den romanischen, vorgothischen)
Baustyl giebt der Verfasser nur flüchtige Andeutungen, indem er hierin auf
seine früheren Werke verweist. Sehr wichtig für die Geschichte der deutschen
Baukunst und bisher, soviel wir wissen, noch nicht bekannt ist die Nodz,

SS

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Beiträge zur GescLicbte der Ausbildung der liaukuiist etc. 2G3

dass in der alten Kirche zu WechseIburg, gegründet von dem Land-
grafen von Rochlitz, Dodo IV, im Jahre 1174, sich noch die alte Kanzel
und der Altar, erstere in Gestalt der altchristlichen Ambonen, wie in
einigen Basiliken ßom's, vorfinde. Der Verfasser kündigt ein Werk von
Hrn. Dr. Puttrich über diese Kirche an.

Was das frühe Auftreten des Spitzbogens in Deutschland anbetrifft,
welches, dem Verfasser zufolge, bei der Kirche von Me ml eben an der
Unstrut bereits im zehnten Jahrhundert Statt gefunden habe, so hat Referent
schon früher seine Gründe ausgesprochen, wonach dies Gebäude nothwendig
in eine beträchtlich spätere Zeit gesetzt werden muss.

Sehr geistreich erscheint uns dagegen die Vermuthung, welche der
Verfasser im weiteren Verlauf, S. 44, ausspricht, dass man nämlich bei der
Construction des Spitzbogens in der ausgebildeten gothischen Bau-
weise auf die Widerstandslinie Bedacht genommen habe, die aus mittleren
Proportionalgrössen hervorgeht. Nehmen wir auch an, dass eine solche
Formation des Bogens mehr aus dem Gefühl als aus wirklicher Calculation
hervorgegangen sei, so erscheint uns dieselbe jedenfalls lebendiger, elasti-
scher und selbständiger, als die aus einem blossen Kreis-Segment gebildete
Linie, welche sich insgemein an den gothischen Gebäuden unserer Zeit
vorfindet. — Was dagegen das Grundgesetz bei der Anlage gothischer
Kirchen anbetriil't, welches der Verfasser S. 49 ff. entwickelt, so, glauben
wir, kann man nicht behutsam genug sein, das lebendige Werk des Geistes
als Produkt einer mit dem blossen Verstände zu erfassenden mathematischen
Formel hinzustellen. Allerdings muss in dem einzelnen Gebäude, wie in
dem gesammten Styl, ein gewisses Grundgesetz, worauf die einzelnen Bestim-
mungen sich zurückbeziehen, vorhanden sein; aber dasselbe wird niemals
mit blossen Ziffern dargelegt werden können. Noch weniger wird eine
solche Formel hinreichen, um nach ihr ein wirklich schönes Kunstwerk zu
entwerfen, wie der Versuch des Verfassers, Taf. 3, zur Genüge beweist.
Es dürfte interessant sein, bei der Durchführung jenes Gesetzes einen ähn-
lichen Weg zu versuchen, wie Göthe in seiner Morphologie. Trefflichste
Andeutungen für diesen Punkt sind übrigens bereits in Sciinaase's Nieder-
ländischen Briefen enthalten.

Was das Einzelne anbetrifft, so giebt der Verfasser nur Belege durch
einige der bedeutendsten Gebäude Deutschlands. Zu bemerken ist, dass
er hier unter den einfachsten Kirchen des gothischen Styles- die Kirche von
Schulpforte anführt, wie sie es in der That ist und in dieser Hinsicht
eine gründliche Aufnahme und Bekanntmachung erfordert. Eine Ansicht
der Fa^ade befindet sich unter den Lithographieen. Auch über diese Kirche
haben wir bereits Ausführlicheres berichtet. Wenn der Verfasser aber
behauptet, dass der gothische Baustyl in den Nachbarländern sich ebenso
entwickelt habe wie in Deutschland, dass also für unser Studium die Monu-
mente jener unwichtig seien, dass dieser Styl in Deutschland am frühesten
ausgebildet worden sei und somit „deutscher Styl" benannt werden müsse;
so gestehen wir leider, dass wir nichts von alledem billigen können. Auch
wird unser Patriotismus, auf den der Verfasser besonderes Gewicht legt, bei
der entgegengesetzten Meinung keineswegs gefährdet werden, da wir immer-
hin den Riss des Kölner Domes, das Meisterwerk der gothischen Kunst,
für uns behalten.

Ueberhaupt bemerken wir bei dieser Gelegenheit, dass wir von der
eigentlichen gescliichtlichen Entwickelung des gothischen Baustyles bis jetzt

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264 Berichte und Kritiken.

in dt'i' That weniger Avissen, als unsre Gelehrten zu wissen glauben, und
dass wir erst dann zu gründlichen Resultaten gelangen können, wenn wir
einmal alle langgehegten Vorurtheile abzuwerfen wagen.

Dankenswerth sind die beiden ausführlichen Beilagen, von denön
die eine über die eigenthümlich eingerichteten Doppelkapeilen (auf den
Burgen von Eger, von Landsberg bei Halle, von Freiburg an der Unstrut, von
Nürnberg und Conradsburg bei Ermsleben), die andre über die mittelalter-
lichen Bauvereine handelt. Letztere beschäftigt sich, nach einer allge-
meinen Einleitung, besonders mit der erst neuerlich bekannt gewordenen
Torgauer Steinmetzen-Ordnung vom Jahre 1462. Diese führt mehr als die
andern beiden, schon bekannten Ordnungen in das innere Leben der Bau-
hütten ein und unterrichtet uns von dem Benehmen der Meister, Pallirer
und Gesellen, von den Arbeiten der Steinmetzen, von dem Hüttengericht,
von den Ceremonien und dem Ritual, die in der Hütte gebräuchlich waren,
und giebt uns endlich auch eine erfreuliche Auskunft über die Steinmetz-
zeichen, deren wir nocli häufig an mittelalterlichen Kirchen vorfinden.
Die Ordnung ist vollständig abgedruckt und vom Verfasser ausführlichst
erläutert.

Der modernen Baukunst ist im vorliegenden Werke ein grösserer
Abschnitt gewidmet, als in der letzten Architekturgeschichte des Verfassers.
Auch hier ist manches Belehrende enthalten, aber auch hier genügt das
Ganze auf keine Weise. Namentlich können wir es nicht unterschreiben,
wenn der Verfasser behauptet, dass in diesem Zeiträume, nach dem Auf-
hören der Bauhütten, die einzelnen Künstler ganz nach eigener Laune
gearbeitet hätten; wir bemerken im Gegentheil, fast wie in der neueren
Malerei, gewisse Schulen (ein-e florentinische, römische, venetianische u. s. w.)
die in sich viel Gemeinsames aufweisen. Schon einzelne Bemerkungen in
QuatremJire-de-Quincy's Geschichte der neueren Architekten hätten den
Verfasser auf diese Ansicht leiten müssen, wenn er auch eine eigentliche
Charakteristik der bedeutendsten Künstler (deren Werke er gleichwohl
ausführlich erwähnt) übergehen wollte.

Um unserer Zeit endlich einen sicheren Weg vorzuzeichnen, schliesst
der Verfasser damit, den italienischen Baustyl für Paläste und Wohnge-
bäude, den Rundbogenstyl (den byzantinischen) für Theater, Rathhäuser,
Schulgebäude und Börsen, den gothischen für Kirchen anzuempfehlen. Bei
diesem Quodlibet fällt dem Referenten das Wort eines grossen Baukünstlers
ein, welches dieser zu ihm sagte, als man die verschiedenen vorhandenen
Baustyle in Frage stellte, und ob man sich für Einen derselben bestimmt
zu entscheiden habe: „Wir haben nur zu viel Heil." — Gewiss, wir
haben zu viel Heil! das Eine Heil aber, das allein uns frommt, kann nur
aus der lebendigen inneren Ueberzeugung hervorgehen; und dahin werden
wir nie kommen, wenn wir nicht auch in dieser Beziehung lernen, dass
die Geschichte nur unsre Schule ist, dass die Form für die Gegenwart nur
in der Gegenwart geboren werden kann.

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ANTIKE POLYCHROMIE.

I.

I

ÜBER DIE POLYCHROMIE DER GRIECHISCHEN ARCHITEKTUR UND
SCÜLPTÜR UND IHRE GRENZEN. •

(Hiezu eiue polychrome Lithographie.) '

Seinem geliebten Freunde, Dr. Carl Grüneisen, Hofcaplan zu Stuttgart'),
Berlin, am 26. März >1835. der Verfasser.

Einleitung.

Lange Zeit \Yard es in den Lehren der Aesthetik als Grundsatz aufge-
stellt, dass das Wesen der griechischen Architektur und Plastik einzig und
ausschliesslich in der Form, in dem Wechselspiel räumlicher Verhältnisse,
begründet sei; dass das Auge diese Verhältnisse nur durch die Linien des
Umrisses und die Abstufungen von Licht und Schatten, wie sich solche an
farblosen Körpern zeigen, aufnehmen dürfe; dass die Anwendung der Farbe
in den genannten Künsten als etwas durchaus Ungehöriges verworfen wer-
den müsse. Den Thatbestand, dass sich Farbenreste an einzelnen erhal-
tenen Monumenten griechischer Kunst vorgefunden haben, dass in den
allen Autoren mehrmals auf Polychromie der Art hingedeutet wird, beach-
tete man nicht, oder man erklärte ihn als den Rest einer alterthümlichen,
durch Priestersatzung festgehaltenen Barbarei, oder aber man ging so weit,
dass man die noch vorhandenen Spuren von Farbe der späteren Barbarei
des Mittelalters zuschrieb. Die Vertreter dieser Ansicht — die Weimar'-
schen Kunstfreunde vornehmlich gehörten zu ihnen — sind noch
gegenwärtig nicht vom Platze gewichen..

Dagegen haben jene, immer nicht ganz zu verläugnenden Zeugnisse
antiker Polychromie seit mehreren Jahren bereits ihre Vertheidiger gefun-
den. Der namhafteste ..unter diesen war Q uatremere - de - Quincy,
der vor zwanzig Jahren mit seinem Prachtwerke über den Olympischen

') Jetzt König]. "Württembergischer Ober-Hofprediger und Ober-Consistorialrath.

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IM

■L.

266

Antike Polychroniie.

Jupiter 1) einer neuen Ansicht zuerst entschiedene Balm brach, indem er
die vielfache Anwendung der Toreutik bei den Griechen augenscheinlicher
darzulegen und diese, so wie die polychrome Sculptur überhaupt, zu ver-
theidigen und zu würdigen suchte. Doch ist das umfangreiche Werk, in
Bezug auf den vorliegenden Umstand, noch mit grosser Mässigung abge-
fasst. Neuere gingen seinen Schritten nach, neue Entdeckungen und Unter-
suchungen lieferten wirkliche oder scheinbare Bestätigung und Erweiterung
seiner Ansicht, und bald kam man zu dem Punkte, dass man im Gegensatz
gegen jene ältere Theorie, in der Plastik, wie sie von den Griechen aus-
geübt worden, eine vollständige und bis zur Illusion getriebene Nachahmung
der Natur sehen wollte. Völkel namentlich, der sich früher nicht in die
Pracht und die Fülle bei Phidias Darstellung des chryselephantinen Jupiter
zu Olympia hatte finden können , sprach es nunmehr mit Bestimmtheit
aus, dass die Griechen der besten Periode nicht nur ihre Statuen ganz und
gar und mit den verschiedenen Localfarben bemalt, sondern dass sie daran
sogar Schatten und Lichter aufgesetzt hätten Andre haben diese Ansicht
unt<^chrieben.

Ebenso Avar es mit den Untersuchungen über griechische Architektur
der Fall. Auch hier stellte mau die Entdeckungen von Farbenresten, die
vornehmlich an den Details gefunden waren, zusammen, indem man es
jedoch anfangs — in der neuen Ausgabe von Stuarts Alterthümern
von Athen, in den von der Gesellschaft der Dilettanti herausgegebenen
Alterthümern von Attika u. a. m. — bei der einfachen Angabe des
Thatbestandes bewenden liess. Mit einem vollständigen Systeme polychromer
Architektur trat zuerst Hittorff^) auf. Bei den Untersuchungen sicilischer
Monumente war letzterem eine ungleich ausgedehntere Anwendung der
Farbe entgegengetreten; er verband hiemit, was Andre an grossgriechischen,
etruskischen, attischen u. s. w. Monumenten vorgefunden hatten, sammt
seinen eigenen Hypothesen, und fingirte hieraus ein Ganzes, dem wenigstens
der Beifall französischer Kunstkenner nicht fehlte Noch entschiedener
hat sich neuerlichst Herr Semper ausgesprochen'^), indem er, auf eigene
Studien in Griechenland gestützt, an allen, auch den edelsten Monumenten
der periklejschen Zeit einen vollständigen Farbenüberzug entdeckt haben
will und demnächst die Herausgabe dieser, nach gemeinsamem Systeme
restaurirten Monumente mit ihrer Bemalung ankündigt, Herr Semper hat,
auf seiner Eückkehr von Griechenland, in Berlin in verschiedenen Kreisen
einen grossen Theil dieser seiner, gewiss höchst geistreichen Restaurationen

Le Jupiter Olympien, ou l'AH de la Sculpture antique consideri
süus un nouveau point de vue; ouvrage qui comprend un essai sur le gbut de la
sculpture polychrome, Vanalyse cxplicative de la toreutique, et l'histolre de la
Statuaire en or et ivoire chez les Orecs et les Romains, avec la Restitution des
principaux Monuments de cet Art et la Demonstration pratique ou le Renouvel-
lement de ses Procedes micaniques par M. Quatr emlr e - de - Quincy. —
Ueber den grossen Tempel und die Statue des Jupiter zu Olympia, S. 166 u.a.
— L. Vülkel's archäologischer Nachlass, herausgegeben von K. 0. Müller.
1. Heft. S. 82. —
De l'architecture polychrome chez les Grecs, ou restitution
complhe du teviple d'Empedocles, dans l'acropolis de SÜinunte,
in den Annali
deW instituto di corrispondenza archeologica. Vol. II. p. 263 sqq.
— Vergl.
Seance publique de la societe libre des beaux arts, le 25. Dentmbre 1831, p. 20
sqq_
— »^j Vorläufige Bemerkungen über bemalte Architektur und Plastik bei
den Alten.

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1. lieber die Polychromie der griechischen Architektur etc.

vorgelegt und, man darf es wohl sagen, wenigstens unter den Jüngeren
liiemit einen förmlichen Enthusiasmus erweckt; die Formen der griechischen
Architektur schienen erst jetzt verständlich zu werden, erst auf solche
Weise sich zu einem bewegten, lebendigen Ganzen zusammen zu fügen.
Freilich mochte man bei dem ersten flüchtigen Eindrucke nicht wohl geson-
dert haben, Avie sich althellenische Gefühlsweise, Sitte und Natur zu dem
modernen, form- und farblosen Norden verhalten, welcher letztere eben
zu seiner Belebung grössere Mittel in Anspruch nimmt.

Nach diesen Andeutungen finden wir also auf der einen Seite entschie-
dene Verläugnung und Verwerfung, auf der andern entschiedene Aner-
kennung und Werthschätzung der Polychromie. Bei der grossen Wichtig-
keit, die dieselbe für das Verständniss der gesammten griechischen Kunst
hat, bei dem bedeutenden Einflüsse, den die griechische Kunst auf die
unsrer Zeit als ihre Schule ausübt und ausüben muss»), scheint eine unbe-
fangene Erörterung jener streitigen Meinungen sehr an der Zeit. Eine
solche vorzulegen, ist die Absicht der folgenden Zeilen. Wir werden ein-
fach die Nachrichten der Alten über diesen Gegenstand und die Unter-
suchungen neuerer Forscher nebeneinander stellen und versuchen, ob sich
hieraus ein genügendes Resultat gewinnen lässt. Wir werden Architektur
und Plastik, die unter sich in einem nothwendigen Zusammenhange stehen
und eins das andre ergänzen, in diesem ihrem Zusammenhange berücksichti-
gen , dieselben jedoch, der leichteren Uebersichtlichkeit wegen, gesondert
betrachten.

A. ARCHITEKTUR.

1. Zeugnisse alter Schriftsteller.

Pausanias erwähnt in seiner Beschreibung von Athen unter den dortigen
Gerichtshöfen zweier, welche der Grüne und der Rothe nach ihren Farben
hiessen und denen diese Benennung bis auf seine Zeit geblieben war*).
Die einfachste Schlussfolgerung scheint demnach, anzunehmen, dass diese'
Gebäude grün und roth ausgemalt waren. Wenn wir jedoch wissen, dass
die zehn Gerichtshöfe Athens sämmtlich, wie durch''die zehn ersten Buch-
staben des Alphabets, so auch durch verschiedene Farben bezeichnet waren,
dass die Anwendung dieser Farben sich, wie es aus den Worten' des Pau-
sanias hervorgeht, aus älterer Zeit herschrieb und für die der Schrift Unkun-
digen eingeführt war, indem sie, gleich jenen Buchstabenzeichen, nur dazu
diente, den einen Gerichtshof von dem andern zu unterscheiden, so werden
wir eher mit den verschiedenen Auslegern dieser Stelle dahin überein-
stimmen, dass jene Farben nur als ein gewisses Ornament, ein Abzeichen
an der Pforte der Gerichtshöfe (oder vor derselben — ein streitiger Punkt,
der für unsre Untersuchung minder wichtig ist) zu betrachten sind'). Wollen
wir jedoch, da letzteres nicht mit vollkommenster Gewissheit zu erweissen

») Wir wollen dabei jedoch das Epigramm von der Binde der Leukötbea
uicht vergessen. ~ 2)
Paus. 1. I, c. XKVIII 8. — Vergl. Siebeiis: Pau-
saniae Graeciae descr. Adnott. ad. l. 1,
c. XXVIIl, 8. (p. I04j. Akerblad:
Sopra alcune laminette di bromo etc. in den Atti deW Accademia Romana d'Ar-
cheolvgia T. 1, P. 1,
p. 46 sqq. Raoul-Rochette: De la peinlure sur tnur
chez les miciens
im Journal des savans, 1833, Juillet, p. 440.

267

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268

Antike Polychromie.

sein dürfte, bei der obigen Annahme verharren und beide Gebäude uns
vollständig grün und roth angestrichen denken, so können wir immer nicht
umhin, zuzugeben, dass dies ein besonders anzumerkender Fall war, der
jene Gebäude eben von andern unterschied. Auf keine Weise sind wir
also berechtigt, wie es Hittorif^) gethan, hieraus einen Schluss auf die
Behandlung sämmtlicher Architekturen, Tempel u. s. w. in Griechenland
zu machen. Kaoul-Rochette hat diese naive Schlussfolgerung bereits
genügend zurückgewiesen.

Sodann erwähnt Vitruv, wo er von seiner Heileitung des Gebälkes aus
dem Holzbau spricht, der Bretter, die, in der Gestalt der nachmaligen
Triglyphen, vor die BalkenkÖpfe genagelt und mit blauem Wachse bemalt
worden seienWir dürfen aus dieser letzteren Aeusserung ~ um hier
auf seine oder seiner Lehrmeister Hypothese vom Ursprünge der Architek-
turformen aus dem Holzbau nicht weiter einzugehen — vielleicht schliessen,
dass er wirklich dorische Monumente mit blauen Triglyphen vor Augen
hatte. Doch scheint es, da er über einen Gebrauch der Vorzeit berichtet,
dass man dabei eben mehr an altertliümliche Monumente als an die eines
entwickelten Styles denken muss, zugleich an solche, welche ihm, wie die
etruskischen oder sicilischen, näher lagen als die hellenischen, — ein Unter-
schied, dessen Wichtigkeit später entwickelt werden soll.

An einer andern Stelle^) spricht "Vitruv von den Peristylen, Exedren
und andren offenen Bäumen, deren Wände mit Mennig angestrichen
wurden. Da er aber kurz vorher^) äussert, dass die übertriebene Anwen-
dung dieser kostbaren Farbe, so dass man ganze Wände damit überzogen,
erst zu seiner Zeit aufgekommen sei, so können wir aus diesem Umstände
wenigstens nicht auf die Blüthezeit der griechischen Architektur zurück-
schliessen.

Plinius erwähnt eines Tempels der Minerva zu Elis, in welchem der
Maler Panaenus, der Bruder des Phidias, den Anwurf oder Stucküberzug
der Wände in einer Auflösung von Milch und Safran aufgetragen®). Man
könnte demzufolge auf eine gelbliche Farbe der W^ände schliessen, wenn
das Geschäft eines solchen Anstreichers nicht für einen ausgezeichneten
Künstler verwunderlich wäre; Böttiger erklärt diese Angabe einfach dahin,
dass hier nur von dem Grunde nachmals auszuführender Bilder die Rede
sei'). Doch ist die ganze Stelle eine von den vielen wenig bedeutenden
Künstler-Anekdoten, in deren Aufsammlung Plinius sich wohlgefällt: die
Hauptsache ist ihm der Safrangeruch, der noch zu seiner Zeit entstanden
war, wenn man jene Wand mit Speichel gerieben. Ich weiss nicht, ob
man hiemit etwa eine Angabe Plutarch's verbinden darf, der von einigen
marmornen Denksteinen, die um einen Tempel der Diana Proseoa auf der
euböischen Küste standen, erzählt, dass dieselben beim Reiben ebenfalls
den Geruch und sogar die Farbe des Safran gezeigt hätten^). Letztere
also mussten vor dem Reiben sogar weiss erscheinen.

Dies sind die ganz einzelstehenden und wenig bedeutenden Aeusserungen
der Alten über polychrome Architektur. Die Ausmalung der Zimmer kann
hier natürlich nicht in Betracht kommen. Wir fügen noch eine Stelle bei,
welche ein genügenderes Resultat zu versprechen scheint.

») Annali ddV instituto etc. p. 266. — a. 0. — 1. JV, c. 11. —

") l. Yll, c. IX. — 1. VII, c. V. — Plin. Nat. hist, l. XXXVI, c. XXIII
— Ideen zur Archäologie der Malerei. S. 244. — ®) Plut. Themistocles, c. VIII.

3-5

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I. Ueber die Polycbromie der griecbischeu Architektur etc.

Pausanias berichtet nämlich, bei seiner Beschreibung der Jupiter-
Statue zu Olympia, dass die Brustwehr, welche die Statue umgab, mit
Gemälden des Panaenus geschmückt, der Thür gegenüber jedoch ein-
fach blau angestrichen war Eine seltsame Idee des Künstlers, der bei
dem Reichthum des ganzen Werkes nur an dieser Stelle eine plötzliche
Leere beabsichtigt und die kostbaren Gemälde an die Seiten versteckt
haben sollteKünstlerisch vernünftig können wir diese Stelle nicht anders
verstehen, als wenn wir mit VolkeP) annehmen, dass die Worte „der Thür
gegenüber" nicht auf die entfernte Eingangsthür, sondern auf die unmittel-
bar hinter der Statue befindliche Thür des Opisthodoms zu deuten sind, so
dass also an dem hinteren Theile der BrustAvehr, wohin wenig Beschauer
kamen und wohin nur ein geringes Licht fallen konnte, die Gemälde über-
flüssig waren. Wenn dieser Theil aber blau angestrichen wurde, so liegt
es nahe, in seiner Farl)e eine gewisse Uebereinstimmung mit den umlie-
genden Wänden der Cella zu suchen; waren diese weiss, so hätte man,
wie es scheint, die Wand der Brustwehr am Füglichsten ebenfalls weiss
gelassen. Doch giebt diese Schlussfolgerung, falls sie nicht gesucht erscheint,
immer nur einen Beweis für das Innere eines Tempels, der freilich zu den
bedeutendsten des griechischen Alterthums gehört.

Dass so wenig Stellen in den alten Autoren vorgefunden werden, welche
auf die Anwendung der Farbe in der Architektur zu beziehen sind, wird
von den Bekennern und Vertheidigern der Polychromie dahin erklärt, dass
jene eben gar kein Bedürfniss empfunden hätten, ihre Zeitgenossen über
etwas allgemein liebliches zu unterrichten. Immerhin ein Grund, dem man
im Allgemeinen seine Richtigkeit zugestehen könnte. Wie aber, wenn sich
in den Alten andere Stellen vorfinden, welche gerade gegen die Polychromie
— in der Ausdehnung wenigstens, wie sie neuerdings aufgestellt wird, —
Zeugniss geben? . .

Es ist schon oft bedauert worden, dass Pausanias, wenn er von Tempel-
gebäuden spricht, fast gar keine näheren Angaben über ihre Beschaflenheit
mittheilt. In Bezug auf unser Interesse finden wir nichts als zuweilen die
Angabe des Materials, aus welchem die Gebäude errichtet waren. Vielleicht
führt jedoch schon dies auf einige Resultate. Ausser verschiedenen Bau-
werken, welche aus Ziegeln bestanden*), erwähnt er des Poros-Steines
bei dem Jupiter-Tempel zu Olympia und bei der ebendort befindlichen
breiten Mauer in der Altis, an welcher die Thesauren sich befanden^).
Ziegel und der rauhe Poros machten bekanntlich, um die vollkommene
Glätte der Mauern und Schärfe der Gliederungen hervorzubringen, einen
Stucküberzug nothwendig; und es liegt in der Natur einer allgemeinen
Kunst-Entwickelung, dass die mit einem Stucküberzuge versehenen griechi-
schen Monumente, wie in der Form, so auch in der Farbe ein gewisses
Verhältniss zu den aus weissem Marmor errichteten Prachtbauten beobachtet
haben werden. Was von letzteren zu -erweisen ist, dürfte somit mehr oder
minder auch die Farbe jener erklären.

269

Des Marmors in seiner allgemeinen Bezeichnung als weissen Steines

') l. y, c. XI, 2. — Quafremere-de-Quincy giebt in dem Titelblatte seines
Jupiter Olympien die Darstellung der thronenden Statue auf diese Weise, —
Archäologischer Nachlass, S. 51. —
l. II, c. XVIII, 3. ib. c. XX'VII, 7.
l. V, c. F, 4. l. X, c. IV, 3. ib. c. XXXV, 5. ~ l. V, c. X, 2. l. VI, r.
A7A', /.

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Antike Polychromie.

(li^'ov XsvHov) gedenkt Pausaiiias freilich nur bei wenigen grösseren Monu-
menten: bei dem Stadium des Herodes Atticus zu Athen, bei der pracht-
vollen Decke der Proijyläen, welclje auf die Akropolis von Athen führen,
bei dem Theater und Stadium auf dem Isthmus, bei dem von Polyklet
erbauten Tholus zu Epidaurus, bei dem Theater zu Sparta und dem Bacchus-
Tempel zu Myus in Kleinasien Die griechische Benennung des Marmors,
als Xi&oe IsvKog, ist doppelsinnig; sie kann von dem Steine, der im Bruche
weiss erscheint oder, wo von ausgeführten Gebäuden die Rede ist, über-
haupt von dereji äusserer Erscheinung verstanden werden. Auch Andre,
namentlich Strabo , erwähnen vieler aus „weissem Steine" errichteten
Tempel. Seltsam, wenn man sich fortwährend dieses Ausdruckes bediente,
während das Auge von der Weisse des Steines nichts entdeckt haben sollte!
Ueberdies konnte bei den ebengenannten Theatern und Stadien der Marmor
nur seiner eigenthümlichen Pracht wegen angewandt sein, und an eine
Bemalung dieser Monumente ist auf keine Weise zudenken. Dann spricht
Pausanias von dem Muschelmarmor {li9-og -noyxLxriq) ^ der zu Megara
gebrochen und dort häufig angewandt wurde Dieser Stein zeichnete sich
durcli seine besonders weisse Farbe aus. Warum diese besondere Erwäh-
nung, wenn man die Eigenschaft des Steines nirgend zu Gesichte bekam?
Endlich nennt er zwei Bauwerke aus pentelischem Marmor (welcher
Stein, wie es in der Natur der Sache liegt, mit in die Kategorie des
„weissen" gehört): einen Tempel zu Gortys in Arkadien und das von
Herodes Atticus erbaute Stadium zu Delphi Warum sollte man diesen
Stein mit grossen Kosten so weit aus Attica herbeigeholt haben, wenn
man seine eigenthümliche Beschaffenheit wieder durch einen Farbenüberzug
verdeckte? Eben dasselbe gilt von andern Gebäuden, zu denen man kost-
bares Material aus der Ferne herbeischailte, wie von dein Tempel zu Delphi,
den, nach Herodot's Bericht''), die Alcmäoniden zur Zeit der Pisistratiden-
Herrschaft au seiner Vorderseite aus parischem Marmor erbauten, wäh-
rend sie nur übernommen hatten, das ganze Gebäude aus dem schlechteren
Poros-Steine zu errichten. Und wenn die Vorderseite weiss erschien, so
kann der Stucküberzug des Poros eben auch nicht an'ders gefärbt worden sein.

Noch ist hier ein kleiner Tempel am Hafen von Anticyra in Phocis
anzuführen, von dem Pausanias sagt, dass er in dem von den Römern soge-
nannten Opus incertum
[loydaLv XiO'OLg) — wahrscheinlich also in der aus-
gebildeten cyklopischen Bauweise, wie der bekannte kleine Tempel zu
lihamnus — aufgeführt und sein Inneres mit einem Stucküberzuge versehen
war'). Das Innere mochte also mit Farben geschmückt sein, das Aeussere
aber musste, wie es aus dem einfachen Gegensatze hervorgeht, die natür-
liche Farbe der Steine zeigen. i

Wenn bei so mancherlei genauen Bezeichnungen des Materials, welches
zur Errichtung der vornehmsten Bauwerke angewandt wurde, bei dem Mater iale,
welches von seiner weissen Farbe den Namen führt, das vorausgesetzte Ver-
schweigen einer anderweitigen Färbung befremdlich erscheinen musste, so wird
ein solches Stillschweigen in einem andern Falle noch schwieriger zu erklären
sein. Wir wissen von der Vorliebe, welche unter der Römerherrschaft für

1) l. I, c. XIX, 7. ib. c. XXII, 4. l. II, c. I, 7. ib. c. XXVII, 3. l. III,
0. XIV, 1. L. VII, c. II, 7. — i. XII, c. V, 3. L XIII, c. 1, IG. ib. c. III,
ö. l. XIV, c II, 23,
u. a. a. 0; — '') L I, c. XLIV, ,9. — ") l. VIII, c.
XXVIII, 1. l. X,
c. XXXII, 2. — Ilt-rod. l. V, 62. — «) Die unedirten
Alterthünier von Attika, c. VII. — ')
L A', c. XXXVI, 4,

270

1

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I I I. Ueber die Polychromie dor griecliischen Architektur etc. 271

den buntfarbigen Marmor entstand. Plinius beklagt sich bitter über diese
Eitelkeit des Geschmackes: „Ja," fährt er fort, „wir haben sogar ange-
fangen den Stein zu bemalen. Dies-ist unter der Herrschaft
des Claudius erfunden. Unter der des Nero hingegen: Flecke, wo sie
niclit vorhanden, durch Uebertünchung hervorzubringen und die Einfärbig-
keit bunt zu machen, auf dass der numidische Marmor Eier-artig erscheine,
der synnadische durch Purpur sich unterscheide i)»" Können wir nur mit
einiger "Wahrscheinlichkeit voraussetzen, dass dem Plinius die griechische
Weise, Mari^rtempel anzustreichen — wenn eine solche seit 500 Jahren
ausgeübt wurde — unbekannt geblieben sei, dass er so ganz ohne Grund
den Anfang der Marmorbemalung unter die Regierungszeit des Claudius
gesetzt habe? — Eben mit derselben Angabe stimmt auch Seneca überein.

Nicht zu übersehen ist ferner der Umstand, dass in der Regel auf den
Vasengemälden des vollendetsten Styles die dargestellten Tempelarchitek-
turen in weisser Farbe gehalten sind, während die Figuren sich, wie
bekannt, roth vom schwarzen Grunde ablösen. Nur das Gesims und der
Hals der (ionischen) Säulen zeigen insgemein einige gelbe Streifen. Wie
wäre man hier gerade auf eine weisse Farbe verfallen, wenn die wirklich
vorliandenen Gebäude sich vollkommen bunt gezeigt hätten?

Alle Zweifel endlich, welche nach der Summe dieser Bemerkungen
noch zurückbleiben dürften, werden durch eine Aeusserung Herodot's
beseitigt. Dieser ein Zeitgenoss des Pericles, also der Blüthezeit grie-
chischer Kunst — berichtet von einem Orakel, welches den Siphniern von
der Pythia gegeben war und welches also begann:

Wenn einst weiss in Siplinos das Prytaneion erscheinet.

Weiss der Markt aussieht, u. s. w.

„Der Siphnier Markt und Prytaneion aber," fährt er fort, „war dazumal
(als das Orakel in Erfüllung ging) mit parischem Steine geschmückt-')."

— Nicht die einzelne Angabe über die weissen Gebäude der Siphnier,
sondern der Grund, warum sie weiss waren, — von dessen "Vollgültigkeit
das versammelte Griechenland, dem Herodot seine Geschichte zu Olympia
und zu Athen am Feste der Panathenäen vortrug, überzeugt sein musste,

— ist es, was uns diese Stelle so höchst wichtig macht. Die entschiedene
Schlussfolgerung, welche diese Angabe uns gewährt, lautet demnach: Was
in der Blüthezeit der griechischen Kunst von parischem Mar-
mor— und wir dürfen ohne Bedenken hinzusetzen: von jedem
edlen weissen Marmor, namentlich dem pentelischen zu
Athen — erbaut worden war, erschien im Aeusseren wesent-
lich als weiss. Wir haben d,ie früheren, nicht auf solche Weise ent-
scheidenden Zeugnisse nur desshalb mitgetheilt, damit die Stelle aus dem
Herodot nicht zu vereinzelt dastehen und vielleicht gar ihre Aechtheit
angefochten werden möchte.

Die Meinung derjenigen, welche ein, alle Theile der Architektur
umfassendes polychromes System auch auf die ächt hellenischen Monumente
ausdehnen wollen , hat somit keine schriftlichen Zeugnisse für und die

') Plin. Nat. hist. I XXXV, c. /. - 2) EpisL 86. — 'AU' ovav iv

Slcpva itqvravri'Lcc A,Et;xci; yivrjzcci, AsvHOCpQvg z'ayQOQT], t. X. Toißi 8h

EitpvioiGi Tovs ^v 77 dyoQrj kkI to nqvxaviq'iov TIuQia XlQ'm ■^öKTjfieva.
Ilerod. l. III, c. r>7.

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Antike Polychromie,.

entschiedensten gegen sich. Ehe wir nunmehr untersuchen, wie viel sicli
aus den noch vorhandenen Farbenresten antiker Monumente ergiebt, dürfte
noch der metallische Schmuck in Erwägung zu ziehen sein, von dessen
Anwendung bei griechischen Prachtbauten uns verschiedene Nachrichten
zugekommen sind.

Was uns von der ausgedehnten und grossartigen Anwendung des metal-
lischen Schmuckes in den Fürstenhäusern der heroischen Zeit von Homer
und Anderen berichtet wird, wollen wir hier, als unsrer Betrachtung zu
fern, übergehen. Ebenso einzelne Beispiele späterer Zeit, wie den ehernen
oder mit Erzplatten belegten Tempel der Minerva Chalcioecos zu Sparta i),
die als besondere Ausnahme eben für einen allgemeinen Gebrauch nichts
beweisen. Von mehreren Tempeln dagegen wissen wir, dass der Architrav
oder Fries mit vergoldeten Schilden geschmückt war, welche insge-
mein von glücklichen Siegern aus der Siegesbeute geweiht waren. Bekannt
sind die ein und zwanzig Schilde, die als "Weihgeschenke des Mummius
am Jupiter-Tempel zu Olympia prangten^); auf dieselbe "Weise war der
Apollo-Tempel zu Delphi von den Athenern nach dem Siege bei Marathon
und den Aetolern nach dem Siege über die Gallier geschmückt worden ^J.
Am Parthenon zu Athen sieht man noch Klammerlöcher im Architrav und
runde Merkmale von etwa 372 Fuss Durchmesser^) umher, welche deutlich
auf eine Anwendung desselben Schmuckes liinweisen. An der Ostseite
dieses Tempels hing ein Schild unter jeder Metope, und kleine Löcher au
dem Architiav unter den Triglypheu zeigen vermuthlich an, dass man hier
vorstehende Buchstaben anbrachte, welche Inschriften zwischen jenen bil-
deten. Au der "Westseite erscheinen grössere Löcher nur über jeder Säule,
offenbar zu demselben Zwecke, und an der Süd- und Nordseite entdeckt
man einige kleinere über jeder Säule und ebenso Klammerlöcher an einigen
anderen Theilen des Architravs, wahrscheinlich um Trophäen von dieser
und anderer Art aufzuhängen ''). Es ist nicht unwahrscheinlich, dass dies
die Spuren jener persischen Rüstungen sind, welche Alexander der Grosse
nach der Schlacht am Granicus dem Tempel übersandt hatte

Demzufolge dürfen wir jedoch diesen Schmuck von vergoldeten Schilden
nicht als etwas für die äussere Erscheinung der Architekturen Nothwendiges
annehmen. Die Baumeister konnten nicht füglich mit Bestimmtheit ihre
Gebäude für solche Zierden einrichten, oder gar eine regelmässige Anord-
nung der Weihgeschenke im Voraus bestimmen. Auch erwähnt es Pau-
sanias bei dem Gymnasium zu Elis, welches auf gleiche Weise geschmückt
war, ausdrücklich, dass die Schilde in diesem besonderen Falle nur zum
Schmucke, nicht — wie sonst — für einen ursprünglich kriegerischen
Gebrauch gearbeitet waren Als eine ebenso zufällige Zierde müssen
wir die (vermuthlich ebenfalls vergoldeten) Gitter betrachten, welche die
Vorhallen der Tempel, zur Sicherung der darin aufgestellten kostbaren
Weihgeschenke, zwischen den Säulen und Anten verschlossen. Auch von
diesen hat man an den Postiken des Parthenon Und des Theseus-Tempels
zu Athen, am Pronaos des grösseren Tempels zu Rhamnus u. a.- m. noch

272

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') Pausanias l. III, c. XYIT, 3. Vergl. H. Meyer: Geschichte der bildenden
Künste bei dun Griechen, B. IL, S. 14, n, A. —
Pausan. l. V, c. X, S. —
ib. l. X, c. XIX,'3, — Dodwell: a classical and topographical tour trough
Greece, V. I, p. Sil.
— Stnart und Revett: die Alterthümer von Athen. Thl,
H, c. I, Anm. 75. — «)
Arrian. l. I, c XVI. —. ') l. VI, 0, XXIII, !>.

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I I I. Ueber die Polychromie dor griecliischen Architektur etc. 273

die Spuren der Klammerlöcher vorgefunden Immerhin aber zeigen die
angeführten Beispiele eine besondere Vorliebe der Griechen, die Architek-
tur mit vergoldetem metallenem Schmucke zu versehen. Die vielen Bei-
spiele, welche Pausanias von vergoldeten Statuen, Vasen und andren
Antefixen über den Spitzen und Ecken der Tempelgiebel erwähnt, bestä-
tigen dies aufs Entschiedenste. Auch auf den Giebelecken des Parthenon
haben sich Spuren vorgefunden, Avelche es wahrscheinlich machen, dass
der einst an dieser Stelle befindliche Zierrath von Bronze gearbeitet war®).
Ebenso scheinen die Reliefs am Friese des Erechtheums zu Athen, deren
die bekannte Bauinschrift erwähnt, von Metall gewesen zu sein , da der
Fries glatt ist und nur die Spuren von Klammerlöchern zeigtAndrer,
wahrscheinlich ebenfalls metallischer Zierden, die an diesem Gebäude ange-'
bracht waren, wird weiter unten gedacht werden.

Aehnliche Pracht metallischen Schmuckes wird uns von dem grossen
Nilschifle des Ptoleraäus Philopator, einem schwimmenden Palaste, (gegen
Ende des dritten Jahrhunderts v. C. G.) berichtet. Die^ korinthischen Kapi-
tale der Säulen des Hauptsaales waren hier von Gold und Elfenbein gebil-
det, — vermuthlich die Blätter von Gold und der Grund von Elfenbein;
der Fries war von Gold mit elfenbeinernen Reliefbildern Am choragi-
schen Monumente des Lysicrates zu Athen scheint in dem Einschnitte unter
dem Kapital der koriiithischen Halbsäulen ein Bronzering befindlich gewesen
zu sein,, indem die kleinen Schilfblätter, welche hier den unteren Kranz
der Kapitale bilden, so scharf abgeschnitten sind, dass eine solche unmo-
tivirte Formenbildung eine, dem griechischen Geiste entsprechende Restau-
ration erfordert An den Wänden des Jupiter-Tempels zu Cyzicus endlich
deutete ein dünner Goldfaden als besondre Zierde die Fugen der Steine an®).

Ein edler weisser Marmor in seiner eigenthümlichen Pracht — und bei
schlechterem Material ein Stucküberzug, welcher sich gewiss nicht sonder-
lich von der äusseren Erscheinung jenes Marmors entfernte — verbunden
mit bedeutenden goldglänzenden Zierden, erscheint uns demnach als das
Vorherrschende, wenn wir uns den Eindruck der bedeutendsten Gebäude
aus der Blüthezeit des griechischen Mutterlandes vergegenwärtigen wollen.
Wie weit die Sculpturen an Giebeln und Friesen hiemit übereinstimmen,
wird sich später ergeben. - ^

2. Farbenreste an Monumenten.

Bedeutende Reste von farbiger Architektur sind uns aus der fernsten
Vorzeit Griechenlands erhalten. Das bekannte Relief der beiden Löwen,
welches die dreieckige Oeffnung über dem Löwenthor von Mycenae
verschliesst, besteht aus grünem Marmor, welcher dem grünen ägyptischen
Basalt verglichen wirdAus demselben Steine sind die merkwürdigen

Altertliümer von Athen a. a. 0. Anm. 77, und Thl. III. c. I, Anm. 5.
Alterthümer von Attika, c. VI, T, I. — Alterthümer von Athen, Thl. II,
c. I, Anm. 82.
The Erechtheion of Athens by H. Tt'. Inwood, T. XVII, p. 121.
— ■■') Alterthümer von Athen, c. II, Anm. 24. Bauinschrift (ebendas. abgedruckt)
Z. 42. — ''j
Athenäus V, p. 204. — Die Alterthümer von Athen, Thl, I. c.
IV, T. VI. (Deutsche Ausg. Lief. IV, T. 3). — 6}
Plin. Nat. hist. l. XXXVI,
f. XV.
— ^J D 0dwe] 1: Alcuni Bassirilievi della Greciap. 2 und desselben
Classic, and topogr. tour etc. ■ Vol. II, p. 239.

Kugler, Kleine Schriflen. I. '18

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Antike Polycliromie.

Halbsäulen gebildet, welche ebendaselbst zu den Seifen des Einganges am
Schatz Ii ause des Atreus standen. Die Bruchstücke der anderweitigen
Verzierungen, welche diesen Eingang schmückten, bestehen aus grünem,
rothem und weissem MarmorWir dürfen indess aus diesen Ueberresten
keinen allgemeinen Schluss auf die spätere Zeit der griechischen Kunst
machen, indem der nachmals auftretende Dorismus die Formen des gesamm-
ten griechischen Ijcbcns, und so auch der Kunst, wesentlich veränderte.
Bemerkenswerth bleibt es übrigens, wie man hier auf die einfachste und
natürlichste Weise — durch farbiges Gestein — farbige Architekturformen
hervorbrachte.

Wir gehen unmittelbar zu den vollendetsten Gebäuden der griechischen
Kunst, von denen Reste auf unsere Zeit gekommen, zu denen von Ättika,
über. Diese, vornehmlich die Athenischen, sind zumeist von dem schönen
und weissen Marmor, der in Attika bricht, erbaut; an Gebälken und
Gesimsen der bedeutendsten von ihnen haben sich, nach den Untersuchun-
gen und Berichten der Reisenden, deutliche Spuren ehemaliger, durch
Farben aufgetragener Zierden vorgefunden. Wir betrachten dieselben im
Einzelnen.

ff

Monumente von Attika.

Der Tempel des Theseus. Die verschiedenen Berichte über die
an diesem Gebäude enthaltenen Farbenspuren betreifen vornehmlich die
Dekoration des Gebälks im Inneren des Peristyls, wo dessen Friese mit
Reliefs geschmückt sind. Ausser den Farbenresten, welche sich hier an
den Figuren der Friese erhalten haben, war der Grund, aus welchem die
Figuren hervortraten, blau bemalt 2). Darunter eine vorspringende Platte
mit gemaltem Mäander, getragen von einer Welle mit Herzblättern und
einem Rundstabe mit Perlen. Ueber den Reliefs springt ein breites Band
vor, auf welchem ebenfalls ein reicher Mäander gemalt war, beide Mäander,
wie es scheint, von rother Farbe; über letzterem, von einem überschlagen-
den und mit Blättern verzierten Gliede getrennt, ein andres breites Band
zwischen den Balken der Decke, mit einer reizend verschlungenen Palmet-
ten-Verzierung; hierauf ein mit Eiern bemalter Viertelstab und darüber
endlich die Cassettirungen der Decke Auch auf dem Grunde der letztern
hat man dunklere Farbenspuren entdeckt, aus welchen heller gefärbte
Sterne hervortraten'*). Roth, Blau, Grün und zweifelhafte Spuren von
Vergoldung sind, nach den neuesten Berichten, die verschiedenen Farben,
welche in diesen Verzierungen wechseln — Unter dem Halse der einen
Ante am Postikum (den Säulen in antis zugewendet) hat Hr. Semper ein
Stück des blauen Anstrichs vorgefunden Er schliesst daraus, dass die
ganze Cella (es ist nur vom Aeusseren die Rede) blau angestrichen gewesen

') Dodwell, tour etc., p. 23J. Donaldsou, in dem Supplemente zu Stuarts
Alterthümeru von Atlieu. c. V. Vergl. K. 0-. Müller: die Dotier II, S. 256. —
Dodwell,
tour etc. Vol. /, p. 364. Semper, Vorläufige Bemerkungen über
bemalte Architektur und Plastik. S. 48. U. A. — Alterthüraer von Athen,
Till. III, c. I, T. 8. (Deutsche Ausg. Lief. X, T. 2.) — Chandler,
travels, V.
JI, c. 14.
Museum, Blätter für bildende Kunst, 1833, Nro. 3-2: Nachrichten aus
Griechenland, nach mündlichen Nachrichten des Hrn. Schaubert, Architekten der
K Griech. Regierung, zusammengestellt von F. v. Quast. S. 253. — Museum,
a. a. 0. Semper a, a. 0. -— A. a. 0 S. 48.

274

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I I I. Ueber die Polychromie dor griecliischen Architektur etc. 275

sei; Hr. Schaubert will statt dessen deutliclie-Spuren von gelber Farbe
gefunden habeni). Dies, sowie die rothen Architrave, davon beide, und
die rothen Säulen, davon Hr. Semper spricht, soll später in Erwägung
gezogen werden. — Die Dielenköpfe des äusseren Gebälkes in ihrer Unter-
ansicht scheinen, mit Ausnahme der Tropfen, blau bemalt gewesen zu
sein 2),
ebenso der Grund in den Metopen des äusseren Frieses

Der Parthenon. Da die Reste dieses Gebäudes, bis auf die jüngst-
verflossene Zeit, nicht mit derselben Bequemlichkeit wie der Theseus-
Tempel untersucht werden konnten, so haben wir hier nicht so ausführliche
Nachrichten über die noch vorhandenen Ueberbleibsel der'farbigen Ver-
zierungen. Im Ganzen jedoch wird die Bemalung des Gebälkes im Inneren
des Peristyls und an den Anten-Kapitälen auf ähnliche Weise geschildert,
wie an dem eben genannten Tempel; die geradlinigen Glieder mit Mäan-
der- und Palraetten-Ornamenten, die von geschwungenem Profil mit Blät-
tern und Eiern. Ausser der Bemalung an einigen Gliedern der Bekrönung
des äusseren Gebälkes waren hier namentlich die beiden Bänder über und
unter dem Friese mit einem Mäander, das Riemchen unterhalb der Trigly-
phen mit zierlichen Palmetten bemalt^). Die noch sichtbare Farbe der
Verzierungen soll ein dunkles und bräunliches Roth seinDoch setzt
der Herausgeber der neuen Ausgabe der Alterthüjner von Athen hinzu®),
da man hier und da bei günstigem Widerschein des Sonnenlichtes an den
Dielenköpfen wirkliche Vergoldungen wahrgenommen, so habe man auf
diese Veranlassung vermutliet, dass jene Farben nur der Grund vergangener
Vergoldung seien. Wollen wir diese Annahme auch nicht überall gelten
lassen, so wird sie doch keineswegs bei der Darstellung des ganzen Systems
dieser gemalten Zierden ausser Acht zu lassen sein. — Der Rinnleisten über
den Giebelseiten war mit einem leichten Palmetten-Ornament bemalt'). —
Der Grund des Frieses über dem Inneren des Peristyls, welcher die Reliefs
des Panathenäischeu Festzuges enthielt, war blau bemalt"). Der Reliefs
wird später gedacht werden.

Die Propyläen der Burg von Athen. Audi hier wissen wir
vornehmlich nur von einer Bemalung des Gebälkes im Innern: ein breites
Band mit einem Mäander, gekrönt-yon einem überschlagenden Gliede und
getragen von einer Welle, beide mit verschiedenen Blättern bemalt. Ebenso
das überschlagende Glied in den Anten-Kapitälen. Auch hier, wo die
ursprüngliche Farbe (die Umrisse sind, wie gewöhnlich, in den Marmor
eingeritzt) als ein reiches dunkles Roth erscheint, hat man in derselben die
Grundirung einer verlorenen Vergoldung vermuthet®). Der Rinnleisten der
Giebel ist mit Eiern uijd Pfeilspitzen verziert. An den ionischen Kapitalen
der inneren Säulenstellung waren die Polster der Seitenansicht mit Schuppen
und Akanthusranken bemalt; auch schejnen dieselben, nach Herrn Schau-
berts Angabe, einen Hals, gleich den Säulen des Erechtheums, gehabt zu
haben, diesen jedoch nicht plastisch, sondern nur durch Malerei verziert

») Museum a, a. 0. ^ Die Alterthümer von Athen, a. a. 0. Anm. 18.
Museum a. a. 0. — Museum, a. a 0, Dodwell, a. a. 0. p. 365. — *) Brönd-
sted, Reisen und Untersuchungen in Griechenland, II, S. 146, Anm. 5 und T.
XL. — Die Alterthümer von Athen, Thl. II, c. I, Anm. 82. — Deutsche
Ausg. Bd. I, S. 858. — L. Vulliamy:
Exampks of ornamental Sculpture in
Arctiüeclure.
— ®) Miliin, monumem ant. ined. T. II, p. 48. — Die Alter-
thümer von Athen, Thl. II, c. V, Anm. 32. Dodwell,
tour etc. V. I, p. 320. —
Museum a. a, 0.

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Antike Polychromie.

276

An dem nörflliclien .Seitengebäude der Propyläen finden sich ähnliche
Gliedermalungen, wie im Innern des Hauptgebäudes.

Das Erechtlieum (Tempel der Minerva Polias). Was dies
'in zierlichster Anmuth ausgeführte Gebäude betrifft, so fehlen uns hier
bestimmte Angaben tiber etwa noch vorhandene farbige Verzierung fast
ganz. Inwood theilt das Bruchstü'ck einer Cassette mit, welche von einem
gemalten Mäander umgeben war In dem verflochtenen Pfühl, welcher
in den Kapitalen dieses Tempels zwischen dem Kanal der Schnecken und
dem Eehinus beflndlich ist, waren ■ in gewissen Zwischenräumen farbige
Steine oder farbiges Glas, abw^echselnd roth; blau und gelb, eingesetzt2).
Die Ueberreste metallener Nägel in den-Rinnen zwischen den Kanälen, in
dem vertieften Auge der Schnecken, so wie an den Seiten der Kapitale
beweisen, dass hier ursprünglich noch ein anderer Zierrath angebracht
war;'). Dass eine Verzierung des Schneckenauges am ionischen Kapitale
zur Blüthezeit der attischen Kunst nicht ungewöhnlich war, beweisen noch
andre von Inwood mitgetheilte schöne Fragmente. Eins derselben hat in
dem Mittelpunkt des Auges ein scharfes Loch, offenbar um darin einen
hesondern Zierrath zu befestigen; bei zwei andren sind die Augen mit
zierlichen achtblättrigen Rosetten geschmückt*). An dem oberen Streifen
des Architraves der Karyatidenhalle sind runde Schaalen ausgemeisselt; die
Linien an einer derselben deuten ebenfalls auf eine bedeutendere Verzierung,
welche für diese bestimmt war •''). — Noch ist einiger Säulen aus grünem
Marmor zu gedenken, die man im Innern des Erechtheums gefunden hat,
und deren die eine sich seit etwa dreissig Jahren in der Universitäts-Biblio-
thek von Cambridge befindet®), die andre neuerdings durch Semper bei
Gelegenheit einer Ausgrabung entdeckt worden ist Wir bedauern, dass
wir über die P'ormation dieser Säulen weder nähere Nachrichten noch Zeich-
nungen besitzen, um gewiss zu sein, dass dieselben nicht etwa einer spä-
teren Veränderung aus der Zeit des Mittelalters zuzuschreiben sind. Mit
Bestimmtheit müssen wir wenigstens vom Parthenon annehmen, dass die
Säulenfragmente von rothem Porphyr und grünem Marmor, w elche Dodwell
in dessen Innerem entdeckt hatdem Umbau des Gebäudes in eine christ-
liche Kirche zuzuschreiben sind, von der uns Tavernier berichtet, dass sie
im Inneren von sehr schönen Säulen aus Porphyr und schwarzerii Mar-
mor getragen werde Der letztere Ausdruck dieses, in den bezügli-

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') The Erechtheion of Athens hy Tl. W. Inwood, T. V — Dia Alter-
thümer von Athen, Tbl. II, c. II, Anm. 42. v. Stakelberg, der Apollo-Tempel
zu Bassae in Arkadien. S. 34."'— Die Altertliümer von Athen, a. a. 0. —
The Erechtheion of Athens, T. XXlll,- XXV, XXVlII, Auch an den ioni-
schen Kapitälen des Tempels der Minerva Polias zu Priene in Klein-Asien zeigt
sich im Auge der Schnecken ein scharf eingebohrtes Loch. S. die Alterthümer
von Jonien, Thl. 1. c. II, T. VI. — 'ypie Alterthümer von Athen, a. a. 0.
Anm. 50 — E. D. Clarke:
Oreelc Marbles brought from the shores of the
Euxine, Arphipelago, and Mediterranean, and deposited in the Vestibüle of the
public Library of the University üf Cambridge 1809. —
Vorläufige Bemerkun-
gen, u. s. w. S. 12. Anm. — ") Dodwell,
tour etc., V. I, p. 331. — Voyage
de Ferse,
I. III. Es ist bekannt, dass Stuart die Spuren dieser Säulen des
christlich-mittelalterlichen Baues für die der antiken Hypäthral-Einrichtung nahm,
dagegen Cockerell neuerlich die ächten Spuren der antiken Säulen entdeckt hat.
Dieser waren nur 16 und von grösseren Verhältnissen, wie es das Hypäthron
erforderte. (Vergl. die Alterthümer von Athen, Thl. II, c. 1, Anm. 27 und
Bröndsted, Reisen und Untersuchungen in Griechenland, II, S. 293.

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I I I. Ueber die Polychromie dor griecliischen Architektur etc. 277

chen Gegenständen nicht allzugenauen Reisenden dürfte Niemandem ein
Anstoss sein ').

Der ionische Tempel am Ilissus. Hier'war der obere Streif des
innereii dreitheiligen Architravs mit einer ausgezeichnet schönen, etwas
strengen Palmettenverzierung bemalt

Das "choragische Monument des. Lysicrates zu Athen zeigt
ebenfalls verschiedene Reste von Bemalung, namentlich an den übereinander
aufsteigenden Kränzen der Bekrönung, deren Blätter abwechselnd in ver-
schiedenem Grün und Roth gefärbt waren. Ebenso haben sich im Win-
dethurm, an'einem der inneren Gesimse, Farbenspuren erhalten -^).

Die äusseren Propyläen des Ceres-Tempels zu Eleusis.
Von dieser Copie der athenischen Propyläen sind Farbenreste an den Cas-
saturen der Decke vorgefunden. Sie enthielten in ihrer oberen Fläche grün
und roth" gefärbte Sterne (ohne dunkleren Grund) und Eierverzierungen
von ähnlicher Farbe aii den Wülsten. Auch die Stirnziegel dieses Gebäudes
sind ursprünglich bemalt gewesen Ebenso hat man Umrisse der Sterne
in den Cassaturen der Decke der inneren Propyläen entdeckt^).

Der grössere Tempel zu Rhamnus. Hier haben sich wiederum
sehr reiche Spuren von farbigem Schmucke erhalten. Aehnlich wie am
Theseus-Tempel von Athen, zeigen sich an der Bekrönung der Cellenwand
im Peristyl breite Bänder, von denen das untere mit einem Mäander, das
obere mit einem Palmetten-Ornament geschmückt war; über jedem der-
selben befinden sich überschlagende Glieder, mit Blättern bemalt. Auch
an den Cassaturen der Decke haben sich Farbenreste gefunden; der Grund
derselben war, wie es scheint, blau , mit goldenen Sternen. Die Umrisse
jenes Blätter-Schmuckes zeigen sich ausserdem an dem Kapitäl der Anten,
Avelches genau dem des Parthenon nachgebildet ist. Der Rinnleisten des
Giebels, hier zugleich an den Langseiten fortgeführt, hatte ebenfalls eine
farbige Verzierung, die den Marmor vor dem Einflüsse der Luft geschützt
hat, so dass sie jetzt in einem leisen Relief erscheint").

Aus dem Vorhergehenden sieht man, dass die Farbenspuren-, welche
an den attischen Monumenten, den schönsten Erzeugnissen der griechischen
Kunst, gefunden sind, w^esentlich nur als eine Decoration der architektoni-
schen Glieder erscheinen. Wir haben jedoch bereits angedeutet, dass Eitn
zelne auch von den Spuren eines ehemaligen Anstriches an den Architraven,
den äusseren Cellenwänden, den Säulen des Theseus-Tempels sprechen;
ja, Herr Semper erklärt mit Entschiedenheit, dass die Monumente ganz und
gar mit Farbe bedeckt gewesen seien, so dass selbst an den Stellen, wo
man etwa eine weisse Farbe beabsichtigt, keinesweges der weisse Marmor,
' sondern ebenfalls eine aufgesetzte Farbe erschienen sei'). Diese Aeusserung,

Möglicherweise jedoch sind die von Dodwell erwähnten Fragmente auch
auf die Säulen von Jaspis, die den Chor der Kirche vom Schitf sonderten, und
auf die Porphyrsäulen des Tabernakels über dem Altar zu beziehen, deren Whe-
1 e r
CVoyage de Dalmatie, de Orece etc. Vol. II, c, 11, p. 325j erwähnt. — Die
Alterthü'mer von Athen, Thl. I, c. II T. VIII. (Deutsche Ausg Lief, II, T. 2.)
— Museum a. a. Ö. No. 33, S. 262. — *) Unedirto Alterthiimer von Attika,
C. II, T. X. und T. VIII, 5. — Ebendaselbst C. III, T. VIII, 1. — «) Eben-
daselbst C. VI. — A. a. 0. S. 19, Anm. Schon vor einigen Jahren hat auch
Bröndsted, obgleich noch halb zweifelnd, eine solche Meinung angedeutet.
S. Reisen und Untersuchungen in Griechenland, II, S. 145, Anra 4.

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Antike Polychromie.

die mit den schriftlichen Zeugnissen der Alten in entschiedenem Wider-
spruche steht, erfordert eine nähere Bertlcksichtigung.

Die Farbe nämlich, welche der pentelische Marmor an den athenischen
Monumenten gegenwärtig zeigt, erscheint in bedeutenden Massen als ein
schönes, fast rothliches Goldgelb, in den Winkeln und Ecken als ein
finsteres Schwarz; und eben diese Farbe soll nicht, wie man bisher ange-
nommen, eine durch die Zeit hervorgebrachte Veränderung der Oberfläche
des Steines, sondern der Rest des vormaligen Farbeniiberzuges sein; unter
der Kruste finde man beim Nachsuchen stellenweise die ganz frisch erhal-
tenen urspri'lnglichen Farben. Letzteres hat, bei den Einzelnen früher
genannten Gliedern gewiss seine Richtigkeit; die Allgemeinheit des Satzes
aber wird durch verschiedene Angaben andrer Reisenden auf keine Weise
bewährt. So beschreibt uns Dodwell ausführlich die , verschiedenen
Abstufungen der Farbe, in Avelcher der Parthenon zu seiner Zeit erschien:
die Westseite als Ocker-farbig; ähnlich die Ostseite, an der jedoch einzelne
Theile der Säulen schwarz waren, was er dem Rauch aus nahgelegenen
Hütten zuschreibt; die Südseite am Lichtesten und grossentheils vollkommen
in der ursprünglichen Weisse des Steins. Die Südseite aber ist bekannt-
lich an allen athenischen Gebäuden am Meisten vor den Einflüssen des
Wetters geschützt; warum also sollte gerade hier die Farbe mehr, als an
der Ost- und Westseite entwichen sein? ~ Ferner wird uns berichtet, dass
man die Merkmale jener am Architrav des Parthenon befindlich gewesenen
Schilde dadurch erkenne, dass ihre runde Fläche weniger von der in Rede
stehenden gelblich-rothen Färbung des Marmors durchdrungen sei, indem
die Schilde den Stein gegen die Einwirkung der Luft manche hundert
Jahre hindurch schützten Nach Semper's Theorie aber müsste man noth-
wendiger Weise die entgegengesetzte Erscheinung voraussetzen, dass näm-
lich die Stellen des Architravs, die unter den Schilden befindlich waren,
den Ueberzug der Farbe reiner erhalten hätten.

Sodann wird gesagt, dass die vorausgesetzte Farbenkruste den Anschein
einer festen glasartigen Emaille habe und von namhafter Dicke sei; schon
die Dicke und Sprödigkeit dieser Farbendecke verlange, dass das ganze
Monument damit überzogen worden sei, da im entgegengesetzten Falle die
Farbe an den Absätzen sehr bald abgeblättert sein würde. Auch die Rich-
tigkeit dieser Beobachtung, oder wenigstens der aus ihr gefolgerte Schluss
findet in den Berichten andrer Reisenden keine Bestätigung. An dem
erwähnten Tempel zu Rhamnus und andern Monumenten hat man im
Gegentheil zu den Seiten der durch Farbe aufgesetzten Ornamente den
Stein von den Einwirkungen der Luft oder Erde angefressen gefunden,
während die einst oder noch farbigen Stellen unversehrt blieben ''). Die-,
selbe Erscheinung hat sich auch an Statuen wiederholt, die zum Theil
mit enkaustischen Farben versehen waren.

Es ist ferner bereits von K. 0. Müller gegen diese Theorie der Marmor-
Bemalung bemerkt worden, dass man, der bekannten Bau-Inschrift vom
Erechtheum zufolge, die Fläche der Wände erst, wenn sie aus den Stein-
quadern aufgesetzt waren, im Ganzen polirte; dass aber eine solche Politur
unnütz gewesen sein würde, wenn man ihren Glanz wieder durch einen

») Tour de, V. I, f. 344. — Die Alterthüraer von Athen, Tbl. II, c. I,.
Anm. 75. —- '^J Vergl. hiezu, was in den Alterthümern von Attika, C. VI, Anin.
5, gesagt wird.

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I I I. Ueber die Polychromie dor griecliischen Architektur etc. 279

Farbeuüberzug verniclitet hätte').' Noch wichtiger dünkt uns, in Bezug
auf das Erechtheum, der Umstand, dass hier der Fries aus dem grauen
eleusinischen Steine gearbeitet und mit einem Stucküberzuge versehen war:
dieser Theil also erscheint, im Gegensatz des gesammten übrigen Gebäudes,
auf eine Färbung berechnet, die, wie sich später ergeben wird, überall an
den Friesen vorauszusetzen ist^). •

Wie wenig endlich die Wahrnehmungen einer bes'timmten Farbe au
den grösseren Flächen überhaupt sicher sind, gebt schon daraus hervor,
dass, wie wir oben bemerkten, die Cellenwände des Tlieseus-Tempels von
Semper als blau, von Schaubert als gelb gefärbt angegeben werden.

So lange also kein förmliches Gutachten von Chemikern die Goldfarbe
der Athenischen Monumente als Rest eines wirklichen Farbenüberzuges
anerkannt hat, — und wir bezweifeln, dass ein solches erfolgen wird, —
können wir der erwähnten Theorie nicht beipflichten. Somit fallen auch
die etwanigen Gründe, wesshalb die Griechen besonders den Marmor für
ihre voraussetzlich bunten Prachtbauten gesucht ~ weil er vollkommener
zu bearbeiten war, den sonst nöthigen Stucküberzug unnöthig und die
Farben glänzender, durchsichtiger und dauerhafter machte — von selbst
zusammen, Noch unhaltbarer aber ist der Schluss, dass, weil die Grieclien
auf Kostbarkeit des Materials grossen Werth gesetzt, auch das nicht Sicht-
bare an Gehalt dem äussern Glänze habe entsprechen müssen. Diese
Annahme scheint nicht sonderlich in der Natur des menschlichen Geistes
begründet. Uebrigens beweist auch die Erzählung, auf welche Semper zur
Unterstützung seiner Ansicht hindeutet, dass Phidias nämlich für die Statue
der Minerva im Parthenon Marmor dem Elfenbein .vorgezogen, die Athener
aber letzteres, weil es kostbarer war gerade das Gegentheil; das Elfen-
bein sollte nicht etwa in die Statue hineingesteckt, dieselbe auch nicht
einmal massiv daraus gebildet werden; es ward nur als dünner üeberzug
über einen anderweitigen Kern gelegt. — Wenn man aber weisse Marmor-'
Tempel geradehin für hässlich erklärt, so ist das eine Sache des Geschmacks.

Wir können somit nur denjenigen Berichten folgen, welche von einer
Bemalung einzelner Details an den attischen Gebäu(3en "sprechen. Was
jedoch deren Aechtheit, in Bezug auf gleichzeitige Entstehung mit dem
Bau der Monumente, anbetrilTt, so wiederholen wir hier mit vollster Aner-
kennung die Worte Sempers: — dass die gemalten Verzierungen an den
griechischen Monumenten mit den plastisch auf ihnen dargestellten und
überhaupt mit dem Ganzen im höchsten, vollkommensten Einklänge des
Charakters und der Ausführung stehen; dass nur aus der besten'attischen
Kunstperiode Bildungen von so trefiUclier, genauer und zarter Zeichnung
liervorgehen konnten^).

Betrachten wir nunmehr die noch übrigen griechischen Monumente.

Güttingischer gelohrter Anzeiger, 1834, August, St. 140, S. 1390 f. —
Ganz,unhaltbar ist der Grund, der in den Alterthümern von Athen (Tbl. II,
C. 2, Aura. 41) in Bezug auf die Anwendung dieses eleusinischen Steines ange-
geben wird: dass man nämlich versucht habe, ihn an die Stelle des theureren
Marmors zu setzen und dass er hernach, weil er dem Marmor nicht entsprach,
mit einem weissen, Marmor-ähnlichen Stuck überzogen worden sei. Dass der
eleusinische Stein nicht so weiss ist wie der Marmor, musste man füglich schon
vorher gesehen haben. —
Valerius Maximus l. I c. 1. Extern: Exempl. ■—
Semper, a. a 0, 8. 19.

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Autike Polychromie.

Monumente des Pelopouues.

Der Apollb-Tempel zu Bassae in Arkadien soll, nach v. Sta-
kelberg , im Innern Spuren von Farbe zeigen. Namentlich erwähnt der-
selbe jedoch nur des Kapitals der korinthischen Säule, wo der glatte Grund
der Kelchforin, zwischen den grossen Blättern und den Blumen, durch eine
doppelte Reihe gemalter, Schwertlilien-ähnlicher Blätter gefüllt gewesen
sei; der Abakus sei durch einen gemalten Mäander geschmückt gewesen.
Ueberbleibsel von Farbe bemerke man jedoch nicht mehr: „durch Ein-
dringen einer fressenden Beize scheinen die Verzierungen in die glatte
Oberfläche des Marmors eingeätzt gewesen zu sein, so dass eine Rauhheit
und Vertiefung zurückblieb, die sie noch vom Grunde unterschied"
Diese Angabe ist auffallend; insgemein findet man, wie
wir vorhin bemerk-
ten, dass die aufgetragene enkaustische Farbe den Stein umgekehrt noch
mehr gehärtet habe. Sollten jene Vertiefungen hier vielleicht, statt der
Farbe, wiederum an aufgelegte, etwa metallische Zierden erinnern? Leider
versagt der Untergang dieses höchst merkwürdigen Kapitals auch in diesem
Bezüge neue Untersuchungen.

Von dem dorischen Tempelruin zu Korinth, dessen Säulen
mit Stuck überzogen waren berichtet allein v. Stakelberg, dass dieser
Stuck eine Granit-Nachahmung darstelle Dies erscheint bei dem wahr-
haften Charakter der griechischen Kunst auffallend; erst bei den Römern
(wir erinnern an die aus Plinius und Seneca angeführten Stellen) kam
jenes Alfectiren mit kostbar scheinenden Stoffen auf.. Vielleicht ist jedoch

— falls jene Angabe überhaupt ihre Richtigkeit hat — nur an eine roth-
braune Färbung der Säulen, ohne weitere Nachahmung eines besonderen
Materials, zu denken; vielleicht auch gehört dieser Ruin gar nicht in ein
so hohes Alterthum, als man ihm gewöhnlich aufs Gerathewohl zutheilt.
Auf letzteren Punkt werden wir später zurück kommen.

Der Tempel der Minerva auf Aegina, welcher aus einem gelb-
lichen Kalksteine bestand, hatte ebenfalls einen feinen Stucküberzug nur
das Hauptgesims und das Dach waren von Marmor. Die überschlagenden
Glieder am Hauptgesimse und an der Giebelbekrönung waren mit Blättern
bemalt, abwechselnd grün und gelb [oder blau und roth, mit weissen
Rändern ®)], der Rinnleisten mit einem Palmetten-Ornament , die Stirn-
ziegel mit einer Blume [roth, gelb und ein grünlicher Anstrich")], das
Band des Architravs roth, die Riemen und Tropfen blau. Das Tympanum
des Giebels, vor welchem die, ebenfalls mit Farbenspuren versehenen Sta-
tuen standen, war lichtblau. Die-Cella war, nach einzelnen Bruchstücken
zu schliessen, aussen und innen roth gefärbt —

Am Schlüsse dieser Betrachtung der Monumente des griechischen Mut-
terlandes möge noch eine Notiz in Erwägung gezogen werden, auf welche

i

Der Apollo-Tempel zu Bassae, S. 33. — Der Apollo-Tempel zu Bassae,
S. 42. — 3) S. u. a. Dodwell,
tour etc. V. //, p. 192. — A. a. 0. S. 24,
Anm. 83. — Dodwell,
tour etc. V. I, p. 568. — y. Stakelberg, a. a. O.
S. 34. Die Weise, wie hier von Verschiedenen verschieden gesehen wurde, giebt
wiederum ein Beispiel, wie behutsam man in der Benutzung solcher Nachrichten
über die Anwendung besonderer Farben sein muss. — Cockerell: * oji
the
Aegina Marlies,
im Journal of science and the arts. Vol. F/, Art. XV, pl. 1.

— ") Bröndsted, Reisen und Untersuchungen in Griechenland, II. S. 146, Anm 5.

— Waguer's Bericht über die Aeginetischen Bildwerke, S. 217 f.

280

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I I I. Ueber die Polychromie dor griecliischen Architektur etc. 281

Uittorff, zur Unterstützung der von ihm angegebenen Ausdehnung der
Polychromie in der griechischen Architektur, grosses Gewicht legt. Es ist
ein Zeugniss des verstorbenen Dufourny, welches er, von des letzteren
Hand geschrieben, in der Königl. Bibliothek zu Paris vorgefunden, und
welches also lautet: „Herr Dodwell hat mir gesagt, dass er in Griechen-
land mehrere Tempel gesehen habe, deren Säulen mit Stuck bedeckt waren,
so wie an denen von Girgenti, Selinunt u. s. w. in Sicilien. Zuweilen war
dieser Stuck gefärbt, grau, roth und blau, gleich dem von Selinunt." i)
Seltsam, dass Dodwell diese merkwürdige Erscheinung nachmals ganz ver-
gessen haben sollte! In seiner Reisebeschreibung durch Griechenland steht
davon kein Wort. Er gedenkt allerdings des Stucküberzuges an den Säulen
der Tempel von Korinth, Nemea, Aegina und Olympia, erwähnt dabei
jedoch nicht der Farbe und vergleicht im Gegentheil den Stucküberzug bei
den beiden letztgenannten Monumenten mit dem Marmor In Bezug auf
die Reste des Tempels von Olympia äussern dasselbe auch Fauvel '') und
neuerlichst Abel Blouet«). Nur von dem korinthischen Tempel haben wir
die eine Aeusserung Stakelbergs, die wir jedoch ebenfalls nicht ohne
Bedenken hinnehmen konnten. Herr Dufourny muss also wohl nicht recht
gehört oder Herr Hittorff nicht recht gelesen haben.

Ueber etwanige Farbenreste an den ionischen Monumenten Klein-
Asiens ist uns nichts berichtet worden.

Sicilische Monumente.

In der eben angeführten Abhandlung Hittorffs finden wir nur sehr
vereinzelte Andeutungen über wirklich vorhandene Farbenreste an den
sicilischen Architekturen. Ausser dem Stucküberzuge der Säulen, an
welchem — dem Obigen zufolge — wirklich Farbenspuren gefunden zu
sein scheinen, erwähnt er im Allgemeinen nur der Gebälke, an denen
sich bemalter Stuck befinde, und besonders der aus härterem Stein gebil-
deten Kranzgesimse, deren obere Glieder gewöhnlich mit gemalten und
plastischen Ornamenten verziert seien ; ferner eines Antenkapitäles mit
Spuren von Blau zu Selinunt und Dachziegel, in Sicilien und zu Pästum
gefunden, deren einige auf der oberen und unteren Fläche bemalt waren
(im Innern des Gebäudes also durch keine horizontale Decke verdeckt
wurden), während andre nur auf der äusseren Fläche Farben enthielten').
Einzelne Monumente, von denen bis jetzt Näheres berichtetist, sind folgende:
Der kleine-viersäulige Prostylos auf der Burg von Seli-
nunt, welchen Hittorff den Tempel des Empedokles nennt und dessen
Restauration die angeführte Abhandlung gewidmet ist. Das ionische Kapitäl
dieses seltsamen Monumentes bestand aus härterem Stein, ohne Stucküber-
zug; es zeigte verschiedene Farbenspuren, vornehmlich an den plastisch
gearbeiteten Eierstäben. In den Metopen des Frieses fanden sich, ausser
den „Lokalfarben",(?) sehr leichte Spuren von Blau und Gelb; ebenso am
Architrav von rothen, grünen und blauen Tönen In seinem Prachtwerke

De l'architecture polychrome etc. in den Annali delV imtituto di corrispon-
denza archeologica Vol, IT, pag. 268. — 2) Tour etc. V. II, p, 192, 208; I,
Ö68];
n, 335. —. ■■») Die Alterthüiner von Athen, Tbl. II, c, I, Anm. 52. —
•') Expedition scientißque de Moree, pl. 71. — S) Annali delV imtituto ctc. p. 269,
271. -
6) Ebeudas. p. 268. ~ '') Ebendas. p. 276. — ») Ebeudas. p. 268 f.

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282 Autiko Polychromie.

über die sicilisclien Architekturen giebt Hittorff eine farbige Restauration
von dem Gebälke dieses Gebäudes. Hier erscheint dasselbe in seinen
Hauptmassen gelb gehalten; einige Glieder unter der Hängeplatte bräunlich-
roth; die Dielenköpfe und die Riemen mit den Tropfen (unter den Tri-
glyphen) blau; die Metopen bräunlich mit einer Verzierung von gelben und
blauen Blumen; der Architrav mit Blätterwindungen von grünen, blauen
und rothen Farben auf dem gelben Grunde i). Diese Restauration ist eini-
gen farbigen Terraco'tta-Fragmenten, die zu Acrae in Sicilien gefunden
sind, nachgebildet

Der Peripteros auf der Burg von Selinunt, nördlich von
dem ebengenannten Tempelchen, zeigt in dem Grunde einiger
Metopen (an deren Reliefs sicli ebenfalls Farbenspuren vorgefunden) einen
rothen Grund und auf dem darüber hinlaufenden Bande einen Mäander,
gleichfalls von rother Farbe

Von dem grossen P seudodipteros auf der Nordseite des
östlichen Hügels von Selinunt theilt Hittorff einen höchst seltsam
gestalteten Rinnleisten mit: ein breites Band mit reicher plastisch vorra-
gender Palmettenverzierung; als Bekrönung ein überschlagendes Glied mit
Blättern; drüber ein schmaleres Band mit einem Mäander (ebenfalls plastisch)
und als oberste Bekrönung wiederum ein Blätterglied: alles dies in seiner
Restauration aufs Bunteste mit verschiedenen Farben bemalt^).

Der Peripteros auf der Südseite desselben Hügels. An
diesem Tempel sind die bedeutendsten Farbenspuren erhalten. Das Gebälk
im Aeusseren wird folgender Weise vorgestellt: Die Hängeplatte gelb; das
krönende Blätterglied über derselben bunt (grün und roth mit weissen Rän-
dern): der Streif unter der Platte roth; die Dielenköpfe mit den Tropfen,
sowie die Triglyphen, blau; die Metopen roth, und der Mäander auf dem
Bande über den Metopen gelb auf rothem Grunde. Der bunte Rinnleisten
über dem Kranzgesimse ist nach einem zu Metapont in Grossgriechenland
gefundenen copirt, jedoch nicht auf genaue "Weise.— Der Fries im Inneren
des Peristyls enthält ein breites gelbliches Band mit buntem Palmetten-
Ornament (gelb, blau und roth); darüber eine Blattbekrönung, grün und
roth. Die Balken der Decke sind röthlich; die Deckplatten ebenso, mit
rothen Bändern; die Eierstäbe der Cassetten gelb, blau und roth; der
Grund der letzteren blau mit gelben Sternen

Italische Monumente. ^

Ueber Grossgriechenland fehlt es uns hier fast gänzlich an Nach-
richten; wir wissen bis jetzt nur einiges Wenige über Metapont und Pästum.

Architecture antique de la Sicile par Hittorff et Zanth, pl. XVII. —
Annali etc.
a. a 0, p. 270. Eiu erklärender Text zu dem genannten grossen
Kupferwerke Hittorffs ist nöcb nicht erschienen. Ich weiss nicht, ob eine
Aeusserung Semper's uns ermächtigt, die Aechtheit der obigen HittorfF'schen
Kostauration zu bezweifeln. „Es giebt." sagt S., „antike Terrakotten in Sicilien,
die entweder treu nach einem von Herrn Hittorff restaurirten Tempel
zu Selinus kopirt worden, oder dieser nach ihnen." (Vorläufige Bemerkun-
gen. S. 35, Anm.) — •'')
Architecture ant. de la Sic.pl. XXIV, XXV. — Eben-
das. pl. XLVH. Eine Copie davon in Mauch's Fortsetzung der vergleichenden
Darstellung der architektonischen Ordnungen von Normand; Titelblatt, flg. 3. —
Arch. ant. de la Sic. pl. XL. Copie des äusseren Gebälks bei Mauch a. a,
0. flg. 1.

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I. lieber die Polychroinie der griechischen Architektur etc. 283

Metapont. Hier sind unter den Ruinen, welche gegenwärtig den
Namen der Chiesa di Sansone führen, verschiedene Terracotta-Fragmente
mit eingebrannten Farben gefunden worden. Die einen gehören einem
Rinnleisten, die andern vermutlilich einer Bekleidung des inneren Gebälkes
an. Der Rinnleisten ist von eigenthümlicher, aber schöner Form, eine ste-
hende Welle mit einem Riemen gekrönt; letzterer mit einem Mäander, die
Welle zuoberst mit Blättern (wie sonst an den überschlagenden Gliedern)
darunter mit schönen Palmetten bemalt. Das Gebälkstück ist mit einem
reichen Mäander geschmückt, über dem sich ein Perlen- und Eierstab,
unterhalb eine Blätterverzierung hinzieht; auf der Unteransicht desselben
ein reich verschlungenes Band, mit Stäben eingefasst. Alle diese Ver-
zierungen sind mit rothen und schwarzen Farben (letztere von verschie-
dener Tiefe), zuweilen auch mit gelben gemalt; der Grund ist ein gelbliches
Weiss. Es liegt in dieser Zusammenstellung der Farben ein eigenthüm-
licher, fast trüber Ernst, dem es gleichwohl nicht an Harmonie im Ein-
zelnen fehlt. Auch an den Löwenköpfen, welche man vorgefunden,, und
die ohne Zweifel zum Rinnleisten gehörten, waren die Mähnen gelb, die
Mäuler und Augenränder roth und die Augensterne mit einer dunklen
Farbe bemalt i).

Zu Pästum haben sich, in der Basilika (dem sogenannten Doppel-
tempel) , an den merkwürdigen Kapitälen der viereckigen Pfeiler, Spuren
einer Blätterbemalung vorgefunden — Geringe Farbenreste hat Hr. Manch
ebendort auch an dem kleinen Tempel entdeckt-').

Die Ruinen von Pompeji zeigen dagegen sehr zahlreiche Beispiele
einer ausgedehnten Anwendung von Farbe in der Architektur. Nicht nur
die Wände hinter den Perlstylen, sondern auch die Säulen erscheinen hier
häufig bemalt; und zwar die letzteren in der eigenthümlichen Weise, dass
das untere Drittel (welches häufig uncanellirt ist) in dunklerer Farbe, in
der Regel blau, der obere Theil heller, roth oder gelb, gehalten ist. Dahin
gehören die grossen Portiken am Haupt-Forum und am Forum Nundinarium,
der Peristyl des Venus-Tempels westlich vom Forum, die Säulenstellun-
gen in den Höfen vieler Privatwohnungen, namentlich im Hause der Vestalen,
des Aktäon, des Pansa, der Dioskuren, des tragischen Poeten, u. s. w.
Ebenso zeigen die Details der Kapitale und des Gebälks vielfache Spuren
von Bemalung*). Auch jener phantastischen Architekturen, welche man
in pompejanischen Wandmalereien dargestellt findet, ist hier zu gedenken:
die im Vordergrunde dargestellten sind gewöhnlich gelb (zuweilen mit
dunkelfarbigen Säulen): der Fries aber insgemein durch eine besondere Farbe,
blau oder roth, ausgezeichnet und mit gelben Ornamenten geschmückt®).

Auch in Rom findet man an den antiken Gebäuden verschiedene
Ueberreste von Farbe. Namentlich hat Hr. Semper das Verdienst, auf
dem Grunde der Trajanssäule einen blauen Farbenäberzug entdeckt zu
haben, auf welchem die Reliefs, die sich zum Gipfel der Säule emporwin-

') Metaponte, par le Duc de Luynes et F. J. Debacq, architecte, pl. Vfl,
VJII. Die Hittorif'sche Darstellung des lünnleistens, a. a. 0., verdirbt dessen
eigenthümlichen Eindruck ganz. ~ v. Stakelberg, der Apollo-Tempel zu Bas-
sae, S. 39. — ■') Fortsetzung der vergl Darst. der architekt. Ordnungen von
Normand, S. 2. — *)
Mazois, Antiquites de Povipei. Pompejana hy Gell and
Gandy 1817—19; hy Gell, 1832.
U. a. m. — Vergl. insbesondre: Zahn, die
schönsten Ornamente und merkwürdigsten .Gemälde aus Pompeji, Herkulanum
imd Stabiae, a. m, 0.

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284 Antike Polychromie.

den, wahrscheinlich durch glänzende Vergoldung abgehoben waren. Eine
Untersuchung, -welche in Folge dieser Entdeckung durch eine Gesellschaft
von neun Architekten vorgenommen wurde, hat dieselbe bestätigt').

Noch ist endlich einiger etruskischen Gräber zu gedenken, deren
Inneres (wie in den zu Bomarzo, Canosa, Corneto gefundenen) häufig mit
gemalten architektonischen Zierden versehen war'^j. Merkmtirdig ist nament-
lich das jüngst aufgedeckte Grab zu Corneto, dessen Decke von einem vier-
eckigen und mit Tritonen bemalten Pfeiler getragen wird. Unter diesen
Tritonen ist ein dorischer Fries gemalt: blaue Triglyphen, an welchen (ohne
vermittelndes Band) unmittelbar die Tropfen hängen; die Schlitze weiss
und roth getheilt, um die sonst vorhandene plastische Wirkung nachzu-
ahmen; die Metopen nach oben und unten von einem rothen Bande ein-
gefasst und mit, ebenfalls gemalten, Rosetten geschmückt. Der Gesammtfries
des Grabes ist roth mit weissen Rosetten, darüber eine blaue Wellenver-
zierung und unterhalb weisse Zahnschnitte mit schwarzen Zwischräumen;
alles dies ebenso nur gemalt, — Auch gehören hieher die zu Veiletri
gefundenen Terracotten, welche zur Bekrönung eines Gebäudes dienten;
blaue Friese mit bunten Reliefs und mit einem eigenthümlichen Rinnleisten
von gelblicher und röthlicher Farbe

3. Die Formen der Architektur.

Während wir bei den attischen Frachtbauten der blühendsten Kuust-
periode keine unwiderleglichen Beweise vorfanden, dass hier eine Poly-
chromie in der vorausgesetzten weiteren Ausdehnung angewandt worden
sei, so können wir in der That nicht umhin, die Reste einer solchen in
Sicilien und Italien, auf gewisse Weise vielleicht auch im Peloponnes,
anzuerkennen. Dürfen wir nun von diesen Gegenden auf Attika zurück-
schliessen und hier etwa nur eine geringere Erhaltung des farbigen Schmuckes
annehmen ?

Eine genauere Betrachtung der Formenbildung an den Monumenten der
verschiedenen Länder, in welchen griechische Kunst heimisch geworden
ist, wird uns jedoch im Gegentheil leinen, dass die Kunst sich, je nach
diesen verschiedenen Gegenden, verschieden modificirt hat, dass wir in
einer jeden ein besonderes Princip vorherrschend sehen, und dass wir kei-
neswegs befugt sind, von der einen auf die andre, am Wenigsten von der
minder begabten auf diejenige zu schliessen, in welcher die Kunst sich am
Edelsten entfaltet hat. Wir sind hier genötliigt, ein Gebiet zu betreten,
auf welchem noch wenig vorgearbeitet ist; man möge somit die folgende,
zur Aufliellung dieses Punktes nothwendige Abschweifung entschuldigen.

Pelasgische, ionische und orientalische Monumente.

Von der Weise, wie die pelasgische Vorzeit Griechenland's ihre Archi-
tekturformen gebildet, ist uns leider sehr wenig bekannt. Jedoch giebt
uns jenes schon erwähnte Säulenfragment, welches zu Mycenae vor dem

') Semper, Vorläufige Bemerkungen etc, ß. 37. Vergl. Museum, Blätter für
bildende Kunst, 1833, No. 38. —
Monurnenti inediti, pubblicati dalV Insti-
tuto di cürrispondenza archeologica V. 1, T. XLH; T. XLIJI; V. //, T. III,
IV. — Inghirami: Monurnenti etruschi, S. VI, tv. T. X, 4.
— Neuere
Reisende haben uns eiue weitere Bestätigung dieser Erscheinung gegeben.

-ocr page 297-

2

285

r. lieber die Polychromie der griechisclien Architektur etc.

Schatzhaiise des Atreus" gefunden ist'), wenigstens ein höchst beachtens-
werthes Beispiel. Indem wir von der gewundenen und im Zikzak umher-
gefülirten Dekoration dieses Fragments abseilen, ist es besonders die Profi-
lining in den Cliedern der wohlerhaltenen Basis, die hier unser Interesse
in Anspruch nimmt.

Ein starker Pfühl von etwas gedrücktem Profil bildet den vornehmsten
Theil derselben; über ihm erhebt sich ein anderes Glied, ein liegender Hohl-
leisten (nach Pomardi's Zeichnung bei Dodwell) oder ein leicht geschwunge-
nes Karnies (nach Donaldson), als Anlauf an den Schaft der Säule. Ein
Hohlleisten setzt unmittelbar unter dem Pfühl an und bildet den IJeber-
gang zu der Plinthe, auf welcher die Basis steht. Es liegt in dieser Zusam-
mensetzung der Glieder etwas ungemein Weiches, um nicht zu sagen:
Schwankendes, welches den Anforderungen einer strengen Elasticität, die
wir in der Formirung der Säulenbasis suchen, kaum entspricht, und welches
wir, bei der'Bedeutsamkeit dieses Theiles, mit vollem Rechte als charak-
teristisch für diejenige Architektur, davon er ein Ueberrest ist, ansehen
dürfen. Wir wollen diese Basis, der bequemeren Uebersicht wegen, die
pelasgische nennen.

Eine gewisse Verwandtschaft mit dieser pelasgischen Basis zeigt die
ionische, vornehmlich die altionische, wie wir sie aus den Resten des
grossen Juno-Tempels von Samos kennen®^), dessen Umbau (erwar früher
dorisch) nicht füglich später, als in die Zeit des Polycrates gesetzt werden
kann, also beträchtlicli vor die Blüthezeit der Kunst im griechischen Mut-
terlande fällt. In dieser altionischen Basis fehlt zwar jener obere Anlauf,
und die Gesammtausladung ist somit beträchtlich verringert; doch ist das
Princip, welches der Formation der übrigen Glieder zu Grunde liegt, eben
dasselbe: ein Pfühl und eine Hohlkehle, welche letztere freilich vergrössert
und (der geringeren Gesammtausladung wegen) in selbständiger Kraft unter
dem Pfühle vortritt. Die fast überreichen Canellirungen beider Glieder
jedoch deuten hier wiederum auf den reichen Schmuck der pelasgischen
Basis zurück. Die spätere, eigentlich sogenannte ionische Basis, welche
zwei kleinere, nicht canellirte Hohlkehlen an die Stelle der einen grösseren
und canellirten setzt — in ihren verschiedenen Bildungen am Apollo-
Tempel zu Didymö und am Minerven-Tempel zu Priene — ist nur
als eine weitere Ausbildung jener zu betrachten.

Auf der andern Seite zugleich ist eine Uebereinstimmung in dem Profil
eben dieser altionischen Basis mit dem der persischen ah den Säulen
von Persepolis nicht zu verkennen, an deren Schäften zugleich die ioni-
schen Canellirungen, sowie an den Kapitalen die ionischen Voluten (diese
nur in andrer Anordnung) enthalten sind, sowie auch das ionische Gebälk
in seiner eigenthümlichen Durchbildung (nur mit Ausnahme des griechischen
Frieses) an den Felsgräbern oberhalb Persepolis vorkommt Und wie-
derum können wir auf keine Weise annehmen, dass diese Formen von den
Persern, einem ungebildeten, kriegerischen Volke erfunden seien; sie können
dieselben nur, sammt den übrigen Elementen ihrer Cultur, von denMedern
empfangen haben, so wie diese auf gleiche Weise von den Babyloniern.
Für ein so hohes Alterthum dieser persischen Formen spricht zugleich die

a.

') S. oben S. 274; Anm. 1. — Altertliümer von Jonien, c. V, T. 5. —
Ker Porter ^
Travels in Georgia, Persia, Armenia, ancient Babylonia etc. V,

1, pL 45. Ur

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286

Autike Polychromie,

völlige Ausartung, in weicher sie auftreten, namentlich die verworrene und
überladene Weise, in welcher die Volutenkapitäle angeordnet sind. Wir
finden hier also die Spuren einer hochalterthümlichen orientalischen Formen-
bildung und einen leisen Zug von Verwandtschaft mit der altgriechischen.

Als aber der klar durchgebildete attische Geist diese Formen zur
Anwendung brachte, so hauchte er auch ihnen den Adel und den Ernst
ein, welcher Alles charakterisirt, was in der glücklichen Zeit des Perikles
gedacht und gebildet ward. Man vergleiche vornehmlich die straffe, gleich-
mässig elastische Form der attischen Basen am Erechtheum und
am Hiss
US-Tempel mit denen der Gebäude im ionischen Klein-Asien.
Auch die ungemein anmuthige, leicht elastische Form des ionischen
Antenkapitäles scheint eine attische Erfindung, während die, freilich
nur vereinzelten Beispiele dieses Details an den besseren Monumenten Klein-
Asiens (an den Propyläen zu Priene und am Apollo-Tempel zu Didymö)
eine Form usurpirt zu haben scheinen, die mehr der selbständigeren Säule
angemessen ist').

Monumente des Peloponnes.

Nach einer andern Seite hin finden wir eine Reminiscenz jener pelas-
gischen Basis an den Basen der ionischen Halbsäulen im Innern des Apollo-
'Fempels von Bassae in Arkadien Ueber einer Hohlleiste von höherem
Verhältniss erhebt sich hier ein Pfühl, an welchem der Schaft mit einem
Anlauf von-beträchtlicher Ausladung, jenem Obergliede der pelasgischen
Basis sehr ähnlich, ansetzt. Auch die etwas reicher zusammengesetzte Basis
der einzelstehenden korinthischen Säule dieses Tempels enthält eine ver-
wandte Formenbildung. Von der ionischen Ordnung kennen wir bis jetzt
leider keine weiteren Beispiele im Peloponnes

Die äussere Ordnung des genannten Tempels ist dorisch, doch wiederum
mit gewissen, von den attischen Gebäuden abweichenden Eigenthümlich-
kelten. Was zuerst die Form des Säulenkapitäles betrifft, so ist das Profil
des Echinus in einer etwas schwereren Linie gezeichnet, und derselbe ladet
in seinem äussersten Punkte gleichweit mit dem Abacus aus, während
letzterer bei den attischen Monumenten stets um ein Weniges vorspringt.
Auch hat der Hals hier drei Einschnitte, bei den genannten Monumenten
stets nur einen.

Dieselbe Eigenthümlichkeit zeigt sich an den Säulen des Jupiter-Tem-
pels von Olympia*).

m

V
lUi

I

') Die besondere Schönheit des genannten Kapitales von Didymö, unter den
Verhältaissen in welchen dasselbe dort angewandt war, sind wir durchaus ent-
fernt zu verläugneu. Nur scheint es in der That, und es wird sich noch weitere
Bestätigung finden, als ob man sich dieser Form auch, wie eben zu Priene, unter
Verhältnissen bediente, wo nur ein leichtes Kopfgesims schön sein konnte. Die
römischen Pilasterkapitäle geben uns hinlängliche Beispiele eines solchen Miss-
brauches. — '■) Vergl. über diesen Tempel: Donaldson, im Supplement zu den
Alterthümern von Athen, c. III; und Abel Blouet,
Expedition scient. de Moree,
V. II, pl. 4—29.
In Arkadien hatte sich bekanntlich am meisten Pelasgisches,
nach der sogenannten Einwanderung der Dorier, erhalten. — Von dem Tempel
der Minerva Alea zu Tegea in Arkadien, der im Aeusseren einen ionischen
Peristyl hatte, im Inneren von dorischer Ordnung und mit einer korinthischen
Gallerle versehen war, sollen noch Reste vorhanden sein. Zur Zeit ist uns über
dieselben leider noch nichts Näheres bekannt. — Vergl. Abel Blouet, a. a. 0.
V. I, pl, G2—78. • .

5«.' ■■

m

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I. Ueber die Polychromie der griechischen Architektwr etc. 281

Ebenfalls abweichend sind sodanu die Antenkapltäle beider Tempel,
und zwar in ihren Haupttheilen sehr einfach gebildet; der untere Theil ist
nur ein einfaches breites Band. Statt der Deckplatte jedoch erscheint hier
die weichere Form der Hohlleiste, und das darunter befindliche überschla-
gende Glied gleicht, bei denen von Olympia, in dem Profil seines oberen
Theiles nicht, wie gewöhnlich, einem Viertelstabe, sondern einer stehenden
AVelle. Ob dieser letztere Umstand auch an den Anten des Tempels von
Bassae Statt gefunden, dürfte noch nicht mit Gewissheit auszusprechen
sein Die höchst eigenthümliche und charakteristisch weiche Zusammen-
stellung von Hohlleiste und "Welle kehrt mannigfach und in verschiedener
Anwendung an den ionischen Gebäuden Klein-Asiens wieder 2). Ebenso
scheint auf ein gewisses verwandtschaftliches Verhältniss zu asiatisch-ioni-
schen Monumenten der karniesförmige Rinnleisten des Giebels an dem
Tempel von Bassae hinzudeuten '').

Sehr naheliegend zwar scheint hier die Bemerkung, dass auf die eben
angegebenen Unterschiede kein sonderliches Gewicht zu legen sei, da Pau-
sanias berichtet, dass Ictinus, der Baumeister des Parthenon zu Athen, auch
den Apollo-Tempel zu Bassae erbaut habe ■•). Damit ist aber noch nicht
gesagt, dass er auch die Details der Formen vorgezeichnet, "Wir müssen
allerdings annehmen, dass er, jener einfach bestimmten Angabe zufolge, den
Plan des Gebäudes, die Bestimmung der d^m Parthenon ähnlichen schönen
Verhältnisse angeordnet und die Oberaufsicht bei der Arbeit geführt habe;
jene besondere Ausführung der Details hingegen werden wir, bei^ ihrer
Uebereinstimmung mit den Resten des olympischen Tempels, wohl am F(ig-
lichsten einer, durch Herkommen und Satzung gebundenen Schule zuschrei-
ben. Eine grosse Bestätigung dieser Annahme finden wir in den Nachrichten
eines andren Baues, den Ictinus geleitet, des Ceres-Tempela in Eleusis
wo die Arbeit der einzelnen Werkmeister von solcher Wichtigkeit war,
dass Plutarch -nur dieser, je nach den einzelnen Theilen, die sie ausgeführt,
aber nicht des Ictinus erwähnt

Eine mit den dorischen Säulenkapitälen jener beiden Tempel verwandte
Eigenthümlichkeit finden wir in den Ueberresten des Tempels von Korinth.
Zwar sind hier die Säulen ungleich stämmiger und mehr verjüngt und der

') Donaldson und Abel Blouet geben zwar das , erwähnte Prolll in Gestalt
eines Viertelstabes; der Verfasser erinnert sich jedoch, unter Hrn. Semper's
genauen Zeichnungen dasselbe als Welle dargestellt gesehen zu haben. Hoffent-
lich wird die baldige Erschelmmg des von Hrn. S. angekündigten "Werkes diesen
Umstand ins Klare bringen. — ®)*Ein Antenkapitäl von verwandter Bildung,
nur von ungleich grösserer Schwere des Hohlleistens hat sich auf Bei es gefun-
den, und Stuart (Tbl. III, c. 12) meint, dass dasselbe zu dem Porticus des Königs
Philipp von Macedonien gehört habe. Auch sonst sind ähnliche Formationen der
Glieder an Fragmenten delischer Architektur nicht selten. Die Aehnlichkeit, die
man zwischen den Antenkapitälen des "Windethurms zu Athen sammt denen der
dazu gehörigen Wasserleitung (Stuart, Thl, I, c. 3,.und Thl- III, c. 9) mit den
obengenannten linden möchte, ist zu gering, um hierauf ein Gewicht zu legen;
jedenfalls aber gehört das Gebäude in eine beträchtlich spätere Zeit, wo die
Reinheit der ursprünglichen Formen bereits durch die verschiedeH*artigsten gegen-
seitigen Einflüsse ausgelöscht war. — Die ionische Ordnung neben den inneren
Propyläen von Eleusis (Altertbümer von Attica, c. III, T. III), welche eiuen ebenso
gebildeten Kinnleisten zeigt,»gehört, sammt den meisten jener Monumente, einer
späteren Zeit an. Der Beweis weiter unten. — *) Fausan. l.
VIII, c. XLt, 5.
™ ') VÜTUv, l. Vn, praef. Strabo, l. IX. — Flut, in Pericl. c. XIII.

i

-ocr page 300-

Antike Polychromie.

Echinus des Kapitals ladet somit stärker (in einer mehr gegen die Hori-
zontale geneigten Linie) aus; aber auch diese Linie hat jenen weicheren,
schwereren Charakter und springt gleichweit mit dem Abakus vor. Ebenso
hat der Hals auch hier drei Einschnitte, wie an den genannten Monumen-
ten. Man .hat aus den niedrigen Verhältnissen und den eben angegebenen
Formen auf ein hohes Alter dieses Gebäudes geschlossen, und im Allge-
meinen bezeugt es der Entwickelungsgang der Baukunst, dass sie vom
Schwereren zum Leichteren fortschreitet;, doch sind hier einige andre
Umstände nicht ganz 'ausser Acht zu lassen. Auffallend ist nämlich die
rohe "Weise wie die Einschnitte des Halses, besonders aber die Riemchen
unter dem Echinus des Kapitals gebildet sind'). Das Profil der letzteren
ist nur aus geraden Linien zusammengesetzt, was so wenig jener weich-
geschwungenen Form des Echinus entspricht, als 'es irgend an andren der
älteren dorischen Tempel (auf der Burg von Selinunt in Sicilien und zu
Aegina) vorkommt; im Gegentheil finden sich die geradlinigen Profilirungen
der Art wesentlich erst in den Zeiten des Verfalls der griechischen Kunst.
Vielleicht dürfte dieses Gebäude demnach in eine spätere Zeit der Kunst,
etwa in das dritte Jahrhundert v. C. G., zu setzen sein, da man absichtlich
alterthümliche Formen, welche man vorgefunden, aber nicht mehr vollkom-
men verstanden hatte, wiederum in Anwendung braciite. Mit Bestimmtheit
werden wir dieselbe Annahme von dem Minerven-Tempel auf der Ortygia
zu Syrakus, der viel Verwandtes niit den korinthischen Besten und nur
ungleich mehr Erhaltenes zeigt, durchführen können.

Die übrigen bisher bekannt gewordenen peloponnesischen Reste, von
Nemea, Messene u. s. w. gehören, in ihren meist charakterlosen Formen,
einer späteren Zeit an, welche die ursprünglichen Eigenthümlichkeiten
bereits verwischt halte. Gleichwohl ist auch hier, zu Messene, ein jüngst
entdeckter dorischer Tempel in antis zu erwähnen , dessen Kapitale in
dem starken kehlenartigen Anlaufe unter den Riemen an ein besonderes
alterthümliches Motiv erinnern, welches im Westen, besonders zu Metapont,
seine älteren Vorbilder zeigt.

Noch ist hier endlich ein sehr wichtiges Monument zu berücksichtigen,
welches, als in nächster Nachbarschaft zum Peloponnes gelegen, auch in
gegenseitigem Verhältniss mit dessen Architekturen steht, — der Minerven-
Tempel auf Aegina. Ein gewisses höheres Alter desselben, als noch vor
die Kunstblüthe der perikleischen Zeit fallend, ist dem Styl seiner Giebel-
statuen zufolge mit Bestimmtheit anzunehmen. Hier hat das Kapitäl der
Säulen wiederum eine ähnliche Bildung, wenngleich die Linie des Echinus
an sich minder schwer geschwungen ist. Ebenso zeigt der Hals dieselben
dreifachen Einschnitte. Alterthümlich und den älteren Monumenten ver-
wandt, zeigt sich hier ferner das Kranzgesims, indem die hängende Platte
von einem beträchtlich schweren überschlagenden Gliede bekrönt wird und
der Streif zwischen der Platte und den Dielenköpfen ebenfalls von einer
bedeutenden Breite erscheint. Nur das Antenkapitäl dieses Tempels hat
nichts Näheres mit jenen von Bassae und Olympia gemein; dies ist in der-
selben strengen und schweren Weise, wie an den meisten sicilischen Monu-
menten gebildet •'').

288

Suchen wir aus dem Vorigen nunmehr (wie wir vornehmlich durch die

2) Abel Bleuet a. a. 0. V. I,

SSB

') Alterthümer von Athen, Thl. III, c.' 10.
2>l. 34. — Alterthümer von Jonien, c. VI.

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1. lieber die Polychromie der griechischen Architektur etc, 289

Berühmtheit der Tempel von Olympia und Bassae berechtigt sind) die Eigen-
thümlichjieiten der peloponnesischen Architektur zu bestimmen, so finden
wir fürs erste ImAeusseren der Monumente einen Dorismus von schwererer
und vermuthlich mehr alterthümlicher Art, der sich besonders in den Säu-
lenkapitälen (den geschlechtlichen Erkennungszeichen der Baustyle) ent-
schieden ausspricht. Alles deutet hier, — die stark ausladende und ausge-
bogene Form des Echinus, die dreifache Zusammenziehung des Halses, —
noch auf einen Aufwand von Kraft, der sich der verhältnissmässigen Mittel
zur Erreichung seines Zweckes noch nicht vollkommen bewusst wurde.
Dagegen verhehlt sich in den mehr zurückliegenden Theilen der Archi-
tektur, in den Kapitalen der Anten und namentlich im Inneren der Tempel,
eine orientalisirende Weichlichkeit, — ein Ueberrest der diesen Gegenden
ursprünglich einheimischen pelasgischen Cultur, der mit jener dorischen
Formenbildung geradezu in Widerspruch steht. An der GiebelbekrÖnung
des Tempels von Bassae hat derselbe sogar dem Aeusseren frei seinen Stem-
pel aufgedrückt. Nur auf Aegina sind diese disharmonischen Motive ent-
schieden verschmäht worden, und es zeigt sich jener strenge Dorismus hier
in grösserer Consequenz durchgeführt.

Sicilische und italische Monumente.

An den Monumenten von Sicilien und ünteritalien zeigen sich im All-
gemeinen die Motive eines schweren, gedrückten Dorismus vorherrschend,
wie. wir uns denselben bei seinem ersten Auftreten etwa vergegenwärtigen
dürfen. Doch sind wir dadurch nicht berechtigt, allen in Rede stehenden
Gebäuden der Art ein bedeutenderes Alter, als den sonst in Griechenland
bekannten des dorischen Styles zuzuschreiben; bei verschiedenen flndeti
wir die deutlichsten Merkmale einer späteren Erbauungszeit. Wir müssen
im Gegentheil annehmen, dass diese schweren, im Einzelnen sogar halb-
barbarischen Formen eben dem Charakter und der Gefühlsweise des Volkes
angemessen waren, und dass man in der Folgezeit, als von Attika aus ein
reineres Licht sich verbreitete, davon weder abgehen mochte noch konnte.
Nur wenige Gebäude bilden im Einzelnen eine Ausnalmie.

Als ältere Monumente Siciliens erscheinen die beiden nördlich gele-
genen Tempel auf der Acropolis von Selinun't'). Schon ihr Gebälk
ist von eigenthümlich schwerer Formation. Ein überschlagendes Blattglied,
beträchtlich höher als die Hälfte der Häugeplatte, bildet deren BekrÖnung.
Die Dielenköpfe sind ebenso von bedeutender Dicke und laden nach ihrer
vorderen Seite in einer schrägen Linie aus, so dass sie wie eine Last au
der Platte hängen. Auch sind sie wechselnd breiter und schmäler: über
den Triglyphen von je 6, über den Metopen von je 3 Tropfen in der
Breite. Die Schlitze der Triglyphen schliessen nach oben zu nicht in der
bekannten leichten Schwingung, sondern in einem massenhaften Bogen, der
an dem ersten Tempel einem Halbkreisbogen, an dem zweiten sogar einem
Spitzbogen gleicht. Der Echinus der Kapitale ladet bei beiden stark, in
einer quellenden, wulstigen Linie aus. Darunter bildet sich eine HohJ-
kehle, die minder entschieden bei dem zweiten Tempel, bei dem ersten
aber stark eingezogen ist. Die Reliefs in den Metopen des zweiten Tem-
pels haben ebenso etwas ungemein Plumpes und Schwerfälliges; dass sie

'■) HittorfT et Zauth, Architecture antique de la Sicile, pL. XIX—XXXIX.

Kugler, Kleine Schrifleii. I. 19

I

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290 Autike Polychromie.

jedoch in einer namhaft früheren Zeit vor den Sculpturen des äginetisclien
Tempels (welche bekanntlich eine entschiedene Bezugnahrae auf.die Per-
serkriege verrathen) gearbeitet sind, dürfte durch diesen Umstand an sich
nicht zu erweisen sein.

Aehnliche Motive, in vielen Punkten jedoch mehr gemässigt, zeigen
auch die übrigen Haupt-Tempel von Selinunt. An dem grossen Pseudo-
dipteros auf der Nordseite des östlichen Hügels 0 ladet der Echinus des
Kapitals sehr bedeutend, gleichwohl bereits in einer nicht ungefälligen
Linie aus. Auch hier bildet sich unter den Riemchen desselben eine Art
Kehle. Aber der Rinnleisten, welchen Hittorif als zu diesem Tempel
gehörig mittheilt, zeigt in der Zusammensetzung seiner Glieder den völli-
gen Mangel eines gesunden Princips. — An den Säulenkapitälen des Tem-
pels, welcher ebendort auf der Südseite liegt zeigt die obere Schwingung
des Echinus eine gewisse Abplattung, welche die sonst nicht unschöne
Linie desselben wiederum verdirbt. Die Ante hat hier ein ungemein
schwerfälliges Kopfgesims, indem der Hals derselben, welcher keine wei-
teren Glieder zeigt, beträchtlich gegen das drüber befindliche Glied vor-
tritt. Dies ist der Tempel, von welchem Hittorff die reichsten Malereien
gieht. — Von einer schönen Linie ist der Echinus der Säulen an dem süd-
lichsten Tempel der Burg ; aber hier sind wiederum die Riemchen des-
selben sehr flach gehalten und ohne Verhältniss zu den breiten Einschnitten
des Halses.

Verwandte Eigenthümlichkeiten zeigen sich zu Agrigent. An den
Halbsäulen des grossen Jupiter-Tempels ladet der Echinus zwar nicht
sehr stark, doch in einer weich gebogenen Linie aus und herrscht beträcht-
lich über den Abakus vor; auch sind seine Riemchen sehr stumpf profllirt.
Die Basis, oder vielmehr das an Wänden und Halbsäulen fortlaufende Fuss-
gesims, ist von ungemein roher Formation, nur aus allerlei vor- und zurück-
springenden Platten und Bändern zusammengesetzt, deren oberstes durch
starke Unterkehlung einer Mauerbekrönung gleicht, statt den Träger einer
grossen Last darzustellen. — Die sogenannten Tempel der Juno und C o n-
cordia^) haben schönere Linien des Echinus, aber wiederum flache und
stumpfe Riemclien neben starken Einschnitten des Halses. Die Ante des
letzteren ist in der oben erwähnten schweren Form.

Der Echinus an dem Tempel von Egesta®) wiederholt jene weiche,
etwas wulstige Form. Die Hängeplatten sind hier mit Welle und Riemen
gekrönt und die des Giebelgesimses von einem geradlinig schrägen Gliede
getragen, welches beides schon als Motiv einer späteren Zeit zu betrach-
ten sein dürfte.

Ungleich deutlicher erscheint letzteres bei dem Minerven-Tempel auf
der Ortygia zu Syracus'), dessen Gesammtverhältnisse gleichwohl zu den
gedrungensten und niedrigsten der dorischen Ordnung gehören. Hier sind
es, — der rechtwinklig profilirten Riemchen am Echinus des äusseren Peri-
styls, der Plinthen, darauf dessen Säulen stehen, nicht zu gedenken, —
zunächst die Säulen im Pronaos, die entschieden spätere Motive zeigen.
Das Kapital derselben hat statt der Rieuichen nur einen Rundstab und

i) A. a. 0. fl. XLII—XLIX. - A. a. 0. pl. XXX—XLI. — "3) A. a.
0.
pl. VII—XV. — Cockerell, im Suppl, zu den Alterthümern von Athen,
C. I. — 5) Wilkins,
Magna Graecia c. III, pl, II—XIII., — Hittorff et Z.
a, a. 0.
pl. II—VI. — ') Wilkins, a, a. 0. c. II.

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I I I. Ueber die Polychromie dor griecliischen Architektur etc. 291

Anlauf (bei den spätestgriechischen Monumenten kommen verschiedentlich
Rundstäbe an dieser Stelle vor); sodann stehen sie auf einer sogenannten
toskanischen Basis, die ebenfalls erst in der spätesten Zeit bei der dorischen
Ordnung angewandt wird. Ferner treten die Anten, deren Kopfgesims
merkwürdig schwer gearbeitet ist (das überschlagende Glied geht ohne
Unterbrechung in den Hals über), nach allen drei Seiten gleich breit vor,
während ihnen im Peristyl keine Säulen gegenüberstehen. Endlich zeigt
das Gesims über dem Gebälk des Pronaos Formen von mannigfach will-
kührlicher und bewegter Zusammensetzung. Alles dies nöthigt uns, das
Monument in eine beträchtlich spätere Zeit hinabzurücken und somit, wie
bereits bemerkt, ein längeres Bestehen dieser schweren dorischen Verhält-
nisse in Sicilien anzunehmen.

Aber noch sind in diesen Gegenden gewisse abnorme Zusammen-
stellungen von Formen zu berücksichtigen.

Dahin gehört die Vermischung der dorischen und ionischen Ordnung,
die uns vornehmlich aus zwei Monumenten bekannt ist. Das eine ist ein
kleiner Prostylos auf der Burg von Selinunt, jener von HittorfF so
genannte Tempel des Empedocles Säulen mit dorischer Canellirung,
ionischem Kapitäl, und ein Gebälk mit Triglyphen, Dielenköpfen und hohem
karniesförmigem Rinnleisten. Die Dielenköpfe sind schmal, haben aber
dieselbe sonderbare Ausladung, wie die an den beiden nördlich gelegenen
Tempeln. Besonders ist die Volute des Kapitäls merkwürdig: ein schmales
Band, welches viermal, ohne alle Verbreiterung, um das Auge der Schnecke
umhergewunden ist. Dies widerspricht durchaus dem Gesetz, welches in
allen Schneckenbildungen des griechischen Mutterlandes seien sie in
Kapitalen oder auch nur in freien Ornamenten angewandt — bemerkt wird,
und dort überall eine lebendige, Feder-kräftige Wirkung bezeichnet. Nur
unter den erwähnten Resten des Heräums von Samos findet sich ein mit
Voluten verziertes Glied, wo dieselben in gleicher unelastischer Weise
gebildet sind. —; Das zweite Monument ist das sogenannte Grabmal des
Theron zu Agrigent

Sodann findet sich in verschiedenen Fällen ein Ho hl leisten als
oberste Bekrönung angewandt. Sehr vorherrschend erscheint derselbe -als
Rinnleisten an dem Fragmente eines dorischen Gebälkes, welches in der
Nähe jenes selinuntischen Prostylos gefunden wurde •'). Ebenso als Bekrö-
nung dorischer Gebälke im Pronaos des Concordientempels zu Agrigent und
des Minerventempels zu Syracus, als Bekrönung des Unterbaues vom Grab-
mal des Theron u. a. m. — Die Hohlleiste als oberste Bekrönung, vornehm-
lich gesammter Architekturen, ist wesentlich orientalisch; sie findet sich in
Persepolis, wie in Aegypten, allgemein angewandt*). Auch hier dürfte
diese, dem Dorismus widerstrebende Form — sammt jener ungriechischen
Volute — leicht als ein äusserlich hinzugekommenes orientalisches Motiv,
durch (phönicisch-) carthagische Einwirkung®), zu erklären sein. —

Hittorff et Z. a. a. 0. pl. XVI—XVIII. — Wilkins, a. a. 0. c. III,
pl. XIX-XXI. —
Hittorff et Z. a. a. 0. pl. XVIII, 1. - *) Als krönende
Sima erscheint die Hohlleiste auch an einem Grabmale iu Klein-Asien mit iibri-
gens weich griechischen Profllirungen. S. Donaldson, im Supplement zu den
Alterthümern von Athen, c. VH, T. V. — Die ionische Säulenstellung im
inneren Hafen von Carthago, davon uns Appian
{c. XCVLj berichtet, können
wir eben so gut, wenn nicht besser, altorientalischen Traditionen als etwa grie-
chischen Baumeistern zuschreiben. Die Goldbekleidung an den inneren Wänden

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292

Antike Polycliromifi.

Der grosse Tempel von Paestum') ist ein Gebäude von überaus
kurzen und massenliaften Verhältnissen. Doch rechtfertigen dieselben eben-
falls noch nicht jenes hohe Alter, welches man dem Gebäude zuschreibt.
Die entschieden kräftige, nicht übertrieben wulstige Linie in der starken
Ausladung desEchinus, das eigenthümliche Profil seiner Riemchen, die
leichten, flach gehaltehen Dielenköpfe und die zierlich geschwungene Welle
unter der Platte des Giebelgesimses deuten hier auf eine schon vorgeschrit-
tene Stufe der Kunst und lassen dies Monument vielleicht als die vollen-
detste Ausbildung jenes eigenthümlich schweren Dorismus der^ westlichen
Länder erscheinen. Der Hohlleisten als Bekrönung des Gebälkes im Pronaos
ist auch hier nicht zu übersehen.

Anders ist es mit den beiden andren noch stehenden Monumenten von
Paestum, dem kleinen Tempel und der Basilika. Hier athmet Alles
eine merkwürdige Verweichlichung, die im auffallendsten Contraste zu den
beibehaltenen altdorischen Verhältnissen steht. .Jene starke Ausbauchung
der Säulenstämme, jene weich eingezogene, mit Blättern geschmückte Hohl-
kehle unter dem Kapitäl sind Motive, welche den ernsten, würdevollen
Charakter der dorischen Ordnung geradehin aufheben. Dazu kommt bei
dem kleineren Tempel der Eierstab über dem Architrav; die römisch-
nüchterne Anordnung der Triglyphen; die gesuchte Form der Cassettirung
in den Soffitten der hängenden Platten statt der Dielenköpfe, welche sonst
die Last tragen helfen; die toskanischen Basen im Pronaos u. s. w. Noch
auffallender aber ist das Kapitäl der Pfeiler in der Basilika, welches in
seiner Hauptform entschieden an die Pfeilerkapitäle der ionischen Monu-
mente Klein-Asiens erinnert und durch farbigen Blätterschmuck ihnen
gewiss noch näher verwandt war. Alles dies kann nur als eine späte Aus-
artung früherer, strengerer Formen betrachtet werden. — Höchst merkwür-
dig sind endlich die Kuinen eines Monumentes von freier korinthischer
Ordnung mit vermuthlich dorischem Gebälke®); die Basis der Säulen
gleicht hier, und noch mehr wie an den ionischen Halbsäulen von Bassae,
jener altpelasgischen Säulenbasis von Mycenae. Den Zusammenhang dieser
Formen wissen wir nicht nachzuweisen. Wer möchte aber bei diesem
Wechsel von verweichlicht dorischen, weichen ionischen und pelasgischen
Formen zu Paestum, der Tochterstadt von Sybaris, nicht zugleich an die
bekannte Verweichlichung in den Sitten der Mutterstadt gedenken ?

Der noch stehende Tempelruin (Tavola dei Paladini) zu Metapont*)
am tarentinischen Meerbusen zeigt in seiner Säulenstellung etwas Freies
und Edles; der Echinus des Kapitäles aber schliesst sich, in seiner stark
ausladenden, weichgebogenen Linie, in der bedeutenden kehlenartigen
Unterschneidung, welche der Anlauf des Schaftes unter den Riemchen
bildet, vollkommen den allgemeinen Bildungsgesetzen der sicilischen und
grossgriechischen Monumente an. — Ganz ähnlich ist die Kapitälform des
merkwürdigen Tempels von Cadacchio, auf dem gegenüberliegenden

des ebendort am Markte belegenen Apollo-Tempels erinnert auffallend an phö-
nicische Dekorationsweise, davon uns u. a. die Beschreibung des Salomonischen
Tempelbaues noch ein deutliches Bild giebt.
fib., c. CXXVII.J

Ueber Paestum s. Wilkins, a. a. 0. c. VI. Besonders: De la Gardette,
les ruines de Paestum, — Vergl. die neueren Untersuchungen von Mauch,
in der Fortsetzung zu Normand's vergl. Darst. der architekt. Ordnungen, T. 1. —
Mauch , a. a. 0. T. 15. —
Metaponte , fnr le Duc de Lnynes etc.
pl. III—VI.

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I. lieber die Polychroinie der griechischen Architektur etc. 293

Corfu Ein andres, ebendort gefundenes Kapital deutet, in dem vor
dem Abakus beträchtlich vorspringenden Echinus, in dem seltsam gewunde-
nen Profil der Riemchen, wiederum entschieden aaf eine späte Ausartung
dieser Motive.

Ein Dorismus von durchaus mehr schwülstigen als strengen Formen,
unorganisch mit mancherlei fremden Elementen verbünden, zeigt sich dem-
nach in den westlich gelegenen griechischen Staaten, sowohl in ihrer Blü-
thezeit (dem fünften Jahrhundert v. C. G., welches nothwendig die bedeu-
tendsten Unternehmungen hervorgebracht haben muss) wie auch die Zeit
ihres ferneren Bestehens hindurch, als allgemein verbreitetes Gesetz. —

Was die Monumente von Pompeji anbetrifl't, so finden sich hier
allerdings, neben der Verwirrung und der Willkühr römischer Formenbil-
dung, häufig noch griechische Motive; aber auch diese in der Art, wie sie
in Griechenland selbst nur an den spätesten Gebäuden, des dritten und
zweiten Jahrhunderts v. C. G., vorkommen. Eben auf diese beginnende
Verirrung des Geschmackes deuten auch die nicht seltenen scharfen Ein-
schnitte zwischen den Gliederungen, die, um ein optisches Spiel von Licht
und Schatten hervorzubringen, die Reinheit und Klarheit der Form bereits
zerstören. —

Was endlich den ursprünglichen Baustyl der Etrusker anbelangt,
so wissen wir davon nicht mehr, als was uns Vitruv über die offenbar
nach ihnen sogenannte toskanische Ordnung berichtet 2). Wir sehen auch
hier, wenigstens im Allgemeinen, etwas Schweres, Gesperrtes und Breites
vorherrschend, was mit dem Adel und der Grazie in den attischen Gebäu-
den vollkommen nichts gemein hat. Dasselbe bestätigt uns der bizarre
Geschmack, der sich aus den früheren Werken bildender Kunst bei den
Etruskern darthut, und die handwerksmässige, häufig verdorbene Manier,
in welcher sie nachmals griechische Bildungen nachzuahmen sich bemühten.

Die Bedeutung der architektonischen Formen, entwickelt an
den Monumenten von Attika.

Vergleichen wir nun, allen bisher angeführten Monumenten gegenüber,
diejenigen, welche in Attika zur Blüthezeit des attischen Lebens entstanden,
— wie klar, edel und verhältnissmässig ist hier Form gegen Form gebil-
det; auf wie bewunderungswürdige Weise sind hier Kraft und Gesetz,
Würde und Heiterkeit, Majestät und Anmuth mit einander, verbunden!
Nur unter dem segensreichen Einflüsse, welchen die jungfräuliche Schutz-
göttin des Landes ausübte, konnte eine solche Reinigung der Formen
Statt finden. . '

') Railton, im Supplement zu den Alterthiimern -von Athen, c. IX, Da die
Säulen dieses Tempels sehr bedeutende Zwischeuweiten (von 273 bis 3 Durch-
messern) haben und da vom Friese kein Stück gefunden wurde, auch unter dem
Bande des Architravs die Riemon und Tropfen fehlen, so scheint hier gar kein
Fries vorhanden gewesen zu sein; das seltsam profllirte Kranzgesims bildet dann
eine ganz angemessene Rekrönung über dem Architrav. In der Restauration,
welche Railton mitiheilt, erscheint das schwere Gebälk, zumal bei dem ungeglie-
derten Friese, als eine durchaus unverhältnissmässige Last über den weitgestell-
ten Säulen. Nach meiner Ansicht entspräche dies Gebäude somit, in gewisser
Beziehung, der von Vitruv beschriebenen toskanischen Bauweise. —
l, IV.
c. VIT.

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294 Antike Polychromie.

mm

Indem wir hier wiederum näher auf die einzelnen Verhältnisse ein-
gehen, bietet sich zugleich die passendste Gelegenheit dar, die Bedeutung,
welche den Formen d«r Architektur überhaupt einwohnt, zu entwickeln.
Es ist auch diese Untersuchung nöthig, da erst nach einem genaueren Ver-
ständniss der Formen die farbige Zuthat genügend gewürdigt werden
kann — Wir betrachten zunächst die dorische Ordnung.

Die Säule drückt im Allgemeinen nicht nur das passive Princip des
Tragens, sondern auch das lebendige und aktive des Stützens und Empor-
strebens aus. Dies ihr Princip beruht einmal in der runden, cylinderartigen
Hauptform, indem so die äussere Fläche an allen Punkten als ein gleich-
massiger Ausfluss der inneren Kraft, überall gleichmässig durch dieselbe
gebunden, erscheint. Der viereckige Pfeiler, der nichts von diesem Gesetz
enthält, ist nur eine todte Masse, nichts als ein für sich stehendes Mauer-
stück. In der einfachen Cylinderform aber ist eben dieses Princip auch
nur als blosse Abstraction vorhanden, und ausgeführt ist eine Säule der
Art noch ohne eine entschiedene Wirkung. Daher muss dasselbe auch an
der äusseren Fläche ins Leben treten. Dies geschieht durch die Canel-
lirung. Hier ist jene Beziehung auf den unsichtbaren Kern deutlich und
augenscheinlich ausgesprochen, indem durch die Stege jener gesetzliche
Umriss der Peripherie festgehalten wird, in den Kanälen aber ein fortge-
setztes Zusammenziehen der in der Säule waltenden Kraft Statt findet, um
letztere fest und streng dem Drucke des Gebälkes entgegenwenden zu
können. Daher die grössere Strenge der dorischen Canellirung, die grössere
Weichheit der ionischen, welche letztere zwischen diesen Einziehungen
breitere Theile des äusseren Umrisses stehen lässt. Aber Cylinder und
Canellirung enthalten nur das Gesetz des Emporstrebens: die Säule soll
zugleich Stütze sein. Dies bewirkt die Verjüngung und, wo sie vorhanden,
die Schwellung. Die Verjüngung drückt, je weiter nach oben, ein um so
grösseres Zusammenziehen der Kräfte aus; die Schwellung bezeichnet diese
Verjüngung noch als eine progressiv fortschreitende. Eine starke Verjüngung
giebt somit, besonders bei kurzen und stämmigen Verhältnissen, das Bild
einer grossen Kraftanwendung; eine starke Schwellung aber hebt den Aus-
druck der Kraft auf, indem die Säule als von ungleichmässiger Wirkung,
ausgebaucht unter dem Drucke des Gebälkes, erscheint. — Leicht und frei
dagegen, in einer Verjüngung, die dem Charakter des Cylinders nicht
widerspricht, in leisester Schw^ellung, streben die Säulen der attischen
Monumente dem Gebälke entgegen.

Die lebenvolle, bewegte Säule stösst jedoch nichts unmittelbar gegen
den Balken des Architravs. Dieser erfordert sein sicheres, ruhiges Auflager,
welches ihm die Platte des Abakus gewährt. Gegen diese Platte also
ist die concentrirteste Kraft der Säule gerichtet, und hier, wo die beiden
entgegengesetzten Kräfte, des Druckes und Gegendruckes, einander berühren,

IS i;'

J!'

H

Man wird es dem Verfasser verzeihen, wenn er, um nicht unnöthig weit-
läuftig zu werden, im Weseutiiohen nur seine eigene Ansicht von der Bedeutung
der Formen vorlegt, ohne sich allgemeiner auf die von Andern vorgeschlagenen
Erklärungen einzulassen. Aus der rohen, materiellen Construction (sei es Holz-
oder Steinconstruction) kann so wenig, wie aus etwanigen mystisch-symbolischen
Beziehungen, eine Form der Kunst entstehen, dereu Gesetz nicht in äusserli-
chen Verhältnissen, sondern allein in ihr selbst beruht. — Sie beträgt am
Parthenon, dessen unterer Säulendurchmesser 6 Fuss misst, in der Mitte der
Schäfte noch nicht '/lo

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I I I. Ueber die Polychromie dor griecliischen Architektur etc. 295

muss natürlich ein Produkt der eigenthümlichsten Alt erzeugt werden.
Daher ist die Gestalt des Echinus für den Gesammtcharakter der ver-
schiedenen Arten des Dorismus so höchst bezeichnend. Eine stark aus-
ladende, zur Horizontale geneigte Linie bezeugt einen überwiegenden Druck
von Seiten des Gebälkes; eine weich vorquellende Linie bezeugt einen
Mangel von innerer Kraft in der Säule; eine gerade Linie (wie häufig an
spätgriechischen Monumenten) ist charakterlos und nur als äusserlicher
Uebergang von den vertikalen Verhältnissen zu den horizontalen zu betrach-
ten; eine Linie, die nach oben zu, statt der Schwingung an den Abakus,
im scharfen Winkel zurücktritt, bringt eine zerbrochene Form zu Wege.
Wie trefflich halten dagegen die attischen Monumente der besten Zeit die
Mittelstrasse zwischen diesen verschiedenen Bildungsweisen.! StraflF, in einer
Linie, die sich zwischen dem rechten Winkel, welchen Säulenaxe und
Architrav bilden, noch nicht auf 45 Grad neigt, also das vertikale, aufstre-
bende Gesetz der Säule noch als vorherrschend zeigt, erhebt sich der Echi-
nus und wölbt sich erst in der Nähe des Abakus, wo die Last des Gebälkes
am Entschiedensten wirkt, in einem leichten, elastischen Bogen zurück.
Zugleich springt hier der Abakus, wo der Echinus sich seinen Seiten-
flächen nähert, stets um ein Weniges über dessen äusserste Ausladung vor;
es ist, möchte man sagen, ein gewisser Spielraum für die elastische Beweg-
lichkeit des Echinus nöthig. Das Gegentheil erscheint immer als schwer.

Eigenthümlich ist noch die Weise, wie der Säulenschaft in den Echi-
nus übergeht. Die ßiemchen, die sich über den Canellirungen der Säule
um den Untertheil des Echinus umherlegen, sind als ein festes, gegliedertes
Band zu betrachten, welches noch einmal alle Kraft, die in den Echinus
empordrängt, zusammenzubinden strebt. Ihre Formation ist scharf und
bestimmt und die untere Auskehlung der einzelnen erinnert wieder an
jenes constringente Gesetz der Canellirung. — Zugleich war schon unter-
halb der Riemchen, wo noch das gegliederte Leben des Schaftes in seiner
Thätigkeit erschien, ein solclies Zusammenbinden vorgedeutet worden:
durch den Einschnitt, welcher den sogenannten Hals der Säule bildet.
Dieser Einschnitt an sich ist jedoch nicht als eine architektonische Form
zu betrachten; seine Wirkung ist nur eine malerische, gleich einer feinen,
dunklen Linie. Bei der verhältnissmässig höchst geringfügigen Breite dieses
Einschnittes ist eine solche Ausnahme von den allgemeinen formalen Gesetzen
der griechischen Architektur ohne weitere Bedeutung. Da er aber nur (uin
einen musikalischen Ausdruck zu gebrauchen) eine Vorbereitung dessen
andeutet, was, bei dem Abschluss des Schaftes, in den Riemchen wirklich
und körperlich erfolgt, so genügt vollkommen seine nur einmalige
Anwendung, wie dies an den attischen Monumenten der Fall ist; drei
Einschnitte hingegen geben bereits das Bild eines, um soviel vermehrten
und verbreiterten Bandes, d. h. wiederum: einer grösseren Kraftanstrjngung.

Der Architrav ist deijenige Theil des Gebälkes, welcher, der Con-
struction nach, als der wesentliche erscheint. In ihm waltet nur das passive
Gesetz der Schwere, daher seine einfache Gestalt, die nur ein festes Lager
bezeichnet.

In allen übrigen Bauweisen der alten Welt, welche aus Stützen und
horizontalem Gebälk bestehen, befindet sich unmittelbar über dem Archi-
trav das krönende Hauptgesims: nur in der griechischen Architektur ist
zwischen beide Theile noch ein dritter eingefügt, der Fries, dessen Zweck
durch seinen Namen — Zophoros, Bilderträger — vollkommen bezeichnet

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Autike Polychroniie.

wird. Er ist angewandt, um dem Gebäude einen würdigen Sclimuck an
Bildwerken hinzuzufügen, welclier an den unteren Theilen desselben (wo
er z. B. an den ägyptischen Monumenten erscheint) die Gesetze der archi-
tektonischen Form vernichtet haben würde. Ein Fries aber, welcher, wie
so häufig in der modernen Kunst, dieses Schmuckes entbehrt, somit gewis-
sermaassen nur eine Wiederholung des Architravs ist, macht einen schweren
und kalten Eindruck i). — Einfach und naturgemäss ist die Anordnung
des dorischen Frieses: die Triglyphen erscheinen hier als die nothwen-
dijren Stützen für das Kranzgesims, die Metopen als die offenen Stellen,
bestimmt, den Bilderschmuck aufzunehmen Die Triglyphen schliessen
sich, dem einfachen Gesetze der Harmonie gemäss, in ihrer Hauptform den
wesentlich rechtwinkligen Formen des Architravs und der Hängeplatte an;
ihre Schlitze dagegen deuten auf das Gesetz, welches in den Canellirungen
des Säulenschaftes thätig ist. Der obere Schluss dieser Schlitze ist wie-
derum charakteristisch für die verschiedene Entwickelung des Dorismus.
Während er bei den attischen Monumenten leicht elastisch geschlungen
ist, erscheint er bei den sicilischen häufig in einem schweren Bogen, bei
den charakterlosen Monumenten späterer Zeit in einer geraden Linie. Der
obere Theil der Triglyphen , welcher ihre Vermittelung mit dem Kranz-
gesimse bildet, bestellt in einem breiten Bande; ein ähnliches Band ist zur
Bekrönung der Metopen fortgeführt. Beim Parthenon läuft bekanntlich, als
besonderer Schmuck, noch ein Perlenstab über diesen Bändern hin.

Die Scheidung zwischen Fries und Architrav v\ird durch ein etwas
vorspringendes Band zu Wejre gebracht, welches zugleich als Basis der
Reliefs in den Metopen dient. Unter diesem Bande, noch in der Fläche
des Architravs, findet bereits eine Vorbereitung auf die vorherrschende
Form der Triglyphen Statt, Dies sind die Riemchen, welche die Brei-
tenausdehnung der Triglyphen angeben, und die Tropfen, welchc die
Gliederung derselben in zierlichem Spiel vordeuten.

Der oberste Theil des Gebälkes ist das Haupt- oder Kranzgesims.
Die Form seines Michtigsten Gliedes wird vornehmlich dadurch motivirt,

Die Römer, die, bei aller Mangelhaftigkeit und Missverständniss der ein-
zelnen Formenbildurig, immer das Ganze sehr wohl im Auge behielten, sind in
dem Profil des Frieses, wenn sie denselben nicht mit Bildwerken schmückten,
häutig von der einfach vertikalen Linie der Griechen abgewichen und haben ihn
in einer geschwungenen Linie, mit Canelluren u. dergl. geschmiickt, gebildet.
Auch dies bezeichnet den Fries wiederum als einen dekorativen Theil der Archi-
tektur. "Wie wirkungsreich eine solche Formation sein kann, ist u. a aus ver-
schiedenen Bauwerken Schlüter's ersichtlich. — Es ist möglich, dass, nach
der gewöhnlichen Annahme (Vitruv, 1. IV, c. 2), die Triglyphen ursprünglich aus
einer Nachahmung der vortretenden Deckbalken des Inneren entstanden sind.
Aber das Auge empfindet diese Bedeutung nicht und erkennt in ihnen nur
Stützen für das Kranzgesims. Zugleich ist schon vielfach nachgewiesen, dass
die genannten Deckbalken überall nicht in der Höhe des Frieses, sondern des
Kranzgesimes liegen. (Vergl. H. Hübsch: Ueber griechische Architektur §. 11.)
Dass die Metopen ursprünglich wirklich nicht geschlossen waren, geht aus meh-
reren Erinnerungen hervor, die uns aus der Blüthezeit des griechischen Lebens
erhalten sind. Bekannt ist namentlich die Stelle in Euripides Iphigenia in
Tauris , wo es von dem .alterthümlichen Tempel der taurischen Diana, welcher
die Scene bildete, v. 113 heisst:

„Schau zwischen die Triglyphen hin, wo leerer Raum
Den
T,eib hinablässt."

296

nviiii

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I I I. Ueber die Polychromie dor griecliischen Architektur etc. 297

dass es, als über dem Friese ruhend, nicht nur eine Bekrönune, «ondern
zugleich und insbesondere einen festen Abschluss der wechselnden Formen
des Frieses bezeichnen soll; daher die Architrav-ähnliche Hängeplatte.
Bei den Architekturen, welche den Fries nicht kennen, ist die Form der
Bekrönung freier, im Aegyptischen z. B. ein grosser Hohlleisten. Die Hänge-
platte wird durch eine andre, ungleich schmalere Platte, die um ein Geringes
weniger vorspringt, getragen, und diese wiederum durch die Mutulen
(Sparren- oder Dielenköpfe)'), Dieses letztere Glied mit seinen
Tropfen steht übrigens in ähnlichem Verhältniss zu den Triglyphen, wie
die Riemchen mit den Tropfen am Architrav. Die untere Neigung der
Platten und Mutulen, welche durch die Seitenlinie der letzteren dem Auge
überall deutlich vorgeführt wird, — somit nicht als eine Unterschneidung,
der etwanigen grösseren Schattenwirkung wegen, zu betrachten ist, — deutet
die Neigung des Daches an und befolgt dieselbe Linie, wie die Gesimse
des Giebels. Die Bekrönung der Hängeplatte bildet ein Riemen, von
einem leicht überschlagenden Gliede, dessen Form eine Blätterverzierung
in Anspruch nimmt, getragen. Auch am Kranzgesims unterscheidet sich
der schwerer« Dorismus von dem leichteren dadurch, dass die tragenden
und krönenden. Glieder dort bedeutendere Dimensionen im Verhältniss zur
Hängeplatte erhalten haben, als hier. Die attischen Gebäude halten auch
in dieser Beziehung das edelste Maass.

Auch der Giebel ist, wie der Fries, unter den Baustylea der alten
Welt nur dem griechischen eigen, war jedoch auch hier nur bei den hei-
ligen Gebäuden als besondere Zierde angewandt 2). Wie seine Form im
Allgemeinen der griechischen Dachconstruction entspricht, so dient er eben-
falls, und noch mehr wie der Fries, dazu, Werke der bildenden Kunst in
sich aufzunehmen: in ihm werden die höchsten Thaten, welche auf die
Weihung des Tempels Bezug haben, in grösserem Maassstabe dargestellt,
während der Fries mehr untergeordnete Begebenheiten und. in kleinerem
Maassstabe enthält. So dient das eigentlich architektonische Gerüst des
gesammten Aeusseren gewissermaassen nur, um-die Bilder und Thaten der
Götter und Heroen dein Auge des gläubigen Beschauers hoch über den
irdischen Verkehr emporzuheben. Das Gesims des Giebels ist dem hori-
zontalen Kranzgesimse des Gebäudes, mit welchem zusammen es den
Rahmen jener Bildwerke ausmacht, nachgebildet: eine hängende Platte mit
ähnlicher Bekrönung, doch nicht mit den obengenannten tragenden Glie-
dern, welche dort durch den Fries motivirt wurden; statt ihrer ist die
Platte leicht unterschnitten und, als Träger, mit einem leicht geschwunge-
nen Gliede, am Giebelfelde hinlaufend, versehen, üeber dem Gesimse des
Giebels springt, als oberste Bekrönung des Ganzen, der Rinnleisten (die
Sima) empor, ein Glied von verhältnissmässig bedeutender Höhe, jedoch
nicht sonderlich ausladend; an den attischen Gebäuden in derselben Gemes-
senheit gebildet, welche allen übrigen Gliederungen eigen ist. — ein Wulst

'} Auch der Ursprung der Mutulen dürfte aus der rohen Construotion, die
hier Anfangs uubezweifelt von Holz ausgeführt war, herzuleiten und dieselben
insofern als die vortretenden Lattensparren zu erklären sein. Doch auch diesen
Ursprung erkennt das Auge nicht mehr, und um so weniger, als die Stärke der
Hängeplatte geradezu im Widerspruch mit dieser Erklärung steht. — üeber
die Bedeutung und Bedeutsamkeit des Giebels s. vornehmlich: BrÖödsted, Reisen
und Untersuchungen in Griechenland, II, S. 154 ff.

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298 Antike Polychroruie.

^■npm

nach Aft des Echinus, inLt einem Plättchen oder Stäbchen gedeckt, — später
eine "Welle; an den weicheren ionischen Gebäuden stets ein Karnies. Der
Rinnleisten ist stets für eine mehr oder minder reiche Ornamentirung
bestimmt; er wird nach den Langseiten zu durch ein freies Ornament, die
hervorspringenden Löwenköpfe, abgeschlossen*), lieber der Spitze und
den unteren Ecken des Rinnleistens endlich erheben sich, auf besonders
angeordneten Basen, frei gebildete plastische Bildwerke, Ornamente
oder Statuen, um so die bedeutsamsten Punkte des oberen Schlusses ent-
schieden hervorzuheben. Aehnlicher freigebildeter Ornamentschmnck, wozu
die Stirn
Ziegel das Motiv hergegeben, läuft an den Langseiten des
Gebäudes über der Hängeplatte, und ebenso auf dem First des Daches,
hin. Erst später wurde der Rinnleisten sammt einer Fortsetzung jener
Löwenköpfe umhergeführt; letztere dienten sodann zugleich als Abgüsse
für das Regenwasser. Die Höhe des Giebels an den attischen Monumenten
zeigt wiederum ein bewunderungswürdiges Maass zwischen Würde und
Leichtigkeit. —

Während die gesammte Formation des Aeusseren, als ans dem compli-
cirten Verhältnisse von Säulenstellung und Gebälk hervorgegangen, man-
nigfaclien Wechsel und Bewegung zeigte, erscheinen die inneren Theile
des Peristyls, der Natur der Sache nach, ungleich einfacher gebildet.
Charakteristisch sind hier besonders die den Säulen gegenüberstehenden
Anten, die man jedoch nicht als besondere Architekturtheile (als Pfeiler)
betrachten darf, sondern nur als die Dekoration der Stirnmauern; der
breitere Seitenvorsprung derselben, der jene Ansicht rechtfertigen könnte,
wird nur angewandt, wo das Gebälk querüber fortgeführt ist, und dient
nur zu einer harmonischen Vermittelung zwischen der Mauer und diesem
Gebälk. Das Kapital der Anten giebt die Gesetze, welche in der Bildung
des entsprechenden Säulenkapitäls wirksam waren, mehr als ein heiteres
Spiel, und modificirt nach den Verhältnissen eines Wandgesimses, wieder.
Wir finden eine dünne Platte als Abakus; darunter, statt des Echinus,
dessen gewaltiges Emporstreben hier auf keine Weise begründet ist, ein
überschlagendes, mit Blättern verziertes Glied; welches ein ungemein leich-
tes und heiteres Tragen andeutet, und unter diesen ein breites, ein wenig
über den Stamm der Ante vorspringendes Band, welches die Stelle des
Halses vertritt. Aus diesen Gliedern bestehen insgemein die Antenkapitäle
an den sicilischen und pästanischen Monumenten , wo sie überdies von
schwerer Formation sind. Bei andren eines nicht so gar schweren Doris-
mus , wie am Tempel von Aegina, zeigt sich an dem oberen Theil des
Halses ein etwas vorspringendes Riemchen; bei den attischen zumeist drei,
als freie Nachahmung der Riemchen am Säulenkapitäl; zugleich bei diesen
eine zierliche Bekrönung des Abakus durch eine kleine Welle. Noch
reicher und zierlicher ist das Antenkapitäl am Parthenon ausgebildet; hier
findet sich statt jener Riemchen ein Eierstab mit einem Perlenstäbchen.
Diese Verdoppelung der tragenden Glieder unter dem Abakus (denn der
Eierstab ist eine noch unmittelbarere Nachbildung des Echinus) macht jedoch
keinesweges einen schweren Eindruck, da der ganze Obertheil des Anter-
kapitäles bis an den Hals nur die Stärke des Abakus der Säule erreicht.

Am Parthenon waren diese Löwenköpfe nicht durchbohrt, dienten also
nicht als Wassorabgüsse, sondern sind nur als Ornament zu betrachten. ' Vergl.
Inwood,
the Erechtheion of Athens p. 1^1.

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I. Ueber die Polychrojnle der griechischen Architektur etc. 299 I

Der grosse Tempel von Rhamnus zeigt eine "Wiederholung dieser Form;
am Tempel der Minerva Sunias erscheint eine "Welle mit Herzblättern statt
des Eierstabes, was schon als beginnende Ueberfeinerung zu betrachten ist.

Die Anordnung des Gebälkes über der Cellenwand ist sehr ver-
schiedenartig. An den sicilischen und grossgriecMschen Monumenten zeigt
sich in der Regel der Fries des Aeusseren mit Metopen und Triglyphen
wiederholt, was ebenfalls von schwerer "Wirkung ist. An den attischen
erscheint der Fries ohne Triglyphen, entweder ringsumher, oder an den
bedeutendsten Stellen, mit Bildwerk geschmückt. Unter dem Bande des
Architravs sind dabei jedoch häufig, in Erinnerung des äusseren Frieses,
die Riemchen mit den Tropfen, entweder in den regelmässigen Abständen
oder ununterbrochen fortlaufend, als freie Zierde angewandt. Ueber dem
Friese zeigen sich verschiedene breite Bänder, unter und zwichen den
De.ckbalken, welche von Gliedern einer bewegteren Formation geschieden
und getragen werden. — Die Deckenbalken, die Deckplatten, die Cassetten
sind an ihren oberen Theilen mit einem Viertelstabe in der Gestalt eines
Echinus versehen, welcher das Gesetz des Tragens^ das hier wiederum |

entschiedener hervortritt, am bestimmtesten ausspricht.

Ueber das Innere der Gellen wissen wir sehr wenig. Doch kommt
dasselbe auch wenig in Betracht, da die gesammte griechische Architektur
nur auf die äussere Erscheinung für das im Tempelhofe versammelte "Volk
berechnet war. Der Hypäthros enthält im Innern wiederum nur ein Aeus-
seres, einen olfenen, mit Peristylen umgebenen Raum, was nothwendig eine
ähnliche Formation der Details hervorbringen musste. —

Werfen wir noch einen Blick auf die ionische Ordnung und ihre
Durchbildung in den attischen Monumenten. Der weicheren Canellirung
im Allgemeinen, der straflf gebildeten Basis an den athenischen Gebäuden,
die dem Druck der Säule auf den Boden eine zugleich leichte und kräf-
tige Gegenwirkung leistet, ist bereits gedacht worden. Im Kapitäl erscheint
der Echinus mehr untergeordnet; statt des unbeweglichen dorischen Abakus )

sieht man jene reichen "V^oluten mit ihrem Kanale, die wie ein elastisches
Polster zwischen Architrav und Echinus liegen und dem Aufstreben des
letzteren, einen lebendigen Gegendruck entgegensetzen. Der aktive Theil '

ist der mittlere Kanal, der sich in einer bestimmten Schwingung gegen |

den Echinus niedersenkt; seine eigentliche Kraft aber ruht in den Schnecken, |

die nach Art einer elastischen Feder gewunden sind und aus deren Augen
stets neues Leben auszuströmen scheint. An den attischen Monumenten
 j

findet sich überall jene untere Schwingung des Kanales; an den kleinasia- '

tischen dagegen selten, ihr Kapitäl ist somit zumeist ohne Ausdruck, und J

ihre Schnecken erscheinen als ein fast inhaltsloser Schmuck. Die obere
Linie des Kanals ist stets in Ruhe, denn hier findet nur die ruhige Einr
Wirkung des Architravs, ■ durch eine dünnere Deckplatte von zierlicher
Formation vermittelt, Statt. Am Erechtheum enthalten die doppelrinnigen ^

Schnecken eine- Verdoppelung jener höchst belebten "Wirkung und demzu^ ^

folge, um das Uebrige des Kapitals mit ihrer vergrösserten Gestalt in Har-
monie zu setzen, eine reichere Ausschmückung desselben. Merkwürdig
sind die ionischen Kapitale im Tempel von Bassae, wo der obere Saum
des Kanals gegen den Architrav hin geschwungen ist; doch sind uns
die Kapitale in einem zu mangelhaften Zustande erhalten (sie waren ver-
muthlich reich mit mefallischem Schmucke versehen), als dass sich aus

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300 Antike Polychromie.

dieser Eigenthümlichkeit etwas Bestimmtes über ihre vollständige Wirkung
schliessen Hesse.

Der Architrav der ionischen Ordnung ist gewöhnlich in drei Bänder
getheilt, um so seine Last minder drückend erscheinen zu lassen. Unter
seinen Deckgliedern findet sich an den athenischen Monumenten eine Platte,
statt deren an den kleinasiatischen, wie schon bemerkt, überall die wei-
chere Hohlleiste erscheint, die keinen so festen Abschluss gegen das voraus-
gesetzte Bildwerk des Frieses macht. Der Fries der ionischen Ordnung ist
ganz für den reichsten Reliefschmuck bestimmt, indem auch die Vermit-
telung zwischen Architrav und Kranzgesims durch die Triglyphen wegfällt.
Das Kranzgesims wird in den athenischen Gebäuden schlicht durch eine
Welle und Perlenstab getragen; in den kleinasiatischen Gebäuden sind
dieser Glieder von bewegter Formation mehr, und es treten zwischen sie
die Zahnschnitte, die schon den Anschein eines willkührlichen Ornamentes
haben und durch die Vermehrung dieser verzierenden Theile dem würdiger
zu schmückenden Friese bedeutenden Eintrag zu thnn.

Die Kapitale der ionischen Anten sind an den athenischen Gebäuden
den reicheren Gesims-Formen der dorischen Ordnung nahe verwandt, indem
hier eine ähnliche Uebertragung der Kapitälform höchst schwer und lastend
geworden wäre. Statt jenes überschlagenden Gliedes, dessen Blätter-Orna-
ment sehr streng gezeichnet ist, erscheint hier vornehmlich die bewegtere
Form einer Welle mit Herzblättern.

Fast insgemein sind in der ionischen Ordnung die Glieder von beweg-
tem Profil mit sculptirten Ornamenten versehen

Indem der Verfasser im Obigen die attischen Gebäude aus dem Zeitalter
des Perikles als die edelsten Monumente der griechischen Architektur aufgestellt
hat, sieht er sich, um ein Missverständniss zu vermeiden, noch zu einer besoii-
dern Bemerkung genötbigt. Die eleu s inische n ß au t en müssen von diesen
ausgenommen werden. Sie gelten nemlich insgemein, seit die Gesellschaft der
Dilettant! ihre Reste herausgegeben hat (Alterthümer von Attika, c. II—V), eben-
falls für Denkmale der Blüthezeit griechischer Kunst. "Wenn dies nun auch von
dem Hauptbau des Ceres-Tempels seine .Richtigkeit hat, indem verschiedene
Nachrichten (wie oben bereits angemerkt) denselben unter die Staatsverwaltung
des Perikles setzen, so berichtet uns wenigstens-Vitruv
(l. VII, praef.J von der
prachtvollen Vorhalle desselben, dass sie erst unter Demetrius Phalereus (um
318
v. 0. G.) hinzugefügt wurde. Hiemit stimmen auch, nach den geringen
Ueberbleibseln zu urtheilen, die flach und geradlinig gebildeten Riemchen an den
Kapitalen der Säulen überein. Aber auch die sämmtlichen anderweitigen Vor-
bauten dieses grossen Heiligthums tragen in der Formation ihrer Details deut-
lich den Stempel einer späteren Zeit als die des Perikles. Wir betrachten die
einzelnen Beispiele.

An den inneren Propyläen besteht die Basis der nach innen vorspringen-
den Pfeiler aus den unteren Gliedern der attischen Basis, Pfühl und Kehle,
darüber ein liegendes Karnies, — eine Verbindung} die eben so weichlich als
unorganisch ist. (Eine verwandte Zusammensetzung der Glieder- findet sich an
dem choragischen Monumente des Lysicrates vom J. 334
v, C. G. unter der
Hängeplatte.) Sodann haben die attischen Basen der äusseren Pilaster und Säu-
len nicht mehr die straffe Form, wie an den athenischen Gebäuden ionischer
Ordnung, sondern die spätere, wo die Kehle beträchtlich zwischen die beiden
Pfühle zurückgetreten ist und ihnen nicht mehr hinlänglich widerstrebt. Auch
die üppig gebildeten Ranken , besonders das vielmalige Anseinanderwachsen der
Kelche an den Pilasterkapitälen, scheint der edelsten Kunstzeit nicht mehr ange-
messen. Andere Fragmente dieser Propyläen, deren ursprüngliche Bestimmung

r».

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I I I. Ueber die Polychromie dor griecliischen Architektur etc. 301

4. System der Polychromie.

Durch die im Vorigen enthaltenen Bemerkungen sind wir nunmehr in
den Stand gesetzt, zu übersehen, wie verschiedenartig sich die griechische
Architektur nach den verschiedenen Stämmen, Völkerschaften und Zeiten,
wo dieselbe'zur Anwendung kam, ausgebildet hat, und wie die edelste
Ausbildung an den attischen Gebäuden aus der Zeit des Perikles erscheint.
Diese Ansicht gewährt uns zugleich die Ueberzeugung, dass bei einer
solchen Verschiedenheit der Formen das schon an sich beweglichere Gesetz
der Farbe einem noch grösseren Wechsel unterworfen gewesen sein müsse.
Namentlich wird — falls wir die Farbe nicht überhaupt als etwas Gleich-
gültiges und Zufälliges betrachten — bei den Monumenten des schweren
Styles jener Ausdruck einer grösseren Kraftanstrengung auch in stärkeren
Gegensätzen der Farbe hervorgehoben sein; wird da, wo eine unverstän-
dige, halbbarbarische Zusammenstellung oder wo ein späteres Missverstehen
und Spielen mit der Form auftritt, auch in der Färbung eine grössere Will-
kühr Statt finden; wird endlich in den attischen Monumenten auch in dieser
Beziehung wiederum das reinste Maass vorausgesetzt werden müssen. Mit
der grössten Vorsicht also und nur in Bezug auf das etwa vorhandene

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nicht mehr mit Sicherheit anzugeben sein dürfte, übergehen wir. Die neben dem
Bau befindlich gewesene ionische Ordnung führt in mehreren Details, den Basen,
der schweren Bekrönung des Architravs u. s. -w., zu demselben Resultate. Somit
möchte dieses Eingangsthor etwa gleichzeitig mit dem Portikus des Tempels sein.

Noch auffallender ist die Beschaffenheit der äusseren Propyläen, welche-
eine vollständige Cople der athenischen enthalten, aber in vielen Details bereijts
ein bedeutendes Missverstehen ihrer Formation verrathen. So ist der Echinus
der Säulenkapitäle nach einer geschwungenen Linie gebildet, die von dem Abakus
nur durch einen Einschnitt getrennt wird, — eine Form, die sonst nur aus
Fragmenten römischer Kunst bekannt ist. Am nördlichen Portikus sind sodann
die Riemchen des Echinus geradlinig geschnitten, auch werden die Dielenköpfe
hier von einer Welle getragen, statt der sonst üblichen Verbreitung des Randes,
aus welchem sie vortreten; die Bekrönungen der Anteiikapitäle sind roh und
willkührlich, ebenso die Bekrönung des Rinnleistens, welcher bereits die Form
einer Welle hat. Der obere Pfühl an den attischen Basen der inneren, ionischen
Säulen ist schwerfällig canellirt u. s. w. Dazu kommt, dass das Tympanum des
Giebels, statt mit Statuen, mit einem Medaillon geschmückt ist, welches das
Brustbild eines Hierophanten in Relief darstellt, — ein in jeder Beziehung
ungriechischer und nur bei den Römern sich findender Gebrauch; und dass zur
Verbindung der Steine, nach Art der Römer, bronzene Klammern angewandt
sind, während die athenischen Gebäude aus Perikles Zeit nur eiserne Klammern
enthalten. Dies alles deutet auf eine beträchtlich ferne Zeit von der des Perik-
les, und die Angabe Oicero's: „er höre dass Appius (A, Pulcher, sein Vorgänger
im Procousulat von Cilicien,) zu Eleusis ein Propyläum baue," dürfte nicht ohne
Wahrscheinlichkeit auf dies Gebäude zu beziehen sein.
('Cie. Epist. ad Atticum,
l. VI, 1.
Die spätere Angabe über eben diese Unternehmung des Atticus, ib.,
l, VI, 6,
enthält keinen bestimmten Widerspruch.)

Auch an dorn kleinen Tempel der Diana Propy 1 äa finden sich verschie-
dene Abnormitäten, die auf eine spätere Zeit deuten, wenngleich andre Details
wiederum äusserst geschmackvoll gearbeitet sind. Die rohe Bekrönung der Anten,
das geradlinig profilirte, schräg stehende Glied unter den Dielenköpfen, die
Formation des Rinnleistens, vornehmlich aber, dass letzterer an den Seiten fort-
geführt und doch der Schmuck der Stirnziegel beibehalten ist, u. a. reimt sich
nicht mehr mit der Gesetzlichkeit und Strenge, welche aus den ächten Monu-
menten des periklei'schen Zeitalters spricht.

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Autike Pulycliromie,

Gesammt-Princip dürfen wir die farbigen Reste an den Monumenten der
verschiedenen Länder berücksichtigen, wenn wir ein System der Poly-
chromie, wie es in der edelsten Entfaltung der griechischen Architektur
Statt gefunden haben dürfte, entwickeln wollen; wie unstatthaft das Gegen-
theil ist, braucht im Einzelnen nicht mehr dargethan zu werden

Im Allgemeinen leitet uns hiebei der oben dargelegte Grundsatz: dass,
wenn nicht auch andre, so doch bestimmt die aus edlem weissem Marmor
aufgeführten Gebäude der Blüthezeit Griechenlands (d. h. eben die Mehr-
zahl der attischen) in ihren Haupttheilen den Stein in seiner eigenthüm-
lichen Farbe gezeigt haben; dass also, die Bemalung nur auf untergeordnete
Details zu beziehen ist. Wir betrachten nunmehr die einzelnen Ordnungen
in dieser Rücksicht,

In der dorischen Ordnung treten uns zunächst zwei verschiedene
Formen entgegen, welche ihrer Natur nach auf eine Bemalung Anspruch
machen, und ohne eine solche nicht zu verstehen sind. Dies sind die
Metopen des Frieses und jenes überschlagende Glied, welches in den ver-
schiedenen Gesimsen angewandt ist.

Die Metopen stellen, wie wir im Vorigen gesehen haben, eigentlich
offene Räume dar, um einen Schmuck an Bildwerk aufzunehmen. Da der
nothwendige festere Zusammenhang des Gebälkes aber eine massive Aus-
füllung dieser Räume gebot, so wurden dieselben mit Platten ausgesetzt,
auf welchen der bildliche Schmuck in Relief dargestellt ist. Der Grund
dieser Reliefs muss demnach stets durch eine dunklere Farbe bezeichnet
gewesen sein, um auf der einen Seite die Triglyphen als die eigentlichen
Träger des Kranzgesimses, auf der anderen Seite die Reliefs genügend her-
vorzuheben. Auch wo letztere nicht vorhanden waren, ist ebenso eine
dunklere Farbe in den Metopen vorauszusetzen, deren schwere Fläche
sodann jedoch ohne Zweifel durch ein lichter gehaltenes Ornament unter-
brochen war. Dorische Friese, deren Metopen, wie so häufig in der
modernen Kunst, weder durch Reliefs, noch durch Farbe geschmückt sind,
erscheinen nicht nur lastend, sondern die Form der Triglyphen an ihnen
auch völlig bedeutungslos. Ueber die Farbe der Metopen an den attischen
Monumenten haben wir keine genügende Nachricht, doch lassen überwie-
gende Gründe einen blauen Anstrich voraussetzen: es ist die Analogie mit
den inneren Friesen dieser Gebäude, an welchen die darauf enthaltenen
Reliefs durch einen blauen Grund hervorgehoben wurden; ebenso war das
Giebel-Tympanum des äginetischen Tempels hinter den Statuen nach über-
einstimmenden Nachrichten blau gefärbt. An sicilischen Monumenten findet
man zwar rothe Farbenreste auf den Metopen, doch dürfte dies eben als
eine besondere Eigenthümlichkeit jener Gegend gelten 2).

Das in den Gesimsen angewandte überschlagende Glied hat an
sich keine Bedeutung, sein Profil drückt auf keine "Weise irgend eine selb-
ständige Kraft und Bewegung aus. Aber sehr viele Reste von Farben und
leicht eingeritzten Umrissen bezeugen uns, dass dies Glied stets nur auf

') Auf diese letztere Weise verfährt Hittorff iu seiner Restauration des Empe-
docles-Tempels
[Annali delV inst, di corrisp. archeoL II, p. 263 ff.], indem er
für jedes einzelne Detail irgend eine beliebige Autorität vorführt, und damit
auch das Ganze autorisirt glaubt. — -) Bröüdsted (Reisen uud Untersuchungen
in Griechenland, B. II, S. 147) nimmt für den Parthenon eine rothe Farbe der
Metopen an, indem er sich auf das allgemeine Zeugniss der Monumente beruft;
er scheint jedoch ebenfalls nur sicilische im Sinne zu haben.

302

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I I I. Ueber die Polychromie dor griecliischen Architektur etc. 319

eine eigentlich plastische Wirkung berechnet war, dass es mit einer Reihe
von Blättern bemalt wurde, welche sich demnach leicht vornüberneigen
und als die zierlichen Träger einer drüberliegenden Platte erscheinen. Aua
den erhaltenen Farbenresten geht zugleich hervor, dass diese Blätter nicht
durch blosse Umrisse, sondern durch wirkliche Bemalung dargestellt wurden*
Finden wir somit zwei verschiedene Formen der Architektur durch
bedeutende Farbenanwendung hervorgehoben, so müssen wir zugleich vor-
aussetzen, dass denselben auch eine weitere farbige Vernaittelung gegen die
grossen farblosen Hauptmassen zugesellt war, da sie ohne eine solche als
störende Flecke erschienen sein würden. Auch hier giebt uns der eigen-
thümliche Charakter verschiedener Details einen nicht gleichgültigen
Anhaltspunkt. Jene Glieder nemlich, welche ein geschwungenes Profil
haben , sind in ihrer besonderen Eigenthümlichkeit, vornehmlich wenn sie
in längeren Linien fortgeführt werden, nicht leicht zu erkennen; das Auge
bemerkt mehr die Art der Schattenwirkung (die übrigens auch nur unter
günstiger Beleuchtung wirksam sein kann), als die Linie des Profils. Diese
letztere nun dem Auge in jeder Stelle des Gliedes deutlich zu machen,
wurde dasselbe mit einem farbigen Schmucke versehen, welcher in seinen
Hauptlinien eben jenes Profil wiedergiebt, — im üebrigen freilich auf
künstlerische Weise frei durchgebildet erscheint. Dies sind die Perlen
der Rundstäbe, die Eier der Viertelstäbe, die Herzblätter der
Wellen, von denen sich im Einzelnen wirkliche Farbenspuren erhalten
haben und die nun, in ihrer gegliederten Erscheinung, ic eine nahe Ver-
wandtschaft zu jenem überschlagenden Blättergliede treten. Eine weitere
Bestätigung für die angegebene Bemalung der Glieder liefert uns die an den
gleichzeitigen ionischen und noch mehr an den späteren Monumenten häufig
vorkommende plastische Darstellung dieser Zierden

An den durchlaufenden Bändern zeigt sich zum Theil ein ähnliches
Gesetz des farbigen Schmuckes, obgleich hier das Profil leichter erkennbar
und der Schmuck mehr als eine an sich willkührliche Zuthat erscheint:
dies ist der Mäander, dessen Form ebenso aus rechtwinklig sich brechen-
den Linien zusammengesetzt ist, wie das Profil des Bandes. Zum Theil
aber sind die Bänder auch mit Palmetteu-Reihen bemalt, welche das
freiste Ornament und zwar insgemein die obere Bekrönung der Massen
bilden, wie sie zugleich — an andrer Stelle — auf dem Rinnleisten als
die Krönung des gesammten Gebäudes erscheinen.

p-

303

Die Farbe einer solchen Gliederbemalung — sowohl die etwa vor-
handen gewesene Grundfarbe, als die der aufgesetzten Ornamente — zu
bestimmen, dürfte bei der höchst geringen Anzahl genauerer Nachrichten
sehr schwierig, wenn nicht unmöglich sein; und dies umsomehr, als wir
nicht einmal berechtigt sind, einzelne Angaben des noch alterthümlich
schweren Aegina-Tempels (das rothe Band über dem Architrav, die blauen
Riemchen mit den Tropfen und die rothen Wände der Cella) auf die atti-<
sehen Monumente zu übertragen. Wir überlassen« somit eine Restauration
der Art dem Ermessen der Künstler. Wenn wir uns jedoch erinnern, wie

Andre haben in diesen Zierden der Glieder eine besondere symbolische
Bedeutung, welche man traditionell empfangen, gesucht. Aber das Auge weiss
nichts von einer solchen Tradition; es empfindet nur die Schönheit der Formen
und lässt nur das Gesetz gelten, welches in ihnen selbst rnht und allein ihr Dasein
rechtfertigt.

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,1

304 Antike Polychromie,

häufig vergoldete metallische Zierden — die Schilde auf dem Architrav und
die plastischen Figuren auf den Akroterien — den
äusseren Architektur-
theilen zugefügt wurden; wenn wir den ausgedehnten Gebrauch berück-
sichtigen, der in der griechischen Plastik von der Verbindung weisser
Stoffe mit dem Golde gemacht ward; so werden wir in den durch Malerei
hinzugefügten Zierden das Gold als besonders vorherrschend annehmen
dürfen, fiiemit stimmen auch die angeführten vielfach ausgesprochenen
Vermuthungen, dass die rothen Farbenspuren der Rest ehemaliger Ver-
goldung seien.

Die Anordnung des Aeusseren dürften wir uns demnach in folgender
Weise denken:

Die Säule in ihrer, zwar gegliederten aber ungetheilten Einheit, — als
vollkommen weisse Masse. Ob der Echinus mit Eiern zu verzieren, dürfte
schwer zu bestimmen sein; seine Form erscheint als so bedeutend und
vorherrschend, zugleich von so geringem Breiten-Durchmesser im Verhält-
niss zur Gesammtausdehnung des Gebäudes, dass er nicht in Eine Klasse
mit den durchlaufenden Gliedern zu setzen ist. Wollte man ihn Jedoch
als mit Eiern bemalt annehmen, so würde folgerichtig auch dem Abakus
eiüe Verzierung zukommen müssen. Der Architrav zeigt wiederum seine
schlichte Masse, dient jedoch als Träger reicher, vergoldeter Weih-Schilde
und Inschriften. Das Band Ober dem Architrav, welches ihn mit dem Fries
verbindet, dürfte — in Bezug auf die dunklere Farbe der Metopen ~ auch
gefärbt und mit einem Mäander verziert sein. Die Triglyphen wiederum,
als Haupttheile des gesammten Gerüstes, weiss. Das Kiemchen darunter,
wie es Cockerell wenigstens vom Parthenon angegeben, mit zierlichem
hängendem Palmetten-Ornament, welches das Riemchen als eine untere
Begränzung oder Besäumung der Triglyphen. erscheinen lässt. Die Tropfen
vielleicht vergoldet. Das Band, welches das Kopfgesims der Triglyphen
bildet, vielleicht mit einem ähnlichen, hier natürlich stehenden, Palmetten-
ornament. Die schmalere Fortsetzung des Bandes Über den Metopen wohl
nicht weiss, sondern farbig, in einem gewissen Verhältniss zur Farbe der
letzteren. (Ein Anstrich desselben wird sclion dadurch nöthig, dass die
Köpfe der in den Metopen enthaltenen Relief-Figuren oft bis über dies
Band emporragen, also ebenfalls durch einen dunkleren Grund gehoben
werden mussten.) Das höher liegende Band, aus welchem die Dielenköpfe
hervortreten, gefärbt, etwa roth, mit einem unter den Dielenköpfen durch-
laufenden Mäander. Die Dielenköpfe vielleicht, wie sich einige Angaben
finden, und wie es dann als eine Vermittelung zu der Farbe der Metopen
motivirt würde, blau, mit goldenen Tropfen. Das Plättchen, welches die
Dielenköpfe tragen und welches unter der Hängeplatte liegt, vielleicht ganz
roth, um auf solche Weise den Effekt der weissen Hängeplatte hervorzu-
heben. Die Bekrönung der Hängeplatte mit zierlichen Blättchen. ' Aehnlich
die Gesimse des Giebels, dessen Tympanum blau zu denken ist, um somit
wiederum einen angemessenen Grund für die Statuen des Giebels zu ent-
halten. Der Rinnleisten weiss, mit einer Palmettenverzierung in Golde,
welche schon als freies Ornament die obere Besäumung des Ganzen bildet.
Die Akroterien, Stirn- und Firstziegel als freier Schmuck farbig verziert,
das Gold aber ebenfalls vorherrschend. - Die Wände der Cella waren,
wenn von Marmor, vermuthlich auch weiss. Die Friese für die et,wanigen
Reliefs blau. Die Antenkapitäle nach den oben gegebenen Principien bemalt,
der Hals vielleicht mit einer Palmettenverzierung. Der Stamm der Anten

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I I I. Ueber die Polychromie dor griecliischen Architektur etc. 305

war schwerlich durch eine Farbe von der Mauer unterschieden, da er, wie
bereits bemerkt, nicht als gesonderter Architekturtheil zu betrachten ist.
Die anderweitigen Gesimse ebenfalls nach den obigen Principien bemalt-,
als oberes Hauptglied gewöhnlich ein breites Band mit Palmetten. Die
Deckbalken weiss, mit Eierstäben. Der Grund der Cassetten dunkelfarbig
mit vorleiichtenden Sternen.

Die äussere Wand der Cella scheint einör von denjenigen Theilen, der
zunächst einen vollkommenen Anstrich mit Farbe gestatten mochte; die
Säulenstellung musste sodann im Aeusseren um so bedeutender hervor-
treten. Doch ist es wiederum die Frage, ob man an den Langseiten der
peripteren Tempel eben eine solche Wirkung beabsichtigt habe. Im Gegen-
theil ist es fast wahrscheinlicher, dass man dieselbe auf die schmaleren
Hauptseiten, um diese auch hiedurch bedeutender erscheinen zu lassen,
beschränkte, indem hier die Tiefe der Vor- und Hinterhalle schon von
selbst jenen bedeutenderen Grund bilden musste. Diese Ansicht scheint
durch eine Aeusserung Vitruv's bestätigt zu werden, welcher die Säulen-
stellung als in der Absicht erfunden nennt, um durch das Abstechende der
Zwischenweiten dem Gebäude ein stattliches Ansehen zu geben, und
zugleich den von Hermogenes zuerst eingeführten Dipteros rühmt, bei dessen
grösserer Tiefe des Peristyls die Zwischentiefen bekanntlich von grösserer
Schattenwirkung sind. Diese grössere Schattenwirkung konnte aber nicht
wohl erstrebt werden, wenn dieselbe schon insgemein durch dunklere Farbe
vertreten wurde

Das Innere der kleinen Tempelcellen mochte sehr verschiedenartig
decorirt sein; unter anderm wissen wir namentlich von dem sehr häufigen
Schmuck derselben durch wirkliche Gemälde. — Das Innere der Hypäthren
nähert sich zwar im Allgemeinen der Anordnung des Aeusseren; doch
dürfte hier ein farbiger Anstrich der Wände eher vorauszusetzen sein, da
hier ohne Zweifel plastische Kunstwerke mannigfaltiger Art aufgestellt
waren, denen ein dunkler Grund günstig sein mochte. Wir erinnern an
das, was bereits oben bei Gelegenheit des Tempels von Olympia geäussert
wurde —

In der ionischen Ordnung wird sich im Wesentlichen dasselbe
Gesetz, wie in der dorischen, wiederholt haben; auch hier sind die Haupt-
theile des architektonischen Gerüstes — Säule, Architrav, Häugeplatte —
als farblos anzunehmen. Unstreitig wird der Schmuck der Gliederungen
auch hier in reicheren Farben ausgeführt worden sein, wie derselbe sich
schon häufig, für eine vollere Wirkung des Details, plastisch vorgearbeitet
zeigt. Besonders gilt dies von den mannigfaltigen Zierden der Kapitale,
von den Blumen des Halses, von den Säumen, vor Allem aber von den
Augen der Schnecken, wo olme Zweifel Gold als wirksamstes Farbenmotiv
eintrat. Der Fries, welcher hier als bedeutendster Schmuck erscheint, muss
folgerecht in seiner ganzen Ausdehnung einen farbigen (blauen) Grund
gehabt haben. —

Vüruv. l. III, c, LI, Vitruv führt zwar noch einen anderen Grund für
die Erfindung des Dipteros an, dass nämlich bei der dabei Statt findenden grös-
seren Breite des Säulenumganges derselbe einer um so grösseren Menschenmenge
zum Schutze gegen etwanige plötzliche Regengüsse dienen konnte. Wir müssen
indess gestehen, dass ein Grund der Art, der einen Bezug auf das Allerzufälligste
nimmt, nicht wohl als bestimmend für die Erfindung eines Kunstwerkes gelten
kann. — S. oben S. 2(59.

Kuglor, Kleine Scliriflcii. I. 20

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Natürlicli wird die Anwendung des farbigen Schmuckes in der Arclvi-
tektur, sofern die Bildung der Form im Ganzen als das Eigentliche und
Wesentliche gelten muss, mannigfachen Modiflcationen unterworfen gewesen,
wird dieselbe besonders da, wo ein weniger edles Material einen Stuck-
tiberzug nöthig machte, leicht in grösserer Masse vorgekommen sein.
Bemerkenswerth ist es aber und als eine besondere Gunst des Schicksals
anzusehen, dass gerade Attika, wo der edelste Formensinn'sich entwickelte,
auch durch das treffliche Material des einheimischen pentelischen Marmors
unterstützt wurde. Ueberdies wissen wir, dass man dasselbe oder ein
ähnliches kostbares Material auch in ferner gelegenen Gegenden zum Bau
der Tempel anwandte.

Von grösserer Bedeutung für den vorliegenden Umstand scheint jedoch
die schon angeführte verschiedenartige Entwickelung der griechischen Bau-
style. So dürften im Peloponnes auf der einen Seite jener schwerere Doris-
mus, auf der andren jene von uns so genannten pelasgischen Motive (wir
erinnern an die Farbigkeit der architektonischen Ueberreste von Mycenä)
auf eine reichlichere Anwendung der Farbe hindeuten. — Noch mehr ohne
Zweifel war dies in Sicilien der Fall; wir haben der bedeutenden Aus-
dehnung dieses Gebrauches an den einzelnen, dort erhaltenen Resten bereits
gedacht. — An den pompejanischen Monumenten deutet die Art und Weise
ihrer Bemalung schon auf eine direkte Ausartung der Kunst. Denn wenn
der untere Theil eines Säulenschaftes verschieden von dem oberen gefärbt
wird, so zerstört dies durchaus den Charakter der Säule, der eben in dem
einen, ungebrochenen Emporstreben begründet ist. Allerdings hat eine
solche Verschiedenfarbigkeit hier ihren guten Grund, indem die meisten
dieser mit Stuck bekleideten Säulen, in den Peristylen der Höfe und den
Portiken der Märkte, bei dem mannigfachen Verkehr leicht an ihren unteren
Theilen verletzt werden konnten, also eine möglichst bequeme Wiederher-
stellung dieser Theile erforderten. Allein diese auf das Privatleben bezüg-
lichen Umstände finden, so wenig wie der römische Privat - L u x u s,
Anwendung, wo es sich um die Architektur griechischer Tempel handelt. —
An den etruskischen Monumenten endlich mag aus den obigen Gründen
ebenfalls reichere Bemalung Statt gefunden haben. Kaum jedoch dürften
hier die meist nur auf ebener Wandtiäche gemalten architektonischen Zier-
den einen Schluss auf das System der Tempel erlauben. Wollen wir die
blauen Triglyphen jenes Grabes von Corneto gelten lassen, so könnten
diese füglich (ebenso wie die an sicilischen Monumenten, falls Hittorff's
Angaben begründet sind,) der Aeusserung Vitruv's über die blaue Farbe
der Triglyphen zur Seite gestellt werden, wie oben bereits angedeutet wurde.

B. SCULPTUR.

1. Zeugnisse alter Schriftsteller.

rp

Als alterthümliche Merkwürdigkeiten mögen zuerst einige Statuen aus
schwarzem Stoffe, von denen uns Pausanias eine Kunde hinterlassen
hat, genannt werden. Er erwähnt einer Artemis Diktynnaea bei Ambryssos,
die aus schwarzem Stein und im aeginetischen Style gearbeitet war'); einer

1) l. X, c. XXXVI, 3,

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I, lieber die Polychromie der griechischen Architektur etc.

Artemis Limnatis in ihrem Tempel bei Tegea aus Ebenholz und in dem-
selben Styleeiner Statue des Ajax in seinem Tempel zu Salamis, eben-
falls von Ebenholz Als namhaftestes Werk dieser Art nennt er eine
reiche Statuengruppe im Tempel der Dioskuren zu Argos, wo Alles von
Ebenholz, nur an den Pferden einiges Wenige von Elfenbein gearbeitet
war, ein Werk des Dipoenus und Scyllis Es scheint, dass erst in der
spätesten Kunstzeit wieder Arbeiten der Art ausgeführt wurden, deren sich
Vieles, namentlich die schwarzen Isisbilder, erhalten hat. Dahin gehört
auch die Aeusserung des Pausanias, dass man die Statuen des Nil aus
schwarzem Stein anzufertigen pflege ; sowie jene Statue des berauschten
Inders, welche Callistratus beschreibt, und die aus schwarzem, das Weisse
der Augen hingegen aus weissem Stein gearbeitet war Bei den letzt-
genannten Werken ist allerdings die Schwärze des Stoffes bereits als Nach-
ahmung der natürlichen Hautfarbe, bei den angeführten älteren Werken aber
nur als ein besonderer willkührlicher Gebrauch zu betrachten.

Ebenso können auch nur als willkührlicher, durch kein innerliches,
wahrhaftes Kunstgesetz begründeter Gebrauch der älteren Zeit, die rothan-
gestrichenen Götterbilder gelten, von denen uns verschiedentlich berichtet
wird. 1 Als vollkommen rothe Werke der Art nennt Pausanias ein Paar
Bacchüsstatuen zu Phelloe und zu Phigalia®); ein Paar andre, auf dem
Markte von Korinth, an denen jedoch nur die Gesichter roth, die tlbrigen
Theile vergoldet waren'). Eines ähnlichen Gebrauchs bei den etruskischen
Terracotten gedenkt Plinius^'J, und namentlich bezeugt derselbe, dass man
zu Rom in früherer Zeit die Statue des capitolinischen Jupiter an Fest-
tagen roth bestrichen habe Auch Plutarch bestätigt die Allgemeinheit
dieser Erscheinung an den älteren Werken Mögen wir dies nun im
Allgemeinen als ein kindisches Wohlgefallen an der rothen Farbe erklären
oder mögen wir besondere mystische Gründe darin suchen, jedenfalls dürfen
wir aus einer Barbarei der Art keinen Schluss auf die Werke der ent-
wickelten griechischen Kunst machen. Dasselbe gilt von den verschiedenen
hölzernen, ehernen und steinernen Götterbildern, die mit wirklichen Klei-
dungsstücken angethan waren und ihre vollständige Garderobe besassen,
in der sie nach Belieben wechselten. Wir lassen somit die schwarzen wie
die rothen Bildwerke der älteren Zeit an sich unberücksichtigt und bemer-
ken nur, dass sie im Allgemeinen ein Wohlgefallen an kräftiger und ent-
schiedener Farbenwirkung zeigen.

Wir wenden uns vielmehr zu den Nachrichten über Werke der ent-
wickelteren Kunstperiode 'und betrachten zuerst diejenigen, welche aus
verschiedenen Stollen zusammengesetzt waren.

307

Hieher gehören die Akrolithen, Statuen, deren grösster Theil, soweit
die Gewandung reichte, in der Kegel aus Holz gearbeitet, vergoldet oder
vielleicht bemalt und an denen Kopf, Hände und'Füsse von Marmor ange-
setzt waren. Pausanias, der eine beträchtliche Anzahl derselben anführt,
nennt mehrere Male ausdrücklich paiischen oder pentelischen 3farmor, in
andren Fällen den schon oben besprochenen „weissen Stein." Wir sehen
also zu diesen nackten Theilen ein edles weisses Material verwandt, und

• ') l. VIII, c. LIII, 5. — l. I, c. XXXV, 2. — 3) l. II, c. XXII, 6. —
•») 1. YIII, c. XXIV, G. — Callistr. staluar. c. III. — «) 1. VII, XXVI,
4; l. VIII, c XXXIX, 4. — l. II, c. II, 5. — «) 1. XXXIII, c. 36] l.
XXX, c. 45. - ») l. XXXIII, c.
7. — '»J Quaest. Horn 98,

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308 Antike Polychroruie.

müssen jedenfalls voraussetzen, dass dasselbe im Wesentlichen in seiner
natürlichen Farbe erschien; es wäre unsinnig gewesen, wenn man an ein-
zelnen Theilen ein andres, und zwar kostbares, Material angefügt und
dessen Eigenthümliclikeit wiederum durch einen Farbenüberzug verdeckt
hätte. Mehrere dieser Werke mögen in eine frühere Zeit gehören; doch
nennt Pansanias unter ihnen eine Minerva Area zu Platäa, die von der
Hand des Phidias und eine llithyia zu Aegium in Achaja, die von dem
Elier Damophon (in der ersten Hälfte des vierten Jahrhunderts) gearbeitet
war ')• "Vitruv erwähnt eines kolossalen Akrolithen im Tempel des Mars
zu Halicarnass, aus der Mitte des vierten Jahrhunderts, von der Hand des
Leochares '). Ob in späterer Zeit Werke dieser Art ausgeführt wurden,
wissen wir nicht. — Dass die Gewandung an diesen Statuen vergoldet war,
sagt Pausanias nur an einigen Stellen '); bei einer von ihnen, der Statue
der Messene zu Messene, nennt er nicht Vergoldung, sondern geradezu
Gold^). Bei den andern, wo er nur von dem Material des Holzes spricht^),
müssen wir, wenn nicht auch an Vergoldung, so doch an einen Farben-
überzug denken, da jedenfalls das Holz an sich, in seinem nüchternen,
streifigen Aeusseren, in keinem Verhältniss zu dem Charakter des Mar-
mors steht.

Das Elfenbein, welches in seinem weicheren Charakter den zarten
Verhältnissen des Nackten noch angemessener erscheint als der Marmor,
vertrat in den meisten Fällen die Stelle des letzteren. Pausanias beschreibt
namentlich eine Bildsäule der Minerva zu Aegina, an welcher Gesicht,
Hände und Füsse von Elfenbein, das Uebrige, wie bei den vorgenannten
Werken, von Holz und vergoldet, zugleich auch mit Farben geschmückt
war®). Letzteres bezieht sich vielleicht auf den bunten Saum des Gold-
gewandes, wie wir durch die Analogie anderer Stellen und erhaltener Werke
zu schliessen berechtigt sind. Noch führt Pausanias ein Paar andre Statuen
auf, einen Bacchus im selinuntischen Thesaurus zu Olympia und einen
Endymion im metapontischen Thesaurus ebendort, beide als vermuthlich
von der Hand des Phidias, an denen dieselben äusseren Theile von Elfen-
bein waren'). Da er hier nicht, wie bei den folgenden Werken, eines
besonderen, aus Golde gearbeiteten Gewandes erwähnt, so dürfte auch hier
auf Holz, möglicher Weise mit Farben geschmückt, zu rathen sein. Das-
selbe vielleicht gilt von der berühmten Statue des Aesculap auf der Burg
von Cyllene, einem Werke des Colotes, Phidias Schüler, bei der auch nur
des Elfenbeins gedacht wird").

Ungleich häufiger jedoch, als mit vergoldetem Holze, erscheint das
Elfenbein mit einem wirklichen Ueberzuge von Goldblech verbunden:
in dieser Verbindung der kostbarsten Stolle waren die berühmtesten Tempel-
statuen der Blüthezeit des griechischen Lebens ausgeführt. Schon im früh-
sten Alterthum war eine Zusammenstellung der Art bei den Griechen
beliebt von dem merkwürdigen Kasten des Cypselus (aus der Mitte des
siebenten Jahrhunderts v. C. G.), der sich im Heräum zu Olympia befand,
hat uns Pausanias ein anschauliches Bild hinterlassen'''). Der Kasten bestand

1) l. IX, c. IV, 1; l. VII, c. XXIII, 5. — 2) i. c. Vlll. — 3) l. VI, c.
XXIV,
5; ib. c. XXV, 4; L. IX, c.. IV, 1. — l. IV, c. XXXI, 9. - l, II,
C..IV, 1; I VII, c. XX, 5 ib. c.XXI, 4; ib. c XXIII, 5; l. VIII, c. XXX, 1;
ib. 3. ~
ö) 1. VII, c.XXVI, 3 — t. VI, c. XIX, 7; ib. 8. — «) Strabo, l.
VIII, e. III, 4. —
Verg]. u. a. Homer. Odyss. L IV, v. 72. — l. V, c,
XVII, 3.

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I I I. Ueber die Polychromie dor griecliischen Architektur etc. 309

aus Cedernholz und war mit Reliefs, zum Tlieil desselben Stoffes, zum
Theil von Gold und Elfenbein, geschmückt; an einigen Figuren erwähnt
Pausanias absichtlich der schwarzen Fatbe, was beiläufig dahin za deuten
scheint, dass im Uebrigen das Elfenbein ungefärbt geblieben war. Eine
ausgedehntere Anwendung dieser Stoffe konnte indess erst zu der Zeit Statt
finden, als durch die Perserkriege den griechischen Staaten grössere Reich-
thümer zugeflossen waren. Die ältesten chryselephantinen Statuen, deren
namentlich gedacht wird, sind eine sitzende Venus zu Sicyon von der Hand
des Canachus, eines Zeitgenossen der Siege über die Perser^); und eine
Diana Laphria auf der Burg von Patrae, von Menaeclimus und Soidas, die
sich der Zeit nach dem Canachus nahe anschliessen Vier andre Götter-
bilder derselben Art, deren Pausanias bei der Beschreibung des Heräum's
zu Olympia erwähnt, bezeichnet er als „sehr alt®}." Am zahlreichsten
finden sich diese, in der Regel colossalen Tempelstatuen zur Zeit des
Perikles. Vom Calamis nennt Pausanias einen Aesculap zu Sicyon^); vor-
nehmlich aber ist es Pbidias, der sich in verschiedenen Werken der Art
höchsten Ruhm erwarb. Von ihm werden eine Minerva zu Pellene (als
eins seiner frühsten Werke), eine Venus Urania zu Elis, eine Minerva auf
der Burg von Elis (diese Statue jedoch zweifelhaft), die Minerva im Par-
thenon zu Athen und der vieigefeierte Jupiter zu Olympia — wer starb,
ohne ihn gesehen zu haben, war nicht glücklich gewesen®) — erwähnt®).
— Ueber die Ausführung der beiden letztgenannten Statuen haben wir
einige besondere Angaben, die zur näheren Charakteristik des gesammten
Kunstzweiges von bedeutendem Interesse sind. Einer Aeusserung Plato's
zufolge waren die Augensterne
(vä fissa zmv ocp&aXfiäv) der Minerva des
Parthenon nicht von Elfenbein, sondern von Stein,, vermuthlich Edelstein').
Mit einer solchen Unterscheidung der Augensterne von der übrigen Farbe
des Gesichtes stimmt auch der bei andren Bildwerken angewandte Gebrauch
überein. Ein colossales elfenbeinernes Auge, welches unter den Trümmern
des Minerven-Tempels von Aegina gefunden wurde und wahrscheinlich zu
der Tempelstatue gehörte, zeigte den Augenstern um etwas Weniges ver-
tieft, so dass er also ursprünglich mit einem andern farbigen Material aus-
gefüllt war Dass das Gesicht im Uebrigen gefärbt war, ist jedoch nicht
anzunehmen. Einmal spricht die Analogie der Akrolithen dagegen; sodann
der Umstand, dass das Elfenbein an trockenen Orten durch Wasser, an
nassen durch Oel frisch erhalten werden musste, was bei einem stärkeren
Farbenüberzuge ohne Wirkung gewesen wäre und eine leichtere Färbung
bald beeinträchtigt haben "würde Haare und Bart waren vermuthlich,

Pausan l. II, c. X, d. — Ebendas. l. VII, c. XVIII, 6. — l. VI,
c. XVII, 1. — •«) l. II, c. X, 3. — 6) Arriani Dissert. 'E'picL L 6. — ®) Pausan.
l. VII,
c. XXVII^ 1; VI, c. XXV, ib. c. XXVIII, 2; l. I, c XXIV, 5; l, V,
c. XI.
U. a. m. Vergl, VöJkel: lieber den grossen Tempel und die Statue des
Jupiters zu Olympia; Quatremöre-de-Quinci;
Le Jupiter Olympien; und
den späteren Aufsatz Völkel's: „Ueber den T, und die St. des Jupiter zu
Olympia mit Beziehung auf das Werk des Herrn Quatrem. d. Q." [Archäologi-
scher Nachlass, I,]. U. A. m. — ')
Hippias maj. p. 290, C ed. St. — ») Wag-
ner' s Bericht über die Aeginetischen Bildwerke, S. 81, und Schellings Anmer-
kung. — 9) Zwar wird gegen die obige Annahme angeführt [Völkel's Nachlass,
S. 92], dass Plutarch
[Perid. c. 12], wo er die verschiedenen, durch Perikles
beschäftigten Künstler nennt, ausdrücklich der Elfenbeinmaler erwähne. Dies
zugfigeben, so Ist damit der Bezug auf die chryselephantine Minervenstatue immer

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310 Antike Polychroruie.

wie an audreii Bildwerken älmliche Beispiele vorkommen, vergoldet. Das
Goldgewand des olympischen Jupiter war mit Thieren und Lilien farbig
verziert worunter wahrscheinlich (wie u. a. namentlich bei der unten
angeführten Juno des Polyclet) eine reich ornamentirte Besäumung zu ver-
stehen ist, — Diese Jupiter-Statue zeigt in der ausführlichen Beschreibung,
die uns Pausanias von ihr und ihrer Umgebung hinterlassen hat, eine unge-
mein reiche Ausschmückung mit verschiedenen Stoffen. Die Viktoria,
welche sie in der rechten Hand hielt , war ebenfalls von Gold und Elfen-
bein; das Scepter in der Linken war mit künstlicher Arbeit aus den
mannigfachsten Metallen versehen Der mit unzähligem Bildwerk pran-
gende Thron war bunt von Gold und Steinen, von Ebenholz und Elfen-
bein. Doch scheint es, dass die „gemalten Bilder," deren Pausanias
unmittelbar nach dieser Angabe erwähnt^), nur auf die von Panänus bemalte
Brustwehr zu beziehen sind, was bei der Unordnung, die in der ganzen
Beschreibung herrscht, auf keine Weise auffallen kann.

Andre chryselephantine Werke jener grossen Kunstzeit, welche noch
erwähnt werden, sind: ein Jupiter im Olympieum zu Megara, von Theo-
cosmus mit Beihülfe des PHdias gearbeitet, aber unvollendet; ein Bacchus
zu Athen von Alcamenes, dem Schüler des Phidias; der mit Reliefs
geschmückte Tisch im Heräum von Olympia, auf den die Kränze der Sieger
gelegt wurden, von Colotes; die Juno zu Argos von Polyclet, — das berühm-
teste Werk dieser Art nächst dem olympischen Jupiter, — deren Gewand
mit einer Einfassung von Weinranken versehen war*); eine Hebe, eben-
daselbst, von Naucydes Andre, deren Alter nicht näher zu bestimmen
ist, sind: ein Aesculap zu Epidaurus von Thrasymedes aus Paros; eine
Minerva auf der Burg von Megara; eine Minerva Panachais auf der Burg
von Patrae; eine Minerva in der Unterstadt von Patrae; ein Bacchus zu
Sicyon, neben welchem Bacchantinnen aus Marmor standen

Auch in der Zeit Alexanders des Grossen fand dieser
eigenthümliche Anwendung. Dies beweisen die chryselephantinen Bild-
säulen, die ihn und seine Familie, den Amyntas, Philipp, die Olympias
und Euridyce, darstellten und, von der Hand des Leochares gearbeitet, im
Philippeum von Olympia aufgestellt waren; die letztgenannte Statue befand
sich zur Zeit des Pausanias in dem Heräum Das Denkmal des Hephä-
stion enthielt unter seinen prachtvollen Zierden ebenfalls Bildwerke aus
Gold und Elfenbein Aehnlicher Zierden, die, um ein Jahrhundert später,

noch nicht ausgesprochen. Aber wir gestehen, das^ uns die von Reiste und
Facius
[Exccrpta, p. 9] vorgeschlagene Lesart jener Stelle, welche Völkel ver-
wirft;
 (lalccntrjgsg %al slsfpavxog, ^wy^dcpoi, statt der gewöhnlichen:
XQVßov fiaXaurrjQEg, fltcpccvrog ^ayQccqioi, in jeder Beziehung besser gefällt,
indem die Erweichung des Elfenbeins, um grössere Platten daraus zu gewinnen
[ein für die antike Technik sehr wichtiges , gegenwärtig unbekanntes Verfahren],
von ungleich grösserer Bedeutung sein musste, als die etwanige Bemalung des-
selben, wozu überdies jedenfalls nur wenig Hände erforderlich sein konnten. An
jenes Eothfärben des Elfenbeins, um es zu einem besonderen Schmucke anzu-
wenden, dessen Homer
[II, IV, v. Hl] als eines asiatischen Gebrauches erwähnt,
ist bei den angeführten Worten natürlich nicht zu denken. — ')
Fausan. L V,
c. XI^ 1. Strabo, l. Vlll,
c. III, 30. - S. die treffliche Erklärung Völkel's,
Archäolog. Nachlass, S. 30. ~
a. a. 0. 2. — TertuUian. de Corona c. VII,
p. 104. — Pausan. l.
I; c. XL, 3; ib, c. XX, 2; l. II, c. XVII, 4; ih.6. —
Paman. l. II, c. XXVII, l. I,
c. XLII, 4- l. VII, c. XX 2; ib. 5; U II, c.
VII, 5. ~ ') Paman. L V, c. XX, 5; ib. c. XVII, 1. - «) Diudor. Sic L XVIII, 115.

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Kunstzweig

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1. Ueber die Polychromie der griechischen Architektur etc.

(las grosse Nilscliift" des Ptolemaeus Philopator schmückten, ist schon gedacht
worden Etwa in diese Zeit dürften auch die Thüren des Minerven-
tempels von Syracus 2) zu setzen sein, die mit Bildwerken von Gold und
Elfenbein versehen waren, und deren Pracht Cicero nicht genug rühmen
kann Spätere Werke dieser Art finden wir nicht weiter erwähnt, bis
auf Hadrian, welcher überall wieder auf griechischen Geschmack einzugehen
bemüht war, und so auch im Tempel des Jupiter Olympius zu Athen ein
chryselephantines Colossalbild des Gottes aufstellen liess In demselben
Sinne war von seinem Zeitgenossen, dem Herodes Atticus, der Tempel des
Neptuu auf dem korinthischen Isthmus mit einem reichen Weihgeschenke
geschmückt worden, einer Quadriga, auf welcher Neptun, Amphitrite und
Palaemon standen, und zwei Trilonen neben den Pferden; alles dies von
Gold und Elfenbein, doch schon mit dem merkwürdigen Missverstande des
Verhältnisses der beiden Stoffe, dass an den Tritonen der Oberkörper von
Gold, der Fischschwanz von Elfenbein, an den Pferden nur die Hufe von
Jilfenbein gearbeitet waren — Schliesslich ist noch zu bemerken, dass
auch ein Beispiel angeführt wird, wo man sich zu einer Statue dieser Art
der Zähne des Hippopotamos statt des Elfenbeins bedient hatte; es war
eine Statue der Diudymene auf Proconnesus —

Was die Bildw^erke betrifft, Avelche ganz aus Marmor gearbeitet waren,
so finden wir bestimmte Angaben über farbige Zuthat nur in Bezug auf
einzelne Theile.

Pausanias führt von Marmorstatuen eine sehr bedeutende Menge auf,
an denen er den Stoff ebenfalls als parischen, pentelischen und „weissen"
Stein bezeichnet. Auch hier scheint namentlich die letztere Bezeichnung,
ähnlich Avie bei der Architektur , nicht ohne Bezug auf die Gesammt-
Erscheinung der Statue zu verstehen zu sein, was durch verschiedene
Umstände noch mehr bestätigt wird. So benennt er bei einer lleihe anderer
Werke den Stoff schlechtweg nur als „Stein;" er musste also bei jenen
ein bestimmtes Kriterium haben, was bei einem Farbenüberzuge nicht so
leicht zu finden gewesen wäre. So sagt er ausdrücklich, dass die Fluss-
götter insgemein aus weissem Steine gearbeitet würden, die Statuen des
Nil dagegen aus schwarzem was ebenso auf eine in die Augen fallende
Beschaffenheit des Stoffes hindeutet. So führt er einige Statuen an, bei
denen eine farbige Zuthat eben als besondere Merkwürdigkeit hervorzuheben
war: zu Teuthis in Arkadien eine Statue der Minerva, die ein purpur-
farbenes Band um .den Schenkel trug; und zu Creusis, dem thespischen
Seehafen, ein mit Malerei geschmücktes Gypsbild des Bacchus im Besitz
eines Privatmannes, das einzig Sehenswürdige an diesem Ort In einer
Stelle bei Lucian ist endlich mit Bestimmtheit ausgesprochen, dass die
bedeutendsten Statuen des Alterthums im Wesentlichen farblos erschienen.
Um nämlich eine lebende Schönheit ersten Ranges genügend zu beschrei-
ben, vergleicht er ihre Formen mit denen der berühmtesten Statuen, —
der knidisclien Venus dos Praxiteles, der Venus in den Gärten (zu Athen)

') Oben S.273. — 2) Vergl. oben, S. 290. — •'') In Verrem II, l. IVdesignia,
c. LVI — -») Pausan. 1. I, c. XVIII, 6. — ^ Ebendas. l. II, c. I, 7. —
Ebendas. l. VIII, c. XLVI, 2. — '') Unter Bildwerken aus weissem Stein
erwähnt er namentlich auch der von Praxiteles gearbeiteten Thaten des Hercules,
iu den Giebeln des Heracleum
's zu Theben, l, IX, c. XI, 4, — ®J Vergl. oben,
S. 270. - 9) l. VIII, c. XXIV, 6. — l. VIII, c. XXVIII, 3; 1. IX, c.
XXXII, 1.

311

' ''J u'i'.

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312 Antike Polj'clii'ornie.

von Alcameiies, der lemnisclien Pallas und der Amazone des Phidias, der
Sosandra des Calamis; — die blühende Farbe aber, für welche an den
Statuen kein Beispiel enthalten sei, vermag der Autor nur nach Gemälden
zu schildern

Dass insgemein die Augen an den Statuen gemalt wurden, geht aus
einer Stelle bei Plato hervor, wo ein Gleichniss mit den folgenden Worten
beginnt: „So wie jemand, der uns Statuen bemalen anträfe und uns tadeln
wollte, dass wir nicht auf die schönsten Theile der Figur die schönsten
Farben setzen, indem die Augen, die das schönste sind, nicht mit Purpur,
sondern mit schwarzer Farbe bezeichnet sein würden u. s. w. — Dass
in andren Fällen die Augen aus einem andren Material eingesetzt waren,
geht aus dem Umstände hervor, dass sie den Statuen zuweilen entfielen,
was dann als eine üble Vorbedeutung angesehen ward ''). — Hieher gehört
auch die Bemerkung, die Pausanias bei Gelegenheit einer Minervenstatue
zu Athen (im Tempel des Vulcan am Ceramicus) macht, dass nämlich ihre
Augen, sowie die des Neptun, von bläulicher Farbe
{yXavuovg) seien ■•).
Die eben angeführte Stelle bei Plato scheint zugleich anzudeuten, dass es
Sitte war, auch noch andre Theile der Statuen durch Farbe hervorzuheben
dass dieselben aber vollständig bemalt Avinden, ist darin auf keine Weise
gesagt.

Dass die Haare der Statuen zuweilen durch gelbe Farbe ausgezeichnet
wurden, scheint aus einer Stelle des Tragikers Chaeremon, welche Athe-
näus anführt, hervorzugelien. Eine Marmorstatue des Narcissus mit ver-
goldeten Haaren beschreibt Callistratus

Purpurfarbige Säume au den Gewändern der Statuen nennt Plinius
als eine gewöhnliche Sache

Noch finden sich einige Aeusserungen Virgil's über den farbigen
Schmuck, welcher zuweilen den Marmorstatuen beigefügt wurde. So
verspricht, in einer seiner P^clogen, Corydon der Diana eine Statue mit
rothem Kothurn zu errichten'^); so sagt er in einem Epigramm, dass er der
Venus eine Statue des Amor mit bunten Flügeln und bemaltem Köcher,
wie es Sitte sei, widmen w^olle Plautus spricht von einem schön

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1) Lucian de imaginibus, 5—10 —- Piaton. de republ, Iii. IV: coOTteQ
ovv av si Tjiiag uvSq locvr aq yQäqiovras nQoesX&mv av ztg 'sipsys n. r. l.
Vergl. Winckelmaim, Geschichte der Kunst, B. VII, c 4, §. 15. Die Herausgeber
von "Winckelmaiiii's Werken haben zwar [a. a. 0. Aiim. 808] angenommen, dass
hier nur Im Allgemeiuen von „menschlichen Gestalten," nicht von Statuen, die
Rede sei; doch ist dagegen von Andren [Völkel, archäol, Nachlass, S. 91 , und
Herrmann,
de vet. Graec. pictura pariet. p 4] bereits bemerkt worden, dass der
von Schaefer angeführte Grammatiker, auf dessen Worte jene sich stützen —
ayaX[icc nal yQcccprjv wai avSqiavra affiacpo^wg — gerade das Gegentheil bezeuge,
indem hier ausdrücklich ävSqiag und yQacpri unterschieden und beide uater der
Bezeichnung als äyaXixa zusammengefasst werden. Auch Quatremere-de-Quinci
[le Jupiter Olymp, p. 30] bemerkt schon , dass Plato in der angeführten Stelle
als von etwas zu seiner Zeit Gewöhnlichem spreche; so dass schon aus diesem
Grunde ein
Aäelleicht ungewöhnlicher Gebrauch des Wortes dvSpidg nicht voraus-
zusetzen ist. — Facius
ex Flut, exc p. 222. — l. I, c. XIV, 5. — Sj
XIII, p, 608.
Vergl. K. 0. Müller, in den Nachträgen zu Völkel's archäol.
Nachlass, S. 98, nach dessen Lesart die Stelle lautet: „Die Haare aber, wachs-
farbig, wie die eines Götterbildes, bewegten sich üppig mit ihren Locken, die
durch hochgelben Farbenschmelz gehoben waren, im Winde". —
Statuar. c. V.
— l. XXXIV, C.. IX. — Ed. VII, V. 31. — 'J) Catalecta; VI, 9.

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I I I. Ueber die Polychromie dor griecliischen Architektur etc. 329

bemalten Bildwerke dessen nähere Beschaffenheit jedoch nicht ange-
geben wird.

Ein Paar andre Stellen griechischer Dichter, welche Eaoul-Rochette
als weitere Belege für die Anwendung von Farbe in der Sculptur anführt'^),
beruhen auf dem, vornehmlich in poetischer Redeweise, zweifelhaften
Gebrauche des Wortes yQa(psiv, so dass wir sie hier ausser Acht lassen
müssen Jedenfalls enthalten diese Stellen keine näheren Angaben über
die Ausdehnung der etwanigen Bemalung.

Am Meisten ist eine Stelle des älteren Plinius in Bezug auf den vor-
liegenden Gegenstand in Betrachtung gezogen worden. Es ist diejenige, in
welcher er von den Leistungen des athenischen Malers Nicias Nachricht
giebt und mit den "Worten schliesst: ,)Von demselben Nicias sagte Praxi-
teles, als er gefragt ward, welche von seinen Marmorarbeiten er am meisten
vorziehe: diejenigen, an welche Nicias Hand angelegt. So viel Werth
legte er auf seine Bestreichung
(Circumlitio) \ Die Erklärung
dieses letzteren Wortes hat hier besonders mannigfache Auslegungen zu
Wege gebracht. Indem man voraussetzte, dass die Stelle des Plinius im
Uebrigen ihre Richtigkeit habe, so schloss man, dass billig unter dem Hand-
anlegen eines berühmten Malers etwas Bedeutendes verstanden werden
müsse. Die einen erklärten das Wort
Circumlitio somit als eine Retouchi-
ning der Thon-Modelle des Praxiteles, was man zugleich auf eine geist-
reiche Weise mit den übrigen Kunstverdiensten des Malers in Verbindung
brachte^); die andren einfacher, als Bemalung, wobei d^nn, da man vom
Nicias eben mehr als blosse Ornamentirung voraussetzen musste, ein voll-
ständiges, den Gesetzen der Malerei verwandtes Ueberziehen mit Farbe
gemeint war Ohne uns auf die weiteren Gründe für die eine oder andre
Ansicht einzulassen, bemerken wir nur, dass bereits von Sillig nachge-
wiesen ist, dass die Blüthe der beiden genannten Künstler um fünfzig Jahre
auseinanderfalle; wesshalb denn Sillig zwei verschiedene Künstler, die
Nicias geheissen, und vom Plinius für eine und dieselbe Person gehalten
seien, annimmt''), Wollen wir jedoch diese Annahme nicht gelten lassen
und das späteste Alter des Praxiteles mit der frühesten Jugend des Nicias
in Yerbindung bringen, so müssen wir gleichwohl jedenfalls zugeben, dass
hiemit der Hauptumstand der obigen Untersuchungen verschwindet: Der
Nicias, von dem die
Circumlitio an den Statuen des Praxiteles herrührte,
konnte entweder dazuQial noch kein berühmter Maler sein, — oder er war
es überhaupt nicht; seine Arbeit schlug also, möglicher Weise, nicht in
das Gebiet der höheren Kunst. Indem es sodann an Aveiteren Zeugnissen
über ein vollständiges Bemalen der Statuen bei den Griechen mangelt (und
gerade bei Praxiteles berühmtester Statue fanden wir ein Zeugniss für das
Gegentheil), so scheint es am Gerathensten, bei der
Circumlitio auf einen
andern Gebrauch, dessen Allgemeinheit uns bekannt ist, zu schliessen: auf
das enkaustische Ueberziehen der Statuen mit Wachs, wovon unsVitruv»)

Ejndic. A. V, v.27. — ') Journal des savans, 1833, Juin, p. 36d]-367.

— Vergl. über dieselben und ähnliche Stellen: Herrmann, de vct. Oraec. pictura
pariet.
p. 6. Völkel's arcliäol. Nachlass, S. 94. und K. 0. Müller's Nachträge
ebendas. S. 100. —
l. XXXV, c. XL — -Winckelmann, Geschichte der
Kunst, B IX. c. 8. §. 27; und seine Herausgeber: Anm. 557. — Quatremere-
de-Quincy,
le Jupit. Ol. p. 44 ftc. Völkel, archäol. Nachlass, 8,79 fif, Raoul-
Uochette,
Journal des savans, ]833, Juin, p. 363. — Calalogus artific, t. ISidas,

- «) l. VII, c. IX.

3

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1

314 Antike Polychromie.

xlud Plinius') ausfülirliclie Nachricht geben. Auf diese Weise ist die obige
Stelle auch von Andern schon früher erklärt worden. Dass Praxiteles dabei
gerade auf die von jenem Nicias überzogenen Statuen ein grösseres Gewicht
gelegt, kann auf verschiedene Weise erklärt werden; vielleicht war es nur
ein Bon-mot, dessen Gründe ausserhalb der Beziehungen der Kunst liegen
dürften. Bei der Masse von nichtssagenden Kunst-Anekdoten, welche Pli-
nius statt eines wirklichen Kunst-Urtheils zusammengetragen, darf eine
solche Ansicht jener Worte nicht weiter befremden.

Die eben angeführte Stelle Vitruv's giebt uns noch einen sehr bedeut-
samen Wink über das bei den plastischen Werken angewandte Verfahren.
Nachdem er nämlich die Art geschildert, wie man die Wände enkaustisch
mit Wachs überziehen müsse, schliesst er mit den Worten: „Gleichwie man
bei den nackten Marmorstatuen zu verfahren pflegt®)." Dass man bei
den bekleideten Statuen ein andres Verfahren der Enkaustik angewandt
(wie Visconti hieraus geschlossen')), ist bei der Einfachheit des von Vitruv
beschriebenen Verfahrens nicht wohl denkbar. Wir werden also voraus-
setzen müssen, dass die Enkaustik überliaupt bei Marmorstatuen nur ange-
wandt wurde, um dem Nackten, als solchem, eine besondere Eigenthüm-
lichkeit — eine grössere Weichheit, wahrscheinlich auch einen wärmeren,
ins Gelbliclie spielenden Ton, — zu geben. Sehr naheliegend und folge-
recht scheint zugleich der Schluss, dass ebendies auch bei den nackten
Tiieilen bekleideter Statuen Statt fand, um sie dadurch schon stolflich von
der Gewandung zu unterscheiden, die überdies häufig, wie sich insbesondere
aus den erhaltenen Monumenten ergiebt, durch Farbe und Vergoldung von
ihnen gesondert ward. Jener weichere und wärmere Wachsüberzug des
Marmors führt uns somit wiederum auf den, In der Blüthezeit der griechi-
schen Kunst so häufigen Gebrauch des Elfenbeins zurück, so dass beide
Materiale sich in ihrer I<3rscheinung nunmehr verwandter zeigen, als es ohne
ein solches Mittel der Fall gewesen wäre.

Von den Vertheidigern einer bis zur vollkommenen Naturnachahmung
gediehenen Polychromie der Plastik wird noch eine besondere Begeben-
heit in der griechisclien Geschichte als Stütze ihrer Ansicht beigebracht.
Als die Gallier nämlich Delphi zu plündern kamen, sollen sie das Heer
der Statuen auf den Terrassen des Tempels gesehen und sich nicht näher
gewagt haben. Sie hielten (so schliesst man) die marmornen Menschen
für lebendige und wagten den Angriff nicht. Wie war ein solcher Irrthum
möglich, ohne eine grössere Illusion als die ist, die wir der Plastik zuthei-
len, ohne Farbenillusion? — Indem wir voraussetzen, dass das Factum
richtig sei^), fällt uns noch ein andres griechisches Geschichtchen ein, das
uns auch wolil auf eine andre Erklärung führen könnte. Herodot 5) und
Pausanias erzählen nämlich eine besondre Kriegslist, deren sich die
Phocier einst im Kriege gegen die Thessalier bedienten: Fünfhundert ilirer

l. XXXIII, c. VII. •) Üt Signa marmorea nuda curantur. Musee
Pie-Clem. T.III, p. 36, n 2. ed. Milan. —
*) Der Vurf. hat die Quelle, aus
welcher die obige, vou Hrn. Semper mitgetheilte Erzählung geflossen sein dürfte,
nicht aufünden können. Sollte sie vielleicht auf einem Missverständnisse beruhen?
Unter den Autoren, welche des Einfalls der Gallier erwähnen, berichtet z. B,
Cicero
[de divinat. I 1, c. 37] von einem Orakel der Pythia, des Inhalts; dass
weisse Jungfrauen das delphische Heiligthum schützen würden. Die Jung-
frauen erklärt er jedoch hernach nicht als Statuen, sondern als Schnee. — l.
VIII, 27. — ö) l. X, c. I, 5.

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I. Ueber dio Polycbromie der griecliischen Architektur etc.

tapfersten Männer bestrichen sich sammt ihren Rüstungen ganz und gar mit
weissem Gypse und rückten zur Nachtzeit, — es war gerade Vollmond, —
gegen das .Lager der Thessalier an; diese glaubten Gespenster zu sehen und
wagten nicht die Waflen zu ergreifen, so dass ein grosses Blutbad unter
ihnen angerichtet ward. — Könnte uns diese Geschichte nicht auf die Ver-
muthung führen, dass die delphischen Statuen vielleicht doch weiss gewesen
und von den rohen Barbaren ebenso für eine Geisterwache des Tempels
gehalten worden seien? — Wir lassen einen so zweideutigen Beleg für die
Polychromie füglich dahingestellt.

Wie die angeführten Stellen von farbiger Zuthat bei den Marmor-
statuen dieselbe zum Theil nur als einen besonderen Schmuck erscheinen
Hessen, so findet sich Aehnliches auch in Bezug auf Bronzewerke. Calli-
stratus beschreibt namentlich einen Orpheus der Art, an dem die persische
Kopfbedeckung mit Golde gestickt, das Kleid mit einem goldenen Gürtel
zusammengefasst und die Sohlen mit goldenen Rändern
geschmückt waren
Lokalfarben des Nackten jedoch anzudeuten — wie es beim Marmor nach
Zeugnissen der Schriftsteller und der Monumente in gewisser Weise Statt
fand — scheint die Natur des Erzes zu verbieten, die dem Nackten in Stoff
und Farbe jedenfalls zu fern steht; und wenn allerdings angeführt wird,
dass Silanion, gegen das Ende des vierten Jahrhunderts, eine sterbende
Jokaste mit bleichem Gesichte [Silber mit der Bronze vermischt'^J] und
Aristonidas einen reuevollen Athamas erröthend [durch eine andre Ver-
setzung des Metalls^)] darstellte, so kann dies durchaus nur als eine Aus-
artung der Kunst betrachtet werden, welche die innerlichsten, ethischen
Verhältnisse durch äussere, gewissermaassen symbolische Mittel zur
Anschauung zu bringen glaubt. Noch seltsamer klingt die Nachricht von
der Statue des Astronomen Berosus mit vergoldeter Zunge

315

Ein sehr anschauliches Bild endlich von der untergeordneten Stellung,
welche jene Färbungen, Vergoldungen u. s. w. im Verhältniss zu der Sculptur
an sich einnehmen, giebt das folgende Gleichniss Plutarch's: — „Es mögen
alle die berühmtesten Schauspieler . . . kommen und der Tragödie, gleich
einer prachtliebenden Dame, als Haarputzer und Sänftenträger, oder viel-
mehr wie die Enkausten, Vergolder und Bemaler der Statuen, nachfolgen®)."

2. F a r b e n r e s t e an erhaltenen Monumenten.

Statuen und andre freistehende Bildwerke.
Die farbigen Reste, welche sich an den erhaltenen plastischen Monu-
menten vorgefunden haben, weisen ebenso im Wesentlichen nur auf eine
Bemalung oder Vergoldung einzelner Theile hin. Wir betrachten zuerst

') Stat. c. VIL — «J Plutarch, Syjnposiac. V, q. 1. — Plin. l. XXXIV,
c. XlV, Die zablreicbeii Ausdrücko vou fleischfarbigem Erz, von erröthenden
WaTigen u. dergl., die in den Statuen des Callistratus vorkommen, sind nur als
rednerische Floskeln zu betrachten, wie sich aus der affektirten Manier, in der
die gesammten Beschreibungen abgefasst sind, zur Genüge ergiebt. Auch wider-
spricht Callistratus sich in dieser Redeweise selbst, wenn er von dem früher
angeführten Narciss sagt, dass durch sein Gewand die Leibesfarbe durchschimmere,
und wenn er hernach den Stein wiederum als einfarbig benennt. — *)
Plin. l.
VII, c: XXXVII.
Wir wissen übrigens nicht bestimmt, ob die Statue aus Bronze
oder Marmor war. —
Plut. de gloria Athen, c. VI.

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4f 316 Antike Polychromie.

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(liejenigen Bildwerke, welche frei für sich und ohne nähere Beziehung auf
Architektur (als Fries- oder Giebelschmuck), gearbeitet sind.

Das interessanteste unter diesen ist die alterthümliche herculanische
Diana im Königl. Museum zu Neapel, deren doppeltes Obergewand mit
einem reich gemalten Saume eingefasst ist: zu unterst ein schmaler gold-
farbiger Streif, dann ein breiterer von Purpurfarbe mit weissem Ranken-
und Blätter-Ornament und zu oberst wieder ein schmaler Streif von der-
selben Farbe. Auf diese Weise sondert sich das Obergewand aufs
Entschiedenste von den übrigen Theilen der Gewandung ab. Das Haar ist
von einer röthlichen Farbe und scheint ursprünglich vergoldet gewesen
zu sein i).

Eine Reihe andrer Statuen mit vergoldeten und röthlichen Haaren
(letzteres ohne Zweifel als Grund einer ursprünglichen Vergoldung) führt
Winckelmann an^]. Die merkwürdigste unter diesen ist die mediceische
Venus zu Florenz, deren Haar deutliche Spuren von Vergoldung enthält,
sowie auch in den durchbohrten Ohrläppchen ursprünglich ein goldner
Schmuck befindlich gewesen sein muss Ebenso haben sich am Haar und
Augensternen der sogenannten Gruppe des Papirius und seiner
ji Mutter (Orest und Elektra), in der Villa Ludovisi, Spuren von Farbe

II vorgefunden Eine jugendliche Dianenbüste im Berliner Museum^)

% lässt gleichfalls noch die dunkler gemalten Augensterne erkennen.

I'f Das gesammte Gewand der berühmten Amazone des Vatikan war

Iii ursprünglich mit einem farbigen Anstrich bedeckt, dessen Spuren noch

P erhalten sind®). Dasselbe soll an der Diana von Versailles vor den

tt neuesten Restaurationen bemerklich gewesen sein^). Röthliche Farbenspuren

zeigen sich ebenso an den Gewändern zweier pompejanischen Statuen zu
r^ Neapel, der Livia und des Drusns (bei der ersteren auch am Haar), die

man wiederum für die Reste einer verschwundenen Vergoldung anzunehmen
I-? geneigt ist

An der Venus von Arles, an einer Statue des Aesculap und der Colos-
sal-Büste des Otho, die sich im Musöe Napoleon befanden, an den beiden
grossen Flussgöttern des Vatikan (von denen der eine in Paris zurückge-
blieben ist) und au dem Coloss auf Monte Cavallo zu Rom, der dem Phi-
dias zugeschrieben wird, sind gleichfalls Spuren von Farben-Anwendung
wahrgenommen worden

/ Die Pallas von Velletri (zu Paris), deren Helmzierde ursprünglich

besonders aufgesetzt und vermuthlich von Metall war, sowie es auch von
II' dem Speere und der Schaale, die sie in den Händen hielt, vorauszusetzen

ist, zeigte nach ihrer Entdeckung (im November 1797) höchst sonderbare
if Farbenspuren. Fernow berichtet darüber in einem vom 29. December 1797

Sl' ^

r,. 1) Ecal Museo Borbonico T. II, tv. VIII. Vergl. "Winckelmann, Gesch. d.

K , B I, c. 2, 14. Quatremere-de-Quiuci, le Jup. Ol. p. 35. Kaoul-Rochette,
. k. - Jüurn. des savans, 1833, Juin, p. 363. ü. a. m. — Gesch. d. K. B. VI, §. 12.

Auch eine feine Knabenstatue in der Antiken-Gallerie des Berliner Museums
|No 120] zeigt bedeutende Ueberreste von rother Farbe im Haar. ~ '') "Vergl.
-4 ^natremöre-de-Q. a. a. 0.
p. 34, — v. Stakelberg: der Apollo-Tempel zu

T Bassae, S. 80. -- S) Antiken-Gallerie, No. 31. — Visconti, Mus. Pie-CLem. T.

II. tv. XXXVIII. — 0 Quatremere-de-Q. a a. 0. p.ö5. — ») R. Mus. Borbon.,
: T. III tv XXXVII \ XXXVm.
Vergl. L. Gero von Agyagfalva : Wanderungen

•T ,

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t.

durch Pompeji, S. 133, 134. — Quatremere-de-Q. a a. 0. Völkel: archäol.

^ Nachlass, S, 80 f.

[fm®

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I. Ueber die Polychromie der griechischen Architektnr etc.

(latii'ten Schreiben Folgendes: „Augen und Mund sind sonderbar mit einer
schwachen violetten Tinte geförbt, welche an ersteren nicht allein den Aug-
apfel, sondern auch die Augenlieder und die zwischen diesen und den
Brauen befindliche Vertiefung über den Augen einnimmt, und am Munde
sind gleichfalls nicht die Lippen allein, sondern auch der ganze Umfang
der Oberlippe, von den Mundwinkeln bis an die Nase und ein Theil der
Unterlippe mit derselben Tinte gefärbt, die Anfangs, als die Statue aus der
feuchten Erde kam, lebhafter gewesen sein mag" i). Diese seltsame Schminke
genügend zu erklären, dürfte seine Schwierigkeit haben. Wenn wir jedoch
berücksichtigen, dass die Statue, in der mehr absichtlichen als natürlichen
Trockenheit ihrer Arbeit, als eine Copie aus der Kaiserzeit nach irgend
einem älteren trefflichen Werke erscheint, so sind wir vielleicht berechtigt,
jene barbarische Bemalung (die tlbrigens wohl nicht mehr in ihrem Zusam-
menhange gesehen ward) als eine Zuthat des italischen Copisten anzunehmen.

Nicht minder seltsam sind auch die Farbenspuren, welche man auf dem
capitolinischen Apoll mit dem Greifen wahrgenommen. Hier scheint
das Nackte ursprünglich mit einer rothen Farbe bedeckt gewesen zu sein,
(Quatrem&re-de-Quincy meint, man habe damit den rothen Marmor nach-
ahmen wollen), während an dem Gewände, der Lyra und dem Greifen
nichts davon zu entdecken ist 2). Ebenso zeigt sich das Gesicht der Vesta-
lin von Versailles mit einer rothen Farbe bedeckt®). Auch diese
beiden Fälle können wir nur einer entarteten Kunst zuschreiben.

An verschiedenen Statuen haben sich ferner die Spuren des gelblichen
kaustischen Wachsüberzuges deutlich erhalten. Dahin gehört eine Statue
der Domitia im Vatican*) und ein Kopf der älteren Antonina, den
Hirt als früher im Palast Chigi befindlich anführt^). Auch am Laocoon
und sehr vielen andern Werken ist eine Nachwirkung jenes Uebörzuges
zu bemerken®).

Augen, die aus edleren Steinen dem Marmor eingesetzt sind, zeigen
sich an vielen erhaltenen, meist colossalen Monumenten, oder die gegen-
wärtig leeren Augenhöhlen deuten auf ein früheres Vorhandensein dersel-
ben. In Winckelmann's Geschichte der Kunst wird eine sehr bedeutende
Reihe bezüglicher Werke aufgeführt'). Doch bemerken die Herausgeber,
dass dies in den meisten Fällen, wie sich aus unwiderleglichen Spuren
ergebe, ein später hinzugefügter Schmuck sei"). Und allerdings deuten
auch viele der vorhandenen Werke, welche bei dem Material der einge-
setzten Augen nicht selten von den allgemeinen Lokalverhältnissen der

') Der neue Teutsche Merkur, hsgb, von Wieland, März 1798, S. 301. —
Quatremöre-de-Q. a. a. 0. p. 54. —
Eist, de l Acadimie Roy. des Inscr.
et Belleslettres. T. XXIX, p. 168.
— Visconti, Mus. Fie-Clern. T. III, pl. V.
— Böttiger's Amalthea I, S. 237. — ®) Vergl. hiezu: Fea, Miacell. filolog.
T. 1. p. CCn.
— ') B. VII, c. 2, §. 13 ff. und die zugehörigen Anmerkungen.
Iliezu gehört auch ein colossaler Antinous Agathodämon im Berliner Museum
(Antiken, No. 140) mit leeren Augenhöhlen. Eine Anzahl kleiner Hermen in
demselben Museum aus Gialio antico und von nicht bedeutender Arbeit, zeigt
die Augen um ein Weniges vertieft; an zweien derselben (Köpfen von Faunen,
1^0. 355 u. 356) sind die Augen mit einer weissen Masse ausgefüllt und schwarze
Punkte statt der Sterne darauf gemalt. — ") Von Andren (S. Feuerbach:
der Vaticauische Apollo, S. 214, Anm.) ist der obigen Bemerkung indess ent-
gegengesetzt worden, dass die unreinen Ränder an leeren Augenhöhlen oft noch
leichter den barbarischen Händen, welche den Statuen die eingesetzten Augen
entrissen, zuzuschreiben sein dürften.

317

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Antike Polycliroinie.

Augenfarbe abweichen , auf eine spätere Entartung der Kunst. Dies
beweisen die Onyxaugen, an denen die Pupille vveisslich erscheint, die
Einfassungen mit Siberblech, um die Augenwimpern anzudeuten. U. s. w.
Noch auffallender wird diese Entartung, wenn das Material des Werkes
ein dunkelfarbiger Stein ist, der eben gar keine Ansprüche mehr auf ein
Verhältniss zu der natürlichen Farbe des Gesichtes macht. So befinden
sich z. B. in der Antiken-Gallerie des Berliner Museums zwei (übrigens
vortreffliche) Büsten aus grünem Basalt, den Julius Cäsar und den Augustus
darstellend '), von denen der ersteren Augen aus Alabaster mit vergoldeten
Ringen zur Bezeichnung des Sterns, die der andern aus Onyx eingesetzt
sind. Hieher gehören auch die Bronzewerke, an denen Lippen, Finger-
nägel u. s.w. durch Gold oder Silber angedeutet werden®). Der Geschmack
endlich an den eigentlich sogenannten polylithen Sculpturen, deren Nacktes
gewöhnlich aus weissem, die Gewänder aus andersfarbigem, in der Regel
buntem Steine bestehen und deren sich in allen Sammlungen zur Genüge
vorfinden, ist als ein besonderes Eigenthum der römischen Zeit bekannt
Ebenso die Wahl des rothen Marmors für ganze Statuen (vornehmlich
Satyrn), und des schwarzen Marmors, dessen schon oben gedacht wurde.

Noch ist zu erwähnen, dass an einer bedeutenden Anzahl vorhandener
Statuen, wie sich aus mannigfachen unzweifelhaften Umständen schliessen
lässt, die Attribute aus Metall angefügt waren. Hieher gehören, ausser der
schon genannten Pallas von Velletri, der Ibadrian, als Mars dargestellt, im
Vatikan , der borghesische Fechter, die beiden Victorieu im Berliner
Museumund viele Andre, vornehmlich die Tempelbilder der Gottheiten,
welche die gewöhnliche Stellung, mit dem Scepter und der Schaale in den
Händen, hatten. Merkwürdig scheint unter diesen besonders das noch
unedirte Haut-Relief eines Satyrs von griechischer Arbeit und altem Style,
welches sich in dem Antiken-Cabinet zu Paris befindet und von Raoul-
Rochette beschrieben ist. Die Nebris, die Horner auf der Stirn und die
Ziegenfüsse dieser Figur waren von Metall und ohne Zweifel vergoldet;
die Lippen und das Innere des Mundes zeigen Spuren von rother Farbe

Gleiche Farbenspuren, wie an den oben angeführten Statuen, zeigen
sich auch an verschiedenen Reliefs. Dodwell hat deren in Attika ent-
deckt ; im Vatikan befindet sich ein solches aus der römischen Kaiser-
zeit"); ein ebenfalls römisches, auf welchem das Gewand einer Figur roth
gefärbt ist, hat Buonaroti bekannt gemacht U. a. m. Sehr häufig findet
sich diese Erscheinung an den etruskischen Reliefs. Unter den Anti-
ken des Berliner Museums bemerkt man mehrere etruskische Sarkophage,

!

No. 169 und 170. Nicht minder widerwärtig erscheinen zwei grosso
Bacchushermen im hieratischen Style und aus weissem Marmor, an denen das
gesammte Auge durch einen dunkleren Stein mit eingekratzten Umrissen des
Sternes ausgefüllt ist. Ebendas. No. 379 und 380. — Vergl. Hirt, Amalthea
I, S. 235. Unter den Bronzen des Berliner Museums ist ein Kopf in alterthüra-
lich strengem Style mit Augen von Silberblech. — Auch in diesen Compo-
sitionsweisen bemerkt man Abweichungen von den allgemeinen Verhältnissen der
Lokalfarbe; so befindet sich z. B. unter den Antiken des Berliner Museums eine
Büste des Vespasian (No. 272), deren Gewand aus Giallo antico, der Kopf aber
aus schwarzem Marmor gearbeitet ist. —
Mus. Ple-CLem. T. II, pl. XLIX.
— 5) No. 1 und 18. — Journal des savans 1833, Juin, p. 362. — Class.
touT through. Greece, V. I, p. 3i3.
— Beschreibung der Stadt Rom, Bd. II,
Abth. II, S. 139. —
Sopra alcune mcdaglie, p. 447.

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319

I. lieber die Polychromie der griechischen Architektur etc.

deren Reliefs ursprünglich bemalt waren; an dem einen derselben ') haben
sich Reste von Blau (vornehmlich auf dem Grunde) und von Roth erhalten.

Bemalte Terracotten findet man ebenfalls in grosser Menge; an den
Terracotten-Reliefs des Berliner Museums zeigt der Grund nicht selten
blaue Spuren 2). Ein zierliches Köpfchen aus gebrannter Erde, vermuthlich
eine Medusa, mit natürlichen Farben bemalt und die Haare vergoldet,
welches in Sicilien gefunden wurde, hat Bröndstedt bekannt gemacht

Tempel-Sculpturen.

Die Sculpturen, welche mit der Architektur in unmittelbarer Verbin-
dung standen, d. h. an den Friesen und Giebeln sich befanden, und an
denen sich Farbenspuren bis auf unsre Zeit erhalten haben, sind folgende:

Tempel des Thesens. An den Reliefs der Friese innerhalb des
Peristyls, über Pronaos und Postikum, haben sich deutliche Farbenspuren
vorgefunden. Der Grund war blau, die Gewänder zumeist blau (?), grün
oder roth Nach Semper's Bericht hat sich an dem Gewände einer der
sitzenden Figuren über dem Pronaos ein reines schönes Rosaroth erhalten
Die Bewaifnungen der Kämpfenden waren vermuthlich von Bronze und ver-
goldet. Dodwell's Behauptung, dass diese bemalten Reliefs die von Pau-
sanias als im Tempel befindlich erwähnten Malereien des Micon®) seien,
ist bereits zur Genüge zurückgewiesen worden, so dass demnach aus
dieser Ansicht keine weiteren Gründe auf eine vollständig und nach Art
der Malerei durchgeführte Farbigkeit der Reliefs zu entnehmen sind.

Parthenon. An den Sculpturen dieses Tempels, vornehmlich an den
Statuen der Giebelfelder, entdeckten die Künstler, welche bei deren Abnahme
zugegen waren, Spuren von Malerei und Vergoldung"). Noch jetzt zeigt
das Haar an dem Fragmente des Minervenkopfes vom westlichen Giebel,
welches sich im brittischen Museum befindet, deutliche Ueberreste einer
rothen Farbe, welche man jedoch ebenso, wie in andren schon angeführten
Fällen, für den Grund einer ehemaligen Vergoldung zu halten geneigt ist
Die Augen dieses Kopfes sind leer und deuten somit an, dass auch sie
ursprünglich mit andrem Stolle gefüllt waren i"). Das Stück des inneren
Frieses, welches von Choiseul-Gouffler nach Paris gebracht wurde, zeigte
vor seiner Reinigung Spuren von blauer Farbe auf dem Grunde und von
Vergoldung an den Haaren; bei andren Stücken hat man Grün an den
Hüten einiger Jünglinge bemerkt Aehnliche Spuren sollen sich auch

No. 333. — An mehreren alterthümlichen Terracotten des Berliner
Museums, namentlich einem bekannten Kopfe der Juno Lanuvlria, sind die Details
des Gesichtes — Augen, Lippen, Haare, Schmuck — durch schwarze und rotho
Färbung unterschieden. — Reisen und üutersuchungen in Griechenland,
B. II, S. 294, T. XXXIX. — Dodwell,
Alcuni Bassirüievi della Greda, p. 6;
und desselben Class. and topogr. tour, V. L p. 364. Ackerblad, Atti delV Accö->
demia Rom. d'Archeologia, T. I. P. I, p. 47, hat nur die allgemeine Angabe,
dass die Reliefs bemalt gewesen seien. — Vorläufige Bemerkungen , S. 48,
Ob jene Farbenangaben aber überall die gesammte Gewandung betreffen, oder
vielleicht nur auf Säume und dergl. zu beziehen sein dürften, wird leider nirgend
gesagt. — «3
Pausan. l. I, c. XVII, 2. — Adnotationes ad Pausaniae Orae-,
eine descr. L l. ed Siebeiis. — Clarkes Travels, I, s. II, c. IV.
— Alter-
thümer von Athen, Thl. II, c. I, Anm. 109. — Visconti,
Memoires sut lea
ouvrages de sculpture du Parthinon, p, 19.
— Miliin, monumens ant, inid,
T. II, p. 48.

-ocr page 332-

4f 320 Antike Polychromie.

an den in London befindlichen Fliesstücken wahrnehmen lassen. An den
Bildwerken sämmtlicher Friese, vom Inneren und Aeusseren des Gebäudes,
sowie an den Fragmenten der Giebelstatuen bemerkt man endlich eine
grosse Menge von .Löchern und Vertiefungen, welche deutlich beweisen,
dass hier die mannigfachsten Gegenstände aus Metall und ohne Zweifel
vergoldet, befestigt gewesen sind: Waffen, Zäume, Ringe, Spangen, Kopf-
zierden, Scepter und andre Utensilien. So bemerkt man an dem genannten
Kopfe der Minerva noch die Sjjuren, wo der Helm aufsass, auf ihrer Aegis
das Loch in der Mitte, wo das Gorgonenhaupt, und in den Ecken der-
selben andre Löcher, wo die Troddeln oder Schlangen befestigt waren.
U. dergl. m.

Der Apollo-Tempel zu Bassae. An den Reliefs, welche die
Friese der hypäthralen Cella schmückten, hat man zwar keine Farbe mehr
entdeckt, doch ist deren Anwendung an einzelnen Theilen durch mehrere
Umstände glaublich; dadurch nämlich, dass bei einigen Figuren der Schwert-
riemen fehlt, bei andren der Riemen der Schilde, welche über den Rücken
hängen; und dass bei einer der Amazonenfiguren der Rand des Stiefels,
welchen die übrigen tragen, nicht plastisch ausgedrückt ist. Einige Schwer-
ter und die Zäume sind ohne Zweifel wiederum aus Metall angefügt
gewesen, wie sich auch hier aus den eingebohrten Löchern ergiebt

Tempel der Minerva auf Aegina. Ueber die Farbenreste, welche
an den alterthümlichen, aus feinem parischem Marmor gearbeiteten Giebel-
statuen dieses Tempels nach ihrer Aufgrabung gefunden wurden, besitzen
wir ebenso ausführliche wie unbefangene Nachrichten. Die Farben, von
denen noch Spuren zu entdecken waren, bestanden aus einem dunklen
Zinnober-artigen Roth, welches sich besonders gut erhalten hat, und aus
einem lichten Blau. Das Tympanum des Giebels war blau, die schmalen
Plinthen , auf welchen die Figuren standen, roth Die Helme zeigten
Spuren von blauer Farbe; der Belmbusch oder Haarschweif war roth. Der
Helm eines einzelnen Kopfes scheint mit einer netzartig sich überkreuzen-
den Perlenschnur bemalt gewesen zu sein, wie aus der Verwitterung der
Zwischenräume zu ersehen, während jenes Netz, durch die enkaustische
Farbe (von der noch blaue Spuren sichtbar waren), reiner erhalten ist. Die
Schilde waren von aussen blau angestrichen, bis auf einen Finger breit vom
äussersten Rande, wo eine eingeritzte Cirkellinie die Farbe abschneidet;
auf dieselbe Art war das Innere der Schilde roth gefärbt. Die Köcher der
Pfeilschützen zeigten, der eine Spuren von blauer, der andre von rother
Farbe. Die Aegis der Minerva war schuppenartig bemalt. Am Gewände
der Minerva fand sich eine rothe Farbenspur, nach der Annahme des
Berichterstatters nur der Rest eines unteren Saumes. Die Sohlen waren
roth; die Riemen und Bänder, womit dieselben befestigt, waren nicht

1) Visconti, a. a. 0. p. 8 ff. — v. Staitelberg: der Apollo-Tempel zu
Bassae, S. 76 und 79. Aus den obigen, sehr geringfügigen Anzeichen schliesst
Stakelberg (S. 80), dass ursprünglich das ganze Bildwerk ausgemalt war;
und Andre (Völkel, archäol. Nachlass S. 80: liaoul-Roohette,
journ. des sav. 1833,
p, 361)
haben gerade diesen Schluss als ein gültiges Zeugniss genommen und
darauf weiter gebaut. So ist es freilich leicht, eine polychrome Sculptur, dereti
Absicht unfehlbare Illusion gewesen wäre, zu erweisen. — Die Oberfläche der
Plinthen ragte jedoch nicht hervor, indem dieselben in die Platten des Gesimses
eingelassen waren. S. Cockerell im
Journal of science and the arts, Art. XV,

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I. lieber die Polychroraie der griechischen Architektur etc. 321

plastisch ausgedrückt, somit vermutlilich, da sonst alles Detail des Costüms
sehr genau angegeben ist, ebenfalls durch Farbe bezeichnet. Am Nack-
ten fand sich keine Spur von Farbe; doch müssen die Augen und
Lippen bemalt gewesen sein, da sie durchgängig rein und wohlerhalten
sind, während die übrigen Theile durch den Einfluss der Witterung gelitten
haben. An den Augen der Minerva war sogar noch der Umriss des Aug-
apfels und noch ein Hauch von Färbung zu erkennen. An den Köpfen
Jjndeu sich häufig kleine eingebohrte Löcher, um Haarlocken von Bleidraht
(deren eine noch vorgefunden wurde) aufzunehmen; die Haare waren somit
ohne Zweifel durchgängig vergoldet. Aehiiliche Löcher, die auf metallische
Zuthaten deuten, finden sich noch an vielen Stellen der Figuren; der Helm
der Minerva ist an seiner ganzen Oberfläche damit übersät. Auf der Mitte
ihrer Aegis sind ebenfalls Löcher, die zur Befestigung des Gorgonenhauptes
dienten, am Rande Spuren von Bleidraht zum Anheften einer Verzierung.
Zugleich waren die Ohren der Köpfe beider Minerven des einen und anderen
Giebelfeldes durchbohrt, olfenbar um Ringe aufzunehmen, wie solche sich
auch an einem dritten weiblichen Kopfe (dessen vormalige Stellung im
Tempel ungewiss ist) im Stein gebildet zeigen. An allen Kriegern, mit
Ausnahme der Bogenschützen, findet sich ein eingebohrtes Loch auf der
rechten Schulter und einige andre unter dem linken Arm nach dem Rücken
zu, was auf die Befestigung der Schwertriemen hindeutet. Das ehemalige
Vorhandensein der letzteren wird auch durch die bessere Erhaltung der
Stellen, wo der Riemen an dem Körper aufgelegen, bestätigt'). — Nach
diesen Angaben scheint also an den beiden Giebelgruppen des in Hede
stehenden Tempels die weisse Farbe des Steins im Wesentlichen vorge-
herrscht zu haben: die kämpfenden Heroen, welche sich in beiden Gruppen
zu den Seiten der Minerva gegenüberstehen, sind fast sämmtlich nackt,
und nur die einzelnen Details, ihrer Wappnung und dergl., zeigen die
Spuren von Farbe oder metallischen Schmuckes.

Die Metopen des mittleren Peripteros auf der Burg von
Selinunt (nördlich von dem sogenannten Tempel des Empedocles) ent-
halten einen rothen Grund. An den Reliefs derselben zeigen sich einige
Details ebenfalls roth gefärbt, Säume, Riemen, Hals- und Armschmück und
dergl. Auf dem Relief des Perseus erscheint die Minerva mit rothen Säu-
men, das Zerrbild der Medusa mit rothen Augenkreisen und der Gürtel
des Perseus mit rothen Ringen und blauen Punkten bemalt

Die volscischen, zu Velletri gefundenen Reliefs, welche
gvösstentheils Kampfspiele darstellen, und ohne Zweifel den Fries eines
Gebäudes schmückten, sind in sehr alterthümlichem Style, aus gebranntem
Ton, und zeigten, als sie entdeckt wurden, die Spuren einer vollständigen
Bemalung. Inghirami giebt dieselbe folgender Gestalt: den Grund blau;
die menschlichen Gestalten im Nacken fleischfarben, in der Gewandung
weiss und gelb, zuweilen auch roth, die Haare schwarz; die Pferde weiss,

') Wagner's Bericht über die Aeginetischen Bildwerke im Besitz Sr. K.
H, des Kronprinzen von Baiern, §. IX u a. Ueber die abweichende Angabe in
Bezug auf die Aegis, vergl. Schorn, in der Beschreibung der Glyptothek Sr. M.
des Königs Ludwig I. von Baiern,
Nü, 60. — S. vornehmlich: Sculptured
Metopes discovsred amongst of the ancient city 0/ Selinu8 in Sicily by W. Harris
and S^ Angell, pl. VI—VIII.
Hittorff & Zanth: Architecture ant. de la Sicile,
Vi. XXIV, XXV.

Kiieler, Kleine Schriflcn. I. 21

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Antike Polychromie.

auch braun und schwärzlich; die Wagen gelb, die Waffen und andren
Geräthe meist weiss i). Doch wissen wir nicht, wie weit diese Angabe
begründet ist: die älteren Herausgeber der in Rede stehenden Reliefs
beaennen dieselben nur im Allgemeinen als bemalt ; die neuesten Heraus-
geber bezeugen, dass keine Farbenspur mehr vorhanden ist

3. System der Polychromie.

Suchen wir nun aus den Zeugnissen, welche die Schriftsteller des
Alterthums und die erhaltenen Bildwerke uns über die Polychromie der
Sculptur geben, ein System derselben in Bezug auf die Blüthezeit der grie-
chischen Kunst zu entwickeln, so stellt sich dasselbe in überraschender
Einfachheit dar. Es beruht im Wesentlichen darauf: dass die Gewandung
von den nackten Theilen des Körpers auf eine bestimmte Weise gesondert
werde. Das Nackte wird durch einen Stoff dargestellt, welcher die zarte-
sten Verhältnisse und leisesten Spiele der Form aufs Vollkommenste zu
erkennen gestattet: durch Elfenbein oder weissen Marmor, von denen das
erste durch seine eigene Natur, das andre vermöge des enkaustischen
Wachsüberzuges zugleich eine grössere Weichheil besitzt, welche das Auge
noch sanfter von der einen Form zu der andern hinüberleitet, und so das
innere Leben, den Zusammenhang in den Formen, noch klarer wiedergiebt.
Die Gewandung dagegen, deren eigenthümliche Schönheit in dem anmuthi-
gen Spiele besteht, wie sie in gemessenen Formen den Körper verhüllt und
doch dessen freien Organismus wiederum vorherrschen lässt, wird als ein
solcher, mehr zufälliger Schmuck schon durch den Stoff unterschieden; und
hier tritt denn die Farbe, als ein Schmückendes, in ihr Recht, Gold vor-
nehmlich, welches die gediegenste und machtvollste Farbe ist. Aber das
'Auge des Menschen, der Brennpunkt, in welchem Gedanken und Gefühle
sich am Bedeutsamsten sammeln und aussprechen, ist auf keine Weise in
der Form wiederzugeben; hier hat die Natur der Plastik ihre Grenzen
gezogen. Und wo jene einzig und allein durch die Farbe wirkt, da musste
auch der Künstler ein ähnliches Mittel ergreifen; irgend ein dunkler, leuch-
tender Stein, irgend ein farbiges Material bezeichnet den Stern des Auges,
die Richtung, die Kraft des Blickes. Dann ist auch das Haar durch seine
eigenthümliche Beschaffenheit von dem Körper unterschieden; es ist von
der Natur dem Menschen als ein Schmuck gegeben und wird als ein
Schmuck gepflegt und getragen; daher auch hier die Farbe, die entweder
mehr die natürliche Färbung des Haares nachahmt, oder, und zwar am
Häufigsten angewandt, zu eben jenem reicher schmückenden Golde wird.
Dann tritt noch eine Menge andren Schmuckes hinzu , der bald, wie die
bunten Säume der Kleider, die Hauptmassen einfasst und die bedeutendsten
Linien hervorhebt; bald, wie die Agraifen, Kopfzierden und dergl., den
Blick auf die vornehmsten Stellen hinlenkt; bald, wie die Gürtel, Arm-
spangen u, a., die Haupttheile in zierlichem Spiele leicht, unterbricht.
Dahin gehören endlich die Attribute der Götter und Heroen, die Waffen
der Krieger, die Geschirre der Pferde und dergl. mehr, was Alles in der
Kunst nur als der Ehrenschmuck dessen, der es trägt, gelten muss;, wobei
jedoch zugleich nicht ausser Acht gelassen sein mag, dass diese Züthaten,^^

*) Inghirami: Monumenti etruschi, S, F/, tv! TX, d. — M. Carlbhi:
Bassirilievi VolscL — Real Museo Borbonico. T. Jf, (. IX—Xll, p. 13.

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I I I. Ueber die Polychromie dor griecliischen Architektur etc. 323

-wenn sie von Metall angesetzt wurden, eine grössere technische Bequem-
lichkeit gewälirten, und vieles Schone und Edle auszuführen erlaubten, was
im Stein nicht möglich gewesen wäre. Alles dies mag nun aufs Mannig-
faltigste durchgebildet und modificirt worden sein; immer indess erscheint
das Wesentliche der Sculpturwerke, und es erscheinen vor Allem die nack-
ten Theile des menschlichen Körpers in jener einfachen Weise ausgeführt,
welche dem vollkommensten Genüsse der reinen Form kein Hinderniss in
den Weg legt').

Für eine Naturnachahmnng, welche mit den Formen des Körpers zugleich
das gesammte Farbenspiel desselben darzustellen gestrebt hätte, finden wir
unter den bedeutenden Leistungen der gesammten griechischen Kunst kein
Zeugniss. Auch auf etwanige Bestrebungen der Art in den früheren Perio-
den der Kunst weist uns nichts zurück: wir haben die schwarzen und
rothen Bildwerke alten Styles, die schon in der Farbe von der Natur noch
mehr entfernt sind als die späteren, kennen gelernt. Jene alterthümlichen
volscischen Reliefs scheinen sich zwar entschieden einer solchen Richtung
zuzuneigen; doch genügt es zu bemerken, dass sie — wenn auch wirklich
alt und nicht blos alterthümlich — eben volscisch sind und nicht griechisch,
und dass vielleicht auch dieser Umstand den Unterschied beider Völker
hervorzuheben geeignet sein möchte — Ein kleiner Schritt zu einer wei-
teren Naturnachahmung zeigt sich an den Sculpturen des aeginetischen Tem-
pels: an ihnen waren nicht nur die Augen, sondern auch die Lippen
bemalt. Aber gerade hier entspricht diese Eigenthümlichkeit der beson-
deren Entwickelungsperiode, welche durch diese Statuen bezeichnet wird.
Es ist in ihnen ein mühsames Ringen, um sich die Erscheinung der Natur-
formen zu eigen zu machen, ersichtlich; ein Ringen, welches überall in den
Verhältnissen der Kunstentwickelung eintritt, wo man zuerst die Nothwen-
digkeit, die Gesetze der natürlichen Formen zu ergründen und zu erschöpfen,
erkannt hat, und welches in dieser materiellen Vollendung auf einige Zeit
den höchsten Zweck der Arbeit zu finden glaubt. So konnte man gerade
hier leicht auf eine weitere Anwendung natürlicher Färbung im Nackten
kommen, und dies um so mehr, als auf der einen Seite hier in den Gesich-
tern eine grössere Belebung der Formen durch Schule oder Satzung zurück-
gehalten scheint , auf der andern eben in der Natur auch die Lippen
durch eine schärfere Lokalfarbe ausgezeichnet sind. Auffallend ist es aller-
dings, — nicht dass hier eine solche Farbenanwendung Statt fand, son-
dern dass man von derselben, unter den eben angegebenen Verhältnissen,
keinen ausgedehnteren Gebrauch gemacht hat; und so zeigt sich schon in
diesen Statuen jenes Maasshalten der griechischen Kunst, welches wir
überall in so hohem Grade bewundern müssen. Als man aber nachmals
der Formenbildung Herr und dieselbe nur ein Mittel zur Darstellung h()hcrer

Auch auf vielen Vasenbildern, sowohl des älteren als des entwicivelten
griechischen Styles , nimmt man ein dem obigen ähnliches System der Farberi-
gebung wahr. Das Nackte zeigt sich hier ■ durch eine weisse Farbe von der
schwarzen oder rothen Gewandung unterschieden und der einzelne Schmuck ebenso
durch Weiss angedeutet. Selbst die Theile der Gewandung, Waflfen und dergl.
werden zuweilen durch verschiedene Farbentöne bezeichnet. — Ein solches
mehr dem Romantischen verwandtes Princip der etruskischen Kunst ist auch
schon in andren Beziehungen nachgewiesen worden Vergl, K. Schnaase: Nieder-
ländische Briefe, S, 71. ff. —z^) Die Starrheit in den Gesichtern der aegineti-
schen Statuen bei der merkwürdigen Durchbildung ihrer Körperformen ist bekannt.

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324 . Antike Polycfiromie.

Schönheit geworden war, so w^ar es auch nicht mehr nöthig, den Mund,
dessen Leben und Beweglichkeit die blosse Form zur Genüge darstellt,
noch durch Farbe zu bezeichnen; ein Umstand, der zugleich genöthigt
haben würde, alle Theile des Körpers, an welchen das Blut gegen die
Oberfläche der Haut hervordringt, auf ähnliche Weise zu röthen. Erst
später mochte man, vornehmlich in Etrurien, wo dergleichen besonders der
Fall zu sein scheint, neben andren alterthümlichen Darstellungsweisen auch
eine solche Bemalung der Lippen wieder in Erinnerung gebracht haben,
wenn man anders aus den angeführten seltsamen Farbenüberresten, die sich
an der Pallas von Velletri vorfanden, einen Schluss der Art machen darf.
~ Uebrigens ist bei den Sculpturen des aeginetischen Tempels nicht zu
übersehen, wie sow^ohl diese Bemalung der Lippen, als auch insbesoudere
jener reichere Farbenschmuck an den WaiTen zugleich in bestimmtem Ver-
hältniss zu den , wie es scheint, reicher bemalten Theilen des Gebäudes
selbst steht.

Ziemlich volktändige Bemalung findet sich zuweilen an kleineren Ter-
racotten, von denen Manches in die Blüthezeit griechischer Kunst gehören
mag. Aber diese kleinen Dinge haben mit dem Ernste der höheren Kunst
nichts weiter zu schaffen; es sind, mehr oder minder, anmuthige Spiele,
in deren besonderer Ausführung eben kein andres Gesetz als das der Wiil-
kühr und Laune waltet, und die schon in ihren geringen Dimensionen keine
Absicht auf irgend eine Illusion haben können. Gleichwohl jedoch dürfen
wir auch aus diesen unbedeutenden Spielen schliessen, dass mit dem Beginn
der Entartung, wo die höhere Kunst ihrer Würde vergass und selbst zum
Spiele ward, wohl auch an bedeutenderen Werken eine der Natürlichkeit
nahekommende Färbung statt gefunden habe; jene erbleichende Jokaste,
jener erröthende Athamas verrathen uns schon, wenn beide gleich in Metall
ausgeführt waren, dass gewiss auch ähnliche Missbräuche an Marmorbildern
vorhanden gewesen sind. Soviel uns indess Beispiele der entartenden Kunst
erhalten sind, deuten diese vielmehr nach einer andren Richtung als der der
illusorischen Farbenanwendung; es ist in ihnen vielmehr eine übertriebene
und im Einzelnen der Naturfarbe widersprechende Bezeichnung jener, durch
die Natur besonders ausgezeichneten Körpertheile. Am Widerwärtigsten
erscheint dies an den Werken aus Bronze, wo die dunklere Farbe und der
sprödere Stoff von der Beschaffenheit des menschlichen Körpers am Ent-
ferntesten steht, und einzig dessen Formen widergegeben werden sollen. —
, Einem solchen Systeme wie das eben angedeutete, stehen nunmehr auf
der einen Seite diejenigen gegenüber, welche in aller Polychromie der
griechischen Sculptur irgend einen Rest altüberlieferter Barbareil sehen, auf
der andern diejenigen, welche eine vollständige, nach dem Vorbilde der
Natur durchgeführte Bemalung behaupten. Die historischen Zeugnisse, aus
welchen unsre Ansicht hervorgegangen ist, sind bereits dargelegt; es dürfte
dieselbe noch von dem aesthetischen Gesichtspunkte nach beiden Seiten
hin zu beleuchten sein. '

Was die Ansicht jener Gegner der Polychromie anbetrifft, so ist es
zuerst die farbige Darstellung des Auges, an welcher dieselben einen
Anstoss nehmen. Hierüber bemerken wir Folgendes. Wenn die plastischen
Werke nicht geradehin mangelhaft in Bezug auf eine der wesentlichsten
Eigenschaften des menschlichen Körpers: 'den Blick, erscheinen sollten, so
musste, statt jener farbigen Bezeichnung, irgend ein andres Mittel erdacht
werden, welches als ein Aequivalent für die Kraft des Auges gelten konnte.

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I, Ueber die Polychromie der griechischen Architektur etc.

325

Ein solches scheint in der späteren Zeit der griechischen Kunst wirklich
mifgekommen zu sein* wie es, nach dem Vorbilde solcher Werke, bereits
von Winckelmann dargelegt wurde. Wir geben diese Darlegung mit seinen
Worten: — „Die Augen liegen an idealischen Köpfen allezeit tiefer, als
insgemein in der Natur, und der Augenknochen scheinet dadurch erhabener.
Tiefliegende Augen sind zwar keine Eigenschaft der Schönheit, und machen
keine sehr offene .Miene, aber hier konnte die Kunst der Natur nicht alle-
zeit folgen, sondern sie blieb bei den Begriffen der Grossheit tind des
hohen Styls. Denn an grossen Figuren, welche mehr, als die kleineren,
entfernt vom Gesichte standen, würden das Auge und die Augenbraunen
in der Ferne wenig scheinbar gewesen sein, da der Augapfel nicht wie
in der Malerei- bezeichnet, .sondern mehrentheils ganz platt ist,-Avenn der-
selbe, wie in der Natur, erhaben gelegen, und wenn der Augenknochen
eben dadurch nicht erhaben gewesen. Die Kunst ging also hier von der
Natur ab, und brachte auf diesem Wege durch die Tiefe und durch die
Erhabenheit an diesem Theil des Gesichts mehr Licht und Schatten hervor,
wodurch das Auge, .welches sonst wie ohne Bedeutung und gleichsam
erstorben wäre, lebhafter
und wirksamer gemacht wurde" — Die Noth-
wendigkeit einer solchen Bezeichnung also giebt Winckelmann zu; aber
wie findet er dieselbe ausgeführt? Durch eine absichtliche (wenn auch
mehr oder minder nur geringe) Entstellung der schönen Form, um so eine
gewisse malerische Wirkung zu erreichen; durch eine malerische Wirkung,
die natürlicli nur auf ein besonders einfallendes Licht berechnet sein konnte,
und b« einem Wechsel desselben wiederum ganz aufgehoben wurde. —
Noch ein andres Mittel ist jene, ebenfalls spätere imd namentlich heute
vielfach angewandte Weise, die Iris des Auges durch einen eingegrabenen
Hing und die Pupille durch einen Punkt anzudeuten. Hier also gerade-
liin eine der Farbe nahekommende Bezeichnung des Augensternes, die aber
die Form des Auges an sich zerstört und bei ungünstiger Beleuchtung
wiederum mannigfache Missstände .hervorbringt. Wie einfach und natur-
gemäss erscheint gegen beide Weisen jenes ältere Mittel!

Dann ist es die Färbung der Gewänder und der sonstigen Schmuck-
tlieile, welche den Gegnern der Polychromie anstössig wird. Hierin scheint
uns ein gewisses, der Architektur verwandtes Gesetz zu liegen, welches
die verschiedenen Theile des Bildwerkes bestimmt und gleich für den
ersten Blick, von einander sondert, während natürlich ihre Gesammteinheit
durch die selbständige Masse der Form unverletzt bleibt. Auch diese Son-
derung, welche das Yerständniss des Ganzen erleichtert, scheint in der
späteren Kunstzeit durch einen eigenthümlich berechneten Wechsel von
Licht- und Schattenpartieen hervorgebracht zu sein, deren Wirkung jedoch
ebenfalls von einer ganz vereinzelten Beleuchtung abhängig sein musste
inid bereits in das Gebiet des Malerischen streift, während die Plastik
eben nur die Form an sich (die natürlich durch Farbigkeit einzelner Theile
nicht zerstört werden kann) zum Gegenstände hat. Hieran reiht sich dann
von selbst die Farbigkeit der einzelnen, oben angeführten Schmuck theile,
in dcien Anwendung freilich sowohl ein Maass als ein Uebermaass Statt

') Geschichte der Kunst des Altertb. B. V, c. 5, §. 21. Dass das Ange-
führte nur von Werken der späteren Kunstzeit gilt, beweist der Augenschein in
einer jeden, nur einigermaassen vollständigen Gallerie von Antiken oder Gyps-
Abgüssen.

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326 Antike Polychroruie.

linden kann. Dass im Allgemeinen jedoch nur vom ersteren die Rede sein
kann, dürfen wir dem griechischen Geiste des Maasses zutrauen, '

Dies führt uns auf den Hauptgrund, welcher den Gegnern der Polychro-
mie entgegenzustellen ist. Wir müssen in der ganzen Anwendung der Farbe,
davon wir gegenwärtig kein erhaltenes Beispiel vor uns sehen, dem grie-
chischen Geiste eben vertrauen. Oder sind jene Sculpturen des Parthenon,
des Theseus-Tempels u. s. w., die aus Phidias Zeit, vielleicht im Einzelnen
von seiner Hand, auf unsre Tage sich erhalten haben, nicht das Würdigste
und Herrlichste, was in aller Plastik geschaffen worden ist? Hatten wir,
ehe wir sie kennen lernten, ehe sie in Gypsabgüssen über alle Welt ver-
breitet wurden, einen Gedanken von der unübertrefflichen Vollendung, von
der göttlichen Hoheit und Keuschheit, welche allen diesen Gebilden ein-
wohnt? und sollten wir in unserer befangenen Kunstansicht wirklich mei-
nen, dass die Meister, die so Erhabenes schufen, dasselbe wieder durch
barbarische Zuthat verdorben haben würden? Gewiss! wir thun gut, wenn
wir vor jenen Heroen der Kunst unser Knie in Demuth beugen, wenn wir
glauben, wo uns nicht zu sehen vergönnt ward.

Was aber die Meinung der Andren anbetrilTt, die eine Bemalung der
griechischen Plastik als vollkommene Nachahmung der Naturfarben voraus-
setzen, so ist hier zu untersuchen, was eine solche Bemalung erreicht haben
könnte. Wir betrachten nur den nackten menschlichen Körper, da dieser
der eigentlich fragliche Gegenstand ist. Setzen wir hiebei voraus, dass die
Griechen Mittel besessen hätten, nicht etwa die Lokalfarben des mensch-
lichen Körpers in ihrem mannigfachen Wechsel auf den Stein zu über-
tragen (denn dies ist ein Leichtes), sondern auch für alle einzelnen Partieen
der Haut, je nachdem ihre Durchsichtigkeit durch Knochen, Sehnen, Adern
u. s. w., durch den gesammten inneren Organismus verschieden bedingt
wird, vermittelst entsprechender Bereitung und Handhabung der Farben zu
modiliciren j wie hätten sie zugleich die Wirkung des Lichtes auf die durch-
sichtige Haut, die verschiedene Wirkung einer -veränderten Beleuchtung
mit allen ihren durch die Natur des Fleisches bedingten Halblichtern,
Reflexen u. s. w. hervorbringen können? Dies ist unmöglich, und in diesem
Mangel gerade liegt das Starre, Leblose, Mumienhafte, was alle Versuche
der Art als ihren unveränderten Stempel zeigen. An ein Hinzumalen der
Lichter und Schatten auf die Statue ist natürlich gar nicht zu denken und
bedarf gewiss keiner besonderen Widerlegung. Wollte man jedoch anneh-
men , dass das Nackte nur durcli einen allgemeinen fleischfarbigen Ton
bezeichnet gewesen wäre, so ist ebenfalls nicht wohl einzusehen, was ein
solches Verfahren bezweckt haben könnte. Es wäre ein charakterloses
Mittelding zwischen Naturnachahmung und idealer Darstellung der reinen
Form gewesen, was der charaktervollen Kunst der Griechen keineswegs
entspricht. Wir werden auch hier auf das einfache Material des Steines
und des Elfenbeins für die nackten Theile zurückgeführt. Dass unter diesen
Verhältnissen auch nicht eine Nachahmung des Stoffes der Gewandung
vorauszusetzen ist, braucht ebenfalls nicht weiter erwiesen zu werden.

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So linden wir denn in der Architektur, wie in der Sculptur der
Griechen, deren Vereinigung an den grossen Tempelanlagen stets ein
grosses Gesammtwerk erscheinen Hess, das Gesetz der reinen, einfachen
Form allerdings als das eigentliclie und bestimmende festgehalten; wir

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II. Nachträge. • 327

linden aber zugleich, dass in beiden die Farbe hinzutritt, wo die Form
zur vollkommenen Darstellung des Zweckes nicht hinreicht; dass sie vor-
nehmlich da angewandt ist, wo das leichtere Verständniss des Ganzen eine
Sonderung und schärfere Bezeichnung der Theile wtinschenswerth macht,
und dass sie endlich, ihrer Natur gemäss, mannigfach zur weiteren Aus-
schmückung benutzt wird. Diese Ansicht, die auf gleiche Weise von histo-
rischen Zeugnissen wie von den inneren, in der Kunst liegenden Gründen
unterstützt wird, dürfte den streitigen Meinungen über Polychromie eine
richtige Mittelstrasse bezeichnet haben.

Um dem Leser die Resultate der vorliegenden Forschungen nach Mög-
lichkeit zu veranschaulichen, hat ein Freund des Verfassers, Herr Architekt
Strack zu Berlin, es übernommen, die farbige Restauration einer griechi-
schen Tempelarchitektur, nach den angegebenen Principien und mit künst-
lerischer Consequenz, für das Titelblatt dieser Schrift auszuführen. Man
hat sich hiebei die Verhältnisse des Parthenon zum Muster genommen, so
wie ebenfalls, was die Sculpturen anbetrifft, einige von den Metopen und
die Süd-Ecke vom östlichen Giebel dieses Tempels nachgebildet sind. Da
von den Eck-Akroterien bisher nichts entdeckt ist, so hat man diese, nach
Bröndsted's Anleitung , als mit Sphinx*en geschmückt angenommen; die
Stellung der Sphinxe ist dieselbe, wie sie öfters im Alterthum, namentlich
H auf geschnittenen Steinen, vorkommt, — ihre Formation ist vornehmlich

dem Schmucke eines Stirnziegels, welchen ebenfalls Bröndsted mittheilt
nachgebildet. Dass bei den kleinen Dimensionen des Titelblattes und bei
der beengenden Technik der farbigen Lithographie Manches mehr ange-
deutet als vollständig ausgeführt werden musste, wird hoffentlich keinen
Anstoss erregen.

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NACHTRÄGE.
1851.

3

Die vorstehende Arbeit war, wie sich aus den Worten der Einleitung
ergiebt, gerade in den Tagen zusammengestellt worden, als die Gemüther
der Archäologen und der Künstler durch die Frage, ob und wieweit im
griechischen Alterthum an den Werken der Baukunst und der Bildnerei
farbige Zuthat stattgefunden, in einige Hitze versetzt waren. Ich hatte ver-
sucht, durch ruhige Prüfung der Sache und ihrer äusseren und inneren
Zeugnisse zu einer thunlichst bestimmten Anschauung zu gelangen. Meine
Schrift, die mich in die Mitte führte zwischen die Eiferer für das Weisse
und die Eiferer für das Bunte, fand Beifall und Widerspruch; die Wider-
sprechenden warfen mir ein verfrühtes Thun, Systemsucht u. dergl. vor.
Indess hat die Schrift doch vielleicht dazu beigetragen, dass das nothwen-

Reisen und Untersuchungen in Griechenland, B. II, S. 159, Anm, —
A. a. 0., T. XLI.

-ocr page 340-

328 Antike Polychroruie.

dige Bedingniss, aus der wivreu Flut der Einzel-Notizen und Behauptungen
zu einem Gesammtresultat zu gelangen, sich umfassender geltend gemacht
hat. Wäre ihr spezielles Ergebniss selbst ein verkehrtes gewesen, so würde
sie dannn noch nicht unbedingt überflüssig gewesen sein.

In den nächsten Jahren nach dem Erscheinen der Schrift, so lange
jener Eifer sich, durch allerlei erneute Forschungen und Mittheilungen,
noch thätig erwies und bis Andres mich selbst überwiegend auf andre
Beschäftigungen führte, habe ich ziemlich sorgfältig nachgetragen, was mir
bei eigenen Beobachtungen antiker Denkmäler und in den Angaben Mit-
strebender Belehrendes entgegen trat. Ich habe darin manche Bestätigung
jenes Systemes, das ich aufgestellt, gefunden und bin im Einzelnen zu
mancher Modiflcation desselben genöthigt gewiesen. Ich kann aber nicht
sagen, dass diese Modificationen die Hauptsache, das eigentlich Wesent-
liche des von mir aufgestellten Principes berührten. Ich bin durch meine
weiteren Beobachtungen nur zu der Einsicht gelangt, der wir uns auch in
andern Beziehungen tausendfach bequemen müssen: dass die Dinge im
Leben sich nicht immer nach dem Princip, nach der Wesenheit ihres
Begriffes, nach dem Ideal gestalten, dass vielmehr Tradition, Gewohnheit,
Zufall gelegentlich auch starke Mächte sind.

Indess fühle ich mich jetzt, da ich im Begriff bin, die Arbeit über die
Polychromie meinen kleinen Schriften etc. einzuverleiben, doch in einer
eigenthümlichen Lage. Sollte ich, was ich nachträglich gesammelt, in den
'l'ext hineinarbeiten? sollte ich es hierund dort in die Anmerkungen hinein
thun? Beides erschien mir bedenklich. So ungenügend zum Theil die
Notizen, auf denen meine Arbeit beruht, dem nachmals vermehrten Yor-
rath gegenüber sind, so erscheint mir das Ganze, indem ich die Schrift jetzt
wieder zur Hand nehme und ihren Inhalt durchgehe, doch zu einer Con-
sequenz gerundet, die zwischen sich nicht wohl etwas Fremdes dulden
würde. Ich hätte eben eine völlig neue Arbeit liefern müssen; diese aber
hätte einerseits etwas weitgreifende archäologische Studien nöthig gemacht,
zu denen ich einstweilen den Beruf in mir nicht fühle; andrerseits tritt
mir die alte Arbeit, wie sie in ihrer eigenthümlich abgeschlossenen
Richtung da ist, doch auch in einer Berechtiglang entgegen, der ich das
Leben nicht absprechen mag. Ich wage es also, sie als ein Gegebenes
(etwa, als sei sie das AVerk eines fremden Autors,) bestehen zu lassen, und
ich stelle ihr dasjenige, was mir anderweitig an Nt^chweisen und Mitthei-
lungen vorliegt und was sich daraus an eigenthümlichen Resultaten ergeben
muss, im Folgenden einfach gegenüber.

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Zur Architektur. j

Was ich an Zeugnissen alter Schriftsteller über die griechi-
sche Architektur beigebracht, ist von Chr. Walz in den Heidelberger Jahr-
büchern der Literatur, 1837, No. 14, f., einiger Erörterung unterzogen worden.
Walz gehörte zu den Freunden des Bunten und hatte mir somit manche
Einwürfe zu machen. Ich finde indess nicht, dass diese Einwürfe eine
Veränderung in meiner Auffassung des Einzelnen unbedingt nöthig mach-
ten. Nur das Eine gebe ich zu, dass ich auf die Stelle bei Vitruv (IV, 2)
von den blauen Holzbrettern in der alten Kunst an Stelle der späteren

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_ II. Nachträge, 329

Triglyphen zu wenig Gewicht gelegi habe. Die seitdem hinzugetretenen
vermehrten Nachrichten über das Vorhandensein blauer Farbe an den wirk-
lichen Triglyphen geben auch wohl dieser Stelle eine grössere Bedeutung.
Zugleich dürfte hiebei auf eine Stelle jener merkwürdigen Inschrift, welche
sich auf die berühmte Skeuothek des Philon im Piräeus bezieht und welche
von lioss im Kunstblatt 1836, No. 77, f., bekannt gemacht und besprochen
ist, hinzudeuten sein. Hier wird nämlich, unter den vom Bau der Skeuo-
thek zurückgebliebenen Gegenständen, auch ein hölzernes Exemplar einer
behufs der Bemalung gefertigten Triglyphe^), — vermuthlich ein Modell,
wonach die Bemalung und der Preis derselben bestimmt wurde, —- augeführt.

Die Schlussfolgerung, die ich aus der Herodotischen Erzählung über
das von den Siphniern ertheilte
Orakel gezogen (Herod. HI, 57), dass
nämlich, was in Griechenland aus edelm weissem Marmor erbaut worden,
auch im Aeusseren wesentlich als weiss erschienen sei, hat Walz durch
Anführung des Berichtes zu entkräften gesucht, den Pausanias (VII, 22, 4}
über ein aus „weissem Stein" (Marmor) errichtetes Grabmal bei TritMa in
Achaja macht, an welchem Gemälde von Nicias befindlich waren. Ich
sehe indess in diesem Berichte Nichts, was der von mir gegebenen Ansicht
widerspräche; das Marmorgrabmal hatte hienach keinesweges einen farbigen
Anstrich; die Gemälde an demselben (wir erfahren nicht einmal, an wel-
cher Stelle und in welcher Ausdehnung sie sich vorfanden) waren besondre ■
bildliche Kunstwerke, die mit einer polychromatischen Architektur eben
Nichts zu schäffen-^haben konnten. —

Ueber die Farbenreste an architektonischen Monumenten
sind seit dem Erscheinen meiner Schrift mannigfache neuere Mittheilungen
gegeben. Zunächst über die der Denkmäler von Athen, namentlich durch
II. Herrmann (in der Allg. Bauzeitung, 1836, No. 11).

Hienach waren am Theseustempel der Grund des Giebelfeldes und
der Grund der Metopen dunkelbräunlich roth, so auch das Plättchen unter
der Hängeplatte und die Tropfen an den Dielenköpfen, wie die an dem
Bändchen unterhalb der Triglyphen (die Tropfen doch von etwas hellerem
Roth)'; die Triglyphen dagegen, die Dielenköpfe und das Bändchen unter
den Triglyphen (am Architrav)-: waren blau. Der Grund des inneren, mit
fortlaufenden Reliefs versehenen Frieses dagegen war nicht roth, sondern,
wie auch schon durch verschiedene andere Berichterstatter angegeben, blau;
der Architrav unter diesem Friese ist wohl wieder ungemalt, oder in einem
selir blassen bräunlich rothen Ton, anzunehmen. Warum das letztere, sagt
Herrmann- nicht Das Balkenwerk der Kassetten war roth; der oberste
Grund desselben azurblau mit roth und goldnen Sternen. Alle Gesimse
von Echinus^ oder Wellenform, von der des überschlagenden Gliedes und
des Rundstabes, an der Kassettirung, an Friesen, Architraven, Anten und
Hängeplatten waren in der diesen Formen entsprechenden Weise mit Eier-
stäben, Blättern, Perlen in scharf von einander abstechenden Farben gemalt;
einige der Platten an den inneren Gesimsen auch mit dem Mäander-Orna-
ment. — Ausserdem waren im J. 1835 (nach der Mittheilung von Ross, im

') TTaQddsiyficc ^vlivov r-^g toiylvipov Trjs lyxßvffecos. — Von Quast,
in seiner deutschen Ausgabe des Erechtheions von Inwood, Abth. II, Taf. VI.,
stellt die Farbe dieses Architravs, der schon in meiner vorstehenden Schrift
angegebenen Andeutung Schaubert's folgend, als dünkelbrauurotli dar. Die übri-
gen, auf dieser Tafel gegebenen polychromen Darstellungen folgen zum Theil den
Angaben Herrmann s und stimmen im Wesentlichen mit diesen überein..

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4f 330 Antike Polychromie.

Kunstblatt, 1835, No. 31), Bruchstücke des über die Giebelfelder gehörigen
Simses mit deutlich erhaltener Zeichnung höchst zierlicher Palmetten, deren
Farbe sich aber nicht mehr erkennen Hess, aufgefunden.

Ueber den Parthenon bemerkt Herrmann ebenfalls, dass die Bema-
lung hier mit der des Theseustempels am Meisten übereinzustimmen scheine.
Wesentlich hervorzuheben ist seine Angabe über dunkelrothe Farbenspuren
im Grunde des Giebelfeldes und blaue an den Triglyphen, während sich
über die Farbe auf dem Grunde der Metopen nichts angeben lasse. Das
Vorhandensein blauer Farbenspuren auf dem Grunde des inneren Peristyls
bestätigt L. von Klenze in den „Aphoristischen Bemerkungen, gesammelt
auf seiner Reise nach Griechenland" (S. 253); auch erwähnt derselbe
(S. 254) einer deutlichen blauen Färbung auf dem Grunde der Metopen,
was zugleich Serradifalco
(Äntichitä della Sicilia, II, p. 28, f.) bestätigt i).

Von den Propyläen der athenischen Akropolis giebt Ross (im Kunst-
blatt 1836, No. 16) an, dass an ihren Triglyphen blaue Farbe sichtbar sei.
Nach Herrmann's Angabe waren diese Triglyphen nur an der Oberfläche
blau und in den Vertiefungen dunkelgrün. Das Balkenwerk der Kassetten
ähnlich wie beim Theseustempel, doch rothe und blaue Farbe wechselnd
und das Ganze minder reich. An den Antenkapitälen die drei Stäbe wahr-
scheinlich roth mit grünen Zwischenräumen.

Beim Abbruch der Batterie, welche vor den Propyläen aufgerichtet
war, sind Baustücke aus Muschelkalk, mit Stuck überzogen, von einem
unbekannten dorischen Tempel zum Vorschein gekommen. Darunter das
Bruchstück einer Triglyphe, wiederum mit blauer Farbenspur. (Ross, im
Kunstblatt 1836, No. 16).

Der aus demselben Abbruch gerettete und wieder aufgerichtete Tempel
der Nike Apteros, bekanntlich ein ionischer Bau, hatte die zierlichste
Gliederbemalung, wovon aber nur noch die Umrisse erkennbar. (S. das
Werk über denselben von Ross, Schaubert und Hansen, Berlin 1839.)

Die am Erechtheum vorgefundenen Spuren, welche das ehemalige
Vorhandensein schmückender Zuthat erkennen lassen, deuten vorzugsweise
auf goldige Zierden der Art. Nach Herrmann's Bericht sind auch im Grunde
der Decken-Kassetten Spuren vorhanden, denen zufolge anzunehmen, dass
hier Rosetten von vergoldeter Bronze angeheftet waren. Einige sehr interes-
sante Aufschlüsse geben die Fragmente einer Inschrift, die beim Abbruch
der eben erwähnten Batterie gefunden wurden und durch Ross im Kunst-
blatt (1836, No. 39, f., No. 60), sowie mit näherer Besprechung durch von
Quast in seiner deutschen Ausgabe des Erechtheions von Inwood (1840)
bekannt gemacht wurden. Es sind die Reste einer Rechnungsabnahme über
den Bau. Hieraus geht hervor, dass das Kymation am inneren Architrave,
jnit Bemalung (enkaustischer Art) versehen war, dass die Schnecken an den
Kapitalen vergoldet, für die Bronzen und für den Akanthus in den Kas-

In der englischen Uebersetzung der auf Architektur bezüglichen Theile
meiner Schrift über die Polychromie, von Hamilton, welche sich in den
Trans-
actions. of the Institute of british architects of London, Vol. I, part. 1.
(1836)
befinde!;, werden, bei Gelegenheit des Parthenon,
Wood's Letters of an Architect
(London, 1828) angeführt, wo sich (Vol. II, p. 252) die Angabe findet, dass
am Parthenon nicht nur ornamentistische Malereien überhaupt, sondern deren
von zwei verschiedenen Stylen und Daten, eine Malerei über der andern, zu
linden seien. Neuere, doch wohl strengere Untersuchungen haben hierüber nichts
vei'lauten lassen.

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II. Nachträge. 331

setten Vorbilder von Wachs gefertigt und die Bildwerke mit Blei angefügt
waren. Letzteres scheinen die Bildwerke am' Friese gewesen zu sein,
dessen Stucküberzug, auf dem hier angewandten grauen eleusinischen
Steine (wie schon in vorstehender Schrift angegeben), auf einen farbigen
Grund schliessen lässt.

Herrmann «rwähnt ausserdem noch eines eigenthümlichen, im Museum
des Theseustempels aufgestellten ionischen Eapitäls, welches einfach sculp-
tirt, aber mit zierlicher Gliederbemalung versehen ist. Namentlich ist hier
der ungefärbte Kanal der Schnecken von blauen Säumen eingeschlossen,
während das Auge der Schnecken roth und grün gemalt ist. Ein andres,
älinlich behandeltes Kapital (an der Südostecke des Parthenon gefunden),
dessen Zeichnung mir E. Curtius mittheilte, hat, ausser der anderweiten
Gliederbemalung, rothe Schneckensäume und an der Stelle des Auges eine
goldne Rosette auf blauem Grunde. — Auch bemerkt Herrmann schliess-
lich, dass einige einzeln stehende korinthische Säulen zu Athen, namentlich
die choragischen Säulen am Abhänge der Akropolis, an ihren Kapitalen
Spuren von Vergoldung zeigen.

Sehr merkwürdig erscheinen endlich gewisse architektonische Fragmente,
die an der Südseite des Parthenon, in erstaunlicher Tiefe, mit Asche und
angebrannten Holzstücken untermengt, bestimmt unterhalb der Erd-
schicht, welche sich beim Bau des Parthenon bildete, gefunden sind. Sie
rühren hienach von den Heiligthümern her, welche von den Persern zer-
stört wurden, und gehören somit zu den ältesten bekannten Resten atheni-
scher Architektur. Ross hat darüber im Kunstblatt 1836, No. 16, 24 und
57 näheren Bericht gegeben. Ausser einem Rinnleisten von Marmor mit
grünen Palmetten sind es sämmtlich Fragmente von gebranntem Thon mit
glasirter Bemalung, Dach- und Stirnziegel und Rinnleisten, verschiedenen
Gebäuden zugehörig. Die zum Theil sehr zierlich componirten Ornamente
siiul zumeist mit gelber oder rother Farbe auf dunkel sepiabraunem Grunde
gemalt. Die ganze Behandlungsweise scheint hienach wesentlich von dem
Charakter der Ornamentik verschieden zu sein, die in der perikleYschen
Zeit vorherrschend wurde.

Diesen Farbenresten über athenische Architekturen dürften zunächst
solche anzureihen sein, die sich nicht ganz selten an Grabsteinen finden,
wie deren mehrere am Piräeus entdeckt sind. . Ross hat darüber im
Kunstblatt Mittheilungen gemacht, namentlich in No. 59 des Jahrg. 1838.
Die Giebel-artigen Bekrönungen derselben kommen hier besonders in
Betracht. Sie haben farbige Gliederzierden, in sehr einfacher Befolgung
des allgemeinen Systems, und an den tiefer gearbeiteten (oder auch nur
tiefer gedachten) Flächen, vornehmlich des Giebelfeldes, einen dunkleren ^
Grund: theils einen bräunlichen Bolus, theils ein tiefes Blau. An andern
Grabsteinen, die das Giebelstück nicht mehr enthielten, hat Ross auf der
Längenfläche selbst Theile eines rothen Farben Überzuges gefunden. Nach
der Analogie, — da die Grabsteine mit ihren Giebeln auf die Tempelform
als Motiv zurückweisen, — schliesst er hieraus auf einen durchgängigca
rothen Anstrich der äusseren Cellenwände, was zunächst wieder dahinge-
stellt sein mag.

Von dem Minerventempel auf Aegina bemerkt Ross (Kunstblatt,"
1836, No. 16, S. 61) beiläufig, dass an seinen Triglyphen und an den
Tropfen der Dielenköpfe blaue Farbe sichtbar sei. Abel Blouet giebt in
dem grossen Werke der
Expedition scientifique de Moree (Vol. HL pl.

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332 Antike Polychroruie.

53—57) eine umfassende Darstellung der polyclironien Verzierung dieses
Tempels, bemerkt jedoch, dass er hierin derjenigen Darstellung folge,
welche in dem bemalten Relief, das an der einen Wand des Aegineten-
Saales in der Glyptothek zu München angebracht ist und den Tempel in
seiner ursprünglichen Ausstattung und Erscheinung vergegenwärtigt, folge.
Ausser denjenigen farbigen Zuthaten, die ich bereits in meiner vorstehen-
den Schrift nach dem Inhalte des Berichts über die Aufgrabung gegeben,
sehen wir hier blaue Triglyphen neben ungefärbten Metopen (während das
Giebelfeld blau ist), ein über beiden durchlaufendes blaues Band, blaue
Dielenköpfe, weisse Tropfen, das Plättchen unter der Hängeplatte weiss,
die letztere aber roth mit darauf gemaltem grünem Rankenwerk von alter-
thümlicher Bildung (dem rothen Bande über dem Architrav entsprechend).
Aehnlich auch die innen durchlaufenden Gebälke. Die Cellenmauern, an
ihren äusseren und inneren Seiten, durchaus roth. Wesentlich verschieden
von dem Charakter dieser Bemalung erscheinen die Firstziegel (aus gebrann-
tem Thon) und die Stirnziegel (aus Marmor), welche, nach dem Muster
entsprechender Stücke des Tempels, die in München befindlich sind, mit
Palmetten und Voluten-Ornamenten in hellbrauner und dunkelbrauner Farbe
auf gelblichem Grunde bemalt sind. Der Katolog der Münchener Glypto-
thek bemerkt zu jener bemalten Relief-Darstellung: „man sei hierin so
gewissenhaft gewesen, dass man selbst dann nichts dem aus den Ruinen
sicher zu Beweisenden hinzugefügt habe, wenn die unläugbare Erforderniss
zur Harmonie des Ganzen einen Zusatz erfordert hätte." Doch giebt der
Baumeister der Glyptothek selbst, L. von Klenze, in seinen 1838 erschie-
nenen „aphoristischen Bemerkungen" etc. (S. 179), die Bemalung des Tem-
pels wieder in Etwas verschieden an, indem er von der Hängeplatte nicht
bemerkt, dass sie einen rothen Grund habe, sondern dass sie in der Vor-
deransicht mit roth und blauen runden Mäandern und anderem Schmucke
geziert gewesen sei, und indem er den Metopen eine gelbe, den Kanälen
der Triglyphen aber eine zinnoberrothe Farbe zutheilt'). —

Ueber die Farben an sicilischen Monumenten sind durch Serra-
difalco (in den
Antichitä della Sicilia) einige weitere Notizen gegeben.

Der von Hittorf sogenannte, halb ionische Tempel des Empedokles
auf der Burg von Selinunt — dem westlichen Hügel von Selihunt — wird
nach Serradifalco (Vol. H, t. VI, VII.) zu" einem kleinen einfach dorischen
Bauwerk mit zwei Säulen in Antis, in seinen Formen schon eine etwas
spätere Zeit bezeichnend. An seinem Gebälke sind die durchlaufenden Bän-
der meist roth; die Dielenköpfe, die Triglyphen nebst dem über ihnen
hinlaufenden Bande und die Riemchen über den Tropfen des Architravs
blau; die Schlitze der Triglyphen schwarz; die sämmtlichen Tropfen weiss;

') Nachträglich ist, hier einzureihen, dass — was. die griechischen Monumente
Klein-Asiens betrifft — die neueren Entdeckungen in Lycien auch einige,
wiewohl nur geringfügige Beiträge zur Bemalung der Architektur geliefert haben.
Diese betreffen besonders das, jetzt im brittischen Museum befindliche ionische
Heroum von Xanthus. E. Palkener giebt hievon, im
Museum of classicaL
antiquities,
1851, Heft III, S-. 282, die zierliche Dekoration der Kassettendecke.
Auf dem Grunde dieser Kassetten sind noch die, mit rother Farbe gezeichneten
Umrisslinien eines säubern Palmetten- und Blumenwerkes vorhanden, sowie auch
andres Ornament, dessen Farbe aber nicht mehr zu erkennen. Von den Säu-
lenkapitälen bemerkt Falkner, dass der Kanal der Volute durch eine Farbenlinie
bezeichnet sei.

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_ II. Nachträge, 333

im Uebrigeii der Grund des Stucküberzuges durchgehend, auch in den
Metopen, gelblich weiss.

An dem mittleren Peripteros auf dem westlichen Hügel von Selinunt,
nördlich von dem oben genannten Tempelchen, — dem alterthömlichsten
der dortigen Tempel, — bestätigt Serradifalco (II, p. 29, t. XXV If.) den
rothen Grund der Metopen. Ebenso L. von Klenze, in seinen „aphoristi-
schen Bemerkungen" etc. S. 254.

Am Peripteros auf der Südseite des östlichen Hügels, — demjenigen
unter den selinuntischen Tempeln, welcher der Architektur der griechischen
Blüthezeit am meisten entspricht, war nach Serradifalco (II, p. 28) das
Band des Architravs roth, die Triglyphen blau mit schwarzen Schlitzen,
die Riemchen über den Tropfen blau. Zugleich soll aus verschiedenen
Fragmenten mit Bestimmtheit hervorgehen, dass auch die Metopen einen
blauen Grund hatten. Abweichend von dem üebrigen erscheinen einige
architektonische Details aus gebrannter Erde, die am Posticum des Tem-
pels gefunden wurden; sie sind mit schwarzen und braunrothen Verzierun-
gen auf gelbem Grunde bemalt, z. B. mit einem doppelten, durcheinander
geschlungenen Mäander, dessen eine Linie schwarz, die andre braunroth ist.

Zu Agrigent war der sogenannte Herkulestempel (nach Serradifalco,
III, t. XVII.) mit einem rothen Plättchen unter der Hängeplatte und einem
rothen Bande über dem Architrav versehen, während die Dielenköpfe und
die Riemchen am Architrav blau, die Tropfen scheinbar weiss waren. Ueber
Triglyphen und Metopen wird nichts gesagt.

An dem sogenannten Tempel des Castor und Pollux zu Agrigent ver- §

hielt sich die farbige Zuthat ganz ähnlich. [Serradifalco, III, t. XXXVI] i).

Ein mit Farbe geschmücktes Architekturstück von sehr eigenthümlichem
Interesse, in einem der Felsengräber der Cyrenal'ca befindlich, ist bereits
vor geraumer Zeit durch Pacho bekannt gemacht worden (in seiner
Rela-
tion d'un voyage dans la Marmariqite, la Cyrenaique etc.
1827, p. 377,
pl. LIV). Es ist.ein dorischer Fries, der, wie es scheint, die Bekrönung
eines aus dem Felsen gehauenen Sarkophages bildet. Die geradlinig
geschlossenen Triglyphen, die nicht cylindrisch sondern kubisch gebildeten
und mit den Riemchen in derselben Vorderfläche liegenden Tropfen, die :

Anordnung einer flachen, streifig verzierten Hohlkehle über den Metopen
dürften hier auf spätest griechische Zeit schliessen lassen. Die Triglyphen
haben eine, nicht dunkle, weich grüne Färbung, ebenso wie das über ihnen
durchlaufende Band und die Riemchen mit den Tropfen, während jene
Hohlkehle ein etwas dunkleres, mehr bläuliches Grün zeigt.. Ein Bändchen
über dieser Kehle und das unter den Triglyphen durchlaufende Band sind " ■

roth gefärbt. In den Metopen befinden sich Malereien auf lichtbläulichem

Hittorflf hat, wie ich hinzufügend bemerke, in seinem neuen Werke über
polychrome Architektur,
,,Restitution du temple d'Emp^docle etc., 1851, über
welches der folgende Abschnitt einiges Nähere bringen wird, noch ein Paar
interessante dorische Kranzgesirase mitgetheilt. Sie sind auf pl. IX seines Wer-»
kes enthalten. Das eine (Fig. 1—3) ist ein, im Museum von Selinunt befind-,
liches Kranzgesims, mit einem Einnleisten in der Form der Hohlkehle. Der
Ilauptton desselben ist hell gelblich, mit rothen Zwischenbändern, farbigen Blatt-

gliedern und weissen Dielenköpfen und Tropfen. Das andre (Fig. 4—6), dessen *

Rinnleisten die Wellenform hat, ist zu Pozzuolo gefunden. Der Gesammtton T

erscheint hier tiefer gelblich; die Zwischenbänder sind ebenfalls roth, die Dielen-
köpfe und Tropfen blau. •

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334 Antike Polychroruie.

Grunde. Die sehr interessanten Gegenstände dieser Malereien stellen Scenen
aus dem Leben einer schwarzen Sklavin vor, die, wie es scheint, sich
eigenthiiinlicher Gunst von Seiten ihres Herrn zu erfreuen hatte. —

Bei Aufzählung der Denkmäler mit Bezug auf die in der vorstehenden
Schrift erwähnten ist schliesslich noch zu bemerken, dass jene angebliche
Entdeckung von farbigen Spuren an der Trajanssäule zu Rom bereits
sehr bald nach den darüber gemachten Veröffentlichungen auf das Entschie-
denste bestritten worden ist. Morey, der selbst an den desfallsigen Unter-
suchungen Theil genommen, hat schon im Bulletin des archäologischen
Instituts vom März 1836, S. 39, erklärt, dass, was man für grüne Farbe
gehalten, nur von der oben auf der Säule befindlichen Bronze herrühre,
und dass von blauer oder sonst einer Farbe gar nichts zu sehen gewesen sei.

Ehe ich nun aus den hier gegebenen Einzelnotizen eine Summe und
erneute Anschauung für das Gesammtweseu der griechischen Architektur
zu gewinnen suche, muss ich vorerst nochmals auf jene Behauptung zurück-
kehren, der zufolge die griechischen, und namentlich die athenischen Bau-
denkmäler ganz mit P'arbe bedeckt gewesen seien, und die sich besonders
auf die gegenwärtig goldröthliche Farbe des Marmors der athenischen Monu-
mente stützt Am Triftigsten ist diese Ansicht, wie es mir scheint, durch
Wiegmann, in seiner Schrift „über die Malerei der Alten" (1836, S. 126 ff.)
widerlegt worden. Wiegmann erwähnt der grossen Ausdehnung jener
röthlich gelben Farbe, die durchgehend an alten Bauwerken der südlichen
Gegenden und z. B. nicht blos am Colosseum zu Rom, sondern auch an
den Aquäducten der römischen Campagna gefunden werde, wo natürlich
aller Gedanke an Färbung wegfalle. Der Beginn dieses Farbenanfluges finde
sich auch an den südlichen Bauwerken des Mittelalters bis herab zu den
Colonnaden von St. Peter in Rom. Ebenso erscheine dieselbe glühende
Färbung an den drei Tempeln von Fästum, wo wieder andere Gründe
gegen die Annahme einer ehemaligen Färbung sich geltend machten. Jetzt
offenliegende Flächen der Quader nämlich, die, als die Gebäude noch
unversehrt waren, im Innern der Mauern verborgen lagen, seien nicht viel
minder gefärbt, als die übrigen Theile. Dasselbe zeige sich an den, jetzt
von dem Bekleidungsstuck entblössten Stellen der Säulen. „Diese hoch-
gelbe Farbe (so fährt Wiegmann fort) dieser und anderer Bauwerke hat
höchst wahrscheinlich ihren Grund in Eisenoxydhydrat, auch dann, wenn
der Baustein keine Spur davon enthält. Eisen ist ein so allgemein ver-
breiteter Stoff, dass es wenige Körper in der Natur giebt, die ganz frei
davon sind, — selbst in dem Thier- und Pflanzenreich. Wie leicht können
nun solche fein zertheilte eisenhaltige Substanzen mit dem Staube durch
die Winde an jene Monumente getrieben sein und unter Blitwirkung der

') Dipse Ansicht hat übrigens ein älteres Datum als das der Mittheilungen
von Semper. Nach einer Note zu der englischen Uebersetziing der bezüglichen
Theile meiner Schrift über die Pölychroraie in den
Transactions Of the Institute
of british architects Cp. 85j
ist T. L. Donaldson schon im Jahr 1820 bei seiner
Untersuchung des Theseusterapels zu derselben Auffassung gekommen. — Unter
den Gegnern derselben bemerkt namentlich L. vrKlenze, in seinen erwähnten
„aphoristischen Bemerkungen" etc. (S. dass er sich selbst durch" oftmalige

sorgfältige Untersuchung d«r attischen Tempel aus weissem Marmor überzeugt
habe, dass an denselben durchaus keine sichere Spur gänzlicher j^emalung der
Säulen, Cellaraauern und flachen Theile der Gebälke nachzuweisen sei, während
die Farbe sich auf den verzierten Gliedern überall deutlich erhalten habe.

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_ II. Nachträge, 335

Feuchtigkeit sich an die Oberfläche derselben festgesetzt haben, so dass
nach zwei Jahrtausenden eine wirkliche Farbenkruste das unausbleibliche
Resultat davon werden musste !"

Ich kann dem, was Wiegmann über die röthliche Farbe der südlichen
(italienischen) Denkmäler und über deren verschiedene Stärke je nach dem
grösseren oder geringeren Alter der letzteren sagt, aus eigner Beobachtung
nur völlig beistimmen. Auch kann ich seinem Beispiel von den pästani-
schen Tempeln noch ein anderes hinzufügen. An dem sogenannten Tempel
des Jupiter tonans zu Rom, und zwar am oberen Theil der dem Kapitol
gegenüberstehenden Säule, in den Kanelluren, welche dem Carcer Mamer-
tinus zugewandt sind, bemerkte ich eine ganz entschieden rothe Farbe,
Ebenso am unteren Theil der Säulen der sogenannten Gräcostasis. Zugleich
aber finden sich bei den letzteren, an der mittleren Säule, einige tiefe
Löcher und Risse (von unregelmässiger Stellung, so dass es nicht Klammer-
löcher von Gittern oder dergleichen gewesen sein können), in denen ich
eben dieselbe tief rothe Farbe wahrnahm. Die letztere ist also, was sie
auch sei, jedenfalls erst nach diesen Beschädigungen hinzugekommen.

Für einzelne Vorkommnisse (wenn freilich auch nicht zur Erklärung
der röthlichen Farbe an geglätteten Marmorflächen) dürfte schliesslich eine
Bemerkung, die Ross gemacht hat, einen Fingerzeig geben können. Bei
einem Bericht über die Ausgrabungen an der Südostseite des Parthenons,
im Kunstblatt 1836, No. 42, erwähnt er eines aufgefundenen bleiernen
Farbentopfes, der noch zu einem Drittel mit Mennig gefüllt war. Er
erinnert hiebei daran, dass auf der innern Fläche der Säulentrommeln der
Propyläen noch heute die mit Mennig geschriebenen Zeichen der Stein-
hauer und Bauleute zu sehen sind. „Ich vermuthe aber (so fährt er fort),
dass man sich des Mennigs auch bediente, um den Marmor während der
Bearbeitung mit einem leichten röthlichen Tone zu überziehen, wozu die
heutigen Steinmetzen in Griechenland grüne Pflanzensäfte verwenden, damit
seine blendende Weisse, zumal bei starkem Sonnenschein, den Augen nicht
schade. Daraus würde es sich denn erkläre«, warum viele der in diesen
Schichten gefundenen Marmorsplitter einen leichten röthlichen Anflug haben."

Die Annahme, dass an den griechischen Marmortempeln das Wesent-
liche der Architektur, das eigentliche architektonische Gerüst, in der
ursprünglichen Farbe des Steines — weiss — erschienen sei, ist somit durch
die neueren Forschungen nicht widerlegt, sondern nur bestätigt worden.
Dass bei den Bauwerken aus minder edlem Material ohne Zweifel doch
einer, im Ganzen ähnlichen Erscheinung nachgestrebt sei, dürfte ebenfalls
als durchaus wahrscheinlich festzuhalten sein. Die scheinbaren üeberbleibsel
rother Farbe an den grösseren architektonischen Flächen können im Allge-
meinen nicht in Betracht kommen, und folgerecht wird überhaupt das ehe-
malige Vorhandensein röthlicher Farbe, wo sie nicht jüugleicJl durch die
Umrisse eines Ornamentes eingeschlossen erscheint, n^lt einiger Vorsicht
aufzunehmen sein. Namentlich glaube ich hier von der wenig verbürgten
röthlichen oder gar dunkelrothen Färbung des inneren Architr^vs am The-^
seustempel absehen zu dürfen,

Die Bemalung der griechischen Architektur erstreckt sich also ina
Wesentlichen auf dasjenige, was nicht dem architektonischen Gerüste ange-!-
hört. Hiefür liegen gegenwärtig vermehrte Mittheilungen vor, die einen
reicheren Ueberblick über das ganze Verfahren gewähren und allerdings
eine umfassendere Anwendung desselben zu bezeugen scheinen, als ich

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336 Antike Polychroruie.

früher annehmen^zu dürfen glaubte. Doch wird es nicht überflüssig sein,
auch dabei einige Vorsicht walten zu lassen. Um bei der thunlichen
Feststellung des Resultats mit einer Kleinigkeit zu beginnen, so bezeichnet
Herrmann am Theseustempel zu Athen die Tropfen unter den Dielenköpfen
und unterhalb der Triglyphen als roth, während Aehnliches bei keinem
weiteren Denkmal erwähnt wird, sie vielmehr im IJebrigen grösstentheils
als weiss bezeichnet werden. Ferner ist Uur er es, der von einem rothen
Grunde in den Giebelfeldern des Theseustempels und des. Parthenons,
sowie in den Metopen des ersteren spricht, während anderweit — was
Architekturtheile betrifft, vor deiieh sich bildliche Darstellungen abheben
sollten oder konnten —^ .über einen rothen Grund nur bei den Metopen
des alterthümlichsten Tempels von Selinunt, eine (und zwar allerdings
sichre) Kunde vorliegt, und im Gegensatz "gegen solche Anordnung das
Giebelfeld des Minerventempels von Aegina, der innere Fries des Par-
thenons und des Theseustempels, die Metopen des edelsten der selinunti-
schen Tempel, ja sogar die des Parthenons (und beide letztere sogar zur
Seite blauer Triglyphen) als blau gefärbt bezeichnet werden, der Tempel
von Aegina aber sowie jenes kleine Heiligthum zu Selinunt ungefärbte
Metopen hatten. Ich bin fern davon, diesen Berichten des Augenzeugen
(Herrmann's) geradehin widersprechen zu wollen; aber die allgemeine kri-
tische Beschaffenheit der rothen Färbung hätte es, um ihm mit voller Zuver-
sicht folgen zu können, doch wünschenswerth gemacht, eine erschöpfend
genaue Charakteristik der Beschaffenheit jener Farbenspuren, statt der allge-
meinen Angabe ihres Vorhandenseins, zu besitzen. Einstweilen scheint
freilich der Bericht von Ross über die wechselnde Farbe des Grundes der
Giebelfelder an Grabsteinen zu einiger Bestätigung seiner Angabe zu dienen.
— Noch ist, was roth gefärbte Theile betrifft, zu.bemerken, dass nur, wie
vom Aegina-Tempel, so voii einigen selinuntischen Tempeln eine Kunde
über eine rothe Färbung des Architravbandes vorliegt, eine solche aber
über athenische Denkmäler nicht vorhanden ist.

Uebereinstimmeud wiederholen sieh dagegen die Angaben über blaue
Farbe der Triglyphen, an den athenisch dorischen Denkmälern, am Tempel
von Aegina, an denen von Selinunt, mit theilweiser Hinzufügung einer
dunkleren Färbung in den Schlitzen. Dieser Farbe entspricht zugleich das
ebenfalls mehrfach erwähnte Blau der Dielenköpfe und der Riemchen unter-
halb der Triglyphen, an welchen die Tropfen hängen. Hiegegen wird kein
Zweifel statthaft sein. Auch sehe ich sehr wohl ein, dass man sich zunächst
in einer schwierigen Lage befinden würde, falls man etwa behaupten wollte,
wie die Metopen, so seien dennoch gelegentlich auch die Triglyphen
ungefärbt gewesen. Wo keine Farbe mehr wahrnehmbar ist, kann solche
doch ursprünglich immerhin gewesen sein; und wenn uns in einzelnen
Fällen, z. B. bei den oben genannten agrigentinischen Tempeln, nur von
blauen Dielenköpfen und von blauen Riemchen unterhalb der Triglyphen
berichtet wird, so dürfte dies zunächst allerdings schliesseii lassen, dass
auch die Triglyphen selbst an ihnen blau w?iren.

Die Färbung der Triglyphen mit einer so entschiedenen Farbe ist aber
nicht bloss als ein Mehr oder Weniger von bunter Zuthat, nicht als Etwas,
das einer blossen Dekoration angehört, zu betrachten; ihr Vorhandensein
oder Nichtvorhandensein ist zugleich von wesentlicher Bedeutung für die
Auffassung des Gerüstes der dorischen Architektur, ja, für die ganze Art
und Weise ihrer Durchbildung und somit selbst geeignet, zur Oharakteri-

4.,4,

K

-ocr page 349-

_ II. Nachträge, 337

stik der dorischen Culturelemente im griechischen Volksleben einen doch
nicht ganz gleichgültigen Beitrag zu geben. Zunächst wird dadurch meine
frühere Auffassung der Triglyphen als integrirender Theile jenes Gerüstes
erheblich in Frage gestellt. Ich habe mich bemüht, ehe ich hierüber eine
entscheidende Antwort zu gewinnen suchte, noch eine weitere Beleuchtung
der Sachlage, von andrer Seite her, möglich zu machen. Ich habe zu diesem
Behuf die bildlichen Darstellungen
voq Architekturen auf Yasenbildern
durchmustert. Dergleichen Darstellungen sind zwar, wie bekannt, nur mehr
oder weniger flüchtige handwerkliche Zeichnungen und es sind dabei keine
eigentlichen Farben, sondern nur verschiedene Stufen von Dunkel und
Hell — in der Regel nur Schwarz, Roth und Weiss und zumeist nur zwei
von diesen Tönen — angewandt. Doch kann auch diese geringe Abstufung
sehr wohl genügen, um wenigstens den Gegensatz einer verhältnissmässig
dunkleren Farbenfläche gegen den ungefärbten Stein zu bezeichnen; doch
kann auch bei flüchtigster Darstellung wenigstens^das Allgemeine der archi-
tektonischen Erscheinung und ihrer Wirkung angedeutet werden; doch
verbürgt gerade die handwerkliche Unbefangenheit der ganzen Behandlung,
dass die Zeichner sich aller eigenwilligen Coinposition enthielten und die
Dinge, die sie als Zeitgenossen im täglichen Leben vor Augen sahen, ein-
fach wiederzugeben versuchten, so gut es sich thun lassen mochte. Auch
worden wir allerdings aus solchen Darstellungen, falls sich dergleichen
nicht auf bestimmt attischen Gefässen finden sollten, auf den Gebrauch, der
gerade in der ausschliesslich attischen Architektur stattfand, nicht eben
mit Zuversicht zurückschliessen können; aber für das Allgemeine der grie-
chischen Bauweise werden sie doch sehr wohl maassgebend sein.

Die ältesten und in der Zeichnung alterthümlichsten Vasenbilder, die
hier überhaupt in Betracht kommen, haben bekanntlich schwarze Figuren
(gelegentlich mit weisser Färbung des Nackten bei weiblichen Gestalten)
auf rothem Grunde. So wird es an sich nicht auffallen, wenn dieselbe
schwarze, silhouettenartige Darstellung auch bei Architekturtheilen statt-
findet. Dies ist namentlich bei den dorischen Säulen, die auf Preis-Ampho-
ren vorkommen, wie deren mehrere in der Vasen-Sammlung des Berliner
Museums befindlich sind, der Fall. Bei einem dieser Gefässe, No, 649
erscheint der Abakus weiss gefärbt, ein Umstand indess, der in solchem
Falle wohl für eine Farbenverschiedenheit an wirklichen Säulen noch nichts
bedeutet. — No. 1697 derselben Sammlung zeigt eine schon vollständige
Architektur, wo der Abakus der Säulen ebenfalls, doch nicht dvirch Weiss,
sondern durch jenes Purpuryiolett, das bei diesen alterthümlichen Vasen-
bildern gleichfalls vorkommt, unterschieden ist.

No. 671, ebenfalls im Berliner Museum 2), hat eine eigenthümlich
interessante roh alterthümliche Darstellung. Eine dorische Architektur, an
deren Säulen oberwärts wasserspeiende Thierrachen angebracht sind; ent-
kleidete Weiber baden in den Wasserstrahlen, während ihre abgelegten
Gewänder über einer Stange hängen. Das Nackte der Weiber ist weiss
gemalt, ihre Haare und Gewänder schwarz; so sind auch die Säulen weiss,
das Gebälk schwarz.. In den letzteren erscheint der Architrav sehr schmal

Abgebildet bei E. Gerhard: Etruskiscbe und Kampanische Vasenbilder
des königlichen Museums zu Berlin, 1.1. — Abgebildet in dem eben erwähn-
ten Werke von Gerhard, t. XXX, 3.

Kiigler, Kleine Schriften. I. 22

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338 Antike Polychroruie.

im Verhältniss zum Friese, und in diesem scheint das Vorhandensein von
Triglyphen roh durch unj-egelmässige weisse Striche, je drei oder vier,
angedeutet. Die Säulenkapitäle haben eine sehr weite Ausladung, alter-
thümlich dorischer Form entsprechend. Ich weiss nicht, ob man hier auf
den Farben-Unterschied zwischen Gebälk und Säulen ein Gewicht legen
darf; allenfalls könnte man, wie es mir scheint, auf eine besonders starke
Anwendung von Faibe im Gebälk schliessen, ohne damit jedoch die Grenze
für das Einzelne irgend näher angedeutet finden zu wollen^). — No. 1705')
hat ein ähnliches Architekturstück, aber wiederum schwarze Säulenschäfte
und nur die Kapitale tlber denselben weiss gefärbt. Diese Darstellung
macht es doppelt bedenklich, auf die Farbenverschiedenheiten der vorigen
ein erheblicheres Gewicht zu legen.

Anders dagegen scheint der Fall bei dem Gefäss No. 684 derselben
Sammlung, das gleichfalls noch schwarze Figuren (mit weisser Farbe für
das weiblich Nackte) enthält. Eine hierauf vorgestellte dorische Architektur
ist wiederum ganz schwarz, aber mit weissen Riemchen und Tropfen unter
dem Bande des Architravs, ohne alle Andeutung von Triglyphen im Friese.
— Ganz dasselbe (wenn auch in umgekehrtem Farbenverhältniss) erscheint
auf No. 1755 ebendaselbst, einer Vase, deren Darstellung der jüngeren Art,
mit rothen Figuren auf schwarzem Grunde, angehört. Hier ist die Archi-
tektur roth, aber Band und die Tropfen am Architrav schwarz, während
in dem (rothen) Friese wiederum keine Andeutung von Triglyphen sichtbar
wird. Beide Darstellungen, die das unscheinbare Appendix der Triglyphen,
das Riemchen mit den Tropfen, bestimmt bezeichnen und die Andeutung
der sonst so charakteristischen Triglyphen völlig vergessen, scheinen hierin
doch nicht ganz und gar willkürlich zu verfahren. Wenigstens geben sie,
und namentlich die letztere, doch der Vermuthung Ratim, dass gelegent-
lich die Erscheinung der Triglyphen gegen dig Erscheinung der Riemchen
mit den Tropfen zurückstehen mochte, d. h. dass die Triglyphen gelegent-
lich vielleicht keine auszeichnende Färbung hatten, wenn eine solche auch
den Riemchen zugetheilt war.

Höchst merkwürdig ist sodann ein Vasenbild, welches von Gerhard in
den
Annali deW instituto di corrispondenza arclieologica, 1831 (vol XIII,
p.
242, t. XXVII) bekannt gemacht ist. Es ist eine alterthümüche Dar-
stellung mit schwarzen Figuren, Die darauf enthaltene Architektur hat
schwarze dorische Säulen und ein Gebälk, welches nur aus dem Friese
besteht und darin weisse und schwarze Felder mit einander wechseln.
Unter den weissen Feldern aber hängen Tropfen, durch welche sie bestimmt
als Triglyphen bezeichnet werden. So roh und oberflächlich diese Dar-
stellung ist, so geht aus ihr doch jedenfalls hervor, dass hier helle Tri-
glyphen dunkelgefärbten Metopen entgegengesetzt waren. — Das Umgekehrte

*) Will man überhaupt dieser Darstelhing für unsern Zweck schon eine
besondre Bedeutung einräumen, so dürfte sie doch auf eine etwas barbarisirte
Architektur und zugleich auf eine solche, die nicht gerade zur Erklärung der
Tempelausstattung dient,, zurückdeuten. Das Ganze ist eben eine Badehalle, eine
Art Luxusbau, und jene Thierrachen, die aus den Oberthellen der Säulen heraus-
springen, erinnern mehr etwa an die Behandlung der römischen Columna rostrata
als an griechischen Gebrauch, Avährend die (freilich sehr rohe) Kapitälform an
die ganz ungewöhnliche Ausladung einiger etruskisch-dorischen Kapitale (der auf
der Cucumella von Vulci gefundenen) erinnert. — Abgebildet bfli Gerhard,
Trinkschalen und Gefässe des königlichen Museums zu Berlin, II, t. XV,

1,1'

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_ II. Nachträge, 339

'^•mmfm

erscheint in der Darstellung einer Schale des Berliner Museums, No. 1762,
welche rothe Figuren auf schwarzem Grunde enthält. In der hier ange-
gebenen dorischen Architektur erscheinen die Triglyphen sainmt den Tropfen
unter ihnen schwarz, während die Metopen, wie der Architrav und die
Säulen
TOth sind. Hier ist also eine prägnante Farbenanwendung, welche
die Triglyphen vor den andern Architekturtheilen auszeichnete, vorauszu-
setzen. Diese Darstellung ist für die ganze Untersuchung um so wichtiger,
als die Zeichnung in dem Figürlichen hier den edelsten, gemessensten Styl
hat und vorzugsweise an die Läuterung der Formen und des Geschmackes
im periklei'schen Zeitalter gemahnt ').

Bei den brillanten und zum Theil freilich etwas flüchtig behandelten
Vasen der späteren Epoche der Vasenmalerei kommen häufig ganz weiss-
gemalte Arc^hitekturen vor, deren Säulen, wenn solche vorhanden sind, fast
durchgehend' der ionischen Art angehören Einige gelbliche Streifen
pflegen auf ihnen den Hals der Säulen und die-Theile des Gebälkes zu
bezeichnen. Zuweilen, wie bei einigen Darstellungen der Berliner Samm-
lung, sieht man auch den Fries durch vertikale Streifen der Art als einen
für dekorative Wirkung bestimmten Architektur theil bezeichnet, doch fast
nie als solchen scharf hervorgehoben, während das Giebelfeld in der Regel
durch schwarze Farbe auf das Entschiedenste charakterisirt ist. Nur eine
interessante Darstellung der Art, auf dem Gefässe der Berliner Sammlung
No. 1944 3), hat auch im Fries schwarze Farbe mit darüber gemaltem feinem
weissem Eankenornament.

Nicht ganz selten kommen auf den Vasenbildern dieser späteren Epoche
Architekturen vor, die ionische Säulen und einen mehr oder weniger
bestimmt charakterisirten dorischen Fries verbinden, — also derjenigen
Vermischung der Gattungen entsprechen, davon sich an einigen kleinen
spätgriechischen Bauten ausserhalb des griechischen Mutterlandes (z. B. an
dem Grabmal des Theron zu Agrigent) wirkliche Beispiele erhalten haben.
Im Pries sind hier gelegentlich (wie in den Beispielen bei Lenormant und
de Witte,
Elite des monuments ceramographiques, pl. XJCXV, und bei
F. A. David,
Antiquites etriisques, grecques et romaines, vol. III, pl. 9) die
Triglyphen mit ihren Schlitzen angedeutet, ohne dass Triglyphen und
Metopen in der Farbe verschieden erschienen. — Ein sehr merkwürdiges
Beispiel bei Dubois Maison-neuve
(Introduction ä Tetude des vases antiques
d^argile jpeints, pl. XXVIII)
hat, neben weissen Säulen, weissem Archi-
trav und weissem Giebelfelde, die Andeutung rother Triglyphen und

') Ich füge noch eine Notiz hinzu, die ich aus Sempers im folgenden
Abschnitt näher zu besprechender Schrift, ^;die vier Elemente der Baukunst" etc.,
S. 23, entnehme. Hienach befindet sich im britischen Museum
[Etruscan roorn,
Schrank 12, No. 280) eine Vase, auf der ein Porticus mit zwei ionischen Säulen
zwischen zwei Pflastern und dorischem Friese dargestellt ist. Alles schwarz, und
nur die Metopen und das Giebelfeld weiss. Dasselbe Verhaltniss findet bei der
nächsten Vase, ebendort, statt, welche die Darstellung eines dorischen Porticus
mit vier Säulen in antis enthält. — Hienach beschränkt sich die beiläufige
Bemerkung über architektonisoho Darstellungen auf Vasenbiidern, die ich in
meiner Schrift über die Polychromie (oben, S.
271), den ans dem Alterthum erhal-
tenen Zeugnissen für die weisse Gesammterscheinung der Architektur eingereiht
hatte, auf ein engeres Maass (eben als ein Zeugniss der späteren Epoche). Völlig
verliert aber die Bemerkung ihr Gewicht doch nicht. — Abgebildet bei Ger-
hard, Trinkschalen und Gefässe, II, t. XXIU, XXIV.

■Üi

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340 Antike Polychromie.

schwarzer Metopen, so dass sich hiebei nicht blos die Farbeiiunterschiede
der beiden letzteren, sondern zugleich auch die verhältnissmässig dunklere
Erscheinung der Triglyphen gegen den Architrav, also ihre eigne Färbung
neben noch dunkler gefärbten Metopen, ergiebt. — Ein andres Beispiel in
demselben Werke
(pL LXXXVI) hat eine Art dorisirender Säulen und
ebenfalls einen Wechsel hellerer Triglyphen und dunkler Metopen; doch
ist aus dieser Abbildung über das etwaige Verhältniss von Weiss und Roth
nichts zu entnehmen. — Endlich ist nocli eine Vase des Berliner Museums,
No. 1014, anzuführen, die eine weissgemalte ionische Tempelarchitektur,
gleichfalls mit weissen Triglyphen und schwarzen Metopen im Friese ent-
hält. An den Triglyphen der zuletzt erwähnten Beispiele sind zwar die
Schlitze nicht angedeutet; doch ergiebt sich aus dem jedesmaligen Zusam-
menhange und aus dem gegenseitigen Yergleich zweifellos, da§s sie solche
vorstellen sollen. Und wenn diese sämmtlichen letzteren Befspiele keinen
reinen architektonischen Styl mehr bezeichnen, so lässt sich aus ihnen doch
immerhin entnehmen, dass eine Behandlung des dorischen Frieses, wie sie
ihn zeigen, dem Bewusstsein des Alterthums nicht durchaus fremd war.

So finden wir hierin, was das Farbenverhältniss von Triglyphen und
Metopen saramt den zugehörigen Gliedern betrifft, aus verschiedenen Zeiten
Beispiele der verschiedenartigsten Behandlung. Der Sachverhalt aber scheint
sicli nach alle dem, statt sich zu entwirren, nur doppelt unklar herauszu-
stellen. Wenigstens scheint ein festes Princip zu fehlen. So ist es in der
That. In der Bemalung des dorischen Gebälkes — denn allerdings handelt
es sich nur um dieses — fehlt ein auf innerlichen Gesetzen beruhendes
ästhetisches Princip, weil ein solches auch in der Formation die-
ses Gebälkes nicht zur Durchbildung gelangt ist.

Ich komme auf die antike Schultradition über den Ursprung des dori-
schen Gebälkes aus dem Holzbau zurück, wie uns dieselbe bei Vitruv
(IV, 2) erhalten ist. Die Mutulen — die Sparren- oder Dielenköpfe unter
der Hängeplatte — sind nach dieser Tradition eine Nachahmung der her-
vorragenden Lattensparren des Holzbaues, und in der That wird sich schwer-
lich eine andre Erklärung über den Ursprung dieses dekorativen Baugliedes
finden lassen, die sein Dasein vor dem Blicke des naiven Beschauers in
befriedigender Weise rechtfertigte. Sie haben nicht einen prägnant ästhe-
tischen Ausdruck, jedenfalls keinen Ausdruck von solcher Bedeutung, dass
in ihm ihre stets wiederholte Anwendung sich völlig begründen Hesse. Sie
haben für die rein ästhetische Auffassung etwas Willkürliches und machen
schon desshalb ein Zurückgehen auf die Tradition nöthig. Sie ahmen ein
äusserlich Gegebenes, Nicht-Aesthetisches nach, wovon sie doch, bei den
ästhetischen Bedingnissen der Formation des ganzen Kranzgesimses, wie-
derum vielfach abweichen müssen i). Es ist ein absichtliches Festhalten
an einem durch die Tradition, und vorzugsweise nur durch diese, Ehr-
würdigen und Heiligen, — was eben dem Charakter des ganzen Dorismus
entspricht; aber es ist in diesem Festhalten zugleich ein Hemmniss für die
freie ästhetische Entwickelung da. Die regelmässig wiederholte Anwendung
des Schmuckes von jedesmal achtzehn Tropfen unter jedem Dielenkopfe
prägt das conventioneile Wesen dieses dekorativen Baugliedes noch schärfer
aus. Die Tropfen unterhalb der Triglyphen, ob auch augenscheinlich mit

%
4

Iii

Ich verweise hiebei auf die Ausführung von H. Hübsch in seiner Schrift
„über griechische Architektur," §. 12.

ii;-.

-ocr page 353-

_ II. Nachträge, 341

jeuen Tropfen correspondirend, haben ungleich mehr den Charakter einer
lieiter spielenden Dekoration, die zugleich mit dem Wechsel der Stege und
Sclilitzen auf der Fläche der Triglyphen in einem harmonischen Einklänge
steht.

Nehmen wir — wie wir meines Erachtens nicht umhin können — diesen
Ursprung der Mutulen aus dem Holzbau an, so werden wir uns weniger
dagegen sträuben, dass auch die Anwendung der Triglyphen auf einer
Reminiscenz alterthümlicher und durch ihr Alterthum geheiligter Holzbau-
Construction beruhe. Sie bedeuten dann die Stirnseite der Querbalken, die
auf dem Architrav auflagen, oder vielmehr, wenigstens nach Vitruv's Angabe,
die Bretter, die vor die Stirnfläche dieser Balken aufgenagelt wurden.
Wenn Yitruv schon diesen Brettern eine enkaustisch aufgetragene blaue
Farbe zuschreibt, so mag sich dies allerdings nur auf der Ansicht der blauen
Triglyphen an ausgebildeten Steingebäuden dorischen Styles begründen.
Jedenfalls aber spricht die noch heute so häufig vorhandene blaue Farbe
der Triglyphen und ihre dadurch bezeichnete scharfe Unterscheidung von
dem Gerüst der Säulen und des Atchitravs (eine Unterscheidung, die doppelt
auffällig ist, wenn wiederum die Metopen die Farbe jenes Gerüstes tragen)
dafür, dass die Triglyphen in diesem Falle nicht als zu dem Gerüste gehörig
betrachtet wurden.

Dennoch ist ein Umstand im höchsten Grade auffallend. Als nicht zu
dem architektonischen Gerüste gehörig würden die Triglyphen jedenfalls —
mag man ihren Ursprung auffassen, wie man wolle, — selbständige deko-
rative Baustücke ausmachen; sie würden demgemäss zu mannigfacher Ver-
zierung geeignet sein, und es würde diese Verzierung, ihrem ganzen Cha-
rakter gemäss, sehr füglich eine in sich abgeschlossene, z. B. etwa Rosetten-
artige Form haben können. Statt irgend eines derartigen Schmuckes sehen
wir sie aber stets mit jenen senkrechten Schlitzen versehen, welche die
entschiedenste Verwandtschaft mit den Kanelluren der Säulen haben und
ihnen selbst eine unläugbare Verwandtschaft mit den letzteren geben. Wie
weit dies verwandtschaftliche Verhältniss nach der antiken Auffassung ging,
ersehen wir ü. A. aus der Porta Augusta zu Perugia, einem zwar ohne
Zweifel spät-etruskischen, aber in sehr gräcisirenden Formen ausgeführten
Bauwerke, an welchem über dem Thorbogen ein dorischer Fries hinläuft,
dessen Triglyphen ganz nach der Weise von Säulen-Pilastern (und zwar
in einer ionisirenden Form) gebildet sind.

Die kanellurenartigen Schlitze sind es somit, die dennoch den Triglyphen
eine mehr als nur dekorative Bedeutung, die ihnen den Anschein einer
structiven Bedeutung für den Bau geben, die sie dennoch wenigstens fähig
I machen, den wesentlichen Theilen des architektonischen Gerüstes sich ein-
zureihen. Doch wiederum — auch abgesehen von der blauen Farbe, die
fie aus dem Zusammenhange des Gerüstes ausscheidet, — treten andre
I Umstände ein, welche ihre structive Bedeutung aufs Neue zweideutig
I machen. Alte Tradition (jene schon in meiner Schrift über die Polychromie
I angeführte Stelle derlphigenia in Tauris von Euripides, v. 113) deutet zwar
« darauf hin, dass sie ursprünglich das Kranzgesims als abgesonderte Bau-
theile stützten, indem die-Metopen zwischen ihnen offen waren: die Monu-
mente der Blüthezeit der griechischen Architektur sagen nichts mehr davon.
Au ihnen ist die Triglyphe jedenfalls nur noch als das Reliefbild, als die
Andeutung eines solchen structiven Inhaltes zu fassen. Was aber nicht
mehr die Sache selbst, was nur noch das Bild der Sache war, konnte

<

-
i

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342 Antike Polychroruie.

allzuleicht einer anderweitigen Ausdeutung unterliegen. Sodann, und vor-
zugsweise, hätte die Triglyphe, wenn sie als ein wesentliches Bauglied in
die ganze Structur eingreifen und einen organischen Theil derselben aus-
machen sollte, jedesmal nur oberhalb der Säule stehen dürfen, wie sich in
der That K. Bötticher in seiner „Tektonik der Hellenen" (1844) veranlasst
sieht, eine solche monometopische Anordnung der dorischen Architektur
als die wahrhafte und ursprüngliche anzunehmen und dieselbe mit allem
Zauber griechischer Bildungs- und Behandlungsweise zu reconstruiren. Aber
die Monumente der griechischen Blüthezeit wissen auch hievon nichts, und
wir haben hier nicht dasjenige zu erfassen, was hätte sein können und
sein sollen, sondern das, was gewesen ist. Wir finden an den Monumenten
Triglyphen durchweg auch über den Zwischenweiten zwischen den Säulen,
den Architrav in der Mitte belastend, eine Einrichtung, die nicht ganz ohne
Widerspruch gegen das structive Princip erscheint, wenn man die Trigly-
phen als organische Bauglieder, als wirkliche Stützen des Kranzgesimses
betrachtet.

Die Bedeutung der Triglyphe, wie wir sie an den Monumenten finden,
ist also eine entschieden zweideutige und zwitterhafte. Sie erscheint als
ein durch geheiligte Tradition Gegebenes, dessen sich das ästhetische Gefühl
zu bemächtigen sucht, um es künstlerisch zu durchdringen und mit organi-
schem Leben zu erfüllen. Aber der Prozess ist nicht zur Vollendung
gediehen und das Ergebniss desselben ist nur ein conventionell wieder-
kehrendes Dekorationsstück, Die Triglyphe hat die Willkür des Conven-
tionellen: — so darf es uns nicht befremden, wenn auch in der Farbe, mit
der sie versehen wird, ein Typus der Willkür herrscht. Die erhaltenen
Farbenreste an den Monumenten belehren uns, dass die Triglyphen vor-
zugsweise, ohne Zweifel nach irgend einer alten Tradition, blau gefärbt
wurden; das Gesetz ihrer Formation, das gelegentlich doch auch auf die
Farbe eingewirkt haben dürfte, und eine Anzahl von Vasenbildern aus
früher und später Zeit machen es entschieden glaubhaft, dass sie zuweilen
dennoch die Farblosigkeit des architektonischen Gerüstes hatten, oder, durch
eine lichtere Färbung, hievon doch weniger unterschieden waren als die
Metopen. Andres, wie schon bemerkt, lässt vermuthen, dass eine blaue
Farbe des Riemchens unterhalb der Triglyphen noch nicht immer auf einen
blauen Anstrich auch für sie hindeute.

Die Metopen erfordern (wie die Giebelfelder) einen gefärbten Grund,
wenn Bildwerke in ihnen befindlich sind. Haben die Triglyphen eine blaue
Farbe, so liegt es nahe, den Grund jener Flächen tief röthlich oder bräun-
lich gefärbt an
/Ainehmen. Sind die Triglyphen nicht blau, so scheint sich
diese Farbe, welche der Tiefe und Ferne der Luft entspricht, zumeist als
Grund für die Bildwerke zu empfehlen, wie auch über solche Anwendung
verschiedene Zeugnisse vorliegen Sehr auffallend ist die Angabe über

p

Für die Augemesseuheit der blauen Farbe zum Grunde für plastische
Darstellungen lassen sich aus der modernen Kunst, namentlich der florentinischen
des 15- Jahrhunderts (wo zugleich ein entschieden classischer Sinn mehr oder
weniger deutlich hervortritt) sehr zahlreiche Beispiele anführen. Besonders
gehört hieher die Fülle der Reliefs in Terra cotta, von Luca della Robbia und
dessen Nachfolgern. In Bezug auf das Bildnerische ist hiebei zugleich zu bemer-
ken, dass auch diese Terracotten, der antiken Richtung entsprechend, nur auf
äusserst geringe Farbenanwendung bei den Figuren berechnet sind, häufig wohl
auf eine zu geringe, so dass die Figuren in der That gegen den blau gefärbteu

; ^

IdUäil

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II. Nachträge. 343

deü Grund blauer Metopen zur Seite blauer Triglyphen. Nach meiner
gegenwärtigen Auffassung des dorischen Gebällies halte ich aber auch dies
nicht für gänzlich unwahrscheinlich, vorausgesetzt, dass dabei überhaupt
nur einiger Unterschied des Tones stattfand.

Im üebrigen ist darauf hinzudeuten, dass, wenn die Triglyphe ihre
charakteristische Bedeutung als organisches Bauglied verliert, folgerecht
auch die Metope ihre eigenthümlich auszeichnende Bedeutung einbüsst.
Wenn also kein Bildwerk vorhanden ist, das bei der Metope eine tiefere
Färbung ihres Grundes nöthig macht, so wird eine Färbung derselben, zur
Seite schon durch Farbe ausgezeichneter Triglyphen, nicht mehr unbedingt
nöthig erscheinen. Ich glaube daher, dass auch jene Monumente, welche
blaue Triglyphen und ungefärbte Metopen haben, in der That so beschaffen
gewesen sind, und dass auch eine solche Anordnung nur jener willkür-
licheren Ausbildung und Behandlung des dorischen Gebälkes entsprechend
ist

Gniud etwas kalt erscheinen. Von wie trefflicher Gesammtwirkung diese blauen
Gründe der Reliefs io der architektonischen Atilage sind, zeigt vornehmlich die
Vorderseite der Kapelle S. Bernardino zu Perugia vom J. 1462, wenn auch hier
allerdings eine gewisse Ueberladung und Inconsequenz in der Zusammenstellung
der einzelnen Theile auffällig ist. — Es dürfte noch in Frage kommen, wie
es sich, bei der nunmehr feststehenden reicheren Farbenanwendung am dorischen
Friese, mit dem Kapital der dorischen Säule verhalten habe. Dass dasselbe
farbig verziert gewesen, — also der Abacus etwa mit einem Mäander, der Echi-
nus mit Eiern oder Blättern, — darüber liegt, soweit es sich um irgend welche
aufgefundenen Reste, auch nur die leisesten Spuren davon, handelt, kein Zeug-
niss vor. Ich glaube auch cicht, dass eine derartige Verzierung stattgefunden
habe. Mau hat mir hiegegen, bei freundschaftlichen Erörterungen über diesen
etwas schwierigen Punkt, zwar eingeworfen, dass gleichwohl dringende indirekte
Beweise vorlägen: 1) die Analogie mit andern baulichen Gliedern 2) das Bedürf-
niss der Harmonie im Verhaltniss zu den Verzierungen des Deckgesimsos der
Ante; 3) das gelegentliche Vorkommen des in völlig entsprechender Weise behan-
delten Echinus än einzelnen noch strengen, polychromatisch verzierten ionischen
Kapitälen; 4J das völlig dorische Kapital über d«n Karyatiden des Erechtheums
mit ausgemeisseltem Eierstabe am Echinus, was die gleichzeitig auch durch Farbe
hervorgebrachte Anwendung derselben Form voraussetsen lasse; 5) das in der
römischen Kunst bei der wirklich dorischen Säule mehrfach vorkommende sculp-
tirte Ornament derselben Art. Hierauf antworte ich, und zwar zu 1), dass ich
die Glieder des Kapitals, wenn sie in ihrer Form auch andern baulichen Glie-
dern ähnlich sind, doch in itirem Zweck und in ihrer ästhetischen Bedeutung
als wesentlich verschieden von jenen betrachten muss; zu 2), dass eben desshalb
auch ein unmittelbarer Vergleich zu den Gliedern der Ante nicht wohl zulässig
ist, und um so weniger, als diese im Verhaltniss zur Grösse des Säulenkapitäls
viel geringfügiger erscheinen als das letztere; zu 3), dass das ionische Kapital einen
geschlechtlich ganz verschiedeuen Charakter trägt und dass dasselbe jene Behand-
lung schon an sich in der grösseren Detaillirung seiner Formen rechtfertigt; zu
4), dass das Karyatiden-Kapitäl des Erechtheums, ob es scheinbar auch dori-
schen Charakter trägt, doch ebenso wenig etwas beweisen kann, da es dennoch
einem Gebäude eben dieses geschlechtlich verschiedenen ionischen Baustyles ange-
hört; z« 5), dass römischer Gebranch, da die Factoren des griechischen Lebens
i nicht mehr maassgebend waren, auf diese am Wenigsten zurückschliessen lässt.

I Ich muss auf die Darlegung zurückkommen, die ich in der vorstehenden Schrift

von der Bedeutung der Formen der griechischen Architektur gegeben habe und

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314 . Antike Polycfiromie.

Zur S c u I p t u r.

Die Zeugnisse alter Schriftsteller in Bezug auf farbige Ausstattung
der Sculptur, die ich in meiner Schrift über die Polychromie zusammengestellt
I hatte, sind, sofern ich mich danach gegen grössere Farbenfülle und beson-

1 ders gegen eine, die Natur nachahmende Bemalung ausgesprochen, von

I Chr. Walz in den Heidelberger Jahrbüchern (1837, No. 14 f.) einer noch

I schärferen Kritik unterworfen worden, als dasjenige, was in diesem Betracht

I von mir über die Architektur beigebracht war. Aber auch hier kann ich,

I indem ich die Sache nochmals unbefangen prüfe, meinem Kritiker ein

i ' wesentliches Zugeständniss nicht machen. Höchstens handelt es sich dabei

I um ein Mehr oder "Weniger des Nachdrucks, der auf dies oder jenes Wort

t zu legen ist, aber doch eben nichts entscheidet; auch dünkt mich, dass

t mein Kritiker sich selbst von dem Vorwurf ungeeigneter Schlussfolgerungen

(zu Gunsten seiner Vorliebe für das" Bunte) nicht ganz frei gehalten hat.
1 Der Räthlichkeit der von mir nur beiläulig aufgenommenen Emendation

der Plutarchischen Stelle (im Perikles, c. 12) über Elfenbeinmaler wider-
• spricht er, sieht sich dabei aber, um das vorausgesetzte Colorit des Elfen-

beins an den chryselephantineh Kolossalstatuen bei dessen stetig wieder-
holten Netzungen mit Oel oder Wasser zu retten, zu der Annahme eines
eigenthümlichen Verfahrens genöthigt. Die Phädrynten nämlich, die Nach-
kommen des Phidias, denen nach Pausanias (V. 14, 5) das Geschäft der
Reinigung der chryselephantinefi Zeusstatue zu Olympia obgelegen, hätten
als „KünstlergeschJecht" nicht blos dafür, sondern auch für die Einreibung
des Elfenbeins mit Oel und namentlich für die Erhaltung des „zarten Colo-
j rits" z\i sorgen gehabt. Abgesehen davon, dass dies in den Pausanias

siiJ durchaus hinein erfunden ist, so wäre der Erfolg eines solchen von Jahr

v; zu Jahr erneuten Verfahrens für die Erhaltung, vi'enn nicht des Colorits

selbst, so doch der ganzen künstlerischen Bedeutung desselben wohl allzu
f problematisch gewesen. Das aus den stets wiederholten Netzungen des

J Elfenbeins an grossen chryselephantinen Werken gegen dessen Bemalung

I] entnommene Bedenken kann ich hienach noch keinesweges als beseitigt

^ betrachten.

Dann ist es besonders meine hypothetisch gegebene Auffassung der
vielbesprochenen Stelle bei Plinius (H. N. 35, 11) über die Circumlitio des
Nicias, worüber er sich missfällig äussert. Nach ihm ist es eben entschie-
den Bemalung — im eigentlich malerischen Sinne ausgeführte Bemalung,
und er geht sogar soweit, dass er aus solcher Hebung an Sculpturwerken

der ich (abgesehen von dem. was ich oben über das dorische Gebälk entwickelt
habe) auch jetzt noch mit Ueberzeugung folge. Ich muss an das erinnern, was
ich über den Prozess der Bewegung, der im dorischen Kapitp seinen üxirten
ästhetischen Ausdruck gewonnen, gesagt habe. Es liegt in diesen Formen für
meine Auffassung etwas so Grosses, Starkes, dem ästhetischen Sinne in sich so
Verständliches, dass jede hinzugefügte Dekoration auf mich nur einen kleinlichen
und strörenden Eindruck machen würde. Säule, Kapital und Architrav bilden
für diese meine Auffassung ein fest und streng Zusammengehöriges, welches durch
I die Ornamentik des Frieses und Kranzgesimses in keiner Weise bedingt,zu sein

J» braucht, welches diesen Schmuckgliedern in seiner starken Selbständigkeit gegen-

»' übersteht und durch den Mangel eines halben Antheils an ihrem Schmucke noch

i; entfernt nicht ein disharmonisches Verhältniss zu ihnen gewinnt.

i

e'

(

r

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_ II. Nachträge, 345

die am Nicias gerühmte Eigenschaft, dass die Gegenstände seiner Bilder
wirksam aus der Fläche hervortraten, herleitet. Mir erscheint eine solche
Schlussfolgerung ein wenig dilettantistisch. Abgesehen indess hievon, so
bleibt die erwähnte Stelle des Plinius, bleibt das Wesen jener Circumlitio
jedenfalls dunkel; sie würde für eine förmliche Bemalung der Sculptur
sprechen, wenn sie durch bestimmtere derartige Aeusserungen gestützt
würde; sie gestattet aber, da es an den letzteren fehlt, ebenso gut allerlei
andre hypothetische Auslegungen, wie z. B. diejenige ist, welche ich gegeben
habe

Im Uebrigen ist neuerlich besonders L. v. Klenze, in seinen „aphori-
stischen Bemerkungen" etc. (S. 236, ff.), näher auf die, aus dem Alterthum
erhaltenen Aeusserungen über Farbenanwendung bei der griechischen Sculp-
tur eingegangen und hat, meiner Auffassung im Allgemeinen entsprechend,
obgleich zur Annahme einer umfassenderen farbigen Zuthat geneigt, zugleich
auch vom technischen Standpunkte aus das Missliche mancher zweideutigen
Notizen bei alten Autoren, sofern daraus auf eine der Natur entsprechende
Färbung geschlossen werden sollte, dargelegt. —

Den Notizen über Farbenreste an erhaltenen Monumenten der
Sculptur kann ich, zumeist aus eigner Beobachtung, verschiedene nach-
trägliche Bemerkungen hinzufügen.

Das wichtigste und bezeichnendste Beispiel bleibt jene alterthümliche
Dianenstatue im Museum von Neapel (aus Herculanum), die eins der reiz-
vollsten, auf's Anmuthigste durchgebildeten Werke alterthümlich griechi-
scher Sculptur ist. Raoul-Rochette, in seinen
Peintures antiques inedites,
precedees de recherches sur Vemploi de la peinture dans la decoration des
edifices sacres et publics cliez les Grecs et chez les Bomains (Paris
1836,
t. F//), hat eine bildliche Darstellung der Figur mit den an ihr erhaltenen
Farben gegeben. Doch stimmt seine Darstellung mit den Beobachtungen,
die ich an Ort und Stelle machte, nicht ganz genau überein. Ich fand
Farbenspuren an der Krone, sehr deutliche zur Bezeichnung der Augen-
sterne ; den Köchergurt mit einer Spur von rother Farbe oder vielmehr,
wie es mir schien, von Vergoldung; das Gewand mit einem rothen Saum
am Halse, die Aermel, wie es schien, roth und gelb besäumt; eine beson-
ders reiche Ausstattung an beiden Säumen des Obergewandes: erst eine

fei
fei

it

rc ^^

(Säumung des Obergewandes.)

Mit der von mir angenommenen Auslegung der Circumlitio stimmt, wie
ich nachträglich bemerke, H. N. Ulrichs, in seinen „Reisen und Forschungen in
Griechenland" (I, S. 88, No. 24) überein, während Welcker — In der dritten Auflage
von K. O.Müller's Handbuch der Archäologie der Kunst, S. 431, und sonst— das
Wort völlig wörtlich nimmt und darunter das, gelegentlich sehr zierliche Einfassen
der Gewandräoder, des Haares, etwa auch des Körpers mit einem Köcherband
u. dergl., durch Farbe versteht. — Ulrichs, an der erwähnten Stelle, No. 25 und
26, giebt aiisserdem noch einige charakteristische Belege aus alten Autoren für
die wesentlich weisse Erscheinung antiker Marmorbilder.

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feine rothe Linie, dann ein ungefärbter Zwischenraum, dann ein breites
rothes Band mit darauf gemalten, wechselnd gegen einander gekehrten
weissen Palmetten von charakteristisch griechischer Zeichnung, dann, als
äusserste Besäumung, ein gelber Streif; das Untergewand mit einfachem
rothem Saum und so auch die Sandalenrieme mit Spuren von Roth; — das
Roth durchgängig in dem Tone eines schönen kräftigen Karmins. Dass so
Vieles von der Bemalung dieser Statue erhalten ist, aber doch in keiner
Weise mehr, namentlich Nichts von der Ausfüllung grösserer Flächen,
scheint mir wesentlich berücksichtigungswerth.

Unter andern Werken alterthümlichen Styles dürfte zunächst die
bekannte herculauische Pallas im Museum von Neapel zu nennen sein. Bei
ihrer Ausgrabung fanden sich an Haar und Gewand Spuren von Vergol-
dung, nach Winckelmann's Bericht in solcher Stärke, dass die Goldblätt-
chen förmlich abgezogen werden konnten. — An einer trefflichen altgriechi-
schen Athletenstatue im Museum von Neapel (No. 37), die dem Style nach
zunächst etwa auf die Statuen von Aegina folgt, bemerkte ich die hellere
Spur eines Riemens, von der rechten Schulter über der Brust nach der
linken Seite, auch an der Hüfte einige zugekittete Löcher, wo der Riemen
(der aus Bronze bestanden haben dürfte) befestigt war. Um die Brust-
v^'arzeu ging ein dunklerer Ring. — Bei der bekannten alterthümlichen Ino-
Leucothea mit dem jungen Bacchus, in der Glyptothek zu München (No. 97),
unterscheidet sich, nach dem Kataloge von Schorn, das Gesicht durch
grössere Weisse und Glätte von den Haaren; auch sind die Ohren durch-
bohrt. Nach L.
v. Klenze (Aphoristische Bemerkungen etc. S. 255) hat
das Haar dieser Statue Spuren von Vergoldung, während am Gewände
Spuren von grünem Anstrich und rothem Rande sichtbar werden. — Ferner
zeigt eine Spur gemalter Augensterne eine treffliche griechische Büste, der
sogenannte Faun Winckelmann's, in der Münchener Glyptothek (No. 103). —
Elöthliche Spuren im Haar sieht man u. A. an zwei weiblichen, zur Familie
des Baibus gehörigen Marmorstatuen aus Herculanum, im Neapler Museum
(No. 45 und 50), und an der Statue der Eumachia aus Pompeji (eben-
daselbst, No. 79). Ebenso augenscheinliche Spuren dunklerer Haarfärbung
an den Büsten der älteren Faustina, Gemahlin des Antoninus Pius, und
der Julia Pia im Vatikan zu Rom (im Pio-Clementinum, Sala rotonda,
No. 4 und 10).

Noch ist als ein Werk der edelsten griechischen Zeit jene schöne Statue
des Amor unter den Elgin'schen Marmorwerken anzuführen,,dessen Köcher-
band in so ganz leisem Relief gearbeitet ist, dass dasselbe, um bei massig-
ster Entfernung sichtbar zu bleiben, nothwendig irgendwie durch Farbe
oder Vergoldung hervorgehoben sein musste.

Unter den Steinsculpturen mit eingesetzten Augen ist namentlich die
Kolossalstatue des Apollo Citharödus, der früher sogenannten Barberinischen
Muse, in der Münchener Glyptothek (No. 82) anzuführen, dessen Augen
eingelegt und mit Augenwimpern von Erz umgeben sind und bei dem die
gegenwärtig vertieften Augensterne ohne Zweifel durch ein andres glänzen-
des Material ausgefällt
Avaren. ~ Ein Herkuleskopf im Campo Santo zu
Pisa (No. 102) hat eingesetzte Augensterne von Metall.

Für etwaige Färbung des Nackten dürfte eine Statue des Satyrs mit der
Flöte in der Müncheuer Glyptothek (No. 106), ein treffliches Exemplar dieser
oft vorhandenen, ohne Zweifel praxitelischen Composition, zu erwähnen
sein, indem dieselbe durchaus einen gelb-röthlichen Ueberzug hat. Der

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wmmmm-

II.- Nachträge.

Sileii mit dem .juiigeii Bacchus in derselben Sammlung (No. 115) zeigt nach
L.
v, Kleuze (a. a. 0.) unverkennbare Sppren eines dunkelrothen Anstriches
des Gesichts, der Haare und mehrerer Nebensachen. Eine vortreffliche Büste
des Demetrius Poliorcetes im Pariser Museum hat nach Waagen (Kunst-
werke und Künstler in Paris, S. 128), ausser der Spur des in Bronze hin-
zugefügt gewesenen Diadems an den Haaren, ebenfalls eine röthliche
Fleischfarbe. Ohne die Schlussfolgerungen für wirklichen röthlichen oder
rothen Anstrich, die hieraus für den einzelnen Fall zu entnehmen sein
möchten, entschieden zu bestreiten, dürfte doch in Frage zu stellen sein,
ob und wie weit hiebei, namentlich z. B. an der erstgenannten Statue, eine
Nachwirkung, des kaustischen Wachsüberzuges sich geltend macht, und ob
im Uebrigen die Erfahrung der so kritischen rothen Farbe an den Archi-
tekturen nicht auch bei Ausdeutung solcher Färbung an Sculpturen eine
besondre Vorsicht erfordert.

Unter den hieher bezüglichen Bronzen ist zunächst eine Athleten-
büste in der Münchener Glyptothek (No. 296), eine strenge Arbeit aus der
schönsten Blüthezeit griechischer Kunst, anzuführen, deren Augen gegen-
wärtig hohl sind und deren Lippen noch eine starke Vergoldung haben. —
Sodann eine Reihe weiblicher Statuen von mittlerer Grösse, aus Herculanum
herrührend, im Neapler Museum (No. 12, 15, 16, 32, 43). Sie haben ein-
gesetzte Augen von Glas und zum Theil zierlich ornamentirte, aus Kupfer
eingelegte Gewandsäume. Das reizende Figürchen einer Fortuna aus Her-
culanunl (ebenda, No. 90) hat zierlichsten Halsschmuck und Gewandsaum,
aus Silber eingelegt. So sind auch die Attribute einer kleinen Isisfigur
(ebenda, No. 88), so an dem Geschirr eines einzelnen kleinen Bronzepfer-
des und an dem, welches den Alexander trägt (ebenda, No. 80 und 83), die
Buckeln aus Silber gearbeitet. Verschiedene Bronzebüsten des Neapler
Museums endlich sind mit Augen von Silber oder Glas oder mit gegen-
wärtig leeren Augenhöhlen versehen. — Die schöne Bronzebüste des L.
Juiiius Brutus im Conservatoren-Palast des Kapitols zu Rom (grosser Saal)
liat Augen von Elfenbein. — Die durch grosse Naturwahrheit und Indivi-
dualität ausgezeichnete Bronzestatue eines Lampadephoren, die bei Piom-
biiio gefunden wurde, hat Lippen, Augenbrauen und Brustwarzen von
Silber (vergl. die
Annali deW inst, di corr. archeol. V, p. 193 ff.) u. s. w.

Auch für die polylithe Sculptur enthält das Neapler Museum bezeich-
nende Beispiele: eine Isis und eine Ceres (No. 228, 244), deren Gewand aus
schwarzem Marmor besteht; und zwei Barbarenfiguren (No. 232, 39), bei
denen das Nackte schwarz, die Gewandung von hellerem buntem Marmor
ist. — Eine Ceres in der Münchener Glyptothek (No. 293) hat wiederum"
ein Gewand von schwarzem Marmor, dessen Gegensatz gegep die Weisse
der nackten Theile sehr eigenthümlich wirkt.

Unter den Reliefs mit den Spuren von Färbung ist eine interessante
bacchische Darstellung aus Herculanum, im Neapler Museum (No. 73) her^r
vorzuheben. Hier sind die darauf enthaltenen Satyrn an den Haaren des
Kopfes, der Schaam und des Schwanzes mit deutlich rother Farbe versehen,

An kleinen Terracottafiguren, die — im Gegensatz gegen die Arbeiten
der vorstehend angeführten Gattungen — mehr oder weniger reich mit Farbe
versehen sind, ist neuerlich in Griechenland mancherlei Merkwürdiges auf-
gefunden. Vorzüglich schöne Arbeiten dieser Art beschreibt L. v. Klenze
in seinen „aphoristischen Bemerkungen" etc. (S. 258). Hier erscheinen picht
blos volle Farben auf den Gewändern, sondern auch das Nackte ist durch

347

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348 Antike Polyclitomie.

röthliche Farbentöne bezeichnet, die, je nach den Geschlechtern und Altern,
mehr in das Dunkle oder mehr in das Weissliche hinüberspielen. L. v.Klenze
rühmt den grossen Reiz und die schöne harmonische Wirkung dieser Arbei-
ten, bemerkt aber, dass dabei gleichwohl von einer, die Natur nachahmen-
den Nüancirung der Farben wenig die Rede sei; vielmehr ergiebt sich aus
seinen Notizen (wonach z. B. das männlich Nackte eine dunkel-rosenrothe
Farbe hat), dass
es sich hier nur um Conventionelle Abstufungen der Far-
bentöne handelt.

Solchen bunteren Werken reiht sich dann auch der Gegenstand eines
interessanten herculanischen Wandgemäldes im Museum von Neapel an,
eine Malerin darstellend, welche die Statue einer Bacchush.erme abmalt
(Gallerie der antiken Malereien, No. 383), Hier erscheint die Herme, auf-
wärts von dem bräunlichen Schafte, in natürlichen Farben, nicht monochrom. —

Den in meiner Schrift über die Polychromie zusammengestellten Angaben
über farbige Ausstattung der Tempelsculpturen ist wenig hinzuzufügen.

An einer der Metopen des Theseustempels, im britischen Museum zu
London, erwähnt u. A. Waagen (Kunstwerke und Künstler in England, 1,
S. 89) des erhaltenen Kopfes eines Ringenden, dessen Haar und Bart nur
als dicke, ganz glatte Masse behandelt sind, also auf eine vorhanden gewe-
sene nähere Bezeichnung des Einzelnen durch Farbe schliessen lassen.

Dasselbe ist an den Resten der Metopen-Sculpturen des Jupiter-Tem-
pels zu Olympia, im Pariser Museum, zu bemerken-.

An den Reliefs des Parthenon, sowohl der Metopen als des inneren
Frieses, erwähnt L. v. Klenze (a. a. 0. S. 254) rother und grüner Farben-
spuren auf den Gewändern.

Die Angabe über die Farbenspuren an den Statuen des Minerven-
tempels von Aegina werden durch L. v. Klenze (a. a. 0.) bestätigt, auch
in Betreff der Farblosigkeit des Nackten., Eine röthliche Stelle am Körper
des Patroclus ist nach seiner Bemerkung zu unbestimmt, um eine Hypothese
der Bemalung darauf zu bauen

Von den zahlreichen rothgemalten Details, an Kleidersäumen, Riem-
geflechten, Gurtbändern u. dergl., welche sich an den hochalterthümlichen
Metopen-Reliefs des mittleren Peripteros auf dem westlichen Hügel zu
Selinunt finden, giebt Serradifalco
(Antiehüä dellaSicilia, Il^t. XXVff.) die
nähere Darstellung, Auch erscheint hier die Figur der Minerva mit schwarz-
gemalten Augensternen. L. v. Klenze (a. a. 0.) bestätigt im Allgemeinen
auch diese Angaben aus eigner früherer Untersuchung und spricht zugleich
von einer blauen schachbrettartigen Verzierung der Gewänder.

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An den Metopen-Reliefs des Peripteros auf der Südseite des östlichen
Hügels von Selinunt, welche der vollendeten griechischen Sculptur sehr nahe
stehen, sind die nackten Theile der weiblichen Figuren aus weissem Marmor
gearbeitet und sehr fein durchgebildet, während das Uebrige aus dem

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") Als dem Style der äginetischen Sculpturen sehr nahe stehend mag hier
noch das alterthümliche Ilelief jener Grabstele erwähnt werden, die in der Gegend
von Marathon aufgefunden wurde, gegenwärtig im Theseustempel zu Athen bewahrt
wird und die Gestalt eines Kriegers mit der Namensuuterschrift Aristion, sowie
die Namensbezeichuung des Künstlers enthält. An der Bewaffnung ist hier ver-
schiedenartiger Schmuck mit rother Farbe aufgemalt und das kurze gefältelte
Gewandstück ebenfalls roth angestrichen, sowie auch der Grund eine röthliche
Farbe hat. Die polychrome Darstellung der Stele s. im
Museum of classical
antiquities, 1851, III,
zu S. 254.

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_ II. Nachträge, 349

roheren weissliclien Tufsteine besteht. (Serradifalco, a. a. 0., p. 68, t.
XXXI. IT.). Dies sehr eigenthümliche Verfahren erinnert lebhaft an das
System der Akrolithen und verstattet, wie das letztere, die Schlussfolgerung,
dass man das für die zartesten Theile angewandte feinere Material, zumal
bei der erheblichen Entfernung der in Rede stehenden Sculpturen vom
Auge des Beschauers, nicht durch einen Farbenüberzug werde unscheinbar
gern acht haben.

In Betreff der alterthümlichen volscischen Terracotta-Reliefs im Museum
von Neapel, welche zu Velletri gefunden wurden, habe ich hinzuzufügen,
dass dieselben sehr roh und barbarisch gearbeitet sind und dass einige.
Fragmente derselben allerdings noch die Spuren roher Bemalung zeigen,
schwarze Pferde, weisse Schilde u. dergl. —

Anderweit ist schliesslich auf die neueren Entdeckungen in Lycien zu
deuten, wo an den Sculpturen, welche in und an Felsengräbern angebracht
sind, sich ebenfalls die Spuren von Bemalung gefunden haben. Höchst
merkwürdig in diesem Betracht sind die Reliefs eines Felsengrabes zu Myra,
von deren Bemalung Fellows
(An account of discoveries in Lycia, 1840,
London 1841, p. 197 ff.) einige Beispiele giebt und die allerdings eine Aus-
dehnung der farbigen Zuthaten andeuten, wie solche bisher in sicheren
Beispielen grösserer Werke noch nicht vorliegt. Bei licht blauem oder licht
karminrothem Grunde erscheint hier das Nackte in einem, der natürlichen
Erscheinung verwandten Tone, während die Gewänder, den angegebenen
Spuren zufolge, gelb, roth, hell violett oder in andrer gebrochener Farbe
bemalt waren. Der Verfasser schliesst hieraus, wie aus andern Gründen,
auf einen Zusammenhang mit Etrurien, und in der That ist auch in der
Behandlung jener Reliefs Etwas, das an (später-) etruskisches Wesen erin-
nert. Andrerseits aber machen sich in den lycischen Felsarchitekturen
orientalische Anklänge und in noch ungleich höherem Grade selbständig
naturalistische Elemente (in der auffallenden Nachbildung des Holzbaues)
so entschieden geltend, dass ein stärkerer und zugleich etwas weichlicher
Naturalismus in der Sculptur, wie er in dieser Bemalung hervortritt, nicht
befremden, aber auch eben so wenig einen unbedingten Rückschluss auf
rein griechisches Wesen gewähren kann —

Sehen wir zunächst von diesen letzteren, jedenfalls eine eigenthümliche
Betrachtung erfordernden Reliefs ab, so. bestätigt die Fülle der übrigen Bei-
spiele im Allgemeinen durchaus die von mir schon früher entwickelte
Ansicht: dass es nemlich in der Farbenanwendung bei griechischen Sculp-

Die jüngsten Mittheilnngen über Farbenreste an lycischen Sculpturen
geben wiederum nur von den Spuren gemalter Details, keinesweges von derselben
umfassenderen Ausdehnung der Farbe, wie an jenen Reliefs von Myra, Nachricht.
G. Scharf, der Einiges darüber im
Museum of classical antiquities, 1851, Heft III,
p. 247 ff. zusammengestellt hat, erwähnt des Reliefs einer Sphinx aus Xanthua,
auf blauem Grund», mit rothen und blauen Farbenspuren auf dem Flügel un4
mit rothen am Kopfbande. Ferner des Reliefs eines Bellerophon aus Tlos, an
welchem die Decke des Pegasus , ohne alles Relief, nur durch Farbe bezeichnet
ist. Er bemerkt, dass an den ältesten Statuen Spuren gemalfer Gewandsäume
gefunden seien, und dass an dem, ebenfalls noch alterthümlichen Harpyen-Monu-
ment die Gründe der Reliefs blau, Schilde, Sandalen und sonstiges Ornament
roth gewesen seien. Von dem ionischen Heroum von Xanthus führt E. Falkener
(ebenda, p. 283) an, dass an den Reliefs desselben die Schilde der Krieger eiuen
rothen Rand hätten; auch Hesse sich aus vorhandenen Spuren entnehmen, dass
metallene Zierden dabei angebracht gewesen seien.

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350 Antike Polychroruie.

turwerken keineswegs auf wirkliche Naturnachahmung abgesehen war, dass
sie vorzugsweise nur zur ICrfüllung dekorativer Zwecke diente und dass
sie zugleich mit dem System der Farbenanwendung an den Architektur-
werken in innigster Harmonie stand. Auch sind die etwaigen Zeugnisse
dafür, dass bei Sculpturen aus edlem Material, namentlich Marmor, das
Nackte einen, wenn nicht die natürliche Erscheinung genau nachahmenden,
so doch derselben sich annähernden Farbenüberzug gehabt habe, zu wenig
bedeutend und zu wenig sicher und entschieden, um daraus eine erheblich
weiter greifende Schlussfolgerung zu ziehen. Sofern aber das Nackte im
Allgemeinen als ungefärbt angenommen wird, liegt es in den nothwendigen
Bedingnissen der künstlerischen Harmonie, auch bei den Gewändern das
entschiedenste Maasshalten rücksichtlich der farbigen Ausstattung anzunehmen.

L. V. Klenze, wie schon angedeutet, nimmt eine grössere Ausdehnung
der farbigen Zuthat an: eine häufig angewandte,halb conventioneile Tönung
der Theile des Sculpurwerkes mit dieser oder jener einfachen Farbe. Ohne
hier näher auf die doch etwas schwierige ästhetische Würdigung einer sol-
chen Bemalung einzugehen, bemerke ich nur, dass diese Annahme, was
ihre sichern Anknüpfungspunkte an Vorhandenes betrilTt, vorzugsweise von
den kleinen bunten Terracotten und sodann von der Behandlung der Farbe
in den neuexlich entdeckten Malereien etruskischer Gräber ausgeht. Beides
aber scheint mir der eigentlichen, und insbesondere der selbständigen Sculp-
tur zu fern zu stehen, um die unbedingte Schlussfolgerung recht zulässig
zu machen.

Doch wird das Vorhandensein der bunten Terracotten, zumal derer
aus guter griechischer Zeit, es immerhin glaubhaft machen, dass das an
ihnen Beliebte gelegentlich auch bei Werken grösseren Maassstabes versucht
sein mag. Einen weiteren Beleg dafür, freilich auch nur für mehr unter-
geordnete Sculpturarbeiten, giebt das oben von mir aufgeführte herculani-
sche Wandgemälde; sowie hiebei auch auf jene, für den reinen Hellenismus
zwar nur bedingt gültigen Reliefs von Myra Rücksicht zu nehmen sein
dürfte. Noch wichtiger aber für die Anwendung einer gelegentlich reicheren
Bemalung der Sculptur scheint mir das Vorhandensein reicherer Färbung
an den architektonischen Theilen des dorischen Frieses zu sein. Wo die
ganze Umgebung durch leuchtende Farben ausgezeichnet war, wird ohne
Zweifel, allgemeinen harmonischen Gesetzen zufolge, auch die bildnerische
Darstellung an solchem Schmucke in umfassenderer Weise Theil genommen
haben. Wie weit dergleichen sich ausgedehnt haben dürfte, lässt sich aus
dem Vorhandenen freilich nicht mehr ermitteln. Auch ist es ganz glaub-
haft, dass, was hienach bei dorischen Fries-Sculpturen geschah, ab und zu
auch bei selbständigeren Einzelwerken zur Anwendung kommen mochte.
Es liegen aber in keiner Weise sichre Zeugnisse vor, dass eine etwas reichere
Bemalung, wie sie hiebei vorausgesetzt werden kann, in dem Gesammt-
gebiet der gi-iechischen Sculptur irgendwie vorherrschend gewesen sei.

Blan hat siqh schliesslich, um das Passliche einer durchgeführten
Bemalung auch an griechischen Sculpturwerken zu erweisen, auf die an
Sculpturarbeiten des christlichen Zeitalters häufig vorkommende und deren
Schönheit zum Theil wesentlich fördernde Bemalung berufen. Ich hätte
darauf allerdings schon in meiner Schrift über die Polychromie eingehen
sollen, aber nur, um aus diesem Verhältniss einen der schlagendsten
Beweise für das Gegentheil zu entnehmen. Die Bemalung an den christ-
lichen Sculpturwerken geht überall, wo sie mehr als roh conventioneller

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_ II. Nachträge, 351

Schmuck ist, darauf liinaus, diesen Arbeiten eine malerische Wirkung und
einen Ausdruck inneren Seelenlebens zu geben, welches Beides ganz ausser-
halb der Absichten der antiken Kunst liegt. Vorzugsweise kommen Mebei
jene bemalten Schnitzaltäre in Betracht, die namentlich in der deutschen
Kunst eine so schätzbare Stufe einnehmen. Diese Arbeiten sind häufig von
vornherein in den Werkstätten der Maler gefertigt; ihre geschnitzten Dar-
stellungen entsprechen häufig den nur gemalten, die auf den Flügeln der
Altarwerke enthalten zu sein pflegen, und sind zumeist ganz nach den
malerischen Bedingnissen der letzteren componirt; um das innerlich Seelen-
hafte, wie dies nur die Mittel der Malerei gestatten, zum Ausdruck zu
bringen, ist dann eine Technik angewandt, welche die speziell bildnerische
Vollendung erheblich in Frage stellt. Das in Holz geschnitzte Werk ist
nämlich mit einem Kreidegrund zur angemessenen Aufnahme der Farbe
überzogen, wodurch die Form abgestumpft und oft die Nothwendigkeit her-
beigeführt wird, in den grösseren Tiefen wieder mit dem Pinsel, durch
Andeutung der Schatten, nachzuhelfen. So sehr diese Arbeiten, oder doch
die besseren von ihnen, in dem ganzen Lebenskreise, dem sie angehören,
ihre Rechtfertigung finden, so schöne und grossartige künstlerische Motive
sie im Einzelnen enthalten, eine so eigenthümliche Tiefe des geistigen Aus-
druckes sie nicht ganz selten besitzen, so erscheint an ihnen doch, geht
man näher auf ihr künstlerisches Wesen ein, etwas Zwitterhaftes in der
Behandlung. Sie gehören eben nur halb der Sculptur und halb der Malerei
an; sie zeigen eine Vermischung heterogener Kunstmittel, über deren Wider-
spruch wir nur hinweggehoben werden, wenn sich in ihnen die volle
Naivetät des kindlichen Gefühles ausspricht, üebrigens zeigen aber auch
diese Werke in der glänzenden Ausstattung an Goldgewändern,. Goldhaaren
und goldnem Schmuck, womit sie versehen sind, dass eine gemeine Natur-
nachahmung bei ihnen ebenso von vornherein ausserhalb der künstlerischen
Absicht lag.

Wie bedenklich eine eigentlich illusorische Färbung der Sculpturwerke
sei, habe ich am Deutlichsten vor den grossen Statuengruppen empfunden,
welche in den Kreuzarmen der Kirche S. Sepolcro zu Mailand aufgestellt
sind. Sie stellen die Passion Christi dar und sind ganz trefflich,- in der
energischen Kraft der italienischen Kunst, gearbeitet; aber die natürlichen
Farben setzen diese lebensgrossen Gestalten sofort auf den Boden der
gemeinen Wirklichkeit, und so machen sie den gespensterhaften Ein-
druck eines starr gewordenen Lebens, — denselben Eindruck, der uns die
Sammlungen der Wachsfiguren so unheimlich macht, was die Eiferer für
die Polychromie nur den künstlerischen Mängeln der letzteren zuschrei-
ben wollten.

Aehnliches würde bei den Sculpturen der griechischen Kunst eintreten.
Und haben die Schnitzfigureu in den deutschen Altarschreinen im bild-
nerischen Sinne nur erst ihre halbe Vollendung und müssen sie die andre
Hälfte bei den Mitteln der Malerei suchen, besteht ihre — ob auch bedingte

— Vollendung in dem* Zusammenwirken beider Gattungen, so ist dies eben
bei den griechischen Sculpturwerken in keiner Weise der Fall. Diese sind
bildnerisch fertig und abgeschlossen, und es liegt ein anderweitiges Kunst-,
bedürfniss von Bedeutung in ihnen nicht vor. Nur als ein Schmückende?

— aber freilich, soweit uns nur ein ürtheil verstattet ist, nach entschieden
künstlerischen Gesetzen und Bedingnissen — tritt das farbige Element bei
ihnen hinzu.

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Vi

Antike Polychromie.

352

III.

BESTÄTIGUNGEN.

(Deutsches Kunstblatt, 1852, No. 15, f.)

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f 1}«,

Es müssen zuweilen Influenzen in der Luft liegen, auch geistiger Natur,
auch wenn uns ihre Bedingnissb nicht ganz klar werden. Vor siebzehn,
achtzehn Jahren bildete das Buntfarbige in der griechischen Architektur
und Sculptur und der Grad seiner Ausdehnung eine der brennendsten Streit-
fragen unter Archäologen und Künstlern; nachdem es damit allmählig ziem-
lich still geworden, scheint die Sache jetzt plötzlich zu neuem Leben zu
erwachen. Mehrseitig, ob vielleicht auch durch sehr verschiedene äussere
Gründe veranlasst, taucht die Frage auf, wie weit sich inzwischen die eine
oder die andre Ansicht bewährt, wie weit unsre Erkenntniss, für die eine
oder die andre Ansicht, an gesicherten Gründen zugenommen habe.

Ich hatte im Spätsommer des vorigen Jahres Nachträge zu meiner
Schrift „über die Polychromie der griechischen Architektur und Sculptur
und ihre Grenzen" (1835) niedergeschrieben, sie mit diesen in die bevor-
stehende Gesammt-Ausgabe meiner „kleinen Schriften und Studien zur
Kunstgeschichte" aufzunehmen. Ich hatte mich bemüht, die Sache damit von
meinem Standpunkte aus thunlichst zu einem neuen Abschlüsse zu bringen.
Nicht lange, nachdem ich diese Arbeit beendet, wurden zwei neue, diesen
Gegenstand behandelnde Werke angezeigt; ein höchst umfassendes:

Restitution du temple d"Empedode ä Selinonte, oii l'Architecture poly-
chronie chez les Grecs par J J. Hittorff, arcliitecte. Avec un
atlas. Paris,
1851. (845 S. in gross 4. und ein Atlas von 24 poly-
chromen Tafeln in Fol.)
und ein knapp geschürztes:

Die vier Elemente der Baukunst. Ein Beitrag zur vergleichenden Bau-
kunde von Gottfried Semper. Braunschweig,
lb51. (104 ä m 8.)
Ich war begreiflicher Weise höchst gespannt auf den Inhalt und das
Ergebniss beider Werke, deren Verfasser, wie bekannt, zu den Hauptver-
tretern einer vollständig durchgeführten Bemalung der griechischen Archi-
tekturen gehören. Andre Arbeiten, die ich inzwischen vorgenommen, liessen
mich erst jetzt an ihre Leetüre gehen, — und nun fühle ich mich, so man-
nigfaches Interesse beide auch im Uebrigen bieten, fast enttäuscht dadurch,
dass sich aus ihnen ein weiteres, neues Resultat von irgend wesentlichem
Belang eben gar nicht entwickeln will. Oder vielmehr: sie haben mir die
freudige Bestätigung gegeben, dass die Ansicht der Sache, der ich bisher
gefolgt war und die ich in jenen Nachträgen auf eine im Ganzen nur mäs-
sige Weise zu modificiren veranlasst gewesen bin, auf leidlich festen Füssen
steht. Wenigstens scheinen mir die Angrifle meiner beiden ehrenwerthen
Gegner, — denn das sind die Verfasser beider Werke, — in denjenigen
Punkten, wo es auf das Wesen der Sache ankommt, aller festen Basis zu
pntbehren.

Ich habe über die Anordnung und den Gesammtinhalt beider Werke
eine kurze Andeutung vorauszuschicken. Das Werk von Hittor ff enthält

i

-ocr page 365-

III. Bestätigungen, 353

zunächst, auf 422 Seiten des Textes, einen selir umfassenden Bericht über
die Verhandlungen und Streitschriften, die über die Angelegenheit der
Polychromie ans Licht getreten sind. Persönliche Motive, persönliche Ver-
hältnisse — die der französischen Archäologen — spielen hiebei sehr wesent-
lich mit; der deutsche Autor, der in diese Kämpfe mit hineingezogen wird,
fühlt sich dabei gelegentlich in der Eigenschaft eines Spielballes, den die
eine Partei der andern, wohl nicht immer im völlig sachlichen Interesse,
zuwirft. Der deutsche Leser, dem es einfach auf die Sache ankommt,
dürfte diesen Dingen
avoM nicht überall die vorausgesetzte Theilnahme
widmen. Ein sehr grosser Theil der Verhandlungen bezieht sich zugleich
auf die Angelegenheiten der Malerei als selbständiger Kunst, mit welcher
die griechischen Wände geschmückt waren; auch dieser Punkt hat nur einen
äusserst bedingten Bezug zu der polychromatischen Architektur. Irre ich
nicht sehr, so bleibt in letzterer Beziehung die von dem Verfasser im
Interesse einer grösseren Buntfarbigkeit vorgelegte Antikritik meiner Schrift
vom Jahre 1835 die Hauptsache.

Hierauf folgt die Erläuterung seiner Restitution des sogenannten Empe-
dokles-Tempels. Dies ist das kleine Heiligthum aus später griechischer
Zeit auf dem westlichen Hügel zu Selinunt, welches nach llittorf ein vier-
säuliger Prostylos mit ionischen Säulen und dorischem Gebälk gewesen sein
soll, nach Serradifalco ein einfach dorischer Bau mit zwei Säulen in antis.
Bekanntlich hat der Verfasser schon vor etwa zwanzig Jahren eine derar-
tige Restitution geliefert- und dabei auf die ganze Angelegenlieit der Poly-
chromie allerdings sehr anregend gewirkt; er wiederholt dieselbe jetzt, in
vervollständigter und ausführlicherer Weise, indem er, um an diesem klei-
nen Bauwerke sein ganzes System der Polychromie zu entwickeln, möglichst
reichhaltige Hülfsmittel antiker Dekoration heranzieht. Unter den Belegen
ist übrigens, soweit sie das wirklich Architektonische betreflen, nichts ent-
scheidend Neues enthalten.

Dann kommen technische Untersuchungen über die Beschaffenheit der
Farben, mit denen die antiken Bautheile versehen und Anstrich und
Bemalung der antiken Wände ausgeführt waren, auch diese mit ausführ-
lichem Eingehen auf die Schriften, die darüber in neuerer Zeit verölfent-
licht sind. Für die Feststellung der polychromen Architektur bei den
Griechen dürften die Ergebnisse dieses grossen Abschnittes wieder sehr
mässig sein.

Endlich die 24 Tafeln des Atlasses sammt deren Erläuterung. Diese
enthalten zunächst die Darstellung jenes sogenannten Empedokles-Tempels.
Derselbe erscheint hienach als ein gelber Bau mit blauen Triglyphen, rothen
Metopen und rothem Giebelfelde, die Seitenwände aus gelbem Quaderwerk
mit breiten rothen Fugen und einigen Hauptfugen von blauer Farbe, Alles
ausserdem, wo es nur zulässig war, mit buntfarbigen Ornamenten versehen,
— als ein Werk, dessen Existenz in solcher Art eben nur in der Phantasie
des Verfassers beruhen dürfte und das auf mein Gefühl einen wenig erquick-
lichen Eindruck, macht. Uebertreflfen wird der letztere freilich noch durch
die farbige Restauration des Kapitäls vom Erechtheum, die der Verfasser
auf Taf. XI, Fig 1 mittheilt und von der sich ein jedes gesund organisirte
Auge mit einiger Sorge vor nachhaltiger Verletzung zuschliessen dürfte.
Doch rettet der Verfasser die Ehre seines eignen gesunden und edeln Far-
bensinnes durch die beiden schönen Schlussblätter, auf denen er die Dar-

23

Kugler, Kleioc Schriften. I.

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354

Antike Polychromie,

Stellung von ihm ohne gelehrtes Grübeln ausgeführter und farbig geschmückter
Architekturen, der Facade von St. Vincent-de-Paul und des Portikus am
Cirque national zu Paris, vorführt. — Ausserdem wird eine erhebliche
Anzahl von Einzelstücken farbiger Dekoration, besonders an architekto-
nischen Gliedern, mitgetheilt. Die besten schon vorhandenen Veröffent-
lichungen solcher (von Herrmann, Poppe u. A.) sind hiebei sehr zweck-
mässig benutzt; Neues aber wird kaum gegeben, wenigstens nichts der Art,
was, wie schon angedeutet, für die Auffassung der Sache nach der einen
oder andern Seite hin entscheidend ins Gewicht fallen könnte. Ungemein
interessant ist die Darstellung architektonischer und andrer Ornamente von
flachem Relief (ohne Farbe), die sich auf sicilischen Thongefässen gefunden
haben (auf Taf. VH). Es sind zumeist sehr reizvolle Verzierungen. Sie
,aber ohne Weiteres als Copien dessen zu betrachten, was in farbiger
Ausführung an den Tempelarchitekturen vorhanden war, scheint mir allzu
gewagt; zwischen der spielenden Freiheit bei dekorativen Gegenständen
und dem hohen Ernste der heiligen Architektur ist zu aller Zeit einiger
Unterschied gewesen. — Es fehlt endlich nicht an Darstellung einiger
bemalten kleinen Bildwerke, an Wandmalereien, an Ornamenten von gemal-
ten Thongefässen und an pompejanischen Wandzierden, unter welchen
letzteren wiederum einiges Interessante, doch in seiner Wesenheit bisher
ebenfalls nicht unberücksichtigt Gebliebene sich bemerklich macht.

Die Schrift von Semper i) zerfällt in zwei verschiedene, nur durch
einen losen Faden verbxmdene Gegenstände. Der erste besteht, nächst einer
Einleitung über die Dinge der Polychromie und die frühere Betheiligung
des Verfassers an denselben, wiederum in einer Antikritik meiner Schrift
vom Jahre 1835. Ich komme hierauf, wie auf Hittorff's Antikritik, im Fol-
genden zurück. Für den Augenblick muss ich mir nur ein Wort über den
Ton, in welchem die Semper'sche Antikritik abgefasst ist, erlauben. Er
behandelt meine ganze Schrift, als sei sie eben jetzt erschienen, als lägen
über den Verfasser, der damals freilich ein Anfänger war, keine weiteren
Zeugnisse vor. Er ist dadurch, dass ich ihm mehrfach entgegen getreten,
unangenehm berührt worden, hat dies Gefühl des Missbehagens sechzehn
Jahre hindurch stillschweigend mit sich herumgetragen und giebt es jetzt
in einer Weise von sich, zu deren Bezeichnung mir das rechte Wort fehlt.

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Der zweite Gegenstand, den die Semper'sche Schrift behandelt, gewährt
ein sehr eigenthümliches, culturgeschichtlich poetisches Interesse. Der Ver-
fasser geht auf die Urzustände der ältesten Völker zurück und entwickelt
aus diesen und aus der verschiedenartigen geschichtlichen Stellung der
Völker die Grundelemente der Architektur und die verschiedenartige Rich-
tung, welche die letztere nehmen musste. Hiebei erklärt sich der Titel der
Schrift, indem als diese Grundelemente aufgeführt wierden: Heerd, Dach,
Umfriedigung und Erdaufwurf. Das Element der Polychromie findet dabei
ebenfalls seine urthümliche Begründimg. Es ist ein anziehendes Gefühl,
an der Hand eines geistvollen Mannes in jene dunkeln Regionen der Welt-
geschichte hinabzusteigen; mag die Ausdeutung der Nebelbilder auch ein
gut Theil individueller Phantasie nöthig machen, so empfangen wir doch

Sie ist des weitere Ausführung eines in englischer Sprache geschriebenen
Aufsatzes von Semper, der unter dem Titel
„On the study of Polychromy, and
its revival"
im dritten Heft dos „Museum of classical antiquities," 1851, ent-
halten war.

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III. Bestätigungen, 355

immer die schätzbarsten Anregungen zu eigner Gedankenarbeit. Und wenn
der Verfasser uns, ausser der rothen Farbe an Architekturen und Flecht-
und Webearbeiten, der Position gemäss, die er äusserlich genommen, noch
weiter von Roth unterhält, so bleibt es in unserm Belieben, das zu über-
sehen oder uns, wenn die Stunde kommen sollte, — zu wehren.

Bei beiden Werken kommt es in der That darauf an, ob und wieweit
sie meine Gründe dafür, dass die griechische Architektur in der Blüthezeit
der Kunst in der Hauptmasse farblos erschienen sei, widerlegt haben. Beide
beginnen, Hittorff ausführlicher, Semper in kürzerer Uebersicht, mit der
Reihenfolge minder erheblicher Anführungen aus alten Schriftstellern, mit
denen ich meine Schrift eingeleitet hatte. Ich will sehr gern gestehen, dass
ich gesammelt hatte, was mir damals in Bezug auf den Gegenstand eben
aufgefallen war, dass darunter manches Unerhebliche ist und dass die von
mir angeführten Stellen der alten Autoren manches Mal eine Auffassung
von verschiedenen Standpunkten gestatten. Ich gebe zu, dass ich Hittorff,
was er mir zum Vorwurf macht, in seiner Aeusserung über den „grünen"
und den „rothen" Gerichtshof von Athen vielleicht eine etwas zu weite
Schlussfolgerung zugeschrieben habe, verlange aber auch, dass meine Gegner
in meine Worte nicht mehr hineinlegen, als von mir geschehen. Ich bemerke
nur, dass ich bemüht gewesen bin, jene Ausdrücke der alten Autoren thun-
lichst naiv aufzufassen, und ich kann nicht sagen, dass meine Gegner durch-
weg ebenso verfahren. Ich finde z. B. nicht, dass dies der Fall ist, wenn
Semper (S. 49) bei Besprechung der bekannten Stelle des Plinius über die
Goldfäden, die im Jupitertempel zu Cyzicus fein „wie die feinsten Haare"
zwischen den Steinfugen „erglänzten," aus der
„materia quamvis occulta^^
des alten Autors ein Durchschimmern dieser zarten Fäden durch einen
Farbenüberzug macht. Ich glaube, dass es die Sache wenig fördern würde,
wenn ich in einen neuen Streit über all diese Punkte eingehen, hier etwas
nachgeben, dort mich vertheidigen, an einer dritten Stelle noch weiter über
meine damalige Schlussfolgerung hinausgehen wollte. Können meine Gegner
schlagendere Gegenbeweise beibringen, «o müssen diese siegen; tritt der
entgegengesetzte Fall ein, so werden jene Stellen immer, mehr oder weniger,
für mich mit ins Gewicht fallen.

Es handelt sich bisher um eine Hauptstelle, — die des Herodot (III, 57)
über das Prytaneion und den Markt zu Siphnos, die mir so unverleugbar,
so schlagend schien, dass ich bei Abfassung meiner Schrift, in welcher ich
sie aufführte, gar nicht darauf verfiel, mögliche Bedenken dagegen zu
ersinnen und diese im Voraus zu beseitigen. Ich hielt es auch durchaus
nicht für nöthig, die ganze beiläufige Begebenheit, die Herodot dabei erzählt,
nachzuschreiben; was jetzt freilich Hrn. Semper, der so wenig wie Hr.
HittoriT den Punkt, um den es sich hiebei allein handelt, trotz meiner aus-
drücklichen Hinweisung bemerkt zu haben scheint, veranlasst, mir in seiner
eigenthümlichen Stimmung eine
^pia fraus^ zuzuschreiben. Beide Gegner
haben umständliche Erklärungen der Stelle zur Begünstigung ihrer Ansicht
gegeben. Ich muss nun schon noch einmal, und etwas ausführlicher, darauf
zurückkommen. Die Pythia hatte den Siphniern das Orakel gegeben:

Wenn einst weiss in Siphnos das Prytaneion erscheinet.

Weiss der Markt aussieht: dann thut ein verständiger Mann noth,

Der vor dem hölzernen Feind euch warnt und dem rStlilichen Herold.

Als aber das Orakel in Erfüllung ging, waren — wie Herodot zur Erklä-

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356 Antike Polychroruie.

rung des ersten Theiles desselben ganz einfach, berichtet — „Markt und
Prytaneion der Siphnier mit parischem Steine ausgestattet;" und der höl-
zerne Feind waren saraische Schilfe und der röthliche Herold eins
derselben,
das, gleich den übrigen nait Mennig angestrichen, in die Stadt gesandt
wurde. Hittorff bemerkt hiezu einerseits, man könne füglich annehmen,
dass die gesammten siphnischen Gebäude nur in ihrer Hauptmasse weiss,
dabei aber an Einzeltheilen farbig gewesen seien, was niemand, der tiber-
haupt an Polychromie glaubt, bestreiten wird. Andrerseits hätten die
Siphnier diese Gebäude sehr wohl absichtlich, auf die Erfüllung des Ora-
kels harrend, in dem ungefärbten Steine belassen können; von welcher
Absichtlichkeit Semper, aus allerdings ganz triftigem Grunde, das Gegen-
theil behauptet. Vor Allem, sagt Hittorff, deute das Orakel auf einen Fall
der Ausnahme von der gewöhnlichen Regel. Hiemit stimmt Semper sehr
überein. Ein rother Herold, so sagt dieser, sei für griechische Begriffe
etwas Ungereimtes gewesen und also — nach dem poetischen Gleichgewicht
der Orakelverse -— ein weisser Markt nebst Prytaneion ebenso; man müsse
demnach auf das Umgekehrte zurückschliessen und, wie statt des rothen
Heroldes einen weissen, so statt der weissen Gebäude deren in rother Farbe
als das Gereimte bezeichnen. Im Uebrigen habe man, mit einer „gewissen
dramatischen Nothwendigkeit" anzunehmen, jene Gebäude seien so eben
im Bau fertig, aber mit der unbedingt dazu gehörigen Bemalung noch nicht
versehen gewesen, als das Orakel sich erfüllte. Das klingt Alles sehr
hübsch, schade nur, dass Hr. Semper von einer Voraussetzung ausgeht, der
der Beweis fehlt! Das Wort nrjQv^, dessen sich das Orakel bedient hatte
und das oben (nach der Lange'schen Uebersetzung) mit „Herold" wieder-
gegeben ist, bedeutet Allerlei, öffentliche Diener mancher Art, öffentliche
Boten, Gesandte. Da nun z. B. die Cretenser, wie bekannt, rothe Gewände
trugen, da die Spartaner sich zum Kriege mit Purpurgewanden schmückten,
so konnte Jemand, den die Einen oder die Andern mit einer öffentlichen
Botschaft sandten, füglich in dieser besondern Farbe erscheinen. Aber es
ist gar nicht nöthig, so weit auszuholen. Hr. Semper braucht nur an die
bekannte Stelle in der Lysistrata des Aristophanes, die u. A. auchPlutarch
im Leben des Cimon (unter dem sich das betreffende Factum zutrug) citirt,
erinnert zu werden, um sich zu überzeugen, dass es mit der Ungereimtheit
der rothen Herolde eine völlig missliche Sache ist. Dort heisst es nemlich,
nach der Uebersetzung von Droysen, V. 1138 ff.:

Vergesst ihr, wie der Lakone Perikleidas einst

Hierher gesendet, als Athens Schutzflehender

Auf jenem Altar bleich im Her ol ds p ur p u r sass ?

Die Einen legen in den Autor alles Mögliche hinein, die Andern neh-
men einfach die Worte wie sie gegeben sind. Das Orakel spricht von
weissen Gebäuden und Herodot giebt als selbstverständlichen Grund ihrer
weissen Erscheinung ohne alle Bedenken und Bezüglichkeiten, ohne nur
im Entferntesten auf die Besonderheiten eines Ausnahmefalles hinzudeuten,
an,, dass sie mit parischem Steine (edlem weissem Marmor) ausgestattet
waren. Alles Weitere an dieser Geschichte, mag man sie so künstlich aus-
legen, wie man wolle, mag man tlabei auch noch viel glücklicher conjec-
turiren als Hr. Semper, ist für unsern Zweck gleichgültig; Herodots ganz ein-
fache und unbefangene Bemerkung kann für den, der nicht Augen und Ohren
und was sonst zum natürlichen Auffassungsvermögen gehört, eigenwillig

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III. Bestätigungen, 357

zuschliesst, lediglich nur auf der Yoraussetzung beruhen: wo parischer
^ Stein (edler weisser Marmor) zur Ausstattung eines Gebäudes verwandt

1 wird, da ist die Erscheinung des letzteren — wenigstens in der Haupt-

I niasse — weiss.

I H. N. Ulrichs, in seinen „Reisen und Forschungen in Griechenland"

I (1840), die mir eist jetzt, aber eben zur günstigsten Stunde, in die Hand

kommen, bestätigt (I, S. 73) diese letztere Ansicht, indem er zugleich noch
I andre, sehr gewichtige Zeugnisse aus alten Schriftstellern, auf die meines

Wissens in dieser Streitsache anderweit noch kein Bezug genommen war,
w für die weisse Farbe der Architekturen beibringt. Er führt Pindar an, der

J (Nem. 130) seinen Hymnus mit einer „weissen Stele von parischem

i Stein" vergleicht. Er erwähnt des ephesischen Dianentempels, der nach

Vitruv (X, 7) von allerweissestem Marmor (candidissimo marmore)^
aus benachbarten Brüchen, erbaut wurde; wobei Vitruv erzählt, wie die
Ephesier lange geschwankt hätten, ob sie parischen, proconnesischen,
heracleischen oder thasischen Marmor zu dem Tempelbau wählen sollten,
und wie sie durch die zufällige Entdeckung jener ausgezeichneten Brüche
in den grössten Jubel versetzt worden seien. Plinius aber berichtet (XXXVI,
5), wie Ulrichs weiter bemerkt, von demselben Tempel, dass die Besucher
durch die Aufseher daran erinnert wurden, ihre Augen bei der Betrachtung
des Gebäudes in Acht zu nehmen; so gewaltig „strahlte der Marmor"
\,^tanta marmoris radicatio ')• Die Eiferer für das Bunte haben mehr-
fach hervorgehoben, dass ein weisses Marmorgebäude unter dem südlichen
Himmel ohne gänzliche Bemalung oder sonstige dämpfende Abtönung für
die Augen des Beschauers unerträglich gewesen sei; hier ist die Bestätigung
dieser Angabe, aber zugleich auch das Zeugniss dafür, dass man dennoch
dies blendende Baumaterial durchaus nicht scheute. Und wenn uns gerade
nur die Notiz für diesen besondern Fall aufbehalten ist, so war derselbe,
I durch jene ausserordentliche Weisse des Steines und durch die, die Dimen-

I sionen aller andern griechischen Tempel weit übersteigende Grösse des

1 Gebäudes, ohne Zweifel eben der vorzüglichst auffällige; die Wirkung

I musste sich hier, durch beide Umstände, in so bedeutend erhöhtem Grade

I äussern. — In Rom, so führt Ulrichs noch weiter an, wurde nach livius

1 (XL, 51) der ältere Capitolinische Tempel und wurden nach Cicero (m

I Verr. II. I, 55) auch die übrigen Tempel weiss angestrichen, ebenso, wie

£ das AVort candens (weiss) zur Bezeichnung des äusseren Ansehens der

I Tempel und reicher Privatgebäude bei den Römern in Gebrauch blieb und

1 wie Virgil(J.en. VIII. 720) den palatinischen Apollotempel eine schneeige

I Schwelle des glänzenden Phöbus nennt.

I Es ist endlich noch nachzusehen, was meine Gegner an positiven

I Gründen für die durchgehende Farbigkeit der antiken Gebäude beibringen.

I Das Wesentliche in diesem Betracht ist bekanntlich jener röthliche Ton,

der sich nicht selten an den Monumenten findet und den athenischen Resten
einen so schönen Goldglanz giebt. Ich hatte in meiner Schrift gesagt, dass,
so lange kein förmliches Gutachten von Chemikern diese Farbe als Rest
eines wirklichen Farbenüberzuges anerkannt habe, ich jener Theorie nicht

') Plinius berichtet dies beiläaflg, bei der Notiz über eine Statue der Hecate,
welche an jenem Tempel
(in templo Dianae post aedtmj befludlich gewesen.
Aus der ganzen Fassung und Stellung des Satzes gebt hervor, dass seine oben
angeführte Angabe lediglich nur auf das Gebäude selbst zu beziehen ist.

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358 Antike Polychroruie.

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beipflichten könne. Was Wiegmann seitdem, aus andern, mir sehr trif-
tig erscheinenden Gründen, zur Erklärung dieser Farbenerscheinung beige-
bracht hat, ist von Semper ganz unberücksichtigt geblieben, von Hittorff,
so viel ich davon in seinem weitläufigen Werke wahrgenommen, nur sehr
obenhin besprochen worden. Hr. Semper aber bringt, um mich völlig zu
schlagen und meinem Begehren nach jenem Gutachten zu genügen, das
„Protocoll einer Sitzung des zur Prüfung der Elgin-marbles in Beziehung
auf daran befindliche Farbenspuren ernannten Ausschusses , gehalten im
britischen Museum, London den 1. Juni 1837" bei, das sich auch bei
Hittorff findet. Ich kann nur leider nicht entdecken, wo in demselben —
abgesehen von allgemeinen Behauptungen — die schlagenden Beweise
liegen sollen. Das Wichtigste dürfte ein dabei mitgetheiltes chemisches
Gutachten von Faraday sein. Hierin wird die Untersuchung der Farben-
spuren von architektonischen Details athenischer Gebäude, deren Vorhan-
densein an sich Niemand bezweifeln wird, vorgelegt. Dana die einer Far-
benspur (Kupferoxyd) vom nördlichen Flügel der Propyläen, von der aber
nicht gesagt wird, wo sie au diesem Flügel befindlich gewesen sei, und
die, ihrer Beschaffenlieit gemäss, auch aus allerlei andern Gründen als
denen einer Bemalung herrühren könnte. Dann die einer Farbenspur von
den Säulen des Theseustempels. In Betreff dieser letzteren , —- der für
den vorliegenden Zweck allein wichtigen — erklärt sich der berühmte
Chemiker für zweifelhaft und — weist in ihr keine Farbe nach. Es
ist wohl nicht nöthig, hierüber noch ernsthaft weiter zu sprechen. —

Was haben wir nun aus der Betrachtung dieser beiden Schriften
gewonnen? Ich denke; eine zufriedenstellende Bestätigung der Ansicht,
dass die griechischen Tempel in ihrer Totalerscheinung nicht bunt waren
und dass sie eine, im Verhältniss zum Ganzen nur massige farbige Deko-
ration hatten. —

Das Hittorifsche Werk hat übrigens bereits zu anderweitiger Erörterung
der Angelegenheiten der Polychromie Veranlassung gegeben. Namentlich
1 ist dies unter den englischen Architekten der Fall gewesen. Das Märzheft

des diesjährigen Civil Engineer and Architecfs Journal theilt die umfas-
fI senden Verhandlungen mit, die, hierüber in den jüngsten Versammlungen

i'; den Institute of British Architects zu London stattgefunden haben. Man

hat die Sache hier unter den verschiedenartigsten Gesichtspunkten beleuch-
tet; man ist ebenso auf ägyptische und altasiatische Sitte zurückgegangen,
wie man die Anwendbarkeit farbiger Ausstattung für die ästhetische Rich-
% tung des heutigen Tages und des nordischen Klimas in Erwägung genom-

• men hat; alle künstlerischen Richtungen, von dem begeisterten Verkünder

I griechischer Buntfarbigkeit bis zum strengen Verläugner derselben, haben

dabei ihre Vertretung gefunden. Es sind zugleich aber auch einige sehr
^ schätzbare Mittheilungen über thatsächlich Vorhandenes gemacht worden;

I und ich erlaube mir, diese aus de?- englischen Zeilschrift zu entnehmen, .

^ Besonders interessant sind die Bemerkungen des Hrn. Penrose, von

^ dem wir bis jetzt die genausten Aufnahmen des Parthenon besitzen und

dessen Urthell über die athenischen Gebäude, soweit es irgend auf Beob-
achtungen von thatsächlich Vorhandenem ankommt, hiedurch zur Genüge
gewährleistet sein dürfte. Er spricht sich zunächst mit Entschiedenheit
dagegen aus, dass der Echinus des dorischen Säulenkapitäls (mit einem
Eierstabe oder ähnlichem Ornament) bemalt gewesen sei. Er habe, so sagt
er, am Parthenon alle best erhaltenen Kapitale mit grosser Aufmerksamkeit

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III. Bestätigungen, 359

untersucht und nicht die leiseste Spur vou Farbe oder von denjenigen ein-
gegrabenen oder eingeschnittenen Linien gefunden, welche gewöhnlich ange-
wandt wurden, um das Muster der Bemalung zu bezeichnen. Am Einn-
leisten, an dem Blattgliede von überschlagender Form, selbst an den Bändern
des Architravs, welche den Einflüssen der Witterung so sehr ausgesetzt
seien, finde man durchweg diese Spuren, während der Echinus, aufs Beste
gegen das Wetter geschützt, eine vollkommen glatte Oberfläche zeige, die
eben erst vollendet zu sein scheine, die einen schönen gleichmässigen Ton
liabe, aber nicht die geringste Spur einer Linie, welche zur Ausführung
"einer farbigen Verzierung bestimmt gewesen sei. Wo sonst solche Linien
nicht wirklich eingegraben, stehe doch die Oberfläche der gemalt gewesenen
Verzierung sehr häufig um die Dicke eines Papierblattes erhaben da; aber
auch hievon sei kein Atom, weder am Abacus noch am Echinus des Par-
thenon, zu finden Hr. Semper (an den erwähnten Verhandlungen Theil
nehmend) will zwar schwache Spuren schwärzlicher Linien am Echinus
der Säulenkapitäle des Theseustempels wahrgenommen haben. Hr. Penrose
versichert aber, dass er auch die Kapitale dieses Tempels mit grosser Sorg-
falt untersucht habe, ohne irgend etwas der Art zu entdecken.

Gegen die Bemerkung Donaldson's, dass das ganze Aeussere des The-
seustempels, einschliesslich der Säulen, mit einem Stucküberzuge, gleich-
zeitig mit der Erbauung und zum Zwecke der Bemalung, versehen gewesen
sei, bemerkt Penrose: er habe, was die*Säulen dieses Tempels betreife, nur
den Eindruck einer ebenso vollendeten Politur und einer ebenso fein durch-
geführten Behandlung wie an denen des Parthenon empfangen. Gegen die
Annahme Semper's, der an der einen Ecke des äusseren Architravs des
Theseustempels rotlie Farbenspuren entdeckt haben will und hienach das
ganze Aeussere desselben in rother Farbe restaurirt, bezieht sich Penrose
auf jenen glühenden Ton, den der Stein durch einen Naturprocess empfange
I und den er mit Bestimmtheit als eine Oxydation des im pentelischen Har-

ri mor vorhandenen Eisens bezeichnet. Hiemit steht im nächsten Wechsel-

? bezuge eine Bemerkung des Hrn. Twining, die in ihrer Weise wiederum

i den ganzen Streit über die Ausdehnung der Polychromie bei den griechi-

I sehen Marmorgebäuden zu beseitigen geeignet ist: dass nemlich die zu

Tage stehenden Flächen des pentelischen Marmors im Stein-
bruche denselben Farbenton zeigen, wie die athenischen
Monumente. Zugleich stimmt Hr. Twining mit Penrose's Erklärung über
die Entstehung dieses Farbentones überein. — Hr. Penrose ist imüebrigen,

') Alle diese Bemerkungen des Hrn. Penrose lassen sich an den Gypsabgüssen
von Theilen der athenisclien Tempel, die gegenwärtig im neuen Berliner Museum
aufgestellt sind , aufs Beste und vielleicht nooh sicherer , da man sie in jedes
beliebige Liebt stellen kann, wiederholen. Mau sieht an den verschiedenen Glie-
derungen die an dßr\ Gebäuden selbst vorhanden gewesene Bemalung, theils durch
jene leicht eingeritzten Umrisse, theils dadurch, dass die Decke der enkaustisch
aufgemalten Verzierung den Stein mehr geschützt hatte und derselbe somit im
Einschlüsse der Verzierung, wenn auch im leisesten Maasse, über dem Grunde
erhaben steht. Man erkennt selbst an dem von dem Wetter sehr stark ange-
grififenen Architravbande noch den kunstreichen Doppelmäander, an dem darunter
befindlichen Riemen mit den Tropfen noch die Spur der reizenden hängenden
Palmetten und Lotoskelche, die darauf gemalt waren. An den Abgüssen der
Säulenkapitäle des Parthenon, der Propyläen, des Theseustempels, mag mau jeden
ihrer Theile auch in das schärfste Streiflicht wenden, ist durchaus Nichts der
Art, nichts als die regelmässig glatte Fläche wahrzunehmen.

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360 Antike Polychromie.

aus ästhetischen Gründen, der Ansicht, dass diese Marmorgebäude dennoch
mit einem feinen schimmernden Farbenüberzuge von warmem Tone ver-
sehen gewesen seien, bemerkt dabei aber, dass es höchst schwer sei, die
Reste dieses Ueberzuges von jener starken, natürlich entstandenen Tönung
zu unterscheiden. Wir haben dies nach der ganzen Sachlage wiederum
nur als eine subjective Voraussetzung aufzufassen, die wir, zumal all jenen
so bedeutsamen Zeugnissen des Alterthums gegenüber, wohl auf sich beruhen
lassen können.

Im Uebrigen sind als thatsächliche Bemerkungen besonders noch einige
Notizen aus einem Vortrage des Hrn. Cockerell zu entnehmen. Er berich-
tet über den Minerven-Tempel von Aegina, nach seinen genauen Unter-
suchungen bei dessen Aufgrabung. Er erwähnt zunächst des feinen Mar-
morstucks, mit dem die Säulen und das Gebälk dieses Tempels bekleidet
waren und der eine höchst glänzende Wirkung hervorgebracht habe, ebenso
wie der Stuck, der jenen alten Tempelrest zu Korinth bekleidet, auch diesem
Bauwerk den Anschein des feinsten Marmors gebe. Er schildert die Bema-
lung des Tempels von Aegina, wie wir sie kennen, bemerkt dabei aber
ausdrücklich, dass an den Säulen und an dem Architrav, mit Ausnahme
des Bandes über letzterem, keine Farbenspur vorhanden gewesen sei.
Ebenso habe er auch an den Wänden der Cella dieses Tempels Nichts von
Bemalang gefunden.

Hr. Owen Jones führt an, dass er sich einer Säule mit den Resten
rothen Anstrichs im Innern des Parthenon erinnere; es sei aber aus gutem
Grunde anzunehmen, dass diese Bemalung hier aus der mittelalterlichen
Zeit herrühre. Was seine eigenthümliche Ansicht betreffe, so nehme er an,
dass die Säulen ursprünglich — vergoldet gewesen seien. Wir haben wohl
nicht nöthig, auf diese allerdings eigenthümliche Ansicht weiter einzugehen.

Es scheint in der That, dass das Wesentliche, was überhaupt in diesen
polychromatischen Dingen zu ermitteln, nunmehr vor uns liegt und dass
die Acten über diese Angelegenheit — etwa mit dem Vorbehalt von Ein-
zelnachträgen, die ein günstiger Zufall vielleiclit noch ans Licht bringt, —
geschlossen werden können i).

Erst während des erneuten Abdruckes des Obigen gelangt das Werk von
Francis Cranmer Penrose:
an invcstigation of the principles of Athenian
Architecture etc., published by the soeiety of Düettanti, London, 1851
, welches
die Architektur des Parthenon, der Propyläen und andrer athenischer Gebäude
in ihren technischen und künstlerischen Einzelheiten mit schärfster Sorgfalt behan-
delt und hierin die Gewähr der zuverlässigsten Beobachtung trägt, zu meiner
näheren Kenutniss. Auch hier, im Text wie in den bildlichen Tafeln, ist das
polychromatische Element einer reiflichen Erwägung unterzogen; was der Ver-
lasser darüber mitgetheilt, dient wiederum nur zur Bestätigung der vorstehend
ermittelten Grundsätze. Die Einzelangaben beschränken sich dahin; dass am
Parthenon, ausser der zierlich ornamentistischen Gliederbemalung (mit Blatt-
werk , Mäandern u. dergl.), die Mutulen blangefärbt waren, die Soffitten dazwi-
schen (d. h. die Unteransicht der Platte über den Mutulen) und die Bandfläche
zwischen den hinteren Ansätzen der Mutulen roth, die Tropfen ohne Farbenspur,
die Schlitze der Triglyphen blau, auch schwache Spuren blauer Farbe an der
oberen Fläche der letzteren, Aehnliche Spuren von Blau am Theseustempel.
An den Propyläen, und zwar am Aeusseren derselben, die ornamentistisehe
Gliederbemalung einfacher (die Sima mit dem Eierstab); das Plättchen unter der
Hängeplatte, auch an den Theilen seiner ünteransicht, roth; die «Mutulen blau;
die Tropfen farblos , doch mit einem Ringe auf ihrer Unterfläche. Im Inneren

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III. Bestätigungen, 361

I äWKIWW

die starke echinusartige Platte über den Voluten der ionischen Säulen mit einem
gemalten Eierstabe (während am Echinus unter den Voluten dies Ornament in
der üblich ionischen Weise ausgemeisselt ist); die einzelnen Glieder des inneren
Gebälkes wiederum mit zierlich ornamentistischer Bemalung, und besonders die
Kassetten der Decke in geschmackvoll wechselnder Weise, mit Sternen und Pal-
metten, bemalt.

, So eben auch wird eine Schrift ausgegeben, —^ „Griechische Reise-
skizzen von Hermann Hettner. Braunschweig, 1853," — die sich in einer
besondern Abhandlung (S. 185—206) aufs Neue darüber auslässt, „wie die
Alten ihre Tempel bemalten." Der Verfasser sitzt darin, auch mit Berück-
sichtigung meines obigen Aufsatzes, über den Prozess Kugler contra Hittorif
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per zu Gericht und wägt Schuld und Unschuld nach gleichem Maasse. Semper
hat Recht und Kugler hat Recht, und Kugler hat Unrecht und Hittorff hat
Unrecht: Marmortempel sind weiss, und stucküberzogene Tempel sind bunt, „und
dieser Stucküberzug War bei der Freude kindlicher Menschen an bunten Farben
wohl (!) in den meisten Fällen roth." In der That giebt er noch ein Paar
(mehr oder weniger genaue) Belege von Resten rother Farbe auf dem Stuck von
Säulen; dass ich dergleichen überhaupt nicht geläugnet, hätte er bei näherer
Ansicht meiner Schrift wahrnehmen können, selbst nicht in BetreiT des Tempels
von Korinth, wo er mich mit seinem „Kugler hat Unrecht" beseitigt. Ich hatte
(s, oben S. 280) von Stackelbergs Angabe über eine Granitnachahmung nur. für
auffallend erklärt und die Vermuthung einer einfach rothbraunen Färbung
ausgesprochen, was H. H. nun selbst aufs Beste, durch Angabe von dem Vor-
handensein einer „intensiv rothen Färbung," bestätigt. Uebrigens führt er selbst
auch gelbliche und weisse Stuckfärbung als häufig vorhanden an. Ich will ihm
gern noch eine weiture Nüance in Betreff der Färbung stuck üb erzogen er alter-
thümlicher oder nicht völlig rein hellenischer Tempel zugestehen: dass es sich
um Grundirrthümer handle und dass dergleichen gar durch ihn schliesslich gelöst
seien, kann ich eben nicht finden. Auch muss ich ihm seine Auslegung der
Stelle des Plinius (H. N. 3ß, 5) überlassen , falls er nemlich das Räthsel dersel-
ben, nach seiner Auffassung, wahrgenommen und — gelöst hat.

Aus fertigen Bausteinen bauen sich manchmal recht hübsche Throne auf.

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ITALIENISCHE STÜDIEN.

1835.

I.

ÜBER DIE MAILÄNDER SCHULE.

(Museum, 1835, No. 27 ff.)

Was vor allen Dingen in Mailand mich anzog und bei näherer Bekannt-
schaft immer mehr fesselte, war die Schule des Leonardo da Vinci. Es
waltet in dieser Schule ein eigenthümlich milder und edler Geist, der als
ein lichter Strahl von dem Meister ausgeht, sich in den mehr oder minder
begabten Schülern in mannigfachen Farben bricht und auch in mittelmässi-
gen Produktionen immer noch auf liebenswürdige Weise nachklingt. Es
ist ein schönes Band, welches einen Kreis begabter und tüchtiger Men-
schen umschlingt, welches selbst die ausser der Schule stehenden Lands-
leute, selbst die Spätergeborenen in diesen Kreis mit hineinzieht und ebenso
auch auf den Beschauer seinen unwiderstehlichen Zauber ausübt. —

Das tragische Schicksal, welches die Hauptwerke Leonardo's heim-
gesucht hat, ist bekannt. Das Modell der kolossalen Reiterstatue, welches
er für Franz Sforza gearbeitet hatte, diente den französischen Bogenschützen
bei der Eroberung Mailands als Zielscheibe; der Carton, den er im Wett-
streit mit Michelangelo fertigte, ward räuberischer Weise von einem Neider
vernichtet; das Abendmahl ist eine unsäglich traurige Ruine. In der
Gallerie der Brera sieht man ein Stückchen von dem Carton zu diesem
grossen Meisterwerke, den Kopf des Heilandes. Dies, möchte ich sagen,
ist Alles, was in Mailand noch von dem Abendmahl vorhanden ist^); denn
wenn es auch nur ein zerfetztes, zerrissenes Blatt Papier ist, wenn die
Pastell-Zeichnung auch nur noch wie ein schwacher Schimmer darauf liegt,
so ahnt, so erkennt man hier doch noch, was der Meister darstellen wollte.
Es gewinnt diese nebelartige Zeichnung bei längerer Betrachtung eine feste,
bestimmte Gestalt; man sieht in diesen schönen Zügen den höchsten Ernst
und die göttlichste Milde ausgedrückt; man sieht den Schmerz um den

Andre Stücke des Cartons (oder Studien zu den Köpfen des Gemäldes)
sind in England, (Gegenwärtig, 1852, in Weimar.)

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I. lieber die Mailänder Schule. 363

treulosen Jünger, das bestimmte Vorgefühl des eigenen Todes und die hei-
ligste Unterwerfung unter den "Willen des Vaters. Ich konnte von dem
Blatte nicht loskommen und ich ging nur, um die Reste des Werkes selbst
im Kloster von S. Maria delle Grazie aufzusuchen. Ich hatte geglaubt, auch
dies grosse Werk, dessen fast vollkommene Vernichtung mir bekannt war,
etwa in einem ähnlichen Zustande zu finden; ich hatte gehofft, dass auch
hier aus dem letzten Hauche der Farben noch der Geist des Meisters in
leisen Klängen zu mir sprechen würde. Aber wie soll ich dir meine Ent-
täuschung schildern? Denke dir einen Freund, den du lange Jahre nicht
gesehen hast; du hörtest, dass Krankheit und Alter seine Kraft gebrochen,
seine
S(;hÖuen männlichen Formen vernichtet haben; aber du hoffst, beim
Wiedersehen die alte treue Stimme doch noch zu hören, doch allmählig in
seinen Zügen die alte Gestalt, den Blick, das Lächeln des Freundes wieder
finden zu können; — und du findest ihn, aber einen blutigen, zerfetzten,
besudelten Leichnam! Die Farben des kolossalen Bildes sind verschossen,
zum Theil verschwunden, in vielen kleinen Stückchen abgebröckelt; die
Mauer ist feucht und schmutzig. Doch das wäre zu ertragen. Aber diese
vielfachen elenden Ueberschmierungen, die wieder sammt den Original-
farben verschossen und abgesprungen sind, die das Auge bei der Betrach-
tung jedes einzelnen Theiles verwirren und nirgend mehr eine Form erkennen
lassen, diese machen den Anblick unerträglich. Ich versuchte alle Mittel,
die man gewöhnlich anwendet, um sich ein verdorbenes Bild wieder leben-
dig zu machen; ich betrachtete es aus grösseren und geringeren Entfer-
nungen, mit mehr oder minder geöfl"neten Augen. Ich glaubte, in diesem
oder jenem Gliede einer einzelnen Figur etwas von der ursprünglichen
Form zu erkennen; aber so wie ich ein wenig schärfer hinsah, so wie mein
Auge nur um eine Linie weiterrückte, war es wieder derselbe Jammer.
Ich konnte es in dem Refektorium nicht aushalten; ich bezahlte den
Custode, der zur Beaufsichtigung des Bildes angestellt ist, und eilte hinaus
in's Freie. Lange konnte ich diesen trostlosen Eindruck nicht verwinden,
und es war alle Heiterkeit und Lust des mir noch neuen Südens nöthig,
um die alte Unbefangenheit und Frische in mir wieder hervorzurufen.
AVarum macht man in Mailand doch jetzt, nachdem dies Palladium der
Stadt gebrochen ist, so viel Aufsehen davon? Man sollte das Refektorium
im Kloster delle Grazie vermauern und jenes geschändete Heiligthum seiner
stillen Verwesung überlassen.

Der LTntergang der Hauptwerke Leonardo's ist um so mehr zu^bedauern,
als er bekanntlich so höchst vielseitig beschäftigt war upd seine künstleri-
schen Arbeiten mit unsäglichem Fleiss ausführte, so dass er überhaupt nur
wenig vollendet hat. Doch sind ausser dem Abendmahl noch einige Werke
seiner Hand in Mailand vorhanden, die das höchste Interesse gewähren.
In der Brera zunächst noch ein, leider unvollendetes Bild, eine Madonna
mit dem Jesusknaben, der in anmuthiger Bewegung ein Lamm umfasst.
Ks ist eine einfache, aber sehr zarte und liebenswürdige Composition. Der
Kopf der Madonna ist der einzig vollendete Theil des Bildes, ein Gesicht
von schönem ernstem Ausdrucke, leider wiederum beträchtlich übermalt,
so dass es nur aus einiger Entfernung, wenn die kalten grauen Töne ver-
schwinden, zu geniessen ist. Die üntermalung des Kindes ist sehr leicht
und licht gehalten.

Die Sammlung der ambrosianischen Bibliothek enthält dagegen eine
Reihe kleinerer Bilder von Leonardo da Vinci, zum Theil nur Studien, die

ii
?

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3,96 Italienische Studien.

aber das grösste Interesse dadurch gewähren, dass sie vollkommen rein und
(wie die Italiener sich ausdrücken;) jungfräulich erhalten sind. Ich erwähne
zunächst das Portrait der Gemahlin des Ludovico Sforza, Herzogin von
Este; es ist ein sehr zierliches Profil, einfach und schlicht gemalt; die
Modellirung ist sehr zart, aber durchaus bestimmt durchgeführt, die Car-
nation sehr einfach und leicht gehalten, leider jedoch in den tieferen Schatten
nachgeschwärzt. Das Haar der Dame ist von rothbrauner Farbe; sie trägt
darüber ein leichtes Netz, ein Band mit Steinen um den Kopf, Perlen-
schmuck u. s. w. — Ein männliches Portrait von derselben Grösse, welches
man für den Ludovico Sforza hält, ist in ähnlicher Weise, schlicht und
streng gemalt und vortreil'lich modellirt; leider sind auch hier die Schatten
sehr nachgedunkelt. Beide Bilder haben übrigens etwas nah Verwandtes
mit dem jüngeren Holbein, vornehmlich wie sich dieser Künstler in seinen
früheren AVerken zeigt. — Ein drittes, etwas grösseres Portrait, welches
den Freund des Leonardo, den Arzt, mit welchem er seine anatomischen
Studien betrieb, vorstellen soll, wird von Amoretti (in seiner bekannten
Schrift über Leonardo) ebenfalls für Original gehalten, eine Meinung, der
ich nicht wohl beitreten kann. Abgesehen davon, dass es ungleich weicher
und mit einer ganz verschiedenen Auffassung der Farbe gemalt ist, so ist
es vornehmlich in der Zeichnung durchaus minder wahr und' verstanden
(im Contur der Lippen, des Halses u. s. w.), als die eben genannten Bilder
und als es überhaupt bei einem Meister wie Leonardo vorauszusetzen ist.
— Sehr anziehend und gewiss ächt ist ein Bild, welches das Leichenliaupt
des Täufers Johannes, auf einer silbernen Schüssel liegend, darstellt; es ist
ein äusserst sorgfältiges Studium des Todes, — wohl zu einer Herodias
bestimmt, — ebenso wie die vorigen sehr einfach gemalt, dies jedoch glück-
licher Weise nicht weiter nachgedunkelt. Die Lichter in den Haaren sind
leicht mit Gold aufgesetzt, was ihnen etwas eigen Spielendes, Durchsich-
tiges giebt. Die silberne Schüssel enthält ein treffliches Beispiel nieder-
ländisch sauberer Naturnachahmung.

Die genannten Bilder sind in Oel gemalt. Ausser ihnen befinden sich
verschiedene Pastellzeichnungen Leonardo's in der Ambrosiana, sämmtlich
mehr oder minder ausgeführte Studien zu Bildern. Das ausgezeichnetste
unter diesen ist ein weibliches Brustbild, dessen Kopf mit grösster Vollen-
dung ausgeführt ist. Es ist ein Weib in voller Jugendblüthe, welche das
Gesicht dem Beschauer gerade entgegenwendet und die-Augen niederschlägt;
das blonde Haar hängt frei über den Rücken herab. Die Anordnung des
Ganzen, die Art und Weise wie die schöne Gestalt in dem Rahmen ruht,
die zarte Ausführung dieser reizvollen, weichen Formen, der Adel und die
Zucht, welche über dies Antlitz ausgegossen sind, — Alles vereinigt sich,
um dem Bilde einen ganz vorzüglichen Werth zu verleihen; es ist mir (mit
Ausnahme jenes Christuskopfes in der Brera) das liebste, welches ich von
Leonardo kenne. Eigen machen sich ein Paar geöffneter Augen, welche
auf dem Grunde des Bildes flüchtig hingezeichnet sind. Gewiss war der
Meister während des Entwurfes einen Augenblick zweifelhaft, welche Bewe-
gung den Augen günstiger sei; aber es bedurfte nur dieser Paar Linien,
um die ungleich grössere Schönheit jener niedergeschlagenen Augen klar
zu machen. — Nicht minder trefflich wie das eben genannte und demselben
nur in der Schönheit nicht zu vergleichen ist das Portrait eines jungen
Mannes in einer Pelzmütze und mit dickem niederhängendem Haar: auch
dies in höchster Lebendigkeit und mit einfachsten Mitteln gearbeitet. Vier

m

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I. üeber die Mailänder Schule.

aiideie Studien sind sehr leicht und flüchtig skizzirt und offenbar nur ent^
Avorfen, um sich der allgemeinen Anordnung der auszuführenden Portraits
im Voraus zu vergewissern.

Dann ist von Leonardo noch eine kleine Skizze eines lächelnden
Kopfes vorhanden, in Gouache gemalt und vortrefflich durchgearbeitet, —
und die sehr sauber ausgeführte Zeichnung eines weiblichen gebückten
Kopfes von schönem ernstem Ausdrucke.

Dass Compositionen Leonardo's öfters von seinen Schülern ausgeführt
wurden, ist bekannt. So befindet sich in der Brera ein Exemplar jener
bekannten Composition: Maria, im Schoosse der Anna sitzend, und auf
ilirem Schoosse das Christkind, welches sich spielend zu einem Lamme
iiiederneigt. Ungleich bedeutender jedoch, als die Ausführung dieses Bil-
des, ist die einer andern ähnlichen Composition, die in der Ambrosiana
vorhanden ist und von der Hand des Bernardino Luini herrührt. Es
ist eine heilige Familie: Maria, ebenfalls auf dem Schoosse der Anna, und
in ihren Armen das Christkind, welches sich wiederum in einer ähnliclien
Bewegung zu dem kleinen Johannes niederneigt; zur Seite Joseph. Es ist
ein wunderbarer Liebreiz in den leichten und gefälligen Linien, in welchen
diese bedeutende Gruppe sich bewegt; die Haltung des Kindes vornehm-
lich, das Lächeln der Jungfrau, u. a. m. sind von der schönsten Wirkung.
Die eigenthümlich bewegte Stellung, welche die Jungfrau in diesem Bilde
hat, — sie sitzt seitwärts, wendet dann den Oberleib und das etwas geneigte
Haupt nach der anderen Seite und streckt die Arme aus, um das Kind zu
halten, — scheint den Schülern Leonardo's öfters zum Vorbilde gedient zu
haben. In zwei Bildern des Berliner Museums: in einer heiligen Familie
von Marco d'Oggione und in der schönen Pomona, welche dem Fran-
cesco Melzi zugeschrieben wird, kehrt dieselbe in genauer Wiederholung
wieder. Das eben besprochene Mailänder Bild galt übrigens in Paris,
wohin es durch Napoleon entführt war, für eine Arbeit des Leonardo selbst.

Bernardino Luini ist es, von dem man unter Leonardo's Schülern
die bedeutendsten Werke ausgeführt sieht, und den man in Mailand vor
allen Künstlern liebgewinnen und verehren lernt. Er ist nicht so gross,
nicht so frei und kühn wie Leonardo, oder er schwingt sich wenigstens
selten zu erhabenen und imponirenden Gestalten auf; dafür aber hat er
einen unerschöpflichen Fond von Zartheit und Zucht, von Heiterkeit und
Innigkeit, von Anmuth und Gemüth, welche dem Beschauer die edelste
Befriedigung und Beruhigung gewähren. Bernardino gehört, — wenn wir
die wenigen ersten Lichter der Kunst ausnehmen, — zu den trefflichsten
Meistern des sechzehnten Jahrhunderts; und vielleicht nur, weil Vasari
wenig von ihm weiss, vielleicht auch, weirer mehr in Fresko als in Oel
gemalt hat, ist ihm seither nicht ein so allgemeiner Ruhm zu Theil gewor-
den, als er es vor vielen verdient. — Die Ambrosiana besitzt von ihm
eine Reihe kleinerer Oelbilder. Zunächst eine bedeutende Anzahl treff-
licher Studienköpfe, die im Einzelnen (vornehmlich ein Johannes d. T.)
sehr an Andrea del Sarto erinnern. Dann einen kleinen Johannes, Brust-
bild, der ein Lamm liebkosend in seinen Armen hält, ein wunderreizend
naives und kindliches Bild, — das schönste Oelbild, welches ich von
Bernardino gesehen habe; auch dies übrigens ist, wie die erwähnte heilige
Familie, mehrfach unter dem Namen Leonardo's bekannt. Ferner eine andre
heilige Familie, Maria mit dem Kinde und Johannes, — schön, mild und
einfach gemalt; ähnlich ein junger Christus, der die Hand segnend erhebt

365

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3,96 Italienische Studien.

(Brustbild); und ein anmutliiges Madonnenköpfchen. Nicht minder interes-
sant sind ein Paar Zeichnungen. Die eine, grössere von diesen, ein Knie-
stück, stellt die Rückkehr des Tobias dar-, es ist eine einfache, anmuthige
Composition und besonders der Engel schön und liebenswürdig. Die
Zeichnung ist wohl ausgeführt und würde sich trefflich zur Publikation
durch den Steindruck eignen. Die andere ist (Jas Bild eines lesenden
Mädchens. — Die Brera besitzt nur ein Oelgemälde des Künstlers, ein
Altarbild und von grösseren Dimensionen als die oben genannten: eine
Madonna auf dem Throne, zwei Heilige zu ihren Seiten, welche die knieen-
den Donatoren ihrer Obhut anempfehlen; auch hier dieselbe schlichte
Anmuth, welche sich in jenen Werken zeigte, hier jedoch noch etwas mehr
Alterthümliches, das an Ambrogio Borgognone erinnert, — einen Künstler,
der trotz seiner Befangenheit in der Zeichnung der Formen, viel Ver-
wandtes mit dem Bernardino besitzt und zu dem letzterer gewiss in einer
besonderen Beziehung gestanden hat.

Bei weitem wichtiger sind dagegen die Freskomalereien, welche Ber-
nardino in Mailand und in benachbarten Orten ausgeführt hat. Die bedeu-
tendste Anzahl der Fresken, die aus aufgehobenen Mailänder Klöstern in
die Gallerie der Brera gebracht sind, rührt von ihm her. Diese schönen
und edlen Compositionen werden dir aus den Umrissen der
Pinacoteca di
Milano
bekannt sein; es sind einfach schöne und anmuthsvolle Gestalten,
die sich auf der einen Seite der Tiefe der umbrischen Meister, auf der
andern der Heiterkeit der Toscaner annähern. Unter vielen erwähne ich
nur beispielsweise einer Madonna mit dem Kinde, die wie ein stiller Leo-
nardo anzuschauen ist; eines schönen, kraftvollen Weibes (die Bedeutung
ist mir unbekannt), das aus einer Thür hervortritt und mit ausgestrecktem
Arm zur Seite weist; vornehmlich aber einer thronenden Madonna mit
zweien Heiligen zu ihren Seiten und einem Engelknaben zu den Füssen,
vom J. 1521, und aus der Brera-Kirche hierher gebracht. Hier sieht man
schon, vornehmlich in der einen weiblichen Heiligen, den Adel und jene
höhere Schönheit, welche Bernardino allerdings — wenn ■ schon nicht
immer — zu erreichen gewusst hat. In den meisten dieser in der Brera
befindlichen Fresken ist, wie auch häufig in den Oelbildern, noch eine
gewisse liebenswürdige Schwäche, eine gewisse jugendliche Befangenheit
zu bemerken. "Vielleicht, dass diese Werke noch in die Entwickelungszeit
des Künstlers gehören. Willst du ihn in seiner vollen Schönheit, in seiner
ganzen männlichen Kraft kennen lernen, so gehe in die Kirche des Mona-
stero Maggiore (S. Maurizio), an welcher dein Weg zur Maria delle Grazie
dich vorüber führt! Es ist die Kirche eines Nonnenklosters, durch eine
Scheidewand in der Mitte in zwei Theile gesondert und ganz und gar mit
Freskomalereien ausgefüllt. Von Bernardino Luini selbst rührt der grösste
Theil der Fresken an dieser Mittelwand, so wie die in einer Seitenkapelle
der vordem Kirche her; die übrigen sind von seinen Schülern und andern
jüngeren Zeitgenossen ausgeführt. Hier sieht man die schönsten Gestalten
weiblicher Heiligen, welche ein fast raphaelisches Gepräge tragen, die mil-
desten und würdigsten Christusköpfe, die reizendsten Engelknaberi. Alles,
von der liraun in braun gemalten Brüstung über dem Fussboden an bis
zum Gewölbe, ist mit den herrlichsten Gestalten bedeckt und das Auge
kann sich an diesem Reichthum nicht satt sehen. Man weiss nicht, wie
man die verschwenderische Phantasie des Künstlers genug bewundern soll,
der selbst dem nur leicht hingetuschten Contur einen unaussprechlichen

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I. Ueber die Mailänder Schule. 367

Liebreiz zu geben wusste, der das unbedeutendste ornamentistische Medaillon
mit der anmuthigsten Composition ausgefüllt hat. Ich war in Gesellschaft
eines Malers zufällig hieher gerathen, und da in der inneren Kirche gerade
die Hora vorüber war und darin gefegt und gescheuert wurde, so benutzten
wir die Gelegenheit und machten uns schnell an's Zeichnen. Ich hatte
glücklicher Weise Kopier-Papier bei mir und zeichnete mir durch, was ich
eben abreichen Itonnte. Auch diese treiflichen Werke sind übrigens bereits
durch Fumagalli in Umrissen herausgegeben, in
BQmer Scuola di Leonardo
da Vinci in Lombardia.
Nur die grossen und sehr gerühmten mehr histo-
rischen Freskomalereien Luini's zu Lugano und Sarono mögen diese noch
an Werth übertreffen. — Noch sieht man in manchen andren Kirchen
Mailands einzelne Freskomalereien von Bernardino Luini; so ein schönes
Altarbild in einer verlassenen Kapelle von S. Maria del Carmine, ein
andres in S. Giorgio al Palazzo u. s. w. Auch Manches und Bedeutendes
von seiner Hand befindet sich hier im Privatbesitz.

Mit Bernardino Luini ist, wie es scheint, keiner weiter von Leonardos
Schülern zu vergleichen. Marco d'Oggione ist schwächerund klein-
licher in Anordnung des Ganzen, im Styl der Gewandung und in der Farbe,
— er ist wie eine geringere Auflage des Luini. Dies Urtheil ergeben die
von ihm in der Brera befindlichen Fresken. Die dortigen Oelbilder sind
anmuthiger, besonders das Bild der drei Erzengel, welche den Satan stür-
zen; die Gestalten sind hier nicht bedeutend, aber immer liebenswürdig
und die Köpfe von schönem leonardeskem Ausdrucke. — Boltraffio hat
etwas mehr Kaltes in der Farbe; unter den Bildern, die ich von ihm
geseheil habe, schienen mir besonders zwei Köpfe, des Christus und der
Maria, in der Ambrosiana befindlich, wegen ihres schönen, milden Aus-
druckes bemerkenswerth. — Was dem eben Genannten in der Farbe fehlt,
hat ein andrer Schüler, Andrea Salaino, wie es scheint, zu viel. Sein
Johannes der Täufer, ebenfalls in der Ambrosiana, ist eine zarte jugend-
liche Figur von röthlichem Schmelz in der Farbe und von süssem und
weichem Ausdrucke. Es ist ein Brustbild, gegen den Beschauer gewandt;
er weist mit der Hand in die Höhe; unter Leonardo's Namen zeigt man
Wiederholungen desselben zu Paris, Genua und Florenz. Ein Gemälde
von ähnlicher Dimension, welches sich im Schlosse zu Berlin unter den
zurückgestellten Bildern der Solly'schen Sammlung befindet, kam mir bei
Betrachtung dieses Bildes lebhaft in die Erinnerung zurück: es ist dort
dieselbe Glut, dieselbe Weichheit und Süssigkeit der Farbe wie in dem
Mailänder Bilde. Jenes stellt die heilige Zoe dar, welche an ihren schönen
blonden Haaren emporgewunden wird. — Ein andres grösseres Bild von
Salaino befindet sich in der Brera: eine Madonna mit dem Kinde, welches
dem heiligen Petrus die Schlüssel reich];, während Paulus daneben steht.
Die Composition des Ganzen ist von leichter Bewegung, fast nach Art des
Leonardo. Leider war das Bild sehr nachgedunkelt und an ungünstiger
Stelle aufgehängt. — Von Cesare da Sesto ist in der Ambrosiana ein
kleines Brustbild des jugendlichen Heilandes vorhanden, ein höchst zartes,
naives und einfaches Gemälde; auch dies in ähnlich röthlichem Kolorit,
Ein heiliger Hieronymus von demselben Künstler, ebendort, ist schwach.

Ich bin überzeugt, dass Leonardo und seine Mailänder Schule in ihrer
eigenthümlichen Ausbildung gewiss in einem nicht unwesentlichen vet"
M'andtschaftlichem Verhältnisse zu den früheren Schulen des Ortes gestan-n
den haben, und dass durch ein gründliches Studium der letzteren erst sich

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3,96 Italienische Studien.

Vieles in den Eigenthümlichkeiten der ersteren wird erklären lassen. Lei
der haben genauere kunstgeschichtliche Forschungen bisher nur das mittlere
Italien zu ihrem Gegenstande gehabt; es ist zu wünschen und zu hoffen,
dass nun auch bald dieser Theil des nördlichen Italiens an die Reihe kom-
men möge. Mir war auf dieser Reise nicht Zeit und Müsse gegönnt, um
spezielle Untersuchungen der Art anzustellen; doch habe ich hin und
wieder Gelegenheit gehabt, ältere Freskomalereien zu sehen, in denen ich
bereits jene Weichheit, Zartheit und Innigkeit, je nach den Epochen,
welchen sie angehörten, modiflcirt, zu erkennen im Stande war. Statt
mehrerer nenne ich hier nur Beispielweise eine schöne Wandmalerei auf
Goldgrund, welche sich über dem Eingange zur Kapelle des heiligen Petrus
Martyr in S. Eustorgio zu Mailand befindet. Doch werden hie von wieder
mancherlei andre Einflüsse zu sondern sein, wie deren namentlich von der
paduanischen Schule ausgegangen sein müssen. Hieher beziehe ich nament-
lich jenes Freskobild des Vincenzio Foppa in der Brera, welches das
Martyrthum des heiligen Sebastian darstellt. In diesem herrscht das strengste
entschiedenste Studium der Form vor; die Zufälligkeiten der Natur sind
sorgfältigst und bis zur Komik nachgebildet, während .die tiefere Auffas-
sung des Seelenlebens minder sichtbar wird. Jener Bogenschütz, welcher
mit der liöstlichst ernsthaften Grimasse blinzelnd auf den Heiligen zielt,
bezeichnet die Richtung des Künstlers.

Für einen Zögling jener alterthümlichen, weichen Richtung halte ich
hingegen den Ambrogio Borgognone, der den Köpfen seiner darge-
stellten Personen, vor Allem den Engelknaben, eine Zartheil?, Innigkeit
und Unschuld aufzuprägen weiss, wie man wenig Beispiele der Art finden
dürfte. In den Formen des Körpers sind seine Gestalten freilich meist sehr
dürftig und ungeschickt. Du kennst die reizende Madonna mit dem Kinde
und den beiden anbetenden Engeln auf den Seiten im Berliner Museum.
Ein ähnliches Bild habe ich hier nicht gefunden; ein grosses Bild in der
Ambrosiana, eine Madonna auf dem Throne mit vielen Heiligen und Engel-
chen umgeben, hat nicht ganz diese Zartheit; es ist mehr Befangenes darin,
wenngleich der Geist des Meisters unverkennljar aus diesen schönen Köpfen
spricht. An einem Wandgemälde, welches man aussen an der Kapelle S.
Satiro sieht (Madonna mit dem Kinde), erkennt man die volle Eigenthüni-
lichkeit und Liebenswürdigkeit des Ambrogio, obschon ich nicht behaupten
möchte, dass das Bild überall in seiner Integrität erhalten sei. In S. Ambro-
gio , an der Aussenmauer des Chores, nach dem-Seitenschilf zu, ist ein
andres Wandgemälde des Borgognone, ein Christusleichnam zwichen zwei
Engeln, welches auffallende Verwandtschaft mit Bernardino Luiui zeigt und
sich schon zu dessen freierer Formenauffassung hinneigt. Unfern von letz-
terem sind noch zwei schöne Fresken,- ein kreuztragender Christus und die
drei Marieen, deren Meister ich nicht zu nennen weiss. Es ist wohl etwas
Verwandtes in dem tiefen, gemüthvollen Ausdrucke darin, doch deuten
hier die erhabenen grandiosen Gestalten wiederum mehr auf einen Einfluss
von der Seite des Leonardo; mich erinnerten diese Gestalten an die Werke
des Sodoma, dessen eigenth'ümliche Bildung ja ebenfalls durch Leonardo
begründet ist.

Auch Gaudenzio Ferrari verläugnet nicht seinen Ursprung aus
jener älteren Schule, wenn gleich das Alterthümliche bei ihm bisweilen
zur Phantasterei ausartet und manches Affektirte, manches Kalte, Compo-
uirte (nach Art der römischen Schule) hinzutritt. Eine grosse Anzahl von

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II. Von den älteren Malern Neapel's. .369

"WS

Freskomalereien seiner Hand befindet sich in der Brera; sehr anziehend ist
nnter diesen die Geschichte der Anna und des Joachim, auf raehrereri Bil-
dern gemalt und ehemals im Kloster della Pace befindlich. Hier sieht man
schöne würdige Gestalten und einen edlen Styl in der Gewandung. Auch
die Gesammt-Anordnung dieser Bilder hat etwas Eigenes; sie erinnert, in
den weiten landschaftlichen Gründen, besonders an die älteren Florentiner.
Andere Bilder des Gaudenzio sieht man in S. Ambrogio, S. Maria delle
Grazie u. s. w.

Selbst in den Werken des Bartolommeo Suardi (Bramantino)
ist jener heimische Charakter noch nicht ganz verwischt; als Beispiel nenne
ich das grosse Freskobild in der Brera (Madonna auf dem Throne und
zwei Engel) mit der eigenthümlich zarten Reflexbeleuchtung der Gesichter.
Ebenso ist inBernardino Lanino, ist selbst in dem Manieristen Aure-
lio Luini die Schule immer noch zu erkennen.

II.

VON DEN ÄLTEREN MALERN NEAPEL'S..

(Museum, 1835, No. 43, ff.)

Wenn man Neapel besucht, so hat man insgemein schon sehr viel von
Italien gesehen und seinen cisalpinischen Hunger nach Werken der Kunst
beträchtlich gesättigt; man bringt nur noch die Absicht mit, Pompeji und
die Schätze antiker Malerei im Neapler Museum, die bemalten Vasen, oder
das zweitausendjährige Brod nebst den Lavaformstücken jener armen Pom-
pejanerin, — je nachdem Pflicht und Neigung entscheiden, — in Augen-
schein zu nehmen. Im üebrigen dankt man Gott, dass man nicht mehr
zum unaufliörlichen Ansehen von Kunstgegenständen gepresst wird und
dass man sich endlich, in dem irdischen Paradiese angelangt, dem aller-
süssesten Farniente ohne Gewissensbisse hingeben kann. Man wandelt
den unaufliörlichen Weihnachtsmarkt der Chiaja auf und nieder; man fährt
durch die Grotte,des Posilipp und trinkt zu Pozzuoli auf dem Altan des
Ponte di Caligula (so heisst die Osterie) den köstlichsten Falerner, während
die grünen Wellen um die Wirklichen Brückentrümmer tanzen; man reitet
durch Kastanienlauben nach Calmadoli empor, wo alle Herrlichkeit der
Welt zu den Füssen des Beschauers ausgebreitet liegt; man segelt hinüber
nach Capri und lässt sich in die verzauberte blaue Grotte hineinlootsen,
u. s. w. Diese und ähnliche sehr löbliche Beschäftigungen ergeben sich
durch die Umstände so von selber und werden auch von Jedermann so
getreulich wiederholt, dass man in der That kaum die antiken Schätze des
Museums bisher genug gewürdigt hat, geschweige denn die ebendort befind-
liche sehr reiche Gemäldegallerie und noch weniger die in den Kirchen
zerstreuten Kunstwerke. Dass aber vor Spagnoletto und vor Raphael dort
etwas der Rede Werthes gemalt worden ist, weiss diesseits der Alpen fast
niemand; und es lässt sich dies auch kaum voraussetzen, wenn man die

Kugler, Kleine Schriflen. I. 24

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3,96 Italienische Studien.

m

flauen Berichte Lanzi's, der von der älteren neapolitanischen Kunst nichts
selbst gesehen hat, oder wenn man gar Vasari's hochfahrende Aeusserungen
— er allein will erst die Geister dieses Staates zu grossen Leistungen
geweckt haben — als Maassstab nimmt.

Indess habe ich hier und dort in Neapel recht sehr Beachtenswerthes
von älterer Malerei gefunden, und ich glaube, dass eine Mittheilung dessen
den Lesern dieses Blattes nicht gerade unangenehm sein wird. Freilicli
muss ich dabei bemerken, dass ich nur in der Weise eines Durchreisenden
verfahren konnte und dass mir gewiss noch vieles Wichtige entgangen sein
' wird; sodann, dass es noch an allen dokumentlich historischen Vorstudien

i fehlt und ich einzig Dominici's oft zweifelhafte Autorität') vor-mir hatte.

I Doch kann das Folgende wenigstens dazu beitragen, einige Aufmerksamkeit

auch auf diese Region der Kunstgeschichte zu wenden, und vielleicht andre
r Kunstforscher, denen ein längerer Aufenthalt in Neapel und eine Einsicht

in die etwa vorhandenen archivarischen Dokumente vergönnt ist, zu gründ-
licher Bearbeitung des bisher Versäumten anzureizen.

Am Nordende der Stadt, unter dem Berge von Capodimonte, liegt das
alte Kirchlein S. Gennaro de' poveri, neben dem sich der Eingang in die
Katakomben befindet. Dies sind nicht, wie die Katakomben Roms,
schmale Gänge, durch die man sich mühsam hindiirchwinden muss, sondern
mächtige unterirdische Hallen, die man in den Fels gehauen hat, mit vielen
Kapellchen und voller Gräber und Gebeine; eine fabelhafte Unterwelt, in
der die Fackeln und einfallende Tageslichter ein wundersames Spiel durch-
einander treiben. Hier und dort sieht man noch die Reste alter Wand-
malereien, so an dem Gewölbe der vordersten Kapelle einen riesigen Chri-
stus und mehrere Heilige im byzantinischen Style. An andern Stellen
gehören die Malereien einer noch früheren Periode christlicher Kunst an;
in diesen erkennt mau, trotz der ziemlich rohen Ausführung, doch noch
entschieden die edlere Zeichnung und den pastosen Farbenauftrag der
Antike. •— Die Wandmalereien der römischen Katakomben sind verschwun-
den und über die Eigenthümlichkeiten ihrer Ausführung geben uns die
Kupfer bei Bosio und seinen Nachfolgern keine Auskunft. Die Katakomben
Neapels dürften somit die einzigen Beispiele von Malereien eines so bedeu-
tenden Maassstabes aus den ersten Zeiten christlicher Kunstäusserung ent-
halten. Leider sind von denselben jedoch auch nur noch geringe Reste
vorhanden und auch diese gehen, durch die Feuchtigkeit des Ortes und
mehr noch durch den Unverstand der Führer, welche sie,bei jedesmaliger
Besichtigung immer mehr mit ihren Fackeln einräuchern, ihrem baldigen
Untergange entgegen.

In spätere Jahrhunderte und zwar in die Zeit der treftlichsten Ent-
wiclielung des byzantinischen Styles, gehört ein grosses Mosaik, welches
sich in einer Seitenkapelle von S. Restituta (der alten, mit dem Dome ver-
bundenen Basilika) befindet. Es ist eine Madonna mit dem Kinde, zwei
Heilige auf ihren Seiten, sehr grandios und würdig, gemässigt byzantinisch
und wohlerhalten. Man benennt das Bild als S.
Maria del Principio^ weil
man glaubt, dass dasselbe aus dem vierten Jahrhundert, und zwar von der
Hand eines gewissen Taurus, herrühre imd eins der ersten Madonnenbilder

'} Vite de piUori, scuUori ed architetti Napoletant. Napoli, 1742.

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II. Von den älteren Malern Neapel's. .371

sei, die in Italien öffentliche Verehrung empfingen. In dem alten Baptiste-
riiim, zu welchem man aus S. Eestituta gelangt, sieht man noch andre
Mosaiken, die etwa mit jenem Madonnenbilde gleichzeitig und ebenfalls in
einem sehr tüchtigen strengen Style ausgeführt sind, die aber ebenso fälsch-
lich ia jene frühere Zeit zurückdatirt werden. Zwei grosse Köpfe, die
zwischen diesen Mosaiken angebracht sind, eine Madonna und ein Christus,'
sind alte Malerei: der letztere sehr schön und ernst gehalten, der der Maria
leider übermalt. —

In späterer Zeit, bei dem lebendigeren Erwachen der Kunst, scheint
der Aufenthalt Giotto's zu Neapel, von dem uns Vasari erzählt, einen
wesentlichen Einfluss auf die dortige Kunstthätigkeit ausgeübt zu haben.
Sein freundschaftliches Yerhältniss zu neapolitanischen Künstlern ist bekannt;
die grossen Arbeiten, welche ihm zur Ausführung übertragen wurden, die
neuen Bahnen, welche man darin eröffnet sah, mussten zur Nacheiferung
anreizen. Noch jetzt ist von diesen Arbeiten Bedeutendes vorhanden, viel-
leicht das Vorzüglichste, was überhaupt von Giotto's Werken erhalten ist.
Seltsamer "Weise hat man jedoch in neuester Zeit, soviel auch über Giotto
hin und her gesprochen wird, gerade diese Arbeiten nur sehr obenhin
berührt, obgleich eben aus ihnen, und ich möchte sagen: fast allein
aus ihnen die kunstgeschichtliche Stellung Giotto's genügend gewürdigt
werden kann.

Es sind dies vornehmlich die Deckengemälde, welche er in dem Kirch-
lein der Incoronata ausgeführt hat. Das Kirchlein liegt in der Strada
Medina, linker Hand, wenn man vom Largo di Castello kommt; es bildet
das Untergeschoss eines hohen Hauses, und man steigt von der Strasse, die
bei dem Umbau des Castell nuovo im fünfzehnten Jahrhundert erhöht
wurde, wie in einen Keller hinab. Es ist in gothischen Formen, mit einem •
zierlichen Hauptportal, innen mit modernen Schnörkeleien geschmückt.
Ursprünglich soll an der Stelle der Palast gestanden haben, in welchem
Königin Johanna 1. mit ihrem zweiten Gemahle, Ludwig von .Tarent, im J.
1331 gekrönt ward; sie soll diesen Palast zu einer Kirche, unter dem Titel
der „Krone Christi" oder der „Dornenkrone" (S. Corona dl Cristo, Corona
di Spine) geweiht haben, woraus nachmals der Name S. Maria Coronata
oder schlechthin: l'Incoronata entstand.

Die Deckengeihälde befinden sich an dem ersten Quadrat des Kreuz-
gewölbes, über einer späteren, vermuthlich für einen Sängerchor eingerich-
teten Tribüne, und sind von dort aus sehr bequem zu betrachten. Es sind
ihrer acht,"indem sich in jedem Dreieckfelde des Gewölbstückes zwei
Gemälde neben einander befinden. Die Gewölbvippen sind bunt bemalt,
bunte Streifen mit zierlich leichtem Blätter-Ornament ziehen sich za deren
Seiten hin. In der Mitte, am Schlussstein, befindet sich das Wappenj die
Winkel daneben sind, um den Bildern die scharfe Spitze zu nehmen, mit
viereckigen, reich ornamentirten Feldern ausgefüllt. Aus gleichem Grunde
sind in den unteren Winkeln ringsumher Köpfe von Heiligen angebracht.
Die Bilder haben sämmtlich einen blauen Grund. Die ersten sieben von
ihnen stellen die Sakramente der Kirche dar. Ich beschreibe sie der
Kürze nach, indem ich von dem Bilde, welches sich rechts über der Ein-
gangsthür befindet, anfange und immer zu dem links folgenden fortschreite.

1. Die Taufe. Man sieht ein sechseckiges Taufgebäude, welches nach
vorn offen ist und seitwärts einen Portikus hat. Darüber, zur Seite, schwebt
ein Engel mit einer Kerze. (Ich bemerke, dass bei sämmtlichen Bildern

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3,96 Italienische Studien.

die oberen Winkel der gegebenen Räume durch Engel- oder Teufelsgestal-
ten ausgefüllt werden.) In der Kapelle, an dem sechseckigen Taufbrunnen,
geht die Taufhandlung vor sich. Das Kind wird von einem Manne in
rother Kleidung gehalten, ein Diakonus (?) stützt seinen Arm; weiter zurück
steht noch ein Zeuge. Der Priester giesst das Wasser auf den Kopf des
Kindes, neben ihm steht der Sakristan. Im Vorgrund, tiefer, sieht man
eine Weibergruppe, deren Beschäftigung leider nicht mehr deutlich zu
erkennen ist; doch sind auch unter ihnen noch anmuthige, lebenvolle
Köpfe erhalten.

2. Die Firmelung. Eine gotliische Kirche, nach vorn offen; darüber
wieder ein Engel mit einer Kerze, Eine Mutter hält ihr weissbekleidetes
Kind auf dem Arme, ein Bischof segnet es; hinter ihr zwei andre Frauen,
von denen die eine ebenfalls ein Kind auf dem Arme trägt. Im (beschä-
digten) Vorgrunde führt wiederum eine Frau ein Kind herbei.

3. Das Abendmahl. Ein gothisches geradlinig geschlossenes Gebäude;
darüber zwei Engel mit Kerzen und Rauchgefässen. Man sieht eine Anzahl
knieender Leute, mit verschiedenem Hauptschmuck und sehr lebenvollen
Gesichtern; einer steht am Eingange aufrecht, ein andrer trl% eben ins
Portal. Der Priester — ein trefflich individueller Kopf — reicht dem vor-
dersten die Oblate; hinter ihm zwei Sakristane, von denen der erste den
verhüllten Kelch trägt.

4. Die Beichte. Reiche Architektur im florentiiiisch-gothischen Style,
nur zum Theil geöffnet. Der Priester sitzt im Beichtstuhl, mit sehr aus-
drucksvoller Geberde horchend; vor ilim kniet ein Weib, welches mit
betrübter Miene beichtet. Ausserhalb der Kirche, rechts, sieht man drei
Büssende, die in gemessenen Schritten die Kirche verlassen. Sie tragen
das Haupt in schwarze Kapuzen verhüllt; Arme, Rücken und Beine sind
nackt. Sie schwingen Geissein auf ihren Rücken; dem vordersten fliesst
das Blut herab. Oben, in der Ecke, erblickt man entflieliende Teufelgestalten.

5. Die Priesterweihe. Offene byzantinische Kirchen-Architektur.
In dem Gewölbe einer Tribüne ist eine Mosaik-Darstellung angebracht:
Christus, der zwei Jünger zu sich ruft, — oflenbar absichtlich, als Vorbild
der heiligen Handlung. In der Kirche sitzt der Papst unter einem Balda-
chin, mehrere ornirte Geistliche zu seinen Seiten. Er fasst mit seinen
Händen die des jungen Priesters, welcher geweiht werden soll und hinter
welchem andere Geistliche und mehrere Chorknaben stehen. Den Vorgrund
bildet ein Chor von zehn Sängern, die vor einem Pulte stehend singen.
Die nachlässige Bängerstellung, die Anstrengung beim Singen, * die Vortrag-
weise der verschiedenen Stimmen, alles dies ist in der Gruppe aufs Glück-
lichste und in liebenswürdigster Naivetät dargestellt. Links oben schwebt
wiederum ein Engel.

6. Die Ehe. Ein reichornamentirter Teppich im Hintergrunde, darüber
kleine Amorinenstatuen, welche goldene Guirlanden tragen. Vor dem Tep-
pich, in der Mitte, steht ein fü'rstliches Paar; der Bräutigam ist im Begriffe,
der Braut den Ring anzustecken; ein Priester hinter ihnen nähert ihre
Hände einander. Nach alter -Ueberlieferung sind dies die Portraits der
obengenannten Stifter der Kirche, des Ludwig von Tarent und der Johanna;
er hat etwas Wendisches in seiner Physiognomie und einen rothen Spitz-
bart, — sie ein äusserst zartes feines Gesicht mit blonden Flechten. Hinter
der Königin steht ein Gefolge reizender Frauen, die sich durch die Anmuth
ihrer Köpfe und die zierliche Naivetät ihrer Haltungen auszeichnen. Hinter

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II. Von den älteren Malern Neapel's. .373

dem Fürsten stehen mehrere KapellHne u. a.; hinter diesen einige Posauni-
sten, die mit allerergötzlichster Gewalt in die Posaunen stossen. Das fürst-
liclie Paar befindet siQh unter einem Baldachin, dessen Stangen nach vorn
von zwei Rittern gehalten werden, und über dem auf jeder Seite ein Engel
schwebt. Im Vorgrunde, links, sieht man einen Geiger, der das Haupt
gar sinnig auf die Geige senkt, und einen lustigen Hautböisten. Daneben
Kitter und Frauen, die mit zierlichen Bewegungen, indem sie sich sehr zart
an den Fingern halten, einen Reigentanz aufführen.

7. Die letzte Oelung. Ein Haus, nach vorn geöffnet. Der Ster-
bende liegt auf. dem Lager, halbnackt, — ungefähr wie ein ausgedörrter
Cliristnsleichnam in den Gemälden jener Zeit anzuschauen. Seine Frau
liebt ihn empor. Ein Priester giebt ihm die Oelung; neben diesem der
Sakristan mit einer Kerze. Weiber und Kinder sind um das Lager ver-
sammelt; auf sehr bestimmte Weise spricht sich in ihren Stellungen und
Mienen der innere Schmerz aus, wie er durch die Feier des Momentes
gemässigt wird. Oben linlis erscheinen drei Engel im siegreichen Kampfe
mit drei Teufeln.

8. Das letzte Bild führt insgemein den Namen der Entrata della Beina
Giovaniia
(des Einzugs der Königin Johanna), und ich erinnere mich, es
selbst in Werken deutscher Kunstreisenden so bezeichnet gefunden zu haben.
Icli weiss jedoch nicht, wie man das Bild unter solchem Titel befriedigend
erklären möchte. Ich glaube, obgleich es leider beträchtlich verdorben ist,
darin eine allegorisctie Vorstellung und Personiflcation der Kirche zu
erkennen. Man sieht nämlich ein kirchliches Gebäude, in dessen Mitte,
unter einem Baldachine, Christus steht, ein wohlerhaltener, sehr schöner
Kopf, voll
jener alterthümlichen typischen Würde. Gerade vor ihm, nur
etwas tiefer, steht eine, wie es scheint, weibliche Gestalt, mit der päpst-
lichen Mitra bekleidet, einen Kelch in der emporgehobenen linken Hand,
die von Christus unterstützt wird. Gerade so findet man unzähligemal in
den Miniaturen der Gebetbücher das neue Testament* (im Gegensatz gegen
das alte) oder die christliche Kirche- (im Gegensatz gegen das Juden- und
Heidenthum) abgebildet. Links stehen Heilige, die fast ganz erloschen
sind; rechts ebenfalls Heilige, wie es scheint: Petrus und Paulus, mit schö-
nen Köpfen. Neben diesen gekrönte Fürsten ohne den Heiligenschein, schöne
männliche Portraitköpfe; sie tragen Lilien-geschmückte Gewänder und Fah-
nen in den Händen. Hinter ihnen Geistliche und Andere. Die rechte Ecke
des Bildes ist wiederum verdorben.

So sehen wir in diesen acht Bildern einen in sich geschlossenen gross-
artigen Cyklus, der das Leben des Mensclien in allen grossen Momenten
von Freude und von Schmerz, und zwar überall in seinem Bezüge auf ein
iiüiiores gnadenreiches Wesen darstellt; Geburt und Ehe und Tod, von
göttlicher Weihe begleitet, und göttliche Hülfe gegen die Anfechtungen des
Bösen. So steht auch das letzte Bild im vollständigen Zusammenhange mit
don übrigen, indem es die Kirche darstellt, von deren Bestimmungen die
Feier jener Sakramente herrührt und deren Verbindung mit dem Leben vor
Allem in den Sakramenten beruht. Ich wüsste nicht leicht eine edlere
Aufgabe für die Kunst zu ersinnen, — falls man nicht mit besonderer Vor-
liebe für das Transcendentale, Uebermenschliche, zu Werke schreitet; und
icli wüsste auch nicht, wie eine solche,* in Betracht der noch so geringen
Kunstmittel jener Zeit, glücklicher gelöst worden sei. Ueberall sind die
Kompositionen aufs Einfachste und Verständlichste angeordnet; Überall zeigt

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3,96 Italienische Studien.

sich ein eigentliümlicher (freilich noch nicht durchgebildeter) Schönheits-
sinn, sowie die glücklicliste Auffassung der Natur, vom Ernsten und Tra-
gischen bis zur
spielenden Unbefangenheit eines naiven Humors; und erst
bei einer solchen Naturauffassung versteht man es, warum Giotto von seinen
Zeitgenossen so gerühmt ward und Avesshalb man sagen konnte, dass er die
Menschen male, als ob sie lebten. Für die Aechtheit der Bilder ist zwar
zur Zeit noch kein weiteres äusseres Zeugniss vorhanden als (soviel ich
Aveiss) Vasari's Bericht; doch möchte aus den Gemälden selbst schwerlich
ein Zweifel zu entnehmen sein. Freilich geben sie einen höheren Begriff
von dem Charakter des Meisters als jene unbedeutenden Staffeleibilder in
der Brera zu Mailandund in S. Croce zu Florenz, die seinen Namen
führen. Er erscheint nach ihnen keinesweges als ein nüchterner Geschäfts-'
mensch, wie man ihn dargestellt hat, sondern als ein wahrer Künstler, frei-
lich als ein männlicher, ohne Sentimentalität, ohne Schwärmerei, als einer,
der das Leben in seiner tiefsten Bedeutung fühlt und sein Gefühl in Gestal-
ten auszusprechen weiss: — aber ich glaube, dass eine solche Kunst über-
haupt am Edelsten und Nachhaltigsten wirkt. ~ Die Deckengemälde in
der Incoronata sind, wie gesagt, sehr bequem zu besehen; auch sind sie
gut beleuchtet und, bis auf einzelne oben angeführte Stellen, sehr wohl
erhalten, namentlich durch keine Restauration entstellt; es wäre somit
eine sorgrältige Zeichnung derselben ebenso leicht ins Werk zu richten,
als ihre Herausgabe den Freunden älterer Kunst gewiss höchst erfreu-
lich sein würde.

r
ii
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I

J

Ausser den genannten enthält dasselbe Kirchlein noch andre Malereien
aus dem vierzehnten Jahrhunderte, die man ebenfalls dem Giotto zuzu-
schreiben pflegt; so im linken Seitenschiff eine Madonna mit dem Kinde im
Style des Meisters, deren Kopf sehr schön ist — vielleicht ein Rest grös-
serer Wandmalereien. Die Kapelle des Cruciflxes ist ganz und gar mit
Malerei bedeckt, die jedoch sehr verdorben ist, so dass man nur noch hin
und wieder heilige Darstellungen erkennen kann. Die im Gewölbe und in
den Lünetten sind von einem, dem Giotto verwandten, aber schon freieren
Meister; die grossen Gemälde auf den Wänden sind vom Ende des fünf-
zehnten Jahrhunderts. — Von den grossen Wandmalereien in S. Chiara,
zu deren Ausführung Giotto eigentlich nach Neapel berufen ward, und in
denen verschiedene Scenen aus dem Leben der heiligen Jungfrau, des hei-
ligen Franciscus und der heiligen Clara dargestellt waren, sieht man gegen-
wärtig nichts als an einem Pfeiler des Mittelschiffes die halbe Figur einer
Maria, die das Kind an der Brust trägt; auch hier ist die Jungfrau durch
einen sehr anmuthigen Kopf ausgezeichnet. Gewiss würden auch diese
geringen Ueberbleibsel bei der schnöden Modernisirung der Kirche das
Schicksal der übrigen Malereien getheilt haben, hätten sie sich nicht durch
Mirakel die Ehrerbietung, auf die ein simples Kunstwerk keinen Anspruch
machen durfte, zu erhalten gewusst; der überreiche mexikanische Putz, die
Wachsköpfe, Brüste und andren Ex-votos, womit das Bild behängt ist
bezeugen das Interesse der Neapolitaner für Giotto's Madonna. — In S.
Domenico maggiore, in der Kapelle des heiligen Antonius Abbas, sieht man

Die Soitenbilder dioses Gemäldes, offenbar von derselben Hand, befinden
sieb in der Pinakothek, von Bologna. Das Mittelbild ward dieser Gallerie erst
von den Franzosen entführt. Das Ganze befand sich früher in der Kirche S.
Maria degli Angioli zu Bologna.

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in einer kleinen Nische das Brustbild des Heiligen, das ebenfalls, und wohl
nicht mit Unrecht, dem Giotto zugeschrieben wird. Es ist ein charakter-
voller Kopf von strengem Ausdrucke, leicht gemalt und auf Goldgrund.
Eine Madonna mit dem Kinde, ebendaselbst in der Kapelle des heiligen
Stephan, dürfte nicht mit gleichem Rechte den Namen des florentinischen
Meistere führen.

Ehe ich von Giotto zu den eigentlich neapolitanischen Künstlern über-
gehe, sei es mir vergönnt, noch ein Bild eines späteren toskanischen Mei-
sters zu erwähnen, dessen Name, wenn ich nicht irre, bisher in der Kunst-
geschichte noch nicht genannt ist. Das Bild befindet sich im Chor der
Kirche des Camaldulenserklosters, dahin jeder Fremde von Neapel empor-
steigt, um die Entzückendste aller Aussichten — über Meer und Land,
Inseln, Gebirge und Thäler — zu gemessen, und wo man im Sommer 1835
au dem Pförtner, Fra Benedetto, den gemüthlichsten Wirth und Cicerone
fand. Das Bild ist nicht gross und führt die Unterschrift:
Petrus Domi-
nici de Monte Puliciano
(Montepukiano) pinsit. MCCCCXX. Es ist eine
Madonna mit dem Kinde, zwei Engel mit Musikinstrumenten auf jeder
Seite; es ist auf Goldgrund gemalt, wie es scheint: a tempera, und die
Figuren mit viel zierlichen Goldornamenten geschmückt. Die Linien haben
etwas sehr Schönes und Würdiges, so dass sich iu der Gewandung selbst
edle und volle Formen bilden, vornehmlich bei den Engeln; überhaupt
haben die Figuren etwas Zartes, was im Einzelnen an Fiesole erinnert.
Das Gesicht der Madonna jedoch ist kleinlich in seinen Formen und etwas
kalt iu der Caruation, aber sehr zart und sauber durchgeführt. Das Kind,
welches in ein durchsichtig feines Gewand gekleidet ist, ist unbedeutend
und hart in der Zeichnung.

Bei den neapolitanischen 3Ialern des vierzehnten Jahrhunderts scheint,
wenngleich wir mit Bestimmtheit den Einfluss Giotto's hoch anschlagen
müssen, doch ähnlich wie bei den Sienesern eine gewisse Nachwirkung der
byzantinischen Darstellungsweise Statt gefunden zu haben. Auch fehlt es
nicht an den Namen einheimischer Künstler, welche noch dem dreizehnten
Jahrhunderte angehören. Als tüchtige WQrke im giottesken Style, aber
mit bedeutenden byzantinischen Nachklängen der Art, erscheinen die reichen
Wandgemälde einer Kapelle in S. Domenico maggiore (auf der Südseite),
welche verschiedene Scenen aus der Passion Christi und andre heilige
Begebenheiten darstellen. In Neapel schreibt man sie mit Unrecht dem
Angelo Franco zu.

Der bedeutendste Zeitgenoss des Giotto" zu Neapel, dessen Ruhm zuerst
durch die edelmüthige Anerkennung des Florentiners begründet ward, ist
Maestro Simone. Von ihm sind zwei interessante Gemälde in der
Kirche S. Lorenzo maggiore vorhanden. Das eine, über dem Hauptaltar
der Kapelle des heiligen Antonius von Padua befindlich, ist das Bild des
Heiligen, der einfach dem Beschauer gegenüber steht, so dass man das
geistreiche Gesicht en face sieht. Das andre Gemälde, auf der andern
Seite der Kirche, stellt den heiligen Ludwig dar, welcher seinen Bruder,
König Robert von Neapel, krönt. Es ist auf Goldgrund und mit reichen
Goldornamenten versehen; die Carnation und Modellirung sind sehr dünn
gehalten, in licht grünlicher Farbe; der Kopf des Königes Robert ist ein
charaktervolles Portrait. — Von Stefanone, dem Schüler des genannten,
sieht man eine heilige Magdalena auf Goldgrund, ein strenges, feierliches
Gemälde, in S. Domenico maggiore (Kapelle des heiligen Martin). — Von

f .

II. Von den älteren Malern Neapel's.

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3,96 Italienische Studien.

Francesco (Ii Maestro Simone, dem Sohne und Schüler eben jenes
Meisters, ist ein sehr vorzügliches Wandgemälde in der Kirche S. Chiara
erhalten, in der Kapelle, die sich gleich linker Hand neben dem Haupt-
eingange befindet. Es ist eine Madonna mit dem Kinde im weissen
Gewände, unter einem gothischen, grau in grau gemalten Tabernakel
sitzend, und darunter eine Darstellung der Dreieinigkeit, Die i^adonna
ist eben so schön, als voll von jener alterthümlichen typischen Würde,
die in der Gesammt-Erscheinung so bedeutend wirkt. Auch dies Bild
ist, wie jenes von Giotto, reich mit Ex-voto's behängt, denen es seine
Erhaltung verdankt.

Mit dem Schlüsse des vierzehnten Jahrhunderts beginnt eine neue
Periode der neapolitanischen Malerei, die sich das folgende Jahrhundert
hindurch in ziemlich gleicher Weise fortbildet. Die meisten Werke dieser
Zeit halten etwa die Mitte zwischen dem Charakter der umbrischen und
der oberdeutschen, zuweilen auch der niederländischen Schule, wie denn
namentlich direkte Einflüsse der letzteren im Einzelnen angenommen wer-
den dürften. Der Meister, welcher diese neue Periode einleitet, istColan-
tonio del Fiore, dessen frühste Arbeiten bereits in das Jahr 1374 fallen
sollen und der, nach der gew()hnlichen Angabe, im Jahr 1444 gestorben
ist. Ein wunderthätiges Christusbild, welches sich in der Kirche S. Lorenzo
maggiore befindet, wird von einigen ihm, von anderen dem Maestro Simone
zugeschrieben. Es ist ein Brustbild und schmückte früher die Aussenseite
eines Hauses; auf den Schlag, den es von einem unglücklichen Spieler
erhielt, soll es Blut vergossen haben und ist demzufolge in solche Verehrung
gekommen, dass man ihm, als jenes Haus abgebrochen ward, einen Altar
in der Kirclie einräumte. So viel sich in seinem jetzigen Zustande darüber
sagen lässt, ist es ein schöner würdiger Christuskopf in der typischen
Weise. — Siclierer ist ein anderes Wandbild, welches sich an dem Kirch-
lein S. Angelo a Nilo, ausserhalb, in der Lünette über dem Hauptportal
befindet; es stellt die heilige Jungfrau dar, zu ihren Seiten den Erzengel
Michael und den heiligen Baculus, der ihr den knieenden Donator empfiehlt;
es scheint tüchtig gemalt, doch ist es so verstaubt, dass sich auch hieraus
zur Zeit kein Urtheil über den Meister gewinnen liess.

iW

Das Gemälde, welches dem Namen des Colantonio einen grösseren
Huf gegeben hat, ist der heilige Hieronymus, der in seiner Studirstübe
sitzend, dem Löwen den Dorn aus deniFusse zieht. Es befand sich früher
in der Sakristei der Kirche S. Lorenzo und wurde von da in die Gemälde-
gallerie des borbonischen Museums versetzt. Den Lesern wird dasselbe
aus dem flüchtigen Umriss bei d'Agincourt bekannt sein. Es ist ein Bild
vom ausgezeichnetsten Werthe; die unordentlich durcheinander liegenden
Bücher der Bibliothek, der Schreibtisch mit allen Utensilien sind höchst
meisterhaft und mit van Eyck'scher Vollendung gemalt. Ueberhaupt hat
das (in Oel gemalte) Bild soviel Niederländisches an sich, dass bereits die
Meinung aufgestellt worden ist, es sei niclit das Werk eines Neapolitaners,
sondern des Johann van Eyck selbst, eine Meinung, der es in der That
nicht an gewichtigen Gründen fehlt'). Doch dürfte liiegegen nicht ausser
Aclit zu lassen sein, dass in der Gestalt des heiligen Hieronymus das
Fleisch derber, die Hände mit weniger Wahrheit und Gefühl, die Haare

U'

') Herr HolVath Hirt, im Museum, 1833, No. 2], S. 163. (Neuerlich ist
das Bild dem Hubert van Eyi'k zugeschrieben,)

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II. Von den älteren Malern Neapel's. .393

des Bartes minder fein gemalt sind, als dies bei Gemälden des Johann
van Eyck der Fall zu sein pflegt. Ebenso ist auch der Löwe ziemlich
roh gemalt (obgleich die Mähne wohl als restaurirt anzunehmen ist). Das
Gewand endlich, welches der Heilige trägt, ist in schweren, langen Falten
gezeichnet, die, ebenso wie die erwähnten Eigenthümlichkeiten und wie
der goldene Heiligenschein, einem noch minder entwickelten Künstler anzu-
gehören scheinen. — Bei der gänzlichen Dunkelheit,, in welcher die Geschichte
der neapolitanischen Kunst noch liegt, und bei verschiedenen andern Anzei-
chen transalpinischen Einflusses, wage ich zur Zeit nicht, über diesen Punkt
eine Meinung abzugeben.

Von Angelo Franco, der für einen Zeitgenossen und Nachahmer
des Colantonio gilt, befindet sich in S. Domenico maggiore (in der Kapelle
der B. Vergine delle Grazie) ein eigenthümliches Bild, eine Madonna, mit
Johannes dem Täufer und dem heiligen Antonius Abbas. Es ist streng,
im Colorit trocken, im Charakter etwa den Meistern des Elsasses, vornehm-
lich dem Martin Schön verwandt. Ein anderes Madonnenbild, welches er
in derselben Kirche, in der Kapelle des heiligen Martin, auf die "Wand
gemalt hat, ist von sehr anmuthigem Ausdrucke.

Der bedeutendste Meister dieser ganzen Periode ist Antonio Solario,
gewöhnlich il Zingaro genannt, der um das Jahr 1382 geboren und
um 1455 gestorben sein soll, ein Tochtermann des Colantonio del Fiore.
Sein Leben hat einen romantischen Anstrich; es scheint mehr von Novel-
listen als von Historikern verfasst zu sein. Nach Dominici war er in seiner
Jungen Zeit ein Blechschmipd; Liebe machte ihn zum Künstler. Sein eigent-
licher Lehrmeister in der Malerei, bei dem er sieben Jahre verweilt, soll
Lippo di Dalmasio zu Bologna gewesen sein; dann soll er seine schliess-
liche Ausbildung durch Studienreisen im oberen Italien empfangen und
zuletzt noch dem Pisanello und dem Gentile da Fabriano an ihren grossen
Arbeiten zu Rom, im Lateran, geholfen haben.

Wieweit diese Angaben mit den Gemälden des Zingaro übereinstimmen,
(lies zu entscheiden, möge künftigen Kritikern vorbehalten bleiben. Ich
bemerke nur, dass mir die Schule, welche der Künstler beim Lippo di
Dalmasio durchgemacht haben soll, etwas problematisch vorkommt, oder
dass wenigstens ein bedeutender Theil seiner Werke der Richtung einer
solchen Schule nicht entspricht und möglicher Weise als von anderer Hand
gearbeitet, zu betrachten sein dürfte. Eine kleine neuerdings erschienene
Schrift von Moschini.
(Memorie della vita di Antonio de Solario, detto
il Zingaro, piltore viniziano. Venezia
1828. 2i pp. in 8.) behauptet, dass
Zingaro von Geburt ein Venezianer sei, sofern er sich auf einem Gemälde
im Besitz des Abbate L. Celotti. selbst als
Antoniiis de Solario venetus unter-
zeichnet habe. Hiedurch würde seine Bildungsgeschichte nur um so dunk-
ler werden; auch enthält die angeführte Schrift keinen einzigen Punkt zur
woiteru Aufklärung der Sache. ^

Die schönsten Stalfeleigemälde, welche icli vom Zingaro gesehen habe,
befinden sich in der Gemäldegallerie des Museums, wohin sie aus verschie-
denen Kirchen gebracht sind. Sie haben eine eigene Süssigkeit und Zart-
lieit, und von ihnen gilt zuerst auf entschiedene Weise, was oben bereits
;ils ein Hauptzug dieser ganzen Periode angegeben wurde, dass ihr Cha-
rakter nämlich etwa die Mitte hält zwischen dem der umbrischen Schule
Italiens und derjenigen, die sich im oberen (südwestlichen) Deutschland

L

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3,96 Italienische Studien.

gegen Ende des funfzelmten Jahrhunderts ausbildete Doch findet man
hier nicht jenes Schwärmerische der ümbrier, das besonders bei Perugino
und seinen Schülern so stark hervortritt.

Das ausgezeichnetste unter den Gemälden des Zingaro in der Gallerie
des borbonischen Museums ist dasjenige, welches sich früher im Museum
von S. Maria la Nuova befand (Erste Abtheilung der Gallerie, No. 4). Es
ist eine heilige Jungfrau mit dem Kinde, Franciscus und Hieronymus zu
iliren Seiten. Sie steht auf einem Felsen, zu dessen Seiten rings kleine
Löcher sind, daraus (nach beliebter neapolitanischer Sitte) Flammen des
Fegefeuers und kleine Seelchen hervorkommen. Zwei Engel, im Style des
Perugino, halten eine Krone über ihrem Haupte. Ihr Untergewand ist
Gold. Beide Brüste sind entblösst, indem sie aus runden Löchern des
Goldgewandes hervortreten 5 das Kind, das sie auf dem rechten Arme trägt,
spielt mit der einen, die andre drückt sie in reizend tizianischer Bewegung
mit der linken Hand. Die Carnation ist schön und licht gehalten. Hir
Gesicht und ganzer Charakter ist reizend jungfräulich und überhaupt eine
eigenthümliche Milde über das Gemälde ausgegossen.

Ein andres Bild, aus der Kirche S. Pietro ad Aram (II, No. 254), stellt
die heilige Jungfrau auf dem Throne, auf der einen Seite den heiligen
Sebastian und Petrus, auf der andern den heiligen Paulus, Asprenus und
die heilige Candula dar; in einigen Nebenfiguren soll der Künstler sein
und seiner geliebten Gattin Portrait angebracht haben. Dies Bild hat nicht
die Süssigkeit des vorigen, es ist ernster und strenger, aber ebenso tüchtig
und würdig gehalten. Es erinnerte mich in EtAvas an die Werke des Marco
Palmezzano von Forli.

Eine Ausgiessung des heiligen Geistes (I, No. 9) ist nicht so bedeutend,
wie die beiden genannten, dient jedoch auch, um den Charakter des
Meisters, in den angegebenen allgemeineren Zügen, leichter bestimmen
zu können.

Andres von der Hand des Zingaro ist noch in den Kirchen vorhanden.
So sah ich im Dome, in der Kapelle der Familie Galluccio (neben der
Kapelle des Tesoro), ein kleines Bild, eine sehr anmuthige Madonna mit
dem Kinde vorstellend, welches mir ganz der- Art dieses Künstlers zu ent-
sprechen schien. F]s stand auf dem Altar, vor einem grossen, flau modernen
Pfingstbilde des Cavaliere Malinconico.

Ein sehr berühmtes Bild vom Zingaro befindet sich in S. Lorenzo
maggiore, in einer kleinen Kapelle, der des heiligen Antonius gegenüber.
Es stellt den heiligen Franciscus dar, welcher in der Mitte steht, Schaaren
von Mönchen (einige mit Heiligenscheinen) knieend auf seineii Seiten. Er
reicht nach jeder Seite ein Buch mit den Regeln des Ordens. Zwei Engel
zu seinen Häupten halten Täfelchen, darauf die Hauptpunkte des durch
ihn begründeten Instituts verzeichnet sind. Das Bild ist auf Goldgrund
gemalt; im Ganzen steif, gleichwohl von grossartiger Anordnung, mit
bedeutenden Linien in der Gewandung und mit trefflichen, charaktervollen
und schönen Köpfen.

Welche merkwürdigen Resultate würden sich für die Verhältnisse, beson-
ders der italienischen Schulen ergeben, wenn sich, in Folge kritischer Unter-
suchungen, die bisherige Zeitbestimmung im Allgemeinen als richtig erwiese!
Vor der Hand ist die Sache noch zu unsicher, als dass ich näher hierauf einzu-
gehen wagen dürfte. ' N

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379

IL Von den älteren Malern Neapel's,

Eine Kreuzabnahme, die sich in S. Domenico maggiore, in der Kapelle
del Crocelisso, befindet, wird ebenfalls für eine Arbeit des Zingaro ausge-
geben, obgleich schon Dominici (ohne indess die Aechtheit zu bezweifeln)
anmerkt, dass sie viel Aehnliches mit den "Werken des Albrecht Dürer
habe. Wenn ein italienischer Kunstkenner von Werken des letzteren
spricht, so ist bekanntlich in der Regel (und im besten Fall) nur ober-
deutsche Schule anzunehmen, und so verhält es sich auch hier. Das Bild
trägt zu entschieden die Kennzeichen dieser Schule (aber nicht des Dürer
selbst) an sich, als dass es von der Hand des Zingaro herrühren könnte.
Hr. Hofrath Hirt hält dasselbe für eine Arbeit des Johann van Eyck '),
doch kann ich diesem Urtheil nicht wohl beistimmen. — Am Eingange der
genannten Kapelle sieht man das Bildniss des Dominikaners B. Guido
Maramaldo, vom Zingaro streng al fresco gemalt, und den ihm zugeschrie-
benen grossen Fresken in S. Severine entsprechend; das andre Bildniss
liinter diesem ist von andrer Hand, welche die Manier des Künstlers nach-
zuahmen gesucht hat,

In dem Kirchlein Ser Incoronata sieht man, ausser den erwähnten
Arbeiten Giotto's, rechter Hand im Mittelschiff noch eine Madonna mit dem
Kinde, die ebenfalls dem Zingaro zugeschrieben wird, und der Rest einer
grosseren Wandmalerei zu sein scheint. Es ist eine zierlich weiche Com-
position, das Gesicht der Madonna von sentimentalem Ausdrucke und das
Ganze reich mit Goldverzierungen geschmückt.

Sehr bedeutend sind die eben erwähnten Freskomalereien, welche zwei
Seiten des Klosterhofes von S. Severino schmücken. Auch diese führen
den Namen des Zingaro. Jedenfalls aber möchte ich den Meister derselben,
— falls er auch wirklich mit dem Verfertiger der oben genannten Staffe-
leibilder Eine Person ist und etwanige Verschiedenheiten den Gehülfen,
die er zu einem so bedeutenden Werke haben musste, zuzuschreiben sein
möchten, — nicht der ersten, sondern der zweiten Hälfte des fünfzehnten
Jahrhunderts zuertheilen.

Es sind zwanzig Gemälde, die in geringer Höhe über dem Fussboden
beginnen und oben durch den Halbkreis des Gewölbes geschlossen werden.
Es sind meist einfache historische Darstellungen, etwa in florentinischer
Weise, aber durchaus ohne die dort gewöhnliche Ueberladung mit Neben-
figuren; ich möchte sie, in Bezug auf die Anordnung, mit den Fresken des
Andrea del Sarto im Vorhofe der SS. Annunziata zu Florenz vergleichen.
In den meisten Fällen ist nur Eine Haupthandlung dargestellt; nur einige
Male sieht man kleinere Nebenhandlungen in der Ferne. Die Zeichnung
der Gestalten ist einfach in der Weise der späteren Meister des fünfzehnten
Jahrhunderts und ziemlich dem jungen Raphael verwandt. Die Köpfe sind
zum Theil äusserst zart, fein modellirt und in schöner Farbe; andre sind
roher, kälter und ohne Zweifel von Schülern gearbeitet; alle aber sind
äusserst naturwahr und aus dem Leben gegriffen, wenngleich mehr oder
minder edel. Die Gründe der Bilder sind entweder mit Architekturen
geschmückt, die in reichem modernem Style (auch dieser Umstand deutet
auf die spätere Zeit des fünfzehnten Jahrhunderts) und in trefflicher Per-
spektive gezeichnet sind, — letzteres besonders bei inneren Durchblicken;
oder es sind höchst ausgezeichnete landschaftliche Darstellungen, zwar noch
mit dem phantastischen altniederländischen Landschaftsstyl verwandt, aber

') Museum, 1833, No. 21, S, 163.

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3,96 Italienische Studien.

so massig gehalten, dass sie selbst an die caraccische Landschaftschule
erinnern, letzteres besonders auch in der Farbe. Namentlich sind die leich-
ten, schlanken Bäume, durch die man in die Fernen hinausblickt, die ruhigen
klaren Seen, u. a. meisterlich gerathen. Mir ist in der ganzen italienischen
Kunst wenig Aehnliches in den Gründen historischer Fresken vorgekommen,
am wenigsten in einer so frühen Zeit, wie diese; ich begreife nicht, in
welcher Schule der Künstler sich zu einer solchen Vollendung im land-
schaftlichen Fache gebildet haben könnte, denn auf die niederländische
Schule der Eyck's zu rathen, passt hier nicht, da die Gestalten dieser Bil-
der nichts mit jener Schule gemein haben. — Leider sind die Bilder im
höchsten Grade beschädigt. Das Kloster scheint als Kaserne gedient zu
haben, da die Gestalten häufig auf die muthwilligste Weise zerkratzt sind;
dann ist eine schmähliche Restauration darüber gekommen, welche wenig-
stens die Gewandung der Figuren im Vorgrunde fast ganz zu Grunde
gerichtet hat, so dass man nur noch die Hauptmotive des Faltenwurfes
herausfinden kann. Doch sind hievon die Köpfe dieser Figuren, sowie
die Gründe, meist verschont geblieben. Aeussersit wünschenswerth scheint
es, dass diese so höchst merkwürdigen Gemälde bald, ehe es gänzlich zu
spät ist, genau gezeichnet und dem kunstliebenden Publikum bekannter
gemacht werden.

Die Fresken stellen Scenen aus dem Leben des heiligen Benedict dar,
ziemlich dieselben Momente, wie man sie auch an andren Orten in Gemäl-
den dieses Inhalts wiederholt findet. Ich erwähne einige der Bedeutendsten.

Auf dem ersten Bilde ist dargestellt, wie die Eltern des heiligen Bene-
dict in der Stadt Nursia ankommen, ein Zug mit Pferden und Maulthieren;
zwei Jünglinge schreiten dem Zuge mit leichten Schritten voran. Dies
Bild ist, das einzige des ganzen Cyclus, in grüner Erde gemalt und ver-
dankt diesem Umstände, der es weniger in die Augen fallen machte, dass
es von Bosheit und Dummheit ziemlich verschont geblieben ist; namentlich
kann man hier die Zeichnung der Gewänder noch vollständig verfolgen.
Die beiden Jünglinge sind besonders schön und gleichen auffallend den
Gestalten, die man in Raphaels Handzeichnungen aus der Zeit, wo er für
die Libreria des Sieneser Domes arbeitete, sieht. Das monochrome Grün,
obgleich dessen Anwendung in früherer Zeit sehr beliebt gewesen zu sein
scheint, musste dem Meister jedoch nicht weiter genügt haben; schon mit
dem zweiten Bilde beginnt die Ausführung in naturgemässen Farben.

Die ausgezeichnetste Landschaft findet man auf dem vierten Bilde, wo
der heilige Benedict das Mönchsgewand nimmt. Hier sieht man einen
trefflichen Abendhimmel und leichte schöne Bäume, in denen nichts an
jene conventionelle Darstellung des Baumschlags erinnert, die man später,
bei den ersten eigentlichen Landschaften, so häufig bemerkt.

Im achten Bilde ') ist dargestellt, wie der heilige Benedict, in Gegen-
wart seiner Klosterbrüder, einen Giftkelch durch sein Wort zerbricht. Hier
zeigt sich unter den Mönchen eine Menge sehr vorzüglicher Köpfe, die ich
in Bezug auf die feine Technik etwa mit den ausgezeichnetsten Bellini's
vergleichen möchte, und in denen auch der dem Momente angemessene
Ausdruck glücklich erreicht ist.

') In der Beschreibung, welche Dominici in seinem schon erwähnten Werke
\on diesen Bildern giebt, ist vor No. 6 ein Bild ausgelassen, so dass seine
Bezeichnungen der Nummern nicht richtig sind.

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II. Von den älteren Malern Neapel's.

Das neunte Bild enthält die Geschichte der heiligen Jünglinge Placidus
und Maurus, welche vom heiligen Benedict in seinen Orden aufgenommen
werden. Dies Bild ist sehr figurenreich und zeigt in den Köpfen mehrfach
Härteres und zugleich mehr charakteristische Individualität als die früheren.
Merkwürdig ist dies Bild besonders dadurch, dass in demselben, unter den
Zuschauern der Handlung, des Künstlers eignes Portrait enthalten ist. Er
steht, dem Beschauer zugewandt, in seinen Mantel gehüllt und einen Pinsel
in der Hand; Gestalt und Gesicht sind die eines derben kräftigen Mannes
von etwa 35 Jahren. Er trägt langes braunes Haar und ein schwarzes
Barett. Hinter ihm schaut ein jüngerer Mann hervor, den man für seinen
Gehülfen bei der Ausführung der Fresken hält; dieser hat auch etwas Derbes,
aber mehr Phantastisches im Gesichte als der Meister; er trägt dickes
schwarzes Haar und ein rothes Barett,

Das vierzehnte Bild stellt ein klösterliches Mahl dar und zeichnet sich
wiederum durch die trefflichsten Köpfe, wie auch durch die sehr wohlge-
lungene Anordnung des Mahles aus

Im sechzehnten Bilde sieht man ein Wunder, das bei dem Bau des
Klosters von Montecassino vorgefallen ist. Man sieht Mönche, die sich
bemühen, einen grossen Stein mit Hebeln fortzubewegen; auf dem Stein den
Teufel in Gestalt eines katzenartigen Affen, der durch sein Gewicht ihre
Arbeit vergeblich macht, und daneben den Heiligen, der ihn seiner Wege
gehen heisst. Vortiefflich sind hier die angestrengten Bewegungen der
mühsam arbeitenden Mönche ausgedrückt.

Das siebzehnte Bild besteht nur aus einer, durch den oberen Halbkreis
begränzten Lünette, indem sich darunter ehemals eine Thür befand. Dies
Bild enthält eine reizende Landschaft und zwei Männer im Vorgrunde, die
in schöner Naivetät neben einander sitzen und sprechen.

Ausgezeichnet ist endlich auch noch das achtzehnte Bild, wo ein jun-
ger Mönch, durch den Einsturz einer Mauer beim Bau des Klosters erschla-
gen, vor den Heiligen gebracht und durch ihn wieder lebendig gemacht
wird. Sehr schön sind hier vornehmlich die Nebenfiguren, welche dem
Wunder zuschauen; so wie die wohlerhaltene Gruppe im Mittelgrunde, wo
der blutende Jüngling dem Heiligen entgegen getragen wird. —

Die bedeutendsten Schüler des Zingaro sind die beiden Brüder Pietro
und Ippolito Donzelli. Von ihnen sieht man ein sehr schönes Bild
in S. Domenico maggiore, in der Kapelle des heiligen Sebastian, eine hei-

An dem Basament eines Pfeilers der auf diesem Bilde dargestellten Archi-
tektur tlnden sich die folgenden Schriftzeichen, deren Ausdeutung vielleicht
bestimmter auf die Person des Malers, der jene Fresken gefertigt, führen könnte:

881

fei

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lige Jungfrau mit dem Kinde, von Heiligen umgeben. Das Bild erinnert
noch mehr, als wir es bei den StafFeleibildern des Meisters fanden, an die
Art des Perugino; aber es ist leichter gehalten und härter und wiederum
mit Anklängen an die oberdeutsche Schule. — Andre Bilder ebendaselbst,
in der Kapelle des heiligen Dominicus, welche ein älteres Bildniss dieses
Heiligen umgeben und ebenfalls für eine Arbeit der beiden Brüder gelten,
erschienen mir beträchtlich moderner.

Sehr trefflich sind zwei Bilder in S. Maria la Nuova^ in der Kapelle
des heiligen Franciscus, die dem Pietro zugeschrieben werden. Sie stellen
die heilige Agatha und die heilige Lucia dar und stehen
7ai den Seiten
eines Franciscusbildes, welches ungleich roher ist. Beide sind sehr gross-
artig in der Gewandung gehalten, die eine mit anmuthigst zierlicher Hand-
bewegung.

Von eben demselben ist Im Museum (1, No. 91) eine heilige Jungfrau
auf dem Throne mit Engeln , ein schönes mildes Bild, in welchem ich
mehr niederländische als oberdeutsche Anklänge zu finden glaubte. — Eine
Kreuzigung (I, No. 55) ebenfalls vom Pietro, ist ein kleines Bild, schön
und lebendig gemalt. Dies erinnerte mich in Etwas an die älteren Vene-
tianer, — eine Richtung, die wir in der neapolitanischen Schule am Schlüsse
des fünfzehnten Jahrhunderts noch hervortreten sehen werden. — Eine dem
Ippolito (der beträchtlich früher starb als der Bruder) zugeschriebene Kreu-
zigung (1, No. 11) ist alterthümlich strenger und schlichter gehalten.

Zwei tüchtige Bilder in der Sacristei von S. Angelo a Nilo, die dem
Tommaso de' Stefarii, einem Zeitgenossen des Cimabue, ohne Urtheil zuge-
schrieben werden, schienen mir der Art und Weise der Donzelli wohl
entsprechend.

Für einen andren Schüler des Zingaro gilt Simone Papa il vecchio,
obgleich seine Arbeiten eine abweichende Richtung zeigen, und zwar eine
ganz entschiedene Abhängigkeit von niederländischer Art und Weise.
Jedenfalls dürften seine Werke mit dem obenerwähnten heiligen Hierony-
mus, den man dem Colantonio del Fiore zuschreibt, in Verbindung zu
bringen sein, obgleich sie nicht so bedeutend sind und eine gewisse
schwächliche Gomüthlichkeit zur Schau tragen. Von ihm sah ich nur
einige Bilder in der Gemäldegallerie des Museums: Eins mit dem heiligen
Hieronymus, dem Erzengel Michael und den beiden Johannes (I, No. 47);
— ein andres, welches die heilige Jungfrau mit dem Kinde und in der
Ferne die Kreuzigung vorstellt (I, No. 74), dies, wie Colantonio's Hierony-
mus, in der mehr langfaltigen Gewandung etwas von der
Eyck'schen Weise
abweichend; — und ein grosses Bild (II, No. 225), welches in der Mitte
den Erzengel Michael, zwei Heilige und die Donatoren auf seinen Seiten
darstellt. Das Bild ist im Ganzen tüchtig, ernst und naiv, wenngleich
nicht grossartig durchgeführt. Die Gesammtanordnung, die Landschaft,
vornehmlich der Erzengel sind ganz in niederländischer Art behandelt
(letzterer dem heiligen Michael des Danziger Bildes ähnlich); die andren
Figuren haben wiederum etwas mehr Alt-Venezianisches.

II

t <

Von Nicola di Vito, ebenfalls einem Schüler des Zingaro, sieht man
im Museum (I, No. 31) einen trefflichen, aber sehr streng gemalten Erzengel
Michael. — Dieser Nicola ist der Pulcinell der Neapolitaner Künstlerge-
schichte, ähnlich wie der alte Buffalmaco bei den Florentinern. Man
erzählt von ihm allerlei Eulenspiegeleien: wie er z. B mit einem gemalten
gespenstischen Kopfe, den er auf eine Stange gesteckt und diese mit Kleidern

iiir ■ itüil

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II. Von den älteren Malern Neapel's. .383

behängt hatte, die Naclibarn zu erschrecken wusste; — wie er seine Magd,
die seine Speisekammer zu bestehlen pflegte, dadurch curirte, dass er ihr
dabei ein Gespenst mit feurigen Augen (es war eine Katze) erscheinen
liess; — wie er einen alten verliebten Narren dadurch von seiner Liebe
heilte, dass er, im Einverständniss mit der gequälten Dame, sich bei ihr
unser's Sopha steckte und nun im richtigen Moment, kunstreich als Teufel
bemalt, hervorbrach, um den Alten zu holen, u. s. w. —

Silvestro de' Buoni, der Sohn eines minder bedeutenden Malers
Buono de' Buoni, und, wie man annimmt, Schüler des Zingaro und der
Donzelli, nimmt eine der bedeutendsten Stellen unter den neapolitanischen
Malern am Schlüsse des fünfzehnten Jahrhunderts ein. Doch ist auch bei
ihm die Chronologie nicht richtig, und sein Tod muss nothwendig bedeu-
tend später als in das Jahr 1484 fallen. Dies beweist besonders sein
schönstes Gemälde, welches sich in der alten Basilika S. Restituta, vor der
Nische des Altares, befindet. Es stellt die heilige Jungfrau und zu ihren
Seiten den Erzengel Michael und die heilige Restituta dar. Dies höchst
ausgezeichnete Gemälde hat einerseits eine so auffallende Verwandtschaft
mit den Arbeiten der umbrischen Schule, dass es von Kunstreisenden in
der That schon als ein Werk des Perugino bezeichnet ist; andrerseits aber
nähert es sich nicht minder der lebenvollen, heitern Weise der älteren
Venezianer. Die Gestalten sind schön und würdig, aber ohne perugineske
Manier; ihr Ausdruck anmuthig, lieb und innig, aber durchaus ohne Befan-
genheit; ein schöner warmer Ton geht durch das Ganze '). — Eine Him-
melfahrt Christi von demselben Künstler, die sich in der Kirche Monte
üliveto, in der Kapelle der Familie Moschini, befindet, ebenfalls ein treff-
liches Bild, schliesst sich entschiedener der Weise des Perugino und des
Pinturicchio an. — Im Museum befindet sich ebenfalls ein Gemälde des
Silvestro (1, No. 26), welches den Tod der Maria vorstellt; um sie sind die
Apostel versammelt, in der Höhe sieht man Christus, der die Seele der
Maria auf dem Arme trägt, und Engel zu seinen Seitön. Auch dies Bild
ist schöa und mild; doch hat es nicht die Zartheit des Altarbildes in S.
Restituta, auch glaubte ich hier in den Köpfen einen Zug zu finden, der
mehr dem Charakter der lombardischen wie der umbtischen Schule ver-
wandt schien.

Schüler dieses Silvestro, wenigstens in seinen frühsten Jahren, soll
Antonio d'Amato il vecchio gewesen sein; nachdem er den Meister
frühzeitig verloren hatte, soll er nach seinen und einigen Bildern des Peru-
gino sich weiter gebildet haben. Von ihm sah ich in S. Severine, neben
der einen Seitenthür, ein schönes Bild, mehrere Fngel vorstellend, deren
Köpfe etwas anmuthig Perugineskes hatten. Im üebrigen zeigte das Bild
schon die Einflüsse der modernen Zeit, welcher der Künstler angehört. —

Ehe ich zu dem bedeutendsten Künstler des sechzehnten Jahrhunderts
übergehe, will ich noch eines grossen räthselhaften Gemäldes erwähnen,
welches sich im Chore der Schlosskirche von Castell nuovo befindet, Es
stellt die Anbetung der Könige dar und wird dem Zingaro, aber ganz ohne
Grund, zugeschrieben; es ist beinah hundert Jahr später, und hat in der
Gesammtanyrdnung eher etwas Eyck'sches (wie es mir der Custode in der

Der Ouida di NapoU von Luigi d'Afflitto (1834) schreibt das Bild
fälschlich dem Buono zu, wie leider noch manche ähnliche Verwechselungen in
diesem sonst schätzenswerthen Werke vorkommen.

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3,96 Italienische Studien.

Tliat auch als einen Giovanni da Bruges zeigte), aber die Madonna ist wie-
derum fast in der Art des Leonardo, der Joseph entschieden in der Art
des Raphael gehalten. Die beiden Könige zur Rechten der Madonna sind
tüchtige Portraits, der junge König zur Linken eine sehr anmuthige und
edle Gestalt. Im Ganzen ist das Bild schön gemalt, und nur das Kind steif
und schlecht in der Zeichnung.

Merkwürdig ist auch ein wirklich niederländisches Bild, ebenfalls eine
Anbetung der Könige, welches sich in S. Domenico maggiore, in der Kapelle
des heiligen Joseph befindet, und fälschlich dem Albrecht Dürer zuge-
schrieben wird. —

Die neue Richtung der Kunst, welche mit dem sechzehnten Jahrhun-
dert begann und dem ersten Viertel desselben einen ewigen Ruhm gewährt
hat, erhielt Neapel von Rom aus, zunächst durch den Andrea Sabba-
tini, der gewöhnlich, nach seinem Geburtsorte, Andrea diSalerno
genannt wird. Dieser war eine kurze Zeit in Raphaels Schule, als letzterer
die erste der vatikanischen Stanzen malte; er hat wesentlich den Styl bei-
behalten , welchen Raphael in dieser schönen Periode seiner künstlerischen
Laufbahn befolgte, wenngleich leider in späterer Zeit das ausgeartete,
manierirte "Wesen der Florentiner und Römer auch ihn nicht ganz unbe-
rührt liess. Seine erste Bildung erhielt Andrea in Neapel, und die Gemälde
seiner früheren Periode zeigen noch die auffallendste Aehnlichkeit mit der
älteren Schule, vornehmlich mit der Richtung des Silvestro de' Buoni.
Dahin gehören u. a. einige kleine Bilder in der Gemäldegallerie des Museums,
insbesondere eine Darstellung der Gichtbrüchigen (I, No. 93), und eine
Taufe Christi (I, No. 97), in welchen beiden die Farbe wiederum beträcht-
lich an die älteren Venezianer erinnert; die Zeichnung des Nackten ist in
ihnen, wenngleich dürr, so doch schon untadelhaft. — Anziehender ist ein
heiliger Martin, der mit dem Bettler seinen Mantel theilt (I, No. 10), ein
einfach schönes, naives Bild, aber dies fast ganz einem Bellini ähnlich. —
Eine Abnahme vom Kreuz (I, No. 13), die mit glücklichem Affekt darge-
stellt ist, zeigt schon eine Hinneigung zu Raphaels Styl. — Ungleich mehr
ist letzteres in zwei höchst ausgezeichneten kleinen Bildern (I, No. 102
und 104) der Fall, welche Scenen aus dem Leben des heiligen Placidus
enthalten. Diese sind ungemein grossartig in der Zeichnung, nicht minder
schön gefärbt, wie die vorigen, und voll des innigsten Gefühles. Ich
möchte sie mit Werken des Sodoma vergleichen, wenn dieser treffliche
Künstler nicht noch in der Zeichnung dagegen zurückstände.

In die Zeit von Andrea's schönster Entwickelung gehört ein grosses
Gemälde derselben Gallerie (I, No. 119). Es stellt eine Anbetung der
i Könige dar, und drüber, in einer Lünette, die allegorische Gestalt der

Religion, auf einem Throne sitzend. Dies Bild ist höchst ausgezeichnet
und frei behandelt, im Einzelnen ganz mit der Innigkeit und Anmuth
Raphaels; in der Gewandung erinnert es selbst, ohne jedoch im Mindesten
manierirt zu sein, an Michelangelo's grossartige Linien. Die beiden zurück-
' ^ stehenden Könige haben noch etwas vom Charakter der umbrischen Schule.

Die Figur der Religion ist höchst anmuthsvoll und würdig; doch ist sie
;f etwas strenger gemalt als das Uebrige und vielleicht von andrer Hand.

; i Ueber das Ganze herrscht die zarteste Farbe.

Sehr anmuthvoll und schön gemalt, wenngleich minder grossartig, ist
ein andres grösseres Bild (I, No. 110), welches einige der Thaten des hei-
ligen Nicolaus darstellt. Das Bild hat treffliche Köpfe und reizend ist die

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II. Von den älteren Malern Neapel's. .385

ganze Gestalt eines im Vorgrunde knieenden Mädchens. — Schön, bewegt
und würdig ist endlich auch eine Kreuzabnahme (I, No. 130).

Sehr Vieles von ihm findet man ferner in den Kirchen Neapel's. So
z. B. in S. Domenico maggiore, in der Kapelle des heiligen Joseph, eine
sehr anmuthige Madonna, die ihrem Kinde die Brust zu reichenJm Begriff
ist. — Gleichfalls ein tüchtiges Bild, und im Einzelnen sehr schön, doch
schon ohne die Innigkeit der früheren ist ein heiliger Laurentius, im Schiff
derselben Kirche. — Mehr tritt, wie bereits bemerkt, in noch späteren Bil-
dern jenes manierirte Wesen der Künstler nach Raphael ein, doch immer
so, dass sie im Einzelnen stets noch Bedeutendes behalten und sich meist
durch schöne Köpfe auszeichnen. Dahin gehören z. B, eine Kreuzabnahme
in S. Severine, eine Himmelfahrt Maria im Museum (I, No. 136), u. a. m.
— Dass seine Schüler, wie sich aus zahlreichen Beispielen ergiebt, vor-
nehmlich die letzte Richtung befolgten, liegt in der Natur der Sache.

Noch bemerke ich, dass ich in S. Lorenzo maggiore, in der Kapelle,
v/elche jenes wunderthätige, dem Maestro Simone oder dem Colantonio
zugeschriebene Christusbild enthält, al fresco gemalte Darstellungen aus
der Passion Christi gegeben habe, welche im Einzelnen Bedeutsames, fast
wiederum nach der Art des Sodoma enthalten, so dass ich auch diese dem
Andrea zuschreiben möchte.

Es scheint, dass fast gar keine Werke des Andrea sein Vaterland ver-
lassen haben. Nur so kann man es begreifen, wie dieser höchst ausge-
zeichnete Schüler Raphael's so wenig bekannt geworden ist, während er
doch mit den übrigen Schülern wenigstens auf gleiche Stufe gestellt zu
werden verdient. Denn, in der That, ich wüsste nicht, was der unsa«ibere
und renommistische Giulio Romano (ich kenne unter seinen Werken nur
sehr wenig wahrhaftig Schönes); — was Garofalo, der sich nur selten aus
seiner typischen Gleichförmigkeit emporzureissen vermag, — was Bagna-
cavallo, der nicht eben höher steht, als Garofalo, — was der kümmerliche
Penni, der mittelmässige Perin del Vaga, und wie sie sonst heissen mögen,
gerade vor diesem Künstler voraus haben sollten, der zwar kein Genie des
allerersten Ranges ist, der aber in glücklichen Momenten Werke zu schaf-
fen vermochte, die allezeit einen erbaulichen und erfreulichen Eindruck
machen müssen. — ' ,

.Bekannter, als die bisher erwähnten Meister, sind die der späteren
Kunstepoche, besonders wo es sich um den Streit der Naturalisten und
Eklektiker handelt. Ich beschliesse somit diese Betrachtungen, indem ich
es mir für ein andres_Mal vorbehalte, auf letztere, sowie auf die öfter
berührte reiche Gemälde-Gallerie des borbonischen Museums zurückzu-
kommen.

25

Uugler, Kleine Schrlflen. I.

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3,96 Italienische Studien.

III.

NOTIZEN ÜBER DEN MALER GENTILE DA FABRIANO.

(Uebersetzung der Schrift: Elogio del Pittore Gentile da Fabriano^ scritto dal
Marchese Amico Cav. Ricci di Macerata ^ 1829.J

(Museum, 1837, No. 2, ff.)

Vorwort des Uebersetzers.

Unter den Künstlern, welche der grossen Blütlie der italienischen
Malerei im Anfange des sechzehnten Jahrhunderts vorgearbeitet haben, sind
neuerdings vornehmlich nur diejenigen, welche den toskanischen und
umbrischen Schulen angehören, in eine nähere Betrachtung gezogen wor-
den. Doch ist mit diesen der Entwicklungsgang der italienischen Kunst
keineswegs als abgeschlossen zu betrachten. Im nördlichen. Östlichen und
südlichen Italien treten für die frühere Zeit der Kunst ebenfalls manche
bedeutsame Erscheinungen hervor, die theils in einer mehr isolirten Stel-
lung Treffliches geleistet, theils in Wechselwirkung mit jenen mehr beleuch-
teten Schulen in weiterem Umfange gewirkt haben. So ist Gentile von
Fabrj^no als einer der eigenthümlichsten und einflussreichsten Meister, die
um den Anfang des fünfzehnten Jahrhunderts thätig waren, zu betrachten:
einflussreich, durch die verschiedenen Orte seiner Wirksamkeit; eigenthüm-
lich, durch eine tiefe innerliche Grazie, Heiterkeit, Adels, durch eine zart
und weich ausgebildete malerische Technik, wie sie zu jener Zeit noch
bei Keinem gefunden wird. Gentile lässt sich unter seinen Zeitgenossen
vornehmlich dem Fra Giovanni da Fiesole vergleichen; er steht diesem
Meister an Anmuth nicht nach, aber statt der transcendentalen Richtung
desselben hält er, naiver, an der Körperlichkeit der darzustellenden Gegen-
stände fest, — und, es darf es ausgesprochen werden, er befriedigt so den
Sinn des Beschauers zuweilen mehr, als sein grosser Nebenbuhler.

Wohl hätte dieser liebenswürdige Meister vor Vielen verdient, die
lebenvolle Kritik deutscher Kunstforscher rege zu machen. Da man von
ihm jedoch bisher bei uns kaum anders als höchst beiläufig gesprochen
hat, so dürfte es nicht überflüssig erscheinen, die folgende Schrift, die in
Deutschland gewiss nur wenig bekannt ist, durch eine Uebersetzung weiter
zugänglich zu machen. Bringt sie den fraglichen Gegenstand freilich weder
in historischer, noch in ästhetischer Beziehung zu demjenigen Abschluss,
welchen man wünschen möchte, so giebt sie doch schon eine anschauliche
Gesammt-Uebersicht, enthält sie im Einzelnen mannigfach Interessantes
und dürfte immerhin wenigstens geeignet sein, eine nähere Aufmerksamkeit
für die, leider so vereinzelten Ueberbleibsel von der Hand des Gentile zu
erwecken, Die deutschen Leser werden es dabei vielleicht der italieni-
schen Kritik, ihrem gegenwärtigen Standpunkte gemäss, zu Gute halten,
wenn dieselbe sich zuweilen in nicht sonderlich scharfen Gemeinplätzen
ergeht oder wenn sie auf halb sichere Thatsachen hie und da zu viel
Gewicht zu legen geneigt ist (z, B. auf Gentile's Einfluss auf Masaccio,

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III. Notizeu über deu Maler üeiitile da Fabriano. 387 c

am Schluss der Notizen, u. dergl.) — Der Uebersetzer giebt sein Original
im Wesentlichen sorgfältig genau wieder. Nur die Anmerkungen, welche
dort einen Schluss-Anhang bildeten, sind hier an die bezüglichen Stellen
unter den Text gerückt, Einzelnes von ihnen auch, der leichteren Ueber-
sichtlichkeit wegen, in den Text selbst aufgenommen, Andres, was minder
zur Sache gehörig schien, ausgelassen worden. Hie und da war der Ueber-
setzer im Stände, aus eigner Anschauung der Gegenstände noch einige
vielleicht ebenfalls nicht unbrauchbare Bemerkungen hinzuzufügen.

Gentile da Fabriano.

• Die Notizen, welche die Geschichtschreiber bisher über das Leben und
die Malereien des Gentile da Fabriano gesammelt haben, sind eines Theils
nicht in solchem Umfange mitgetheilt, dass sie dem Begehren derjenigen
zu genügen vermögen, die ihn als den ersten Meister, welcher die italieni-
sche Malerei der Pflege der Grazien zugeführt hat, verehren; anderen Theils
sind sie hier und dort, in vielen Schriften und bei verschiedenen Autoren
verstreut, so dass sie nicht selten eine der andern widersprechen. Aus
diesem Grunde habe ich geglaubt, dass die Erinnerung an einige Gemälde
dieses grössten Malers, den unser Picenum hervorgebracht hat, und die
Beschreibung derjenigen, die von anderen noch nicht angeführt sind; —
dass die Zusammenstellung alles dessen, was man über ihn bei vielen
Autoren verstreut findet, zu einer Gesammt-Uebersicht, — die Vereinigung
einiger von einander abweichender Ansichten und der Versuch, dieselben
kritisch zu beleuchten, — die Bestimmung der chronologischen Aufeinan-
derfolge seiner berühmtesten Arbeiten, — dass alles dies eine,nicht über-
flüssige Vorarbeit liefern,möchte, falls ein kundiger Forscher eine vollstän-
dige Arbeit über Gentile und seine Kunst, sowie über seine Schule, zu
unternehmen gewillt sein möchte. Ich maasse mir mit dieser Schrift, der
ich nur die Ueberschrift als „Notizen"
(Elogio) geben konnte, auf keine
Weise den Ruhm eines Biographen- des Meisters von Fabriano an; ich
wünsche nur als Mitarbeiter dessen, der sich das Verdienst eines solchen
erwerben wird, zu gelten.

Francesco di Gentile wurde zu Fabriano, einer Stadt der Mark
Ankona, in der späteren Zeit des vierzehnten Jahrhunderts geboren. Sein
Vater war Orazio di Ludovico, der in den physischen und mathema-
tischen Wissenschaften eine bedeutende Erfahrung besass und in diesen
nützlichen Disciplinen den glücklichen Geist seines Sohnes von seinen
frühesten Jahren an zu üben im Stande war. Natürlich musste dieser aus
solchen Unterweisungen, die gewiss für alle diejenigen, welche es in der
Malerei zur Vollendung zu bringen gedenken, so höchst nöthig sind, einen
wesentlichen Nutzen ziehen. Und wenn Orazio von dem Vortheil dieser
Studien für die künstlerische Bildung des Jünglings überzeugt war, so
müssen wir ihm auch das Verdienst derjenigen, so weisen und löblichen
Vorsorge zuerkennen, dass er ihn vor Allen demPiero della Francesca
zuführte, dem ersten, welcher den Nutzen der Geometrie für diejenigen,
die den Beruf des Künstlers erwählt hatten, einleuchtend machte, — dem
ersten gleichfalls, der, nach dem Beispiel des Plinius, auf die Vorschriften

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3,96 Italienische Studien.

des Macedoniers Pampliilus, des Lehrmeisters des Apelles, wieder einzu-
gehen bemüht war

Nur kurze Zeit verweilte Gentile im Vaterlande, und es ist zweifel-
haft, wer sein erster Meister in der Kunst gewesen ist. Wenn man jedoch
bedenkt, dass Fabriano in jener Zeit nicht von tüchtigen Malern entblösst
war, so stimmt man gern der Meinung eines gewissen Schriftstellers bei,
welcher dem Allegretto Nuzii den Ruhm einer solchen Lehrerstellung
giebt^). Letzterer war einem gewissen Tic Francesco gefolgt, welcher
die Freskomalereien im Oratorium des heiligen Antonius Abbas in seiner
Vaterstadt trefflichst gemalt hatte; und man kann sagen, dass er seinen
Meister um ein Bedeutendes übertroffen hatte, wie sich dies aus der Ver-
gleichung der "Werke, die wir von ihnen sowohl in Fabriano wie in
Macereta besitzen, ergiebt. Ungewiss jedoch, ob ich diesem vorausgesetzten
Verhältniss des Allegretto zum Gentile Glauben schenken dürfe, habe ich
mich häufig bemüht zu untersuchen, ob der Styl des ersteren mit dem,
welcher in den früheren Werken des Gentile zu erscheinen pflegt, ver-
glichen werden könne. Es ist in der That eine schwierige Sache, mit
Sicherheit über die Malereien des vierzehnten Jahrhunderts zu urtheilen;
die Unterschiede, die zwischen den Werken des einen und des andern
Künstlers hervortreten, sind nur allzu gering. Doch glaubte ich, was mein
Gefühl anbetrifft, durch das Gemälde des Allegretto, welches wir in der
Sakristei des Domes von Macerata besitzen, der Sache näher geführt zu
werden ; der Kopf des heiligen Antonius ist auf diesem Bilde mit einer
solchen Feinheit ausgeführt, dass dieser Künstler bereits hinlänglich eine
vorzügliche Ausbildung des Colorits erkennen lässt; die Abstufung der
Tinten, die Wahrheit des Ausdruckes ist so bedeutend, dass gerade er vor
allen anderen geeignet sein durfte , seinen feineren Geschmack auf Gentile
zu vererben ä). Vasarl will ihn zum Schüler des Beato Angelico da

1) Piero della Francesca schrieb einen Tractat über die Malerei und
die Linear-Perspektive. Dies geht aus einem Werke desFrateLuca di Borgo
S. Sepolcro, eines Mathematikers des 15. Jahrhunderts, hervor, welches folgende
Dedikation hat:
Ad illustrissimum Princifem Guid. übaldum Urbini Ducem
Montis FtUri Durantis Comitem —- Graecis latinisq. litteris Amantissimum: et
Arithmeticae disciplinae cultorem ferventissimum — Fratris Lucae de Burgo
Sancti Sepulchri — Ordinis Minor — Sacrae Theologiae Magistri — In artes
arithmeticae, et Geometriae etc.
In dem Widmungsschreiben drückt sich der
Verfasser folgender Gestalt aus; „Die Perspektive, wenn man sie wohl betrach-
tetet, würde ohne Zweifel nichts gelten, wenn sie nicht auf der Geometrie begrün-
,,det wäre. Dies beweist vollständig der Fürst der Malerei unserer Zeit, Meister
„Pietro di Franceshi, unser Landsmann, der stete vertraute Diener Eures Durch-
„lauchtigsten Hauses, in einem kurzgefassten Tractat, den er über die Malerei
„und die Linear-Perspektive
Cla lineal forza in-prospectivaj verfasst hat und
„der sich gegenwärtig in Eurer vortrefflichen Bibliothek, neben der zahllosen
„Menge andrer Werke aus sämmtlichen Fächern der Wissenschaft, befindet." etc.
—' 2) In einem alten Manuscript eines anonymen Autors von Fabriano, welches
ich selbst eingesehen, wird es mit Bestimmtheit ausgesprof.hen, dass Allegretto
di Nuzio von Fabriano der Meister des Gentile gewesen sei. — Das angeführte
Bild stellt die heilige Jungfrau auf dem Throne dar, das Kind auf ihren Armen,
und viele Heilige umher; auf der einen Seite neben ihr S. Antonius Abbas,
auf der andern S. Julianus. Unter dem Bilde liest man folgende Inschrift:
Jstam tabulam fecit fleri Frater Johannes Clericus praeceptor ToLentini. A. D.
MCCCLXVIII. Allegreitus de Fabriano pinxit MCGCLXVIII.
[Vermuthlich
von demselben Meister rührt ein kleines Gemälde in der Gallerie des Ber-

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III. Notizeu über deu Maler üeiitile da Fabriano. 389 c

Fiesole, vom Orden der Predigermönche, machen, und dieser Ansicht
tritt auch Baldinucci bei. Es ist kein Zweifel, dass der Styl des B. Ange-
lico (wie Piacenza bemerkt) eine gewisse Verwandtschaft mit dem des
Gentile hat. Wenn man jedoch untersucht, zu welcher Zeit Gentile in
dessen Schule gekommen sein könne, so findet man, dass Fiesole (zufolge
einer alten Chronik der Predigermönche von S. Marco zu Florenz, im
Jahr 1407, bei noch sehr jugendlichem Alter in den Orden aufgenommen
ward; so dass es schwerlich zugegeben werden dürfte, dass dieser Geist-
liche bei solcher Jugend, so bald nach üebernahme der Gelübde, dem
Amte eines Lehrmeisters in der Malerei sich unterzogen haben sollte. Ich
kehre somit gern zu der Meinung zurück, dass Gentile die ersten Unter-
weisungen in der Kunst vom Allegretto di Nuzio erhielt und von jenen
Miniaturmalern, die sich vermuthlich ebenso in Fabriano befanden, wie in
dem benachbarten Gubbio, wo zu jener Zeit viele bedeutende Meister die-
ser Kunst blühten; in dieser letzteren Meinung bestätigt mich namentlich
auch die Autorität des Abb. Lanzi — Nachdem Gentile so in seiner Va-
terstadt die ersten Handgriffe der Pinselführung gelernt hatte und durch
diese zur weiteren Ausbildung befähigt war, so meine ich, dass er sich von
da nach Florenz begeben habe, und dort in ein näheres Verhältniss zum
Fiesole, der jetzt in dieser Stadt bereits mit höchstem Ruhme genannt ward,
getreten sei.

Eine der ersten Arbeiten, durch welche der Ruhm des Gentile sich bei
allen Verehrern der Kunst zu verbreiten begann, war, wie es scheint, jenes
Kreskobild der heiligen Jungfrau, welches er im Dome von
Orvieto-, an der Seitenwand hinter der fünften Kapelle, unter einem
grossen Fenster malte. Ich weiss nicht, aus welchen Beweisgründen Lanzi
die Ansicht hergenommen, dass dies Gemälde ini Jahr 1447 vollendet wor-
den sei, — eine Epoche , die nicht mit den Angaben des P. Guglielmo
della Valle, des sorgfältigen Geschichtschreibers jenes Gebäudes, stimmt.
Im Gegentheil glaubt della Valle, aus gutem Grunde, dass diese Malerei

liner Museums her (III, No. 45), welches die Unterschrift Qrictus de Fa-
briano me pimxit
(sie!) führt. Es ist eine Madonna mit dem Kinde auf dem
Throne, die hh. Bartholomäus und Katharina zu ihren Seiten, Die weichen For-
men und der Farbenton des Nackten scheinen auch hier auf eine Verwandtschaft
mit Gentile hinzudeuten; die Gewandung ist durch Ueberladuug von Gold-
schmuck noch wes,entlich beeiuträchtigt. Hiebei möge zugleich eines anderen
Bildes derselben Gallerie (I, No. 144) gedacht werden, welches sechs kleine ge-
sonderte Darstellungen aus dem Leben der heiligen Jungfrau enthält und im
Katalog als eine Arbeit des Gentile da Fabriano verzeichnet ist. Der Far-
benton im Nackten erinnert hier allerdings zwar an die Werke fabrianesischer
Meister und der Styl der Zeichnung dürfte im Allgemeinen einen Zeitgenossen
Gentile's erkennen lassen. Gewagt indess scheint es, wenn man das Bild die-
sem Meister selbst, ohne anderweitige Gewähr, zuschreibt, indem es auf keine
"Weise der offenen Grazie und der holdseligen Heiterkeit, welche die bekannten
Werke Gentile's charakterisiren , gleichzustellen ist. ,Auch als ein Jugendwerk
desselben dürfte es nicht füglich zu betrachten Bein, indem man in einem sol-
chen, dem allgemeinen Entwickelungsgange der Zeit gemäss, eine ungleich stren-
gere und bestimmtere Nachwirkung des Styles der älteren Meister, als in diesem
Bilde sichtbar wird, zu erwarten berechtigt ist, A. d. üebs.] — Lanzi spricht
jedoch seine Ansicht, dass Gentile durch Miniaturmaler gebildet sei, nur als
eine blosse Muthmassung aus. (Geschichte der Malerei in Italien, übers, v.
Wagner, I. S. 328.)

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3,96 Italienische Studien.

im Jahr 1423 ausgeführt sei, indem er gerade diese Epoche als merkwürdig
bezeichnet sowohl durch die Vollendung des Gusses der Statue Johannis
des Täufers, welche Donatello für das Baptisterium gearbeitet hatte, als
durch die genannte Malerei von der Hand, unseres Gentile. Und wirklich
muss man glauben, dass das "Werk des letzteren in jener Zeit einer seltenen
Auszeichnung werth gehalten wurde und demnach die Bewunderung der
vorzüglichsten Kenner erweckte, da desselben in den öffentlichen Registern
der Kathedrale auf eine höchst ehrenvolle Weise erwähnt wird Auch
ist, nach meiner Ansicht, kein "Widerspruch zwischen der in diesen Büchern
genannten Epoche und der von della Valle angenommenen, da es sehr
wohl vereinbar ist, Avenn die Malerei des Gentile bereits im Jahr 1423
vollendet und jene ehrenvolle Erwähnung erst zwei Jahre später, 1425,
ausgesprochen wurde.

Dass unser Künstler von Orvieto wieder nach Florenz zurückgekehrt
sei, kann man aus den Arbeiten, die er in dieser Stadt um dieselbe Zeit
ausgeführt hat, entnehmen. Es ist mir wahrscheinlich, dass Gentile erst,
nachdem er jenes Werk in Orvieto ausgeführt hatte, die Hand au das
Gemälde der Anbetung der Könige für die Kirche S, Trinita
[gegenwärtig in der Akademie von Florenz befindlich] gelegt hat. Denn
da das erste von ungleich einfacherer Composition ist, so muss man anneh-
men, dass er die Ausführung des zweiten nicht eher, als nachdem er sich
in der Kunst um ein Bedeutendes vorgerückt fühlte , unternommen haben
werde. Wie es sich indess auch mit dieser chronologischen Untersuchung
verhalten möge, soviel kann man mit voller Ueberzeugung behaupten, dass
er im letztgenannten Gemälde so bedeutende Vorzüge, in Bezug auf die
Composition wie auf das Colorit, entwickelte, dass es hinreichend war,
seinen*Ruhm unter den ersten Meistern seiner Zeit sicher zu stellen.

Gentile hatte die Absicht, auf diesem Bilde die Darstellung der Geburt
Christi und die Anbetung der Könige zu vereinigen: eine schwierige Auf-
gabe, sowohl, wenn man die grosse Anzahl der Figuren, als die verschie-
denen Eigenthümlichkeiten der Köpfe und der Costüme, die dabei zu
vereinigen waren, betrachtet. Mit aller Stärke der Einbildungskraft darauf
gewandt, gelang es ihm, die Charaktere der Hauptfiguren in ihrem bedeut-
samsten und somit wahrsten Momente zu erfassen. Welche Bescheidenheit
ist in dieser Jungfrau! welche freundliche Anmuth in dem göttlichen Kinde!
welch ein begeistertes Staunen in dem heiligen Greise Joseph, welche Hin-
gebung und Frömmigkeit in den Königen und in denen,, die ihre Beglei-
tung ausmachen! welche Naivetät in den Hirten! .überhaupt, welche schöne
Individualität in einer jeden Figur, die Gentile in diesem Gemälde darge-
stellt hat! Die Gewandung eines Jeden ist sehr wohlverstanden; die Ver-
schiedenheit der Farben, die eben so schlicht, wie reich und glänzend
gehalten sind, bildet zueinander den trefflichsten Contrast. Vasari giebi
an, dass Gentile in einem der Könige sein eignesBildniss dargestellt habe;
und hiemit dürfte er, wie es scheint, haben andeuten wollen, dass dieses
Werk das erste, seines Pinsels vollkommen würdige sei, und dass er sich
von demselben vollkommen befriedigt füljle: — dies um so mehr, da es

') „IX. Decern, MCCCCXXV. Cum per eyregium Magistrum Magialrojum
,,GentUem de Fabriano pictorem, picta fuerÜ imago, et picta Majestas B. M. V.
„tarn subtüiter, et decore pulchritudinis" etc.
Vergl. Della Valle: Storia del
Ditomo d'Orvieto. Roma 1791, y. 123.

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III. Notizeu über deu Maler üeiitile da Fabriano. 391 c

nicht überliefert ist, dass er noch in einem andern Gemälde sein Bildniss
anzubringen geneigt gewesen sei. Ueberdiess hat der Künstler dieser Tafel
geinen Namen und das Jahr und den Monat der Verfertigung beigefügt *).

Im Jahr 1424 finde ich fero-er, dass dem Gentile die Anfertigung eines
Gemäldes für die Kirche S. Nicolo übertragen wurde, in welcliem er die
heilige Jungfrau in der Mitte von vier Heiligen darstellte, und sie mit
einer solchen Schönheit schmückte, dass man sagte, die Natur habe den
lebenden Frauen nie ein ähnliches Geschenk verliehen. Auf der Predella
derselben Tafel stellte er verschiedene Geschichten des heiligen Nicolaus
dar. Vasari berichtet uns, dass, soviel er Kunde von diesem Künstler
erhalten habe, kein Gemälde dem genannten an Werth vorangehe, welches
Gentile im~" Auftrag der Familie der Quartesi für jene Kirche (die in der
Nähe des Thores von S. Miniato liegt) gemalt hatte. Derselben Meinung
tritt auch Francesco Bocco bei, der mit so grosser Genauigkeit Alles,
was Florenz von schönsten Werken in jedem Zweige der Kunst besitzt,
aufzählt; auch er bezeichnet diese Arbeit als eine derjenigen, welche von
der Trefflichkeit und fortschreitenden Vervollkommnung der älteren Meister
Zeugniss geben.

Aus solchen Anfängen entstanden nachmals jene Meister, die in den
beiden folgenden Jahrhunderten vermögend waren, den Gestalten eine
leichtere und freiere Bewegung, im Gegensatz gegen den strengen, statuari-
schen Styl, der den früheren Perioden der Kunst eigen war, zu geben, —
ebenso wie sie an die Stelle jener zaghaften Pinselführung, die von der
Weise der Miniaturmalerei nicht unterschieden war, eine freiere Behand-
lung der Farben einführten, die, in Verbindung mit der vollendeten Zeich-
nung, der Meierei erst jene Harmonie, Schönheit und Lebendigkeit gegeben
hat, die den Beschauer anziehen. Dem Gentile aber gebührt der Ruhm,
einer der ersten Wiederhersteller der Kunst zu sein. Oder noch richtiger
ist Gentile (wie bereits der Graf Pompeo di Montevecchio wohl bemerkt)
geradezu als der erste zu betrachten, der den Gemälden jene Trockenheit,
welche den Nachfolgern Giotto's eigen war, zu entnehmen wusste; und
indem er so die Kunst aus dem Zustande der Kindheit emporführte, indem
er der Zeichnung einen grossartigeren Charakter gab, indetn er die Ana-
tomie und die Kunst der Modeljirung ebenfalls nicht vernachlässigte, öiTnete

[Die

Mensis Maii.
gehalten. Es
Verzierungen

Unterschrift lautet: Opus Qentilis de Fabriano. MCCGCXXIII.
Das Werk ist gross und frei, durchaus schön, edel und anmuthig
ist eine reiche Composition und ein grosser Reichthum goldner
dabei angewandt. Zwar bemerkt man im Einzelnen noch Erin-
nerungen an den Styl der Giottisten (in den Linien der Falten, im Schnitte der
Augen), dabei aber entwickelt sich bereits eine anmuthigst freie Individualität.
Oben über den Bögen, welche das Bild einrahmen, sind kleinere Darstellungen:
Gott-Vater, die Verkündigung, Moses, David und vier Propheten, letztere gross
und herrlich, ich möchte sagen : im Geiste Michel-Angelo's gemalt. Die Predella
des Bildes bestand aus drei Abtheilungen, von denen jedoch die dritte nicht
mehr vorhanden ist; die beiden ersten stellen die Geburt Christi und die Flucht
nach Aegypten dar; sie sind von eben so zierlicher wie freier Ausführung.
A. d. Uebs.] — 2)
Le bellezze della Gitta di Firenze, Fiorenza 1591, Vergl.
auch Baldinucci:
Notizie dei professori dd disegno etc., Torino 1768 etc.
Tom. I.
p. 565. no. 2, Das in Rede stehende Bild hatte die Unterschrift: Opus
Gentiiis de Fabriano 1425 mens. MaJ. — •') Lettera pittorica sopra un interes-
sante quadro di Giorgio BarhärelU da Gastelfraneo, dove sHntroduce discorso sul
vario stile di sommi coloritori della scuola Jtaliana. Spoleti 1826.

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3,96 Italienische Studien.

er zugleich in diesem Jahrhunderte zuerst den Weg, welcher zu einem
freieren und mehr naturgemässen Colorit hinführte. Durch ihn gewann die
Carnation eine Lebhaftigkeit, eine saftige Durchsichtigkeit, welche fortan,
— nach Ausweis so vieler anderer Quattrocentisten, die auf ihn folgten,
vorherrschend blieb. Mit Sorgfalt und möglichster Naturtreue gieng er auf
die Beobachtung der Lokalfarben aus; und so gab er zuerst eine klare
Darlegung, wie die Natur uns lehrt, die Umrisse der Gegenstände nicht mit
scharfen und schneidenden Linien zu bezeichnen, sondern dieselben durch
wohl verstandene Widerscheine und Uebergänge in die benachbarten Tin-
ten, in Gemässheit der Luft, die sie einhüllt und färbt, verschwinden zu
machen.

J^twa nach Beendigung des gerühmten Gemäldes von S. Nicolb begab
sich Gentile nach Siena, wo er im Jahr 1425 ein schönes Fresco-Gemälde
der heiligen Jungfrau ausführte, die in ihrem Schoosse das Kind, im Begriff,
dasselbe mit einem zarten Schleier zu bedecken, hielt, auf ihren Seiten die
Heiligen Johannes Baptista, Petrus, Paulus und Christophorus. Er fertigte
dies Werk im Auftrage derer, die an der Spitze des Notariats und der
Curie standen, und die mit demselben die Fa^ade ihres Palastes (die Super
porte desselben) zu schmücken beabsichtigten. Dieses Gemälde wurde so
werth geschätzt, dass man den Architekten Baidassare Guerino von
Borgo S. Sepolcro ein Vordach über dasselbe anbringen Hess, damit es so
fortwährend vor den Einflüssen der Witterung geschützt bliebe. Doch war
diese Vorsorge nicht hinreichend genug, um bis auf unsere Zeit ein Gemälde
zu erhalten, von dem u. a. Bartholomäus Facius mit den grössten Lobes-
erhebungen spricht. —In diese Epoche sind ferner die Arbeiten zu setzen,
die ihm für die Kirche S. Giovanni aufgetragen wurden und von denen
Vasari spricht. Und indem wir weiter die Spuren verfolgen, die uns den
Gang seiner Künstler-Reise mit einiger Sicherheit erkennen lassen, so
scheint es, dass er, nachdem er noch andere Arbeiten in Toscana ausgeführt
hatte, — unter denen namentlich eine grosse Tafel in der Kunst-Aka-
demie zu Pisa rühmlich erwähnt wird, — dies schöne Land verlassen
und sich nach Perugia begeben habe.

In dieser Stadt, welche in kurzer Frist die Meisterwerke ihres Pietro
Vanucci erblicken sollte, fertigte Gentile ein Gemälde für die Kirche S.
DomeniCO, welches lange Zeit hindurch (in Rücksicht auf die Aehnlich-
keit des Styls) für ein Werk des B. Angelico da Fiesole gehalten wurde.
Aber die richtigen und wohl begründeten-Nachrichten, welche uns Mariotti
in seinen gelehrten malerischen Briefen darüber gegeben hat, haben es dem
Pinsel des Fabrianesen aufs Neue zuerkannt — Sodann können wir

I

>) De viria ülustribus, p. 44. — Mariotti: Lettere pittoriche Perugine
al Sig. Baidassare Orsini, Perugia 1788.
Vasari und Borgliini bezeichnen die
obengenannte" Tafel in S. Domenico zu Perugia als ein Werk des Gentile. Mariotti
sagt, dass dieselbe früher in der Sakristei des Klosters, nachmals im Kapitelsaale
aufgestellt war. Ich habe diesen Ort am 20. Mai 1828 besucht und nur einige
Tafeln des Giannicola daselbst vorgefunden. [In der Kirche S. Domenico, in
der dritten Kapelle des linken Seitenschiffes vom Chore aus, sah der üebersetzer
im Sommer 1835 eine Anbetung der Könige vom Jahr 1460, welche der Behand-
lungsweise des Gentile ziemlich nahe steht, und vielleicht das in Rede stehende
Gemälde sein dürfte. Sie wird gegenwärtig (vergl.
R. Qambini: Guida di Peru-
gia, J826, p. 53j
dem Benedetto Bonfigli zugemessen und stimmt in der
Tliat auch mit den übrigen Werken, die man di'esem Künstler zuschreibt, überein,

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III. Notizen über den Maler Gentile da Fabriano. 393

annehmen, dass Gentile sich nach dem nahebelegenen Cittk di Castello
begeben und dort jene zahlreichen Arbeiten, von denen Vasari spracht,
ausgefühlt habe. Nach dem, was mir Hr. Prof. Gio. Bat. Vermiglloll über |

Gitta di Castello berichtet, ist dort nichts mehr von Gentile's Arbeiten zu ?

finden; „Ich habe (schreibt er) die sorgfältigsten Nachforschungen mehrfach - \

„wiederholt, aber ohne Erfolg. Von ihm ist kein Gemälde vorhanden :
„man hält nur dafür, dass die vier oder fünf Tafeln mit Geschichten des
„heiligen Franciscus, die ich früher im Professorium der Gonventualen
„gesehen hatte, von ihm gemalt gewesen seien; aber sie wurden mit dem
„Gebäude, darin sie sich befanden, in dem Erdbeben von 1789 vernichtet." —

Ebenso glaube ich, dass in diese Zeit die Arbeiten gesetzt werden
dürften, welche er inGubbio lieferte, einer Stadt, die damals, wie bereits
oben bemerkt ist, viele und sehr werthgeachtete Künstler besass, so dass
das Talent Gentile's um so bedeutender hervorleuchten musste, je grössere
Nebenbuhler ihm dort gegenüberständen. Die Künste waren nach dem
Verfall, der für lange Zeit alle geistige Bildung in Italien unterdrückt hatte, '

wieder erwacht und Gubbio sah den ersten Schimmer dieser glücklicheren
Zeit in jenem Oder igi, den Dante selbst bezeichnet als

„Agobbio's Stolz, die Zierde jener Kunst,

j^Die in Paris man heisst llluminiren"

Und wie man sich überall in einem cultivirten Lande nicht mit dem
einmal Hervorgebrachten begnügt, so waren auch auf diesen vorzüglichen
Künstler andre gefolgt, die ihm im Verdienste nicht nachstanden; und
Gentile hatte bereits mit den Nelli und Nucci, die sich in jenen Tagen
eines ehrenvollen Rufes erfreuten, zu wetteifern. Als ich Gubbio besuchte,
um die Kunstwerke kennen zu lernen, welche diese Stadt, theils in den
Zeiten ihrer Freiheit, theils unter der Herrschaft der prachtliebenden Fel-
treschen hervorgebracht hat, wandte ich alle meine Sorgfalt an, um zu
entdecken, was vielleicht noch von der Hand unsres Künstlers übrig geblie-
ben sein möchte; aber meine Bemühungen waren vergeblich, nicht blos in
Gubbio, sondern auch in einigen andern Städten Italiens, wo die Geschichte
oder die Tradition uns von Arbeiten Gentile's Kunde hinterlassen hat, wo
aber von seinen bewunderungswürdigen Werken keine Spur mehr anzu-
treffen ist Nur zu oft ist Italien auf allen Punkten jenen traurigen
Wechselfällen unterworfen gewesen, die es seiner schönsten und edelsten
Schätze beraubt und nichts als nur das Andenken jener grossen Männer
hinterlassen haben, deren Geist und Talent den Ruhm des Landes unsterb-
lich machten.

Ein ähnliches Schicksal betraf auch eine der Arbeiten, die vorzugs-
weise zur Verherrlichung Gentile's gereichte und die er in seiner Vater-

obgleich sie ihnen an Liebenswürdigkeit und Anmuth voransteht. Jedenfalls
lassen die Gemälde, die man mit dem Namen des Benedetto belegt, einen ent- '
schiedenen Nachahmer Gentile's erkennen, so dass eine Verwechslung der Werke
beider im einzelnen Falle leicht denkbar ist. Vergl. übrigens mein ^^Handbuch
der Geschichte der Malerei" etc. Bd. I, §. 56, 8—11. A. d. Uebs.] —
Vonor d'Agubbio, e Vonor di queW arte,
Ch' alluminare e chiamata in Parigi.
— SuUe antiche pitture di Oubbio. Lettera del Marchese Ajnico Ricci al
Sig. Conte Leonardo Trisi nodi Vicenza. Giornale Arcadico. Novembre 1827.
p. 350.

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3,96 Italienische Studien.

Stadt ausgeführt hat. Die Liebe zur Heimath, oder vielleicht eine besondere
Einjadung der Mönche von Valle Romita, hatte ihn, als er in der Nähe
arbeitete, dorthin zurückgeführt. Er malte das Bild für die Kirche der
genannten Mönche ausserhalb der Stadt, wo es unter dem Namen des
„Quadro della Komita" bekannt war; vor nicht vielen Jahren aber wurde
es seiner ursprünglichen Stelle entrissen und in ein fernes Land entführt,
ohne dass man sogar heutiges Tages den Besitzer desselben namhaft zu
machen wüsste Bei diesem traurigen Ereigniss hielt man es noch für
ein Glück, dass die fünf kleinen Gemälde, welche die genannte Tafel
umgaben, gerettet werden konnten; doch habe ich erfahren, dass eins von
diesen durch einen Orientalen erstanden wurde, der es ebenfalls aus unsrem
Vaterlande hinweggeführt hat. Wie lange wird bei uns, die wir freilich
arm an allen andern Dingen, aber die reichsten an Gegenständen der Kunst
sind, diese Barbarei des Handels währen, welcher gegen das elende Geld
des Fremden die edelsten, unschätzbarsten Dinge, die, einmal verloren, auf
immer verloren sind, auszutauschen wagt ? — Die vier andern kleinen Bil-
der, welche der vorgenannten Altartafel angehörten, sind indess vor diesen
Beraubungen geschützt geblieben. Sie wurden von Hrn. Carlo Rosei zu
Fabriano erworben, der, wie in vielen Fächern des Wissens erfahren, so
auch als ein vorzüglicher Kenner von den Gegenständen der Kunst, mit
treuer Sorgfalt bemüht war, diese Werke, die sich im Besitz eines seiner
Mitbürger erhalten hatten, vor neuen Gefahren in Obhut zu nehmen. Diese
kleinen Bilder sind ungefähr 2V2 Palmen hoch und iVa Palmen breit. In
dem ersten sieht man den Kopf des heiligen Franciscus gemalt, im zweiten
den des heiligen Hieronymus , im dritten den des heiligen Petrus Martyr,
im vierten sieht man einen sitzenden lesenden Mönch dargestellt. Jede
dieser Figuren hat ein bewunderungswürdiges Leben und ist mit einer
solchen Zartheit beendet, dass sie es wohl erkennen lassen, welche Schön-
heiten in dem Hauptbilde hervortreten mussten, wenn so Vorzügliches
bereits in den Resten seiner Einfassung sichtbar wird. Auch ist es schon
bemerkt, dass Biondo, in seiner Beschreibung der schönsten Kunstgegen-
stände, die sich in Italien zu seiner Zeit befanden, uns versichert, dass
dieses Bild so ausserordentliche Vorzüge besass, dass es für eines der
allerschönsten, die überhaupt vor seiner Zeit gesehen worden waren, gelten
musste: so dass man keinen Anstand nehmen darf, dem Gentile den ersten

[Der Verfasser äussert in der Anmerkutig: das Bild sei zur Zeit des
italienisciien Königreiches nach Mailand 'gekommen. Vermuthlich ist es dem-
uacli dasselbe Gemälde Gentile's, welches, unter den Werken der ehemaligen
Central-Gallerie von Mailand, in Kupfer gestochen ist: s.
Pinacotecä del palazzo
reale delle scianze e delle arli di Milano, pubbl. da Micchele Bisi etc. Milano
1812—33; Scuola Romano, No. VII.
Das Bild stellt die Krönung Maria dar.
Maria und Christus sitzen neben einander in einer Flammenglorie-, Christus setzt
ihr die Krone auf's Haupt.' Sie neigt sich, mit auf der Brust gekreuzten Händen,
in überaus süsser, holdseliger Geberde. Zwischen beiden erblickt man die Taube
des heiligen Geistes. Ueber ihnen Gott-Vater, in. halber Figur, der sie, wie es
scheint, segnet, in einem Kreise von Cherubim. Unten ist der gestirnte Himmel
und eine Art gewölbten Bogens (wohl der Regenbogen), darauf acht kleine Engel,
meist knieend, mit verschiedenen musikalischen Instrumenten. Das Bild ist
1,57 Metres hoch und 80 Centimötres breit. Das Ganze scheint wohl dem zar-
ten, schönen Charakter Gentile's zu entsprechen; namentlich sind die Madonna,
und auch die weichen Formen des Kopfes im Gott-Vater, völlig in seiner Art.
A. d. üebs.l

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Ii,-

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I

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III. Notizeu über deu Maler üeiitile da Fabriano. 395 c

Raug unter seinen Zeitgenossen zuzutheilen. Auch Trapezuntius, welcher T

diese Meinung des Biondo bestätigt, fügt in einem Briefe an Johannes r

Aurispa, den Secretair Eugenias IV., (den Ascevolini eingesehen zu haben

versichert) hinzu, dass die Malerei erst in diesem Jahrhundert unter flen

Händen des Gentile Leben empfing. Und soviel aus einem alten Manuscript, t

welches bei dem Chorherrn des Stiftes von S. Nicolb zu Fabriano bewahrt

wird, hervorgeht, wissen wir, dass selbst Raphael Sanzio durch den Ruhm I

des „Quadro della Romita" bewogen wurde, sich in eigner Person dahin

zu begeben und mit eignen Augen den Werth desselben kennen zu lernen }

Da wir unseren Künstler in seine Vaterstadt haben zurückkehren sehen, ^ \

so ist es sehr wahrscheinlich, dass er dort, ausser dem genannten Werke,
welches alle übrigen an Berühmtheit übertraf, sich auch mit der Ausführung
noch andrer Arbeiten beschäftigt haben werde. Auch sind in Fabriano
noch einige Gemälde vorhanden, welche nach alter einheimischer Tradition
stets für Werke des Gentile gegolten haben. Unter diesen verdienen beson-
ders die beiden bemerkt zu werden, welche Hr. Romualdo Buffera
besitzt und von denen das eine die Krönung der heiligen Jungfrau, das
andre den heiligen Franciscus, welcher die Wundenmale empfängt, darstellt*).

Gentile verliess nicht eher seine Heimath, als nachdem er noch ein
Gemälde in der Tribüne der Kathedrale von S. Severine ausgeführt
liatte; ein Werk, welches das Schicksal vieler andrer theilte, indem es
gegenwärtig gänzlich untergegangen ist. Da sich von demselben jedoch
ein authentischer Bericht erhalten hat und derselbe bisher noch ungedruckt
geblieben ist, so will ich nicht unterlassen, dasjenige aus demselben hier
mitzutheilen, was mir vorzugsweise geeignet scheint, wenigstens die
Geschichte der Werke des fabrianesischen Meisters zu vervollständigen.

Man sah nämlich in der genannten Tribüne (wie mich Hr. Giuseppe
Ranaldi von S. Severino, auf sichere Zeugnisse gestützt, versichert), welche
bis auf die Säulen herab ausgemalt war, die Geschichte und die harte
Busse des heiligen Victorinus, des Bruders des heiligen Bischofes Severinus
dargestellt, u. a. wie der heilige Eremit in erbarmungswürdiger Weise an
einem Baume hängt; sodann war daselbst die wunderbare Versetzung der
Gebeine des genannten Bischofes gemalt, namentlich das Wunder der Thei-
lung der Wasser des Flusses, wie.es bei den Bollandisten erzählt wird;
hierauf folgten andre Darstellungen aus dem Leben desselben Heiligen, und
an diese schloss sich, in der Mitte der Tribüne, das Bild des auferstandeneu
Heilandes .an und das des heiligen Apostels Thomas, welcher mit dem
Finger die Seitenwunde des Erlösers berührt. Diese Figur des Apostels
war so angeordnet, dass sie mit dem Finger den Ort in der Mauer bezeich-
nete, wo die Gebeine des heiligen Severinus verborgen waren. Und als
im Jahre 1576, dem Jahre, in welchem dies ganze wunderwürdige Fresko-
bild bei Gelegenheit eines Neubaues zu Grunde ging, die Gebeine des

1

Vergl. Lanzi Geschichte der Malerei in Italien (Deutsche Ausgabe L,
S. 328) und:
BibLioteca Picena, T. V. Osimo 1796, p. 15. — Auch zu Mate-
lica befand sich vor Kurzem (wie mich Hr. Ranaldi von Sanseverino versichert)
ein Gemälde des Gentile, welches entweder in jener Stadt gemalt oder von einem
dortigen Einwohner erstanden wurde; es war auf demselben nicht nur der Name
des Künstlers in einer ChiflFre ausgedrückt, sondern auch der des Bestellers.
Neuerdings ist es in die Hände eines auswärtigen Besitzers übergegangen.

*

t

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3,96 Italienische Studien.

Heiligen an der genannten Stelle gefunden wurden, ergab es sich, dass dem
Gentile dies sorgfältig verschwiegene Geheimniss bekannt sein musste').

^ Dass Gentile sich aus der Heimath nach Venedig begeben habe,
scheint aus dem hervorzugehen, was uns die venetianischen Historiker von
ihm berichten. Zwar nehmen einige an, dass diese Reise, die mit Sicher-
heit durch die Geschichte der Kunstwerke jenes Staates feststeht, für die
zweite zu halten sei, welche Gentile dahin unternommen habe; doch ist
diese Meinung vielleicht nur aufgestellt, um den Unterricht, den er dem
Jacopo Bellini bereits vor dem Jahr 1421 ertheilte, hiemit in Einklang zu
bringen. Mir scheint es im Gegentheil mit der gewöhnlichen Sitte mehr
überein zu stimmen, dass der Schüler zu jener Zeit sich dahin begeben
habe, wo der Meister malte, d. h. vermuthlich nach Florenz, als dass letz-
terer zum Jacopo, nach Venedig, gekommen sei. Jedenfalls ist über jene
frühere Reise, die bereits in der Blüthe seiner Jugend stattgefunden haben
müsste, kein Zeugniss in der venetianischen Schule vorhanden; und wollte
man sie gelten lassen, so würde man eine solche Verwirrung in die chro-
nologischen Entwickelungsverhältnisse des Gentile bringen, dass man alle
sichere Spur aufgeben müsste. Für die Reise aber, von der wir sprechen,
bleiben uns im Gegentheil bei den Schriftstellern über die Denkmale Vene-
digs unzweifelhafte Zeugnisse und die einzigen, auf die sich ein Biograph
mit Sicherheit verlassen kann.

Unter diesen nimmt Ridolfi eine Hauptstelle ein. Er erzählt uns,
wie Gentile in dieser Stadt den Auftrag erhielt, zwei grosse Altartafeln zu
malen, die eine für die Kirche S. Giuliano, die andre für S. Feiice,
auf welcher letzteren er die beiden heiligen Eremiten Paulus und Antonius
darstellte. Dass er sodann einige andre Gemälde für öifentliche und Privat-
Gebäude gefertigt habe, ergiebt sich aus den Nachrichten, die uns über
die Kunstwerke, welche diese glänzende Herrscherstadt in sich einschloss,
geblieben sind. Ich kann nicht genug sagen, mit welcher Sorgfalt ich, in
Folge solcher Notizen, nachgeforscht habe, ob dort vielleicht Einzelnes von
den Werken des Gentile erhalten sei; auch begünstigte mich ein gutes
Glück, so dass ich ein anderes bedeutendes Gemälde von ihm, sorgfältig auf-
bewahrt, im Besitz des Herrn Caglietto, eines eifrigen Sammlers guter
Bilder, vorfand. Auf dieser Tafel, die 1 Mfetre 7.97 Centim^tres lang und
1 M^tre 145 Centimetres breit ist, hat unser Künstler zum zweiten Mal

Ml:

I

{ t

') Die Zeugnisse, welche mir Hr. Ranaldi zur Begründung des Obigen mit-
getheilt bat, bestehen zunächst in folgender handschriftlicher Notiz:
Storia
Settempedana del Cav, Valeria Cancellotti, Manoscritto, Capitolo deW
invenzione del Corpo di Sanseverino: „IL 15. Maggio 1576 .... corrispondeva
„il luogo verso la figura dipinta nella detta parete di S. Tomaso Apostolo che
„toccava col dito il lato ferito di N. S. G. C. aveva opinione il popolo per una
„certa tradizione, che il corpo del Santo si conservasse nella sua chiesa ....
„Laonde molti pensarono, che /osse riposto sopra una delle colonne che sustene-
jjVano la tribuna delV altare maggiore e dava materia di crederlo, trovandosi
•fSulla parete sostenuta dalle dette colonne dipinta la vita di S. Severine e la
„sua traslazione, con l'istorie
e penitenze di S. Vittorino: Opera di 'Oentile
.,da Fahriano pittore eccellente di quell' eth . ."
Sodann in den beiden
gedruckten Werken:
Severano: Memorie Sacre delle Sette chiese di Roma.
Parte I. Borna pei Moscardi, 1630. Mar ang oni; Acta S. Victorini Epis.
Amit. et Martiris. Romae, 17dO. — Le Maraviglie deW arte ovvero la vita
degli illmlri pittori Veneti e dello stato. Venezia 1648.
— [Diese Angabe

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III. Notizen über den Maler Gentile da Fabriano.

397

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I

den Besuch der Könige bei der Krippe des Heilandes dargestellt. Man
sieht in dieser Arbeit zunächst, wie erfahren Gentile in der Perspective war,
indem er die Landschaft, Berge und Gebtisch, durch die der Weg zum
Vordergrunde herabführt, mit einer solchen Meisterschaft in der Abstufung
der Tinten behandelt hat, dass hiemit nur wenig andre ähnliche Darstel-
lungen verglichen werden dürfen. Aus der Landschaft zieht in grosser
Anzahl das Gefolge der Könige herab, kleine Figuren, die mit einer solchen
Feinheit ausgeführt sind, dass man eine jede einzelne von ihnen als ein
vollendetes Miniaturbild bezeichnen könnte. In der Ferne sieht man die
Stadt Bethlehem. Die Luft ist mit Engeln angefüllt, von denen ein jeder
eine Fahne mit der symbolischen,Figur des heiligen Geistes trägt; nur zwei
von ihnen, über der Grippe, halten das Band mit dem Gloria. Der ganze
untere Theil des Bildes wird von den Königen und ihrem zahlreichen
Gefolge eingenommen. In der Mitte sieht man die heilige Jungfrau mit
dem Kinde; welches, sich abwendend von dem Busen der Mutter, eine
Geberde macht, als wolle es die Geschenke, welche ihm von den Königen
dargeboten werden, in Empfang nehmen. Die Kleidung ist eine ^Mischung
von Orientalischem und Alt-italienischem. In einem der Männer hat man
allen Grund, das Porträt Gentile's zu erkennen; er ist ganz nach der Sitte
seiner Zeit gekleidet und der einzige, der einen Hut auf dem Haupte trägt,
während bei allen übrigen der Kopf mit einem Turban bedeckt ist. Dies
Bildniss hat dieselben Züge, wie jenes, welches man bei Vasari (nament-
lich in der bolognesischen Ausgabe der Dozza) dargestellt sieht; auch ist
es, soviel ich bemerkt habe, jenem früheren sehr ähnlich, welches Gentile
auf dem oben besprochenen Bilde von S. Trinitk gemalt hatte. Man findet
auf diesem zweiten Gemälde der Anbetung der Könige das Gold in ausser-
ordentlichem Reichthum angewandt: Kleider, Turbane, Schmuck der Pferde
und Maulthiere, die Sporen der Ritter, alles ist mit Gold belegt; und doch
wird durch diesen glänzenden Schmuck die Harmonie der übrigen Farben
auf keiüfe Weise beeinträchtigt. Einer aus dem Gefolge hält in der Hand
eine Fahne, auf der gewisse orientalische Chiffern geschrieben sind. Das
Bild ist auf einer einzigen Holztafel gemalt und vortrefflich erhalten. Für
ein Originalwerk des Gentile wurde es stets in der altvenetianischen Familie
gehalten, die es vor Hrn. Craglietto besass; als ein solches bezeichnet es
Quadri in seinen „Otto giorni a Venezia^)," und ebenso die erfahrensten
Kunstkenner Venedigs. Auch hat einer von letzteren die Muthmassung
aufgestellt, dass in der männlichen Figur, welches zur "Linken der Jungfrau
mit einem Scepter in der Hand steht, das Bildniss des Kaisers Albrecht IL,
und in den Jünglingen, die ihn umgeben, die Bildnisse seiner Neffen dar-
gestellt seien

scheint nicht sonderlich deutlich. Es ist ein Bild mittlerer Grösse, breiter als
hoch. A. d. Uebs.J — ')
[Ed. 1830, Qiornata seconda, p. 120: Casa Craglietta,
al ponte della Ca' di Bio.] —
[Der Besitzer dieses Bildes ist, wie er den
Uebersetzer persönlich versichert hat, vielmehr geneigt, in der Gestalt dieses
vierten Fürsten, welcher auf dem Bilde merkwürdiger Weise den heiligen drei
Königen zugesellt ist, ein Bildniss des Zeno, Gesandten des venetianischen
Staates im Orient, dessen Rückkehr von dort mit Gentile's Blüthe gleichzeitig
falle, zu erkennen; wenigstens habe sich das Bild früher stets im Besitz der
Familie Zeno zu Venedig befunden. Ausser den verschiedenen orientalischen
Inschriften, die auf den Bannern des Gemäldes enthalten sind, ist auf dem Aer-
mel des knieenden Königs, scheinbar als Ornament, der Buchstabe G, und eine

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3,96 Italienische Studien.

Nachdem nun unser Künstler mit so glücklichem Erfolge versucht
hatte, die öffentlichen und die Privat-Gebäude Venedig's auszuschmücken,
konnte dem wachsamen Auge der Väter der Stadt ein Mann nicht entge-
hen, der sich durch seine Kunst bereits um den Staat so wohlverdient
gemacht hatte. Als man nämlich den Saal des grossen Rath es (im
Dogenpalast) ausmalen lassen wollte , wurde unter den vielen andern,
die zu dieser Arbeit auserwählt waren, auch dem Gentile ein Theil der-
selben zugetheilt und somit dem eigenen Verlangen unseres Künstlers, der
sich nach einem Wettkampf mit jenen vorzüglichen Meistern sehnte, Ge-
nüge geleistet.

Der Saal, in welchem Gentile arbeitep sollte, war im Jahre 1309 ge-
baut worden, und hatte in dieser Epoche keinen anderen Schmuck als
einen einfachen Anstrich, bis im Jahr 1365 dem Guariento von Padua
aufgetragen wurde, an der Stirnwand desselben das Paradies zu malen,
auch einige andere Gemälde in demselben auszuführen, untet denen als
das vorzüglichste die Darstellung der blutigen Schlacht von Spoleto be-
trachtet -w^urde. Um das Jahr 1400 ordnete der Doge Steno an, dass das
Gewölbe des Saales mit dem trefflichsten Ultramarin und goldenen Sternen
ausgemalt werde. Und so blieb es, bis etwa fünfzig Jahre später der Doge
Nicolb Marcello dem Luigi Vivarino auftrug, an einer Wand des Saa-
les die hohe Milde der Republik, durch die Zurückgabe des Prinzen Otto
an seinen Vater, Kaiser Friedrich I. darzustellen. Neben diesem ward
Vittore Pisanello von Verona beauftragt, den Otto darzustellen, wie
er vom Dogen, auf die Bürgschaft des Papstes Alexander III. die Erlaub-
niss erhält, mit seinem Vater wegen des Friedens zu unterhandeln; in die-
ser Sceue waren diejenigen Männer, welche sich im Dienste der Republik
ausgezeichnet hatten, abgebildet und unter ihnen namentlich, wie Sansovino
berichtet, der schöne und tapfere junge Andrea Vendramin. Gentile
endlich erhielt den Auftrag, an den Seiten des Saales die blutige See-
schlacht, die auf der Höhe von Pirano zwischen der Flotte der Republik
und der des Kaisers Friedrich Barbarossa vorgefallen war, darzustellen.
Diese Arbeit führte er so glücklich aus, dass er vorzugsweise vom Senat
ausgezeichnet, mit der Doga der Patricier bekleidet und ihm ein lebens-
längliches Gehalt, von einem Dukaten des Tages, bewilligt'wurde. — Ein so
preiswürdiges Werk, wie dies war, hätte es gewiss verdient, auf lange Zeit der
Bewunderung der Menschen ausgestellt zu bleiben. Leider jedoch geschah es
anders. Kaum fünfzig Jahre nach seiner Vollendung, im Anfange des
sechzehnten Jahrhunderts, galt es schon für verloren, da die Feuchtigkeit des
Ortes die Farbe fast gänzlich aufgezehrt hatte; und wir wiesen, dass im

Krone darüber, mehrmals wiederholt, was möglicher Weise auf den Namen des
Künstlers zu deuten sein möchte. Jedenfalls ist das Bild als eins der schön-
sten Werke von Gentile's Hand zu betrachten ; als ein solches erkannte ich es
augenblicklich, ehe ich wusste, was ich in der Sammlung des Hrn. Craglietto zu
erwarten haben dürfe. Es ist das Zeugnlss einer reichen, höchst liebenswürdigen
Phantasie. Die Madonna in ihrer zart-stylisirten flesolanischen Gewandung, ist
überaus anmuthig; die jugendlichen Ritter, besonders die zu den Seiten des
vierten Fürsten, sind von reizender Schönheit. Der Goldschmuck ist zuweilen
erhöht, en-rellef, aufgesetzt. Dies thut jedoch der Harmonie des Ganzen eben-
falls keinen Abbruch, da natürlich, bei Anwendung des Goldes, auf andere Weise
keine Modellirung hervorgebracht werden kann; nur muss man Bilder der Art
stets im richtigen Liebte betrachten, A, d. üebs.]

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III. Notizeu über den Maler Gentilö da Fabriano.

Jahre 1574, als jener Saal abbrannte, nur noch geringfügige Spuren des
Gemäldes übrig waren ' ^

Nachdem die Arbeit des Saales beendigt war, verweilte Gentile noch
einige Zeit zu Venedig, und beschäftigte sich namentlich mit der Anferti-
gung von Bildnissen. Unter diesen führt der Anonymus des Morelli
zwei von vorzüglichem Werthe, mit folgenden Worten an:

„Das Blldniss eines starken Mannes, nach der Natur gemalt, eine Mütze
„auf dem Kopfe, in schwarzem Mantel, in der Hand eine Schnur mit sieben
„schwarzen Paternostern, von denen das unterste das grösste und mit ver-
„goldetem Stuck aufgesetzt ist, war von der Hand des Gentile von Fabriano
„und kam in den Besitz des Messer Antonio Pasqualino von Fabriano,
„zusammen mit dem nachgenannten Gemälde. Dies ist das Bildniss eines
„JünglingeS in der Kleidung eines Geistlichen, mit kurz über den Ohren
„abgeschnittenen- Haaren, die Büste bis zum Gürtel, bekleidet mit einem-
„geschlossenen Gewände, welches wenig Falten und eine grauliche Farbe
„hat, ein Tuch nach Art einer Stola um den Hals geschlagen, mit Aermeln,
„die an den Achseln sehr weit und an den Händen sehr eng sind, ebenfalls
„von der Hand des Gentile. — Beide Bildnisse haben einen schwarzen
,,Grund und sind im Profil, so dass sie sich eins das andre ansehen;
„doch sind sie auf zwei gesonderten Tafeln gemalt. Man hält sie für Vater
„und Sohn, da sie in der Carnation einander ähnlich sind. Nach meinem
„Urtheil jedoch hat diese Uebereinstimmung der Farbe vielmehr in der
„eigenthümlichen Manier des Meisters, welcher überall die Carnation in
„ähnlicher "Weise, mit einer Hinneigung zu bleicher Farbe, behandelt hat,
„ihren Grund. Uebrigens sind die genannten Bildnisse sehr lebendig, aus-
„serordentlich vollendet und haben eine Tiefe, als ob sie in Oel gemalt
„wären; es sind durchaus lobenswürdige Arbeiten."

Facius gedenkt noch eines andern ausserordentlichen Bildes, welches
Gentile in Venedig gemalt hatte. Es stellte einen Sturm dar, der Bäume
und alle andern Dinge in seinen' ungestümen Wirbel hineinriss und mit
einer solchen Wahrheit'behandelt war, dass es jeden, der es erblickte, mit
Schreck und Entsetzen erfüllte.

Es ist mit Wahrscheinlichkeit anzunehmen, dass auch die'andern, der
venetianischen Herrschaff unterworfenen Städte die Thätigkeit unseres Künst-
lers in Anspruch genommen haben werden. Nirgend anders war zu jener
Zeit ein so lebendiges Interesse für die Gegenstände der bildenden Kunst
verbreitet, als wie in diesen Orten, und sie vor allen besassen einen
Reichthum, der den Verschönerungen des Lebens wesentlich günsfig war.
Geschichtliche üeberlieferungen haben wir aber nur von Brescia, in
welcher Stadt Gentile, nach dem Bericht des Bartholomäus Facius, eine
Kapelle ausmalte, die dem Pandolfo Malatesta angehörig war. Heutiges
Tages ist jedoch sowohl von der Malerei als von einer Kapelle der Art
alle Spur und Erinnerung verschwunden, da in Brescia fast sämmtliche
Kirchen nach dem sechzehnten Jahrhundert neu gebaut sind.

399

W

Nachdem Gentile solchergestalt ruhmvoll in verschiedenen Städten

Vergl. Francesco Sans ovino: Venezia, Cilth Nobüissima e singolare
descritta in XIII. Libri, Venesia 1581, p. 224. — «) D. Jacopo Morelli:
Notizia d'opere di disegno della prima meth del Secolo XVI, esistenti in Padova,
Cremona, Pavia, Bergamo, Crema, Venezia, scritta da un Anonimo di quel
tempo. Bansano 1800, p. 57. »

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3,96 Italienische Studien.

Italiens gearbeitet hatte und nachdem er so mannigfache Ehrenbezeugungen,
wie ihm namentlich von dem Senate Venedigs widerfahren waren, empfan-
gen hatte, so konnte es nicht fehlen, dass sein Ruf auch bis an den Hof
des Papstes Martin V. erscholl, der gerade in dieser Zeit bemüht war, aus
dem Verfall und der Verderbniss, darin Rom durch Kirchenspaltungen und
Kriege gestürzt war, die Gebäude und Monumente der Stadt wiederum
emporzuführen. Er hatte so eben den Porticus von Sanct Peter, der seinem
Ruin nahe war, neu bauen lassen und wandte jetzt seine Sorge auf die
Restauration und Verschönerung der Kirche S. Giovanni Lateran o.
Das Gewölbe dieser Kirche drohte den Einsturz; unmittelbar nach der
Wiederherstellung desselben beschloss er es durch vorzügliche Künstler
ausmalen zu lassen. Und eine treffliche Auswahl traf der Papst, als er
zur Ausführung dieser Arbeit den Gentile da Fabriano und den Vit-
tore Pisanello einlud, die beide durch die Werke, welche sie im Saale
des grossen Rathes zu Venedig hinterlassen hatten, das Trefflichste erwarten
Hessen 1). Beide Künstler gehorchten der Aufforderung -Martin's V. und
kamen nach Rom; doch mussten sie dort, ehe sie die Arbeit im Lateran
beginnen konnten, noch einige Zeit auf andere Weise hinbringen, indem
man mit dem prächtigen Mosaik-Schmuck, welcher den Boden jener Basi-
lika ausfüllen sollte, nocli nicht ganz fertig geworden war. Ich bin geneigt
anzunehmen, dass Gentile diese Zwischenzeit dazu benutzte, ein Frescobild
in S. Maria Nuova, an dem Bogen über dem Grabmale des Kardinals
Adimari, Erzbischofes von Pisa, seitwärts neben dem Monumente des Pap-
stes Gregorius IX. auszuführen, welches ihm von den Erben des Kardinals
aufgetragen war und die heilige Jungfrau mit dem Kinde zwischen den
Heiligen Joseph und Benedict darstellte. Dass dieses Werk an Schönheit
den übrigen unsres Künstlers nicht nachstand, davon giebt uns Vasari ein
sehr bedeutsames Zeugniss, indem er erzählt, dass der grosse Michelangelo
Buonarotti dasselbe oftmals betrachtet und dabei gesagt habe: In Gentile's
Bildern sei die Hand dem Namen des Meisters gleich.

Kaum war das genannte Mosaik beendet und der lateranensische Tem-
pel von dem Lärm der Werkleute frei, so begannen die beiden Meister
der Malerei in einem zweiten Wettkampf einander den Kranz des Ruhmes
streitig zu machen. Der Papst liess freigebig, um die Malerei prächtiger
und reizvoller zu machen, den kostbarsten Ultramarin zur Ausführung des
Grundes für die darzustellenden Geschichten liefern. Gentile malte die
Begebenheiten aus dem Leben Johannis des Täufers; Vittore einige Geschich-
ten de^ alten Testaments, in denen er Gelegenheit hatte, seine besondere
Geschicklichkeit in der Darstellung von Thieren und Vögeln zu entwickeln.
Aber als Werke von ausserordentlicher Schönheit rühmte man insgeheim
die fünf Propheten, welche Gentile zwischen den Fenstern ausführte; sie
waren grau in grau gemalt und mit solcher Meisterschaft modellirt, dass
jeder, der sie nicht mit der Hand berühren konnte, sie für Marmorarbeiten
halten musste. Ausserdem malte er an einer Wand derselben Kirche Mar-
tin V. mit zehn Kardinälen, welche Bildnisse so naturgetreu erschienen,
dass jeder auf den ersten Blick die einzelnen Personen erkennen musste.

Mit solchen Werken schmückte Gentile die ewige Stadt, um die Zeit,
als Rogerius Galliens (Rogier van Brügge) sich zur Feier des Jubeljahres
1450 dahin begab, ein in den bildenden Künsten sehr wohlerfahrener

») Piatina: Vite de' Pontafici. Martina V. p. 361.

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III. Notizeu über deu Maler üeiitile da Fabriano. 401 c

Mann. Als dieser die Arbeiten Gentile's und namentlich die des Laterans
gesehen hatte, verlangte ihn nach der Bekanntschaft des Meisters und er
nannte ihn ohne Rückhalt den ersten der italienischen Maler.

Noch waren die Arbeiten im Lateran nicht gänzlich beendet, als unser
Meister, schon achtzig Jahre alt, hinfällig und ermüdet von so mannig-
facher Arbeit und Anstrengung, ein unvertilgbares Gedächtniss seines Gei-
stes auf der Erde hinterlassend, in Rom seine irdische Laufbahn schloss.
Dies darf ich mit GcÄvissheit behaupten, obwohl ich weiss, dass einige
annehmen, Gentile sei in seiner Vaterstadt gestorben, wohin er sich, an
der Gicht leidend, zurückbegeben habe '), und dass von andren Venedig
als der Ort seiner Ruhe bezeichnet wird Aber Facius, der sein Zeit-
genoss war, überwiegt für mich eine jede andre Autorität, und ich flude
auch, dass sein Zeugniss von den glaubwürdigsten Chronisten Picenum's
vorgezogen worden ist. Facius, indem er über seine letzten Arbeiten im
Lateran berichtet, sagt ausdrücklich:
Quaedam etiam in eo opere adum-
brata atque imperfecta morte praeventus reliquit.
Und ebenso wird in
einem alten Manuscripte, welches ich eingesehen, hinzugefügt, dass seine
sterblichen Ueberreste in der Kirche der Olivetaner-Miinche, S. Maria
Nuova, begraben seien; und es wird versichert, dass man, ehe diese Kirche
umgebaut wurde, auf einem weissen Steine die Inschrift las: MAGISTER.
GENTILIS. PICTOR. DE. FABRIANO. CELEBER. etc. »j.

Es scheint mir sehr glaublich, dass ein Mann von so bedeutenden Ver-
diensten in der Kunst der Malerei, auch eine ausgedehnte Kenntniss von
den theoretischen Vorschriften derselben besessen und dass er solche, sei
es für eignen Gebrauch oder für den seiner Schüler, in der Gestalt besondrer
Abhandlungen habe aufschreiben lassen; und demnach stimme ich sehr
gern der Meinung einiger picenischen Geschichtschreiber bei, welche ange-
ben, dass Gentile drei Abhandlungen über die Malerei hinterlassen habe:
die erste „über den Ursprung und die Fortschritte der Kunst;" die zweite
„über die Farbenmischung;" die dritte „über die Zeichnung" *). Doch sind
diese Schriften niemals ans Licht getreten und man hat sie für verloren zu
achten. Mag man indess auch dem Gentile die Abfassung solcher Schriften
absprechen: niemand wird je in Abrede stellen können, dass er stets
nach jenen tiefen Principien der Kunst gearbeitet habe, die (wie der Graf
von Montevecchio treffend bemerkt) nachmals, bei weiterer Entwickelung
der Zeit und grösserer Meister, von dem unsterblichen Leonardo da Vinci
mit so tiefer "Weisheit abgefasst und in die Kunst eingeführt wurden.

Unter den Schülern des fabrianesischen Meisters, welche den von ihm
begründeten neuen Styl der Kunst weiter ausbreiteten und vervollkommne-
ten , war der erste, — derjenige, welcher dem Namen des Gentile die

Dieser Meinung sind Vasari und Baldinucci. Vasari fügt noch
hinzu, dass ihm die folgende [höchst triviale] Grabschrift gesetzt sei:
Hie puLchra novit varios miscere colorea
Pinxit et m variis urbibus Italiae.

So der Graf von Montevecchio in dem oben (S. 391) angeführten Briefe,
p. 6. Ich weiss nicht, auf welche Zeugnisse diese Meinung sich stützt. —
•'') Auch in Fabriano gilt es als eine sichere Tradition, dass Gentile zu Rom in
der Kirche S. Maria Nuova begraben sei. —
Intorno all' origine ed ai pro-
gressi delV arte; della ragione di mescere i colori; del modo di tirare le linee.
Vergl. la Biblioteca Picena, den oben angeführten Brief des Grafen von Monte-
vecchio, n. a. m.

Kiigler, Kleine Schrificn. I. 26

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Italienische Studien.

meiste Ehre bringt, Jacopo Bellini, ein berühmter Künstler der vene-
tianischen Schule. Ausserdem, dass dieser, zum Zeugniss seiner Dankbar-
keit gegen seinen unsterblichen Lehrer, dessen Profilbild auf eine Tafel
gemalt hatte, welches nachmals zu den schönsten Zierden der Gallerie des
berühmten Kardinals Bembo zu Padua gehörte % so wollte er auch, dass
der Name des Gentile in dem einen seiner Söhne erhalten bliebe, die nach-
mals bestimmt waren, einen Giorgione, einen Tizian u. a. in der Kunst
der Malerei zu unterrichten. •

Unter den andern Schülern Gentile's, die sich vorzugsweise durch ihre
Arbeiten ausgezeichnet haben, wird auch Jacopo Nerito von Padua
genannt. Moschini 2) berichtet über diesen mit folgenden Worten: ,,Er
„begab sich in die Schule des berühmten Gentile da Fabriano, als dieser
„im öffentlichen Palaste zu Venedig malte. Er fühlte eine so grosse Zunei-
„gung zu seinem Meister, dass er auf ein Gemälde für die Kirche S. Michele
„(zu Padua) folgende Inschrift setzte:
Jacopus de Neritus discijyuliis Gen-
de Fabriano pinxit.
Dies Gemälde stellte in kolossaler Figur den
„Schutzheiligen der Kirche und den Lucifer zu dessen Füssen dar; über
„das Schicksal desselben ist nichts bekannt." Lanzi, indem er von den
Zöglingen Gentile's spricht, nennt ausser Jacopo Bellini und Nerito auch
noch einen gewissen Bajocchio da Bassano; und Ascevolini (in seiner
Geschichte von Fabriano) zählt zu diesen einen gewissen Antonio da
Fabriano. Letzterer fertigte, wie Ascevolini sagt, eine Kirchenfahne,
welche bei feierlichen Processionen sammt einer ähnlichen von der Hand
seines Meisters umhergeführt ward,

Ueberflüssig jedoch ist es, noch weiter die Anzahl und die Namen von
Gentile's Schülern aufzuführen, da Gentile mit gutem Recht als das Haupt
der gesammten Schule der Cinquecentisten zu betrachten ist. Bocco, der
gegen Ende dieses Jahrhunderts seine
y,Bellezze della cittä di Firenze"-
abfasste, sagt bei Gelegenheit seiner Tafel der Anbetung der Könige, dass
sie als ein altes Werk in Verehrung gehalten werde und dass sie von dem
ersten Künstler gefertigt sei, welcher die damals blühende schönere Manier
der Kunst ins Leben gerufen habe. Zwar kann als Gründer derselben
Schule, — die nachmals, ich will nicht sagen: nicht übertroffen, vielmehr
nicht einmal wieder erreicht ist, — Masaccio betrachtet werden, nach dessen
Werken sich Künstler wie Perugino und Raphael bildeten; aber ebenso
ist es bekannt (?), wie Masaccio bei seinem Aufenthalt in Rom gerade
dadurch gross wurde, dass er vorzugsweise studirte und nachzuahmen
bemüht war die unsterbliche Werke des

Gentile da Fabriano.

Nachträgliche Zusätze.

M useum 1837, No. 47......nlm Nebenzimmer der Gallerie C'lcs

Berliner Museums) sahen wir noch ein interessantes Gemälde, über welches

') Morelli: Notizie d'opere di disegno etc. Der Herausgeber fügt hier der
Angabe des Anonymus hinzu: „Ein grosser Theil der Gemälde und Antieaglien,
„welche Kardinal Bembo besass, wurde im Jahre 1600 von seinem Sohne uud
,,Erben, Torqnato, zu Rom verkauft. Wohin jenes Bildniss gekommen, -p-eiss
^,man nicht." — «)
Memoria della origine. e delle vicende delln pittnra di Padova.
Padova 1826, p. 19.

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III. Notizeu über deu Maler üeiitile da Fabriano. 403 c

wir hier gleichfalls eine kurze Notiz mittheilen wollen. Es ist ein Altar-
bild mittlerer Grösse von Gentile da Fabriano, Eigenthum Sr. K. H.
des Kronprinzen und durch Hrn. Geheimrath Dunsen in Rom erworben.
(Ursprünglich befand sich dasselbe, soviel wir wissen, in Fabriano, dann
in Osimo, von wo es später erst nach Rom gebracht ward.) Die Originali-
tät des Bildes wird durch die ächte Inschrift des alten Rahmens:
Gentiiis
de fabriano pinocit,
bezeugt. Es ist auf Goldgrund gemalt und stellt eine
thronende Madonna mit dem Kinde, auf der einen Seite neben ihr die hei-
lige Katharina, auf der andern einen heiligen Bischof, welcher der Madonna
den knieenden Donator empfiehlt, dar. Neben dem Throne stehen zwei
Bäumchen, aus deren Kronen, gleich Rosenblüthen, zahlreiche Halbfiguren
kleiner rosenfarbener Engelchen, auf den mannigfachsten Musik-Instrumen-
ten spielend, hervorwachsen. Die Gestalt der Madonna wird von ihrem
weiten Mantel in schönen weichen Falten umgeben, doch ist sie sonst nicht
sonderlich bedeutend. Auch der Bischof spricht wenig an; das Profil des
Donators dagegen ist tüchtig und fast in der Weise des Masaccio , nur
etwas weicher, gemalt. Aber die Gestalt der heiligen Katharina giebt ein
Beispiel von der ganzen liebenswürdigen Grazie dieses merkwürdigen Künst-
lers; ihre Stellung, Geberde und Gewandung zeigt auf charakteristische
"Weise die ihm eigne durchgebildete Anmnth. Sie trägt ein röthliches,
Blumen-gesticktes Kleid mit sehr weiten Hängeärmeln und einen hellbläu-
lichen Mantel, beides mit feinem weissem Pelz gefüttert. Die Drapirung
ist mit grossem Geschmack geordnet und erinnert glücklich an jenes Streben
nach romantischer Pracht, worin Gentile in seinen wenigen bekannteren
Bildern so schöne Erfolge hervorgebracht hat; eben so ist auch das Gesicht
der Heiligen von lieblichem, kindlich heiterem Ausdrucke. Bei der grossen
Seltenheit von Gentile's für die Geschichte der italienischen Kunst so
interessanten Gemälden muss das in Rede stehende, wenn es auch nicht als
ein Hauptwerk zu betrachten ist, gleichwohl von sehr grossem Werthe sein."
— Gegenwärtig (1861) findet sich dies Gemälde unter No, 1130 der Berliner
Gallerie eingereiht. —

Auch das figurenreiche Gemälde der Anbetung der Könige aus der
Sammlung des (inzwischen verstorbenen) Craglietto zu Venedig, welches
im Vorstehenden (S. 396, f.) besprochen ist, befindet sich jetzt, unter
No. 5, in der Gallerie des Berliner Museums. Ich habe mir erlaubt, in der
bezüglichen Anmerkung das in der ersten frischen Begeisterung für die
Kunst des fünfzehnten Jahrhunderts niedergeschriebene Urtheil stehen zu
lassen, wie ich es bei der ersten Bekanntschaft mit dem Bilde im Jahr 1835
in mein Notizbuch eingetragen hatte. Wenigstens hat mich hiebei — wie
in hundert andern Fällen dieser Sammlung — der Gedanke geleitet, dass
für die Auffassung künstlerischer Dinge manche Entwickelungsstufe und
manche Stimmung ihr Recht habe und das Urtheil, wie es auch im Laufe
der Jahre reifen möge, doch nicht bestimmt nach einem Normalleisten
abzumessen sei. So darf ich vielleicht auch eine zweite Notiz, vom Jahr
1842, die ich unter meinen Papieren vorfinde, hier einreihen. Das merk-
würdige Bild schien damals nur auf vorübergehenden Besuch nach Berlin
gekommen zu sein. „Das Bild hat (so schrieb ich damals) ganz das Gepräge,
als ob der Meister aus einer Schule von Miniatoren hervorgegangen sei, —
sowohl in der Auffassung, in der das heiter Ritterliche der Miniaturen
entschieden nachklingt, als auch in dem, fast Fiesolanisch-Conventionellen
der Behandlung. Die Stufe der Entwickelung ist ungefähr die des Kölner

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3,96 Italienische Studien.

Meister Stephan; die alte Typik liegt noch zum Grunde, aber es ist doch
bereits viel frische Lebensauffassung da. Uebrigens sind es vornehmlich
auch die Köpfe, AAas deren Bildung im Allgemeinen und was namentlich
die jugendlichen Profile anbetrifl't, die jenes typische Gesetz zeigen. Ich
möchte sagen: das Bild wirkt, bei allem Reichthum der Darstellung, mehr
durch das liebenswürdige Gefühl des Künstlers als durch seine freie
reelle Kraft.«

Ziehe ich nun noch einen flüchtigen Vergleich dieses Bildes mit dem
ebenerwähnten unter No. 1130 der Berliner Gallerie, so erscheint das letz-
tere unbedingt alterthümlicher; es ist weicher giottesk und im Gefühl für
die Gestaltung noch minder entw^ickelt. Die Madonna auf der Anbetung
der Könige hat in ihrer Totalität ungleich mehr Grazie als die des andern
Bildes; ihre (linke) Hand ist ungleich edler und reiner gebildet; auch das
Christkind, auf dem andern Bilde nicht von gar erquicklicher Form, erscheint
hier bereits in schöner, edler Fülle. Die Behandlung ist im Ganzen, bei
etwas geringerem Schmelz des Tones, entschiedener; es hat sich augen-
scheinlich mit der alterthümlich giottesken Grundlage bereits eine Ein-
wirkung wie von paduanischer Seite her verbunden. Bei alledem aber
bleibt die Naivetät der Erscheinungen, zumal bei der lustigen Pracht des
bunten Kostüms, höchst anziehend.

In der Berliner Gallerie hat die Anbetung der Könige den Namen des
Gentile verloren. Der Katalog bezeichnet das Bild gegenwärtig als Werk
des Antonio Vivarini und seines Schülers Bartolommeo Vivarini, — aus
welchem Grunde und ob auf Beobachtungen hin, wie die eben angedeuteten,
wird leider nicht gesagt. —

Die in der Berliner Gallerie befindliche Tafel mit sechs kleinen Dar-
stellungen aus dem Leben der Maria, welche früher (damals unter I, No. 144)
als ein Werk des Gentile verzeichnet war, — eine Annahme, gegen die ich
mich im Obigen, S. 389 Anm,, ausgesprochen hatte, ■— wird gegenwärtig
(unter der veränderten No. 1058) der „Schule des Gentile da Fabriano"
zugeschrieben.

ff"

ül

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BERICHTE UND KRITIKEN.

1835— 1837. ,

Antikritik.
(Museum, 1835, No, 40.)

■Die kleine Schrift von Carl Grüneiseii über „die altgrieclii sch e
Bronze des Tux'schen Kabinets in Tübingen" ist kürzlich in No. 34
bis 36 des Museums, von Dr. A. Schöll, einem Freunde des Verfassers,
ausführlich, aber in der Art recensirt w^orden, dass die Schrift als in hohem
Grade ungenügend, das kleine Bildwerk, welches sie behandelt, als wenig
bedeutend erscheint. Sei es einem gemeinschaftlichen Freunde des Verfassers
und des Recensenten vergönnt, auch seine Ansicht über diesen Gegenstand
in der Kürze vorzulegen und namentlich den Verfasser zu rechtfertigen, wo
der Reccnsent zu weit gegangen sein dürfte.

Für's erste ist Referent überzeugt, dass die kleine Bronzestatue aller-
dings eine Stelle im Entwickelungsgange der griechischen Kunst einnimmt,
ungefähr wenigstens eine solche, wie Gr. ihr angewiesen. Sein ürtheil
gründet sich auf die Betrachtung eines sorgfältigen Gypsabgusses, welcher
auf seinem Schreibepulte vor ihm steht,

S. hat sich dagegen ausgesprochen und"meint, man könne das nicht
beweisen. Er hat insofern Recht, als er sich nur an Gr.'s Worte hält, der
leider, trotz seiner ausführlichen Charakteristik der kleine,n Figur, doch
einige wesentliche Punkte nicht genügend berührt hat (die freilich schon
zum Theil aus der lithographischen Abbildung herauszufühlen sind). S. hat
ganz Recht, dass ein ruhiges affektloses Gesicht gar nicht Eigenthum einer
besonderen Kunstperiode sein kann; und jene Lithographie zeigt hier auch
nicht mehr. Aber in der Statue selbst trägt das Gesicht, wennschon es
(wie Gr. angiebt) beträchtlich von der Grimasse der Aegineten entfernt ist,
doch noch entschieden, in Augen, Augenbraunen und Lippen, jenes eigen-
thümlich scharfe und strenge Gepräge, welches der älteren griechischen
Kunst gemein und u. a. in mehreren Büsten des Berliner Museums wieder-
zufinden ist. Es dient also diese Formation des Gesichtes wenigstens
soviel zur Bestimmung des Alters der Figur, wie die conventionellc
Behandlung der Haare. Aber S. hat wiederum Recht, dass das letztere

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Bericlite und Kritiken.

4üü

Kennzeichen allein nichts entscheiden und dergleichen auch oft an Werken
späterer Kunst vorkommen kann. Nur dürfte seine Annahme: — „der
Künstler habe andeuten wollen, seine Figur stelle einen Heros alter Art
vor, zu welclier Andeutung, bei Abwesenheit der Kleidung, Helm und
Haar alterthümlichen Styls das nächste Mittel war," — sehr wenig genügen.
Ich glaube niciit, dass die alten Heroen ihre Haare in Reihen kleiner Knöt-
chen getragen haben, und glaube noch viel weniger, dass ein alter Künst-
ler (falls er wirklich diesen Namen verdient) einen solchen unkünstlerischen
Glauben gehabt hat. Noch weniger genügen einige der von S. angeführten
Beispiele. Er sagt, dass die in hieratischem Style gehaltenen Statuen der
Pallas und Artemis im Museum zu Neapel, trotz der alterthümlichen Arbeit
in Haaren und GcAvand, doch bereits die Zeit der hochentwickelten Kunst
vervathen. Ich weiss nicht, wer hierin sein Berichterstatter war. Allerdings
sind jene Statuen unendlich mehr entwickelt als die Aegineten, sind, wenig-
stens die Artemis, wunderbar schön und anmuthig, aber es herrscht darin
noch eine gewisse naive Befangenheit, die eben mit der „hochentwickelten"
Kunst verschwindet. Sie verhalten sich zu den bekannten Werken aus
Phidias Zeit ungefälir wie Raphaels Sposalizio zu seiner Sixtinischen
Madonna '). Somit ist liier das Vorkommen alterthümlicher Anordnung in
Gewand und Haaren noch ganz in der Ordnung. Ebenso kann es sich
auch mit denjenigen Beispielen verlialten, die S. mit Winckelmann's Wor-
ten anfährt und die — bei so ungenügender Beschreibung — noch gar
keinen Gegenbeweis liefern.

Zu der alterthümlichen Gesichtsbildung und den Haaren der Tübinger
Bronze kommt aber noch Einiges, Mas älteren Arbeiten gemein zu sein
püegt. Fürs Erste,
Avas in Gr.'s Beschreibung ebenfalls nicht entschieden
genug ausgesprochen ist und vornehmlich erst recht ins Auge springt, wenn
man die Figur im Profil betrachtet: die stärkere Schwellung der Ober-
schenkel nach hinten zu, — ein Umstand, der bei allen nackten Figuren
älteren Styles (und meist in noch viel stärkerem Grade) aulföllig ist. Ferner,
Avas schon eine Betrachtung der sonst nicht recht genügenden Lithographie
giebt, eine gewisse eigenthümliche Schüchternheit und Befangenheit, — nicht
nur die eines besonderen, dargestellten Momentes, nicht die eines noch
schülerhaften Künstlers, — sondern wie sie gerade den Arbeiten früherer
Kunstperioden eigen zu sein pflegt; so dass die Figur, trotz ihrer sehr com-
plicirten Bewegung und der feinen naturgetreuen Ausführung des Einzelnen,
doch noch eine gewisse Steifheit nicht verläugnet.

I

Nach alledem aber könnte die Bronze immer noch ein Werk späterer
Zeit sein und S. ermangelt wiederum nicht, Beispiele zu nennen. Nur
sind diese Beispiele wiederum, wenigstens für den vorliegenden Zweck,
unpassend gewählt. So führt er zuerst die in andrer Beziehung sehr inter-
essante Bronzefigur eines guten Hirten an, die sich im Berliner Museum
befindet und bezeichnet sie als im „strengsten" alten Styl gearbeitet. Bei
dem Kopfe ist das wirklich der Fall und die Anordnung der Haare ent-
spricht aulfallend den unbedeckten Köpfen der äginetischen Statuen. Auch

Beiläufig bemerke ißh jedoch, dass mir die Pallas wie die spätere
Copie irgend eines älteren Originales vorkommt, besonders in dem durchgehend
flaueren und flacheren Faltenwurfe. Auch ist das Gesicht nicht mehr typisch
(wie noch das der viel schöneren kleinen Artemis), und der Medusenkopf auf
der Aegide hat schon etwas von spätrömischer Manier.

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Autikritik. 407

der ganze nackte Körper dieser Figur ist in alter Weise gehalten; aber
wie roh, plump, steif und mit absichtlicher Affektatioa dieses alten Styles!
Das Figürlein beweist nur, dass man, noch in spätester Zeit, Idole für den
Aberglauben in hergebrachter Tempelweise fabricirte, beweist aber nichts
für Werke der Kunst. Ebensowenig dürfte die kleine Bronze im Besitze
des Hrn. Prof. Rauch etwas Entschiedenes darthun, da S. selber von deren
nachlässigerer Arbeit spricht. Ueberhaupt aber dürfte es einem künstlerisch
gebildeten und für griechische Naivetät empfänglichen Auge wenig schwer
werden, eine alterthümliche (wenn nicht plumpe) Composition von einer
späteren Nachäffung jener strengeren Kunstweise zu unterscheiden. Zu
Hadrians Zeit hat man ganz vortreffliche aegyptisirende Statuen gemacht
und die den Originalen wenigstens so nahe kommen, wie späte griechische
Werke im hieratischen Style den wirklich alten; aber ich glaube, dass ein
jeder Kunstverständige, nach kurzem Verweilen im capitolinischen Museum,
die neueren, für Hadrians Canope fabricirten Werke ohne sonderliche
Beschwerlichkeit von den ächten unterscheiden dürfte.

So habe ich im Vorigen bereits angedeutet, worin eben die Originalität
des in Rede stehenden kleinen Kunstwerkes beruhe: darin, vornehmlich
dass alles Alterthümliche durchaus keine Spur von AlTectation zeigt, dass
dasselbe noch vollkommen in Harmonie ist mit den übrigen Eigenschaften
der kleinen Statue und dass eben diese anderweitigen Eigenschaften nicht
auf die spätere Zeit der classischen Kunst hindeuten. Die wirklich archa-
istisch gehaltenen Theile stehen noch in einem innerlich nothwendigen
Verhältniss zu dem gewissen Grade von Steifheit und Schüchternheit,
davon ich gesprochen; Beides wiederum steht in nächster Beziehung zu
der eigenthümlich herben, straiien und keuschen Behandlung des Nackten,
welche allen Gebilden der Blüthezeit griechischer Kunst und der nächst
vorhergehenden Periode gemein ist und welche das vornehmste Kriterium
eines Werkes der Zeit bildet. Alle diese Umstände nun, verbunden mit
der meisterlichen Durchbildung des Nackten, wie sie Gr, nachgewiesen, mit
der kunstvoll complicirten und doch harmonischen Bewegung, weisen in
der That auf einen Standpunkt nahe vor Vollendung der classischen Kunst
und anf einen trefflichen Meister hin, und Gr's Blick hat jedenfalls richtig
entschieden, wenn auch seine Schilderung der Statuette einige bedeutende
Punkte vielleicht nicht genügend hervorgehoben hat. S. bleibt zwar dabei,
es könne immer nicht bewiesen werden, dass eine solche Arbeit nicht aus
der Hand eines Künstlers der Periode höchst entwickelter Kunst oder einer
der nachblühenden Epochen könnte hervorgegangen sein, sobald nur ein
solcher, durch Anlass oder Laune bestimmt, den Ausdruck älterer Manier
beabsichtigte. Dagegen spricht aber entschieden die reine Naivetät des
Werkleins, die sich bei längerer Betrachtung immer mehr herausstellt und
die sich auf keine Weise mit der Absicht, eine besondere Manier der Dar-
stellung zu wählen, vertragen kann. Noch ist zu wiederholen, dass -- was
den eigentlichen Kunstwerth der Bronze anbetrifft— die der Schrift beige-
fügte lathographie gar wenig genügt, dass namentlich die Kniee zu ängst-
lich geschlossen erscheinen, dass die Brustpartie sich zu gedehnt und weich
ausnimmt, u. dergl. m.; sodann, dass man die Basis, — ursprünglich die
schräge Wagenplatte, — vorn erhöht denken muss, wodurch die ganze
Figur das Uebergewicht nach vorn verliert und eine kräftigere Stellung
bekommt.

Was nun den eigentlich kunstgeschichtlichen Theil in Gr.'s Schrift

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41G Berichte niid Kritiken.

anbetrifft, so hat S. entschieden Eecht, sofern er die Unzulänglichkeit jener
von Gr. aufgestellten charakteristischen Verschiedenheiten der altattischen
und äginetischen Schule nachweist, und allerdings entbehrt hiemit der
weitere, wenngleich mit kunstverständiger Combination dargestellte Ent-
wickelungsgang dieser Schulen seines ersten Grundes. Dagegen scheint
mir die Charakteristik des Myron, wie sie Gr. nach Plinius "Worten giebt
ungleich näher zu liegen, als wie S. diese verstanden wissen will ; und
das Beispiel des Polyklet, den S. gegen Gr.'s Annahme anführt, passt
nicht, da dieser den Statuen nur keine steife Ruhe, Myron dagegen eine
complicirte Bewegung gegeben haben soll. Der Grundsatz aber, welchen
S. anführt, um dem Myron (im Gegensatze gegen Gr.) eine spätere Ent-
wickelungsstufe als dem Phidias zuzuertheilen: — dass dem Geiste nach
die mannigfaltig angewandte und weit getriebene Naturnachahmung, welche
dem Myron nachgerühmt wird, auf jenen Idealstyl, den Phidias zur Voll-
endung reinigte, erst so zu folgen pflege, wie der Erguss in die Breite auf
die Culmination, — entbehrt seines philosophischen und historischen Grun-
des. Das fünfzehnte Jahrhundert beweist, in der Geschichte neuerer Kunst,
das entschiedenste Gegentheil. Die Form muss nach allen ihren Seiten hin
erst ergründet und verstanden, — also die mannigfachste Naturnachahmung
angewandt sein, — ehe sie zur freien Schönheit des Ideales erhoben
werden kann. Hernach geht es natürlich wiederum in die Breite, aber auf
andere Art und bei einem so bedeutenden Meister wie Myron vielmehr
mit übertriebenem Ausdruck der Affekte im Gesicht, als mit dem Mangel
derselben.

So bleibt Gr.'s Hypothese, welche das Werkchen in die Zeit und Schule
des Ageladas (Myron's Meister) setzt, immer noch ansprechend und geist-
reich, wenn freilich auch noch Vieles fehlt, um es bis zur Evidenz zu
erweisen, und wenn sich auch, wie Gr. selbst ausspricht, bei den Beschä-
digungen, die die Figur erlitten hat, noch weniger entscheiden lässt, ob es
ein wirkliches Original oder nur die genaue Copie eines solchen sei. S.
fordert hiegegen „vor allen Dingen" den Erweis: entweder, dass jene
Schule selbst solche Statuetten gearbeitet, oder, dass unter solchen kleinen
Bronzen Nachbildungen so alter Werke nicht ungewöhnlich seien. Aller-
dings würde ein solcher Erweis (der sich, wie S. darthut, nicht führen lässt)
keineswegs unwichtig gewesen sein, jedoch auch nicht entscheidender, als
perlenförmige Haarlöckchen für das höhere Alterthum; vor allen Din-
gen aber war ein äusserlicher Erweis bei anderweitig inneren Gründen
gewiss nicht nöthig.

Was endlich die Verhandlungen über die Bedeutung der Figur an-
betrifft, so hat 8. wiederum ganz Recht, wenn er Gr. tadelt, dass dieser
auf die nächstliegende Vermuthung, die Figur stelle das Siegesbild eines
wagenlenkenden Fürsten dar, der eben um die Meta führt, nicht weiter
eingegangen ist. Auch ist seine eigene Durchführung dieser Hypothese fast
befriedigend; nur sind ein Paar kleine Punkte übersehen, die am Ende
doch als besondere Schwierigkeiten erscheinen dürften. Die vorgestreckte
Rechte der kleinen Figur nämlich kann nicht, wie S. will, den Zügel der
rechtstehenden Pferde, noch sonst etwas, emporgehalten haben, da sie,
obgleich die Fingerspitzen fehlen, sich doch entschieden als flach ausge-
streckt zeigt; und für ein gewöhnliches P'ahren, wenn auch im Wettrennen,
dürfte schon diese Bewegung zu heftig erscheinen. Sodann müssten die
Pferde, wie S. aus vielen Münzen dargethan, schräg stehend—dasäusserste

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Vorstudien für Leben und Kunst etc. 409

Rechte am weitesten voraus — angenommen werden, was für ein Relief
trefflich, für eine freistehende Gruppe aber sehr wenig passend ist, falls
man nicht wiederum ganz besondere Verhältnisse einer räumlichen Umge-
bung (ein Giebelfeld oder dergl.) dazu erfinden will. Noch schwieriger
aber wird diese Erklärung, wenn man, was S. verabsäumt, was aber sowohl
nach der Analogie der meisten "Wagenbilder, als nach dem eigenthümlicheu
Charakter der Figur nöthig ist, — die Basis schräg, stellt, so dass der Ober-
körper der Figur, wie schon erwähnt, jenes Uebergewicht nach vorn ver-
liert. Dann steht sie kräftiger, zieht sie mit der Linken noch gewaltiger
die Zügel zurück, ist der Kopf forschend vorgebeugt und emporgeworfen,
erhebt sich abwehrend die vorgestreckte rechte Hand, — Alles (und dazu
kommt noch der schreckhaft eingezogene Unterleib) Motive, die auf ein
plötzliches Hinderniss deuten, welches einem hastig Fahrenden entgegen-
tritt ; Alles Forderungen die S. gerade macht, wenn die Gestalt, nach Gr's.
Annahme, einen Amphiaraos darstellen soll, vor dessen Pferden die Erde
sich aufthut. "Wir können somit in der That nicht wohl umhin, in der
kleinen Bronze, mehr als ein Siegesbild, mehr als einen einfach rosselen-
kenden Heros zu erkennen, wir müssen darin einen besonderen, ohne
Zweifel mythischen Moment annehmen, und wenn auch Gr's. Annahme in
Bezug auf den Amphiaraos noch genauerer Bestätigung bedürfte, so hat
sie doch auch wiederum so viel Fassliches, dass wir sie immerhin als die
beste Hypothese gelten lassen dürfen.

Noch bemerke ich aus Gr's. Vorworte, dass sorgfältige Abgüsse der
Tübinger Bronze in der "Werkstätte des Hrn. Bildhauer Wagner zu Stutt-
gart um den Preis von 2 fl. 42 kr. (die Verpackung eingerechnet) zu
erhalten sind.

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Vorstudien für Leben und Kunst. Herausgegeben von Dr. H. G. Hotho.

Stuttgart und Tübingen, 1835.')

(Museum, 1835, No. 42.)

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Das vorliegende "Werk gehört in seinem Gesammtinhalte nicht vor das
Forum dieser Blätter. Es enthält die Bildungsgeschichte eines Mannes, der,
nachdem er sich längere Zeit mit den verschiedenen Künsten beschäftigt,
endlich zur "Wissenschaft der Philosophie gelangt, oder vielmehr: es ent-
hält unter dieser Form die Ansichten des Verfassers über Kunst und "Wis-
senschaft. Musik, bildende Kunst, Poesie, Kunstphilosophie machen die
Hauptabschnitte aus. Gewiss ist manches sehr Treffliche darin vorhanden,
wie man z. B. die ausführliche Schilderung, welche der Verfasser von
Hegel's Persönlichkeit entworfen, nicht ohne Rührung lesen kann. Der
Auffassung von Mozart's Don Juan würde man, wenn es hier der Ort wäre,
vielleicht einzelnes nicht Unbedeutende entgegenstellen können.

Der ehrenwertlie Verfasser wird es mir zu gute halten, wenn ich den
Wiederabdruck der Recension seines damaligen Buches nicht unterschlage. Ein
Buch ist immer eiae in sich abgeschlossene Existenz; was ich gegen das oben
genannte "Werk schrieb, hat es natürlich eben nur mit diesem
zu thun.

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410

Wir haben es hier allein mit dem Abschnitte zu thun, welcher, am
Faden der Geschichte, die Entwickeliiiig der bildenden Kunst darlegt.
Leider ist vou diesem ganzen Abschnitte nur Weniges zu billigen. Der
Verf. erscheint hier nur als ein Dilettant, der Einiges geistreich angesehen,
Manches gelesen, Mehreres missverstanden hat, und der hieraus mit phi-
losophischer Bequemlichkeit ein Ganzes zusammensetzt. Es ist nöthig, dies
anscheinend missliebige Urtheil im Einzelnen zu rechtfertigen.

Der Verf. beginnt damit, dass er Raphael als den Mittelpunkt der itali-
enischen Malerei, als das eigentliche Ziel, auf welches die Geschichte ihrer
gesammten Eutwickelung hinarbeite, aufstellt, dass er ihn (wenigstens in
gewissen Werken) als denjenigen betrachtet, welcher die Elemente christ-
licher Kunst zuerst und am Vollendetsteu zur Erscheinung gebracht habe ;
dass die übrigen Bedeutenden unter seinen Zeitgenossen nur in einseitiger
Vollendung einzelner, schon mehr untergeordneter Richtungen ihre Stellung
einnehmen. Es werden weiter unten einige Punkte bertihrt werden , die
mit dieser, jetzt so allgemein beliebten Ansicht nicht wohl zu vereinigen
sein dürften.

Hierauf schildert der Verf. den Elntwickelungsgang der italienischen
Kunst bis auf Raphael. Trefllicli ist zunächst die Charakteristik der früh-
sten Periode christliclier Kunst, vor Allem jener grossen musivischen
Gestalten, „Avelche nichts als eine weltbeherrschende geistige Ruhe, Strenge,
Macht und Heiligkeit ausdrücken." „Der Gegenstand allein (sagt der
Verf.), nicht aber seine Wirkung auf's menschliche Innere und sein Leben
imd Weben im Kreise dieses Inneren, wird als das Wesentliche ergrilTen und
dargestellt." — Man kann die typische Kunstweise jener Periode zwar
auch noch anders fassen, indem man mehr von dem Technischen — von
dem ersten Kreise einer gewissen technischen Vollendung — ausgeht, aber
man wird auch hier zu einem ähnlichen Resultate, wie das vom Verfasser
ausführlich dargestellte, gelangen.

Ueber Duccio und Cimabue geht der Verf. schnell hinweg , indem er
von ihnen nichts zu sagen weiss, als dass sie sich die byzantinischen Werke
zum Muster genommen und dieselben Gegenstände mit frischem Geiste er-
grifl'en hätten. Vergebens erwarten wir eine Erklärung des merkwürdigen
Phänomens, welches in der toskanischen Kunst des dreizehnten Jahrhun-
derts aufleuchtet, — des plötzlichen und so äusserst glücklichen Studiums
der Antike, welches sowohl in der Architektur (in der Fagade von S. Mi-
niato bei Florenz und anderen Gebäuden) als auch in den meisterlichen
Sculpturen des Nicola Pisano aufs Entschiedenste hervortritt und welches
ebenso in Cimabue's Werken und vornehmlich in Duccio's wundersamem
Altarbilde ersichtlich ist. Ein Phänomen, das ebenso plötzlich, wie es zu
solchem Glänze auftaucht, auch wiederum fast spurlos verschwindet.

Die neue Periode, welche der Verf. mit Giotto beginnt, dehnt er bis
auf Raphaels Zeit aus, indem er in ihr eine ununterbrochene Vorbereitung
bis auf die.sen Punkt hin wahrzunehmen glaubt. Dies ist jedoch nicht zu
billigen, indem in der That die Meister des fünfzehnten Jahrhunderts im
Allgemeinen ebenso bestimmt von denen des vierzehnten geschieden werden
müssen, als diese von denen des dreizehnten Jahrlmnderts. Giotto und
seine gesammten Mitarbeiter und Nachfolger im vierzehnten Jahrhundert
stehen wiederum noch unter der Herrschaft einer typischen Darstellungs-
weise, obgleich deren Gesetz minder drückend ist wie das des byzantinischen

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Vorstudien für Leben und Kunst etc. 411

Typus, und obgleich jene Künstler einen grösseren Schritt in der Natur-
auffassung wagen dürfen, als ihre Vorgänger.

Eine nähere Bezeichnung der Schulen, in welchen sich, von Giotto ab,
die italienische Kunst emporbildet, übergeht der Verfasser, und bemerkt
vornehmlich nur, dass sich in dieser Beziehung am frühesten Toscana,
Venedig und die umbrischen Städte unterscheiden lassen. Dies ist nicht
richtig, indem Venedig erst mit dem fünfzehnten Jahrhunderte einiger-
maassen bemerklich wird (gleichzeitig mit den Schulen von Padua, Ferrara
u. a., — Bologna, Neapel u. a. beträchtlich früher), und ümbrien in seiner
besonderen Eigenthümlichkeit kaum vor dem letzten Viertel dieses Jahr-
hunderts auftritt.

Der Verfasser geht nur auf den Entwickelungsgang der florentinischen
Schule näher ein. Giotto wird von ihm in seinen besonderen Verdiensten
um erweiterte NaturaufFassung ziemlich glücklich charakterisirt, in seinem
eigentlich poetischen Werthe aber nicht genügend gewürdigt, und jenes
oben angedeuteten allgemeineren Verhältnisses, in dem er zu seiner Zeit
steht, natürlich nicht gedacht. Dass Giotto hauptsächlich Lebensbegeb-
nisse der Heiligen dargestellt habe, ist übrigens nicht richtig; auch gehören
dahin unter den vorhandenen Gemälden, die ihm mit einiger Wahrschein-
lichkeit zugeschieben werden, nichts als die kleinen Tafeln mit Geschichten
des h. Franciscus, die sich früher in der Sacristei von S. Croce zu Florenz
befanden.

Von Giotto springt der Verf. ziemlich schnell zum fünfzehnten Jahr-
hundert über, und zwar unterscheidet er jetzt als nächste Fortentwickelung
drei Richtungen.

Die erste Richtung soll Fiesole bezeichnen. Diese Annahme ist ganz
willkührlich. Fiesole, wie er in seiner klösterlichen Abgeschiedenheit
waltete, steht auch fast ganz getrennt von den übrigen Florentinern da. In
den allgemeinen Bezügen seiner Darstellungsweise zeigt er sich noch als
abhängig von den Meistern des vorigen Jahrhunderts, und der besondre
Ausdruck, den er den Köpfen seiner Engel zu geben wusste, wird weder von
Zeitgenossen noch von Nachfolgern aufgenommen.

Die zweite Richtung bezeichnet der Verf. als das kämpfende Streben,
welches den Gegensatz zwischen höchster Wahrheit des Inhalts und äus-
serer Weltlichkeit der Erscheinung zur Ausgleichung bringen wolle. Unter
den Florentinern glänze in dieser Richtung zuerst Fra Filippo Lippi her-
vor. Diese Angabe ist wiederum unhaltbar. Finden sich einige unter
Filippo's Bildern, die eine solche Richtung in Etwas bestätigen möchten
(wie z. B. No. 168, Abth. I. im Berliner Museum und ein ähnliches in der
Florentiner Akademie), so zeigt bei Weitem doch die Mehrzahl seiner
Werke, besonders seine Fresken zu Prato, in Auffassung und Darstellung
nur einen weltlich gemeinen Sinn, der sich eben nicht „von der Macht des
gegenwärtigen Gottes überwunden fühlt." Nach Filippo nennt der Verf.
als Hauptbeispiele noch Sandro Botticelli, Filippino Lippi und Raffaellino
del Garbo.

Die dritte Richtung findet der Verf. in denjenigen florentinischen
Meistern repräsentirt, die, von der Sculptur ausgehend, besonders das Stu-
dium des menschlichen Körpers, seiner Verhältnisse u. s. w. befolgten.
Als ersten Meister nennt er hier den Andrea del Verocchio; Lorenzo di
Credi jedoch, den der Verf. an diesen anschliesst, durfte, obgleich er de«

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41G Berichte niid Kritiken.

Andrea Schüler ist, hier nicht miterwähnt werden, da er einer noch andern,
durchaus verschiedenen Richtung folgt.

So hat der Verf. zur Bezeichnung der florentinischen Kunstübung im
fünfzehnten Jahrhundert fast nur Meister eines untergeordneten Ranges
genannt. Der beiden aber, welche, wie Jedermann weiss, die ersten Stel-
len in der ersten und in der zweiten Hälfte dieses Jahrhunderts einnehmen,
welche von dem allerentschiedensten Einfluss auf die gesammte Kunst der
Zeit waren, des Masaccio und des Domenico Ghirlandajo, gedenkt
er mit keiner Sylbe!

Der Verf. geht nunmehr zu den neueren Meistern über, zunächst zum
Leonardo. Sehr geistreich, aber wiederum nur halbwahr, sagt er von
Leonardo's Gestalten: — „Den letzten belebenden Athemzug gestalten-
schöpferischer Freiheit wagt er nicht ihnen einzuhauchen, und hegt noch
vor der unendlichen Kühnheit Scheu, seine menschlichen Gebilde sagen zu
lassen: seht, wir sind wirklich Gott, in uns lebt und webt er in reiner
Gegenwart." — „Seit jelier hat mich nichts im neuen Testamente so gerührt,
als das "Wort des Johannes: „„wer die Braut hat, der ist der Bräutigam,
der Freund aber des Bräutigams siehet und höret ihm zu, und freuet sich
hoch über des Bräutigams Stimme. Er muss wachsen, ich aber abnehmen.""
~ „Dies ergreifende Wort wiederholten mir Leonardo's sämmtliche Gemälde,
die ich gesehen liatte. Ein liebliches seliges Lächeln umzieht den Mund,
und scheint das ganze Gesicht verklären zu wollen: ist doch das Himmel-
reich nahe! Und doch liegt noch in diesem Lächeln ein wunderbarer
Reiz der Wehmuth und der Sehnsucht; eine stumme Befriedungslosigkeit
weilt im Auge uud schläft unbewusst im Hintergrunde der Seele: der
Bräutigam steht nicht vor uns, denn nur, wer die Braut hat, ist wirklich
der Bräutigam."

Aber hat (so muss ich fragen), hat Leonardo nicht sein Abendmahl
gemalt? und ist er hier nicht der „Bräutigam" selber? und hat Raphael, oder
sonst wer, jemals Grösseres, jemals Göttlicheres geschalTen?

Dass sodann der charakteristische Ausdruck, den Leonardo grossen
Theils seinen (weiblichen) Köpfen aufprägte, in der Nachahmung seiner
Schüler und Anhänger mehr und mehr zur widerwärtigen Maske erstarre,
ist dem Verf. ebenfalls nur mit grosser Einschränkung zuzugeben. Bernar-
dino Luini namentlich erscheint überall als der reinste und naivste Künstler
und von einer Liebenswürdigkeit, wie sie nur bei Wenigen angetroifen wird.

lieber Fra Bartolommeo spricht der Verf. einige wenige, aber sehr
passende Worte. Dann verlässt er die Florentiner und geht zum Fran-
cesco Francia und Perugino über. Hier fehlt ihm wieder der richtige
Standpunkt, indem er Francia's Trefflichkeit durchaus verkennt; er sagt
z. B., dass seine Gruppen durch kein dramatisches Leben vereint und
geschieden seien. Aber gerade Francia erscheint in seinen Hauptwerken,
den Fresken von S, Cecilia zu Bologna, als derjenige unter allen Meistern
jener vorherrschend gemüthvollen Richtung, der seinen Compositionen eine
vorzügliche dramatische Durchbildung zu geben wusste.

So kommt der Verf. zum Raphael. „Er war (so sagt der V.) zu voll
und ganz, um nicht in einseitigerer Vollendung Andere in gleicher Grösse
neben sich unverdunkelt erstehen zu lassen." Ich weiss nicht, wie jemand
der einseitiger ist wie ein andrer, doch gleich gross genannt werden
könne. Auch ist wahrlich nicht Tizians Grablegung im Palast Manfrini
zu Venedig, — viel eher die von Raphael, — einseitig vollendet.

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Vorstudien für Leben und Kunst etc. 413

Vom Tizian, Coreggio und andren Zeitgenossen springt der Verfasser
sodann zu den Meistern des siebzehnten Jahrhunderts über, die er wiederum
sehr oberflächlich so bezeichnet: „Die Schüler eiferten vergebens den
Meistern nach, und suchten, was ihnen bei dem Einen auszubilden nicht
gelang oder nicht genügte, bei dem Andern zu ergänzen, der geistvoll
zusammenfassenden Auswahl der Caracci, Guido's, Guercino's, Dominichi-
no's stellte sich Caravaggio mit keck effectvoller Nachahmung in gleicher
Meisterschaft des Pinsels schroff gegenüber, u. s. w." — Ich meine,
dass eines Theils die, nur uneigentlich so genannten Eklektiker, wenn auch
mit wenig Worten, doch ungleich schärfer hätten charakterisirt werden
können, — und dies um so mehr, als wesentlich niir die Caracci selbst als
Eklektiker erscheinen. Guido, Dominichino, Guercino dagegen sehr eigen-
thümliche Wege gehen; sodann wären besonders den Neapolitanern (Na-
turalisten kann ich sie kaum nennen) wohl ein Paar Worte zu gönnen
gewesen, dem spanisch glühenden Spagnoletto, dem feierlichen Stanzioni,
durch dessen Werke jener Hauch weht, der den Dominichino in seinen
glücklichsten Momenten so schön macht, dem Salvator Rosa u. a. ra.

Hierauf geht der Verf. zur Kunst der Niederländer über. Trefflich ist
hier die Charakteristik, welche er mit vieler Vorliebe von den Werken
Eyck's, Hemling's und des Quintin Messys entwirft. Diese schönen Stellen
söhnen uns fast mit den vorigen mangelhaften Darstellungen aus. Der Verf.
hält sich übrigens auch hier, in seiner gewohnten Weise, mehr in den all-
gemeinen Bezügen des Eindrucks jener Werke, während Schnaase (in den
niederländischen Briefen) mit kritischer Schärfe mehr in das Einzelne
derselben eingeht.

Den Schluss bilden die Betrachtungen über Rubens, Rembrandt, die
holländischen Landschafter, Genremaler u. s. w. Hier wirft sich der VerL,
der bisher vor Allem nur auf die innere Bedeutung des Dargestellten ging,
plötzlich in das entgegengesetzte Extrem, indem er, nach Kenner-Art, die
äussere Vollendung in den Werken dieser Zeit als das Vornehmste und als
etwas an sich Gültiges zu betrachten beginnt, — für einen Kunstphilosophen
ein seltsamer Sprung! „Ich schwor (so sagt er) zum erstenmal mit auf-
richtigem Herzen die Grille ab, statt auf die Tiefe der malerischen Behand-
lung, statt auf die Poesie der Färbung, Beleuchtung und jede Art techni-
scher Begeisterung, nur immer auf die geistige Tiefe des Inhalts zu blicken,
und mir so den bedeutungsreichsten Kunstgenuss durch das anscheinenä
Bedeutungslose der dargebotenen Gegenstände missliebig zu verkümmern."
— Das ist an sich ganz gut.; aber ich meine, dass diese technische Begei-
sterung dennoch häufig das Ergebniss einer eigenthümlichen poetischen
Sinnesweise sein dürfe; auch hat Schnaase, im Gegensatz gegen den Verf.,
die Fäden, an denen man zu einem tieferen Verständnisse jener Zeit gelangt,
bereits anschaulichst vor uns ausgebreitet. Die Poesie der Leidenschaft,
einer, wenn ich so sagen darf, aristokratischen in Rubens, einer dema-
gogischen in Rembrandt; die zierlich novellistischen Scenen, welche Ter-
burg und andre uns vorführen ; die erbaulichst komischen Situationen auf Jan
Steens Bildern; der Hauch einer melancholischen Sehnsucht in Ruysdael's
Landschaften, — alles dies und vieles Andre, was vom Verf. nicht genannt
wird, scheint Avirklich etwas mehr als technische Vollendung. Schliesslich
jedoch meine ich, dass man, wo ein Bild in der That nicht mehr zeigt als
eine schöne Technik, mag diese so bedeutend sein wie sie will, immerhin
seinem eigenen Missfallen Gehör geben dürfe, wieviel auch die Kenner von

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Berichte utid Kritiken.

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den Lasuren, dem kecken Pinsel und dergl. reden mögen. Teniers Bilder
z. B. haben mich nur selten angesprochen, weil ich statt des Humors, den
seine Bauern affektiren, fast überall nur dieselben plumpen Grimassen dar-
gestellt sah. Rubens, so genial er in einem Theil seiner Werke erscheint,
-wird mich immer anwidern, wo er,
Avie in seineu Bacchanalen, seinen
jüngsten Gerichten u. dergl., nichts als brillante dicke Fleischmassen
vorführt. —

Später geht der Verf. zur Architektur über, der auch schon früher,
bei Gelegenheit des Strassburger Münsters, einige Seiten gewidmet wareu.
Diese Kunst jedoch bleibt ihm fremder wie alles Uebrige. „Welch ein
Wunder sah ich vor mir!" (so ruft er beim Anblick des Strassburger Mün-
sters aus) „Das Ungeheure durch klar gegliedertes Maass gebändigt, die
kalte Starrheit anmuthsvoll bewegt, der unergründliche Ernst der Andacht
von Grazie umspielt;" u. s. w. — Diese Worte enthalten nichts als eine
Umschreibung dessen, was man überhaupt unter dem Begriffe Kunst ver-
steht; es ist dem Yerf. also an jener Stelle nichts weiter klar geworden,
als dass die Architektur eine Kunst sei. Daran möchte man aber bei einer
späteren Stelle wieder /.weifeln. Indem er nemlich von der Schwierigkeit,
zum wahren Verständnisse der Architektur zu gelangen, spricht, so fährt
er fort: „Sein ganzes Innere aber thut der Geist nur in seiner eigenen leben-
digen Gestalt und in den eigenen Tönen seiner Empfindung kund; die
todte Natur und ihre architektonisch umgewandelten Formen vermag (ver-
mögen) dem Geiste nur ein halb verwandtes, halb entfremdetes Abbild
seiner Vorstellungen und Gefühle hinzustellen." — Die Architektur hat es
also nur mit Formen der todten Natur zu thun! Ich meine, dass gerade
die Formen der Architektur nichts mit der äusserlichen Natur zu schaifen
haben, sondern eben das Innere des Geistes „in seiner eigenen lebendigen
Gestalt" repräsentiren. Das Stück Luft, welches von der Flöte umschlossen
ist, die auf der Geige aufgespannte Darmsaite sind auch nur todte Natur:
da kommt der lebendige Geist hinzu und macht sie vibriren, und nur dann
erst thun auch sie „die eigenen Töne seiner Empfindung" kund.

Bei solcher Ansicht wird es denn auch nicht befremden, wenn der
Verf. in der Architektur, die jedem offenen Sinne offen ist, die „schwersten
symbolischen Räthsel zu lösen" findet; wenn er, indem es ihm an Kennt-
niss der Einzelheiten fehle und er auch nicht „mit praktisch Baukundigen
die weite Welt durchforschen" könne, sich naiv auf das Gebiet der gothi-
schen Baukunst (der schwersten unter allen!) beschränkt; und wenn er den
Thurm des Strassburger Münsters, der, wie Jedermann bekannt ist, gar
nicht zu den übrigen Theilen der Fa?ade gehört, eben aus jenen heraus
zu deduciren weiss.

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Sammlung von Litliographien etc.

Sammlung von Lithographien nach den vorzüglichsten Gemälden der
Königlichen Gallerie zu Dresden, gezeichnet und lithographirt von den
berühmtesten Dresdner" und Pariser Künstlern, mit einer Beschreibung
in deutscher, französischer, englischer und italienischer Sprache. Leipzig,
im Verlage von Julius Wunder.

(Museum, 1835, No. 43>

) :

Die Meisterwerke neuerer Malerei, welche die Dresdner Gallerie enthält,
sind zu bekannt, als dass man hier aufs Neue deren erwähnen dürfte.
Wer Raphael, Giulio Romano, Corregio, Tizian, Paul Veronese u. s. w.,
wer die niederländischen Landschafter und Genremaler im schönsten Ver-
eine kennen lernen will, findet hier erwünschte Ausbeute. Es ist ein
rühmliches Unternehmen, das Vorzüglichste dieser Gallerie in lithographi-
schen Nachbildungen, angemessen der Trefflichkeit der Originale und durch
civilen Preis einem grösseren Publikum zugangbar, herauszugeben.

Die vorliegende erste Lieferung lässt uns Vorzügliches von dem Ganzen
erwarten. Sie besteht aus vier Blättern französischen satinirten Velin-
Papiers von 41 Zoll Höhe und 32 Zoll Breite. Der in Paris augefertigte
Druck ist tadellos, so wie wir es in den von dort ausgegangenen Pracht-
werken gewohnt sind. Vorzüglich gelungen dünkt uns die von Deroy
lithographirte Landschaft nach Berghem; die diesem Meister eigenthüm-
liche Klarheit und der Glanz der Lüfte, die leichten Reflexe an den
hohen beschatteten Felswänden des Mittelgrundes, die zierliche Staffage
von Menschen und Thieren, Alles dies ist ebenso sorgfältig wie in grösster
Reinheit und Wärme wiedergegeben. Nicht minder sind Rembrandt's
capriciöser Ganymedes-Raub, in trefflicher Nachbildung der phantastischen
Technik, welche diesen Meister auszeichnet, und Cignani's keuscher
Joseph, beide lithographirt von L^on Noel, als meisterhaft vollendete
Blätter zu bezeichnen. Nur mit der Auffassung von Raphael's Sixtini-
scher Madonna konnten wir uns nicht wohl vereinigen, wenngleich die
Ausführung der Lithographie, von A. Maurin, sich ebenfalls durch
Sauberkeit und Reinheit auszeichnet.

Ein, dieser ersten Lieferung beiliegender Textbogen, verfasst von
Frenzel, dem Inspektor des K. Kupferstichkabinets zu Dresden, enthält
eine Reihe erwünschter historischer Notizen über die Original-Gemälde
und ihre Meister.

Wir sind überzeugt, dass ein so grossartig eingeleitetes Unternehmen,
welches sich bis auf 100 Lithographien ausdehnen soll, und davon gleich-
wohl der Preis des einzelnen Blattes für die Subscribenten nur l'/a Thlr.
beträgt, auf den ungetheilten Beifall des kunstliebenden Publikums
rechnen kann.

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41G Berichte niid Kritiken.

K u n s t 1 i t e r a t u r,
CMaseum, 1835, No. 45.)

Die Geschichte der vaterländischen Kunst scheint nach und nach aus
den Hätiden der Dilettanten befreit und einer ernsten vorurtheilslosen
Behandlung theilhaftig zu werden. Leere Verachtung und leerer Enthu-
siasmus hören immer mehr auf; ein gründliches Studium, das allein für
die Wissenschaft, wie für die Kunst, erspriessliche Folgen tragen kann,
beginnt in deren Stelle einzurücken. Zwar, was die Geschichte der Malerei
und Bildnerei betrij0Ft, so sieht es in diesen Fächern allerdings noch ziem-
lich traurig aus: wir kennen die Verzweigung italienischer Schulen bis
ins allerkleinste Detail und wissen bei uns so gut wie nichts von dem,
was vor Dürer und seinen Zeitgenossen geschehen ist (die Niederländer
dürften nicht eigentlich den Deutschen beizuzählen sein); aber wir können
uns in diesem Punkte wenigstens damit trösten, dass in den Fächern der
Malerei und Bildnerei der Norden in der That dem Süden untergeordnet
war, während die Baukunst bei uns (wie auch in andern cisalpinischen
Ländern) eine ungleich höhere Stufe der Vollkommenheit erreicht hat, als
in Italien. Und gerade für die Geschichte der mittelalterlichen Baukunst
(zum Theil auch für deren Theorie) sind bereits nicht unwichtige Anfänge
gemacht.

Mit besonderer Freude machen wir unsere Leser auf eine neue kleine Schrift
aufmerksam: „Architektonisch-historische Berichtigungen und
ZuSätze zu der Klein'sehenRheinreise, von dem Königl. Preuss.
Bau-Inspektor von Lassaulx in Coblcnz," die in einem beson-
deren Abdrucke (66 S. in 8.) vor uns liegt. Der Verf. ist bereits als einer
der thätigsten Beförderer des Boisseröe'schen Werkes über die „Denkmale
der Baukunst vom 7ten bis zum 13ten Jahrhundert am Niederrhein"
bekannt (s. das Vorwort dieses Werkes); seine amtliche Stellung ges,Uttete
und gebot ihm die nächste Bekanntschaft mit den Bauwerken Rheinauf- und
abwärts von Coblenz, Die kleine Schrift bildet, wie sich aus dem Titel
ergiebt, kein selbständiges Ganze und ist auch nicht reich an mannigfal-
tigen Raisonnements; sie enthält aber eine'solche Fülle werthvoller und
kritisch gereinigter Notizen über einen der interessantesten Striche unseres
Vaterlandes, dass sie nicht nur dem reisenden Kunstfreunde erfreulich,
sondern geradehin eine sehr wünschenswerthe Bereicherung der noch in
den ersten Stadien begriffenen Wissenschaft zu nennen ist. Die Notizen
sind sowohl historischer Art (wobei der Verf. aufs Löblichste der Eitelkeit
der Reisebeschreiber und Lokalscribenten, überall von uralten Monumenten
zu sprechen, die Wage hält), als auch technische Bemerkungen über alte
und neue Bauwerke, die nicht minder interessant sind.

Wir geben die Uebersicht des Inhalts:
Mainz : Treffliche Bemerkungen über, den Römern zugeschriebenes Mauerwerk
im Allgemeinen (Vitruvs Eraplekton). Der Dom'). St. Stephan. St. Quintin.

Der Verf. bezeichnet den östlichen Chor als Ueberrest des ersten Baues
dieser Kirche im zehnten Jahrhundert, Ich finde unter meinen Notizen, die ich
vor einigen-Jahren über den Mainzer Dom gemacht, noch eine etwas genauere
Angabe. Nur der untere Theil dieser Ostseite nämlich — die Tribüne bis zur

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Raphael als Mensch und Künstler etc. 417

Bibliothek. Mehreres Neuere. — lagelheim. — Kiederich und Eberbach. —
Mittelheim und Johannisberg, — Eibingen. — Rüdesheim : Die Kirche. Die
Niederburg. — Bingen. — Ehrenfels. — Vautzberg. — Klemenskirche. —
Oberdiebach. — Bacharach. — Die Pfalz im Rhein. — Oberwesel: Stiftskirche.
Franziskanerkirche u. a. — St. Goar. Rheinfels. — Reichenherg. — Thurnberg.

— Hirzenach. — Bornhofen. — Boppard : Pfarrkirche. Karmeliterkirche u. a,

— Oberlahnstein. — Königstuhl. — Stolzenfels. — St. Johannkirche. — Ko-
blenz : Geschichtliches. Die Castorkirche. Die K. des h. Florinus, Die K. zu
U. L. Frauen. Dominikanerkirche, Franziskanerkirche. Jesuitenkirche. Georg-
kirche, Carmeliterkirche, Barbarakirche, Schlosskirche. ^ Moselbrücke. Erz-
bischöfl. Burg. Kaufhaus u. a. Kurfürstl. Residenz, Theater. Leichenhaus etc.

— Thal Ehrenbreitstein : Kapuzinerkirche. — Ems. — Vallendar. — Niederwerth.

— Bendorf. Sayn. — Romersdorf. — Engers. — Neuwied. — Andernach :
Pfarrkirche. Koblenzer Thor. Erzbischöfl. Palast. Stadtthor, Franziskaner-
kirche. Judenbad. — St, Thomas, ~ Leudesdorf. — Namedy, — Fornich. —
Hammerstein. — Laach, — Rheineck. — Rheinbrohl, — Niederbreisig. — Ober-
breisig,— Leubsdorf. — Dattenberg, — Sinzig. — Linz. —Remagen. — Apol-
linarisberg, — Unkel, — Heisterbach. — Godesberg. — Bonn : Münsterkirche.
Martinskirche, Pfarrkirche. Jesuitenkirche. — Schwarz-Rheindorf, — Köln:
Dom. Dombild, Maria im Kapitol, St, Gereon, Apostelkirche. St. Kunibert.
St, Peter. St. Cacilia, St. Ursula, St, Severin. Jesuitenkirche, St. Pantaleon.
Gross-Martin. Protestantische Kirche, St, Georg. Columba. Minoritenkirche.
St. Andreas. St. Mauritius. Maria-Lyskirchen. ürsulinerkirche. Rathhaus u. a,
Beyenthurm, Stadtgräben,

Den Schluss bildet eine vergleichende Tabelle, welche den Flächen-
raum einer grossen Anzahl kirchlicher Gebäude in Quadratfussen verzeichnet.

Rafael als Mensch und Künstler. Dargestellt von Dr, G. P. Nagler,
Verf. des neuen allgemeinen Künstler-Lexicons. Mit liafaels (lithogr.) Bild-
niss, nach dem Original-Gemälde in der k. Pinakothek zu München.

München, 1836,

(Museum, 1835, No, 51.)

Bei der Menge von selbständigen Schriften und gelegentlich beigebrachten
Notizen über Raphael ist es für den Freund der Kunstgeschichte ein grosses
Bedürfniss geworden, alles "Wichtige in Bezug auf diesen Gegenstand in

Gallerie und die Seitenflügel bis über den Portalen — dürfte dem ersten Bau
von
978 bis 1009 angehören. Hier sieht man treffliche grosse Quadern rothen
Steines angewandt. Höher hinauf findet sich verschieden bearbeitetes Steinwerk:
zunächst, an den Flügeln, schlechtere kleine graue Steine von ungleichen Lagen;
dann grössere, doch nicht ganz regelmässige; zuoberst regelmässige graue Quadern.
Diese verschiedenen Lagen bezeichnen, nach meiner Ansicht, die verschiedenen
Restaurationen und Neubauten, die, nach den Bränden im elften und zwölften
Jahrhundert mit grösserer oder geringerer Sorgfalt ausgeführt wurden. An den
anderen Theilen ist der Dom übertüncht, so dass sich durch blossen Augen-
schein aus der Beschaffenheit des Mauerwerkes kein weiterer Schluss ziehen liess.
Kugler, Kleine Schritten. I. 27

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41G Berichte niid Kritiken.

einem Buche zusammengetragen zu sehen; die beträchtlichen Kosten einer
förmlichen Bibliothek, die mühsame Arbeit mannigfacher Excerpte würden
durch ein solches "Werk beseitigt, ein unbefangenes Urtheil erleichtert und
einem künftigen Geschichtschreiber Raphaels die Bahn bereitet werden.
Das vorliegende Werk, welches eine solche Compilation geben will, lässt
wünschen, dass möglichst bald noch eine zweite Arbeit der Art unter-
nommen werden möge.

Nicht, als ob die vorliegende geradezu unbrauchbar wäre. Wo die
Arbeit leicht war, über die Stanzen, die Tapeten, über die grösseren Staf-
feleibilder der spätq^-en Zeit, ist ganz Gutes zusammengetragen; man findet
über diese Dinge eine genügende Auskunft und wird sich der hier mitge-
theilten Auszüge immer mit Vortlieil bedienen können. Anders verhält es
sich, wo die Arbeit schwerer war und die Redaction des Buches einiges
Urtheil verlangte.

Vor allen Dingen war es nöthig, dass der Verf. bei einer jeden ein-
zelnen Angabe genau die Quelle anführte, aus welcher dieselbe geflossen;
die grössere oder geringere Autorität einer solchen Quelle würde dem
Leser schon an sich einen gewissen Maassstab des Urtheils gegeben haben.
Dies ist jedoch im Ganzen sehr wenig geschehen, und der Compilator läuft
nun Gefahr, manche missliche Dinge in eigner Person vertheidigen zu
müssen, wie z. B, das alberne Urtheil über die Geschichten der Psyche
in der Farnesina (S. 257): „Auch die Auffassung des Ganzen ist dem wahren
„Geiste des Mythus, welcher doch das bessere Prinzip des milesischen
„Mährchens sein sollte, fern geblieben. Der Künstler hat in allzutreuer
„Anschliessung an seinen lateinischen Text nichts weiter als die zauber-
„hafte Lebens- und Ijiebesgeschichte der Prinzessin Psyche dargestellt,
„und dieses alles so ziemlich in der niedrigsten Sphäre des roheren Sin-
„nengenusses gehalten (???). Wir erkennen in diesenBildern den Geschmack
„und die Bildung der Zeit unsers Künstlers, von w^elcher er sich hier leiten
„liess; zu einer andern, bessern, hätte er anders gedacht und empfunden (!!!)."
Zu dieser Kategorie gehört auch die sentimentale Stelle über die Fornarina
(S. 301), die mit dem Charakter ihres Portraits im Palaste Barberini etwas
in Widerspruch ist. Ebenso wird (S. 74) ohne Quelle die für uns Berliner
höchlichst überraschende Nachricht mitgetheilt, dass die K. Gallerie zu
Potsdam zwei treffliche heilige Familien Raphaels besitze. U. s. w.

Das zweite Haupterforderniss einer compilatorischen Arbeit ist strenge,
consequente Anordnung, Uebersichtlichkeit des Inhalts, zweckmässige Ein-
richtung zum Nachschlagen. Dies fehlt, vornehmlich wo es sich um die
kleineren Staffeleibilder handelt, fast ganz, und man kann sich nur mit
Mühe und Noth durch das Gewirre der Notizen hindurcharbeiten. Bestimmte
Rubricirung, Bezeichnung des Titels (oder Inhalts) der Bilder durch grösseren
Druck, eigentliches Inhaltsverzeichniss sind gar nicht vorhanden. Die Anga-
ben über manch ein Bild muss man sich an zwei, drei Orten zusammen-
suchen. Bei den Bildern, deren Aechtheit oder Zeitbestimmung zweifel-
haft ist, folgt der Verf. gar keinem bestimmten Princip ; bald ist er Rumohr
contra Hirt, bald Hirt contra Rumohr. Das Bildniss des Cesare Borgia im
Pal, Borghese zu Rom findet man unter den Werken aus Raphaels frühster
Periode, den kleinen Erzengel Michael (der offenbar mit dem St. Georg,
welchen Raphael in Urbino malte, gleichzeitig ist) unter den Werken der
spätesten Periode angeführt. U. dergl. m.

Alles dies ist vornehmlich durch die grösste Leichtfertigkeit und Eile,

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Geschichte und Beschreibung des Domes zu Mainz etc. 419

mit der das Buch zusainmengetragen , bewirkt. Dies zeigt sich auch in
dem Umstände, dass der Verf. manche sehr bekannte Schriften und Abhand-
lungen gar nicht oder nur sehr obenhin beachtet hat. Die Streitschriften
zwischen Waagen und Hirt sind ihm ganz fremd geblieben, ebenso die
neueren Kataloge des Berliner Museums, welche in Bezug auf Raphaels
Jugendbilder manche Veränderungen und Berichtigungen enthalten. Den
trefflichen Aufsatz von W. Gerhard über die Johanna von Arragonien (im
Tübinger Kunstblatt, 1833, No. 15, 16), welcher für diese Dame und ihre
Portraits so höchst wichtig ist, hat er gar nicht gelesen, auch nicht ein-
mal die Anmerkung v. Quandt's in Lanzi's Geschichte der ital. Malerei,
dass nehmlich das in der Gall. Doria befindliche Portrait der Johanna (wie
jeder Unbefangene beistimmen wird) kein Original von Leonardo da Vinci
sei. Dass die Beschreibung, welche der Verf. (S 130) von dem Portrait
der Fornarina im Besitze des Herzogs von Marlborough mittheilt, Wort für
Wort mit Longhena's Beschreibung des Veroneser Portraits (bei den Erben
Lalfranchini's) übereinstimme, ist ihm ebenfalls entgangen. U. s. w. Am
Allernaivsten aber macht es sich, wenn der Verf. (S. 39) Hrn. v. Rumohr
belehrt, dass Raphael für die Libreria des Sleneser Domes nicht bloss
Zeichnungen sondern auch grosse Cartons angefertigt habe und dass einer
der letzteren: „54 Centimetri hoch und 38 breit," sich noch bei Ludovico
Baldeschi zu Perugia befinde. Der Verf. hätte wohl über die französischen
Längenmaasse Erkundigungen einholen können.

Demjenigen , der die Geschichte Raphaels genauer studirt und sich
nicht scheut, das vorliegende Buch mit Feder und Tinte vorzunehmen,
wird dasselbe immer manche Arbeit ersparen; dem blossen Liebhaber und
Anfänger ist es jedoch sehr wenig zu empfehlen.

Geschichte und Beschreibung des Domes zu Mainz. Begleitet

mit Betrachtungen über die Entwickelung des Spitzbogenstyls, das neu-

gothische Construktionssystem in Deutschland und Frankreich, und den
Einfluss der lombardischen und byzantinischen Kunst auf diese Länder.

Von J. Wetter. Mit einem Grundrisse des Domes. Mainz, bei C. G.

Kunze. 1835. (170 S. in 12.)

(Museum, 1835, No, 52.)

Die Geschichte unsrer vaterländischen Kunst-Alterthümer würde bereits
um ein Bedeutendes gefördert sein, wenn es nicht noch in grossem Maasse
an erschöpfenden und mit Kritik abgefassten Monographieen fehlte. Erst
wenn das Einzelne nach allen Richtungen durchforscht ist, vrenn die sich-
eren Thatsachen für dasselbe zusammengestellt, die Eigenthümlichkeiten
des Vorhandenen mit besonnener Charakteristik verzeichnet sind, wird es
möglich sein, zu einer genügenden Uebersicht zu gelangen und den Gang
der Entwickelung im Grossen und Ganzen, frei von einseitigen Trug-
schlüssen, zu verfolgen. Wir müssen somit eine jede Arbeit, welche einen
Stein zu diesem grossen Baue herzuträgt, mit Freuden willkommen heissen
und eifrigst zur weiteren Nachfolge auffordern.

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420 Berichte und Kritikeu.

Das in der Ueberschrift genannte Werk darf in diesem Bezüge als
Muster aufgestellt werden. Dasselbe macht uns ausführlich mit einem
Gebäude und dessen Monumenten bekannt, welches eine der wichtigsten
Stellen in der Geschichte der deutschen Kunst einnimmt, welches die Thätig-
keit und die Sinnesweise einer langen Reihe von Jahrhunderten dem Auge
des Beschauers darlegt und den verwüstenden Stürmen, die mannigfach
über dasselbe hereingebrochen, in ruhiger Majestät Trotz geboten hat. Der
Verfasser spricht mit Wärme und mit grosser Liebe zu seinem Gegenstande,
ohne dass ihm diese jedoch, wie es nur zu häufig bei Lokalscribenten der
Fall ist, die Aussicht in die Ferne und Weite, zur Feststellung seines
Standpunktes, verwehrt hätte.

Die Schrift zerfällt in drei Abtheilungen. Die erste behandelt die
Geschichte des Domes. Mit übersichtlicher Genauigkeit sind hier sämmt-
liche Begebenheiten mitgetheilt, welche von der ersten Erbauung desselben,
die im J. 978 begann, his auf die in unsren Tagen vollendete Restauration
fördernd oder gefährdend auf das Gebäude eingewirkt haben. Was Hoch-
herzigkeit und religiöser Eifer begonnen, sehen wir hier, trotz der vernich-
tenden Wuth der Elemente und der rohen Barbarei meuterischer Horden,
immer aufs Neue mit demselben Eifer aufgenommen, immer aufs Neue zur
erfreulichsten Vollendung durchgeführt. Der Verf. weist, indem er sich
mit wohlbegründeter Kritik auf die Beschaffenheit der einzelnen Theile
des verschiedenartig zusammengesetzten Gebäudes stützt, die Spuren eines
jeden Neubaues, einer jeden einzelnen Restauration nach. Auf das Einzelne
dieser interessanten Angaben können wir hier nicht weiter eingehen und
bemerken nur, dass für die Entwickelungsgeschichte der deutschen Archi-
tektur die allmähllg steigende (zum Spitzbogen geneigte) Ueberhöhung der
Gurtbögen, w^elche bei den zwischen 1190 und 1230 aufgeführten Gewölben
und bei übrigens noch vollkommener Auwendung des sog. byzantinischen
Styles Statt iiiidet, vornehmlich beachtenswerthe Resultate liefert

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Die zweite Abtheilung enthält die Beschreibung des Gebäudes, die
dritte die Beschreibung der in demselben vorhandenen Denkmäler und
Kunstschätze. Auch letztere geben, soviel Einzelnes auch verstümmelt oder
gänzlich vernichtet worden ist, noch immer eine bedeutende Reihe von
Belegen für die Entwickelungsgeschichte der deutschen Kunst. Wichtiger
jedoch dürfte nocli das allgemein geschichtliche Interesse sein, welches diese
Denkmäler dem Beschauer gewähren. Sehr schön sagt der Verf. in diesem
Bezüge: „Der hohe Rang und die historische Wichtigkeit der Männer, wel-
clien die meisten Denkmäler gewidmet sind, erheben den Dom ^zu einer
Art von Pantheon der deutschen Geschichte. Man kann die mächtigen
Hallen des Domes nicht durchwandern, ohne der Gegenwart entrückt und
im Geiste in die thatenreiche Vorwelt versetzt zu werden; man kann die
von allen Seiten hervortretenden Steinbilder so vieler Fürsten nicht schauen,
ohne an die wichtigsten Ereignisse, die bedeutendsten Momente der deut-
schen Geschichte erinnert zu werden, und ohne die hehren Gestalten vieler
weiser, zum Theile grosser Regenten aus der Nacht der Jahrhunderte

Ich bedaiire, dass der Verf., der den ganzen östlichen Chor als den Rest
des ersten Baues vom Ende des 10. Jahrhundert erklärt, nicht auf die grosse
Verschiedenheit des Materiales, woraus dieser Ciior (in vier verschiedenen Ab-
sätzen) gebaut ist, Rücksicht genommen und dieselbe mit den historischeu Daten
in Uebereinstim mung zu briuget\ gesucht iiat. Eine nähere Angabe dieses Um-
staiides habe ich bereits kürzlich, bei anderer Gelegenheit, mitgetheilt.

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Geschichto nnd Bosohroibiing des Domes zu Mainz etc. 421

aufsteigen zu sehen, welche in die Schicksale Deutschlands mächtig ein-
griffen, oft in stürmischer Zeit das Steuerruder des Reiches mit fester und
gewandter Hand führten, oft seine Wohlfahrt durch weisen Rath, heilsame
Verbesserung und durchgreifende Umgestaltung förderten." U. s. w.

In mehreren sehr ausführlichen Anmerkungen verbreitet sich der Verf.
über die_bedeutendsten Entwickelungsmomente der Baukunst im Mittelalter.
Sehr gediegen ist die Anmerkung, welche von dem Verliältniss der gothi-
schen und der sog. byzantinischen Bauweise handelt. Der Verf. legt die
totale Verschiedenheit, welche zwischen diesen beiden Systemen vorhanden
ist, dar, und spricht es — soviel uns bekannt ist — zum ersten Male mit
Entschiedenheit öffentlich aus, dass zwischen beiden in Deutschland kein
Uebergang Statt findet, dass jener
byzantinische Baustyl bei uns bis tief
in das dreizehnte Jahrhundert hinein (wie eben der Mainzer Dom ein
Hauptzeugniss giebtj angewandt und dann plötzlich mit dem schon eigen-
thömlich ausgebildeten gothischen Style vertauscht wurde, dessen Ursprung
und erste Entwickelung jenseit des Rheines, in Frankreich, zu suchen ist.
Es fehlt nicht an einer Reihe gültiger Belege für diese Angaben. Wir
holTen, dass eine solche wissenschaftlich begründete Ansicht sich gegen-
wärtig immer mehr Bahn breclien, und die unhaltbaren Ideen dilettantischer
Kunstfreunde,
Avelche ihren Patriotismus mit der Wissenschaft verwechselt
hatten, immer mehr in den Hintergrund treten werden. Eine vollkommene
Lösung der freilich sehr schwierigen Fragen über diese Punkte haben wir
vornehmlich von einem Freunde der vaterländischen Kunstgeschichte, Hrn.
Mertens, zu erwarten, ^dessen im Museum (No. 15 — 26 d. J.) mitgetheilte
„historische Uebersicht der bisherigen Abhandlungen über die Baukunst
des Mittelalters" sich bereits der günstigsten Aufnahme zu erfreuen hatte,
nnd der gegenwärtig in Frankreich selbst mit einem genaueren Studium
des Ursprunges und Anfanges der gothischen Architektur beschäftigt ist.

Der zweiten kunstgeschichtlichen Anmerkung desVerfs., über die Ent-
wickelung des sog. byzantinischen Baustyles, können wir leider nicht das-
selbe Lob ertheilen. Zwar ist es gewiss richtig, wenn er den Einfluss, den
die eigentliche Kunst von Byzanz auf Deutschland ausgeübt haben soll,
verwirft oder wenigstens auf sehr vereinzelte Beispiele zurückführt, und
wenn er im Gegentheil die hauptsächlichste Anregung als von Italien aus-
gegangen annimmt. Dass in diesem Bezüge aber die Zeit des longobardi-
schen Königreiches vornehmlich wichtig sei, ja dass sonach, wie der Verf.
will, jener gesammte Baustyl, statt" der üblichen unrichtigen Benennung
eines byzantinischen, als lombardischer Styl benannt werden müsse,
ist nicht nur nicht zu erweisen, sondern hat auch die Zeugnisse der Geschichte
gegen sich. Der Verf. scheint hier noch durch die verjährten Irrthümer
eines d'Agincourt u. a. m. befangen zu sein; statt weiterer Auseinander-
setzungen, die hier zu weit führen würden, verweisen wir auf die Schrift
des Italieners Cordero :
Bagionamento delV italiana Architettura durante
la dominazione Longoharda,
welche sich über die bezüglichen Gegenstände
zur Genüge und mit gründlichster Kritik verbreitet und den deutschen
Gelehrten noch immer wenig bekannt zu sein scheint. Wir haben schon
verschiedene Male Gelegenheit gehabt, auf dieselbe näher aufmerksam zu
machen. - Eine Anzahl kirchlicher Gebäude in Deutschland, die sich vor-
nehmlich, in grösseren und geringeren Entfernungen, um die Ost- und
Nordseite des Harzes gruppiren, deutet allerdings, sofern diese sich mehr
oder minder dem Basilikenbau annähern, mit ziemlicher Gewissheit auf den

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45t) Berichte und Kritiken.

Einfluss des italienischen Systemes zurück; jene Dome hingegen, welche
die Construktion des Mainzer Domes wiederholen, lassen uns eine Bauweise
erkennen, deren eigenthümliche Entwicklung und Durchbildung, soweit
bis jetzt eine genügende Üebersicht möglich ist, vornehmlich Deutschland
angehört.

Immerhin aber ist dem ernsten Streben des Verf., das auch in der
Durchführung der letzgenanaten Ansicht viel Bemerkenswerthes zu Tage
gefördert hat, die lebhafteste Anerkennung nicht zu versagen. Es ist zu
hoffen, dass derselbe auch nocli ferner mit ähnlichen gehaltvollen Beiträgen
hervortreten und seine Verdienste um die Geschichte der vaterländischen
Kunst auch noch auf andre Monumente, daran gerade die Umgegend von
Mainz so vorzüglich reich ist, ausdehnen Wierde.

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Titians Tochter. Seiner Majestät dem Könige von Preussen Friedrich
Wilhelm III, ehrfurchtsvoll zugeeignet von J. Caspar. Nach dem Original-
tiemälde Titians im Königlichen Museum zu Berlin. Gezeichnet von Ed.
Eichens. Gestochen von Joseph Caspar 1835.

(Museum, 1836, No. 4.)

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In einer Zeit, wo der Steindruck sich in immer weiterem Maasse ver-
breitet, fordert ein so bedeutendes Werk im Fache des Kupferstiches, wie
das vorliegende, welches zugleich aus freier, eigner Anregung des Kupfer-
stechers hervorgegangen ist, zur vollkommensten Werthschätzung auf. Es
ist ein Blatt von grösseren Dimensionen, der Stich zu Vi^U ^-oU Hohe und
9V2 Zoll Breite, und stellt eins der vorzüglichsten Meisterwerke des hie-
sigen Museums dar. Ein blühendes Weib, in edelsten kräftigsten Formen,
in einer lebendigen, aber grossartig gemessenen Stellung, prächtiges Gewand
und reicher Schmuck, eine schimmernde Schüssel mit Blumen und Früchten,
die sie auf den Händen trägt, — dies sind Motive, aus denen unter Tizian's
Meisterhand ein höchst entsprechendes Ganze hervorgehen und für die
Nachbildung den dankbarsten Stoff liefern musste. Wenn wir freilich den
wundersamen Schmelz der Farben und die zarte, ich möchte sagen: pulsi-
rende Beweglichkeit des Pinsels berücksichtigen, die im Gesichte und in
der Hand des Originalbildes den eigenthümlichsten Reiz hervorbringen, so
dünkt uns ein solches Werk in der That die allerschwierigste Wahl für
den Kupferstecher. Um so grösser jedoch ist somit sein Verdienst, da aller-
dings das vorliegende Blatt sich den vorzüglichsten Leistungen, welche die
neuere Zeit hervorgebracht hat, auf ehrenvolle Weise anreiht. Die Haltung
des Ganzen ist vortrefflich und dasselbe in einer Energie und lebendigen
Wirkamsamkeit durchgeführt, welche sich der Farbenpracht des Originales
auf glücklichste Weise annähert. So findet sich auch im Einzelnen ein
zartes Eingehen auf die Nüancen und feineren Bildungen der Form, und
bei sorglichster Modellirung, die bei einem Stiche nach Tizian ihre bedeu-
tenden Schwierigkeiten hat, sind zugleich Wärme und Licht der Farbe in
angemessener Weise beobachtet. Die Taillen sind frei und in grossartigen
Linien angelegt, die Uebergänge kunstgemäss vermittelt.

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Lithographie. 423

Indem wir dem Künstler für die Vollendung einer so gediegenen Arbeit
im Namen des kunstbefreundeten Publikums gebührenden Dank sagen,
können wir zugleich den Wunsch nicht unterdrücken, dass auch noch andre
Werke der so reichen Gallerie unsres Museums auf ähnlich bedeutsame
Weise verölfentlicht werden möchten. Wir sind^ überzeugt, dass hiedurch
vornehmlich das Renommee unsres Museums in weiteren Kreisen verbreitet
werden würde, als es bisher der Fall Ist. Gemälde, wie das eine wunder-^
same Jugendbild Raphael's (Madonna mit dem Kinde zwischen dem heil.
Franciscus und Hieronymus), wie Melzi's liebreizende Pomona, wie das
treffliche Altarbild von Innocenzo da Imola, wie Guido Reni's grandioses
Altargemälde, wie jene hochwürdige Pieta von Mantegna, und viele andre
— der Coreggio's gar nicht zu gedenken, — würden gewiss den dankbar-
sten Stoff für Arbeiten dieser Art liefern. Möge die Unternehmung des
Hrn. Caspar recht bald eine würdige Nachfolge finden !

Lithographie.
(Museum, 1836, No. 5.>'

Von Perugino's berühmter Grablegung Christi vom Jahr 1495,
die sich in der Gemälde-Gallerie des Palastes Pitti zu Florenz befindet,
(es ist dasselbe Werk, welches bis vor einigen Jahren in der dortigen
Akademie und früher in der Kirche S. Chiara aufbewahrt wurde,) ist eine
Lithographie von Nicolaus Hoff, nach einer eigenen Zeichnung des letz-
teren, gedruckt in der lith. Anstalt von C. P. Stern zu Frankfurt a. M.,
erschienen. Es ist ein Blatt von bedeutenden Dimensionen und sehr detail-
lirter Ausführung. Die Auffassung im Allgemeinen, die Haltung des Ganzen
ist sehr zu loben; einige der Köpfe lassen, wie es scheint, noch etwas zu
wünschen übrig, doch ist bei weitem die Mehrzal^ derselben, vornehmlich
der knieenden Figuren, mit unverkennbarer Liebe und mit zartem Gefühle
wiedergegeben. Die reizende weibliche Gestalt, welche zu den Füssen des
Leichnames kniet, ist in jeder Beziehung trefflich zu nennen. Die Erschei-
nung dieses Blattes wird den Freunden der älteren Kunst in hohem Grade
erwünscht sein, da sowohl überhaupt von Perugino noch Weniges heraus-
gegeben ist, als insbesondere das vorliegende Werk eines der schönsten
und reichsten Gemälde dieses grossen Künstlers darstellt

Vergleichende Darstellung griechischer Bau-Ordnungen. Von J. M. Mauch.
Zweites Heft. Mit 8 Kupfertafeln in Folio und erläuterndem Texte.
Potsdam, 1836. Verlag von Ferdinand Riegel.

(Museum, 1836, No. 8.)

Vorliegendes Werk bildet das zweite Suppleraentheft zu dem bekannten
Werke von Norm and. In demselben Geiste, wie der Herausgeber das
erste Supplementheft (darüber bereits früher berichtet worden) zusammen-

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11

II

424 Berichte und Kritiken.

gestellt hat, ist auch die Anordnung des vorliegenden durchgeführt. Wenn
bei Normand im Ganzen die Muster der römischen und spätitalienischen
Architektur mehr als die der griechischen berücksichtigt worden sind, so
lässt es Hr. Mauch sich im Gegentheil angelegen sein, die reinen und ori-
ginalen Formen der letzteren, welche für die Bildung und Schärfung des
künstlerischen Sinnes ungleich grössere Vortheile darbieten, vorzuführen
und zugleich die einfachen und gesetzlichen Principien ihrer technischen
Construction — soweit uns hierüber genauere Kenntnisse zugekommen sind
— zu entwickeln. Es ist erfreulich, dass diese Hefte (denen sich noch zu
Erwartendes anschliessen soll) somit nach und nach eine Uebersicht über
das vorzüglich "VVissenswerthe der classischen Architektur-Formen in zweck-
mässiger Kürze darlegen -werden. "Wir betrachten die einzelnen Gegen-
stände des zweiten Heftes.

Das Titelblatt desselben enthält einen freien Versuch des Herausgebers,
die Farbenanwendung bei den Werken der griechischen Architektur in
ihrem Zusammenhange darzustellen. Es ist eine Halle mit drei weiblichen
Karyatiden, dorischer, ionischer und corinthischer Ordnung, eine Compo-
sition, die der Herausgeber bei Gelegenheit eines Künstlerfestes, -vvo die
verschiedeuen Künste durch lebende Bilder vorgeführt wurden, entworfen
hat. Das Ganze zeigt sich hier nicht ohne eigenthümlichen Reiz; eine
zierlich durchbrochene, vergoldete Akroterie bildet die Bekrönung, und
ein gelblicher Farbenton, welcher den Hauptmassen der Architektur gegeben
ist, vermittelt auf einfache Weise die verschiedenfarbigen Gliederungen.
Die Steinzeichnung (von Asmus) und ebenso der, durch 8 Platten beschaffte
Druck ist sehr sauber ausgeführt.

Tafel 16 ünd 17. Dorische Ordnung vom Tempel der Neme-
sis zu Rh am n
US. — Sämmtliclie Details dieses interessanten Gebäudes
sind hier im engsten Räume vorgeführt. Dasselbe ist vornehmlich wichtig
in Bezug auf die Construction des Gebälkes und der Dachdeckung, welche
die „unedirten Alterthümer von Attika" (daraus der Herausgeber die Zeich-
nungen entnommen) in grösster Ausführlichkeit mittheilen. Der Herausg.
weist den eigenthümlich zweckgemässen Zusammenhang dieser Construction
und seinen Einfluss auf die Formation des inneren Gebälkes mit Anschau-
lichkeit nach. Interessant ist das Resultat, welches sich hieraus für die
Gestaltung der Ante des Posticum's bei diesem Tempel ergiebt. Nachdem
er nemlich den Umstand besprochen, dass der Architrav aus zweien hoch-
kantig neben einander gelegten Steinbalken (einem äusseren und inneren)
bestehe, fährt er so fort: „Am Posticum stehen die Anten und Säulen des
Opisthodomus nicht im Alignement mit den Säulen der langen Seiten, daher
der Arcliitrav darüber auch nicht (wie dies beim Pronaos der Fall ist) in
Zusammenhang mit dem des Peristyls gebracht werden konnte, weil er
keine Säule zum nöthigen Aullager daselbst gefunden hat. Hier musste
also der Architrav sich um die Ecke der Cella wenden und sollte daran
Aveiter fortlaufen, da aber jedoch über einer Mauer kein Architrav erfor-
derlicli ist, so sieht man daselbst nur noch die Stirnfläche des äusseren
Arcliitravbalkens ein wenig vorspringend. Der innere Balken ist um des
besseren Verbandes willen schon in dem Mauermittel abgeschnitten. In
dieser Anordnung liegt der Grund, warum die Ante an der äusseren Seite
nur halb so breit gemacht wurde, als an der inneren, vvo der ganze Archi-
trav auf ihr ruht. Sobald aber der Architrav über die Ante hinläuft, muss
sie auf beiden Seiten seiner Breite entsprechen."—Als Beispiel eines ähn-

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Vergleichende Darstellung griechischer Ran-Ordnnngen.

liehen Verhältnisses ftlhrt der Herausg. noch die Ante des Tempels von
Bassae an. Doch glaube ich, dass die Abhängigkeit der Antenbreite vom
Architrav nicht als gemeingültige Regel für die griechische Baukunst auf-
zustellen sein dürfte: beim Parthenon und dem Theseus-Tempel von Athen
ist die Ante an der entsprechenden Stelle (Stuart's Kupfern zufolge) noch
beträchtlich schmaler, wie sie auch anderweitig vorkommt, wo keine Säu-
lenstellungen auf den Langseiten vorhanden sind. Tu solchen Fällen ist
sie nichts als der Abschluss der langen Cellenmauer für das Auge, ohne
weiteren constructiven Grund, Ueberdies ist das Kupfer im englischen
Originalwerk, welches den Aufriss der Ante des Posticum's und des dar-
über befindlichen Gebälkes an dem Tempel von Rhamnus darstellt, unklar:
es fehlt der Abschluss des Frieses, und der Architrav steht ohne Verbin-
dung mit dem Unterzugbbalken da, — so dass es in der That in Frage zu
ziehen sein dürfte, wieviel Sicheres über diese Punkte die englischen Archi-
tekten unter den Trümmerhaufen des Tempels aufgefunden haben. Gleich-
falls ist nicht ausser Acht zu lassen, dass der genannte Tempel mannigfach
einzelne Motive enthält, die von den perikleischen Bauten zu Athen abweichen,
und allerdings schon eine geringere Naivetät, ein Streben nach äusserlicher
Consequenz zeigt, wie solches den Zeiten, Avelche der blühendsten Entwi-
ckelung der Kunst nachfolgen, eigen zu sein pflegt. Ins Einzelne dieser
Motive einzugehen würde hier zu weit führen.

Schliesslich muss leider ein Versehen des Herausgebers gerügt werden,
welches wenigstens die Anfänger leicht verwirren kann. Er bezeichnet
nemlich den zunächst hinler der Vorderfront des Tempels befindlichen Raum
ausschliesslich mit dem Worte Porticus, den entsprechenden Raum hinter
der Hinterfront als Posticum (im Gegensatz gegen den Opisthodom, die
hintere Celle dieses Tempels) und die Säulenhallen der Langseiten aus-
schliesslich als Peristyle. Dies ist jedoch unrichtig, da bekanntlich Por-
ticus nur soviel ist als Halle im Allgemeinen, besonders Säulenhalle
jeder Art, — Peristyl soviel als die gesammte Säulenumgebung eines
Raumes, — Posticum wiederum nur Hintertheil im Allgemeinen bedeutet,
Opisthodom also mit in dessen Begriff eingeschlossen ist.

T. 18. Muster dorischer Ordnung, nach gleichem Säulendurch-
messer zusammengestellt: vom kleinen Tempel zu Pästum, von den Por-
pyläen zu Eleusis, vom T. der Diana Propyläa zu Eleusis, vom T. des
Jupiter zu Nemea, vom Monumente des Thrasyllus zu Athen. Diese Zusam-
menstellung hat den Zweck, die inneren Verhältnisse schwerer und leich-
ter Ordnungen anschaulich zu machen, die — nach der Ansicht des Herausg.
— in Folgendem bestehen: „Wir bemerken, dass die einzelnen Theile der
Architektur, die Gesims- und Säulenhöhen, namentlich auch alle Glieder-
ungen, eine mit dem verschiedenen Grössenmaasse in der Ausführung in
Relation stehende Verfeinerung verbinden: besonders auffallend ist dies bei
den Capitälen, diese sind an dem kleinen Dianen-Tempel weit schwerer,
als bei den grösseren Propyläen, am feinsten aber an dem noch grösseren
Jupiter-Tempel, an welchem der Kranzleisten mit den Dielenköpfen bei-
nahe schwach erscheint, und doch in der Wirklichkeit hinlänglich stark
ist. Je grösser also der Maassstab ist, desto schlanker sind die Säulen,
desto leichter die Hauptgesimse und desto feiner alle Gliederungen , im
Verhältniss zum unteren Durchmesser der Säule. Wir können hier nicht
genug auf diesen wichtigen Gegenstand aufmerksam machen" etc. — Referent
kann diese Ansicht nicht theilen: denn dieselbe ist keineswegs durch die

425

f

Iii

-ocr page 438-

45t) Berichte und Kritiken.

wichtigsten Monumente begründet, da z. B. die Säule des Parthenon etwa
dieselbe Hühe hat, wie die des genannten Jupiter-Tempels, und doch nicht
die tibertrieben leichten Verhältnisse des letzteren mit sich führt; sie ist
auch nicht durch Vitruv bestätigt, da dieser bei grösseren Dimensionen der
Säule gerade umgekehrt ein vermehrtes Höhenverhältiiiss des Architravs
(somit des gesammten Gebälkes und auch des Capitäles) fordert (1, III,
c. 3.); sie beruht endlich im Wesentlichen auch nicht auf ästhetischen
Principien. Das Ornament dürfte allerdings nach den verschiedenen Grös-
senverhältnissen zu modiflciren sein: die Formation der einzelnen Archi-
tekturtheile geht aber wesentlich nur aus ihrem gegenseitigen Verhältniss
hervor, darauf die relative Grösse des Ganzen keinen Einfluss ausüben
kann. Nur dann, wenn man kein andres Gesetz für die Bildung der
II;! Formen gelten lassen will, als das materielle des Stoffes, ist jene Ansicht

als die richtige aufzustellen.

Bei Gelegenheit der Ordnung der Propyläen von Eleusis wird wiederum
eine bemerkenswerthe Notiz über die nach aussen gekehrte Ante dieses
Gebäudes mitgetheilt, die aber ebenfalls nicht als allgemeines Gesetz
gelten dürfte.

i|L| T. 19. Muster ionischer Ordnung: von dem kleinen Tempel am

lljJ® J Ilissus, von dem viersäuligen Porticus am Ereclitheum, vom T. der Minerva

Polias zu Priene. Diese Zusammenstellung hat denselben Zweck wie die
des vorigen Blattes; auch hier ist vornehmlich auf die Anten-Construction
Rücksicht genommen.

T. 20. Ionische Thüre vom viersäuligen Porticus am
>f Erechtheion. — Dies eigenthümliche Prachtwerk der griechischen Archi-

tektur, welches bei uns im Ganzen noch wenig bekannt ist, wird hier nach
Donaldson's
Collection of the most approved JEmmpels for Doorways,
from ancient Buildings,
mitgetheilt. Eine Skizze des Gai^zen, Zeichnungen
und Durchschnitte der prachtvollen Details in genügender Grösse (deren
einige auch auf dem folgenden Blatt enthalten sind), und genaue Berech-
nungen der einzelnen Maassverhältnisse unterrichten auf's Zweckmässigste
über die eigenthümliche Beschaifenheit dieser Thüre. Sehr richtig bemerkt
der Herausg. dabei, dass, trotz der hohen Anmuth in den verschiedenen
Details der Thüre des Erechtheums, doch bedeutende Missverhältnisse in
Betreff ihrer gegenseitigen Grössenverhältnisse obwalten, und dass die
gesammte Thür somit der späteren Vollendungszeit des Baues zuzuschreiben
4» sein dürfte. Nur den einen unter den Gründen, die der Herausg. hiefür

1 anführt, dass nemlich die Simg, (der sogenannte Rinnleisten) hier ohne con-

u' structive Motivirung vorhanden sei, kann Referent nicht gelten lassen. Die

' Sima wird in der griechischen Architektur wesentlich nur als Bekrönung

des Ganzen angewandt; jener materielle Zweck der Ableitung des Regen-
^if'l wassers ist erst von späteren Technikern hineingelegt; sie ist demnach

auch als Thürbekrönung ganz passend, auch wenn da kein Wasser abzu-
leiten ist, und ihr Vorhandensein an solcher Stelle ist an sich kein Beweis .
ij'l späterer Ausartung.

T. 21. Einzelnheiten vom Erechtheion. — Ausser den bereits
I erwähnten Einzelnheiten der Prachtthür, enthält dies Blatt zunächst eine

II detaillirte Zeichnung der verschiedenen, reich ornamentirten Antencapitäle,

« welche der Herausgeber nach den Gypsabgüssen der Originale selbst genom-

^ men und die sich durch eine ungleich reinere Auffassung der griechischen

, Formen, als diese bei Stuart und Normand gegeben sind, auszeichnet.

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-ocr page 439-

Vergleichende Darstellung griechischer Bau-Ordnungen. 427

Sodann ist auf demselben Blatte noch die von dem Herausgeber erfundene
Construction der Schneckenlinie des Capitäls mitgetheilt, welche ungleich
anwendbarer ist als die von. d'Aviler, bei Normand, T. 21. Sie ist bereits
in den von der k. preuss. technischen Deputation für Gewerbe herausge-
gebenen „Vorbildern für Fabrikanten und Handwerker" enthalten, und ihre
Zweckmässigkeit allgemein anerkannt.

T. 22. Bekrönung von dem choragischen Monumente des
Lysikrates in Athen. — Dies sehr sauber und ausführlich gestochene
Blatt giebt zum ersten Male eine genügende Darstellung der genannten
Bekrönung, welche das schönste unter den bekannten Ornamentwerken
griechischer Architektur ist. Die Zeichnung hat der Herausg. nach den
Gypsabgüssen genommen, welche sich in der reichen Gyps-Sammlung des
Königl. Gewerbe-Institutes zu Berlin befinden und welche aus den Formen
herstammen, die der kunstliebende Graf Choiseul-Gouffier, etwa um 1785
von dem Monumente zu Athen selbst hatte nehmen lassen; sie sind vor-
nehmlich dadurch interessant, dass sie die Einzelheiten der Sculpturtheile
noch nicht so beschädigt zeigen, als dies leider, durch die Zerstörungen
der neueren Zeit, an dem Originale in seinem gegenwärtigen Zustande der
Fall ist. Gleichwohl sind auch sie bereits an den sämmtlichen Extremi-
täten so bedeutend verstümmelt, dass die Restauration des Ganzen, welche
der Herausg. im Vergleich mit den übrigen Abgüssen des Monument%unter-
nommen, immer bedeutende Schwierigkeiten bot. Um so grösser jedoch ist
das Verdienst des Herausg., als seine Zeichnung ia der That die Schärfe,
Reinheit und Eleganz dieser so höchst merkwürdigen Arbeit in trefflicher
Vollendung vorführt, während in dem Stuart'schen Kupferstich Alles,
was dieselbe als ein Erzeugniss griechischen Geistes charakterisirt, ausge-
löscht ist. —

1

r

Wenn im vorstehenden Bericht einzelne Ansichten des Herausgebers
bestritten wurden, so ist gleichwohl das Ganze seines Unternehmens, das
überdies mit grösster Eleganz ausgestattet ist, mit gebührender Werthschätzung
anzuerkennen und ein baldiges Erscheinen der versprochenen Fortsetzung
zu wünschen.

t

Denkmale der Baukunst des Mittelalters in Sachsen. Bearbeitet und heraus-
gegeben von Dr. L. Puttrich, unter besonderer Mitwirkung von G. W.
Geyser dem jüngeren, Maler. Mit einer Einleitung von Dr. C. L. Stieg-
litz, Domprobst, sämmtlich Mitglieder des Vorstandes der deutschen Gesell-
schaft für Erforschung vaterländischer Sprache und Alterthümer zu Leipzig,
und mehrerer auswärtigen gelehrten Gesellschaften. Leipzig: gedruckt bei
 I

F. A. Brockhaus, auf Kosten des Herausgebers.

(Museum, 1836, No. 9, f.)

Mit freudigster Anerkennung machen wir unsre Leser auf den Beginn
eines Unternehmens aufmerksam, welches, indem es eine grosse Menge
schätzbarer Monumente der deutschen Vorzeit in würdiger Weise bekannt ^ 1

-ocr page 440-

45t) Berichte und Kritiken.

macht, zur besonderen Ehre des gemeinsamen Vaterlandes gereichen wird.
Dasselbe soll die Denkmale eines Landstriches iimfassen, der bisher in
antiquarischer Beziehung noch wenig beachtet und gewürdigt worden ist
(das Schwechten'sche Werk über den Dom von Meissen ist bis jetzt das
einzige der Art), der gleichwohl jedoch eine Fülle interessanter Gegen-
stände darbietet und sich mit diesen den schon mehr durchforschten Gegen-
den Deutschlands, vornemlich den Rheingegenden, vortheilhaft anreiht.
Nach der vorliegenden ersten Lieferung zu urtheilen, wird die äussere Form
dieses Werkes den bekanntnn trefflichen
Chathedrales franqaises von Cha-
puy entsprechen und somit in derjenigen Tüchtigkeit und Eleganz erscheinen,
welche von einem Nationalwerke zu erwarten ist. Zugleich bürgt die Art
und Weise, wie das ganze Unternehmen eingeleitet ist, für eine, dem ern-
sten Zwecke entsprechende Durchführung, indem es nicht als eine buch-
händlerische Speculation, sondern als das selbständige Unternehmen eines
Privatmannes, welcher nicht genöthigt ist, hierin das Interesse des Erwerbes
dem der Wissenschaft und des PatriotismTis voranzustellen, iind welcher
sich der vielseitigsten liberalsten Unterstützung zur Durchführung seines
würdigen Vorhabens erfreut, in's Leben tritt.

Das ganze Werk zerfällt in zwei Abtheiiungen. Die erste umfasst das
Königreich, das Grossherzogthum und die Herzogthümer
Sachsen Ernestinischer Linie, die Herzogthümer und Für-
sten thü mer Anh alt, Schwarzburg undlieuss. Die zweite Abihei-
lung wird die Denkmale der mittelalterlichen Baukunst in der Koni gl.
Preussischen Provinz Sachsen enthalten. Die Baudenkmale und
Sculpturen, welche das gesammte Werk umfassen soll, sind unter Beihülfe
mehrerer vorzüglich geschickter Künstler und unter der Leitung des Heraus-
gebers vermessen und gezeichnet worden; die Ausführung ist den besten
Lithographen von Paris, München, Berlin, Dresden u. s. w. übertragen.
So wird dieses Werk, mit den über jene Gegenstände zusammengetragenen
geschichtlichen und artistischen Nachrichten die vollkommen genügende
Grundlage zu einer durch Abbildungen erläuterten Geschichte der Baukunst
des Mittelalters in Sachsen bilden und demnach von wichtigstem Interesse
für die Culturgeschichte unsres Vaterlandes werden.

Wenden wir uns nunmehr zur Betrachtung des vorliegenden ersten
Heftes der ersten Abtheilung, welches mit dem nächstfolgenden die Kirche
|»l ^ des ehemaligen Klosters Zschillen (Wechselburg) darstellt, so berech-

fv' tigt uns diese Probe zu den günstigsten Erwartungen über die Ausführung

I I des ganzen Unternehmens. Die Ausstattung des Aeusseren ist eben so

}] ^ würdig und geschmackvoll, wie der Inhalt desselben in mannigfacher Weise

il . belehrend. Den beiliegenden Text bildet eine, vom Dr. Stieglitz verfasste

I,''' „geschichtliche Einleitung" über die Verhältnisse des Klosters, ■welche aus

dokumentlichen Nachrichten geschöpft ist und das Jahr 1174 als die Zeit
der Erbauung des gegenwärtigen Gebäudes angiebt. Hieran schliesst sich
{' der Anfang einer „Beschreibung des Kirchengebäudes," vom Herausgeber

mit Umsicht und Sachkenntniss abgefasst. Sieben Blätter mit bildlichen
' Darstellungen führen den Beschauer zur näheren Bekanntschaft des interes-

j , santen Monumentes. Sie bestehen aus einer sauber radirten Titelvignette,

f Avelche eine Ansicht des Aeusseren in seinem gegenwärtigen Zustande giebt;

aus dem Grundriss und einer Anzahl von Profil-Durchschnitten verschie-
dener Details; aus einer Perspektive des Inneren und einer Reihe einzelner

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Deukmale der Baukunst des Mittelalters in Sachsen etc. 429

Theile des Gebäudes. Die letztgenannten Tafeln sind ausgeführte Litho-
graphieen, trefflich aufgefasst und zum Theil von vorzüglicher Wirkung.

Das Gebäude hat nach seiner Erbauung wenig Veränderungen erlitten;
im Inneren ist namentlich als solche nur das später hineingesetzte Gewölbe
zu betrachten. Der Grundriss weicht im Wesentlichen nicht von den

kleineren Kirchen des byzantinischen Styles ab, doch ist die Anlage der ;[-

beiden Thürme auf der Westseite, die wenigstens nicht häufig gefunden
wird, beachtenswerth; leider ist der obere Freibau dieser Thürme nach-
mals zerstört und durch ein unpassendes Dach ersetzt worden. Das Schiff
wird von den Seitenschiffen durch viereckige Pfeiler (mit Halbkreisbögen
überwölbt) getrennt, welche sich durch eigenthümliche Eckverzierungen
auszeichnen: und zwar, abwechselnd, durch kleine Säulchen, welche in die
Ecken der Pfeiler eingelassen sind, oder durch Auskehlungen mit einer
eigenthümlichen Stabverzierung von geschwungenem Profil, welche oben
und unten unmittelbar in die Ecke übergeht. Diese zarte Gliederung dient
zu einer anmuthigen Belebung der starren und kunstlosen Pfeilerformen.
Eigenthümlich ist auch die unter den Thürmen befindliche, von den nächst-
stehenden Pfeilern des Schiffes und einer reichornamentirten Säule gebil-
dete Halle mit darüber angeordneter Empore. Auf der Nordseite des
Gebäudes befindet sich das Hauptportal mit reich geschmücktem Vorbau:
Pfeiler, um welche sich zierliche, verschiedenartig ornamentirte Säulchen
umhergruppiren, mit geschmackvoll ausgekehlten Bögen und eigenthüm-
lichen symbolischen Sculpturen über den beiden Thüren, die vom Heraus-
geber sinnreich ausgedeutet werden.

Wenn schon das Gebäude selbst in seiner vorherrschenden Integrität
ein bedeutendes Interesse des Beschauers erweckt, so ist dies noch in
ungleich höherem Grade der Fall in Bezug auf die Kanzel, das Weihwas-
serbecken und den Altarschmuck, welche sich ganz in ihrer ursprtlnglichen
Anlage, aus der Zeit des Baues selbst erhalten haben. Dies sind höchst
wichtige Beispiele für die Kunstübung des früheren Mittelalters in unsren |

Gegenden; sie gewähren uns eine erfreuliche Anschauung von denjenigen |

Gegenständen, über die wir bisher nur nach den nicht zureichenden Orna-
nientzeichnungen in Handschriften aus jener Zeit urtheilen konnten, und
sind um so bedeutsamer, als sie bereits eine ungewöhnliche Entwickelung
des ktlnstlerichen Vermögens verrathen.

Das Weihwasserbecken gleicht in seiner Hauptform einer kurzen Säule
byzantinischen Styles. Die Kanzel, ganz von Stein erbaut, dürfte zunächst
den Ambonen der alten italienischen Basiliken parallel zu stellen sein;
doch ist der Styl, in dem sie ausgeführt, ganz der Bauweise der in Bede
stehenden Kirche entsprechend: das starkausladende Gesims des Unter-
baues wird vorn von zw^ei verschiedengebildeten Säulen getragen, die Treppe
führt von hinten zu der Brüstung empor. Die Aussenflächen sind reich
mit Reliefsculpturen geschmückt, und von diesen gilt es vornehmlicli, was
so eben über die Trefflichkeit der Ausführung bemerkt wurde. In der
That zeigen sie, bei noch entschiedenem Vorherrschen des byzantinischen
Styles, eine Grazie der Bewegung, eine Freiheit und Reinheit der Linien-
führung, die im höchsten Grade frappiren muss. Zur Erklärung dieser
merkwürdigen Erscheinung stellt Hr. Stieglitz, in der genannten geschicht-
lichen Einleitung, die Vermuthung auf, dass diese Sculpturen von italieni-
schen Künstlern oder von Deutschen, die sich in Italien gebildet, herrühren
dürften. Icli kann diese Ansicht nicht wohl unterschreiben. Die bildende

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45t) Berichte und Kritiken.

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Kunst in Italien war zu jener Zeit (und es scheint kein Grund vorhanden,
das Alter dieser Sculpturen zu bezweifeln), wie sich namentlich aus den
„italienischen Forschungen" des Hrn. v. Rumohr und aus E. Förster's „Bei-
trägen zur neueren Kunstgeschichte" zur vollsten Evidenz ergiebt, keines-
weges noch zu dem Grade ausgebildet, dass sie einen solchen Einfluss
hätte ausüben oder so vorzügliche Werke hätte hervorbringen können; im
Gegentheil jedoch finden sich Sculpturen in Deutschland selbst (z. B. in
der Frauenkirche zu Halberstadt, — an den Seitenwänden," welche den
Westchor des Bamberger Domes von den Kreuzflügeln trennen), die aller-
dings den Beginn einer früheren Entwickelung der Kunst gerade in Deutsch-
land darthun, und mit denen die Sculpturen dieser Kanzel, nach den mit-
getheilten Abbildungen zu urtheilen, in einem näheren Verhältniss zu
stehen scheinen. Zwar dürfte, was die vorliegenden Abbildungen betrifft,
eine gewisse feinere, mehr naturgemässe Führung der Linien, welche z. B.
unter dem Gewände die Muskeln des Körpers in einer Weise andeutet,
wie es selbst noch in den Werken des Nicola Pisano vermisst wird, und
vornehmlich der moderne Ausdruck der Köpfe auf Rechnung des Zeichners
zu schreiben sein; doch wird ein, für die Kunst des byzantinischen Styles
geübtes Auge sich über diese Freiheiten hinwegsetzen können und immer
noch genug des Bewunderungswürdigen vor sich sehen. Ausser den auf
der Gesammtansicht der Kanzel enthaltenen Sculpturen enthält das erste
Heft, in grösserem Maassstabe ausgeführt, die Gestalten des Abel und Cain,
und den Erlöser, von den vier Symbolen der Evangelisten umgeben; die
andren Sculpturen wird das folgende Heft mittheilen.

Der Altarschmuck, ebenfalls von Stein erbaut, besteht aus mehreren,
sich übereinander erhebenden Bögen, fast nach Art einer Triumphpforte,
wiederum reich mit Sculpturen versehen. Zu oberst erheben sich die über-
lebensgrossen Gestalten des gekreuzigten Heilandes, der Maria und des
Johannes, aus Holz geschnitzt. Die Details dieses nicht minder merkwür-
digen Gegenstandes sollen ebenfalls im zweiten Hefte vorgeführt werden.

Andrea del Sarto. . Von Alfred Reumont. Mit einem Grundriss des
Vorhofs der Servitenkirche in Florenz. Leipzig, F. A. Brockhaus. 1835.

(231 und XXVUI S. in gr. 12.)

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(Museum, 1836, No. 27.)

't

Andrea del Sarto wird unter den italienischen Künstlern, welche die
ersten Jahrzehnte des sechzehnten Jahrhunderts verherrlichten, mit Ruhm
genannt; doch gehört er nicht zu den Meistern des ersten Ranges. Er
hatte ein schönes, wohl ausgebildetes Talent, welches eine bedeutende
Anzahl anmuthsvoller Schöpfungen hervorbrachte; aber es fehlte ihm an
derjenigen Kraft des Charakters, die von dem Künstler auf sein Werk
übergehen muss, wenn letzteres einen bedeutsamen und wahrhaft nachhal-
tigen Eindruck auf das Gemüth des Beschauers hervorbringen soll. Er hat
wenigstens nur in seltenen Fällen Werke geschaffen, welche sich der höch-
sten Potenz menschlicher Würde und Hoheit annähern.

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Andrea del Sa/to. Von Alfred Reumont etc. 431

Andrea war mannigfach abhängig von äusseren Verhältnissen, die zu
überwinden er weder Luk noch Beruf in sich fühlte. Er brachte sein
Leben in der Sphäre gemeiner Bürgerlichkeit zu, deren behagliche "Ver-
gnügungen ihm über Alles gingen, und war nicht im Stande, die Sonnen-
höhe des Lebens, dahin ihn ein günstiges Schicksal erheben gewollt, zu
ertragen. Er war weder durch grosse Tugenden noch durch grosse Leiden-
schaften bewegt. Die blinde Liebe für seine Frau, die mehr als eine
Schuld auf ihn gewälzt, war nicht Leidenschaft, sondern Schwachheit: er
 i ■

war ein Kind, das am Gängelbande geleitet sein wollte. Um so interes-
santer jedoch ist es, den Kampf seines edleren, künstlerischen Dranges mit
der Misere des Alltagslebens zu beobachten. }

Das vorliegende Werk entfaltet vor uns in anschaulicher Weise das j

Bild dieses merkwürdigen Charakters, die Verhältnisse in denen er zu };

seiner Zeit stand und den bedeutenden Kreis seiner Wirksamkeit. Es ist f

mit warmer Liebe für den Gegenstand geschrieben, stellt jedoch die weniger ■

erfreulichen Partieen desselben, ohne sie ängstlich zu bemänteln, nur in
dem Lichte freundlich theilnehmender Schonung dar. Es verbreitet sich
mit anspruchloser Gemessenheit über einen der interessantesten Abschnitte
der neueren Geschichte und rechtfertigt in vollem Maasse die günstigen '

Erwartungen, welche die früheren Aufsätze des Verfassers im Tübinger
Kunstblatte den Freunden der Kunstgeschichte erregt haben.

Brauchbare Vorarbeiten fand der Verfasser vornehmlich in Vasari's
Biographie des Andrea, der als ein ergebener Schüler dieses Künstlers
voraussetzlich aufs Genauste von dessen Lebensumständen und Wirken '

unterrichtet sein konnte; doch waren auch hier, so wie in den übrigen !

Biographieen Vasari's, mannigfache Irrthümer und Versehen zu berichtigen. " |

Sodann in Biadi's Notizie inedite tVAndrea del Sarto, raccolte da manos-
critti e docwmenti autentici
(Florenz 1830), welche jedoch in-*Bezug auf
Kritik und Kenntniss der Geschichte jener Zeit ebenfalls Manches zu
wünschen lassen. Eigene historische Studien und genauere Sichtung der
bei Vasari zerstreuten Notizen auf der einen Seite, auf der andern eine
genügende Bekanntschaft mit den Werken Andrea's, dazu ein mehijähriger
Aufenthalt in Florenz erfreuliche Gelegenheit bot, machten es dem Ver- l

fasser möglich, Bedeutenderes zu leisten, als seine Vorgänger, und den
Gegenstand im Wesentlichen genügend zu erschöpfen.

So führt uns denn das vorliegende Werk vornehmlich in die engeren j

Verhältnisse eines mehr bürgerlichen Kunstbetriebes ein, was um so interes- '

santer ist, als bisher in Monographieen der Art insgemein nur die Wir-
kungskreise solcher Künstler behandelt sind, welche sich mehr an das
öffentliche Leben des Volkes und an den Glanz fürstlicher Throne ange-
schlossen haben. Wir sehen einen jungen unbemittelten Künstler vor uns,
der zuerst im engen Atelier und in Gemeinschaft mit dem Freunde (Francia
Bigio) beginnt, der anfangs für geringfügigen Lohn, mehr um sich einen
Namen als Geld zu verdienen, malt, der sodann bald unter den Mitbürgern
Achtung und Ansehen erwirbt, aber auch in späterer Zeit immer noch
diesen und jenen Auftrag annimmt, der, nach unsren Begriffen, mehr ins
Bereich des Handwerkes gehört. Wir sehen ihn nicht blos an jener höl-
zernen Dekoration, womit beim Einzüge des Papstes in Florenz (1515) die
Domfa?ade geschmückt wurde, die Reliefs malen; sondern auch die Triumph-
wagen des Johannisfestes, ja sogar das Brautbett des reichen Pierfrancesco
Borgherini mit den Erfindungen seines Pinsels auszieren. Fröhliche Gesell-

/

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432 Burifhte uud Kritiken.

Schäften mit ihren lustigen Formalitäten, wie sie die Künstler liebten,
werden uns vorgeführt, und dann wiederum die Enge des klösterlichen
Asyls, dahin sich Andrea, aus Scheu vor dem wohlverdienten Zorne des
Königs von Frankreich uud vor der Verachtung der Mitbürger, zurückge-
zogen. Gleichzeitig sehen wir die Ereignisse des öffentlichen Lebens vor
uns, welche zu jener Zeit mannigfach auch den einzelnen Bürger ergriffen,
das letzte traurige Ringen der alten, einst so glorreichen Freiheit des floren-
tinischen Staates, den Fall und die furchtbare Seitche, welche dieser über
die Stadt führte und darin der Künstler elend, verlassen von dem Weibe,
dem er liuhe und Lebensglück geopfert hatte, unterging.

Den grösseren Theil des Buches jedoch nimmt die Schilderung von
Andrea's künstlerischem Charakter und seiner einzelnen Werke ein, daran
sich zugleich sehr dankenswerthe Bemerkungen über eine Reihe minder
bedeutender Meister, die mit dem Andrea in Verbindung standen, eines
Francia Bigio, Pontormo, Puligo u. s. w. anschliessen. Indem der Verfasser
hiebei auf alles Bezügliche lebendig und mit geistvollem Verständniss ein-
geht und zugleich unparteiisch das Treffliche von dem minder Bedeutenden
sondert, erhalten wir eine erfreuliche Uebersicht von Andrea's künstlerischen
Leistungen, welche zwar insofern nicht bis zur gänzlichen Beendigung
durchzuführen war, als Werke unter dem Namen dieses Künstlers über alle
bedeutenderen Gallerieen verstreut sind und eine umfassende Kritik über
deren Werth und Aechtheit kaum unter den günstigsten Umständen mög-
lich sein dürfte; welche jedoch bei Weitem das Wichtigste in sich fasst
und um so mehr genügt, als der Wirkungskreis des Andrea eben in engere
Gränzen eingeschlossen war und seine Eigenthümlichkeit sich fast überall,
je nach den verschiedenen Stufen seiner Entwickelung, wiederholt. Zu
bedauern jedoch ist es, dass der Verfasser nicht eine sondernde Kapitel-
Eintheilung angeordnet hat, welche diese Uebersicht noch um Vieles erleich-
tert, dem Leser einige wünschenswerthe Ruhepunkte gegeben und vornehmlich
ein bequemeres Nachschlagen begünstigt haben würde. Ein sehr sorgfältig
gearbeitetes chronologisches Verzeichniss der Werke Andrea's, welches
zugleich die Kupferstecher, die die einzelnen Gemälde gestochen, und die
Orte ihres jetzigen Aufenthalts anführt, beschliesst das Buch.

Wir hoffen, dass der Verfasser sein Verdienst um die Geschichte der
Kunst nicht bei dieser einzelnen Monographie bewenden lassen, sondern
auch noch andre ähnliche Arbeiten, gestützt auf die Studien, dazu ihn sein
längerer Aufenthalt in Italien veranlasst hat, folgen lassen wird.

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Sammlung von Lithographien nach den vorzüglichsten Gemälden der König-
lichen Gallerie zu Dresden, Leipzig, im Verlage von Julius Wunder.

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(Museum, 1836, No. 27.)

Ueber das Allgemeine dieses grossartig angelegten Prachtwerkes haben
wir uns schon früher (1835, No. 48) ausgesprochen. Gegenwärtig liegt uns
die zweite Lieferung vor, in der sich ebenfalls die Trefflichkeit des
Pariser Steindrucks zeigt. Sie besteht aus folgenden Blättern:

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Sammlung von Lithographien «to. 433

La Ste. Vierge (Tapfh Holhein. (FieUger del., A. Maurin lith.).
Harmonie des Tons und geistreiche Durchfilhrung der Portraitköpfe zeichnen
dies Blatt vortheilhaft aus , wenngleich eine gewisse Trockenheit in der
Auffassung nicht geläugnet werden kann. Der erklärende Text giebt zu
diesem wie zn den folgenden Blättern mannigfach interessante Notizen;
■wir bedauern, dass die sentimental-moderne Erklärung des Bildes, die
ohne allen Grund in dem Kinde auf dem Arme der Himmelskönigin ein
verstorbenes Glied der Familie erkennt und den nackten Knaben im Vor-
grunde, den der ältere Bruder umfasst, für das Christuskind ausgiebt, in
den Text als passlich aufgenommen und ihr nicht die einfach zu Tage
liegenden Gründe, — dass dergleichen gar nicht dem Geiste jener Zeit
gemäss ist und dass wenigstens etwas so ganz Ungewöhnliches durch die
bestimmteste Symbolik bezeichnet worden wäre, — entgegengesetzt sind.

L'Atelier d'Adrien van Ostade. (Kallmeyer del, Leon Noel lith.).
Ein B;latt von vortrefflicher Wirkung. Die Lichtspiele, die das seltsam auf-
geputzte Gemach erfüllen und in mannigfachen Reflexen die Schattenpartieen
erhellen, sind hier ebenso glücklich wiedergegeben, wie die bunte Unord-
nung des Malergeräthes sich trefflich zu einem Ganzen einigt.

La Chasse au sanglier d^a2Jres P. P. Bubens. (Hauch del., lith. par
Deroy, Julien, Leon NoH.)
Die grossartig schöne landschaftliche Com-
position und das wilde Treiben der Jagd des Rubens'schen Meisterbildes
sind hier mit Glück nachgebildet; eine freie , geistreiche Technik stimmt
wohl zu dem kühnen Vortrage des Meisters.

La fuite en Egypte, d^apres Claude Gelee dit le Lorrain. (Deroy
lith.)
Auch dies Blatt giebt die Eigenthümlichkeit des Originales, jenen
wunderbaren Adel, jene Heiterkeit und Zartheit, welche Claude Lorrain
zu dem schönsten Meister im Fache der Landschaftsmalerei erheben, in
erfreulichster Weise wieder. Die Gesammtwirkung des Blattes ist eben so
trefflich, wie die Durchführung im Einzelnen liebevoll und doch zugleich
frei und fern von aller kleinlichen Aengstlichkeit.

Wir wünschen , dass das Unternehmen einen rüstigen Fortgang haben
möge.

Kunstnachrichten. — Berlin.
(Museum, 1836, No. 28.)

Nach der unlängst erfolgten Trennung der Landschaft Liestal und
der Stadt Basel in der Schweiz ist der zum Staatsvermögen des vormaligen
Gesammt-Cantons Basel gehörige Kirchenschatz, welcher zur Zeit der Kefor-
mation gesammelt und später auf dem Rathhause der letztgenannten Stadt
aufbewahrt wurde, zur Theilung gekommen. Die dabei der Landschaft
zugefallenen goldnen und silbernen Kirchengeräthschaften, zum Theil durch
historisches Interesse, zum Theil durch Alterthum oder Kunstwerth ausge-
zeichnet, sind am 23. Mai d. J. zu Liestal öffentlich versteigert worden.
Als wir (Museum, 1836, No. 7) diese Versteigerung nach den Berichten
der öffentlichen Zeitungen ankündigten, glaubten wir von derselben, auf

Kugler, Kleine Schriften. I. 28

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Rericlite iintl Kritiken.

434

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mannigfache Erfahrungen der Art gestülzt, kein sonderlicli erfreuliches
Resultat erwarten zu dürfen. „Es ist (so bemerkten wir), nach dem gemeinen
Gange der Dinge zu urtheilon, wenig Hoffnung vorhanden, dass in den
Augen der Käufer der materielle Werth dieser Denkmale durch ihre innere
Bedeutsamkeit werde übertroil'en und sie dadurch vor dem Einschmelzen
gesichert werden." — Wir freuen uns, dass unsre Prophezeihung nicht wahr
geworden ist: eine bedeutende Anzahl Kauflustiger, selbst aus den entfern-
testen Städten Deutschlands, war in Liestal zusammengekommen und die
Gegenstände sind sämmtlich beträchtlich über dem Metallwerthe bezahlt
worden, so dass die Gefahr des Einschmelzens nicht mehr zu befürchten
steht. Eine namhafte Anzahl derselben befindet sich gegenwärtig in Ber-
lin; sie wurden im Auftrage Allerhöchster und Höchster Personen durch
Hrn. Arnoldt, Hofagenten Sr. K. H. des Prinzen Carl von Preussen, Asso-
sici^ des hiesigen Handlungshauses Muhr und Arnoldt, angekauft und stan-
den bei den Herren Muhr und Arnoldt (Königsstrasse No. 14) mehrere
Tage der Besichtigung des gebildeten Publikums frei. Wir nennen die
wichtigsten dieser Geräthschaften, die zum Theil durch eine besondere
Schönheit der Arbeit ausgezeichnet sind: — 1) F]in jirächtig grosses, mit
goldnen und silbernen Platten, mit Filigran-Arbeit und vielen Edelsteinen
(darunter einige mit antiken Gravirungen) besetztes Kreuz; auf der einen
Seite, in getriebener Arbeit, das Bild des gekreuzigten Heilandes und die
Symbole der Evangelisten, auf den andern, unter Glas, Reliquien von Kaiser
Heinrich If. und seiner Gemahlin Kunigunde. Eine Arbeit sogen, byzanti-
nischen Styles, um die Zeit des Jahres 1200 verfertigt. Dazu ein mit Sil-
berblech überzogener Tragstab, für den Gebrauch des Kreuzes bei Proces-
sionen. — 2) Ein Kreuz von weissem Krystall mit messingenen vergoldeten
Beschlägen, den auf letzteren gravirten Ornamenten zufolge aus der Zeit
des Jahres 1300. — 3) Ein Crucifix von sehr eigenthümlicher Gestalt und
Ausführung: ein Untersatz, dessen Rand mit kleinen gravirten, mit Emaille
überzogenen Figuren geschmückt ist; darüber ein kleiner, tabernakelartiger
Aufsatz in den Formen der gothischen Architektur, und aus diesem drei
Zweige emporwachsend, deren mittlerer sich zu dem Crucifix mit lilien-
förmigem Schluss der Kreuz-Arme gestaltet, während die Seitenzweige zwei
klagende Engelfiguren mit bunt emaillirten Flügeln tragen. Auch die Aus-
führung dieses Werkes fällt um die Zeit des Jahres 1300, wie sich vor-
nehmlich aus der Bildung der Figuren und ihrer Gewandung schliessen
lässt. — 4) Eine hohe silberne Monstranz, ganz in der Weise der feinen
gothischen Tabernakel-Architektur des fünfzehnten Jahrhunderts, aber in
seltner Reinheit und Gesetzmässigkeit der Formen gearbeitet; mit mehreren
zierlichen Statuen, wie denen des Kaisers Theodosius, Heinrich II., des
heiligen Christoph und einigen anderen von kleinstem Verhältniss in der
Spitze; das Ganze ein Werk von merkwürdiger Anmuth und einer Lauter-
keit des architektonischen Styles, die überhaupt, vornehmlich aber bei
Geräthen der Art, in denen das Ornament gewöhnlich die überwiegende
Masse bildet, nicht häufig gefunden wird. — 5) Eine scheibenförmige
Monstranz von Silber, mit vergoldetem Laubwerk in schönen, reich gothi-
schen Formen geschmückt, ein Geschenk des Papstes Pius II. (Aeneas Syl-
vins) an die Stadt Basel vom Jahre 1455. Auf der Vorderseite der runden
Scheibe das Agnus Dei in getriebener Arbeit, darunter das Wappen des
Papstes; auf der Rückseite das knieende Bildniss des Papstes, sorgfältig
gravirt, die nackten Körpertheile silbern, Gewand und Haare vergoldet,

mumm

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Kuiistnachricliten. — Berlin. 435

eine Figur von sehr beachtenswerthem Kunstverdienste-, daneben eine
Inschrift in lateinischen Hexametern, welche die Verhältnisse des Geschenk-
gebers zu der Stadt ausspricht. — 6) Ein beinahe lebensgrosses Haupt der
heiligen Ursula aus vergoldetem Silberblech (das Weise der Augen silbern,
der Stern von dunkler Emaille), auf einem kupfernen vergoldeten, mit
durchbrochenen gofhischen Verzierungen versehenen Fusse stehend, -welches
Reliquien der genannten Heiligen entlüelt; im Style des vierzehnten Jahr-
hunderts. — 7) Ein bischöflicher Gerichtsscepter, mit Silberblech überzogen;
am Grifle, auf einer runden Platte von vergoldetem Silberblecli, die Anbe-
tung des auf den Armen der Maria gehaltenen Christkindes in getriebener
Arbeit. — 8) Eine silberne vergoldete Krone, anscheinend ohne sonderlichen
Werth, merkwürdig jedoch durch den Umstand, dass die Kaiserin Anna,
Gemahlin des Kaisers Rudolph von Habsburg, dieselbe auf ihrem Parade-
bette getragen hat. — 9) Zwei kleine bischöfliche Kreuze von vergoldetem
Silber mit gravirten Zeiclinungen. Ferner einige alterthümlichc Schmuck-
sachen, Trinkgefässe, Waffen u, dergl, m.

Andre Gegenstände der Liestaler Versteigerung sind nach andren Orten
gegangen, einiges Wenige ist von Privatpersonen in Basel gekauft worden.
Unter letzteren das berühmte, aus Dukatenblech getriebene Altarblatt mit
den kleinen Brustbildern des Kaisers Heinrich II. und der Kunigunde,
welches aus dem elften Jalirhunderte herrühren soll.

Wir benutzen diese Gelegenheit, um auf das vorzügliche Lager von
altertliümlichen Gegenständen, welches sich in der Wohnung der Hrn.
Muhr und Arnoldt zu Berlin vorfindet, mit wenigen Worten aufmerksam
zu machen. Ausser der ausgedehnten Sammlung von Waffen, Rüstungen,
Trinkgefässen, Geräthen mannigfachster Art sind hier namentlich einige
Malerwerke von grosser Bedeutung anzuführen. Unter diesen zeichnen sich
vier Tafeln aus der spätem Zeit der alten niederländischen Schule (d. h.
aus der Zeit des Schoreel) durch Würde und Anmutli der auf ihnen ent-
haltenen heiligen Gestalten, sowie durch die energische Färbung vortheilhaft
aus. Am Interessantesten jedoch ist ein Carton von Albrecht Dürer,
5 Fuss 8 Zoll hoch und über 4 Fuss breit, ein in seiner Art einziges Werk.
Er stellt den gekreuzigten Heiland dar, vier Engel, welche das Blut seiner
Wunden in Kelchen auffangen, und Maria und Johannes, zu den Seiten
des Kreuzes stehend. Leider hat das Werk gelitten, — in einer Weise,
die freilich nicht selten bei grösseren Handzeichnungen Dürer's zu bedauern
ist. Der Grund muss sehr beschädigt worden sein, so dass die Figuren
von einer späteren Hand aus demselben herausgeschnitten und auf ein
andres grundirtes Papier aufgeklebt sind; doch sind die Contoure, bis auf
einzelne geringe Ausnahmen, dabei nicht sonderlich gefährdet worden.
Mehr zu beklagen ist, dass auch einzelne Theile der Zeichnung selbst
beträchtlich gelitten haben, so dass eine Erneuerung derselben in späterer
Zeit nöthig geworden war, wie dies z. B. bei der ganzen unteren Hälfte
der Maria der Fall ist. Gleichwohl wollen alle diese einzelnen, durch die
Zeit herbeigeführten Mängel in Betracht dessen,
Avas wirklich und rein
erhalten ist, nicht so gar sonderlich viel bedeuten. Hier erkennt man
überall, deutlich und unverfälscht, die eigne freie Hand des Meisters, die
Eigenthümlichkeit seiner Linienführung, besonders in den Schraffirungen,
die besondere Weise seiner Formenbildung, sowie den Adel und die Gross-
artigkeit in der Conception des Ganzen. Die Gestalt des Johannes gehört,
voruelimlich was die grossartig geordnete Gewandung betriflTt, zu den vor-

-ocr page 448-

45t) Berichte und Kritiken.

zöglichsten Figuren von Dürer's Hand. Eine Handzeichnung dieses Mei-
sters von ähnlich bedeutender Dimension ist dem Referenten nicht bekannt;
das in Rede stehende Werli, dessen Originalität allgemein anerkannt ist,
würde jedem Kabinette zur besondern Zierde gereichen.

Ueber das neuerworbene Gemälde des Andrea del Sarto im Königlichen

Museum zu Berlin.

I

(Museum, 1836, No. 29.)

Die bedeutenden Fonds, welche durch die Gnade Sr. Majestät des
Königs den Königl. Mtiseen von Berlin zur fortgesetzten Vermehrung und
Bereicherung überwiesen worden sind, lassen uns mit der Zeit eine genü-
[ ■ji gende Vervollständigung dieser, in historischer Rücksiclit bereits so Interes-

I I santen und belehrenden Sammlungen erwarten. Eine namhafte Anzahl

5; i meist sehr bedeutender Werke ist in den wenigen Jahren, die seit der

js i Eröffnung des Museums verflossen sind, erworben und vornehmlich die

Ö'" ^ Gemälde-Gallerie , welche an Meisterwerken ersten Ranges ursprünglich

^^ Manches zu wünschen übrig Hess, mit einer Reihe vorzüglich werthvoller

Ja' Stücke bereichert worden. Unter den, in der neuesten Zeit angekauften,

''P Gemälden ist als das bedeutendste ein grosses Altargemälde von Andrea

I del Sarto zu erwähnen, welches eine der Lücken dieser Sammlung in

i| erfreulichster Weise ausfüllt. Zw'ar besass die Gemälde-Gallerie bereits

I früher einige , in ihrer Art ebenfalls treffliche Tafeln dieses Meisters, ein

Paar grau in grau gemalte Skizzen (unter denen besonders die eine, die
Darstellung einer heiteren Gesellschaft, mit Spiel und Tanz beschäftigt,
sich durch die reizvollste Anmuth auszeichnet) und ein sehr tüchtiges,
alla prima gemaltes Portrait, die Gemahlin des Künstlers, Lucrezia del
* i Fede, darstellend; doch konnten diese natürlich, ihrer Beschaffenheit nach,

I : nicht genügen, um die Stelle zu bezeichnen, welche Andrea im Gange der

." ; italienischen Kunstentwickelung einnimmt. Freilich ist hier zu bemerken,

i ; dass zur Bezeichnung dieser Stelle die Gallerieen überhaupt und fast ohne

I I Ausnahme nur Belege für Andrea's spätere Ausbildung enthalten können;

dass Stafl'eleibilder seiner früheren Zeit höchst selten sind; dass man aber,
um das Talent und die Bedeutsamkeit dieses Künstlers genügend zu wür-
digen, nothwendig auf seine früheren Arbeiten Rücksicht nehmen muss.
Zeigt sich nämlich in seinen späteren Werken eine eigenthümlich ausge-
bildete, freie und meisterhafte Technik, vornehmlich in der Behandlung
der Farbe, so vermisst man dagegen bei diesen nicht selten den Ausdruck
der Seele, überhaupt eines lebendigen, dem Beschauer sich mittheilenden
Gefühles, — dessen Dasein gerade einen wesentlichen und höchst schätz-
baren Vorzug seiner Jugendwerke, wie jener edlen und anspruchlosen
Fresken im Vorhofe von SS. Annunziata zu Florenz, jenes holden, tief
gemüthvollen Bildes der Verkündigung im Palaste Pitti (Stanza di Giove,
No. 124, — ursprünglich für die Klosterkirche S. Gallo bei Florenz gemalt
und nachmals in S. Jacopo tra' Fossi aufbewahrt), bildet.

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lieber das neuerworbeue Gemälde des Andrea del Sartö etc. 437

Das neuerworbene Gemälde des K. Museums zu Berlin, welches eine,
von Heiligen" umgebene Madonna darstellt, ist mit der Jalirzahl 1528 bezeich-
net; es ist demnach zwei Jahre vor dem Tode Andrea's, in seinem vier-
zigsten Lebensjahre, gemalt und gehört der spätesten Zeit des Meisters an;
doch ist es seinen vorzüglicheren Leistungen dieser Periode zuzuzählen.
Schon Vasari, in der Lebensbeschreibung des Andrea, giebt über das Bild
eine kurze Notiz, indem er sagt: „Nach diesem Gemälde (einem Altarblatte
für das Kloster Vallombrosa) trug ihm Giuliano Scala auf, um es nach
Serrezzana (Sarzana) zu schicken, in einer Tafel eine Madonna zu malen,
sitzend, mit dem Kinde an der Brust, und zwei Halbfiguren von den Knieen
aufwärts: S. Celsus und S. Julia, (sodann:) S. Onuphrius, S. Catharina, S.
Benedictus, S, Antonius von Padua, S. Petrus und S. Marcus; welche
Tafel den übrigen Werken Andrea's gleich geschätzt wurde." Später
gedenkt Lanzi desselben in seiner Geschichte der italienischen Malerei mit
folgenden Worten: „Andrea verfertigte eine grosse Anzahl von Bildern, so
dass er auch ausserhalb seines Vaterlandes sehr bekannt ist. Das beste
Stück, welches die Auswärtigen besitzen, ist vielleicht jene Tafel, welche
aus der Dominikanerkirche von Sarzana in einen Palast von Genua (den
der Familie Mori) überging; zu Sarzana findet man eine sehr vorzügliche
Kopie desselben. Es ist im Geschmacke des Fra Bartolommeo componirt;
und ausser den Heiligen, welche auf den Stufen zu den Seiten der Madonna
angeordnet sind, vier stehend und zwei knieend, befinden sich im Vorder-
grund des Bildes noch zwei sehr grosse Figuren, die wie auf einem tiefer
liegenden Grunde dargestellt sind, indem man sie nur bis zu den Knieen
sieht. Ich weiss, dass eine solche Anordnung von den Kritikern getadelt
wird; gleichwohl begünstigt sie hier, eine solche Anzahl von Figuren auf
verschiedene Weise zu gruppiren und einen grösseren Abstand zwischen
den näheren und den ferneren hervorzubringen, so dass der Schauplatz sich
auszudehnen scheint und jede Figur genügenden Spielraum gewinnt." —
Zur Zeit der französischen Revolution kam das Bild in den Besitz eines
englischen Gemälde-Sammlers, Champernown, nachmals in die Hände des
bekannten Kunstfreundes und Gemäldehändlers Delahante zu Paris. Nach-
dem es sodann die Gallerieen Lap^riere und Laffitte zu Paris geschmückt
hatte und letztere vor einigen Jahren verstreut worden war, hat es an
seiner gegenwärtigen Stelle einen Ruhepunkt, hofl'entlich für lange Zeit,
gefunden.

Das Gemälde ist im Wesentlichen sehr wohl erhalten und lässt überall
die freie, leichte und geistreiche Führung des Pinsels erkennen. Dies ist
ein um so grösserer Vorzug, als zunächst in dieser Technik des Pinsels der
Hauptwerth des Bildes besteht. Es ist, bei jenen eigenthümlichen silber-
grauen Tönen der Carnation, die man stets auf Andrea's Bildern bemerkt,
zugleich eine ausserordentliche Kraft und Energie des Colorits darin, eine
schöne Harmonie des Ganzen bei mannigfach wechselnden, glühend gefärb-
ten Gewändern, vor Allem aber, — und was diesem Bilde vielleicht einen
Vorzug vor allen übrigen grösseren Werken Andrea's giebt, — ein klares,
durchsichtiges Helldunkel, ein zartes, ätherisches Spiel der die Gestalten
umfliessenden Luft, dass das Werk in dieser Hinsicht einer der schönsten
Kigenthüralichkeiten Correggio's theilhaftig wird. Die Gesammtwirkung des-

Diese Angabe ist bei Lanzi und Vasari unrichtig: man eicht die beiden
Figuren nur als Brustbilder.

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BS

438 Berichte, und Kritiken.

selben auf den Sinn des Beschauers ist demnach sehr bedeutend; sie wird
durch die würdige Anordnung in den wichtigsten Theilen der Coinposition
noch mehr gehoben. Vornehmlich sind die beiden Gruppen von je drei
Heiligen zu den Seiten der Madonna in Rücksicht auf ihre grossartig ruhige
Gesammtauordnung, auf die Leichtigkeit, mit welcher diese Figuren im
engen Räume bequem neben einander stehen, rühmlich zu erwähnen; diese
Anordnung bildet das schönste Mittelglied zwischen jener alterthümlich
feierlichen, aber steifen Aufstellung der Figuren und der spateren Weise,
welche die Ruhe des Ganzen und die Symmetrie aufzuheben beginnt. So
zeichnen sich auch die einzelnen dieser Gestalten, bei mannigfach verschie-
dener Haltung und Geberde, in einer schönen, der statuarischen Gemessen-
il heit verwandten Weise, — namentlich die beiden Mittelfiguren dieser Grup-
!• pen, Benedict und Antonius, beide in feierlichen weissen Mönchsgewändern,

und Catharina, welche zur Rechten kniet. So ist ebenfalls die Gewandung
I an ihnen in schöner Stylisirung behandelt, während man sonst bei Andrea's

I späteren Werken nicht selten (auch hier in der Halbfigur des heiligen

I Celsus) eine flacliere , mehr Avillkührliche Manier in diesem Theile der

[l künstlerischen Technik bemerkt. Doch treten bereits in der Composition

i I des Ganzen einige minder ansprechende Motive entgegen. Zunächst in

? j Bezug auf die Madonna. Zwischen den beiden genannten Gruppen, vor

|. il einer nischenförmigen Architektur, schwebt sie, sitzend, von einem Wölk-

i ? chen und zwei kleineu Cherubimköpfen getragen, in der Luft. Diese

Anordnung erweckt in dem Beschauer ein doppelt unbehagliches Gefühl;
! man begreift nicht, wie diese volle kräftige Gestalt, die in fester Stellung

sitzt und nichts von dem Charakter eines schwebenden Wesens hat, sich
' I auf jenem dünnen Wölkclien hallen könne, und man findet zugleich den

j t Raum zwischen den beiden Heiligengruppen zu beengt, als dass eine schwe-

I I bende Gestalt sich darin ohne Unbequemlichkeit bewegen könnte. Eine

t P solche Befangenheit in der Anordnung desjenigen Theiles heiliger Gompo-

I t sitionen, der der Intention nach gerade die grossartigste Wirkung machen

ft sollte, findet sich übrigens auch noch anderweitig bei Andrea del Sarto

t« j (auch bei Fra Bartolommeo, — und darauf scheint sich zum Theil Lanzi's

,'v' • oben mitgetheilte Vergleichung zu beziehen), wie namentlich in seiner

Madonna di San Francesco, in der Tribüne zu Florenz, wo die Madonna
auf einem kleinen Altärchen steht und, zumal bei der lebhaften Bewegung
des Kindes, sehr für die Siclierheit ihrer Stellung fürchten lässt. Bei unserem
Bilde ist diese Anordnung um so befremdlicher, als sie mit den ruhigen
Seitengruppen so bedeutend contrastirt. Dann möchte ich auch die Hinzu-
fägung der colossalen Halbfiguren im Vorgrunde, vor den Stufen, darauf
die übrigen Heiligen stehen, nicht gerade rühmen. Sie sind äusserlich
hinzugekommen, erwecken das unbehagliche Gefühl eiiu^s mangelhaften
Abschlusses und zeigen die Absichtlichkeit, jenen von Lanzi erwähnten
tl^ffekt hervorbringen zu wollen,
jij / Soviel über die Composition und das Aeussere des Bildes. Betrachten

wir nun, wie es sich mit dem mehr Innerlichen desselben, mit dem Cha-
rakter und dem Ausdruck der dargestellten Figuren (sofern sich diese
beiden Eigenschaften bei ruhigen, ohne besondere Handlung zusammenge-
stellten Figuren scheiden lassen) verhält. In Bezug auf charakteristische
Darstellung finden wir in diesem Bilde einige vorzügliche und gewiss auch
nicht zu häufig vorkommende Schönheiten, vornehmlich in den, zur Linken
des Beschauers befindlichen drei Heiligen. Petrus, im Hintergrunde, zeigt

1

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Ueber das ueuerworbene Gemälde des Andrea del Sarto etc. 439

einen Kopf voll strengen feurigen Ernstes, Benedict höchste', feierliche
Würde und Milde; Onuphrius, der im Yorgrunde kniet, ist eine sehr
eigenthümliche Erscheinung. Er ist, seinem phantastischen Einsiedlerleben
gemäss, nackt dargestellt, mit einem Blätterkranze umgürtet; die strengen
ascetischen Formen des Körpers, der zur Madonna emporgewandte Kopf,
die wirr herniederhängenden grauen Locken, alles dies bildet eine sehr
anziehende Persönlichkeit, die um so ergreifender wirkt, als hier Alles
mit höchster Meisterschaft gemalt ist. Anders verhält es sich bei den
anderen Figuren. Antonius, auf der rechten Seite, steht zwar in lebeu-
voller Geberde da, aber sein Gesicht ist ohne den Ausdruck des innerlichen
Affektes, den zu erwarten man gerade bei der Darstellung dieses Heiligen
berechtigt sein dürfte. Catharina, welche dem Onuphrius entsprechend im
Vorgrunde kniet und deren Stellung eine demüthige Hingebung anzudeuten
scheint, ist im Ausdrucke ziemlich gleichgültig und nüchtern. Die Madonna
ebenso, wennschon ihr Gesicht in edlen Zügen gezeichnet ist. Das Christ-
kind, das in lebhafter Bewegung die Mutter umfasst, ist sogar von einer
uuangenehmen Nüchternheit des Ausdruckes und überdiess von kalter
trockner Färbung. Die Halbfigur des heiligen Gelsus, die sich überhaupt
in der ganzen Zeichnung nicht angenehm macht, lässt den Beschauer kalt;
die der heiligen Julia dagegen spricht durch eine lebendige Naivetät des
Ausdruckes an, obgleich gerade hier das Charakteristische in den Zügen
ihres Gesichts (in deren Motiven man Andreas stetes Vorbild, seine Gemah-
lin Lucrezia, wiedererkennt) eines gewissen liöheren Adels entbehrt.

Ich sehe mich hier, um nicht missverstanden zu werden, zu einer
Bemerkung über jene Anforderung au den Ausdruck in diesen Gestalten
veranlasst. Es wäre unbillig, überall in den Köpfen heiliger Figuren beson-
dere religiöse Empfindungen, ein vorzugsweise geheiligtes Gemüthsleben
dargestellt zu verlangen: bei dem Mangel eines solchen trägt minder der ■
Künstler die Schuld, als seine Zeit, welche ihn mit Aufträgen, die seiner
Eigenthümlichkeit vielleicht nicht ganz angemessen waren, beschäftigte. Zu
jener Zeit wurden eben vorzugsAveise Gemälde für kirchliche Zwecke ver-
langt und es steht a priori schon nicht zu erwarten, dass alle Maler solcher
Kirchenbilder vorzugsweise eine kirchlich religiöse Hichtung gehabt haben
sollten. Im Gegentheil ist diese Richtung die ganze Zeit der katholischen
Malerei hindurch sogar selten, und Maler wie Fiesole und Perugino, bei
denen sich dieselbe mit Entschiedenheit zeigt, stehen ziemlich vereinzelt
da; ja, in ihren Werken tritt diese Richtung wiederum einseitig hervor,
und jener Ausdruck eines männlichen, im Kampf mit dem Leben errungenen
religiösen Bewustseins findet noch seltner im Bilde sein entsprechendes
Gepräge, wie auch nur wenige unter den Werken, die aus Raphael's Atelier
hervorgegangen sind, ein solches tragen. Um billig zu urtheilen, müssen
wir demnach im Allgemeinen nicht sowohl nach dem kirchlich erbau-
lichen Eindruck dieser Altargemälde, nicht nach dem orthodoxen Sinne
des Malers, nach dem Ausdrucke der Heiligung in seinen heiligen Gestalten
fragen, sondern nur danach, ob überhaupt ein scelenhaftes Element, ob
Geist und Gemüth in ihnen lebt, ob die Fähigkeit zur Begeisterung aus
ihnen spricht, ob sie uns als würdige Repräsentanten der Menschheit gegen-
über stehen. In solchem Belange hat der grössere Theil z. B. von Masac-
cio's, ton Tizians, von Rubens kirchlichen Werken u. a. m. einen sehr
hohen Werth, und wir werden uns vor ihnen stets, wenn auch nicht in
speziell kirchlicher, so doch in allgemein menschlicher Weise erbaut finden.

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!., ;V; 440 Berichte uud Kritiken.

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Ja, ich möchte noch weiter gelieii. Wir finden zuweileu kirchliche Werke,
in denen das Heilige nicht bloss unberücksichtigt gelassen, sondern sogar
das entschieden Unheilige statt dessen untergeschoben ist. Aber auch hier
'I müssen wir die Eigenthümlichkeit des Künstlers berücksichtigen. Es giebt

" Künstler, welche einen entscliiedenen Hang zur Darstellung des Gemeinen

und Hässlichen haben, darin sie aber alle Elemente der Leidenschaft, der
Kraft, selbst einer eigenthümlichen, aus einer besonderen Stimmung des
Gemüthes hervorgegangenen Grossartigkeit zu entwickeln und somit auf den
Beschauer einen zwar nicht erbaulichen, aber häufig sehr mächtigen und
ergreifenden Eindruck hervorzubringen wissen. Solchen Werken gegenüber
wird der vorurtheilslose Beschauer sich nicht durch den unpassenden Titel
zu einem einseitigen Urtheile verleiten lassen. Wenn uns Caravaggio
das feierliche Leichenbegängniss eines Banditen-Hauptmanns unter dem
Namen einer Grablegung Christi (ich meine das Bild in der Gallerie des
Vatikans), wenn uns Rembrand liederliches Bauerngesindel in einer ver-
fallenen räucherigen Hütte unter dem Namen einer heiligen Familie vorführt,
so sind das freilich arge MissgriiTe in der Benennung dieser Bilder; gleich-
wohl müssen wir auch hier die Fülle des Lebens, den Geist der Darstel-
[, ^ I lung, die künstlerische Poesie, — den eigenthümlichen Ausdruck bewundern.

Und eben dies, für eine wahrhaft ergreifende künstlerische Darstellung noth-
wendige Element des Ausdruckes, des geistigen Lebens ist es, was ich
f i'i häufig in den Bildern aus Andrea del Sarto's späterer Zeit, zum Theil auch,

||' wie bemerkt, in dem besprochenen Werke, vermisse. Jedenfalls aber, und

.4 besonders in Rücksicht auf die oben angeführten Vorzüge dieses Gemäldes,

ist dasselbe als eine der erfreulichsten Bereicherungen der Gemäldegallerie
^ - zu bezeichnen.

15

Ueber die Sammlung der germanisch-slawischen Altertliünier zu Berlin.

I (Museum, 1836, No. 30.)

( (

Während die Gemälde-Gallerie des K. Museums zu Berlin, die daselbst
befindlichen Sammlungen der antiken und modernen Sculptnren, der Majo-
liken und Glasmalereien, der antiken Vasen und Gemmen bereits durch
ausführliche Kataloge erläutert, einer zweckmässigen Benutzung von Seiten
des Publikums freigestellt und ihrem hohen, zum Theil unvergleiclilichen
Werthe gemäss gewürdigt und anerkannt sind, steht Aehnliches bei anderen,
nicht minder werthvollen und belehrenden Sammlungen dieses vielseitig
ausgedehnten Jnstitutes noch zu erwarten. Auch hier wird, was bei jenen
bereits vollendet ist, an der Aufstellung und Anordnung, an Katalogisirung
und historisch-kritischer Forschung unausgesetzt gearbeitet, um auch diese
Theile nicht bloss für eine oberflächliche Besichtigung auszulegen, sondern
dem gesammten gebildeten Publikum bei einer solchen zugleich den nöthigen
Maassstab des Urtheiles an die Hand zu geben. Die antiken Bronzen,
Gläser und Terracotten, die Münzen und Medaillen, die Handzeichnungen,
Kupferstiche und Holzschnitte, die merkwürdigen Schnitzwerke in Holz,
Elfenbein, Speckstein, welche sich in der Kunstkammer befinden, sowie

Ii

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rfrnrnrnm^mmmmmm

Ueber die Sammlung der germaniscL-slawischeii Alterthümer zu Berlin. 441

die eben daselbst vorhandenen modernen Werke in Glas , edlen Metallen
u. 8. w. sammt den Arbeiten asiatischer, australischer und^ amerikanischer
Völker, die ägyptischen und die germanisch-slawischen Alterthümer, alle
diese und andre Gegenstände, bei denen zum Theil der Besuch des Publi-
kums noch gar nicht gestattet werden kann, sind in einem lleichthum und
einer Vollständigkeit vorhanden, deren sich gewiss wenig andre Orte rühmen
dürfen, und die, in Verbindung mit den oben genannten, in der Weise,
wie eins durch das andre ergänzt wird, eins in verwandtschaftliche Bezie-
hungen zu dem andern tritt, einen höchst grossartigen Ueberblick über den
gesammten Kunstbetrieb, so weit die Geschichte uns Denkmale der Art aus
den verschiedensten Culturstufen hinterlassen hat, gewähren. — Wir haben
die Absicht, im Folgenden nur einige Notizen über die Sammlung der
germanisch-slawischen Alterthümer, — eine der wichtigsten in ihrer Art —
mitzutheilen, deren Aufstellung beendet ist und deren Eröffnung für das
Publikum in Kurzem, sobald der öffentliche Katalog gedruckt sein wird,
bevorsteht.

Die Gegenstände dieser Sammlung füllen einen Saal des Garten-Pavil-
lons von Monbijou (woselbst sich auch die ägyptischen Alterthümer befin-
den). Sie sind wenig in die Augen fallend; bei flüchtigem Durchgehen
dürfte der Laie wohl den Saal verlassen, ohne eine Ahnung von der Bedeut-
samkeit dessen, was er gesellen, mit nach Hause zu nehmen. Eine Reihe
von Thongefässen, welche nicht, wie jene des eiassischen Alterthums, durch
bildnerischen Schmuck ausgezeichnet sind, allerlei unscheinbares Geräth,
für das Bedürfniss des Lebens oder für den Schmuck der Kleidung gear-
beitet, — was ist denn da, so möchte man fragen, Wichtiges und Grosses
zu erkennen, worin denn liegt ihre Wirkung auf den Sinn und auf das
Gemüth des Beschauers verborgen? — Zunächst freilich und im Allgemeinen
weniger in ihrer künstlerischen Form und Vollendung, als vornehmlich in ,
ihrem Vorhandensein überhaupt; in der Weise wie sie uns als geschicht-
liche Zeugnisse einer untergegangenen Welt entgegentreten; wie sie uns in
stummer und doch deutlich vernehmbarer Sprache von dem Leben der
Völker erzählen, deren die geschriebene Geschichte nur in einzelnen frag-
mentarischen Aeusserungen gedenkt; wie sie sichere Schlüsse in Bezug auf
den Culturzustand, auf die Blüthe und Macht der einheimischen Nationen,
auf ihre ausgebreiteten Verbindungen mit fernen Völkerschaften gewähren,
die, jemehr wir in unsern Combinationeii vorschreiten, jemehr wir uns aus
den einzelnen festen Punkten ein Bild des Ganzen zusammenstellen, in der
That unser höchstes Erstaunen erwecken. Wie die fossilen Ueberreste
antediluvianischer Thierarten den Naturforscher in die Urzeit der Welt, in
die frühesten Tage der Schöpfung zurückführen, so treten uns hier aus dem
Boden, über den wir täglich hinwandeln, die Denkmale mannigfacher Thä-
tigkeit eines jugendlichen Menschengeschlechtes entgegen, die dem Historiker
das Dunkel der Urgeschichte erleuchten helfen und dem Nachfolger jener
verschollenen Geschlechter, der dieselben Fluren bewohnt, welche die
Spuren ihres Lebens und ihres Todes bewahren, zu gar mannigfachen
Gedanken Anlass geben. Aller Orten, meist nur wenige Fuss unter der
Oberfläche der Erde, stossen wir auf die Grabstätten unsrer Vorfahren,
welche die Lieblingsgegenstände ihres Lebens mit sich genommen hatten
und uns dieselben nun, gleich einem Gruss ans fernen Jahrtausenden her,
darbieten. Und sollte sich unsrer nicht bei solchem Grusse ein seltsam
feierliches Gefühl bemächtigen? Wird es uns nicht, wenn diese vergessene

a

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2 BericLte und Kritiken.

Welt unter unsreii Füssen ans Licht tritt, zu Muthe, wie der Kaiserstadt
Rom, deren Bewohner (nach den Worten des Kirchenvaters) erbebeten, als
die unzählbaren Schaaren der Christen aus den Katakomben hervorgingen
uud ein zweites Rom, welches unter den Füssen des ersten verborgen
gewesen war, sichtbar wurde?

Doch nicht allein in den allgemeinen geschichtlichen und vaterländi-
schen Beziehungen, auch in Rücksicht auf den Entwickelungsgang der Kunst
an sich sind die Gegenstände dieser Sammlung von bedeutendem Interesse.
Sie gewähren uns, mit grösserer oder geringerer Vollständigkeit, einen
Ueberblick über eine der ersten künstlerischen Entwickelungsstufen, die in
sich jedoch ziemlich geschlossen und vollendet erscheint, und deren Aehn-
liches bei den Völkern des classischen Alterthums nur im geringsten Maasse
erhalten ist. Die Technik, d. h. die Art und Weise der Bearbeitung der
vorhandenen Stoffe, und der Formensinn, der sich in diesen Gegenständen
ankündigt, beschäftigen den Beobachter in gleicher Weise. In den Thon-
gefässen der mannigfaltigsten Form, die für alle Bedürfnisse des Lebens
gearbeitet und — vielleicht Aveil der ehemalige Besitzer auf das Einzelne
einen besonderen Werth legte — mit der Asche des Verstorbenen in die
Erde versenkt sind, zeigt sich beides in gleich bedeutender eigenthümlicher
Vollendung. Die äusserste, gewiss höchst seltne Geschicklichkeit der Hand
erkennt man in allen Gefässen, die in Gegenden, wo kein römischer Ein-
fluss Statt fand, gearbeitet worden sind, indem diese sämmtlich ohne Bei-
hülfe der Drehscheibe (wie sich nach genauer Untersuchung ergiebt) verfer-
tigt und gar häufig in überraschender Eleganz ausgeführt sind. Jene schönen
Gefässe, namentlich von glänzender schwarzer J5rde, deren Mehrzahl in
den Gegenden der Altmark ausgegraben ist, stehen auf keine Weise den
geschmackvollsten der altetruskischen Vasen von Chiusi u. a. 0. nach, und
zeigen eine Feinheit und einen zarten Schwung des Profiles, der das beste
Zeugnis« eines regen künstlerischen Sinnes giebt. In den Ornamenten frei-
lich, die einfach aus verschiedenartig punktirten und eingepressten Linien
und Streifen bestehen, erkennt man hier noch die vollkommen kindliche
Stufe der Kunst. — Aehnlich auch verhält es sich mit den mannigfachen
Bronzearbeiten, die, wie sich aus sicheren Schlüssen ergiebt, ebenfalls im
Lande gearbeitet sein müssen und nicht minder eine grosse Sicherheit in
der Behandlung des Erzes erkennen lassen. Ein ganz eigenthümlicher
Fonnensinn, der zwar wiederum die einfachsten Motive der Gestaltung
wählt, dieselben aber mit künstlerischem Gefühle anwendet und in grossem
Reichthume combinirt, spricht sich in den Verzierungen dieser Gegenstände
aus, in den mannigfachen Spiralen, welche die Arm- und Fingerringe zu
einem in die Augen fallenden Schmucke erheben, in den bunten, verschie-
denartigen Bildungen, in welchen die Fibeln, die die Ge^vande zusammen-
hielten, die Nadeln und andre Gegenstände des Schmuckes für Menschen
und Pferde erscheinen, ü. dgl. m.

Wir erwähnten oben, dass die hiesige Sammlung der germanisch-sla-
wischen Alterthümer eine der wichtigsten in ihrer Art sei: — vielleicht
wird sie von keiner andern übertroffen. Schon die Anzahl der vorhandenen
Gegenstände beweist den Werth derselben: es sind im Ganzen beträchtlich
über 3000 Nummern, — nahe an 2000 Thongefasse und über 1300 Arbeiten
in Metall, Stein u. s. w. So bietet auch eine jede Classe, in welche der
Gesaramtvorrath zerfällt, eine zahlreiche Folge von Gegenständen, tind im
Einzelnen findet sich wiederum höchst Wcrthvolles, in technischer so wie

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lieber die Sammlung der germanisch-slawischen Alterthümer zu Berlin. 443

in materieller Beziehung, Die Aufstellung der Sammlung, welche man dem ?

gegenwärtigen Direktor derselben, Hrn. von Ledebur, verdankt, ist in
zweckmässigster, übersichtlichster Weise angeordnet, so dass überall das ^

Gleichartige zusammensteht und die Uebergänge von dem einen zum andern
von selbst in die Augen fallen. Früher zwar galt, bei Sammlungen der %

Art, die Meinung, dass dieselben nicht nach den Gegenständen, sondern
nach den Fundorten zu ordnen seien, indem man voraussetzte, dass sich in
solcher Weise charakteristische Verschiedenheiten je nach den einzelnen
Landschaften und Völkersitzen ergeben müssten. Doch hat sich diese Vor-
aussetzung bei den ausgedehnteren Forschungen der GegenAvart nicht bestä-
tigt; im Gegentheil findet sich Gleichartiges in den entferntesten Gegenden
und mannigfach Verschiedenes in der engsten Nachbarschaft, oft in derselben
Grabstätte Durch die Anordnung nach den Gegenständen erwächst zugleich
der grosse Vortheil, dass man auch diejenigen Dinge, deren Fundort unbe-
kannt und nicht mehr zu ermitteln ist (deren eine jede, seit längerer Zeit
bestellende Sammlung der Art, durch die verschiedensten Umstände, stets
eine bedeutende Anzahl enthält), au passlicher und für die Uebersicht des
Ganzen erspriesslicher Stelle unterbringen kann.

So ordnet sich denn die hiesige Sammlung in folgender Weise. Zuerst
die grosse Masse der Thongefässe, nach ihren verschiedenen Eigenthümlich-
keiten zusammengestellt, beginnend mit den interessanten Gefässen von
schwarzer Erde (unter denen ein Paar durch Grösse und Trefflichkeit der
Arbeit einzig in ihrer Art sind), dann die übrigen acht nationalen, an
welche sich endlich diejenigen anschliessen, die, meist den Rheinpro-
vinzen angehörig, den Einfluss römischer Technik zeigen. Mehrere sehr
interessante Gefässe aus Bronze. Die Arbeiten in Gold und Silber, welche
aus der Fremde eingeführt sind und entschiedene Bestätigungen ftfr den
ausgebreiteten Handel der Ostseeländer mit dem Orient gewähren: massive
gewundene Silberdrähte (als Aequivalent für die ausgeführten Dinge, vor-
nehmlich Bernstein); dicke massive Goldringe von bedeutendster Dimen-
sion; andre Ringe; mannigfaches Schmuckgeräth (darunter namentlich ein
goldnes, mit Emaillirung versehenes Gehänge, dessen Hauptschmuck'eine
kunstreich gearbeitete Sphära bildet, zu bemerken ist) u. dergl, m., —
Gegenstände, die, in Rücksicht auf die gleichzeitig in den Grabstätten gefun-
denen, zahlreichen Gold- und Silbermünzen, von einem ausserordentlichen
Reichthum der Urbewohner unsrer Heimat Kunde geben. Bronzegeräthe
der mannigfachsten Art, zum Tlieil mit der feinsten Patina bedeckt: Ringe
für den Kopf, Hals, Arm, Finger, das Ohr; Fibeln und Hefteln; Nadeln;
andre Verzierungen, vielleicht für das Geschirr der Pferde, u, s. w. Bronzene
Waffen, unter denen namentlich eine reiche Folge jener meisselartigen
Instrumente hervorzuheben ist. Alle Gegenstände der Bronze auch in dem
minder edlen Materiale des Eisens wiederholt, zum grössten Theile zwar
stark, oft bis zur Unkenntlichkeit, oxydirt; in einzelnen Fällen jedoch, wo
der Gegenstand durch Asche oder durch Moor vor dem Verrosten geschützt

') Wir verweisen, zur Bestätigung des oben Gesagten, namentlich auf den
.,Generalbericht über Aufgrabnngen in der Umgegend von Salzwedel vom Pro-
fessor Danueil zu Salzwedel." (S. Neue Mittheilungen aus dem Gebiet histo-
risch-antiquarischer Forschungen etc., herausg. von Dr. K, E, Forst e mann , *

Bd. II, 1836, S. 544—584), welcher die Resultate des gegenwärtigen Standes
dieser Wissenschaft enthält.

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444 Berichte uüd Kritiken.

war, sehr wohl erhalten. Instrumente aus Stein , oft durch kunstreiche
Bearbeitung spröder Stoffe sehr merkwürdig, deren bedeutendste Anzahl aus
steinernen Keilen, durchbohrten und undurchbohrten, besteht. U. s. w.

Endlich noch ein merkwürdiges in Kupfer getriebenes Relief, eine
kolossale menschliche Halbfigur ohne Arme, das Gesicht mit einem flam-
menden Strahlenkranze umgeben, darstellend. Dasselbe stammt aus dem
Kloster Colbaz in Hinterpommern, galt, seit es im Jahre 1745 nach Berlin
gebracht wurde, für ein heidnisches (wendisches) Sonnenbild und hat erst
neuere Alterthumsforscher zu Zweifeln über sein angebliches Alter veran-
lasst, Doch ist von Hrn. v. Ledebur bereits vor einigen Jahren die Wahr-
scheinlichkeit der früheren Annahme mit guten Gründen unterstützt wor-
den '), und auch ich muss gestehen, dass ich keinen Grund zur entschiedenen
Verwerfung derselben vorfinde. Zwar fehlt es uns an genauerer Kenntniss
der eigentlich bildenden Kunst des wendischen Heidenthums (die aber, in
Rücksicht auf die von gleichzeitigen Schriftstellern häufig angeführten
Götzenbilder, in besonderer Weise sich manifestirt haben muss), doch
zeigen sich an jenem Werke trotz seiner Rohheit einzelne stylistische
Besonderheiten, die unseren Vorstellungen von einer wendischen Kunst-
weise — im Vergleich mit den Leistungen andrer, auf ähnlicher Culturstufe
stehender Völker — wohl zu entsprechen scheinen. Dahin ist vornehmlich
die eigenthümliche, scharf bestimmte Zeichnung der Brüste und der eigen-
(hümliche Uebergang des Unterleibes in den umgebenden Rand der Bronze-
platte zu rechnen. Dass das Werk nicht, wie allerdings zu erwarten sein
müsste, von starkem Roste bedeckt ist, kann leicht von einem späteren
Abputz desselben herrühren, und dass es, wie man gewollt hat, zur Zierde
eines Sonnenzeigers gearbeitet worden sei, erscheint wenigstens eben so
problematisch, als jene ältere Annahme.

Hr. von Ledebur gestattete dem Referenten, das von ihm verfasste
schriftliche Verzeichniss der Sammlung, das zunächst für den Gebrauch des
Institutes bestimmt ist, einzusehen. Dasselbe enthält genaue Abbildungen
sämmtlicher Gegenstände, ausführliche Beschreibungen derselben, Angaben
über die Umstände ihrer Auffindung, und allgemeine Notizen, welche auf
anderweitig vorkommende ähnliche Gegenstände, vornehmlich auf vorhan-
dene Abbildungen und auf die Literatur derselben, verweisen, — so dass
hiedurch diese Sammlung nicht nur mit den übrigen der Art, sondern auch
mit der gesammten Wissenschaft des einheimischen Alterthums in den
nächsten Rapport tritt. Für den Druck und den Handgebrauch bei Besich-
tigung der Sammlung würde jedoch dies, zwei starke Folianten füllende
Verzeichniss zu bedeutend sein, eine blosse Aufzählung der Gegenstände
nach ihrer laufenden Nummer aber auch wenig fruchten können, und um
60 weniger, als alle einzelnen Gegenstände bereits mit der Angabe ihres
Fundortes, soweit solcher bekannt ist, versehen sind. Hr. von Ledebur
hat deshalb das für den Druck bestimmte Verzeichniss mehr in resummiren-
der Art eingerichtet, indem er hier jenes, für die Aufstellung minder pass-
liche Verfahren einer Eintheilung nach Ländern und Fundorten zu Grunde
legt, dabei näher in die lokalgeschichtlichen Verhältnisse und in die

') jjDas Colbazer Sonneubüd,^' itn „Allgemeinen Archiv für die Geschichts-
kun^ft des Preuss. Staates," hsgeb, von L. v. Ledebur. Bd. XIV, 1834, S. 368,
Vergl. auch den Aufsatz „Wie ist der Name Colbaz zu erklären ?" von A. Kretzsch-
iiier, ebendas., 364.

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Denkmale der Baukunst des Mittelalters in der K P. Provinz Sachsen. 445

Umstände der Auffindung eingeht, auf die Provinzial-Sammlungen und den
vorhandenen literarischen Apparat verweist und solcher Gestalt mit der
Angabe über das Einzelne zugleich Gesamnit-Ueberblicke von der grössten
Wichtigkeit darbietet. Einzelne, diesem Verzeichniss beizufügende Register,
nach den Fundorten in alphabetarischer Folge, nach dem Charakter der
Gegenstände, nach der laufenden Nummer, die sie in der Sammlung führen,
werden dabei zugleich allen besonderen Interessen entgegen kommen.

Durch eine so gediegene wissenschaftliche Behandlung wird diese
Sammlung, die schon in Bezug auf ihr Material eine so vorzügliche Stellung
einnimmt, in den Mittelpunkt aller ähnlichen Bestrebungen erhoben, wird
dieselbe als der sicherste Stützpunkt für weitere Forschungen hingestellt
und lässt sie die erfreulichsten Resultate in Bezug auf die Kunde des ein-
heimischen Alterthums erwarten.

Denkmale der Baukunst des Mittelalters in der Königl. Preuss. Provinz
Sachsen. Bearbeitet und herausgegeben von Dr. L. Puttrich, unter
besonderer Mitwirkung von G. W. Geyser dem jüngeren, Maler. Erste
und zw^eite Lieferung. Leipzig, 1836. Fol.

(Museum, 1837, No. 1.)

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Die günstigen Erwartungen, welche die beiden ersten Lieferungen der
Baudenkmale des Königreiches Sachsen (das Kloster Wechselburg enthal-
tend) für die weiteren Leistungen des Herausgebers hervorgerufen haben,
finden zunächst in den vorliegenden Blättern, die den zweiten Theil seines
grossen Unternehmens über die Geschichte der Baukunst in den gesammten
sächsischen Landen einleiten, eine sehr erfreuliche Bestätigung. Auch hier
bietet sich dem Freunde vaterländischer Kunst und vaterländischer Geschichte
ein reichhaltiges Material dar, welches sowohl mannigfache Belehrungen,
Gelegenheit zu mannigfachen Forschungen und Combinationen darbietet,
als es auch den äusseren Sinn an sich in anmuthiger Weise berührt und
dem Beschauer eine erheiternde, sinnige Unterhaltung gewährt. Die ausge-
breitete Theilnahme, welche dem Verfasser von den verschiedensten Seiten
entgegengekommen ist, hat es ihm möglich gemacht, die neue Folge nicht
nur mit derselben Eleganz, wie die frühere, auszustatten, sondern auch, in
Bezug auf Text wie auf Abbildungen, mehr und Ausgeführteres zu liefern,
als er zur Zeit der Ankündigung noch zu versprechen im Stande war.

Die beiden vorliegenden Lieferungen begreifen die wichtigsten der in
der Stadt Merseburg vorhandenen Denkmäler in sich. Der Text, 26 Sei-
ten in Fol., giebt zuerst eine „allgemeine Einleitung," welche einen Ueber-
blick über die zahlreichen, im Sächsischen vorhandenen Baudenkmale, mit
Angabe ihres Alters (wo solches als sicher angenommen wird) und der über
dieselben vorhandenen Literatur, — sammt einigen, der kunsthlstörischen
Betrachtung zu Grunde liegenden Bemerkungen enthält. Sodann einen
kurzen Abriss der Geschichte des Stiftes und der Kirchen und Klösfei?^zu
Merseburg," welcher mit sorgfältigster Benutzung der geschichtlichen Quiillen
(gedruckter und ungedruckter, namentlich der Urkunden des Domkapitels -iit;

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45t) Berichte und Kritiken.

zuM.) gearbeltot ist und für die historische Sicherstellung der vorhandenen
Monumente eine wünschenswerthe Grundlage bietet. Hierauf eine, mit
gewandter Sachkenntniss abgefasste „Beschreibung der Baudenkmale der
Stadt Merseburg, von denen hier Abbildungen gegeben werden." Die
Abbildungen bestehen aus 10 Tafeln, welche ausser einem Blatt mit Grund-
rissen, einem zweiten mit leicht in Stahl geätzten Sculpturen und der zier-
lich radirten Titelvignette, aus sehr sorgfältigen, ausgeführten Lithographieeu
(in Berlin, Dresden und Paris gefertigt) bestehen. Die Mehrzahl der letz-
teren enthält interessante malerische Ansichten, welche dem Beschauer die
in Bede stehenden Gegenstände unmittelbar und deutlich vorführen.

Das wichtigste der dargestellten Monumente, und dem die grössere
Anzahl der Abbildungen angehört, ist die Domkirche von Merseburg.
Sie vereinigt verschiedene Baustyle in sich, welche der Verfasser, in Rück-
sicht auf die vorhandenen urkundlichen Zeugnisse und ihren eigenthüm-
lichen Charakter folgender Gestalt (und Referent glaubt diesen Annahmen
im Allgemeinen vollkommen beitreten zu dürfen) bestimmt: die Crypta, die
östlichen runden Thürme und der untere Theil der westlichen Thürme dem
elften Jahrhundert, zum Theil vermiitlilich der ersten Erbauungszeit (unter
Kaiser Heinrich II.) angehörig; der Chor nebst dem Kreuzbau und" die
westliche Vorhalle — schwerer Sijitzbogen mit byzantinischem Detail —
aus dem Ende des zwölften und Anfange des dreizehnten Jahrhunderts
(letztere Bestimmung dürfte minder gewagt erscheinen), das Schiff nebst
seinen Abseiten aus dem fünfzehnten Jahrhundert. — Interessant ist unter
den ältesten Theilen vornehmlich die Crypta, deren eigenthümlich gestal-
tete Pfeiler mit ihren seltsam geschweiften Kapitalen und andren Glie-
derungen ein wichtiges Beispiel für die Formation der älteren deutschen
Architektur enthalten dürften. Sie wechseln in zwei verschiedenen Bildun-
gen und sind theils in perspektivischer Ansicht, theils in horizontalem
Durchschnitt (letzterer jedoch für die complicirtere Bildungsform [T. 9, xj
vielleicht nicht ganz in genügender Grösse) dargestellt. Für das Studium
möchte es noch erspriesslicher gewesen sein, wenn auch die Profile der
einzelnen Gliederungen derselben — auch vielleicht die der Wandpfeiler
der Crypta etc. — in geometrischem Aufriss mitgetheilt wären '). — Aus
der Zeit der zweiten Bau-Periode sind insbesondere die Querwände, welche
die Sitze der Chorherren von den Kreuzilügeln sonderten, von Wichtigkeit.
Die leichten Relief-Arkaden, mit welchen dieselben versehen sind, enthalten
mannigfach zierlichen Schmuck an den Kapitälen der Säulchen, die in guten

') Es sei mir vergönnt, bei dieser Gelelegenlieit noch einmal (wie es in
diesen Blättern schon öfters geschehen ist) darauf aufmerksam zu machen, wie
Tornehralich die genaue und in genügender Grösse ausgeführte Darstellung der
architektonischen Profile für das Studium der Architektur und für die historische
Bestimmung der Monumente aus dunkleren Epochen von Wichtigkeit ist. Die
Grundrissformen kehren, mehr oder minder, in bestimmten Modiflcationen wieder,
auch die Ornamente geben zumeist keinen vollkommen sicheren Anhaltspunkt.
Die eigentlichen Glieder der Architektur aber, welche die Sprache des architek-
tonischen Gefühles sind, verläugnen nie (und dies ist seit dem entferntesten Alter-
thum überall der Fall gewesen) den Geist der Zeit, in welcher sie gebildet wurden.
Erst wenn uus die nöthige Anzahl solcher Profllirungen von den verschiedensten
Monumenten vorliegt, werden wir im Stande sein, ein chronologisches System
der mittelalterlichen Architektur (welches wir noch keinesweges besitzen) mit
Sicherheit zu entwerfen.

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Denkmale der Raukinist des Mittelalters in der K. P, Provinz Sachsen, 447

Abbildungen vorgefülm werden; merkwürdig ist es, dass hier die Bögen
unmittelbar über den Kapitalen, ohne Vermittelung eines Abakns, aufsetzen.

Unter den plastischen Monumenten ist besonders die bronzene Grab-
platte des Gegenkönigs Rudolph von Schwaben (st. 1080), welche in schwach
erhabenem Relief das Bild des Königs darstellt, von grosser Wichtigkeit.
Der Verfasser bezieht sich für die Begründung der gleichzeitigen Anferti-
gung derselben auf die treffliche Abhandlung von P. A. Dc^tliier („über
das Grabmal des Königs Rudolph von Schwaben zu Merseburg," in den
Neuen Mittheilungen des thür. sächs. Vereins 1834, auch besonders abge-
druckt), von dem auch die Abbildung desselben im vorliegenden Werke
gefertigt ist. — Sodann die Abbildung eines trefflichen Grabsteines, der
das Bild eines Ritters enthält und, nach der Ansicht des Referenten, in die
spätere Zeit des dreizehnten oder den Anfang des vierzehnten Jahrhunderts
(da sie den germanischen Styl bereits in vollkommener Entwickelung und
Freiheit zeigt) gehört. — Ferner eine seltsame alterthümliche Säule, die
der Sage zufolge, früher dazu gedient hat, die ewige Lampe zu tragen. —
Endlich, neben andren Gegenständen, besonders zu bemerken: der alte
Taufstein, der vor mehreren Jahren, auf Veranlassung des Verfassers, aus
der Neumarktskirche in die Vorhalle des Doms versetzt wurde und bereits
durch mehrere Untersuchungen früherer Kunstforscher bekannt ist. Er ist,
zwischen einer umherlaufenden Relief-Arkade, mit den Bildern der Pro-
pheten geschmückt, denen die Apostel auf den Schultern sitzen, — eine
zwar nicht unverständliche, aber um so naivere Symbolik. Die Abbildungen
desselben von zwei Seiten geben den byzantinisch starren Styl der Arbeit
in gelungener Weise wieder. Der Verfasser bestimmt das Alter desselben
als dem elften oder dem Anfange des zwölften Jahrhunderts angehörig.

Interessant ist sodann die Neumarktskirche, deren ursprüngliche
Anlage (sie hat in neuerer Zeit manche Veränderungen erlitten) der Ver-
fasser, in Bücksicht auf die entsprechenden Eigenthümlichkeiten des Styles,
für den, vom Chronisten um die Zeit des Jahres 1200 angeführten Neubau
dl!r Kirche hält. Die Details zeigen jene zierliche Entwickelung des byzan-
tinischen Styles, welche wir dieser Zeit zuzuschreiben pflegen. Der Anlage
nach ist es eine einfache Basilika, Säulen mit Pfeilern wechselnd, mit
einem Querschiff vor dem tiefer zurücktretenden Altarraume. Die Säulen
im Innern tragen einfache Würfelkapitäle. Interessant sind besonders die
beiden Portale, von denen das grössere, reich mit Säulen und Bogenver-
zierung geschmückt, auf einer trefflichen malerischen Ansicht mitgetheilt
ist-, die Kapitale u. a. zeigen hier das zierlichste, geschmackvollste Blätter-
werk. Das kleinere Portal hat nur zwei Säulen, die aber noch reicher als
die des andern, auch an Schaft und Basen, geschmückt sind. Auffallend
sind hier, in den Gliederungen, die mehrfach vorkommenden antikisirenden
Eierstäbe, und in den Ornamenten die griechische Palmetten-Verzierung^
die vornehmlich au der einen Säulenbasis in klassischer Reinheit ausgeführt
ist. Deck- und Fussglieder dieser Säulen sind im Profil mitgetheilt; wir
hätten indess auch gern die Umfassungsglieder des Portals, so wie auch
die Profile des anderen (dort namentlich die einfacheren Deckglieder der
Säulen) in ähnlicher Darstellung gesehen. Die Details beider scheinen
denen der überaus reizvollen (unvollendeten) Kirche zu Conradsburg, bei
Ermsleben am Harze, ziemlich genau zu entsprechen. Wenn sich das vom
Verfasser angenommene Alter der Neumarktskirche zur unwiderleglichen
Evidenz erweisen lässt, so würde sie für weitere Bestimmungen der Art

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45t) Berichte und Kritiken.

einen sehr erfreulichen Anhaltspunkt geben. Referent stimmt zwar, seinem
subjektiven Gefühle nach, der Ansicht des Verfassers bei; doch wäre es
wünschenswerth, wenn man es sicher darthun könnte, dass der gegenwärtig-
vorhandene ältere Bau nicht erst nach der veränderten Besitznahme ira
dreizehnten Jahrhundert, — durch die Canonici, denen die Kirche im Jahr
1240 übergeben wurde, — ausgeführt ist.

Die Sixtkirche, eine unausgebaute Ruine spätgothischen Styles, ist
auf der Titelvignette in einer sehr ansprechenden malerischen Ansicht
gegeben. —

Das grosse Interesse, mit welchem Referent die Belehrungen des vor-
liegenden Werkes sich anzueignen bemüht war, möge es entschuldigen,
wenn er an einzelnen Punkten den Wunsch nach einer noch genaueren Aus-
kunft nicht unterdrückt hat. Das Ganze steht jedenfalls in einer solchen
Bedeutsamkeit da, dass dem Verfasser die entschiedene Theilnahme, sowohl
von Seiten der Wissenschaft, als auch die einer mehr unbefangenen, gemüth-
lichen Betrachtung, auf keine Weise wird fehlen können.

Die Domkirche zu Brandenburg und ihre Denkmäler,

Kurzer Abriss einer Geschichte der hohen bischöflichen
Stifts- und Domkirche und des damit verbundenen Dom-
Capituls zu Burg Brandenburg, nebst Beschreibung der in Gegenwart
Sr. Majestät des Königs und des Königlichen Hauses am 1. Oktober 1836
gefeierten Wiedereinweihung der Kirche etc. von Dr. Aug. Schröder,
Ober Dom-Prediger und erstem Prof. a. d. Ritter-Akademie zu Burg Bran-
denburg, etc. Brandenburg 1836.

(Museum, 1837, No. 8.)

Die Domkirche von Brandenburg, eins der interessantesten Gebäude
der Mark, war im letzten Jahrhundert sehr in Verfall gerathen und man-
nigfacher Restaurationen bedürftig geworden ; durch die gnädige Bestimmung
Sr. Majestät des Königs steht sie gegenwärtig wiederum in ihrer alterthüm-
lichen Würde, sicher und fest, gereinigt von mancherlei unpassendem Zubehör,
für den Dienst der Gemeinde da. Die Restauration, die namentlich an
der Fa^ade, zur Hervorbringung eines mehr harmonischen Eindruckes,
bedeutende Veränderungen nöthig machte, ist nach Schinkel'schen Plänen
ausgeführt worden. Die Eigenthümlichkeiten des alten Baues und mehrere
der in der Kirche vorhandenen Bildwerke nehmen das Interesse des Kunst-
forschers in hohem Grade in Anspruch. Die vorliegende Schrift, welche
hierüber eine nähere Rechenschaft giebt, gehört in die Reihe jener Mono-
graphieen, die künftigen Forschern zur leichteren Begründung einer allge-
meinen Kunstgeschichte des Vaterlandes von mannigfachem Nutzen sein
werden. Sie besteht im Wesentlichen, ~ bis auf die angehängten, bei der
Wiedereinweihung der Kirche gehaltenen Predigten, — aus der üeber-
arbeitung eines Programmes („über das Alter und die Restauration der

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Die Domkirche zu Brandenburg und ihre Denkmäler. 449

bischöflichen Stifts- und Domkirche zu Burg Brandenburg" etc.), welches
bei Gelegenheit der erwähnten kirchlichen Feier ausgegeben und in Kurzem
vergriffen wurde: wir müssen es dem Verfasser Dank wissen, dass er die
geschichtlichen Notizen über die Domkirche und das mit ihr verbundene
Kapitel hier noch einmal und in strengerer Uebersicht der Benutzung von
Seiten eines grösseren Publikums darbietet. An den, im Programme ent-
haltenen kunstgeschichtlichen Bemerkungen hatte Referent Gelegenheit
gehabt, auf den Wunsch des Verfassers Einzelnes beitragen zu können; er
fühlt sich dem Verf. verpflichtet, dass er dieselben werth genug hielt, auch
der vorliegenden Schrift, neben andern, wichtigen Notizen eingereiht
zu werden.

Die erste Gründung einer Kathedrale zu Burg Brandenburg fällt in das
J. 949; einer Wiederherstellung derselben, nach langer Unterbrechung des
christlichen Gottesdienstes, geschieht um das Jahr 1166 Erwähnung. Die
Kirche in ihrer gegenwärtigen Gestalt zeigt an den rundbogigen Arkaden
des Mittelschifles, an den Wänden und Säulen der hohen Gruftkirche, sammt
einem Theil der Aussenwände des Chores den byzantinischen Styl in der-
jenigen Formenbildung, welche in den Bauwerken, die dem Anfange des
13. Jahrhunderts angehören, gefunden wird, so dass, nach der Meinung
des Referenten, wohl schwerlich irgend ein sichtbarer Theil des Gebäudes
dem ursprünglichen Bau, auch wohl nicht dem Neubau von 1166, angehört.
Dieser Ansicht entgegen steht die neuerdings ausgesprochene Meinung des
Hrn. Alexander von Minutoli („Denkmäler mittelalterlicher Kunst in
den Brandenburgischen Marken", Lief. 1., S, 16), der von Theilen des
Domes aus den Jahren 949 und 1170 spricht; die folgenden Lieferungen
des genannten Werkes lassen die Angabe der näheren Gründe, welche den,
in Angelegenheiten der nordischen Kunst sehr erfahrenen Verfasser dessel-
ben zu dieser Ansicht bestimmt haben, erwarten. Die Gründe des Ref.
sind in obiger Schrift enthalten. — Die übrigen Theile des Domes zeigen
den späteren gothischen Styl; doch sind, im Gegensatz gegen die Bauweise
des nordöstlichen Deutschlands, die niedrigeren Seitenschiffe der ursprüng-
lichen Anlage beibehalten.

Unter den Bildwerken der Kirche hat die geistreich gearbeitete Relief-
Darstellung, welche "sich am Haupt-Portal, über den Kopfgesimsen der
Thürgewände hinzieht, bereits mannigfach die Aufmerksamkeit der Freunde
des Alterthums auf sich gezogen. Sie enthält, wie es scheint, eine Satire
auf den katholischen Glems, unter der Gestalt eines Fuchses (oder Wolfes),
der in mancherlei bedenklichen Situationen dargestellt ist, z. B. wie er den
Gänsen predigt und eine davon ergreift. Der Verf. theilt die Sage über
den Ursprung dieses Werkes mit. Die letztere Sage nennt einen Namen
des Urhebers und die Jahrzahl
der Anfertigung (1648); gegen diese soll es
streiten, dass der Stein, daraus das Werk gebildet, tief in das gothische
Portal eingemauert und somit wohl niit dessen Erbauung gleichzeitig ist.
Aus dem Styl der Arbeit möchte, da sie imr Thierflguren enthält, das
Alter nicht eben mit Leichtigkeit zu erkennen sein ; doch glaubte Ref. in
einzelnen Beiwerken, namentlich einigen mechanischen Geräthschaften,
gewisse Eigenthümlichkeiten zu bemerken, die mehr dem 16ten als einem
früheren Jahrhunderte (wenn nicht gar der angegebenen späteren Zeit)
angehören dürften. Dafür spricht auch die Abwesenheit alles'Arabesken-
haften, welches den mittelalterlichen Darstellungen ähnlicher Art eigen
zu sein pflegt.

Kiigler, Kleine Schriften. I. 29

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45t) Berichte und Kritiken.

Dann ist vornehmlich das grosse Werk, welches den Altar des hohen
Chores schmückt und mit der Jahrzahl 1518 versehen ist, von besonderer
Wichtigkeit für die Kunstgeschichte. Es ist ein Schrein mit lebensgrossen,
holzgeschnitzten Figuren und mit Flügelthüren, die aussen und innen mit
heiligen Gestalten bemalt sind. Letztere namentlich erwecken das Interesse
des Kunstforschers; der Verf. führt die verschiedenen Schriften an, welche
dieselben bereits, in grösserer oder geringerer Ausführlichkeit, behandelt
haben. Heller, im Leben Lucas Cranach's, nennt sie unter den Werken
dieses Meisters; eine Meinung, die nicht haltbar sein dürfte, wenn gleich
in technischen Bezügen (namentlich in der Behandlung der Stoffe) manche
Anklänge an diesen Künstler zu finden sind, die indess nur mehr auf
einen in grösserer Ausdehnung verbreiteten (wir wollen sagen: „sächsischen")
Styl der Malerei zu deuten scheinen. Im Wesentlichen tritt hier ein Meister
von eigenthümlich grossartiger Ausbildung hervor, der aber, nach unsren
bisherigen Kenntnissen, noch ziemlich vereinzelt dazustehen scheint. Der
Verf. hat die Güte gehabt, die Charakteristik, welche Referent von diesem
Werke entworfen, neben andern Bemerkungen über dasselbe, ebenfalls
aufzunehmen.

Verschiedene andre Gemälde und Bildwerke, die sich in der Domkirche
befinden, sind vornehmlich in dem abgeschlossenen linken Kreuzflügel
zusammengestellt und so eine zweckmässige Aufbewahrung derselben gesi-
chert. Die grosse Anzahl der Grabsteine (deren vollständiges Verzeichniss
das oben angeführte Programm enthält) sind an den Wänden der Kirche
aufgestellt, und ist somit ebenfalls für ihre Erhaltung gesorgt. Endlich macht
der Verf. auch auf die übrigen, mehr oder minder wichtigen Gegenstände
der Kunst-Technik, namentlicb auf den grossen Schatz der kostbaren Mess-
gewänder u. a. dergl., welche in der Sacristei bewahrt werden, näher
aufmerksam.

Ich reihe hier den Aufsatz ein, den ich für das oben erwähnte Programm

geschrieben hatte: —

Die Domkirche von Brandenburg lässt in ihren einzelnen Theilen mit
Sicherheit zwei von einander verschiedene Baustyle erkennen. Die rund-
bogigen Arkaden, welche die Wände des Mittelschiffes tragen, erscheinen
in dem Charakter des sogenannten byzantinischen oder romanischen
Baustyles, ebenso die Wände und Säulen der Gruftkirche, sammt einem
Theil der Aussenwände des Chores. Der obere Theil des Mittelschiffes
und Chores, die Seitenschilfe und das Gewölbe der Gruftkirche tragen
dagegen den Charakter des späteren gothischen Styles. Diese Verschie-
denheiten der Baustyle deuten auf die verschiedenen Perioden, in welchen
das vorhandene Kirchengebäude entstanden ist, und die gothischen Theile
desselben bezeichnen einen Umbau, der in späterer Zeit, in bedeutend
umfassender Weise, angeordnet war. Dass hier dem Beschauer zwei wesent-
lich verschiedene Zeiten entgegentreten und das Ganze nicht etwa — wie
die Geschichte der Architektur auch wohl Beispiele dieser Art darbietet —
als eine gleichzeitige Anlage mit absichtlicher Verschiedenheit des Styles
in den einzelnen Theilen zu betrachten ist, ergiebt sich vornehmlich aus
dem Umstände, wie das Gothische dem Byzantinischen in unharmonischer

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Die Doiiikirche zu Brandenburg und ihre Denkmäler. 451

Weise angefügt ist. So an den Pfeilern des Schiffes, an denen die regel-
mässige Gliederung und das Kämpfergesims der älteren Anlage, durch eine
Verstärkung nach den Seitenschiffen zu, verbaut und unterbrochen worden
ist. So auch in der Gruftkirche, in welcher die gothischen Gurte des Gewölbes
ohne die nothwendige Vermittelung über den Kapitalen der byzantinischen
Säulen und über den Wandpfeilern aufsetzen

Die Zeitpunkte, in welchen die verschiedenen Theile des Gebäudes
aufgeführt wurden, mit einiger Genauigkeit zu bestimmen, ist, bei dem
gegenwärtigen Mangel urkundlicher Nachrichten, ein schwieriges Unter-
nehmen, und dies um so mehr, als der Wissenschaft der Architekturge-
schichte, — einer Wissenschaft, welche unmittelbarer als jede andre in das
Leben der Vergangenheit zurückführt, — bisher überhaupt noch nicht eine
wahrhaft gründliche Behandlung vergönnt worden ist. Aus den Zeiten
der ersten Gründung einer bischöflichen Kirche dürfte schwerlich, unter
den sichtbaren Theilen des Gebäudes, irgend ein Rest vorhanden sein.
Mit grösserem Recht könnte man geneigt sein, die byzantinischen Theile
desselben als die Ueberbleibsel der von Bischof Wilmar im J. 1166 erbau-
ten Kirche zu betrachten. Doch scheint auch diese Annahme den älteren
Theilen, wenigstens den Säulen der Gruftkirche, noch ein zu hohes Altec
zuzuschreiben. Es ist in den Kapitalen und Basen dieser Säulen, in der
phantastischen Composition ihres Ornaments, in dem weichen Schwünge
und der präcisen Ausführung desselben eine Eigenthümlichkeit zu bemerken,
die sonst nur bei den spätesten Erzeugnissen des byzantinischen Styles
gefunden wird; und vornehmlich zeigen jene halb thierischen, halb mensch-
lichen Figuren, welche hier vorkommen, ein solches Beherrschen des Stof-
fes, eine so entschiedene, so geistreich humoristische Belebung, dass die
deutsche Plastik vor der Zeit des Jahres 1200 schwerlich im Stande gewesen
sein dürfte, etwas ähnlich Reifes zu Tage zu fördern. Jedenfalls indess,
und allerdings auch mit Rücksicht auf diese feinere Ausbildung, sind die
byzantinischen Theile der Domkirche für den Freund der Culturgeschichte
von besonderer Wichtigkeit, da der ältere Baustyl des Mittelalters in den
Ländern östlich der Elbe eben so seltene Beispiele zählt, als, im Gegen
theil, wenige Meilen im Westen dieses Grenzflusses (vornehmlich in den,
dem Harze benachbarten sächsischen Gegenden) die grösste Fülle solcher
alterthümlichen Bauwerke angetroffen wird. — Die gothischen Theile des
Domes dürften in das vierzehnte, vielleicht auch, wenn man einzelne Details
berücksichtigt, in das fünfzehnte Jahrhundert, und zwar in die spätere
Zeit desselben, gehören. In seiner Gesammt-Erscheinung unterscheidet sich
dies Gebäude von den gothischen Kirchen der Mark durch die Anordnung
niedriger Abseiten neben einem hohen Mittelschiffe, hohem Querschiffe und
Chore, während sonst gewöhnlich der Mittelraum und die Seitengänge gleich
hoch gehalten wurden, was hier indess ohne Zweifel eben jener Benutzung
der älteren, die Einrichtung des Ganzen bestimmenden Theile zuzuschreiben ist.

Unter den Kunstwerken, welche im Innern des Domes befindlich sind,
ist der Schmuck des Hochaltars von besondrer Wichtigkeit für die deutsclie
Kunstgeschichte: ein Schrein mit holzgeschnitzten Figuren und mit Flügel-
thüren, welche innen und aussen mit heiligen Gestalten auf goldnem Grunde
bemalt sind. An dem Schnitzwerk befindet sich zweimal die Jahrzahl
15180: nach dem Charakter des Ganzen zu urtheilen, kann man die Voll-

0 Auf dem Rahmen liest man ; Anno Dni, 1518 Buh d. Valentina Abbate.

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45t) Berichte und Kritiken.

rndiing desselben mit gutem Recht in diese Zeit setzen. Die Schiiitzbilder
des Altarwerlies sind in einem, in allgemeiner Beziehung tüchtigen Style
gearbeitet, doch ohne tiefere Bedeutung; die Gemälde sind es, welche das
lebendigere Interesse des Kunstfreundes erwecken. Es sind grossartig feier-
liche Gestalten, in einem edeln, würdigen Style gezeichnet, mit einer leichten,
geistreich andeutenden Praktik, wie gewöhnlich die grösseren deutschen
Altarblätter der Zeit, gemalt, zugleich aber die einzelnen Köpfe mit grosser
Sicherheit modellirt. üeberraschend ist es, wie man hier anscheinend ver-
schiedene Auffassungsweisen der deutschen Schulen jener Zelt durcheinander-
spielen sieht. Während nemlich einzelne Figuren in ihrer Gesammt-Er-
scheinung an Albrecht Dürer's grossartige Linien erinnern, findet man in
einigen Köpfen jene ernste, tief gemüthvolle Charakteristik wieder, welche
Zeitblom's Bildern eigen ist; in andern dagegen einen Hauch der eigen-
thümlich weichen Milde, welche vorzugsweise in den Darstellungen der
älteren niederrheinischen Schule gefunden wird, und zugleich nicht minder
bedeutende Anklänge — in der Auffassung des Einzelnen sowohl als vor-
nehmlich in der Behandlung der Stoffe — an die Manier des Lucas Cranacli.
Gleichwohl einigen sich diese verschiedenartigen Elemente vollkommen
harmonisch zu einem trefflichen Ganzen, und die letzterwähnte Eigenthüm-
lichkeit, welche im Aeusserlichen dieser Bilder vorherrscht, dürfte vor-
nehmlich dazu dienen, die sächsische Schule des Meisters zu bestimmen.
Leider ist die Geschichte der deutschen, namentlich der norddeutschen
Malerei bisher nur erst so ungenügend untersucht und gewürdigt, dass es
zur Zeit nicht wohl möglich sein möchte, etwas Bestimmteres über den
Künstler, der ein so beachtungswürdiges Werk geliefert, zu ermitteln.
Wohl bewahrt unser nächstes Vaterland hier und dort recht interessante
Werke der bildenden Kunst, die es beweisen, dass auch in diesen Gegenden
ein reineres Gefühl und ein edleres Gemüth sich in anmuthvoller Gestalt
zur Erscheiaung herauszubilden vermochten; aber eine, nur einigermaassen
befriedigende Uebersicht ist bis jetzt noch nicht gewonnen, und die Resul-
tate einer solchen müssen noch der Folgezeit anheim gestellt bleiben.

Zu den Seiten dieses Altarschmuckes sind gegenwärtig zwei zusammen-
gehörige Tafeln mit einer bedeutenden Anzahl geschnitzter Heiligengestalten
in einfachem altgothischem Style angebracht. Neben diesen zwei ebenfalls
zusammengehörige Schreine mit grösseren Figuren, — Christus und Maria,
verschiedene Heilige zu ihren Seiten, — die sich durch die edle Entwicke-
lung eines weichen gothischen Styles, wie derselbe um das J. 1400 herrschend
war, auszeichnen. Unterwärts, zu den Seiten des Altares, bemerkt man
noch zwei lebensgrosse hölzerne Relief-Figuren, Maria und Johannes, im
Style des vierzehnten Jahrhunderts, die in ihrer Art auch nicht ohne gutes
Gefühl gearbeitet sind. Die trauernde Stellung beider deutet an, dass sie
zu den Füssen eines Crucifixes standen, ohne Zweifel desjenigen, welches
in seiner alten Beschaffenheit hinter dem Altare aufgestellt ist.

Unter den zahlreichen alterthümlichen Werken, welche in dem abge-

Diese letztere Angabe könnte über die Herkunft des Werkes zu Resultaten führen.
Für den Dom scheint dasselbe hienach nicht ursprünglich gearbeitet zu sein,
eben so wonig jedoch auch für die im vorigen Jahrhundert vernichtete Marien-
kirche, von woher es nach einer unverbürgten Sage stammen soll. (In dem, weiter
unten erwähnten Programme vom J. 184f) wird mit Bestimmtheit angegeben,
dass das Altarwerk früher in der Marienkirche befindlich gewesen und im J.
1723 in den Dom gekommen sei.)

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Die Dumkirch« zu Braudeiiburg uud ihre Deuliiuäler. 453

schlosseueu südlichen Kreuzflügel der Kirche aufgestellt sind, findet sich
Einzelnes, was für die Interessen der Kunst- und Cultur-Geschichte nicht
tinerheblich ist. Es ist mit Dank anzuerkennen, dass man hier eine Ein-
richtung getroffen hat, um Werke dieser Art, die — an sich im Allgemeinen
minder erfreulich — einem Gotteshause nicht mehr zur wahrhaften Zierde
gereichen dürften, an also passlicher Stelle zu vereinigen, sie vor Verderb-
niss zu schützen und ihre Betrachtung,
gegenseitige Vergleichung u. drgl.
für den Freund alter Kunst in angenehmer "Weise zu erleichtern. Der bedeu-
tendste unter diesen Gegenständen ist ein Altarwerk, mit Schnitzwerk in
der Mitte uud Malereien auf den Seitentafeln, worin Scenen aus der
Geschichte der Maria dargestellt sind. Letztere sind in einem weichen,
der niederrheinischen Schule sich annähernden Style, um die Zeit des Jahres
1400, gemalt, in der Technik zwar ziemlich handwerksmässig, gleichwohl
mit einer eigenthümlichen Zartheit und Innigkeit im Ausdrucke des Gefühls.
Beiläufig möge hier bemerkt werden, dass auch anderweitig in älteren
Bildern, welche den nordöstlichen Gegenden Deutschlands (vornehmlich auch
der Mark) angehören, Anklänge an diese schönen Eigenthümlichkeiten der
niederrheinischen Schule gefunden werden, ein Umstand, der, wie es
scheint, zugleich jene milderen und weicheren Motive auf den Flügelbildern
des Hochaltars erklären dürfte. Ausserdem ist noch ein langes Bild von
geringer Höhe, auf beiden Seiten mit den Brustbildern von Heiligen und
mit der Jahresbezeichnung 1489 versehen, zu erwähnen. Die Malerei ist
hart und nicht sonderlich schön; gleichwohl ist eine eigenthümliche künst-
lerische Behandlungsweise, nach Art der älteren nürnbergischen Schule,
darin bemerkbar. Diese Tafel bildete früher den Untersatz des Altarwerkes
über dem Hochaltar der Kirche-, doch war sie nicht ursprünglich für das-
selbe bestimmt, da sie eine grössere Länge hat als jener. In der Mitte des
Raumes ist ein zierliches Holzthürmchen von etwa 14 Fuss Höhe, in reinem,
geschmackvoll gothischem Style aufgestellt. Ohne Zweifel diente dasselbe
früher als Tabernakel zur Aufbewahrung des Allerheiligsten.

Ein neuerlich erscliienenes Programm „zur Geschichte des Bisthums
Brandenburg" von Dr. A Schröder („Einladungsschrift zu der am 1. Octo-
ber 1849 zu begehenden Säcularfeier des vor 900 Jahren am 1. October 949
durch Kaiser Otto den Grossen gestifteten Bisthums") bringt einige weitere
Notizen zur Baugeschichte der Brandenburger Domkirche. Zunächst bemerkt
der Verf. (S. 5): „Jedenfalls lassen sich noch jetzt an dem ehrwürdigen
Bau, an welchem die Jahrhunderte in verschiedenen Epochen gearbeitet
haben, drei Bau-Perioden deutlich unterscheiden; davon die erste, noch
theilweise im Fundament und in manchen andern Spuren erhalten, aus
Ottos Zeit, die zweite aus den Zeiten Bischof Wilmars (1161 — 70), des
zweiten eigentlichen Gründers des Hochstifts; ihr möchte der eigentliche
Haupttheil der Kirche, das Langhaus oder Schill" zuzuschreiben sein," Ich
bedaure, dass jene vorausgesetzten Spuren eines ottonischen Baues, aus dem
zehnten Jahrhundert, nicht näher nachgewiesen und charakterisirt sind. In
Betrefif der Annahme des siebenten Jahrzehnts des 12. Jahrhunderts für den
älteren Hauptbau der Kirche, nach ihrer gegenwärtigen Erscheinung, ver-
weise ich auf meine im Vorstehenden enthaltenen Bedenken, wenn diese
sich zunächst auch nur auf die Säulen der Crypta beziehen. Höchst wichtig

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454 Berichte und Kritiken.

ist die, von Hrn. Schröder (S. 34) beiläufig mitgetheilte Notiz über die im
J. 1235 durch Bischof Rutger erfolgte Einweihung des Altares der Crypta'):
eine solche Weihung setzt eine totale Bauveränderung voraus, "welche den
Dienst an dem älteren Altare (falls überhaupt eine Crypta und ein Altar
in derselben schon früher vorhanden waren) beseitigt hatte. Wir haben
in diesem Datum somit die Zeit der Vollendung des Baues der gegen-
wärtigen Crypta, womit auch die Beschaflenheit ihrer Säulen sehr wohl
stimmt. Muthmaasslich gehört auch der übrige romanische (byzantinische)
Bau der Kirche oben dieser Bauperiode an; und es dürfte somit auch
nicht unmöglich sein, dass jene Spuren, die dem zehnten Jahrhundert zuge-
schrieben sind, von dem erwähnten Bau des Bischofes Wilmar herrühre. ~
Rücksichtlich des gothischen Umbaues und Domes führt Hr. Schröder ('S. 6)
einige Daten an, wonach derselbe, seinem wesentlichen Theile nach, in den
Schluss des vierzehnten Jahrhunderts zu fallen scheint.

Ein Besuch in Wittenberg.

Bemerkungen über einige Werke der Familien Vischer und

Cr an ach.

(Museum 1837, No. 5, f.)

\

Von den Kunstschätzen, durch welche die Stadt Wittenberg einst ver-
herrlicht war, hat sich nicht Vieles auf unsre Zeit erhalten; aber das
Wenige, was dort noch vorhanden ist, hat eine um so grössere Bedeutung
für die Geschichte der deutschen Kunst. Die Gemälde von Lucas Cranach
und seinem Sohne, insbesondere aber die gegossenen Arbeiten der Vischer-
schen Familie verdienen in der That eine grössere Beachtung, als ihnen
bisher im Allgemeinen zu Theil geworden zu sein scheint. Uebersichtliche
Bemerkungen über dieselben und Abbildungen findet man in dem Werke:
„Wittenbergs Denkmäler der Bildnerei, Baukunst und Malerei, mit histori-
schen und artistischen Erläuterungen herausgegeben von Johann Gottfried
Schadow, etc. Wittenberg 1825." Sei es mir vergönnt, diesen Bemerkungen
noch einiges Andre, nach eigener Anschauung jener interessanten Werke,
liinzuzufügen.

Höchst wichtig für die Entwickelungsgeschichte eines der grössten
Künstler, welche Deutschland besessen hat, des Peter Vischer, ist das von
seinem Vater Hermann Vischer gegossene Taufbecken in der Stadt-
kirche. Es ist im Ganzen etwa 4V2 Fuss, hoch, oben achteckig umfasst,
von einer schweren, geschweift gothischen Architektur getragen; die Füsse
der Architektur mannigfach mit I.öwen und ähnlichem Gethier geschmückt.
Eine Abbildung des Ganzen findet sich in dem genannten Werke, Taf. A.
Die gravirte Inschrift des oberen Randes lautet genau, wie folgt: Do. man.

') Altare in Crypta consecravit in honorem Mariae virginis, Johannis Bap-
tislae, Mariae Matjdalenae, Catharinae, Levini Episcopi Martyris MCCXXXV.
VJ. Kaiend. Beehr.: temporibus Jacobi Praepositi. {Maderi antiquit. Bruns,
p.
175.)

I

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Ein Besuch in Wittenberg. 455

zalt. I von. cristi. gepurt. | m. cccc. vnd.'dar. nach. | im. Ivii. jar.
am. I sant. michaelis. tag. | do. ward. disz. werck. vol | bracht,
von. meister. her. | man Vischer. zu
Dumberg. «(Das letztere Wort
ist abgekürzt geschrieben, muss aber, wie es scheint, in dieser Weise
gelesen werden.) — Den Hauptschmuck des Taufbeckens bilden die kleinen
Figuren der Apostel, die theils an den Seiten der oberen Umfassung, theils
weiter unten, an den vier Pfeilern, welche dieselben unterstützen ange-
bracht sind. Die oberen Figuren, ursprünglich acht an der Zahl, von denen
aber gegenwärtig zwei fehlen, stehen als Reliefs vor Teppich-artig ciselirten
Feldern. Sie sind minder bedeutend als die unteren, haben sehr kurze,
sogar plumpe Verhältnisse und sind auch nicht ohne Schwerfälligkeit in
der Ausführung. Zu bemerken ist aber, dass schon bei ihnen, diesen
Mängeln zum Trotz, die Gewandung durchweg eine bestimmte Absicht auf
die Herausstellung grosser, bedeutsamer Linien zeigt. Sehr augenfällig
wird dies bei dreien dieser Figuren, in denen die Gewandung sogar, wie
es in der deutschen Kunst jener Zeit gewiss nur höchst selten gefunden
wird, nach einer, der Antike sich annähernden Weise geordnet ist: so nera-
lich, dass der rechte Arm frei bleibt und der Mantel ganz in der Form
einer Toga vorn über die linke Schulter geworfen und dann wieder unter
dem Ellbogen gefasst ist, was natürlich, auch wenn Andres als missfällig
zu bezeichnen ist, eine eigenthümlich würdige Gesammterscheinung hervor-
bringen muss. Ungleich anziehender jedoch sind, wie gesagt, die vier
unteren Figuren (Petrus, Paulus, Andreas und Johannes), welche im Haut-
Relief an den erwähnten Pfeilern anlehnen. Sie sind von guten Verhältnissen
und von einer schönen statuarischenEinfalt in der Composition. Die Kleidung
besteht bei ihnen aus einer einfachen Tunika (mit Aermeln), welche gegürtet
ist, bis auf die Füs'se hinabreicht ohne sich auf dem Boden sonderlich zu
brechen, und in solcher Weise den einfachsten Faltenwurf bedingt. Darüber
tragen sie einen Mantel, der auf beiden Schultern aufliegt und unter dem
einen Arm aufgenommen wird, so dass auch hier ebenso einfache, wie
schöne und wohlbewegte Linien entstehen. Die Brüche der Gewandung
e.Innern (wie auch bei den oberen Figuren) an die Manieren des fünf-
zehnten Jahrhunderts, sind jedoch noch beträchtlich weicher gehalten, als
es am Schlüsse des Jahrhunderts allgemeine Sitte wird; die ganze Weise,
in welcher die Linien der Gewandung geführt sind, deutet vielmehr auf
den älteren, germanischen Styl des vierzehnten Jahrhunderts zurück. Die
Köpfe zeigen, bei manchem Conventionellen im Haar, doch ein glückliches
Bestreben nach Individualität, und wiederum sind in diesem Bezüge eben-
falls die der unteren Figuren hervorzuheben. Die Arbeit der Hände ist
fast durchweg noch wenig geschickt. Als die vorzüglichsten Figuren sind
namentlich Petrus mit Schlüssel und Buch und Johannes mit dem Kelch
anzuführen; sie erscheinen als treffliche, würdige Vorläufer der Apostelfl-
guren von Peter Vischer am Sebaldus-Grabe zu Nürnberg.

Es ist mannigfach behauptet worden, dass dies ebengenannte Werk
Peter Vischer's, das Sebaldus-Grab mit seinen zahlreichen Bronze-Sculp-
turen (bekanntlich vom J. 1506—1519 angefertigt), in der Art und Weise
seiner Ausführung wesentlich auf italienische Studien hindeute, dass es von
dem eckigen, scharfgeschnittenen Style der damaligen deutschen Bildnerei,
dem auch P. Vischer selbst in dem bedeutendsten Werke seiner früheren
Zeit (dem Grabmonumente des Erzbischofes Ernst von Magdeburg vom
Jahr 1497) gefolgt war, zu entschieden abweiche, als dass man eine sfelbstän-

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45t) Berichte und Kritiken.

dige Fortbildung des Künstlers olme fremden Einfluss annehmen könne.
Ich habe jedoch schon früher darauf aufmerksam gemacht, dass der Styl
der Sculpturen des Sebaldusgrabes auffallend an den älteren Styl der ger-
manischen Kunst, wie er vornehmlich das vierzehnte Jahrhundert hindurch
lierrschend ist (und wie er z. B. recht augenfällig an den alten Statuen
hervortritt, die an den Pfeilern der Sebalduskirche zu Nürnberg befindlich
sind) erinnert. Auch ist dieser Bemerkung hinzuzufügen, dass die Behand-
lung an den Sculpturen des Sebaldusgrabes, vornehmlich an den Aposteln,
noch immer eine gewisse Trockenheit zeigt, welche ebenfalls viel mehr
auf den älteren germanischen Styl als auf die etwa verwandten Motive
modern italienischer Kunst hindeutet: sodann, dass auch die Architektur
des Sebaldusgrabes im Ganzen eigentlich weniger der eindringenden moder-
nen Kunst als gewissen früheren Elementen des Gothischen verwandt ist,
und dass die drei Tempel-Aufsätze, welche dasselbe krönen, die entschie-
denste Nachbildung jener Baldachine sind, die sich über mehreren der
vorzüglichsten Statuen des vierzehnten Jahrhunderts (z. B. über den wun-
derwürdig schönen Statuen im Dome von Naumburg) befinden -— Wenn
nun aus all diesen Umständen wenigstens mit gleichem Rechte geschlossen
werden dürfte, dass P. Vischer sich hier, statt der fremden, italienischen
Kunst, absichtlich den älteren Vorbildern der Heimath zugewandt habe, so
erhält eine solche Ansicht durch die Betrachtung des Styles in der Arbeit
seines Vaters noch ein ungleich stärkeres Gewicht. Hier finden wir, wie
der ältere germanische Styl in einer bedeutenden Werkstatt, vielleicht durch
fortgesetzte Ueberliefemng, beibehalten war und in seiner einfachen Linien-
führung bereits eigenthümlich lobenswerthe Erfolge hervorgebracht hatte.
Wir sehen die Vorbilder, welche dem glücklichen Geiste des Sohnes schon
von früh an eine würdige Richtung vorzuzeichnen und ihn vor den ver-
derblichen, kleinlichen Manieren seiner Zeitgenossen zu schützen im Stande
waren. Wir erkennen, dass Peter Vischer nicht durch eine blosse Will-
kühr zu seiner eigenthümlichen Behandlungsweise bestimmt war. Und
Avenn jenes Monument in Magdeburg im einzelnen Falle allerdings den
Versuch zeigt, sich auch den scharfen, mehr holzschnittartigen Styl seiner
Zeitgenossen anzueignen, so gilt dasselbe jedoch keinesweges für die
gesammte frühere Richtung des Künstlers, denn andre, vorhergehende Werke
(wie z. B. seine drei Grabplatten bambergischer Bischöfe , im Dome zu
Bamberg) haben in der Hauptsache ebenfalls nichts mit dem eckigen Wesen
der Zeit gemein.

Bei alledem jedoch soll es nicht behauptet werden, als ob P. Vischer
sich in weiter vorgerücktem Alter etwa gegen die Vortheile anderweitiger
Kunstverdionste absichtlich abgeschlossen habe. Wie er in dem Magde-
burger Monument den Manieren der deutschen Bildhauerei, ohne davon
befangen zu werden, zu folgen wusste, so nahm er — indess, wie es scheint,
erst beträchtlich nach der Zeit des Sebaldusgrabes — gewiss auch die
freieren Motive der italienischen Kunst in sich auf. Er konnte dies um
so leichter und unbefangener, als seine eigenthümliche Richtung der letz-

') Möchte es doch den Kunstfreunden Nürnberg's gefallen, ein gründliches,
umfassendes Kupferwerk über das Sebaldusgrab, wenn auch nur im Umriss, zu
unternehmen! Der Reic.hthum der Sculpturen, der architektonischen Details
würde demselben einen mehr als hinlänglichen Stoff gewähren; die Freunde vater-
ländischer Kunst und vaterländischer Geschichte aber würden ein solches Werii
gewiss mit dem lebhaftesten Danlte aufnehmen.

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Ein Besuch iu Wittenberg. 457

leren auf keine Weise so fern stand, wie die kleinlichen Manieren anderer
deutscher Künstler. Aber von spezieller Nachahmung ist auch hier keine
Rede, wenigstens betrijft eine solche nur das Aeussere, Verzierung und
architektonische Umfassung.

Ein sehr anziehendes Beispiel bietet uns hiefür das bronzene Monu-
ment des Churfürsten Friedrichs des "Weisen, welches sich, von
seiner Hand gearbeitet, in der Schlosskirche zu Wittenberg befindet. Das
ganze, bedeutende Werk hat, mit dem Aufsatze, eine Höhe von etwa 12
Fuss. Es bildet eine Mische von geschmackvoller italienischer Architektur
mit ciselirtem Teppichgrunde, in welcher, im starken Relief, die Gestalt
des Churfürsten, mit den Insignien seiner Würde angethan, steht. Gestalt,
Kopf, Geberde des Churfürsten sind ungemein lebenvoll und in freier
Eigenthümlichkeit; das Churfürstenschwert, welches mit beiden Händen auf-
recht gehalten wird, giebt den Armen eine schöne ruhige Lage; der weite
Talar fliegst in einfachen, aber vollen und majestätischen Falten nieder,
welche gleichwohl durch die Bewegung der Gestalt motivirt werden. Das
Ganze ist von höchst grossartigem und feierlichem Eindruck. Die Nische
wird durch zwei schlanke kanellirte Säulen, welche einen zierlich geglie-
derten Halbkreisbogen tiagon, gebildet und von
einer leichten, reich orna-
mentirten Pilaster-Architektur eingeschlossen; ein sehr geschmackvoller
Arabeskenfries zieht sich über das Basament der Nische hin. Der Styl der
Architektur ist dem der freien italienischen (namentlich der florentinischen)
Kunst vom Anfange des sechzehnten Jahrhunderts gleich, ehe noch nüch-
terne Schulregeln oder manieristische Ausartung dieselbe verkümmert hatten;
sie steht im schönsten Einklänge mit dem Charakter der Gestalt des Chur-
fürsten. Ueber der Nische befindet sich das Wappen, und darüber, als ein
freier Aufsatz, zwei Engelknaben, die einen Kranz mit dem Wahlspruche
des Dargestellten tragen. Diese Knaben sind jedoch nicht von gleichem
Werthe mit den übrigen Theilen des Werkes und gewiss nicht von der
eignen Hand des Meisters. Zu den Seiten des erwähnten Basaments liest
man die Inschrift: Opus M. (Magistri) Petri. Fischers. Norlnbergen-
sis. Anno. 1527.

Diesem Monument gegenüber befindet sich ein zweites, von ganz ähn-
lichem Verhältniss und Anordnung, welches die Gestalt Churfürst Johanns
des Beständigen enthält. Es ist augenscheinlich aus derselben Werk-
statt hervorgegangen, doch bezeichnen es die am Fuss der Statue befind-
lichen Buchstaben H. V. als ein Werk Herrmann Vischers, des Sohnes
von Peter V. In dem Kranz des Aufsatzes befindet sich die Jahrzahl 1534. t

Auch dies ist ein Werk von hoher Trefflichkeit, kommt indess dem vorigen
an Werth nicht ganz gleich. Namentlich ist hier der Faltenwurf des Talares
nicht In so schönen grossartigen Massen gehalten und zerfällt statt dessen
in eine Reihe einzelner Partieen, welche nicht mehr die Hauptformen des
Körpers mit Deutlichkeit erkennen lassen. Auch die Architektur weicht
bereits in etwas von der Reinheit der vorigen ab, indem die Säulen zu den ^

Seiten der Nische hier mit ausgebauchtem Untertheil versehen sind. (Abbil-
dung des ersten Monuments im Ganzen, und sehr sorgfältig ausgeführte
Abbildungen der beiden fürstlichen Gestalten siehe in dem Schadow'schen
Werk, Taf. B. C. D.)

Die beiden, eben besprochenen Werke befinden sich zu den Seiten des
Altares der Schlosskirche. Hinter dem Altar derselben sieht mau noch ein
drittes, höchst vorzügliches Bronzewerk. Dies ist eine Gcdächtnisstafel,

4

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45t) Berichte und Kritiken.

welche, wie sich aus der Unterschrift ergiebt, dem Andenken des Henning
Goden, Probstes der Kirche, Professors der neugestifteten Wittenberger
Universität und eines der vorzüglichsten Rechtsgelehrten seiner Zeit, gest.
im Jahr ]521, gesetzt worden ist. Sie enthält die Reliefdarstellung einer
Krönung der Maria, ganz nach der althergebrachten Anordnung: Gott-Vater
und Christus auf "Wolken thronend und die Krone über der heiligen Jung-
frau haltend, welche zwischen ihnen, zum Beschauer gewandt, kniet. Ueber
der Krone die Taube des h. Geistes. Seitwärts, in kleineren Gestalten, der
Probst knieend und anbetend, und neben diesem Johannes der Evangelist,
welcher ihn der h. Jungfrau vorführt. Umher, in den Wolken und in den
oberen Ecken der Tafel, verschiedene Engelknaben und Köpfe von Engeln.
Das alterthümlich Feierliche der Gesammt-Anordnung dieser Composition
ist hier mit dem feinsten, geläutertsten Geschmacke aufgefasst, auf die gedie-
genste Weise zu Leben und Anmuth durchgebildet. Es ist eine Harmonie,
eine Erhabenheit und zugleich Zartheit der Linien darin, die das Auge des
Beschauers in wohlthuendster Weise berühren. Das Nackte (vornehmlich
in der halbnackten Gestalt des Erlösers) ist von einer tadellosen Vollen-
dung und durchaus in edler Fülle gehalten ; die Gewandung legt sich in
ebenso grossen, wie klaren und weichen Linien um die Körper der dar-
gestellten Personen und tritt besonders bei Gott-Vater und der h. Jungfrau
als ein classisches Muster hervor. Es sind auch hier in der Gewandung
die schönen Motive jenes älteren germanischen Styles; aber was fast ohne
Ausnahme in den früheren Werken dieses Styles, bis zum ersten A^iertel
des fünfzehnten Jahrhunderts, mehr nur als Andeutung und Intention sicht-
bar wird, das vermählt sich hier auf eine überraschende Weise mit der
höchsten technischen Vollendung und der lebenvollsten Durchführung bis
ins Einzelne. Der Ausdruck der Köpfe ist vorzüglich, der des Gott-Vater
von hoher Würde, der des Erlösers von milderem Gefühle; nur der, übri-
gens anmuthig gebildete Kopf der Maria scheint eine gewisse Starrheit im
Ausdrucke zu haben. Die Engelknaben sind im Ganzen weniger befriedi-
gend und nicht ohne ein gewisses Ungeschick in ihren spielenden Bewegungen.
— Der Meister, welcher dies merkwürdige Relief verfertigte, ist zur Zeit
unbekannt; eine Chiffre des Namens ist, bei dem gegenwärtigen Zustande
des Werkes, nicht aufzufinden. Unzweifelhaft aber dürfte auch dies der
Vischer'schen Schule zuzuschreiben sein, indem, wie bemerkt, gerade sie in
der. freien Durchbildung jenes edleren germanischen Styles vor allen aus-
gezeichnetist; so erinnert auch die schöne Gewandung des Evangelisten
Johannes auf diesem Relief auffallend an die der Apostel des Sebaldus-
grabes. Aber keines der übrigen bekannten Werke dieser Schule, — keines
vielleicht der gesammten Kunst des deutschen Mittelalters dürfte dem in
Rede stehenden, in Bezug auf Reinheit und Anmuth des Styles, an die
Seite zu stellen sein. Und dieses Werk, welches fast in allen seinen
Theilen die deutsche Kunst auf dem Gipfel der höchsten Vollendung zeigt,
befindet sich in einem wenig zugänglichen Winkel dieser Kirche, hoch in
die Wand eingemauert, so dass es nur mit Unbequemlichkeit gesehen
werden kann, und ist (wie auch die beiden vorgenannten Monumente) mit
einer Oelfarbe überstrichen, welche nicht nur den schönen Metallglanz
verdeckt, sondern vielleicht auch die feinere Modellirung (so möglicher
Weise eben im Kopfe der Maria) beeinträchtigt hat. Möge sich wenigstens
eine Gelegenheit finden, dasselbe abzuformen und in Gypsabgüssen auch

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Eiu Besuch in Wittenberg. 459

V

einer Anschauung im weiteren Kreise zugänglich zu machen!') — Der
Umriss, welchen das Schadow'sche Werk nach diesem Relief enthält (Taf. J.),
glebt die Composition des Ganzen wieder, reicht aber nicht ganz hin, nm
demjenigen, der das Relief nicht gesehen hat, die hohe Schönheit desselben
klar vor die Augen treten zu lassen.

Ausserdem befinden sich, ebenfalls hinter dem Altar und in die Wand
eingemauert, noch zwei ältere Grabsteine aus der Mitte des vierzehnten
Jahrhunderts, der eine den Herzog Rudolph I. mit seiner letzten Gemahlin
Agnes, der andre die erste Gemahlin des Herzogs, Kunigunde, in flachem
Relief darstellend. Das Schadow'sche Werk giebt von ihnen genügende
Abbildungen und hebt den schönen, weichstylisirten Faltenwurf in der
Gestalt der Agnes auf gebührende Weise hervor.

Vor den beiden, oben besprochenen Bronze-Monumenten Friedrichs ;

des Weisen und Johanns des Beständigen sieht man noch die Marmorsta- |

tuen derselben beiden Fürsten, lebensgross, knieend, und die Hände faltend, ;

in Panzer und Wappenrock. Beide sind trefflich gearbeitet und in wür-
diger männlicher Haltung. Vorzüglich interessant waren sie mir wegen I

der theilweisen und im Ganzen wohlstylisirten Bemalung. Die Gesichter i

in natürlichen Farben, Bart und Haare schwarz, die Mützen golden, ebenso
alle Schmucktheile der Rüstung, Ränder, Nägel und dergl. vergoldet; die
Wappenröcke hellblau mit goldenem Rande (früher ebenfalls ganz golden);
das Uebrige der weisse Stein. Das Ganze macht sich eigenthümlich und
nicht übel, selbst die, in gewissen, der Plastik angemessenen Grenzen gehal-
tene Bemalung der Gesichter; nur das Stumpfe der Augen ist störend, und
zeigt es, wie nöthig es ist, dass an dieser Stelle ein glänzender Stofl', der
das Licht tiefer in sich aufnimmt, angewandt werden muss (wie es auch
bei den Griechen überall der Fall war.)

Zum Beschluss dieser Uebersicht der plastischen Denkmäler Witten-
bergs erwähne ich noch des Monumentes über dem Grabe des jüngeren
Cranach (st. 1586), in der Stadtkirche befindlich. Es ist ein Hautrelief in
Marmor, die Grablegung Christi darstellend und weicht bereits entschieden
von der Weise der deutschen Kunst ab. Es ist im Style der Florentiner
dieser Zeit (der Nachfolger Michelangelo's), gleichwohl noch in einer
seltenen Tüchtigkeit und Würde ausgeführt. In dem Schadow'schen Werke (

findet sich keine Abbildung desselben. — 1

Unter den Gemälden von Lucas Cranach dem älteren erwähne ich
zuerst seines Bildes vom J. 1516, welches sich auf dem Rathhaus befindet j

und (wie auch die folgenden) in dem genannten Schadow'schen Werk durch
Abbildung und ausführliche Beschreibung näher erläutert ist. Es stellt
bekanntlich die zehn Gebote — in zwei Reihen von je fünf gesonderten
Feldern — dar. Wenn es dem Bilde noch verschiedentlich an der leich-
teren naiven Grazie, die Cranachs spätere Arbeiten auszeichnet, fehlt, so i
ist es doch im Allgemeinen durch eine volle, energische Farbe und präcise
Behandlung von erfreulicher Wirkung. Die Uebertreter der Gebote sind

i: ■

1  Ein andres Exemplar derselben Gedächtnisstafel beündet sich im Dome !;

zu Erfurt. — ^^ Ein andres Grabdenkmal in derselben Kirche ist besonders i

durch die daran enthaltene Angabe des Verfertigers interessant. Es ist das Denk- ;

mal des Matthias von Schulenburg, (gest. 1569), gross, in barocker Renaissance- '

form, und hat an der Basis die Inschrift: Oeorg Schröter v. Torgaw M. F. 1571. i

Die Arbeit ist ganz im Charakter der Zeit, mit sehr säubern Ornamenten und ?

eleganten Reliefs. Die knieende Figur des Ritters ist steif, doch von feiner Ausführung. i

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45t) Berichte und Kritiken.

in diesen Darstellungen meist Kriegsleute und überall ist ihnen eine fabel-
hafte Teufelsgestalt beigesellt; vortrefflich macht sicli letztere, wenn sie
dem Bösen wie eine Alp auf den Schultern hockt, üeber das Ganze hin
zieht sich, im Halbkreise, ein Regenbogen, dessen Schenkel auf den, in den
unteren Ecken des Gemäldes befindlichen landesherrlichen Wappen ruhen.
Es ist ein schöner Gedanke, auf solche Weise die Gnade, welche vom Fftr-
sten ausgeht, über die Sündigen und Uebelthäter hin leuchten zu lassen;
doch könnte man meinen, der Gedanke sei nicht eben künstlerisch aus-
führbar. Indess muss man gestehen, dass Cranach ein so schwierig darzu-
stellendes Motiv sehr glücklich zu behandeln wusste : nur wie ein leichter,
zitternder Flor, in zart gebrochenen, durchsichtigen Farben, breitet sich der
Bogen über die verschiedenen Darstellungen hin.

Bekannter als das ebengenannte und Öfters besprochen ist das grosse
Altarwerk aus Lucas Cranachs späterer Zeit, welches sich in der Stadt-
kirche zu Wittenberg befindet. Das Mittelbild stellt das heil. Abendmahl
dar, eigenthümlich angeordnet, indem die Jünger um eine kreisrunde Tafel
umhersitzen, mit verschiedenartig charakteristischen Köpfen. Auf dem rech-
ten Flügelbilde ist die heil. Handhing der Taufe dargestellt, welche Me-
lanchthon im Beisein eines Assistenten und dreier Palhen verrichtet; im Vor-
grund eine Gruppe geputzter Frauen als Zuschauerinnen; das Ganze nicht
ohne eigenthümliche Gemüthlichkeit. Der linke Flügel ist die Beichte,
bedeutender als das vorige Bild. In dem Beichtiger erblickt man das Por-
trait des Bugenhagen ; mit strenger Würde entsündigt er einen knieend
Reuigen (einen Bürger) mit dem Schlüssel in der Rechten, indem er zugleich
einen andern, der mehr mit Uebermuth als mit Reue sich angenähert hatte
(einen Krieger), und dessen Hände gefesselt bleiben, mit dem Schlüssel in
der Linken zurückweist. Als üntersatzbild ein viertes Gemälde mit klei-
neren Figuren : in der Mitte das Bild des Gekreuzigten, auf der einen Seite
eine Kanzel, von der herab Luther predigt, gegenüber eine anmuthig naive
Gruppe zuhörender Mädchen und Frauen mit Kindern, und tiefer im Bilde
eine nicht minder vortreffliche Gruppe ernster Männer und Jünglinge. Die
malerischen Schönheiten dieses Werkes muss man mehr im Einzelnen auf-
suchen, wie namentlich die ebengenannten Gruppen der Zuhörer bei der
Predigt mit dem liebenswürdigsten Gefühle dargestellt sind ; sonst ist in
der Ausführung, in der Formenaulfassung wie auch in der Farbe, schon
viel Handwerksmässiges. Interessant aber ist das Werk vornehmlich durch
I die Idee, die demselben zu Grunde liegt, indem es eine Darstellung der

I . vornehmsten Handlungen der protestantischen Kirche und zugleich ein

Andenken an die verehrtesten Lehrer der heiligen Schrift in sich vereinigt.
Es ist, neben den bekannten Apostelbildern Dürers in der Münchner Gal-
lerie, — wenn freilich der Technik nach keincsweges von ähnlicher Bedeut-
samkeit, doch als eins der sinnreichsten und gedankenvollsten Erzeugnisse
der neuen protestantischen Glaubensrichtung zu betrachten.

Ausserdem sind von dem älteren Cranach noch einige Gemälde in
dem Ordinaten-Zimmer (in der kleinen alten Kapelle neben der Stadtkirche)
vorhanden, die jedoch leider während der Zeit meines Besuches in Wit-

jl

l

) Ch. Sclmchardt in seinem Werke „Lucas Cranach des Aelteren Leben und
Werke" (Leipzig, 1851) erkennt weder das im Ratlihaus befindliche öemälde,
noch das Altarwerk der Stadtliirche als Arbeit von des Meisters eigner Hand an.

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Ein Resiioh in Wittenberg 4G1

tenberg unzugänglich waren. Auch das Schadow'schc Werk giebt über
dieselben keine Nachricht.

Sodann sind mehrere Gemälde von dem wenig gekannten Sohne dieses
Meisters, Lucas Cranach dem jüngeren, anzuführen. Sie befinden sich
hinter dem Altar der Stadtkirche, in guter Beleuchtung aufgestellt, und
sind in dem Sohadow'schen Werk ebenfalls beschrieben und abgebildet. Sie
sind von ungleichem Werth und auch von ungleicher Behandlungsart, so
dass man in ihnen einen, wenn auch auf keine Weise talentlosen, so doch
in
seiner Richtung minder sicheren Meister erkennt. Das anziehendste unter
diesen ist eine Gedächtnisstafel, welche der Professor G. Crackow zum An-
denken seiner im J. 1563 verstorbenen Gemahlin malen liess: Christus mit
den beiden Schächern am Kreuz, und darunter die Familie des Donators
knieend. Dies Bild erinnert überall noch an die Schule des Vaters ; es
ist von schlichter Behandlung, aber trefflich durchgebildet, von vorzüglichem
Ausdruck (besonders in den drei Gekreuzigten), und die Portraitfiguren
voll eigenthümlichen Lebens; nur die Landschaft ist unbedeutend in der
Ausführung. — Der Weinberg des Herrn, vom J. 1569, ist ein flguren-
reiches Bild von kleinerem Maassstabe. Es stellt auf der einen Seite
die Würdenträger der katholischen Kirche dar , welche den Weinberg
vernichten, auf der andern die Helden der Reformation (sämmtlich
Portraits), welche für das Gedeihen des Weinberges Sorge tragen. Das
Haupt-Interesse dieses Bildes beruht in dem Gedanken, und das naiv Poe-
tische der Composition überwiegt die künstlerischen Verdienste. Doch ist
das Einzelne, wenn es auch an Gesämmt-Eindruck fehlt, nicht übel gemacht.
(Die Christusfigur im Vorgrunde,
deren Ausführung nicht mit dem Uebrigen
stimmt, ist von neuerer Hand übermalt). — Die Anbetung der Hirten dürfte
eins der späteren Gemälde des Künstlers sein; sie vereinigt mit der älteren
naiven Compositions-Weise bereits etwas Freies, modern Pastoses in der
Behandlung der Farbe, was den Richtungen der Kunst, die in der zweiten
Hälfte des 16. Jahrhunderts allgemein wurden , angehört. Doch liegt den
Köpfen, besonders denen der knieenden Donatoren, noch immer die schlichte
Auffassungsweise der älteren deutschen Malerei zu Grunde. Das Dachge-
bälk des Stalles, in dem die Handlung des Bildes vor sich geht, ist von
einer reichen Anzahl lustiger kleiner Engelknaben erfüllt. Solche hat der
jüngere Cranach öfters darzustellen beliebt, wie z. B. auf seinem trefflichen
Bilde einer Pietk (Christus mit der Dornenkrone zwischen Maria und Johan-
nes, Donatoren und Heilige auf den Flügeln), welches sich im Dome von
Meissen, in der Begräbnisscapelle Herzog Georg des Bärtigen, befindet. —
Das vierte der in Wittenberg befindlichen Gemälde des jüngeren Cranach
stellt die Bekehrung Pauli vor; es ist das letzte Werk des Künstlers,—
im Wesentlichen aber ziemlich schwach und seinen sonst anziehenden Ar-
beiten nicht wohl vergleichbar; nur die Portraits der Donatoren sind auch
hier von erfreulicher Auffassung.

Ausser den genannten sieht man in Wittenberg noch mehrere Gemälde,
welche der Hand des jüngeren Cranach zugeschrieben werden, so in der
Schlosskirche die Portraits von Luther und Melanchthon, ganze Figuren, an
den Wänden der Kirche über den Grabstätten der beiden Reformatoren
aufgehängt. Andre Portraits derselben, ebenfalls wenigstens aus Cranach'-
scher Schule, sind in der Lutherstube (im Augusteum) und in den benach-
barten Räumen vorhanden. Am letztgenannten Orte befindet sich auch eine
sehr zahlreiche Sammlung von Portraits sächsischer Churfürsten und von

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45t) Berichte und Kritiken.

den Lehrern der Wittenberger Universität, der Mehrzahl nach (besonders
die letzteren) ganz tüchtig gemacht, durchweg von lebenvoller Auffassung
und von grossem geschichtlichen Interesse. Leider jedoch sind sie in einem
sehr vernachlässigten Zustande, der den Freund geschichtlicher Denkmale
mit tiefem Bedauern erfüllen muss — Ebendaselbst sieht man auch ein
grosses Bild des geltreuzigten Heilandes, von der Hand des jüngeren Cra-
nach (mit Monogramm und Jahrzahl versehen): der Körper weniger befrie-
digend ausgeführt, aber das Gesicht in dem schönen, milden Ausdrucke
der diesem Künstler so eigenthümlich ist.

Da die Arbeiten des jüngeren Cranach selten sind und der Name
dieses Künstlers, eines derjenigen, die den Styl der älteren deutschen Kunst
am längsten in einer manieristisch ausartenden Zeit bewahrt haben, selten
seinem Werthe gemäss anerkannt wird, so dürfte hier noch ein andres
wenig bekanntes Werk, an welchem derselbe bedeutenden Antheil hat, an
passender Stelle anzuführen sein 2). Es ist ein grosses, von verschiedenen
Händen ausgeführtes Altarwerk, welches sich in der Stadtkirche von Kem-
berg (nahe bei Wittenberg) befindet; die nachfolgende Beschreibung des-
selben verdanke ich der gütigen Mittheilung des Hrn. Professor Hampe
zu Berlin.

„In der Stadtkirche zu K. befindet sich ein Altar mit Flügelthüren,
auf dessen äusseren Seiten Begebenheiten des alten Testaments, auf den
inneren Begebenheiten des neuen Testaments dargestellt sind. Wenn die
Flügelthüren zugemacht werden, so sieht man erstlich Adam und Eva unter
einem grossen Apfelbaum: auf der rechten Seite des Bildes steht Adam,
auf der linken Eva; sie hat einen Apfel in der Hand. Im Mittelgrund,
neben Adam, schafft Gott den ersten Menschen aus einem Erdenkloss; auf
der Seite der Eva, im Mittelgründe, ist die Erschaffung des Weibes aus
der Rippe des schlafenden Adam. Im Hintergrunde das Paradies, aus
welchem sie durch einen Engel mit dem flammenden Schwerte verjagt
werden. Das Bild liinter dem rechten Flügel des Altares stellt die Sünd-
fiuth vor; hinter dem linken Flügel sieht man Loth mit seinen Töchtern.
Diese beiden Bilder sind von Einer Hand und schlechter als die andern.
Neben dem linken Flügel die Errichtung der ehernen Schlange: dieses ist
von dem Meister, welcher Adam und Eva gemalt hat, und ungleich besser
als die Sündfluth und Loth. — Werden die Flügelthüren geöffnet, so sieht
man erstlich auf dem rechten Flügel die Taufe Christi,,von der Hand des
jüngeren Cranach gemalt. Christus steht im Jordan und am Ufer desselben
ist Johannes, mit einem Felle bekleidet, welcher aus einer Kanne das
Wasser auf das Haupt Christi herabgiesst. Im Mittelgrunde mehrere Zeit-

') (In neuerer Zeit ist eine umfassende Restauration dieser Gemälde erfolgt.)
— Vorzügliche Werke des jüngeren Cranach sind ausserdem: eine Vermäh-
lung der heiligen Katharina im Dome von Merseburg und verschiedene Tafeln, zu
7.wei Altarwerken gehörig, im Westchore des Naumburger Domes. Ich habe die-
selben bereits früher (vergl. oben, S. 165, if.) beschrieben, und die Vermuthung
aufgestellt, dass sie von dem jüngeren Cranach herrühren dürften, eine Meinung,
die ich jetzt, nach genauerer Kenntnissnahme von den sicheren Werken dieses
Künstlers, mit Ueberzeugung wiederholen darf. (1837.)

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Baudenkraale in Trier.

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463

genossen der Reformation: Luther, Melanchthon, Barth. Bernhardi, David
Wenzel und Lucas Cranach d. j., welcher eine weisse Tafel in der Hand
hält; auf derselben steht sein Zeichen und: „Aet 54. 1565" ')• In der Höhe
des Bildes Gott-Vater iind der heil. Geist. Das Mittelbild ist die Kreuzi-
gung. Christus am Kreuz in der Mitte des Bildes, zu seinen Seiten die
beiden Schacher. Rechts im Vorgrunde die heiligen Frauen; die Mutter
Christi ist einer Ohnmacht nahe und wird von einigen unterstützt; neben
dieser Gruppe der Hauptmann zu Pferde; unten am Kreuz steht einer,
den man für Joseph halten möchte. Auf der linken Seite des Bildes spielen
die Krieger um das Gewand, einer zieht das Schwert; nahe bei dieser
Gruppe Pilatus in einem langen rothen Talar und einer hermelinverbrämten
Mtitze und eben solchem Kragen. Mehrere Gruppen füllen den Mittel- und
Hintergrund. Die Luft ist mit blutrothen Streifen gemalt. Das Bild hat
kein Zeichen und steht der ebengenannten Tafel von Cranachs Hand sehr
nach. Unzweifelhaft aber von Cranach d. j., wenn schon durch kein Zei-
chen beglaubigt, rührt das linke Flügelbild her, welches die Auferstehung
Christi darstellt. Unten am Grabe sieht man die schlaftrunkenen Wächter;
der eine kann bei weit aufgerissenen Augen sich noch nicht überzeugen,
ob er schlafe oder wache, der andere ist noch ganz vom Schlafe befangen,
der dritte ist voller Furcht und wie geblendet. Unter dem Mittelbilde ist
das Abendmahl, so breit wie das Mittelbild und halb so hoch als breit.
Christus in der Mitte, rechts und links neben ihm die Jünger. Es ist der
Augenblick gewählt, in dem Christus die Worte spricht: „einer unter euch
wird mich, verrathen"; die Jünger sind zum Theil bestürzt, zum Theil
nachdenkend. Im Vorgrunde rechts ist Judas, links ein junger Mann,
welcher ein Getränk eingiesst, und hinter seinem Stuhle liegt ein Hund,
auf dessen Halsband die Buchstaben J. R. S. N. stehen.''

Römische, Byzantinische und Germanische Baudenkmale in Trier und seiner
Umgebung, herausgegeben von dem Architekten Chr. Wilh. Schmidt.
I.Lieferung: die Liebfrauenkirche in Trier in 10 Lithographieen mit erläu-
terndem Text von dem Gymnasial-Direktor L H. Wyttenbach, dem
Domkapitular Dr. I. G. Müller und dem Herausgeber. Trier 1836. In
Commission bei L I. Liiiz. Preis 4 Rthlr. '

(Museum, 1837, No. 7.)

„Diese Kirche, begonnen 1227 und um 1243 vollendet (also vor der
Grundsteinlegung des Cölner Doms im Jahr 1248), im vollständigsten Ueber-
gangssty], ja bis auf die Rundbogen an den Portalen und Thurmfenstern
schon ganz dem Spitzbogenstyl angehörig und, vielleicht nicht zu ihrem
Nachtheil, nur der reicheren Ausschmückung an durchbrochenen, beblätter-
ten und gekrönten Giebeln, verzierten Spitzthürmchen, Stabwerk und ver-
schlungenen Fensterrosen entbehrend, ist nach einem höchst sinnreichen

1) Der jüngere Cranach wurde 1515 geboren. Vergl. Schuchardt, a. a, O.,

1, S. G5.

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464 BericLte und Kritiken.

und originellen Plan erbaut, ja wahrscheinlich einzig in ihrer Art, und
ihrem leider unbekannten Baumeister scheint die goldene Regel sehr wohl
bekannt gewesen zu sein, wie an verschiedenen Gebäuden von gleichen
Dimensionen, das Innere dessen am reichsten erscheint, welches dem
Beschauer auf einen Blick die meisten Gegenstände darbietet, so wie das
am grössten, welches die meisten Abtheilungen zeigt')- Das Mittelschiü'
bildet nämlich ein beinahe gleichschenklichtes Kreuz über 12 runden
Säulen, 4 stärkern in der Mitte und 8 leichtern Nebensäulen, dessen öst-
lichem Arm sich ein fünfseitig geschlossener Chor anschliesst und ihn hier-
durch gegen die 3 anderen dreiseitig geschlossenen um Einiges verlängert.
Zwischen diesen Kreuzes-Armen befinden sich eine Art mit einem halben
Achteck geschlossene Doppelkapellen, als niedrigere Abseiten, wodurch
sich die Grundfläche als ein mit Halbpolygonen umkränztes Zwölfeck
gestaltet, über dessen Mitte, d. h. den vier Hauptsäulen, ein Viereck gleich
einer Kuppel sich erhebt, welches nach Innen mit einem viergetheilten
Kreuzgewölbe geschlossen, über diesem ein niedriges hölzernes Satteldach
mit steilen Walmen trägt, an dessen Stelle sich ehemals ein sehr hoher
achtseitiger Spitzhelm befand, welcher durch einen Sturm im Jahr 1631
hart beschädigt, dann abgetragen und durch das gegenwärtige Dach ersetzt
wurde. — Die Ausführung des Ganzen ist vortrefflich, dabei so reich wie
zierlich, zumal die Portale, alles bis auf die Felder der Kreuzgewölbe
aussen wie im Innern aus Werkstücken von einem feinkörnigen, schön
gefärbten Sandsteine bestehend, wohl erhalten und nur durch wenige neuere
Zusätze verunstaltet.

„Das oben genannte Werk giebt uns nun für einen sehr mässigen Preis
zwei Grundrisse, einen Durchschnitt, die Ansicht des Aeussern, eine per-
spektivische des Innern, die 3 Portale und 1 Blatt Detailzeichnungen, alles
in ziemlich grossem Maassstabe (die Blätter haben die Grösse des Bois-
seröe'schen Werkes tiber die Denkmale am Niederrhein) auf feinem Papier
sehr sauber gezeichnet und lithographirt, mit einem gleichfalls lithographir-
ten Titelblatte, 35 Quartseiten historischen und artistischen Text und einer
werthvollen Zugabe in der angehängten Abhandlung des Hrn. Domkapi-
tulars Dr. Müller über den Sinn und die Bedeutung der in dieser Kirche
vorkommenden Bildwerke in 18 ferneren Seiten"......

Wir können nicht umhin, dem vorstellend eingesandten Aufsatze über
die erste Lieferung der Trier'schen Alterthümer noch einige Worte, zur
näheren Würdigung dieses höchst trefflichen und alle Beachtung verdie-
nenden Werkes, hinzuzufügen. Die merkwürdige Construktion des Grund-
planes der Liebfrauenkirche ist im Vorigen auf genügende Weise auss
einandergesetzt worden. Zu bemerken ist jedoch, dass, wie aus den
angeführten Erläuterungen des Hrn. Domkapitular J. G. Müller (Verfassers
der bekannten Abhandlung „über die bildlichen Darstellungen im Sanctua-
rium der christlichen Kirchen" etc.) hervorgeht, jene Grundrissform nicht
als ein Ergebniss willkürlicher Neuerung zu betrachten, sondern dass sie
in bestimmter Rücksicht auf besondere liturgische Bedürfnisse erfunden ist.
Die Kirche sei nämlich nicht bestimmt gewesen, der gottesdienstliche Ver-
sammlungsort einer Volksgemeinde zu sein, sondern der einer Priester-

') „A grandeur egale de deux interieurs, celui qui offre le plus de divisions
parait le plus vaste] celui qui prSsente le plus d'objets h la fpiSj parait le plus
niagnifique. Durand: Lefons d'architecture,
Band II. S. 42."

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Baudenkmale in Trier. 465

gemeinde, die hier besondere Offizien zu Ehren der seligsten Jungfrau
absingen sollte. Daher jene, dem Runden sich annähernde Form, ähnlich
wie die der Taufkirchen, in der sich Alles auf den Altar bezieht, welcher
im Mittelpunkt des Ganzen, unter der hohen Kuppel aufgerichtet war. Wir
bedauern, dass der Verfasser dieser Erläuterungen, bei der Durchführung
seiner, zwar höchst, annehmlich erscheinenden, Ansicht nicht auch ange-
geben hat, wie weit dieselbe auf speziellere oder allgemeinere historische
Daten gestützt ist. — Die besondere Form jener kapellen-artigen Ausbauten
zwischen den Armen des Kreuzes dürfte sodann als eine Nachahmung des
französischen Kathedralenstyles zu fassen sein, in welchem zu jener Zeit
ähnliche Ausbauten, zur Umkränzung des Chores, bereits allgemeine Sitte
waren.

Wie im Allgemeinen durch diese eigenthümliche Grundrissform und
die in derselben beruhende ästhetische Wirkung, so ist die Liebfrauen-
kirche ferner in Gemässheit des architektonischen Styles, in welchem sie
emporgeführt ist, von höchster Bedeutsamkeit für die Entwickelungs-
geschichte der Architektur des Mittelalters. Sie steht als eins der wich-
tigsten Beispiele für den Beginn der germanischen (gothischen) Baukunst
in Deutschland da und zeigt nur noch das letzte Moment des Kampfes, In
welchem das byzantinische System sich gegen das siegreich eindringende
germanische Princip zu retten suchte. Denn noch ist jenes in der That
hier nicht völlig überwunden. Haben einerseits die Wölbungen und die
hochgebreiteten Fenster überall zwar schon den leichten Schwung des
Spitzbogens, stützen sie sich nach allen Ecken bereits gegen kräftig her-
vorspringende Strebepfeiler, so sind andrerseits die Portale noch vom
Rundbogen überwölbt, ebenso die Umrahmungen der grossen Fenster an
der Hauptfronte, so herrscht überall bei den Bogenträgern noch das Element
der Säule oder des Säulenbundes (statt der germanischen Vermischung von
Pfeiler und Säule)'vor, und ist in den Gesimsen, wenigstens den horizon-
talen , noch manch ein scliwereres byzantinisches Motiv zu bemerken.
Aber diesen einzelnen Motiven zum Trotz entwickelt sich gerade in den
Gesimsen (welche in aller Architektur den Grad der inneren Durchbildung
erkennen lassen) ein neues, bewegliches Leben: jene schärferen Einziehungen
und Einkehlungen, welche der grösseren Elasticität des germanischen
Systemes angemessen sind, leuchten überall hervor; die Gurtbildung in den
Kreuzgewölben gewinnt durchweg jene, wenn ich sie so nennen darf, trau-
benförmige Gestalt, welche auf den Schwung der Gewölbkappen zurückzu-
deuten scheint; ja, es zeigt sich in diesen Profilirungen mannigfach eine
gewisse Excentricität, eine gewisse überströmende Kraft, welche eben das
Hervortreten neuer künsterischer Momente augenscheinlichst ankündigt. So
sind aach die Ornamente, an den Säulenkapitälen und in den Füllungen
der Portale bereits vollkommen frei von jenen eigenthümlich geschweiften
typischen Formen des byzantinischen Styles, vielmehr bilden sie überall,
in mannigfachster Weise, die einzelnen Formen der Natur nach, aber auch
sie sind nur ausnahmsweise erst in dem gewöhnlichen Charakter des ger-
manischen Styles gehalten. In der Herausstellung dieser Besonderheiten
besteht ein Hauptvorzug des vorliegenden Werkes vor vielen ähnlichen,
und wir müssen es dem Herausgeber ganz besonders Dank wissen, dass er
die sämmtlichen, nur einigermaassen wichtigen Profilirungen, die an der
Liebfrauenkirche enthalten sind, in ebenso sorgfältigen und in genügender

Kugler, Kleine Schriften. I. 30

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45t) Berichte und Kritiken.

Grösse ausgeführten Darstellungen, wie in zweckmässiger Anordnung der-
selben (z. B. bei den Gewölbgesimsen zugleich die der vertikalen Archi-
tekturtheile, über denen sie ausgehen) mitgetheilt hat. Möge eine solche
Darstellungsweise in allen "Werken ähnlicher Art Anerkennung und Nach-
folge finden und uns so zu einer gründlicheren Kenntnlssnahme des inneren
Wesens der architektonischen Monumente die schon so lang erwünschte
Gelegenheit geben!

Uebrigens war die Liebfrauenkirche (oder vielmehr der vorhandene
Neubau, der ein älteres, verdorbenes Gebäude zu ersetzen dienen sollte),
wie oben bereits angeführt ist, erst im J. 1227 gegründet worden, war aber
noch im J. 1243, wie aus der, in den Erläuterungen des Hrn. Direktor
Wyttenbach angeführten Urkunde hervorgeht, im Bau begriffen. Und
wenn wir demnach hier, im Westen des Rheines, in Folge sicherer histori-
scher Daten, so spät noch und bei so geistreichem Bestreben, das neue
Element der Kunst gründlich zu verarbeiten, ein Gebäude erstehen sehen,
welches den germanischen Styl noch immer nicht in seiner Reinheit zeigt,
vielmehr noch manch ein byzantinisches Element nicht abzuweisen ver-
mögend ist, so werden wir hiedurch hoffentlich die Ueberzeugung gewinnen,
dass in der Zeitbestimmung von Gebäuden, die in ferneren östlichen
Gegenden, unter minder günstigen Culturverhältnissen aufgeführt sind, etwas
minder zuversichtlich, als es bisher geschehen, zu Werlie zu schreiten sei.

Ausser diesen architektonischen Verhältnissen ist die Liebfrauenkirche
von Trier auch durch die Sculpturen, womit ihre Portale — ohne
allen Zweifel gleichzeitig mit der Erbauung — geschmückt sind, für die
Kunstgeschichte von grosser Wichtigkeit. Das Hauptportal namentlich
besitzt einen grossen Reichthum von Sculpturen, theils freistehende Statuen
von bedeutender Dimension, theils Hautreliefs das Seitenportal hat ein
anmuthvolles Relief, — das Ciiorportal nur Schmuck von zierlichem
Blattwerk. In den Zeichnungen des Herausgebers ist der Charakter
dieser Sculpturen mit Geschmack, in genügender Deutlichkeit und mit voll-
kommener Treue wiedergegeben. Auch sie verrathen sämmtlich eine Hin-
neigiing zu dein freieren germanischen Style der bildenden Kunst, so jedoch,
dass auch bei ihnen noch mannigfache Nachklänge der älteren byzantini-
schen Darstellungsweise beibehalten sind. Letzteres hier indess nicht zum
Nachtheil der in Rede stehenden Arbeiten. Sie gewinnen hiedurch eine
Verbindung von Zartheit und Ernst, von Würde und Milde, von Hoheit
und Anmuth, in welcher man die Elemente der edelsten Kunstrichtung zu
erkennen berechtigt ist. Namentlich jene Gestalten der Verkündigung
Mariä (zu den Seiten des Fensters über dem Hauptportal) sind von einer
Zartheit des Gefühles, von einer stillen Wtirde in Stellung, Bewegung und
Gewandung, wie zu jener Zeit nicht eben viel Werke der Art gefunden
werden, üeberhaupt aber finden wir in diesen Arbeiten ein neues Beispiel
von dem merkwürdigen Aufschwünge der bildenden Kunst, vornehmlich
der Sculptur, welcher um den Anfang des dreizehnten Jahrhunderts in
Deutschland stattfand, und welcher, neben mannigfach andren erhaltenen
Werken, in den Sculpturen der Klosterkirche zu Wechselburg in Sachsen,
in denen von Freiberg im sächsischen Erzgebirge (erstere in den von Hrn.
Dr. Puttrich herausgegebenen Denkmälern bereits abgebildet, die andere
einer späteren Mittheilung vorbehalten), — in so mannigfachen Elfenbein-
schnitzwerken, namentlich einigen merkwürdigen, aus Bamberg stammenden
Bücherdecken, gegenwärtig in der Hofbibliothek zu München befindlich, —

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Denkmale der Baukunst des Mittelalters in Sachsen. 467

an den ßellquienkästcLen, welche die Stiftskirche in Quedlinburg aufbe-
wahrt u. dgl. m. gefunden wird. Eigenthümlich ist den Statuen am Haupt-
portal der Liebfrauenkirche auch die Form der Baldachine, unter denen
sie stehen: ein thurm-artiger Aufbau, hier zumeist noch in einfacher, etwas
schwerer Weise gehalten, der aber gerade in diesen Motiven wiederum
den Beginn einer neuen Sitte erkennen lässt, während er bei den, gewiss
nicht bedeutend späteren Sculpturen an dem einen Ostportale des Bam-
berger Domes, vornehmlich aber bei den berühmten Statuen im Naumburger
Dome bereits ungleich reichere und mannigfaltigere Formen entwickelt. —
Sehr dankenswerth sind die ausführlichen Erläuterungen des Hrn. Dom-
kapitular Müller zu diesen Bildwerken, indem durch sie der Gedanke
und Inhalt, welcher denselben zu Grande liegt, mit scharfsinniger Con-
sequenz dargelegt und sonach eine Anschauungsweise vermittelt wird,
welche zur vollkommenen Würdigung der mittelalterlichen Kunst und ihrer
tiefsinnigen Combinationen wesentlich nothwendig ist. Wir haben diese
Erläuterungen um so mehr willkommen zu heissen, als durch sie ein, im
Ganzen noch wenig untersuchtes Feld eröffnet ist, welches bei ähnlich
fortgesetzten Bestrebungen gewiss noch zu mannigfach interessanten Ent-
deckungen führen wird.

Das ganze, nach allen Beziehungen hin so tüchtig angelegte Unter-
nehmen wird ohne Zweifel den Beifall aller Freunde der vaterländischen
Kunst gewinnen, und dem Herausgeber "für seine aufopfernde Thätigkeit
diejenige Anerkennung, welche er so rühmlich verdient hat, zu Theil wer-
den lassen.

Denkmale der Baukunst des Mittelalters in Sachsen. Bearbeitet und her-
ausgegeben von Dr. L. Puttrich, etc. Erste Abtheilung, zweite Lieferung.

Leipzig, 1836.

CMuseuro, 1837, No. f.)

Die beiden Abtheilungen des genannten Werkes, von denen die erste
die Denkmale des Königreichs Sachsen, sowie der sächsischen Herzog- und
Fürstenthümer, die zweite die Denkmale der preussischen Provinz Sachsen
umfasst, schreiten nebeneinander vorwärts und nehmen gleichmässig das
lebhafteste Interesse des Freundes vaterländischer Alterthümer in Anspruch.
Wir haben kürzlich über die ersten Lieferungen der zweiten Abtheilung
berichtet und wenden uns gegenwärtig wieder zu der ersten Abtheilung
zurück, deren erste zwei Lieferungen die Schlosskirche von Wechsel-
burg, dem ehemaligen Kloster Zschilleu, umfassen. Auch hie von ist
bereits früher die Rede gewesen; da uns dort indess nur die erste Liefe-
rung allein vorlag, so waren wir noch nicht im Stande, die Leistungen
über die Kirche von Wechselburg und die darin vorhandenen Denkmale
nach ihrer vollen Bedeutsamkeit zu würdigen und mussten uns im Gegen-
theil auf mehr allgemeine Andeutungen einschränken. '

Was zunächst die Ausstattung der vorliegenden zweiten Lieferung anbe-
trifft, so ist diese in derselben gediegenen und geschmackvollen Weise

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45t) Berichte und Kritiken.

eingerichtet, welche aus den übrigen Leistungen des Herausgebers bereits
allgemein bekannt ist. Zweckmässige Auswahl, übersichtlicihe Zusammen-
stellung und sorgfältige Treue in der Darstellung vereinigen sich hier mit
lebenvoller künstlerischer Behandlung, um ein Ganzes von reichhaltigstem
Interesse darzubieten; und wie im ersten Hefte vornehmlich die Ansicht
des Altarraumes im Inneren der Kirche (gez. von Werner, lith. von Chapuy)
ein höchst anziehendes Bild gewährte, so nicht minder im zweiten Hefte
die Ansicht des Aeusseren der Kirche, die hier nach ihren ursprünglichen
Verhältnissen, ohne die späteren Anbauten und Einbussen, dargestellt ist
(gez. von Werner, lith. von Tirpenne). Ueberall ist der Herausgeber
bemüht, sowohl die vorzüglichsten Künstler zur Ausführung seiner Unter-
nehmungen zu gewinnen (und der Name Tirpenne beweist es, wie glück-
lich diese Bemühungen sind), als auch einem Jeden dasjenige, was für
seine Eigenthümlichkeit passt, zukommen zu lassen; so dass wir nicht
befürchten dürfen, die malerischen Effekte der Darstellungen auf Kosten
der Wahrheit bevorzugt zu sehen. — So fährt auch der vom Herausgeber
gearbeitete erläuternde Text (dessen vorzüglich schöner Druck, um es bei-
läufig zu erwähnen, eine nicht tiberflüssige Zierde des Werkes bildet) in
der zweiten Lieferung fort, den Beschauer auf eine ebenso besonnene wie
anspruchslose Weise in sämmtliche Eigenthümlichkeiten der in Rede stehen-
den Gegenstände einzuführen.

Die Kirche von Wechselburg bildet, wie wir bereits in unserm früheren
Berichte angedeutet, eins der anziehendsten Denkmale aus der letzten Ent-
wickelungsperiode des sogenannten byzantinischen Baustyles. Sie hat die
Grundform einer Basilika, mit einem Querschiff auf der Ostseite, aber ohne
erhöhten Chor; die Bogenstellungen des Schiffes werden durch zierlich
geformte Pfeiler, ohne dass diese, wie zumeist bei den älteren sächsischen
Basiliken (östlich und nördlich vom Harz) mit Säulen wechseln, gebildet.
Interessant ist zunächst die Westseite, an welcher im Innern der Kirche
eine Vorhalle angeordnet ist, die vom Schiff durch vorspringende Wand-
pfeiler und eine reichornaraentirte Säule, mit Halbkreisbögen überwölbt,
gesondert wird. Darüber ist eine freie Empore, wiederum durch einen
hohen Schwibbogen überwölbt, wie solche in der Durchschneidung des
Kreuzes vorkommen. Diese Einrichtung, welche die innere Ansicht auf
Blatt 9 in einem schönen Bilde zu erkennen giebt (und die sich im Gegen-
satz gegen die ursprünglich flache Decke des Kirchenschiffes unstreitig noch
ungleich bedeutsamer machen musste, als bei dem später eingesetzten
Gewölbe desselben), scheint als eine besondere Eigenthümlichkeit des
mittelalterlichen Basilikenbaues gelten zu dürfen, obgleich sie zumeist bei
Gebäuden der Art nicht so wohl erhalten ist, wie in der Wechselburger
Kirche; nicht selten jedoch findet sich bei den ältesten deutschen Basiliken
die eben besprochene Empore noch durch eine reich gebildete Säulen-
stellung, nach der Seite des Kirchenschiiles zu, ausgefüllt. Zu den Seiten
dieser Halle und Empore erheben sich die Thürme der Kirche, deren
Unterbau im Aeusseren reich mit Lissenen und rundbogigen Friesen
geschmückt, deren Oberbau aber leider nicht mehr vorhanden ist.

Zu den reichsten Theilen der Kirche gehört das in der Wand des
nördlichen Seitenschiffes befindliche Portal mit der demselben auswärts
vorgebauten Vorhalle, Hierüber haben wir bereits bei unserem früheren
Berichte gesprochen. Nächst diesem ist besonders die Nische des Hoch-
altares, vornehmlich an ihrer äusseren Seite, durch besonderen Schmuck

i!

5

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469

wrmmmFmmm.

Deukmale der Baukunst des Mittelalters in Sachsen.

ausgezeichnet; die äussere und innere Ansicht derselben, die Grundrisse
ihrer einzelnen Theile und namentlich die wohlausgeführten Detailzeich-
nungen auf Blatt 13 geben hierüber einen genügenden Aufschluss. Im
Inneren läuft in der Altarnische, unterhalb der Fenster, eine zierliche
Bogenstellung als Wandschmuck hin. Im Aeusseren ist sie durch ein
Gesims in zwei Geschosse gesondert, von denen das untere durch vertikale
Wandstreifen (Lissenen), das obere durch Halbsäulen in mehrere Felder
eingetheilt und zwischen diesen mit jener rundbogigen Friesverzierung
geschmückt ist. Am Untergeschoss finden sich nun an diesen kleinen
Rundbögen, meist als die Träger der^lben, allerhand wundersame Figuren,
bald Menschen-, bald Thierköpfe, oder sonst fabelhafte Gestalten. Zwischen
den Halbsäulen sind die Fenster, ebenfalls mit kleinen Säulen eingefasst,
welche (wie so häufig Aehnliches in der früheren italienischen Kunst vor-
kommt) auf Löwen ruhen, die ein menschliches Haupt zwischen den Vor-
derfüssen halten. Das Dach der Nische trägt auf seiner Spitze, w^o es an
den östlichen Giebel der Kirche anstösst, ein grosses bärtiges menschliches
Haupt; über diesem ist im Giebel ein kleines Fenster mit Rosetten-förmiger
Umfassung, in deren Ecken man ein Paar Delphine bemerkt, angebracht;
endlich, auf der Spitze des Giebels, ein zweites Haupt, hier aber im Cha-
rakter eines Jünglings. Der Herausgeber theilt Erklärungen zu einigen
dieser Darstellungen, soweit es die bisherige Kenntniss von der Symbolik
des Mittelalters verstattet, mit. Im Allgemeinen scheint es, als ob es gewagt
sein möchte, jedem Einzelnen solcher Bildungen eine besondere Bedeutung
zuzuertheilen; Referent ist der Meinung, dass dergleichen (wie z. B. auch
in den Miniaturverzierungen von Manuscripten aus der Zeit des byzantini-
schen Styles) in seiner besonderen Formation zumeist aus dem phan-
tastischen Sinne der Zeit, der so häufig in's Arabeskenhafte hinüberspielt,
hervorgegangen sein möge. Gleichwohl aber kann es nicht in Abrede
gestellt werden, dass der Gesammtexistenz dieser wundersamen Darstellun-
gen denn doch ein gewisser gemeinsamer Sinn zu Grunde liegen müsse,
und so scheint in der That Boisser^e's Hypothese (welche der Herausgeber
nach brieflicher Mittheilung vorlegt): — „dass man dieselben aus dem
Exorcismus bei der Weihung der Kirchen erklären müsse, indem durch
diesen alle bösen und unreinen Dämonen aus dem Hause Gottes vertrieben
und gleichsam versteinert an der Aussenseite des Chores oder Allerheilig-
sten festgebannt seien" ^ eine in allgemeiner Beziehung ^sehr beachtens-
werthe Ansicht zu enthalten, vornehmlich für die Fälle, wo die wilden
oder dämonischen Figuren der Art als Träger von Säulen oder Bögen,
somit von der Last des kirchlichen Baues gefesselt, angewandt sindWie
aber hiemit die Erklärung jener beiden Köpfe, die auf den Spitzen des
östlichen Theiles angebracht sind, zu verbinden ist, müssen wir dahinge-
stellt sein lassen Beiläufig mag hier noch erwähnt werden, dass einige

') So -wird auch mehrfach der Fälle erwähnt, dass man bei dem «rsten
Bau von christlichen Kirchen, die an der Stelle von heidnischen Tempeln ge-
gründet wurden, die heidnischen Götzenbilder in den Fuss des neuen Gebäudes
eingemauert habe. — Beide Köpfe tragen eine Art spitzer Mütze, ähnlich wie
mit einer solchen im Mittelalter durchweg (und so auch auf dem Relief an der
Kanzel der Wechselburger Kirche, welches das Wunder der ehernen Schlange
darstellt) die jüdische Nation bezeichnet wird. Doch wissen wir nicht, ob dieser
Umstand hinreiche, um zu einer hierauf bezüglichen Deutung der Köpfe Anlass
zu geben.

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45t) Berichte und Kritiken.

Erklärer (besonders nach dem Vorgange des Herrn von Hammer) in diesen
phantastischen Darstellungen eine besondere Geheimschrift, in näherem
oder fernerem Bezug auf gnostische Mysterien, vermuthet und nachzuweisen
sich bemüht haben, — eine Auffassungsweise, die — freilich nur unter
Voraussetzung der vorsichtigsten und unbefangensten Nachforschungen —
vielleicht ebenfalls zu allgemeineren Resultaten führen könnte.

Wichtiger indess, wie durch ihre Architektur und die mit derselben ver-
bundenen Zierraten ist die Kirche von Wechselburg dadurch, dass sie —
gewiss ein höchst seltenes Beispiel ! — noch die ursprüngliche Kanzel und
den Schmuck des Hochaltares, beides, wie die Kirche selbst, im spät-
byzantinischen Style und mit den merkwürdigsten, ihrer Errichtung gleich-
zeitigen Sandsteinsculpturen versehen, besitzt'). Die Gesammtanordnung
beider, sowie einzelne ihrer Sculpturen waren bereits im ersten Hefte mit-
getheilt; im zweiten finden sich die übrigen von diesen Sculpturen darge-
stellt und, nach Zeichnungen von Geyser jun., von verschiedenen Münchner
Künstlern lithographirt. Wir wollen hier, ohne aufs Neue auf die interes-
sante architektonische Gestaltung beider Hauptgegenstände einzugehen, nur
eine flüchtige Uebersicht der an ihnen vorhandenen Sculpturen, welche
meist aus Hautreliefs, zum Theil aus freien Statuen, bestehen, geben. An
der Kanzel ist vornehmlich die Brüstung reich damit verziert. In der Mitte
der Vorderseite die Gestalt des thronenden Erlösers, als Weltenrichters,
in dem alterthümlich hergebrachten byzantinischen Typus, dessen Motive
I aber mit geistreicher Freiheit benutzt sind; um ihn her die vier Symbole

jt' der Evangelisten. Zu seinen Seiten, an den schmalen Eckfeldern, die

I ^ Gestalten der Maria und des Täufers Johannes, der Fürbitter am Tage des

Gerichtes, beide stehend und die Hände in flehender Geberde emporgehoben;
I f der Faltenwurf der Gewandung bei beiden von vorzüglicher Schönheit und

l'l in grossen edlen Linien angeordnet. An der einen Seitenwand sieht man

Ii" das Wunder der ehernen Schlange, an der andern das Opfer Abrahams

; dargestellt, letzteres der Composition nach ganz in der Weise wie an den

ältestchristlichen Sarkophagsculpturen, zugleich aber, wenigstens in der
Gestalt des Abraham, in einer eigenthümlich grossartigen Weise belebt.
Beide Darstellungen deuten, nach jener altchristlichen Symbolik, welche
sich das gesammte Mittelalter hindurch erhalten hat, auf den Opfertod
„ des Erlösers und schliessen sich dem Mittelbiide somit, wie die Ver-

' f heissung der Erfüllung an. Doch scheint dieser Cyklus noch eine grössere

Ausdehnung gehabt zu haben; wenigstens finden sich an der ünterwand
unter der Darstellung der ehernen Schlange noch die beiden Halbfiguren
(das Untertheil derselben ist beschädigt) von Abel und Cain, beide von
einer vorzüglichen Schönheit und geistreichen Charakteristik. Sie waren
bereits in der ersten Lieferung in einem etwas grösseren Massstabe abge-
bildet (sind auch bei der Gelegenheit von uns sclion näher besprochen
worden).

Von ähnlicher Vorzüglichkeit, wennschon den eben genannten Halb-
figuren nicht ganz am Werthe gleich, sind sodann die Sculpturen, welche
den reichen Bau des Hochaltares schmücken. Diese bieten noch das eigen-

') In der alten Liebfrauenkirche zu Haiborstadt befinden sich, zu Anfange
des Chores, zwei niedrige, im byzantinischen Geschmack verzierte Mauerbrüstungen,
welche unstreitig ebenfalls als die alten Kanzeln (deren man ursprünglich zwei,
ji; für das Evangelium und für die Epistel, bedurfte) zu betrachten sind. Andre

I*"- Beispiele sind dem Referenten in Deutschland nicht bekannt.

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Deukmale der Baukunst des Mhtelalters in Sachsen. 471

Ihümliche Interesse, dass, die ursprüngliche Bemalung an ihnen erhalten
ist, während an denen der Kanzel keine Spur von Farbe gefunden wird.
Zuoberst die überlebensgrossen Statuen des gekreuzigten Erlösers, der
Maria und des Evangelisten Johannes. Christus ist, wie gewöhnlich in
der byzantinischen Kunst, mit einem Schurz bekleidet, die Füsse jedoch
mit Einem Nagel an das Kreuz geheftet. Bein Körper, vornehmlich der
Oberkörper, ist bereits trefflich ausgebildet, ebenso auch die Beine, doch
diese im Verhältniss etwas zu fein. Die drei Arme des Kreuzes haben
einen rossettenförmigen Ausgang, darauf drei Halbflguren angebracht sind:
zuoberst Gott Vater, niederwärts deutend, einen Vogel (die Taube des
heiligen Geistes) auf dem Arm ; zu den Seiten zwei liebliche geflügelte
Engel, welche die Arme in klagender Geberde gegen Christus ausstrecken.
Am Fusse des Kreuzes liegt eine männliche Gestalt mit langem Bart, in
weitem weissem Gewände, welches mit der Kopfbedeckung Ein Stück aus-
macht und in vorzüglich schönen Falten den Körper umfliesst; in einem
Kelche scheint er das Blut des Erlösers aufzufangen. In Rücksicht auf
die Bedeutung dieser Figur führt der Kelch zunächst auf die Vermuthung,
dass sie den Joseph von Arimathia (— ^^als Repräsentanten des erleuchteten
patriarchalischen Judenthumes" —) darstelle, der in dem gefeierten lieiligen
Gral, der Legende zufolge, das Blut Christi gesammelt hat; auch spricht
der Herausgeber diese Vermuthung als die wahrscheinlichere aus, aber die
Lage der Figur dürfte dem vielleicht nicht ganz angemessen sein. Das
weite weisse Gewand lässt den Herausgeber auch auf die Person des Laza-
rus schliessen, aber hier scheint wiederum der Kelch nicht am Ort: —
gewöhnlich wird in ähnlicher Stellung am Fusse des Kreuzes der irdische
Ahnherr Christi, Jesse (Isai, der Vater Davids) dargestellt; doch möchte
auch hier der Kelch befremden, wenn man ihn in solcher Beziehung nicht
vielleicht einfach als das Symbol der Erlösung, welche durch Christi
Opfertod auch den Frommen des alten Bundes zu Theil wurde, betrachten
will. Jedenfalls dürfte auch diese Figur, wie die gesammte Darstellung,
wiederum zur genaueren Erforschung der christlichen Symbolik Anlass
geben. Von vorzüglicher Schönheit ist sodann die Gestalt der Maria, in
Bezug auf Körperform und Verhältniss, auf Geberde und den in anmuth-
voller Würde ausgebildeten Faltenwurf der Gewandung; ähnlich, obgleich
diesen Vorzügen nicht ganz gleich, die Figur des Johannes; beide stehen
auf angstvoll niedergestürzten gekrönten Männern, von denen der eine
jugendlich bartlos, der andere bärtig ist: der Herausgeber vermuthet in
ihnen eine Darstellung des überwundenen Heidenthumes und des pharisäi-
schen Judenthumes, eine Gegenüberstellung, die indess durch die Eigen-
thümlichkeiten der Figuren nicht weiter motivirt ist, wennschon im Allge-
meinen die Besiegung eines bösen Principes darin ausgesprochen sein muss.

Höchst anziehend sind ferner die Figuren, welche, in den Nischen an
den Seitentheilen des Altarbaues angebracht sind und die der Herausgeber
als Josua und David, Samuel und Salomo erklärt. Das königliche Ornat,
Krone, Scepter und Saitenspxel, mit welchen Insignien die zweite Figur
versehen ist, rechtfertigen bei dieser die Benennung vollkommen und deuten
somit wenigstens auf die Sphäre des alten Testamentes", als welcher auch
die übrigen Personen angehören müssen, obschon man geneigt sein dürfte,
zwischen ihnen unter einander, und auch vielleicht zu den Figuren des
Oberbaues, speciellere Bezüge zu suchen. Doch können wir die Annahme
des Herausgebers nicht geradezu Aviderlegen. In sämmtlichen Figuren ist

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472 Bericlite und Kritiken.

hier eine ausserordentliche Schönheit und Einfalt der Linienführung, welche
den wohlthuendsten Eindruck auf das Auge des Beschauers hervorbringt;
die Gestalt, welche der Herausgeber als Samuel benennt, trägt einen Mantel,
dessen Faltenwurf an die reiflichst durchdachten Formen der antiken Toga
erinnert, und doch ist in der Bewegung der Gestalt eine Milde, welche nur
in den Werken christlicher Kunst gefunden wird; der jugendliche König
neben ihm (Salomo) trägt das Gepräge der holdesten Naivetät. Endlich
befinden sich unterwärts, in den Ecken über den untersten Bögen, noch
ein Paar Brustbilder, die wiederum, und vornehmlich das eine, den lie-
benswürdigsten Styl erkennen lassen. Der Herausgeber erklärt sie als
Engel, und in der That dürften die Scepter-artigen Stäbe, die sie in den
Händen tragen (analog der älteren Darstellungsweise, welche die Engel
stets als Boten charakterisirt), obgleich den Figuren die Flügel fehlen,
diese Erklärung rechtfertigen; doch ist es bei dieser Deutung auffallend,
dass gleichwohl die am Crucifix dargestellten Engel mit Flügeln versehen
sind; ausserdem tragen die Figuren Heiligenscheine (die übrigens den
Engeln häufig auch zukommen), und es dürfte die Frage sein, ob hier
nicht vielleicht ein Paar heiliger Schutzpatrone des Altares dargestellt sein
möchten, was freilich mit dem Gesammtcyklus der Altarfiguren nicht recht
zu stimmen scheint.

Am Eingange zum Altarraum, an den Eckpfeilern, welche denselben
vom Querscliiff sondern, stehen in geringer Höhe über dem Boden noch
zwei Statuen, beide wiederum von vortrefflicher, grossartiger Arbeit. Die
eine stellt einen Krieger, in beinahe antikem, römischem Kostüm, die andre,
wie es scheint, einen Priester in weiter feierlicher Gewandung, mit einem
Scepter in der Hand, aber ohne die besonderen Abzeichen christlichen
Rituals, dar. Der Herausgeber vermuthet in jenem das Bildniss des Grün-
ders der Kirche, in diesem das desjenigen Geistlichen, welcher die Ein-
weihung vollzog. Dieser Ansicht kann Referent nicht wohl beistimmen.
Bei Portraitdarstellungen würde man gewiss, wie es aus allen sicheren
Beispielen der Art hervorgeht, das Kostüm der Zeit beobachtet, gewiss
nicht eine ideale Behandlung angewandt haben. Es dürfte sich vielmehr
als wahrscheinlich herausstellen, dass auch diese Statuen zu dem Bilder-
cyklus des Altares in einer besondern Beziehung stehen, und ihrer Eigen-
thümlichkeit gemäss, sowie in Rücksicht auf die dort dargestellten Figuren
des alten Testaments, möchte man hier am Besten auf die Personen des
Josua und Aaron rathen können. Wichtig ist noch der Umstand, dass beide
Statuen mit den Pfeilern, an welche sie sich anlehnen, aus Einem Stück
gearbeitet, also gleichzeitig mit dem Bau der Kirche sind, was sodann auch
einen ähnlichen Schluss für die übrigen, im Styl vollkommen verwandten
Sculpturen erlaubt.

Endlich ist noch des Grabsteines zu erwähnen, welcher die Bildnisse
des Stifters der Kirche, des Grafen Dedo IV. (st. 1190), der als solcher
durch das Modell der Kirche in seinem rechten Arme bezeichnet wird,
und seiner Gemahlin enthält. Beide Figuren tragen das Gepräge desselben
Styles, wie die übrigen vorhandenen Sculpturen, auch ist die Gewandung
an ihnen wohl verstanden; doch erscheint letztere (wenigstens in der Zeich-
nung) auf eine mehr wulstige Weise ausgeführt.

Alle äusseren Umstände scheinen hier darauf hinzudeuten, dass die
sämmtlichen so eben besprochenen Sculpturen, sowie auch das Gebäude
selbst, einer und derselben Periode, und zwar der um den Schluss des

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35 f'

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Denkmale der Baukunst des Mittelalters in Sachsen.

473

zwölften Jahrhunderts, angehören; auch tritt noch nirgend das Gepräge der
neuen Kunstweise, welche sich im Verlauf des dreizehnten Jahrhunderts,
in Deutschland verbreitete, mit Entschiedenheit hervor. Kein namhaftes,
der gothischen Architektur angehöriges Motiv in den ursprünglichen Theilen
des Gebäudes, kein bestimmtes Motiv des verwandten bildnerischen Styles,
den man (wie auch die gothische Architektur) als den germanischen zu
bezeichnen begonnen hat, in den Sculpturen; oder wenn in diesen etwas
von dessen weicherer Bildungsweise hervortritt, so zeigt es sich doch
augenscheinlich, dass dies unmittelbar aus dem subjektiven Gefühle des
Künstlers, nicht durch ein neues, abweichendes Gesetz, hervorgebracht ist.
Wenigstens kann dergleichen nur als der Beginn eines noch unwillkürlichen
üeberganges zu den nach dieser Zeit hervortretenden neuen Richtungen in
Leben und Kunst betrachtet werden. Vielmehr ist das Element, in welchem
sich diese Sculpturen bewegen, vorherrschend noch das der byzantinischen
Kunst, aber die Motive derselben sind durchweg (nur mit Ausnahme des
noch in Etwas mehr alterthümlichen Christusbildes an der Kanzel) mit
einer so lebendigen Freiheit benutzt, mit einem so lauteren Gefühle ausge-
bildet, dass in der That schon ein geübtes Auge dazu gehört, um immer
noch den byzantinischen Charakter durchblicken zu sehen. In mehreren
Partieen ist sodann auch {wie in der italienischen Kunst des dreizehnten
Jahrhunderts) der byzantinische Typus mit grösstem Glück auf seine
ursprüngliche Quelle, auf die Bildungsweise des classischen Alterthumes,
zurückgeführt, ja dies geht soweit, dass man im Einzelnen direkte Studien
nach der Antike voraussetzen möchte, obgleich wohl nirgend das eigen-
thümliche Gepräge christlicher Auffassung vermisst wird. Vor Allen trifft
diese Bemerkung jene beiden höchst schönen Halbfiguren des Abel und
Cain; der Herausgeber bezeichnet den Kopf des ersteren, seiner Formen-
bildung nach, geradezu als einen „wahren Niobekopf"

Sind nun diese Umstände allerdings zwar im höchsten Grade über-
raschend, so findet sich doch nichts in ihnen, was die angenommene Zeit
der Anfertigung verdächtigen könnte. Höchstens dürfen wir dieselbe, wenn
wir auf die äusseren, jedoch Avahrscheinlichen Umstände keine Rücksicht
nehmen, bis in die ersten Jahrzehnte des 13. Jahrhunderts oder etwa bis
gegen dessen Mitte hinabsetzen. Schon mehrfach ist in neuster Zeit —
und Referent hat in diesen Blättern das Seinige dazu beigetragen — auf
eine namhafte Anzahl von Werken bildender Kunst in Deutschland auf-
merksam gemacht worden, welche sämmtlich der Periode um den Anfang
des 13. Jahrhunderts angehören und in denen sich ebenso die Anzeichen
eines ähnlich bedeutsamen Aufschwunges der Kunst, in derselben Richtung
wie bei den Wechselburger Sculpturen, kund geben, wenn freilich die
letzteren bis jetzt alles Andre noch weit überragen. Den Bildungsgang
der Künstler, welche diese Sculpturen angefertigt, nachzuweisen, möchte
indess bei dem gegenwärtigen Stande der Kunstgeschichte noch immer seine
grossen Schwierigkeiten haben. Die direkten Erinnerungen an die Antike

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') Vielleicht dürfte sich eine Gelegenheit finden, die Köpfe des Abel und
Cain in Gyps abformen zu lassen. Gewiss würde durch eine Verbreitung solcher
Gypsabgüsse, für die es auf keine "Weise an Abnehmern fehlen kann, den Freun-
den mittelalterlicher Kunst ein werther Dienst geleistet werden, indem natürlich
im Abguss das Wesen des plastischen Kunstwerkes ungleich klarer erkannt wer-
den muss, als in einer kleinen Zeichnung.

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474 Berichte uiid Kritiken.

sind auf den Einfluss italienischer Kunst gedeutet worden; doch dürfte
eine solche Ansicht sehr problematisch sein, da bisher, bei den sorglich-
sten Kunstforschungen, in Italien vor der Zeit des Nicola Pisano (und im
spätesten Fall wären die Wechselburger Sculpturen mit dessen frühesten
Jugendarbeiten gleichzeitig) noch nichts, was irgend eine namhafte Bedeu-
tung hätte, an's Licht getreten ist i). Und was ein specielles Studium der
Antike anbetrifft, so befanden sich auch in jener frühen Zeit einzelne Werke
derselben in Deutschland, welche immerhin wenigstens geeignet sein konn-
ten, den Sinn strebsamer und hochbegabter Künstler auf eine würdige
Bahn zu leiten; um nur Ein Beispiel anzuführen, so sieht man noch gegen-
wärtig an einem Reliquienkasten im Zitter der Stiftskirche zu Quedlinburg,
dessen Anfertigung um das Jahr 1200 durch eine Inschrift feststeht, einen
grossen, in Amethyst geschnittenen antiken Bacchuskopf angebracht, der,
gegenwärtig zwar etwas beschädigt, gewiss schon im Stande sein durfte,
zu einer classischen Auffassung der Naturformen Anlass zu geben.

So treten denn die in Rede stehenden Lieferungen des Puttrich'schen
Werkes als ein sehr wichtiger und gewiss folgereicher Beitrag in die Wissen-
schaft der deutschen Kunstgeschichte hinein. Auch in den Fortsetzungen
haben wir ähnlich bedeutsame Mittheilungen zu erwarten. Bereits für das
nächste Heft der ersten Abtheilung verspricht der Herausgeber Darstellungen
der goldnen Pforte zu Freyberg und der an ihr vorhandenen Sculpturen,
welche mit denen der Kirche zu W^echselburg eine auffallende Verwand-
schaft haben. Referent hat bereits das Vergnügen gehabt, einige dieser
Blätter zu sehen, die nicht minder anziehende Darstellungen enthalten und
der Gesammterscheinung des Heftes mit Begierde entgegensehen lassen. —
In den folgenden Heften der zweiten Abtheilung wird die Domkirche von
Naumburg behandelt werden. Auch die hierauf bezüglichen Blätter hatte
der Herausgeber die Güte dem Referenten mitzutheilen; Avie die archi-
tektonischen Theile dieses interessanten Bauwerkes, so sind namentlich
die dort befmdlichen berühmten Statuen aus der Periode des entwickelten
germanischen Styles in diesen Zeichnungen mit einer Vollendung und
Treue dargestellt, welche allen Ansprüchen Genüge leistet und somit auch
hier die reichsten Beiträge zur Geschichte der vaterländischen Kunst ver-
lieisst. Ueberhaupt sind die Sammlungen des Herausgebers gegenwärtig zu
einem solchen Reichthum angewachsen, dass wir der schönsten Vollendung
seiner grossartigen Unternehmungen entgegensehen dürfen.

Auch die, noch nicht genügend gewürdigte Statue des Kaiser Friedrich II,
(reg. von 1215—1250), welche sich zu Capua, in einer Nische neben dem römi-
schen Thore, befindet, ist bestimmt uicht älter als die Wechselburger Arbeiten.
Aach sie hat in der Gesammtanlage, in der ruhig steifen Stellung der Beine, in
der Behandlung des Faltenwurfes, noch immer viel Byzantinisches, obgleich die
Auffassung ebenfalls schon von einer schönen, lebendigen Freiheit, mit ähnlichem
Eingehen auf das Vorbild der Antike, zeugt. Die Brustpartie ist namentlich sehr
gut ausgeführt, Kopf und Hände sind leider nicht mehr vorhanden.

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Die Miniaturen etc. der Kgl. B. Hofbibliothek in Ascliaffenbnrg. 475

Die Miniaturen und Manuscripte der Köiiigl. Bayerischen Hofbibliothek
in Aschaffenburg, beschrieben und erläutert von Joseph Merkel, Hof-
bibliothekar und Professor der Philologie am Lyceum in Aschaffenburg.
Nebst vierzehn Blättern mit Umrissen. Aschaffenburg, 1836. Klein Fol.

(Mus. 1837, No. 13.)

Wir empfangen in diesem Werke einen wichtigen Beitrag zur Geschichte
der deutschen Kunst, welcher das Material für das Studium derselben in
einer schätzenswerthen Weise vermehrt und namentlich zur Ausfüllung
einiger besondren Lücken Gelegenheit giebt. Die beigefügten Abbildungen,
welche von Hrn. J. v. Hefner, Professor an der Gewerbschule zu Aschaf-
fenburg, gezeichnet und gestochen sind und das Gepräge eines lebendigen
Eingehens in den Geist der Originale tragen, dienen dazu, die Brauchbar-
keit des Werkes in der angedeuteten Beziehung Mesentlich zu erhöhen.

Die interessantesten Miniaturwerke der Aschaffenburger Bibliothek sind
diejenigen, welche auf Befehl des Kardinals Albert von Brandenburg, Kur-
fürsten von Mainz, in den Jahren 1520 — 1530 angefertigt wurden. Da
manches in diesen Werken mit den Lebensverhältnissen Alberts in einiger
Beziehung steht, so schickt der Verfasser eine kurzgefasste Biographie
dieses merkwürdigen Mannes voraus, welche in scharfen Umrissen ein
lebendiges Bild von seinem Charakter und seinem Streben entwirft. Albert
ist für die Geschichte der Kunst und Wissenschaft jener Zeit ein wichtiger
Mittelpunkt; man möchte versucht sein, ihn —• soweit es das Verhältniss
eines einzelnen deutschen Prälaten zu dem italienisch (und zwar florentinisch)
gebildeten Oberherrn der gesammten Kirche gestattet — mit seinem grossen
Zeitgenossen Leo X. zu vergleichen. In Halle hatte er, um der Reforma-
tion Grenzen zu setzen, ein reiches Stift mit gelehrten Canonicis gegründet,
die Stiftskirche (Moritzkirche) prächtig ausgestattet und mit Kunstwerken
und Heiligthümern geschmückt. Die Beschreibung, welche der von Albert
begünstigte Dichter Georgius Sabinus hievon und von des Kurfürsten
Erfüllung seiner kirchlichen Functionen giebt, theilt der Verfasser in einer
deutschen Uebersetzung mit; wir können uns nicht enthalten, hier die-
jenigen Distichen, welche sich zunächst auf Gegenstände der Kunst bezie-
hen, folgen zu lassen, indem die Anschaulichkeit der Darstellung ein eigen-
thümliches Interesse gewährt: ,,In Halle, gegen Westen, wo die Saale die
Mauern der Stadt bespült.

Ragt, aus mächtigen Steinen gefügt, oiu heiliger Tempel;
Albert, der edele Fürst, baute das herrliche Werk.

Dir, Mauritius, ist es geweiht und jener Maria,

Die des erstandenen Herrn Züge vor Andern geschaut!

Werke von Marmor schmücken des Bau's hochragenden Eingang,
Unter dem wandelnden Fuss leuchtet das bunte Gestein.

Ringsum wallet herab von deu Wänden der Teppiche Zierde,
Welche des belgischen Volks künstliche Nadel gestickt;

Fäden von strahlendem Gold durchziehen das reiche Gewebe,
Die feinbildeiide Hand hell in die Fläche gewirkt.

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476 Berichte und Kritiken.

Von Schwibbogen umspannt aus Marmor, schwebet die Orgel,

Und mit der Vögel Gesang eifert ihr lieblicher Ton,
Wie von dem Lenze geweckt aus frisch umlaubtem Gezweige

Schmelzende Klage und Lust tönen in süssem Gewirr.
Bald auch rauschet sie auf mit dem Klang hellschmetternder Erze,

Bald nachahmend im Ton mächtiger Trommel Geroll,
Trommelgetön, "Werkzeug des in Wuth hinstürmenden Mavors,
Muth einflössend und Lust, feindlichen Kampf zu bestehn.
Mit den Gemälden, die hier voll Anmuth prangen, verglichen,

Schwindet der Göttin Gestalt, welche Apelles erschuf;
Doch kein sinnebethörendes Werk ist hier zu erblicken,

Venus, der lockenden, sind heilige Orte versagt. —
Wie von Qualen zerfleischt, starkmüthig die Gläubigen litten,
Zeigt dem ergriffnen Gemüth rühren-d das reine Gebild —
I Wie uns der Jungfrau Sohn, dem Himmel und Erde gehorchen,

Heilig in Leben und That lehrte des Vaters Gebot, ^

Wie sein heiliges Blut hinströmt am Stamme des Kreuzes,
Welches von Sünde und Tod löset der Menschen Geschlecht,
• Wie er am Ende der Welt einst naht als mächtiger Richter,

Wägend Verdienst und Schuld, göttlich bestrafet und lohnt, —
Dort, ^0 mitten im Tempel empor zur ätherischen Wölbung

Rastlos wechselnder Chor sendet den frommen Gesang,
Hemmet die eiserne Schranke den Schwaim andrängenden Volkes,

Und reicbschimmernde Pracht glänzt dem erstauneten Blick;
Röthliche Flammen umglühn zahllos die erhabnen Altäre,

Wie von der Sterne Gewühl funkelnd der Himmel erglüht.
Was aus Minen zu Tag Pannonien fördert an Silber,

Was von Gold ihm gewährt nimmer versiegender Schacht,
Was in den Wellen der Tagus wälzt und der reiche Paktolus,

Scheinet, den einzigen Ort herrlich zu schmücken, vereint.
Dort steht Carl, der Beherrscher des Reiches, in würdigem Abbild,
Strahlend im lockigen Haar tragend des Reichs Diadem.
; Wie er erscheint, wenn Herrschergewalt ausübend im Rathe,

Er rechtskräftigen Spruch mächtigen Fürsten ertheilt;
Köstlich verziert umschlingt ihm den Nacken des phrygischen Widders

Goldenes Vliess, und die Hand fasset das blitzende Schwert.
Albert selbst steht hier in ähnlichgestaltetem Bildniss,

Der aus eigenem Schatz kaufte den kirchlichen Schmuck} ■
Edles Gestein umfasst weitleuchtend die doppelte Krone,

Während den Bischofstab kräftig die Rechte umschliesst.
Doch vor sämmtlichen ragt ein silbergetriebenes Bildwerk.

Panzergeschmeide bedeckt schützend die Rittergestalt;
Held Mauritius ist es, im Bild auch zeiget die Kraft sich,

Seine Gebeine bewahrt sorglich der innere Raum." — U. s. w. ')

Der Verfasser theilt obiges Gedicht als Probe einer Anthologie aus latei-
nischen Dichtern des
15, und 16. Jahrhunderts mit, welche er, besonders in
Beziehung auf vaterländische Geschichte, zu bearbeiten beabsichtigt. Gewiss
wird er sich durch ein solches Unternehmen den lebhaften Dank der Freunde
der Geschichte erwerben, indem die Quellen der Art, in welchen sich das Bild
der Zeiten oft am Unmittelbarsten abspiegelt, bisher gewiss noch lange nicht
genügend benutzt sind.

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Die Miniaturen etc. der Kgl. B. Hofbibliothek in Ascliaffenbnrg. 477

Wir gehen nunmehr zu dem eigentlichen Gegenstande, den dag vor-
liegende Werk behandelt, über, zunächst zu den Albertinischen Hand-
schriften, welche mit Miniaturgemälden versehen sind. Zwei von diesen,
ein Missale und ein Grebetbueh, sind von dem berühmten Miniaturmaler
Nicolaus Glockenton von Nürnberg ausgemalt. Neudörffer sagt von
diesem: „Ich habe nicht gehört, dass ein fertiger Illuminist, als dieser Mann,
Nico!aus mein lieber Freund, gewesen sei, der auch darzu fleissig war, er
illuminirte dem BischolF von Mainz ein Messbuch, dafür gab er ihme 500 fl.,
und hat auch sonsten viel Fürsten arbeit. Starb A. 1560."

Von vorzüglicher Bedeutung ist das eben erwähnte Missale, auf
dessen letzter Seite sich die folgende Inschrift befindet: Ich Nicklas
Glockendon zu Nurenberg hab disses Bhuch illuminiert und
vollent im jar 1524. Die Malereien entsprechen im Allgemeinen dem
Styl der Nürnberger Schule, wie sich derselbe unter Dürers Nachfolgern
und Anhängern gestaltete: „Treuherzige Naivetät (sagt der Verfasser), haus-
machene Tüchtigkeit, frommes Gefühl sprechen hier rührend oder fröhlich
und schalkhaft sich aus; oft nicht ohne zarte Empfänglichkeit und Sinn
für die Natur und ihre Formationen in Thier- und Pflanzenwelt, in Luft
und Wasser. In den Randzeichnungen begegnet uns eine Fülle von Blu-
men, bisweilen von ausgezeichneter Natürlichkeit und Färbung, umsurrt
von feingegliederten glänzenden Käfern und bunten Schmetterlingen, die
aus den süssen Kelchen emsig naschen — Pfauen in stolzer Farbenpracht,
Libellen iind Schnecken, knappernde Eichhörnchen, Windspiele und Hasen
über die leichtgezogenen Arabeskenbahnen hinjagend; kampflustige Hahnen
sich zornig messend; Hasen, die mit behaglicher Schadenfreude den Jäger
braten etc. — vor Allem zeigt sich Reinecke Fuchs, der Schelm, in man-
cherlei Geschäften etc. — Dann ziehen uns wieder Engel an, die in Blumen-
kelchen auslaufen, Kinder, die auf Blüthen schaukeln; andre, welche tanzen
oder in Blumen sitzen und musiciren" etc.

Die ersten zwölf Seiten nimmt, wie gewöhnlich, der Kalender ein, mit
ringsumlaufenden Randzeichnungen. Von den Monatsbildern sind auf
T. III. einige Scenen des Januar, März, Mai und November in Umrissen
mitgetheilt, welche eine gemüthlich naive Auffassung des Lebens zeigen.

Unter den hierauf folgenden Bildern sind 33 von grösserem Format
(11' hoch und 8' breit); theils sind dies eigene Compositionen des Künst-
lers, theils Nachahmungen nach Albrecht Dürer, so wie auch nach Lucas
Cranach, Martin Schön u. A. Unter den Compositionen eigner Erfindung
wird zunächst die Darstellung der Kirchweihe, in Bezug auf den charakte-
ristischen Ausdruck der Köpfe und die Natürlichkeit des Faltenwurfes
hervorgehoben. Sodann ein imposantes Bild der Dreieinigkeit — in der
eigenthümlichen Darstellung dreier, auf reich verziertem Throne sitzender
Weltkönige, deren jeder in der Linken eine Krystallkugel mit dem Kreuze
hält und die Rechte segnend erhebt. Die Frohnleichnamsprocession, treff-
lich componirt, in der Mitte Albert selbst, in vollem Ornate und die
Monstranz tragend. Der heilige Mauritius mit seinen Waffengefährten, eine
ritterlich prächtige Darstellung, etwa im Styl des Theuerdank, auf T. 1.
abgebildet.

Unter den 116 kleineren Bildern, welche sich zumeist in den 3' hohen | i

und 3' breiten Anfangsbuchstaben befinden, werden ebenfalls die bedeu-
tendsten namhaft gemacht. Fünf derselben werden in Abbildungen mitge- l
theilt. Auf dem Titelblatte des vorliegenden Werkes sieht man den

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478 Berichte und Kritiken.

Kurfürsten mit gefalteten Händen betend, und Gott-Vater, der aus Wolken
auf ihn niederschant; auf den Fingerspitzen des Kurfürsten erhebt sich,
in eigentliümlicher Darstellung, die Seele desselben als 4" hoher Homun-
culus, nackt und ebenfalls anbetend. Auf T. II. sind vier Buchstaben mit
verschiedenen heiligen Darstellungen enthalten; ausserdem ein Beispiel der
Eandverzierungen, reich stylisirtes Ornament von Blättern und Blumen,
dazwischen Katze und Hund, die sich kampil'ertig gegenüberstehen.

lieber die Ausführung der Glockenton'schen Miniaturen bemerkt der
Verfasser Folgendes: „Im Allgemeinen lässt sich über diese kleinen Bilder
sagen, dass, wo seine Vorbilder, Dürer, Cranach u. A., werthvoller waren,
auch seine Nachbildungen sich mehr erheben. Doch bei aller Verschieden-
heit der Originale und der daraus entlehnten Grundideen ist überall eine
)f durchgehende Glockenton'sche Manier und mehr jiraktische Behandlungs-

i weise sichtbar. Die Färbimg ist in den meisten frisch und kräftig; die

Auswahl und Nüancirung der Farben verständig. In der Zeichnung und
Haltung der Figuren und Köpfe minder glücklich, wenn auch von der
Natur nicht allzu weit sich entfernend, bewährt er sich dagegen in den
angebrachten Landschaften als Meister. Der zarte Duft über den Fernen,
! die leichte Behandlung des Wassers, die Goldlichter der Bäume können

mit Recht gelobt werden. In den Randeinfassungen ist überall gemüth-
licher Fleiss, oft aber etwas unbeholfene überladene Pracht. Dagegen
sieht man mit Vergnügen in einzelnem Beiwerke, besonders den Blumen,
kühnen Schwung und überaus grosse Natürlichkeit."

Das Gebetbuch, welches mit zehn Miniaturbildern von der Hand
desselben Künstlers geschmückt ist, hat auf der ersten Seite die von Kur-
fürst Albert eigenhändig eingetragene Inschrift:
A7ino Domini MDXXXI
completum est praesens opus. Sabbato post Invocavit Albertus Cardinalis
Moguntinus manu propria scripsit.
Die Bilder, meist eigene Compositionen
von N. Glockenton, werden grösstentheils als vorzüglich hervorgehoben;
zwei derselben sind in den Abbildungen (T. VI und VII) beigefügt. Vor-
züglich interessant ist von diesen die letztere, welche ein Begrabniss nach
dem kirchlichen Ritual, mit charaktervoller Behandlung der einzelnen Per-
sonen, darstellt. Besonders interessant ist die zollbreite Randverzierung
dieses Bildes; hier rennen drei Gerippe, von weissen Tüchern umflattert
und lange Pfeile schwingend, hinter drei Reitern her, die mit auffallenden
Angstgeberden durch dunkle Waldespfade zu entrinnen suchen.

Ein andres, ebenfalls mit Miniaturen geschmücktes Gebetbuch trägt
dieselbe Inschrift, wie das ebengenannte. Dies enthält, ausser ein Paar
Blättern von N. Glockenton, mehrere Malereien von Hans Sebald Be-
ham (mit dessen Monogramm versehen), welche zumeist der eigenen Erfin-
dung des Künstlers angehören. Vorzüglichen Werth, in der Gesammt-
Anordnung, wie im Ausdruck, hat zunächst die Darstellung der Beichte

Die Familie Glockenton hat ausser dem Nicolaus noch mehrere ausge-
, zeichnete Miniaturmaler hervorgebracht; namentlich wird Albrecht, des Nico-

^ laus Bruder, als ein solcher ebenfalls rühmlich erwähnt. Neudörffer sagt von

ihm, er sei „im llluminiren fieissig und in Teutschen Versen zu machen schier
ein halber Poet gewesen, mit solchen Versen ziert er die Historien und Gemälde."
Die Königl. Bibliothek zu Berlin besitzt einen Kalender von der Hand dieses
Albrecht Glockenton, der mit kleinen Monatsbildchen und Monatsversen geschmückt
ist; die Malereien sind in artiger Sauberkeit, obwohl ohne sonderlichen Geist,

I ausgeführt.

5'. "

i -

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Die Miniaturen etc. der Kgl. B. Hofbibliothek in Ascliaffenbnrg. 479

(auf T. IV abgebildet); ebenso wird das Bild der Busse rühmlich hervor-
gehoben. Das Gebet des Bischofes nach vollendetem Messopfer, in der
Umgebung seines geistlichen und weltlichen Gefolges, ist in Bezug auf
Charakteristik, Anordnung und Ausführung gleich lobenswerth (T. V).
Auch die Bilder der Messe und der Communion sind von vorzüglicheni
Werthe. „Wir müssen bemerken (fügt der Verfasser hinzu), dass diese
Miniaturen um so interessanter sind, als unseres Wissens von H. S. Beham
keine Oelgemälde vorhanden sind (auch dem Referenten ist kein solches
bekannt); dass diese Bilder in Geist und Behandlung von seinen Kupfer-
stichen abweichen, ja sich wohl über dieselben erheben, lässt sich durch
die ihm hier gesetzte Aufgabe und durch den höheren Schwung erklären,
den sein Geist durch die Aufforderung, ja vielleicht durch die bestimmte
Vorschrift des kunstliebenden Fürsten erhielt."

Ein viertes, im Auftrage des Kurfürsten gefertigtes Miniatnrwerk ent-
hält Abbildungen des Domschatzes, welchen Albert zu Halle gesammelt
und nach der Auflösung des Stiftes nach Mainz gebracht hatte. Die Blätter
sind 13' hoch und 9' breit; die Abbildungen belaufen sich auf 344. Sieben
derselben stellen kostbar verzierte Bücherdecken vor; 50 Monstranzen in
der reichsten Fülle gothischer Architekturformen; 52 ganze Figuren, unter
welchen besonders die Abbildungen der silbernen Apostel, ganz im Style
A. Dürers ausgeführt, sich auszeichnen; 15 Brustbilder und Köpfe, nebst
vielen Bildern von tragbaren Altären und seltsam gestalteten Reliquiarien,
Die Abbildungen des Domschatzes in dem bekannten Werke „Vorzeichnus
und Zceigung des liochlobwirdigen Heiligthumbs der Stifftkirchen der heil.
Sankt Moritz und Marien Magdalenen zu Halle. 1520" (übrigens nur 232
der Zahl nach) sind, wie sich aus der Vergleichung ergiebt, nicht nach den
Gegenständen selbst, sondern nach den Malereien des. in Rede stehenden |l

Miniaturwerkes gefertigt worden. Es ist zu bedauern, dass der Verfasser
über letzteres nicht genauere und ausführlichere Nachrichten mitgetheilt hat.

Hierauf folgen Notizen über 32 andere Manuscripte der Aschaffenburger
Bibliothek, welche zum Theil ebenfalls reichlich mit Miniaturen ge-
schmückt sind. Auch hier müssen wir es bedauern, dass der Verfasser
nur flüchtige Notizen mittheilt und nirgend in die Charakteristik des Styles
und der Technik der vorhandenen Malereien näher eingeht. Vornehmlich
gilt dies von den beiden ersten Handschriften, welche nach Angabe des

Verfassers aus dem neunten Jahrhundert herrühren; ebenso dürften auch > j

die zahlreichen Miniaturen der dritten Handschrift (die Evangelien, mit i

goldenen Buchstaben geschrieben), für die Entwickelungsgeschichte der i

Kunst von namhafter Wichtigkeit sein. — Bei drei andren Handschriften , ■

werden diese Mängel der Beschreibung zum Theil durch die beigefügten
Abbildungen gut gemacht. '

Die älteste unter diesen ist ein kleines Psalterium (No. 32, — T. X j-

und XI), welches der Verfasser als „wahrscheinlich aus dem 12. Jahrhun-
dert" herrührend, bezeichnet. Dies passt jedoch nicht, indem die Figuren
und das architektonische Ornament, besonders in dem zweiten Bilde auf
Tafel X, bereits vollkommen das Gepräge des germanischen Styles, wel-
cher erst im Verlauf des 13. Jahrhunderts auftritt, tragen. Interessant,
obgleich nicht gerade sonderlich geistreich, sind die abenteuerlichen Figuren
der Randverzierungen, von denen auf T. XT eine bedeutende Anzahl
zusammengestellt ist.

Der weiteren Entwickelung des germanischen Styles im 13. Jahrhundert

; f

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1 ■!

Bericlite und Kritiken.

480

¥

angehörig sind die Miniaturen eines zweiten Psalters (No. 5, — T. -XII,
XIII, XIV). Die Randverzierungen, auch die Ornamente des Grundes der
Bilder, scheinen hier mehr auf französische als deutsche Arbeit hinzu-
deuten. Die Abbildungen lassen in den einzelnen Gestalten bereits, bei
der mannigfachen Befangenheit im Style jener Zeit, den Hauch einer
eigenthümlichen Grazie und Anmuth erkennen, der sich vornehmlich in
dem Bilde der heiligen Margaretha auf dem Drachen (T. XIII} zu dem
Ausdruck einer zarten Innigkeit und Hoheit gestaltet.

Endlich ein Pontificale aus dem U.Jahrhundert (No. 12, — T. VHI
und IX), in dessen Anfangsbuchstaben jedesmal eine Scene der kirchlichen
Ceremonien dargestellt ist. In den Abbildungen auf T. VIII sieht man die
gemüthlichen Darstellungen der Ehe und der Confirmation; auf T. IX
mehrere Beispiele der Randverzierungen, reichgeschwungenes Blätterwerk,
welches auf anmuthige "Weise von menschlichen und thierischen Gestalten
belebt ist.

Der Dom zu Halberstadt, seine Geschichte, Architektur, Alterthümer und
Kunstschätze, durch Text (10 S. in Fol.), einen Stahlstich und 6 radirte
Blätter versinnlicht und herausgegeben von Dr. F. G. H. Lucanus. Hal-
berstadt bei F. Lucanus. Berlin, bei G. Gropius, 1837.

(Mus. 1837, No. U.)

It'-'.i:

Halberstadt gehört zu denjenigen Städten Deutschlands, welche das
Gepräge des wohlhäbigen und gemüthvollen mittelalterlichen Lebens noch
am Entschiedensten festgehalten haben, ohne dass jedoch hier, wie an so
vielen andern Orten, die Vergangenheit dem Beschauer nur in dem Gewände
eines beklagenswerthen Verfalles entgegenträte; vielmehr verbindet sich
hier, in den neueren Theilen der Stadt, die Eleganz der modernen Zeit
auf glückliche Weise mit den zahlreichen Zeugnissen früherer Sinnesart.
In den alten Bürgerhäusern, die sich theils in bescheidene Enge zurück-
ziehen, theils in stolzer Pracht die Plätze und Strassen beherrschen und
die, als Zeugnisse des Holzreichthums der Gegend, grösseren Theils in
Zimmerwerk aufgeführt sind, zeigt sich durchweg die zierlichste Entfal-
tung dieses Styles, der allem Einzelnen eine lebendige architektonische
Gestalt verleiht und sich zu den anmuthvollsten oder launigsten Zierden
bildnerischer Kunst emporzuschwingen vermögend ist; reichlichsten StoiT
würden unsre Architekturmaler in der Nachahmung dieser so mannigfach
interessanten Gebäude gewinnen können. Bedeutender, und als ernster
Hintergrund zu ihnen, treten die alten Kirchen hervor, deren Halberstadt
ebenfalls eine namhafte Anzahl besitzt und in denen sich Beispiele für
sämmtliche Architekturstyle des kirchlichen Baues im Mittelaller, zum
Theil in merkwürdig imponirender Anlage, vorfinden. Vor Allem aber
ist der majestätische Dom vorherrschend, zu dessen Seiten sich die gesamm-
ten übrigen Baulichkeiten der Stadt umherlagern, und der auch schon von
ferneren Standpunkten aus den Anblick der Stadt zu einem malerischen
Bilde schliesst und vollendet.

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Der Dom zu llalberstadt, seine Gescliichte, Architektur etc, 481

Diesem, für die Architekturgeschichte des Mittelalters so wichtigen
Gebäude fehlte es bisher an nur eimigermaassen genügenden Abbildungen,
und so haben wir das vorstehend genannte Werk, welches uns dasselbe in
Grund- und Aufrissen, sowie in mehreren Perspektiven vorführt, als einen
willkommenen Beitrag zur Erweiterung ansrer Kenntnisse mit Dank auf-
zunehmen.

Der Dom gehört verschiedenen Bauperioden an, so jedoch, dass sich
die verschiedenen Baustyle im Wesentlichen zu einem schönen und har-
monischen Ganzen zusammenfügen. Der älteste Theil ist der Unterbau der
Thürme auf der Westseite der Kirche und der Zwischenbau bis zum Dach-
giebel. Dieser ist in dem Uebergangsstyl von dem byzantinischen zum
gothischen Systeme aufgeführt, und zwar so, dass in den Hauptformen
bereits durchweg der Spitzbogen vorherrscht; in den Füllungen des Spitz-
bogens kommt theils der Halbkreisbogen, zumeist ein gebrochener (rosetten-
artiger) Bogen vor. Sehr anmuthig ist namentlich das Hauptportal, von
breitem reichgegliedertem Spitzbogen umfasst und mit zwei Halbkreisbögen,
die wiederum durch Doppelreihen kleiner Halbkreisbögen (wie bei den
bekannten byzantinischen Gesimsen) umgeben werden, ausgefüllt. Zu den
Seiten des Portales und gegen die Ecken der Thürme hin sind starke,
vorspringende Säulenbündel angeordnet, welche, wie der Herausgeber In
Bezug auf das rauhere Mauerwerk über ihnen bemerkt, einen Vorbau getra-
gen zu haben scheinen. Die Construktion dieses letzteren dürfte jedoch
nicht ohne bedeutende Schwierigkeit mit den vorhandenen Bautheilen zu
verbinden sein; namentlich scheint es uns nicht deutlich, wie ein solcher
Vorbau den Spitzbogen des Haiiptportales, der unmittelbar an das darüber
befindliche Rosettenfenster anstösst, eingeschlossen haben dürfte. Vielleicht
ist hier schon während des Baues eine Abänderung der ursprünglichen
Anlage vorgenommen. Die Formation der Säulenkapitäje (die besonders
an denjenigen Seiten der Thürme, wo sich nach dem Inneren der Kirche
zu kleine Säulenstellungen bilden, in anmuthig wechselnden, auf's Zier-
lichste ausgebildeten Formen vorkommen) gehört ebenfalls der letzten
Periode des Ueberganges zum gothischen Style, oder vielmehr grossentheils
bereits den ersten Entwickelungsstufen des letzteren an. Der Aufriss auf
Taf. IV giebt eine anschauliche Darstellung der Construktion der West-
seite; die eigenthümlichen, höchst geschmackvoll gebildeten Details sind
leider nicht in Abbildungen mitgetheilt, und nur das zierliche Krönungs-
gesims des Unterbaues findet sich, als Randeinfassung der Rückseite des
Umschlages, dargestellt.

Das eigentliche Kirchengebäude ist in reichem, entwickelt gothischem
Kathedralenstyl aufgeführt: ein Mittelschiff von hohen und freien Verhält-
nissen, dem sich die niedrigeren Seitenschiffe in einer trefflich harmoni-
schen Weise anschliessen ; von den reichverzierten Strebepfeilern der
Seitenschiffe sind ringsumher, im Aeusseren der Kirche, Strebebögen gegen
die Wände des Mittelschiffes hinübergeschlagen, so dass sich hiedurch das
Ganze zu einem Bilde grossartiger Pracht gestaltet. Doch sind auch hier
verschiedene Baustyle mit Bestimmtheit zu unterscheiden. Der westlichste
Theil des Kirchengebäudes, den Thürmen zunächst, — nämlich die Reihen
der drei westlichen Pfeiler, Strebepfeiler und der zwischen ihnen befind-
lichen Fenster, — zeigt den gothischen Baustyl noch in jener Einfachheit
und Schlichtheit, welche den Gebäuden des dreizehnten Jahrhunderts eigen

Kugler, Kleine Schriften I. 31

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482 Btiricbte uud Kritikeu.

ist, wenigstens noch oliue üeberladung von maunigfach buntem Schmuck
uud ohne alle willkürlich geschweiften und gewundenen Formen. Die
Pfeiler haben die Gestalt starker runder Säulen, denen sich, als Träger der
Gewölbgurte, schlankere Säulchen frei anlehnen; die Strebepfeiler der
Seitenschiffe haben — in alterthümlich gothischer Anordnung — frei vor-
springende, von Säulen getragene Bilderhäuschen, in denen Statuen (im
Style der späteren Zeit des dreizehnten Jahrhunderts) stehen; die Stabver-
zierung der Fenster ist vollkommen in jener schönen, gesetzmässig organi-
schen Weise gebildet, welche die Fenster des Kölner Domes zeigen.

Die übrigen Theile des Domes lassen dagegen eine ungleich spätere
Entwickelung des gothischen Baustyles erkennen, wennschon sie der Haupt-
anlage nach sich zweckmässig an das System der ebengenanuten Theile
anschliessen. Namentlich befolgen die Pfeiler im Innern dieselbe Grund-
form, so jedoch, dass sich die Träger der Gewölbgurte nicht mehr an die
Hauptmassen frei anlehnen, sondern zu '/s ihnen verbunden sind. Die
Strebepfeiler sind reicher ausgebildet, vornehmlich am Schill', wennschon
in einer Zusammensetzung, welche den harmonischeu Organismus des gothi-
schen Systems nicht mehr gänzlich anerkennt; in den Fenstern hört jene
einfach bedeutende Formation auf und macht einer minder strengen, im
Einzelnen — trotz der bunten Mannigfaltigkeit nicht mehr wahrhaft schö-
nen Stabverzierung Platz; die Gewölbrippen bewegen sich, die gesetz-
mässige Kreuzform grossentheils verlassend, ebenfalls in willkürlich zusam-
mengesetzten Linien u. s. w. Als ein eigenthümiicher Umstand ist es
anzumerken, dass die Gewölbrippen und Gurten der Seitenschifl'e hier, und
zwar an der Seite der Pfeiler des Schiffes, zunächst vertikal aufsteigen
und sich erst dann in einer gebrochenen Ecke zu der Spitzbogenlinie
umwenden. (Vergl. den Querdurchschnitt auf Taf, HI.) — Die untere Hälfte
der Fa^ade des n.ördlicheu Kreuzgiebels, welche ein kleineres Portal ein-
schliesst, ist wiederum in einem etwas abweichenden Style gebaut, von
schlichterer Anlage und mit zierlichem Lissenenwerk geschmückt: es ist
möglich, obgleich kaum wahrscheinlich, dass sie mit jenen älteren Theilen
des Schiffes gleich alt ist. Was den Herausgeber zu der Erklärung bewo-
gen, dass dies jedenfalls vollkommen gothische Portal „seiner Construk-
tion, dem Style und der Technik zufolge" mit dem Hauptportale zwischen
den Thürmen gleichzeitig sei, ist nicht wohl einzusehen.

Das Querschiff, dessen Giebelfronten beträchtlich über die Seitenmauern
der Seitenschiffe vorspringen, durchschneidet die Kirche fast in der Mitte
ihrer Längenausdehnung, so dass sich hiedurch ein Chor von bedeutender
Tiefe bildet. Die Seitenschiffe umgeben diesen Chor in derselben Weise,
wie zu den Seiten des eigentlichen Hauptschiffes. An dem östlichen Ende
der Kirche ist endlich noch eine kleine Kapelle, die sogenannte Bischofs-
kapelle, in etwas einfacherem Style angebaut. Sie steht mit dem Umgänge
des Chores in unmittelbarer Verbindung; im Aeusseren erhebt sich ihr
Dach über die Dächer des letzteren und ist an seinem Giebel mit einem
zierlichen Thürmchen geschmückt.

Im Innern wird der Chor durch niedrige, zwischen den Pfeilern ange-
brachte Mauern von dem Umgange getrennt; von dem Hauptschiff durch
den, in der Quere errichteten Bischofstuhl, ein eigenes, in zierlich buntem
Reichthume aufgeführtes kleines Gebäude, welches die späteste Ausbildung
des gothischen Baustyles um den Anfang des sechzehnten Jahrhunderts (es
trägt die Jahresbezeichnung 1510) charakterisirt. Im Innern des Chores

ifcl..

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483

Der Dem zu Halberstadt, seine Geschichte, Architektur etc.

finden sich prachtvoll geschnitzte Chorstülile. lu den Kreuzesarmen sind
steinerne Emporen angeordnet.

Zur genaueren Erklärung und Darstellung dieser gesammten Eigen-
thümlichkeiten des Domgebäudes, die wir nur in flüchtiger Uebersicht
andeuten konnten, dienen nun ausser der sorgfältigen, vom .Verfasser
vorgelegten Charakteristik und ausser den bereits angeführten Blättern und
dem Grundriss, eine in Stahl gestochene malerische Ansicht des Aeusseren,
— eine Perspektive des LangschifTes im Innern, von den ThOrmen aus
aufgenommen, — eine Durchsicht im Querschiif, welche den Bischofstuhl,
das südliche Fenster des Querschiffes und die Empore unter demselben
darstellt, — und, als Vignette auf der Rückseite des Umschlages, eine
Ansicht des reichen südlichen Kreuzgiebels. (Zu bemerken ist, dass die
stark vorspringenden Strebepfeiler des letzteren mit demselben Lissenen-
werk, wie der Unterbau des nördlichen Kreuzgiebels geschmückt sind und,
dem übrigen Style dieses Kreuzgiebels nach, gerade auf eine späte Zeit
des gothischen Styles hindeuten.) Auch finden sich, zur Dekoration der
Vorderseite des Umschlages, mehrere Details der Chorstühle abgebildet.
Den schönsten Schmuck des Werkes macht jener ebenerwähnte Stahlstich
aus, welcher die Ansicht des Domes von seiner vortheilhaftesten, der
nordöstlichen Seite gewährt; er ist vou Ernst Rauch nach einem Gemälde
von C. Hasenpflug (von welchem letzteren auch die übrigen, zu den
Perspektiven des "Werkes benutzten Zeichnungen herrühren) gestochen.
Der Name dieser beiden Künstler reicht hin, um den Werth dieses vor-
züglichen Blattes genügend zu bestimmen, in reichster Entfaltung stellt
sich hier das anziehende Gebäude dem Blicke des Beschauers dar, und
wenn durch die Wahl des Standpunktes freilich das schöne Westportal
verloren geht, so tritt dadurch doch auch der wenig bedeutsame Oberbau
der Thürme mehr in den Hintergrund; in der Ferne erblickt man die vier
byzantinischen Thürme der Liebfrauenkirche. Die Arbeit des Stiches ist
sehr sauber, geistreich und von gediegener Haltung.

Unter den geschichtlichen Notizen, mit welchen der Herausgeber den
erklärenden Text eröffnet, sind zunächst die aus Urkunden und Ablass-
briefen geschöpften Nachrichten über die Geschichte des Baues (deren Mit-
theilung aus dem Provinzial-Archive von Magdeburg man, dem Vorwort
zufolge, vornehmlich dem Herrn Professor Wiggert zu Magdeburg verdankt)
von grösster Wichtigkeit und, bei den insgemein so dürftigen Zeugnissen
über bau geschichtliche Verhältnisse, als ein seltenes Beispiel auszuzeichnen.
Sie zerfallen in zwei Hauptreihen, von denen die eine mit den Jahren 1252
und 1258 beginnt und durch die Jahre 1263, 65, 66 und 76 fortgesetzt
wird; sie besteht aus Ablassbriefen, welche den Zweck haben, Geldmittel
für die Ausführung des Baues herbeizuschaffen, und in denen früherer
Verwüstungen durch Feuer und der Nothwendigkeit, den Bau von Grund
aus zu beginnen, gedacht wird. Dann ist eine Pause, und erst in den
Jahren 1341, 45 und 66 finden sich Zeugnisse neuer Bauthätigkeit, Bei
letzteren wird des Chorbaues, beim J. 1345 sogar erst der Fundament-
Legung zum Chore ') gedacht; und da im J. 1327 noch die (aus einer
älteren Bauaulage herrührende) Crypta als vorhanden erwähnt wird, so
dürfte der Chor in der That erst in dieser Zeit zu bauen angefangen sein.
Der Herausgeber ist zwar geneigt, jene Crypta als ganz ausserhalb des

Vergl, hierüber den folgenden Aufsatz, S. 489.

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Berichte und Kritilcen.

Domgebäudes befiiidlicli anzxmelimen ; da ein so aussergewöhnlicher Umstand
aber nicht ohne strengste Beweisführung zulässig sein dürfte und die übrigen
Angaben genügend für das Gewöhnliche sprechen, so scheint die eben
ausgesprochene Meinung wohl als passlicher anzunehmen zu sein. Die
kleine Bischofskapelle wird im J. 1362 als bereits vorhanden, aber als
ein neues Werk angeführt, — Doch scheint auch in dieser Zeit der Bau
der Kirche noch nicht vollendet worden zu sein. Wenigstens fällt seine
Einweihung erst in das J. 1490 und an dem Schlusssteine der Decken-
wölbung zwischen dem zweiten und dritten Pfeilerpaar der Kirche findet
sich, hiemit übereinstimmend, die Jahrzahl 1486. (Letztere deutet der
Herausgeber auf eine Restauration, — eine solche vor der Einweihung des
Domes anzunehmen, dürfte jedoch nicht zulässig sein.) Auch im J. 1498
kommt noch eine neue päpstliche Verordnung für die Einkünfte zum Bau
des Domes vor. Ueberhaupt aber darf es uns nicht befremden, Zeugnisse
für eine so späte Zeit der Vollendung vor uns zu sehen, da ja selbst der
Oberbau des südlichen Thurmes, der ebenfalls noch im gothischen Style
(sogar in einer gewissen, obgleich rohen Nachahmung des Unterbaues) aus-
geführt ist, die Jahresbezeichnung 1574 trägt.

Wir sind demnach genöthigt, den Chor der Kirche als ein Werk des
vierzehnten Jahrhunderts zu betrachten, und hiemit stimmt denn auch der
Styl desselben, wie oben bemerkt, durchaus überein; aber auch die spä-
teren Theile des Langhauses müssen wir (abweichend vom Herausgeber),
in Rücksicht auf den vollkommen entsprechenden Charakter, als ein Werk
ungefähr derselben Bauperiode bezeichnen. Für die Periode des dreizehnten
Jahrhunderts tragen sie bereits ein viel zu freies Gepräge, und wir können
mit den Zeugnissen, welche auf Bauunternehmungen in der späteren Hälfte
dieses Jahrhunderts hindeuten, nur die westlichsten Theile des Schiffes in
Verbindung bringen; auch diese stimmen in der That mit denjenigen
■Gebäuden Deutschlands, deren Erbauung in der genannten Zeit urkundlich
feststeht, vollkommen überein.

484

t.

.

Suchen wir nun endlich das Datum für den Unterbau der Thürme festzu-
stellen, so begegnet uns zunächst eine neue Bauperiode im zweiten Viertel
des dreizehnten Jahrhunderts, Der Herausgeber macht das Jahr 1235 nam-
haft, ohne jedoch die Quelle für diese Bestimmung anzugeben. Urkundliche
Zeugnisse sind für jene Zeit nicht vorhanden, und der älteste Bericht hier-
(iber findet sich, soviel wir wissen, erst in Winnigstedts Halberstädter
Chronik, welcher zufolge der Domprobst Johannes Semeca (ungefähr aller-
dings in der vom Herausgeber angenommenen Zeit) den Dom „von Grund
aus'', und zwar „am linken Thurme" zu bauen angefangen habe. Ist nun
zwar Winnigstedt's Autorität, wie schon bemerkt, nicht allzu sicher, so
werden wir doch nicht irren, wenn wir in der That den Unterbau jenes
westlichen Theiles als das Werk des Semeca betrachten. Denn wenn wir
einen Blick auf den gesammten Zustand der Entwickelung der Baukunst,
welche in Deutschland in den ersten Jahrzehnten des dreizehnten Jahr-
hunderts herrscht, werfen, so finden wir hier (bei Gebäuden, deren Datum
feststeht) noch überall den byzantinischen Baustyl, dem nur erst einzelne

Nach Winnigstedt's Halberstädter Chronik. Diese Nachricht, die der
Herausgeber übersehen hat, dürfte bei diesem, für frühere Zeiten zwar nicht allzu-
kiitischen Geschichtschreiber gewiss nicht in Zweifel zu ziehen sein, und um so
weniger, als sie mit bestimmter Angabe der Nebenumstände verbunden ist.

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Der Dom zu llalberstadt, seine Gescliichte, Architektur etc, 485

Motive des Ueberganges zum gotWsclien beigemischt sind i). la den in
Rede stehenden Theilen des Halberstädter Domes aber, welche zwar gleich-
falls das byzantinische Element noch nicht verläugnen, herrscht der Spitz-
bogen bereits wesentlich vor, und wir können somit ein Gebäude der Art
nicht etwa in eine frühere Zeit zurücksetzen, — dasselbe nicht, wie der
Herausgeber will, als einen Rest der früheren Anlage des Domes, welche
um das Jahr 1181 begonnen wurde, oder gar, wie auch wohl von Andern
eine solche Meinung aufgestellt ist, als einen Rest noch älterer, an dieser
Stelle stattgefundener Bauten betrachten. Dass aber der Unterbau der
Thürme und die nächstfolgenden, bereits vollkommen gothischen Bautheile
des Domes nur durch eine, verhältnissmässig kurze Reihe von Jahren
getrennt sind, darf uns auf keine Weise befremden, da es sich in Folge
aller neueren kritischen Untersuchungen zur Evidenz ergeben hat, dass
überall in Deutschland der entwickelte gothische Baustyl plötzlich und
unvorbereitet, oft sogar ohne eine solche "Vermittelung, wie wir doch au
dem in Rede stehenden Unterbau bemerken, neben den älteren, den soge-
nannten byzantinischen Baustyl hintritt.

Verzeichniss und Beschreibung der im Dom vorhandenen und ihm
zugehörigen Kunstwerke und Alterthümer beschliessen das Werk. Als
besonders bedeutend werden zunächst die erhaltenen Glasmalereien hervor-
gehoben. Sodann die zahlreichen, in einem Zimmer der Stiftsgebäude auf-
bewahrten Heiligthümer und Kirchenschätze, unter denen vornehmlich ein
consularisches Diptychon von grossem Interesse ist, sowie es auch an andern
wichtigen Merkwürdigkeiten nicht fehlt. Endlich die Gemälde, welche
jetzt in dem ehemaligen Kapitelsaale aufbewahrt werden, und unter denen
besonders das bekannte Bild von Johann Raphon von Eimbeck, vom
Jahr 1508, als ein bedeutsames Zeugniss der norddeutschen Kunst, für die
Geschichte der Malerei nicht ohne specielle Wichtigkeit ist. Der Heraus-
geber hat sich das Verdienst erworben, dies beachtenswerthe Werk so
kunstreich und glücklich zu reinigen, dass es in der ursprünglichen Frische
und Kraft seiner Farben dasteht. Auf Taf. VIII ist von demselben eine
geistreich gearbeitete Abbildung, von H. Schaefer gezeichnet und gravirt,
beigegeben, die den Freunden der vaterländischen Kunstgeschichte gewiss
höchst willkommen sein wird. Es stellt auf dem Mittelbilde die Kreuzi-
gung — etwas überladen, ungefähr nach der Weise der westphälischen
Schule der Zeit — auf den Seitenbildern, in kleinerem Maasse, die Ver-
kündigung, die Geburt Christi, die Anbetung der Könige und die Dar-
stellung im Tempel dar. — Da dieser Meister noch so wenig bekannt ist,
so sind wir dem Herausgeber durch die Mittheilung der folgenden Notizen
zu besonderem Dank verpflichtet:

„Von Raphon sind nur vier Gemälde bekannt. Das früher in Walken-
ried befindliche, später nach Prag geflüchtete und dort verschollene Altar-
bild : „Christus am Kreuz zwischen den Schächern", auf dessen Klappen
20 kleine Darstellungen aus dem Leben Christi; ferner das jetzt in der
Universitätsbibliothek, früher in der St. Jürgenskapelle zu Göttingen

Um hier weitläuftiger Anführungen und Untersuchungen überhoben zu
sein, möge statt weiterer Belege auf die treffliche Schrift von J. Wetter: „Ge-
schichte und Beschreibung des Domes zu Mainz", uud zwar auf die Anmerkung
S. 49 verwiesen werden, wo dies gesammte Verhältniss bereits genügend und
unwiderleglich auseinandergesetzt ist.

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486 iBerichte und Kritiken.

bewahrte Altarbild von 1506, gleichfalls eine Kreuzigung mit Darstellungen
von Heiligen auf den Klappen, und zwei Thüren eines Marienaltars, auf
welchen der Papst mit dem heiligen Mauritius und dem Donator Canonikus
Metzen, und ein Bischof mit dem heiligen Nikolaus abgebildet ist, früher
im Stifte B. Mariae V. in Eimbeck, jetzt in der Sammlung des Hrn. Hof-
fabrikant Hausmann in Hannover. Bilder von Schülern Raphon's kommen
weder in Eimbeck noch in Göttingen vor. Dennoch ist wohl anzunehmen,
(lass Raphon unser Bild hier im Orte gemalt und Schüler gebildet hat:
denn ausser den Darstellungen auf den Aussenseiten der Klappen (welche
ein solches Gepräge tragen) sind hier noch mehrere Gemälde, die der Dar-
stellungs- und Behandlungsweise Raphon's sehr ähnlich, aber doch nicht
von ihm sind. Vor Allen eine Kreuzigung, dann Klappen eines Bilder-
hauses, auf welchem einzelne Heilige mit dem Monogramm des Künstlers
— eine Mütze zwischen zwei Paar sich kreuzenden Schwertern — und ein
grosses bis auf zwei einzelne Köpfe völlig abgeblättertes Klappenbild,
welche lebensgross, an "Werth den Arbeiten Raphon's fast gleich sind. —
Heinrich Eckstorm erwähnt in dem Chronicon Walkenredense, Heimst.
1597, p. 185—187, dass Johann Raphon, als Lohn seiner Frömmigkeit und
seines Kunstfleisses, 1507 zum Dechant des Alexanderstiftes in Eimbeck
ernannt und 1528 gestorben ist. In Joh. Letzner's Dasselscher und Eim-
beckischer Chronik, Erfurt 1596, erster Theil des 6. Buches, Kap. 4, Bl. 63
heisst es gleichfalls: „Nachdem am 12. August 1507 der Dechant Johann
Crimenas verstorben, ward Herr Johann Raphon wiederumb erwehlt, wel-
cher ein überaus kunstreicher, guter Maler gewesen etc. Er ist 1528 ver-
storben." Da Giso von Uslar schon 1508 als Dechant des Stiftes vorkommt,
so ist es wahrscheinlich, dass Raphon die Dechantenwürde bald ablegte,
um ungestörter seine hochgeschätzte Kunst zu treiben."

V
i

'1

Nach den hierauf folgenden Notizen über ein vorzügliches Bild der
Cölner Schule schllesst der Herausgeber mit dem schönen und beherzigungs-
werthen Wunsche, dass die in dem Kapitelsaale gegenwärtig vorhandenen
Gemälde daselbst verbleiben und den Stamm zu einem Museum für Halber-
stadt bilden mögen. Gewiss würde die Erfüllung dieses Wunsches ebenso
ehrenvoll für die Stadt Halberstadt, wie erfreulich und folgereich in weiterer
Beziehung sein, und die rastlose Thätigkeit, mit welcher der Herausgeber
für die Interessen der Kunst in Halberstadt und weit über dessen Grenzen
hinaus wirksam ist, darf in der That als ein nicht ungültiges Unterpfand
für die Realisation dieser Angelegenheit betrachtet werden.

Die goldene Altartafel Kaiser Heinrichs II. (10 S. in 4.) Mit einem
lithographirten Umrisse (in Fol), die berühmte kaiserliche Votivtafel dar-
stellend. Basel, 1836.

(Museum, 1837, No. 15.)

.aiiliJ-.-;

Unter den reichen Schätzen, womit Heinrich II. den neugebauten und
im Jahre 1019 eingeweihten Münster von Basel begabte, war der kostbarste
und merkwürdigste Gegenstand eine goldene Votivtafel. Sie ist, neben

-ocr page 499-

Die goldene Altartafel Kaiser Heinrichs II. 487

wenigen andren, bis auf unsre Zeit erhalten worden, — ob aber in ihrer
ursprünglichen Gestalt, möge zunächst unentschieden bleiben. Bei der im
Jahr 1834 vorgekommenen Theilung des Basler Kirchenschatzes zwischen
Basel-Stadt und Basel-Landschaft fiel sie der letzeren zu und wurde von
der Regierung zu Liestal nebst den übrigen auf Basel-Landschaft gekom-
menen Kleinodien (wie bereits mehrfach in diesen Blättern erwähnt) im
vorigen Jahre ölfentlich versteigert. So befindet sie sich gegenwärtig im
Besitz des Hrn. J. J. Handraann in Basel. Die vorstehend genannte Schrift
giebt über dies merkwürdige mittelalterliche Werk nähere Nachricht und
eine saubere Abbildung in genügender Grösse.

Ihren Ursprung verdankt die Votivtafel einer wunderbaren Begeben-
heit. „Heinrich wurde, so will es die Legende, von heftigen Steinschmerzen
geplagt. Vergebens hatten sich die Aerzte an ihm versucht. Der Kaiser
war von der Nutzlosigkeit menschlicher Hülfe überzeugt, und richtete
darum vertrauungsvoll den Blick nach Oben. Er nahm die Fürbitterschaft
des heiligen Benedikt in Anspruch. Auf den Fall der Genesung gelobte
er seinem Schutzpatron ein Andenken, das der ganzen christlichen Welt
Zeugniss geben sollte, wie mächtig das Gebet des heiligen Abtes von Monte
Casino sei. St. Benedikt erschien bald darauf dem Kaiser im Traume und
legte ihm den Stein, den Grund seiner vieljährigen Leiden, schweigend in
die Hand. Heinrich genas; dankbar hielt er, was er gelobt. So entstand
jene berühmte Votive."

Die Tafel, deren Goldgewicht weit über 400 Loth beträgt, ist 3 Fuss
8 Zoll französisches Maass hoch, 5 Fuss 6 Zoll breit, und ruht auf einer
3 Zoll dicken Bohle von Cedernholz. Sie ist mit einer reichen Reliefarbeit
versehen, welche zunächst aus einer Stellung von 6 Säulen, mit Halbkreis-
bögen verbunden, besteht und von einer viereckigen Einrahmung umfasst
wird. Zwischen den Säulen stehen einzelne Gestalten: In dem breiteren,
durch einen höheren Bogen überwölbten Mittelraume der Heiland, in der
Linken eine Scheibe mit dem Monogramm und der Bezeichnung seines
Namens, die Rechte segnend erhoben; zu seinen Füssen, knieend hinge-
worfen, zwei kleinere Gestalten, eine männliche und eine weibliche, Avelche
man, dem Ursprünge der Tafel gemäss, für Heinrich und seine Gemahlin
Kunigunde halten muss, obschon sie kein besonderes Abzeichen kaiser-
licher Würde tragen. In den Seitenräumen stehen die drei Erzengel mit
kleinen Flügeln an den Schultern, Gabriel und Raphael mit Stäben,
Michael, eine Lanze in der Hand haltend, und der heilige Benedikt, im
Gewände des Abtes, mit Buch und Hirtenstab. In den Bögen über jeder
einzelnen Gestalt liest man ihren Namen, über Christus steht: Rex Regum
et Dominus Dominantium. In den Zwickeln über den Bögen sind
kleine Medaillons mit weiblichen gekrönten Bmstbildern angebracht, welche,
den abbrevirten Beischriften zu Folge, die Kardinaltugenden der Klugheit,
Gerechtigkeit, Mässiguiig und Tapferkeit darstellen. Alles Uebrige des
Feldes über den Bögen und die Einrahmung ist reichlichst mit byzantini-
schem Arabesken werk geschmückt, welches die mannigfaltigsten Gestalten
kleiner Thiere in sich einschliess't. Oben und unten läuft in grossen Buch-
staben eine Inschrift hin, die sich, wenn freilich sehr allgemein gestellt,
auf die wunderbare Heilung des Kaisers beziehen lassen dürfte; die Cha-
raktere sind, bis auf einige Ausnahmen, rein lateinische üncialen.

„Auf einem alten, halb unleserlichen, der Altartafel beigegebenen
Pergamente heisst es:
Ordinatum est per capitnbm, quod aurea tabula in

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488 iBerichte und Kritiken.

suhsequentibus festis ad summiim altare et non aliter .... item in feste
natali, pasce, penteeostes, corporis Christi, Henrici imperatoris, assumtionis
Mariae, in dedicatione omniwn sanctorum.
Aus dieser Urkunde geht deut-
licli hervor, welch einen hohen Werth das Basier Domkapitel auf die
Votivtafel Heinrichs legte; denn nur auf dem Hochaltar sollte sie zur
Ausstellung kommen und als etwas Ausserordentliches nur die kirchlichen
Ausserordentlichkeiten, die höchsten Feste der Christenheit, als da sind:
das Weihnachts-, Oster- und Pflngstfest, den Frohnleichnams-, Maria
Himmelfahrts- und den Allerseelentag, durch ihren ächten Goldglanz ver-
herrlichen helfen. Dass sie auch den Namenstag ihres Stifters, den Hein-
richstag beleuchtete, war ein Tribut der Dankbarkeit, dessen sich das
Basler Domkapitel, wenn es nicht der Undankbarkeit geziehen sein wollte,
nicht entschlagen konnte."

Bewunderungswürdig ist der Styl, in welchem die gesammte Arbeit
der l^afel ausgeführt ist, auch wenn wir, wie wir nicht wohl anders können,
gewisse Feinheiten in den Formen, namentlich die naturgemässe Behand-
lung der Hände, Füsse und Gesichter, welche an dem vorliegenden Umriss-
blattG bemerklich werden, auf Rechnung des Zeichners desselben setzen.
Es ist der Typus des sogenannten byzantinischen Styles, wie er sich bis
zum Anfange des dreizehnten Jahrhunderts vorherrschend zeigt, aber in
einer merkwürdigen Lauterkeit und Klarheit durchgebildet. Stellung und
Verhältnisse der Figuren sind im Allgemeinen vortrefflich, nur die Extremi-
täten noch etwas schwer und die Schultern schmal, Der Faltenwurf ist,
obwohl noch nicht strenge gebildet, so doch meisterlich, und namentlich
bei den Engeln in grosser Schönheit durchgeführt. Die Köpfe sind von
einer weichen rundlichen Form, die bei den Engeln, und noch mehr bei
der Figur des heiligen Benedikt, bereits an die altkölnische Schule erinnert,
— es scheint nicht, dass auch diese Motive von dem Zeichner des Umrisses
herrühren. Die Architektur ist in reichem byzantinischem Style gehalten,
mit zierlicher Einfassung der Bögen, reich verzierten Säulenkapitälen und
schlanken Schäften der Säulen, deren jeder in der Mitte durch ein
geschmücktes Band umgeben ist.

'Die Vorzüglichkeit der Arbeit bewegt den ungenannten Verfasser der
vorliegenden Abhandlung zu dem Ausspruch, dieselbe einem wirklichen
Byzantiner beizumessen: „einem jener wandernden Meister, die von Kon-
stantinopel kommend, die Blüthen orientalischer Kunst nach dem Occident
brachten .... Die goldene Altartafel ist nicht deutschen Ursprungs und
kann es nicht sein, weil sie nichts gemein hat mit jener derben Eckigkeit,
welche das deutsche Knustgebiet beherrschte .... Könnte noch ein Zweifel
ob des byzantinischen Geschlechts unserer Votive obwalten, so würde der-
selbe durch das griechische Kreuz in der Glorie des Erlösers vollständig
niedergeschlagen werden. Die Leichtigkeit in den Arabesken, die richtige
Zeichnung der Thiere . . . setzen Studien voraus, die man zu Anfang des
eilften Jahrhunderts nur auf griechischem Boden maciien konnte. Aus den
Arabesken schaut endlich die gemächliche Genusslust des Orients her-
vor"
U. S. W^

Wir können diesen und ähnlichen Aussprüchen des Verfassers nicht
eben mit Ueberzeugung beipflichten. Was er über die „derbe Eckigkeit"
der deutschen Kunst sagt, passt nur auf das fünfzehnte Jahrhundert und
nicht weiter; das griechische Kreuz in der Glorie des Erlösers kommt aller
Orten im früheren Mittelalter ebenso vor. Von einer so vorzüglichen

A
M

A

Ii

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Nachträgliches über deu Dom zu Halberstadt.

künstlerischen Durchbildung fehlt es uns in der neugriechischen Kunst um
die Zeit des Jahrs 1000 an allen Beispielen (einzelne Nachahmungen antiker
Figuren in neugriechischen Manuscripten der Zeit beweisen nichts, da sie
überall, wo eigne Erfindung hinzutritt, der crassesten Rohheit gegenüber-
stehen) ; auch das durchgeführte Latein der' Inschriften würde bei einem
Griechen befremdlich sein Aber die deutsche Kunst jener Zeit ist in der
That ebenso im tiefsten Verfall, und gerade mit der Zeit Heinrich's II.
macht sich eine unerträgliche Verkrüppelung in der Bildung der Gestalten
bemerkbar.

Betrachten wir dagegen den Styl der Arbeit, wie wir ihn vorhin mit
flüchtigen Zügen geschildert haben: die Bildung und Gewandung der
Gestalten, die architektonischen Eigenthümlichkeiten, das Ornament mit
vorurtheilslosem Blicke, so finden wir ihn durchaus jener bedeutenden
Reihe vorzüglicher, in Deutschland vorhandener Kunstwerke verwandt,
welche dem Ende des zwölften oder dem Anfange des dreizehnten Jahr-
liunderts angehören, und auf welche sich neuerlichst eine so lebendige
Aufmerksamkeit der Kunstforscher gerichtet hat. Auch der Charakter der
Schrift stimmt viel mehr für das Ende des zwölften als den Anfang des
elften Jahrhunderts. Wir müssen uns deshalb für geneigt erklären, das
Werk der eben angedeuteten Periode zuzuschreiben. Freilich scheint es,
wie aus den angeführten Umständen hervorgeht, dass es gleichwohl in
nächster Beziehung zu Heinrich gestanden habe und alle Zeit als dessen

Yotivtafel betrachtet worden sei; aber auch dies stellt unsrer Annahme

j j

keine unauflösliche Schwierigkeit entgegen, denn es ist leicht denkbar,
dass, aus irgend beliebiger Veranlassung, eine Umarbeitung der alten Tafel
mit Beibehaltung der ursprünglichen Anordnung nöthig oder wünschens-
werth geworden sein kann.

Auch so indess muss das Werk als ein höchst merkwürdiges Ueber-
bleibsel des Geistes und Sinnes unsrer Vorfahren betrachtet werden, und
es dürfte als ein erfreuliches Zeichen der Zeit anzusehen sein, wenn das-
selbe, zur künftigen sicheren Aufbewahrung, von einer öffentlichen Samm-
lung als Eigenthum erworben würde.

Nacliträgliclies

über den Dom zu Halberstadt.

(Museum, 1837, No. 18.)

In No. 14 des diesjährigen Museums (vgl. oben, S. 480) ist von mir
ein Bericht, das Werk des Hrn. Dr. Lucanus über den Halberstädter Dom
betrefi'end, vorgelegt, welchem hier noch einige nachträglicl)e Bemerkungen
beizufügen sind. Zunächst Einiges aus einem Briefe des Hrn. Dr. Lucanus,
in welchem er sich über einige Punkte, in welchen ich seiner Meinung
nicht beigepflichtet hatte, näher ausspricht.

Ich hatte in Zweifel gezogen, ob sich die Annahme eines früher vor-
handenen Vorbaues vor dem Hauptportale des Domes mit der Art und

489

P-—

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Berichte und Kritiken.

Weise der vorhandenen Bautheile in genügende Verbindung bringen lasse,
und eine Abänderung der ursprünglichen Anlage, die schon während des
Baues selbst vorgefallen sein dürfte, vermuthet. Hr. Lucanus schreibt dar-
über: „Die beiden Schenkel dieses Bogens (des Hauptbogens am Portale)
treten deutlich so hervor, dass sie augenscheinlich den Kappen des Gewölbes
als Sohle gedient haben, überdem ist dicht über dem Bogen noch eine
correspondirende Vertiefung im Mauerwerk, wo die Kappen des Gewölbes
eingefügt gewesen sind."

Sodann hatte ich der Meinung des Hrn. Dr. L. widersprochen, dass
das Portal des nördlichen Kreuzgiebels mit dem Hauptportale gleichzeitig
sei. „Dennoch (erwidert Hr. Dr. L.) möchte ich es behaupten, wenn ich
es auch um 10—20 Jahre jünger setzen will. Die Bogenconstruktion beider
Portale ist durchaus in demselben Winkel, alles üebrige ist weit spitz-
bogiger, in den Einfassungen beider spielt die ziemlich freiliegende Wulst,
ein besonderes Kennzeichen des zwölften Jahrhunderts, eine Hauptrolle,
die in den Thürmchen sitzenden Heiligen sind noch nicht gothisch, wenn
auch die Pfeilerpaare an den Thürpfosten und das Hautrelief gothisch sind.
Der übrige Theil des nördlichen Giebels, ja die Eckstreben sind allerdings
rein gothisch und neuer, was schon die andre Farbe des Steins, die Technik
und der Charakter der Ornamente deutlich zeigt. Haben auch die Auf-
sätze und Spitzen des nördlichen und südlichen Giebels Aehnlichkeit, so
bleibt dennoch das Portal selbst (d. h. nur dieses) dem Hauptportale am
nächsten verwandt und folgt zuverlässig der Zeit nach zunächst auf dieses."
— Ich muss diese Angaben dahingestellt sein lassen, da leider die von
Hrn Dr. L. gelieferten Abbildungen in diese besonderen Verhältnisse (wie
auch derer des vorigen Punktes) nicht eingehen und ich mich auf mein
blosses Gedächtnlss, welches mir allerdings hier ein vollkommen gothisches
und im Vorigen ein noch halb byzantinisches Portal mit Gewissheit dar-
stellt, nicht berufen darf.

In Bezug auf den Bischofsstuhl bemerkt Hr. Dr. Lucanus, dass die
Jahrzahl 1510 nur an den Statuen desselben enthalten sei, und diese den
Charakter einer spätem Arbeit trügen, als der Stuhl selbst.

Noch ist jedoch ein, für die Architekturverhältnisse des deutschen
Mittelalters nicht uninteressanter Punkt der Schrift des Hrn. Dr. Lucanus
in nähere Erwägung zu ziehen. Es heisst daselbst nehmlich: — „Einem
Vertrage zwischen dem Domkapitel und dem Bischof Albert II. von 1345
(wohl ein Druckfehler, statt: 1354) zufolge, erlaubte dieser den Abbruch
der an der Nordseite des Domes befindlichen St. Lüders Capelle mit dem
Bemerken, dass die Steine derselben zum Fundamente —
vdhnate — des
Chores verwendet werden sollten." — Da eine solche genaue Angabe von
besonderer Wichtigkeit ist, mir jedoch die mitgetheilte Uebersetzung des
entscheidenden AVortes
volmate (oder vielmehr, wie aus Folgendem erhellt:

V

volmate) nicht frei von Bedenken schien, so verlangte mich nach einer
näheren Kenntniss der in Rede stehenden Urkunde. Hr. Professor Wiggert
zu Magdeburg hatte die Güte, mir dieselbe nach dem, in dem K. Provinzial-
Archiv zu Magdeburg vorhandenen Original abschriftlich mitzutheilen; ich
lasse sie hier zuvörderst, als ein seltenes Beispiel urkundlicher Bestim-
mungen über einzelne Bautheile, folgen ;

„We Borchard van der gnade goddis deken. uude dat capittel ghe-
meyne. des Godeshuses to
Halbe?, bekennet opeliken in disme breue. unde

490

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mimm

Nacbträglicbes über den Dom zu Halberstadt.

don witlik alle den. de dissen bref seen eder hören lesen, dat unse Er-
bare herre Bisscoph Albrecht to Halber heft miltliehen ghegheven sente

V

Luders Capellen, de by deme dorne lyt. vppe de Norderen halve, to deme

Y

buwe to hiüpe. des nyen chores to deme dorne. In disser wise. dat -we

___ V

disse Capellen, dar unse herre van Halber, leen herre is,' scollen alte
male neder breken. also dat alle de sten dar (so) Capellen schal komen

V

to deme volmate des nyen chores. hlrvmme up dat dat godisdenst,
dat in der
Capellen was. nich ghekrencket werde, so schal unde mach mit
unseme willen, unse
vorsprokene herre van HalbiT al de wile. dat me
den nyen chor buwet. dat godisdenst unde dat leen sente Luders, mit dar

V _

ghulde legen, to wilkeme altare he wol. in deme dorne to Halber. Ok so
drade dat disse chor wul buwet wert, so sculle we unde-willen. ene nye
Capellen weder buwen. in sente Luders ere. in unse closter up dat Gras,
eder wur unse herre van
HalbeT. wel. mit unser kost unde arbeit, dar me
inne halden mach alle goddisdenst umber mer also in dar olden Capellen
to haldene wonheyt was. To eyner betu'chnitze disser dyngh. hebbe we
dissen bref beseghelt ghegheven. truweliken mit unses capittels Ingheseghel.
Na goddis ghebort. drittenhun dert j ar. in deme veer unde vefte-
ghesten jare. des Sondaghes vor pynkesten." — (Halberstadt, XIL n. 26.
— Das Siegel, das an einem aus der Urkunde selbst geschnittenen Perga-
mentstreifen gehangen hat, fehlt schon.)

Bereits früher hatte ich mich zur Erklärung des Wortes, welches
Hr. Dr. Lucanus durch „Fundament" übersetzt hat, an Hrn. Prof. von der
Hagen zu Berlin gewandt und von ihm den Bescheid erhalten, dass das-
selbe anderweitig nicht in dieser Bedeutung gefunden werde, dass „Fun-
dament" im mittelalterlichen Deutsch nur durch
füllemont, foUemunt, fol-
munt, pfulment
(wie im mittelalterlichen Latein fulinentum, fulmen für:
fulcimentum, adminiculum) und durch fundamint (in Heinrichs Fortsetzung
des Tristan) gegeben werde, — in derselben Weise, wie es noch gegen-
wärtig im Niederdeutschen Füllment heisse; dass jenes Wort aber viel-
leicht als volmahte (Vollendung) gelesen werden müsse. — Auch Hr.
Prof. Wiggert nähert sich in den Bemerkungen, die er der Abschrift obi-
ger Urkunde beigefügt hat, dieser Erklärung, indem er es namentlich her-

V

vorhebt, dass das o nach der Orthographie an den Stellen steht, wo man
einen Laut hört, für den die andern Niederdeutschen geradezu
u ge-

V V

brauchten, zum Beispiel in dorn, scollen; so dass wenigstens die Sylbe

V

vol mit vull (voll) übereinkommen würde. — „Ich kann (bemerkt Herr

V

Professor W.) das Wort volmate nur für eine Zusammensetzung halten,
der das hochdeutsche Vol Im aas s entspräche."

Somit stellt es sich, — wenn auch nicht als vollkommen gewiss, —
so doch als höchst wahrscheinlich heraus, dass das Jahr 1354 in der Ge-
schichte des Halberstädter Dombaues den beginnenden Ausbau des Chores
(etwa den Oberbau des Mittelschilfes im Chore) bezeichnet, und dass das-
selbe nicht in gleich begründeter Weise auf die Fundamentlegung zu
beziehen sein dürfte. Beiläufig bemerke ich jedoch, dass hiedurch in den
Ansichten, die ich früher über die Bauperiode des vierzehnten Jahrhun-
derts aufgestellt, anderweitig nichts Wesentliches geändert wird, und dies

491

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Berichte und Kritiken.

492

"IfWBP

um so -weniger, als in obiger Urkunde ausdrücklidi von einem „neuen
Chore" die Rede ist. -— Ich hoffe, dass die sorgfältige Mitheilung obiger
Angaben den Freunden der Architektur-Geschichte nicht überflüssig schei-
nen , und dass sie vielleicht auch zur Erläuterung anderer Fälle der Art
brauchbar sein wird.

Antiken. — Berlin.

(Museum, 1837, No. 19.)

Für die Antiken-Gallerie des hiesigen Museums ist vor einigen Jaliren
eine höchst schätzbare Erwerbung gemacht, welche kürzlich hieselbst an-
gekommen ist und baldiger Aufstellung entgegen sieht. Es ist das Frag-
ment einer bacchischen Gruppe, welches in den Ausgrabungen, die die
K. Sardinische Regierung in den Jahren 1824 — 27 zu Tusculum veranstal-
ten Hess, gefunden und von dem Bildhauer Ant. d'Este zu Rom, der das-
selbe an sich gebracht, käuflich erstanden wurde. Ursprünglich bestand
diese Gruppe aus drei Figuren; Bacchus in der Mitte, wie im Rausche
schwankend bewegt, und zu den Seiten zwei Satyrn, auf die er sich stützt.
Leider jedoch ist die Gruppe bedeutend zerstört; von dem einen Satyr ist,
ausser kleinereu Fragmenten, nur noch ein losgetrenntes Stück der Brust,
mit der Hand, welche der Gott um seinen Hals geschlungen hatte, vor-
handen; die beiden andern Figuren sind zwar noch nicht getrennt, aber
dem Bacchus fehlen der Kopf, der linke Arm ganz, der rechte, über den
Rücken des zweiten Satyrs gelegte Arm vom Ellbogen ab, das eine Bein
vom Knie, das andere von der Hälfte des Schenkels ab; eben so fehlen
dem zweiten Satyr der Kopf, der rechte Arm und beide Beine vom Knie
ab; doch ist noch eine Anzahl einzelner Fragmente der zerstörten Theile,
namentlich der Arme und Füsse, vorhanden. Wenn nun freilich dies so
arg zerstörte Werk zunächst ein schmerzliches Bedauern hervorrufen muss,
so fühlt sich doch der Beschauer bei längerer Betrachtung aufs Lebhaf-
teste von der ausserordentlichen Schönheit des noch Erhaltenen angeregt.
Der Körper des Gottes zeigt das anmuthvollste Ideal, ganz dieselbe zarte
Weicliheit, dieselbe jugendlicli kräftige Fülle, in welcher er in den Zeiten
der schönsten Kunstblüthe des classischen Alterthums gebildet wurde, und
findet in dem straiTen, musculösen Körper des jungen Satyrs den vortheil-
haftesten Contrast. Eine Restauration dieses Fragmentes wird , wie wir
hören, nicht stattfinden; doch ist ein restaiirirter Gyps-Abguss desselben
von dem Bildhauer E. Wolf zu Rom, in einer wohlgelnngenen Weise, an-
gefertigt und in einem der Nebensäle der hiesigen Antiken-Gallerie aufge-
stellt worden, so dass uns hieraus wenigstens die grossartigen und bedeut-
samen Intentionen des Ganzen für das Auge deutlich gemacht werden. So
tritt uns die Gruppe hoch und feierlich, wie der Triumphzug des Gottes,
cutgegen und doch in all der zarten Anmuth und Begeisterung, welclie der
Gegenstand erforderte. Vornehmlich in der oberen Hälfte sind die Haupt-

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Antiken. — Berlin. 493

linien der Composition in einer überaus edlen, freien und lauteren Weise
geführt. — Abgüsse der antiken Theile der Gruppe sind auch der schönen
Sammlung von Gyps-Abgüssen, welche die Kunst-Akademie zu Berlin be-
sitzt, einverleibt worden.

Ausser diesem ist das leztgenannte Institut in neuester Zeit noch in
mannigfach schätzenswerther Weise durch Abgüsse bereichert worden.
Ausser dem schönsten Beispiele archaistischer Sculptur, der herkulanischen
Diana im Museum von Neapel, ausser dem Abgüsse eines äusserst leben-
vollen bronzenen Portraitkopfes (vor einigen Jahren auf der Rhede von
Palermo gefunden), der sich ebendaselbst befindet, und andern Gegenstän-
den, ist hier vornehmlich der Abguss eines kleinen Bronze-Gefasses anzu-
führen , welches vor etwa IV2 Jahren in der Gegend von Bonn gefunden
wurde und im dortigen Museum aufbewahrt wird, — unbedenklich eines
der anziehendsten und schönsten Werke, die uns aus dem Alterthum er-
halten sind. Es ist ein Trinkbecher, ohne den neu angeftlgten Fuss etwa
5^4 Zoll hoch, in der Mitte mit höchst zart gearbeiteten Reliefs umgeben,
deren Fläche eine Höhe von 37s Zoll hat. Die Reliefs zerfallen in zwei
gesonderte Darstellungen. Auf der einen Seite sieht man eine weibliche
Gestalt, welche, scheinbar schlafend, am Boden liegt, indem sie sich auf
den rechten Arm gestüzt hat und den linken Arm über den Körper hinab-
streckt. Nur der Untertheil ihres Körpers ist mit einem Gewände bedeckt;
sie wendet dem Beschauer den reizendsten Rücken zu, dessen sanfte Linien
durch ein breites Gürtelband, sowie die Linien des linken Armes durch
eine Spange, in anmuthigem Spiele unterbrochen werden, üeber ihr, zu
ihr herabschwebend, ist eine männliche Gestalt, behelmt, den Schild an der
vorgestreckten Linken, in der Rechten eine Art Wurfpfeil oder Lanze, und
nur mit einem Mantel bekleidet, welcher beim Niederschweben in schönen
leichten Falten zurück und empor getrieben wird. Der nackte Körper ist
ebenfalls in den schönsten Verhältnissen gebildet und entwickelt sich in an-
muthvollster Weise. Ihm gegenüber schwebt ein Amor, welcher eine Fackel
schwingt. Ohne Zweifel sehen wir hierin den Mars dargestellt, welcher
sich zu Rhea Silvia niedersenkt. — Von nicht geringerer Vollendung ist
die Darstellung der andern Seite, in deren spezieller Erklärung wir jedoch
den Archäologen nicht vorgreifen wollen. Es ist eine Kampfscene. Man
erblickt Herkules, ganz in seiner eigenthümlichen Körperbildung, welcher
vorschreitend mit der linken Hand das Löwenfell wie einen Schild vor
sich hinstreckt, indem er mit der Rechten die Keule schlagfertig erhebt.
Ihm gegenüber, hastig anstürmend, ist ein Krieger, behelmt, aber nackt
und mit flatterndem Mantel, das Schwert im Gehänge auf der linken Seite
tragend, mit der Rechten den Wurfspeer erhoben, die Linke mit dem
Schilde ebenfalls vorgestreckt. Die Aussenseite des Schildes ist dem Be-
schauer zugewandt und zeigt das Bild der römischen Wölfin mit den bei-
den säugenden Zwillingen. Zwischen den beiden Kämpfern gewahrt man
noch einen andern Krieger, welcher niedergestürzt ist und, indem er sich
auf den rechten Arm stützt, dem Beschauer den Rücken zuwendet.

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Berichte und Kritiken.

.'Vltargemälde zu Tempelhof.

(Museum, 1837, No. 19.)

Die Kirche von Tempelhof bei Berlin besitzt ein Altargemälde, das
Martyrthum der h. Katharina auf dem Mittelbilde und verschiedene -weib-
liche Heilige auf den Flügelbildern darstellend, welches die Inschrift:
1506. L. C. trägt und diesem gemäss, so wie in Bezug auf den überein-
stimmenden Charakter, — so -weit sich solcher bei der bisherigen Beschaf-
fenheit des Gemäldes erkennen liess, — als ein früheres Werk von Lucas
Cranach dem Vater galt. (Als ein solches ist es auch noch in dem so
eben erschienenen zweiten Theile des „Handbuches der Malerei seit Const.
d. Gr. von F. Kugler,"§. 31, 3. angeführt.) Gegenwärtig ist dasselbe im
K. Museum zu Berlin gereinigt worden und es zeigt sich nun , da eine
freie Betrachtung möglich ist, dass diese Ansicht nicht beibehalten werden
darf. Denn befolgt das Bild allerdings auch die Cranach'sehen Motive der
Darstellung, und hat es auch manches anziehend Naive, einzelne gut aus
dem Leben gegriffene Köpfe, so fehlt doch in der malerischen Behandlung
all jene Sicherheit und miniatur-artige Laune, in den Farben jene Kraft,
in den Charakteren jene Schärfe , welche die eigenthümlichen Vorzüge des
Meisters ausmachen. Zugleich ist noch eine zweite Inschrift zum Vorschein
gekommen: 1596. Daniel Fritsch pinxit. Ohne Zweifel ist demnach
letzteres der Name des Malers , und die andere Inschrift deutet es wohl
nur an, dass er eine besondere Cranach'sche Composition benutzt hat. In-
teressant aber ist es, noch in so später Zeit die alte Schule des Landes,
von italienischen Einflüssen noch vollkommen frei, in Thätigkeit zu finden,
da der jüngste unter den bisher bekannten alterthümlichen Meistern dieser
Gegend, Lucas Cranach der Sohn, bereits zehn Jahre früher, 1586, gestor-
ben war.

f

tt

Evangelist Johannes und Apostel Petrus. — Evangelist Mar-
cus und Apostel Paulus. Gemalt von Albrecht Dürer. Gestochen
von Albrecht Reindel. Druck v. Carl Mayer, Nbg. Zu finden bei dem

Verfasser in Nürnberg.

494

BESi

(Museum, 1837, No. 20.)

Wir heissen diese Kupferstiche, welche eins der vorzüglichsten Mei-
sterwerke deutscher Kunst in angemessener Weise wiedergeben, mit um so
grösserer Freude willkommen, als wir bisher noch wenig genügende Ku-
pferstiche nach vaterländischen Werken besitzen und die Lithographieen
von solchen (wie z. B. die Strixner'schen) ihrer unbestreitbaren Vorzüge
ungeachtet, immer nicht die Verdienste eines Kupferstiches, namentlich wo
es sich um die scharfgezeichneten Werke älterer Kunst handelt, erreichen
können. — Die beiden Dürer'schcn Bilder machen bekanntlich ein zui<am-

') Erste Auflage.

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Evangelist Johannes etc. Von Albrecht Dürer. 495

meügeh(5riges "Werk aus (ohne Zweifel jedoch so, dass sie an dem Orte
ihrer ursprünglicken Bestimmung, dem Rathhaussaale zu Nürnberg, irgend
dnen bedeutsamen Gegenstand zwischen sich einschlossen); so sind ihre
Nachbildungen, obgleich auf zwei Platten gearbeitet, denn auch hier auf
einem Blatte zusammen gedruckt. Die Grösse der Originale — 6 Fuss
Höhe zu 2 Fuss 4 Zoll 6 Linien Breite — ist in den Kupferstichen auf
das sehr bedeutende Maas von mehr als 17 Zoll Hölie zu l^U Zoll Breite
reducirt. Die ganze Arbeit und Behandlungsweise des Kupferstiches ist in
diesen Blättern durchaus rühmlich anzuerkennen ; es herrscht darin eine
grosse, freie Manier, die dem Massenhaften der Original-Darstellung, na-
mentlich jenen weiten grossartigen Gewändern, auf eine vorzügliche "Weise
entspricht. Der Gang, Schwung und die Lage der Taillen sind mit glücklicher
Einsicht angeordnet und durchgeführt; sie folgen den Biegungen der Formen,
ohne dabei jedoch irgendwie an jene kleinliche Aengstlichkeit der älteren
Stichmanier zu erinnern; ebenso ist aber auch aller blendende Glanz der
Modernen vermieden und statt dessen vielmehr durchweg der stoffliche
Charakter des Gegenstandes und die Nüancirung seiner Farbe meisterhaft
wiedergegeben. Gilt dies, wie bemerkt, zunächst von den Gewändern,
welche die Haupttheile der beiden Blätter ausmachen und deren grandiose
Anordnung den ersten bedeutenden Eindruck auf den Beschauer hervor-
bringt, so ist es nicht minder in Rücksicht auf die nackten Körpertheile,
besonders auf die Köpfe der Fall, in denen ebensosehr der allgemeine
Charakter des Nackten, als die eigenthümliche, etwas strengere "Weise, in
welcher Dürer dasselbe zu behandeln liebte, ersichtlich wird. Alles dies
konnte aber nur durch ein wahrhaftes inneres "S^'erständniss der Originale
hervorgebracht werden, und dass ein solches bei der ganzen Arbeit zu
Grunde lag und dieselbe vollkommen durchdringt, macht eben ihren
Ilauptvorzug aus. Die besondere Charakteristik jener vier Köpfe, in denen
sich die nach den vier Temperamenten abgestuften Eigenthümlichkeiten
der menschlichen Natur — und zwar in ihrem besonderen Bezüge zu dem
Dienste des heiligen "Wortes, das die Gestalten in den Händen tragen, —
ausspricht; die Bewegung in der Ruhe, die Gesammtanordnung, welche das
feierlich Gemessene und Statuarische in den Gestalten nicht als ein Ge-
suchtes, sondern als ein Ergebniss des unmittelbaren Momentes erscheinen
lässt, welche die grossartig gezogenen Linien der Gewandung doch zu-
gleich mit einem leisen Spielen in den Ecken und Brüchen, auf die ein-
zelne, vorübergehende Lage und Stellung der Körpertheile zurückdeutend,
verbindet, — alles diess tritt hier dem Beschauer in derselben lebhaft em-
pfundenen, durchgedachten und durchgeführten "Weise, wie in den Origi-
nalen entgegen. Ein leichter ornamentirter Rand ist jedem der beiden
Bilder zugefügt. Unterwärts sind die Schriftstellen angedeutet, welche zur
Erklärung der Gestalten dienen. (Ob aber bei der ersten Epistel Johan-
nis, welche nur 5 Capitel hat, vielleicht durch ein Versehen das 12te Ca-
pitel angezeichnet ist?) Dazwischen Medaillons, die auf der einen Seite
das Brustbild Dürer's, auf der andern das Wappen von Nürnberg dar-
stellen.

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I

Berichte und Kritiken.

Colleccion litografica de cuadros del Bey de Espana el Se-
hor Don Fernando VII, qiie se conservan en sus reales palacios, miiseo
y academia de San Fernando, con mclusion de los del real monasterio del
Escorial etc. Madrid, Cuaderno
38 — 49. (Gr. Fol.)

(Museum, 1837, Nr. 2G f.)

Schon mehrfach haben wir, bei früher erschienenen Lieferungen, über-
dieses umfangreiche lithographische Prachtwerk gesprochen, welches vor-
nehmlich Gelegenheit giebt, die ausserordentlichen Kunstschätze, die sich
gegenwärtig im Museum von Madrid befinden, kennen zu lernen, und
welches zugleich eine im Einzelnen sehr vollendete lithographische Technik
vor die Augen des Beschauers führt.

Die vorliegenden zwölf Hefte enthalten, neben einzelnen Blättern nach
italienischen Meistern, verschiedene, welche der niederländischen Schule
angehören, sodann aber eine namhafte Keihe von Nachbildungen spanischer
Kunstwerke, die, bei unserer noch so geringen Kenntniss der spanischen
Schule, für uns von grösstem Interesse sind. Unter den Italienern sind
hier vornehmlich Meisterwerke Tizian's zu nennen. Ein grosses Baccha-
nal führt uns die ganze hinreissende Eigenthümlichkeit dieses Meisters
vor: schöne glühende Sinnlichkeit in dem Zustande derjenigen Unbefan-
genheit und Naivetät, welche den Menschen noch im reinen Einklänge mit
dem Leben der Natur darstellt. Es ist eine Gesellschalt von jungen Män-
nern und Weibern, die sich im kühlen Schatten der Bäume versammelt
haben; glänzende Krüge, Pokale, Becher, sowie die leichte, zum Theil
fehlende Gewandung deuten auf das bacchische Fest, das hier gefeiert
wird. In der Mitte lagern auf dem Rasen zwei reizende Mädchen mit
Flöten in deu Händen, nackte Jünglinge neben ihnen ; ein wenig zur Seite
schlingen sich andre zum leichten Tanze durcheinander; gegenüber zwi-
schen den Bäumen, sieht man Singende und Trinkende: in der einen
Ecke des Vordergrundes endlich ruht eine schlafende Bacchantin ; sie ist
nackt, und allein an dieser Figur könnte man eine absichtliche Schaustel-
lung schöner Glieder, welche die unbefangene Lust des Ganzen in Etwas
stört, tadeln. — Nicht minder anmuthig ist ein andres grosses Gemälde
von Tizian, das in einer lieblichen Landschaft ein uneiidliches Gewimmel
von Amorinen darstellt, welche Früchte zu sammeln scheinen, hier und
dort einander necken, mit Thieren spielen u. s. w. Zur Seite eine halb-
nackte weibliche Statue auf hohem Piedestal und zwei Weiber, die sich
der letzteren in Begeisterung nahen. Es scheint in diesem lieblichen Ge-
mälde ein allegorischer Sinn verborgen zu liegen, der aber, wie bei so
manchen andren Darstellungen Tizian's und vornemlich Giorgioiie's, schwer
zu enträthseln sein dürfte. — Ein drittes Gemälde stellt das Bad der Diana
nud die Enthüllung der Schande der Calisto dar. Es ist eins derjenigen
Bilder, welche Tizian für Philipp II. von Spanien malte, und durch mehr-
fache Wiederholungen von der Hand des Meisters, z. B. in der Bridge-
water-Gallery zu London, bekannt. Das in Rede stehende Bild ist dem

49Ü

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Colleccion litogralica de euadros etc. 497

letzteren in allen einzelnen Theilen vollkommen ähnlich, nur in einigen
Theilen der Gewandung finden sich Abänderungen. — Auch Portraits vou
Tizian's Hand finden sich in den vorliegenden Lieferungen, so das sehr
grosse Gemälde Carl's V„ Avelches den Kaiser in ganzer Figur, gerüstet
und zu Pferde sitzend, in einer dunkelnden Landschaft darstellt. Ein an-
dres Portrait stellt die Gemahlin des Kaisers, Isabella von Portugal, dar;
es ist ein Kniestück.

Sodann sind aus der italienischen Landschaftschule einige Nachbil-
dungen vorzüglicher Meisterwerke mitgetheilt: von A. Caracci, Nicolas
und Caspar Poussin, Claude Lorrain.

Die Reihe der Niederländer eröffnet Rubens mit mehreren bedeu-
tenden Bildern, unter denen vornehmlich eins von höchstem Verdienste
ist: das Wunder der ehernen Schlange. Die Darstellung enthält, in der
Körperbildung der Gestalten und in dem momentanen Affekte, alle die
Gewalt, darin Rubens überhaupt Meister ist; aber es vereinigt sich hiemit
zugleich die besonnenste dramatische Entwickelung, eine Concentration des
Interesses auf wenige Hauptnwtive und somit eine klare Gesammtordnung,
endlich eine Reinheit des Styles, wie sie nur den Werken seiner schönsten
Zeit — denen wir das in Rede stehende unbedenklich anreihen — eigen
ist. Auf der einen "Seite ist ein dürrer Baumstamm, um den sich die
eherne Schlange windet, aufgerichtet; daneben steht Moses, den Rücken
halb zum Beschauer gewandt, den Mantel in grossartigen Falten um die
Schulter geschlagen, und weist zu dem Mirakelbilde empor; etwas tiefer
hinter ihm, in ebenso würdiger Gewandung, steht Aaron. Auf der andern
Seite drängt das Volk herzu. Die Hauptgruppe bezieht sich auf ein schö-
nes, reichgeschmücktes Weib, welches im Zustande gänzlicher Entkräftung
hereingeschleppt wird; ein kräftiger Mann hält sie an ihren Gewanden mit
voller Anstrengung empor, während ihre Arme ohnmächtig niederhängen;
ein Greis vor ihr richtet mit ergreifender Geberde, auf das eherne Bild
hindeutend, ihr Haupt empor, in welchem, beim Anblick, des letzteren,
durch, die Qual der Krankheit bereits ein Strahl der Tröstung hervorleuch-
tet; eine Dienerin ist beschäftigt, die um ihren Leib geschlungenen Schlan-
gen loszuwinden. Dicht vor dem Baumstamm hat sich ein nackter, eben-
falls von Schlangen umwundener Jüngling niedergeworfen; hinterwärts
werden noch andere sichtbar, welche die Arme in schöner Bewegung
flehend emporheben. — Darstellungen wie diese sind es, in denen die
hohe, in ihrer Art einzige Genialität des Meisters ihren Triumph feiert; —
dass Vieles Andre, was aus seinem Atelier hervorgegangen ist, eher zur
Verdunkelung seines Ruhmes dient, ist bekannt. Dies ist z. B. der Fall in
dem grossen Prunkstücke des Raubes der Proserpina, welches sich eben-
falls unter den vorliegenden Blättern findet. Auch zwei andre — eine
Fortuna, die über den Fluten des Meeres hinrollt, und die drei Grazien
vorstellend — dürften nicht den Anforderungen eines gereinigten Kunst-
sinnes genügen. Alle Gewalt seines Colorites zugegeben, so gehört zur
Darstellung der Grazie doch eben zunächst die Grazie selbst, die nicht im
Bereich von Rubens künstlerischer Eigenthümlichkeit lag, — wenn auch
die Dekoration des Rubens-Saales in der Münchner Pinakothek viermal,
an den Hauptstellen der gewölbten Decke, das Sinnbild jener drei Göt-
tinnen vorführt und somit das Gegentheil dieser Ansicht auszusprechen
scheint.

32

Kugler, Kleine Schririen. I.

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498 iBerichte und Kritiken.

Bei den übrigen der vorliegenden Blätter möge es hier an der Bezeichnung
des Namens genügen: Joh. Breughel (eine brillante Paradieslandschaft),
Poelenburg, Wouvermann, Teniers (eine Dorfkirmes und, als sel-
tenes Beispiel, eine Felslandschaft mit einer Rinder- und Schaafheerde),
P. Neefs (drei Interieurs gothischer Kirchen), van der Meulen, Paul
und Cornelius de Vos.

Wir wenden uns nunmehr zu den Nachbildungen der Gemälde spani-
scher Meister, die in den vorliegenden Lieferungen des Werkes enthalten
sind. Hier begegnet uns zuerst Juan de Juanes (oder richtiger: Vi-
cente Juanes) mit der Darstellung des Begräbnisses des heil. Stephan.
Das Bild gehört einer grösseren Reihenfolge aus dem Leben des genannten
Heiligen an und bildet deren Beschluss. Man sieht vorn den Sarkophag,
in welchen vier Männer den Leichnam des, mit dem prächtigen Diakonen-
Gewände geschmückten Märtyrers hineinlegen; vier andre, mit dem Aus-
druck schmerzlicher Theilnahme, werden hinter ihnen sichtbar. Auch in
diesem Bilde, wie in den andern desselben Meisters (der der Mitte des
16. Jahrhunderts angehört) gewahrt man nooh die Nachklänge der alter-
thümlichen Schule des Landes, welche Jiier vornehmlich in der höchst
schlichten Gesammt-Anordnung auf eine anziehende Weise hervortritt; doch
fehlt es zugleich nicht an den Zeugnissen des Studiums florentinischer
Meister. Und wenn das Bild somit den Leistungen gleichzeitiger Nieder-
länder, wie etwa des Bernhard van Orley, verwandt erscheint, so ist doch
wiederum in den Physiognomieen der Köpfe eine gewisse hervorstechende
Eigenthümlichkeit zu bemerken, die entschieden auf die spanische Natio-
nalität hindeutet und in der späteren, entwickelten Periode der spanischen
Kunst in noch bestimmterer Ausprägung wiederkehrt.

Entschiedenen Einfluss florentinischer und römischer Studien finden
wir in einem kleinen Gemälde von J. F. Navarrete, el mudo
(1526 —1579), welches die Taufe Christi darstellt. In der Mitte des Bil-
des steht Christus mit den Füssen im Wasser (welches hier als ein klei-
ner Bach vorgestellt ist); auf der einen Seite, auf einem Steine knieend,
Johannes, indem er das Wasser auf Christi Haupt giesst; auf der andern
eine Gruppe von Engeln mit den Gewändern des Heilandes. Drüber
schwebt Gott-Vater, halb von Wolken verhüllt, mit segnender Gelberde,
und von anbetenden himmlischen Schaaren umgeben. Die Gestalten der
Engel sind ganz im Style der Raphaelischen Schule, der Gott-Vater ist
eine Nachahmung Michelangelo's. Dieser Umstand ist auffallend, da Na-
varrete sonst gerade als einer derjenigen hervorgehoben wird, welche für
die Einführung der venezianischen Behandlungsweise in die spanische
Kunst besonders thätig gewesen sind, wie er denn auch den Beinamen des
spanischen Tizian führt. Indess scheint das kleine Bild, trotz verschiede-
ner ansprechender Einzelheiten, nicht als ein sonderlich bedeutsames Werk
gelten zu dürfen und mehr nur einer vorübergehenden Richtung anzu-
gehören.

Die Mehrzahl der Lithographieen gehört der Blüthenperiode der spa-
nischen Kunst und zwar der Schule von Sevilla, an. Unter diesen nen-
nen wir zuerst zwei, zu einer grösseren Folge gehörige Darstellungen von
Franzisco Zurbaran. Sie stellen Visionen des heil. Petrus von No-
lasco dar. Auf dem einen Bilde sieht man den Heiligen, an seinem Tische
knieend und die Hand stützend, eingeschlafen; ein Engel tritt in mäch-
tiger Geberde zu ihm und deutet auf das Bild des himmlischen Jerusalem,

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Colleccion litogralica de euadros etc. 499

welches sich oberwärts aus dem dunklen Nebel, der das Gemach erfüllt,
entwickelt. Auf dem andern Bilde senkt sich in das Dunkel der Umge-
bung, von wundersamem Lichte umflossen, das Kreuz nieder, an welches
der Apostel Petrus, in umgekehrter Stellung, die Beine nach oben gewandt,
geschlagen ist; der Heilige kniet davor und befrachtet die grauenhaft
phantastische Erscheinung mit Verwunderung und Erstaunen. Beide Bilder
sind ganz von jener gewaltsamen Kraft erfüllt, welche dem Zurbaran den
Namen des spanischen Caravaggio erworben hat; aber zugleich spricht sich
in ihnen diejenige bedeutsamere Würde aus, die ihn über sein italienisches
Vorbild erhebt. Besonders die Gestalt des Heiligen , in seinem weiten
weissen Ordensgewande, ist auf beiden Gemälden voll grossartiger Energie
und sein Kopf voll charakteristisch ascetischen Ausdruckes.

Zwei andere Blätter führen uns zwei grosse Gemälde von Velasquez
vor. Sie gehören der Historienmalerei an und sind somit höchst interes-
sant für einen Meister, dessen Werke der überwiegenden Mehrzahl nach
aus Portraitbildern bestehen. Das eine stellt die Anbetung der Könige
dar; das Bild ist, wie es überhaupt bei historischen Darstellungen in Ve-
lasquez' Art lag, in naturalistischer Weise gefasst und macht somit das
Heilige zu einem Privat-Vorgange des gewöhnlichen Lebens; wiederum
jedoch leuchtet eine eigenthümliche Grossartigkeit, ein strenger Ernst hin-
durch, der diesem Vorgange eine besondere Bedeutung giebt. Namentlich
der eine von den Königen, der zuvorderst kniet, hat in Geberde und
Gewandung eine eigne Feierlichkeit, die nicht ihres Eindruckes auf
das Gefühl des Beschauers ermangelt. Maria erscheint schlicht, Avie
eine Bäuerin, und doch ebenfalls nicht ohne Würde; gar sonderbar aber
macht sich das Christkind, das sie, bis an den Kopf eingewickelt, wie ein
Püppcheri vor sich sitzen hat. — Das zweite Blatt nach Velasquez stellt
das Bild des gekreuzigten Heilandes dar. Leuchtend springen dem Auge
des Beschauers aus dem schwarzen Grunde die , einst^wohl schönen und
männlichen, hier aber zermarterten und auseinander gereckten Formen ent-
gegen. Das Haupt ist auf die Brust gesenkt; das Stirnhaar hat sich auf
der rechten Seite unter der Dornenkrone gelöst nnd hängt nun wie ein
dunkler Schleier über das halbe Gesicht auf die Brust nieder.

Eigenthümliches Interesse gewährt die Lithographie nach ein^ gros-
sen Gemälde von Velasquez' Schüler Juan de Pareja, der, ursprüng-
lich ein Sklave des Meisters, sich nur insgeheim die künstlerische Aus-
bildung erwerben konnte. Das Bild stellt die Berufung des Matthäus zum
Apostelamte dar. Es ist ein weites, reichgeschmücktes Gemach; Christus
ist so eben mit einigen Jüngern zum Wechseltische getreten und spricht zu
Matthäus die verhängnissvollen Worte; dieser legt die Hand auf die Brust,
während die übrigen Anwesenden, die am Tische sitzen oder daneben
stehen, verwundert aufliorchen. Christus, in seiner idealen Gewandung, ist
ziemlich manierirt behandelt; auch fehlt es ihm im Ausdruck an der hö-
heren Würde; ebenso spielt auch Matthäus im Pelzmantel und reichen
orientalischen Turban eine sonderbare Figur. In den übrigen Personen
aber, die ganz im Kostüm der Zeit des Künstlers gehalten sind, entwickelt
sich ein erfreuliches Bild unbefangener Lebensverhältnisse. Der alte Notar
mit der Brille auf der Nase, der sich eben im Schreiben unterbrochen
sieht, der reichgeschmückte Soldat, der, wie es scheint, einen Wechsel aus-
zustellen im Begriff war, die beiden Jünglinge zur Seite, alle sind voll

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Berichte und Kritiken.

Naivetät und unmittclbaTer AVahvheit. Das Bild ist mit dem Namen dos
Künstlers und mit der Jahrzald 1661 bezeichnet.

Von Juan Bautista del Mazo, dem Hauptschüler des Velasquez,
der vornehmlich als Portraitmaler bekannt, doch auch in landschaftlichen
Darstellungen ausgezeichnet ist, sieht man eine Ansicht von Saragossa (vom
Jahre 1647). Es ist das Ufer des Ebro; der Yorgrund reich mit den man-
nigfachsten Gestalten spanischen Lebens bedeckt; dann der weite Spiegel
des Flusses, mit leichten Gondeln belebt, und gegenüber hingebreitet die
Stadt, die mit ihren alterthtimlichen Kirchen, Thürmen, Thürmchen, Er-
kern und Hallen ein äusserst romantisches Ganzes bildet.

Muri 110 zeigt sich uns in drei Werken aufs Neue in seiner aner-
kannten Meisterschaft. Von höchstem Werthe ist unter diesen eine Ver-
kündigung Maria. Die Jungfrau hat an ihrem Betpulte gekniet und wen-
det sich, die Hände über der Brust gekreuzt, demüthig dem himmlischen
Boten zu, der sich, lebhaft niederschwebend, so eben vor ihr auf das Knie
niederlässt; er trägt in der einen Hand die Lilie, mit der andern weist er
empor. Das Gemach ist von einer wundersamen Glorie erfüllt, in deren
Mitte die Taube, von spielenden Cherubim umgaukelt, schwebt. Der Ge-
sammt-Effekt des Bildes ist, ohne überraschend zu sein, von einer freudi-
gen Feierlichkeit; Maria erscheint als die schlichte Magd des Herrn, aber
die Gewandung, die schönen, grossen Falten des Mantels geben ihr eine
eigenthümliche Würde. Vielleicht möchte man es wünschen, dass ihre Ge-
stalt um einen, nur sehr geringen Grad freier, weniger bedrückt, erscheine;
was hier indess zu tadeln sein dürfte, verschwindet durchaus vor der gött-
lichen Schönheit des Engels, der in seiner Gesammt-Erscheinung, wie in
allem Einzelnen der Stellung, Geberde und Gewandung, vor Allem aber
in dem Profil seines Gesichtes das Gepräge der edelsten , lautersten An-
muth trägt. — Eine Anbetung der Hirten repräsentirt mehr die naturalisti-
sche Richtung des Künstlers; aber sie erscheint in ihrer Art nicht minder
meisterhaft. Vornehmlich der im Vorgrunde knieende alte Hirt ist von
unübertrelTlicher Wahrheit; Maria, minder würdevoll als im vorigen Bilde,
ist doch von grosser Lieblichkeit, und das Kind, welches sie dem Auge
der Anbetenden entblösst, ist äusserst reizvoll gebildet. — Eine büssende
Magdalena ist ein Bild von energischer Wirkung: es erinnert, der Auffas-
sung nSch, etwa an die früheren Leistungen eines Guercino. Sie sitzt dem
Beschauer entgegengewandt, indem sie mit der einen Hand ein Buch auf
dem Schoosse hält und den Kopf voll tiefen Nachsinnens in die Höhe
richtet. Das Bild ist also wesentlich verschieden von einer zweiten Dar-
stellung desselben Gegenstandes von Murillo's Hand, die sich in einer
deutschen Privatsammlung befindet und im KupferstichUmd Steindruck be-
kannt ist. In letzterem Bilde kniet die Heilige an einem Felsaltare und
hat die Hände zum Gebete gefaltet.

Murillo's lebensgrosse Darstellungen von Scenen des gemeinen Lebens
sind allgemein bekannt; unter den vorliegenden Blättern finden wir ein
Paar, welche, von Nachfolgern des Meisters ausgeführt, ähnliche Gegen-
stände behandeln. Das eine Bild, von einem unbekannten Künstler her-
rührend, ist nicht ohne ansprechendes Leben. Es stellt eine Küche dar,
in welcher die Köchin, einen Hahn rupfend, sitzt; seitwärts ist ein Koh-
lenbecken , über welches der Bratspiess mit aufgestecktem Braten ange-
bracht ist; ein aufrechtsitzender Hund , der den Stiel des Bratspiesses mit
seinen Vorderpfoten fasst, ist, wie es scheint, zum Drehen abgerichtet;

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Colleccion litogralica de euadros etc. 501

eine kriegerische Katze unterbricht ihn aber in seinem Gescliäfte, und
dieser kritische Moment nöthigt auch die Köchin, in ihrer Arbeit einzu-
halten und einen Friedensversuch einzuleiten. — Minder befriedigend ist
das Bild eines namhaften Schülers von Murillo, des Pedro Nunez de
Villavicencio, welches würfelspielende Knaben vorstellt.

Die Schule von Madrid wird in den vorliegenden Blättern nur durch
1. A. Es Galante repräsentirt, von dem man ein Bild der beiden Knaben
Christus und Johannes sieht; sie halten die Weltkugel zwischen sicli und
ein Lamm, gegen welches Christus segnend die Rechte erhebt. Die Ge-
stalten der beiden Knaben verrathen einen lieblich kindlichen Ernst; doch
scheint die lithographische Ausführung dieses Blattes der zarten Carnation
in Escalante's Bildern nicht ganz entsprechend.

In der Schule von Valencia finden sieh noch während des ITten Jalir-
Imnderts mannigfache Einwirkungen der italienischen Kunst; so z. B. bei
Pedro Orrente, welcher sich den Styl des Bassano zum Muster genom-
men hatte. In dieser Art finden wir von ihm eine figurenreiche Anbetung
der Hirten, die jedoch voll energischen Lebens und nicht ohne nationell
spanische Eigenthümlichkeit in den Physiognomieen der Köpfe gehalten ist.
Hieher gehört auch Jose Ribera, der sich iiidess vollständig in Italien
acclimatisirt hatte und uns von dorther unter dem Namen des Spagnoletto
bekannt ist. Unter den vorliegenden Nachbildungen seiner Werke finden
wir ein Paar, in denen das düster grausige Wesen seiner späteren Bilder
noch nicht vorherrscht. Das eine ist ein äusserst treffliches und anspre-
chendes Brustbild des Apostel Petrus. Das zweite ist eine grosse Com-
Position und stellt rlie heil. Dreifaltigkeit dar: Gott-Vater, als ein milder
Greis, dessen Mantel sich zu beiden Seiten hoch in die Lüfte breitet; vor
seiner Brust die Taube und über seinen Schoos gebreitet der Leichnam
des Erlösers; Cherubim sind umher angebracht, zwei von ihnen halten ein
weisses Tuch, auf welchem die Beine des Erlösers ruhen. Nehmen
wir
den unschönen und widerwärtig gelegten Körper des Erlösers (der jedoch
trefflich gemalt scheint) aus, so enthält das Bild grosse Schönheiten, be-
sonders in den Köpfen: der Kopf des greisen Gottes, vornehmlich aber
der des Erlösers
ist von einer anmuthvollen Milde, voll zarten Gefühles,
wie es gewiss bei Spagnoletto nur im seltnen Falle gefunden wird. — An-
ders jedoch verhält es sich mit einem dritten Gemälde desselben Künstlers.
Dies stellt die Marter des heil, Bartholomäus vor und giebt uns eine leben-
dige Anschauung von Spagnoletto's scharfrichterlicher Poesie. Zwar sehen
wir den unseligen Heiligen noch nicht mit den Fetzen seiner Haut ange-
than, doch hängt er schon wie ein Schlachtvieh an dem Querholz, gewich-
tige Schergen ziehen ihn mit Anstrengung aller Kräfte an dem aufgepflanz-
ten Stamm empor. Gleichgültiges Volk, brutale Soldaten, zigeunerhafte
Weiber blicken von den Seiten herein; Das Bild ist widerwärtig und der
grässlichen Scene, über die sich ein breites Stück Himmel hereinwölbt,
fehlt es sogar an dem düsteren Grausen, womit wir Begebenheiten der Art
gern umdunkelt sehen. In der Gemälde - Gallerie des Berliner Museums
ist ein Bild Spagnoletto's, welches ganz dieselbe Composition, nur mit ge-
ringen Abänderungen, enthält; aber hier fehlt der obere leere Theil des
Madrider Gemäldes, und durch diesen Umstand, sowie durch andere ge-
ringere Verschiedenheiten der Behandlung, concentrirt sich das Ganze auf
eine ungleich mehr ergreifende Weise, wenn freilich der Beschauer allezeit
bei solclien Gegenständen nicht mit Vorliebe verweilt.

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Berichte und Kritiken.

502

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Endlich haben wir noch über die Lithographie eines Gemäldes zu
sprechen, welches
der gegenwärtigen Kunst von Spanien angehört und von
einem jungen Künstler, Don Federico de Madrazo, ausgeführt ist.
Es stellt die Krankheit, welche der verstorbene König Don Fernando VII.
im September 1832 zu S. Ildefonso erlitt, und die theilnahmvolle Pflege
seiner Gemahlin Maria Christina dar. Der königliche Kranke liegt, auf
ein prächtiges Bett hingestreckt, in der Mitte des Bildes; zu seinen Häup-
ten steht die Königin in der sogenannten Karmeliterinnen - Kleidung; sie
ist beschäftigt, ihm das Blut abzutrocknen; zu beiden Seiten des Bettes
Kammerdiener mit Arzneien u. drgl. Hinter dem Bett, dessen seidene
Vorhänge auseinander geschlagen sind, erscheinen die Aerzte, von denen
der vorderste, Don Pedro Castellö, den Puls des Königes fühlt. Kostbare
Mobilien im Vordergründe deuten auf das fürstliche Lokal der Begeben-
heit und schliessen das Ganze auf eine gefällige Weise ab. Die Compo-
sition ist einfach und ungezwungen; sie erinnert, ohne jedoch als beson-
dere Nachahmung zu erscheinen, an den Tod Napoleon's von Steuben und
theilt mit letzterem die Eigenschaften, die mit einer Scene unvermeidlich
sind, wo bei geringem Ausdrucke des All'ektes, eine Anzahl von Portraits
vereinigt werden müssen; doch haben sämmtliche Köpfe, unter denen na-
türlich die des Königes und der Königin das besondere Interesse erwecken,
eine lebendige, charaktervolle Individualität. Der junge Künstler über-
reichte das Gemälde (es ist 4 Fuss hoch und 6 Fuss 3 Zoll breit), dem
Könige nach dessen Wiederherstellung; dieser schenkte es der Königin,
„als ein Zeichen der Liebe, mit welcher er der ihrigen entgegenkomme"
(en muestra del amor con que al siiyo correspondia), und befahl, dasselbe
in der vorliegenden Sammlung herauszugeben, obgleich es nicht zu der
Sammlung des Madrider Museums gehört.

Arabische und Alt-Italienische B au-V e r zier u nge n. Gesammelt
und gezeichnet von F. M. Hessemer, Professor der Baukunst am Städel-
schen Kunst-Institut zu Frankfurt am Main. Berlin bei G. Reimer, Heft
1 und 2 (jedes zu 10 Blatt in Folio), 1836, 1837.

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(Museum. 1837 , No. 26.)

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Bei dem lebendigen Fortschritt, den man seit den letzten Jahrzehnten
in einer geistreichen, gesetzmässigen, künstlerischen Behandlung des Or-
namentes gemacht hat, muss Alles, was hier unsern Ideenkreis i» einer
angemessenen Weise erweitert, was unserm Geschmacke neu anzuwendende
oder umzubildende Motive der Darstellung mitthcilt, mit Dank aufgenom-
men werden. So namentlich auch das vorliegende Werk, welches in der
That einige, nicht unwesentliche Lücken auszufüllen verspricht und, wie
es uns den Formensinn fremder Nationalitäten für eine mehr wissenschaft-
liche Betrachtimg anschaulich entwickelt, so zugleich zu mannigfacher
Bereicherung unserer heimatlichen Kunst Gelegenheit giebt. Die arabischen

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Arabische und Alt-Italieuische Bau-Verzierungen. 503

Vei'zierungeu gehören dem ägyptischen Arabien an und sind, in den bei-
den bis jetzt erschienenen Heften, sämmtlich von Gebäuden Kairo's ent-
nommen. Dem grösseren Theile nach sind sie in jenem seltsamen For-
menspiel ausgeiührt, welches das Auge zunächst wie ein labyrinthisches
Gewirr berührt, bei längerer Betrachtung jedoch ein, zumeist mit grösster
Künstlichkeit durchgeführtes Gesetz, ,das immer nur das Gleichartige in
wechselnden Lagen durcheinander zieht, erkennen lässt; lineare Figuren
(bei Täfelwerk und Wandmalerei), die sich in allen möglichen "Winkeln
durchkreuzen und doch regelmässige Hauptformen zu Wege bringen, —
oder mehr freie, zum Theil blätterartige Verzierungen (in Mosaiken), bei
denen das Ineinandergreifen entsprechender, aber stets verschieden zusam-
mengelegter Figuren oft bis zum äussersfen Raffinement getrieben ist. An-
dere Blätter enthalten ein freies ijlastisches Ornament, wie die geschmack-
voll durchbrochenen Luftfenster der Moschee Mamhammed ge Woalli, die
an unseren sogenannt byzantinischen Styl erinnern, oder wie die Füllun-
gen in dem Grabgebäude des Ibrahim Aga, auf denen sich die bekannten
Formen des orientalischen Blattwerkes in zierlichst weichen Verschlingun-
gen durcheinander ziehen. — Die altitalienischen Ornamente enthalten
theils musivische Verzierungen, theils Wandmalereien, die der Mehrzahl
nach in einem gewissen Teppich-artigen Charakter, in einem Nebeneinan-
der-reihen gleichartiger, meist bewegterer Formen gehalten sind. Einige
folgen mehr dem Decorations-Prinzip der gothischen Kunst, bei den mei-
sten jedoch treten bereits die Elemente der classischen Bildungsweise hin-
zu ; unter letzteren sind namentlich die Wandmalereien in S. Francesco zu
Assisi als vorzügliche Beispiele anzuführen. So nähern sich diese bereits
unmittelbar dem Geschmacke unserer Zeit, die sich an der nie versie-
genden Quelle griechischer Kunst emporgebildet hat, — eine Bildung,
durch welche auch die Aneignung und modiflcirte Benutzung des Fremd-
bärtigen, wie jener arabischen Muster, möglich sein wird. — Sämmtliche
Blätter sind in farbigem Steindruck ausgeführt, einige in einer harmoni-
schen Zusammenstellung der Farben, die uns jedoch bei andern in etwas
zu schwer und dumpf erscheint. Der Herausgeber verspricht in einem
später beizugebenden erläuternden Texte seine Ansichten über Decoration
im Allgemeinen und die in dieser Sammlung enthaltenen Ornamente insbe-
sondere auszusprechen, sich über die Art, wie dieselben für den jetzigen
Bedarf angewendet werden können, zu äussern, und die Erfahrungen mit-
zutheilen, welche er bereits bei der Ausführung von Decorationen nach
diesen Mustern gemaclit hat.

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504

Berichte und Kritikou.

Die Anbetung der heil, drei Könige. Gemalt von Raphael.
Gezeichnet und gestochen von Eduard Eichens in Berlin. Gedruckt

bei Steger in Berlin.

(Museum 1837, Nr. 26.)

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(p 1.
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Der genannte, vom K. Museum zu Berlin herausgegebene Kupferstich
führt ausserdem noch die Unterschrift: ,,Das in Leimfarben (a guazzo)
ausgeführte Original-Gemälde, ursprünglich auf Bestellung eines Abtes aus
der adligen Familie Ancajani für den Hochaltar der Kirche eines zu Feren-
tillo imweit Spoleto gelegenen Klosters gemalt, im Jahre 1733 von da in
die Hauscapelle der Ancajani nach Spoleto versetzt, ist im Jahre 1834 von
jener Familie käuflich für das Köiiigl. Museum in Berlin erworben vporden,
wo es sich gegenwärtig befindet. Es misst 7 Fuss 9 Zoll 6 Linien im
Quadrat." — Der Kupterstich misst 21 Zoll.

Ueber das Original-Gemälde, als eins der interessantesten Werke Ra-
phaels aus der Zeit seiner ersten Bildung unter Perngino bekannt, ist schon
mannigfach die Rede gewesen; wir können uns hier somit, was dessen
kunstgeschichtliche Stellung anbetrifft, weiterer Bemerkungen enthalten. Aber
das Bild selbst ist eine traurige Ruine; die Farben sind verschossen, zum
Theil abgefallen, aller Gesammt-Eindruck ist vernichtet und mit einem
tief wehmtithigen Gefühle sieht der Kunstfreund erst bei längerer Betrach-
tung sich diese Gestalten, diese holden, gemüthvollen Köpfe aus dem Nebel,
der das Ganze bedeckt, entwickeln. Im höchsten Grade schwierig war
somit die Aufgabe, dasselbe im Kupferstiche neu darzustellen.* Hier galt-
es nicht, sich an ein Vorhandenes anzuschliessen und dasselbe einfach und
unbefangen wiederzugeben; hier musste erst der Nebel, der die Gestalten
einhüllte, verschwinden, musste das "Verworrene in Harmonie gesetzt, das
Fehlende im Geiste des Originals wiederhergestellt werden. Hier war eine
zwiefach schwierige Arbeit nöthig; aber wir dürfen auch dem Künstler,
der dieselbe vollendet, zu dem schönen Gelingen Glück wünschen. Der
Kupferstich giebt uns in der That ein erfreuliches Bild des Gesammt-Ein-
druckes, den das Original in seiner ursprünglichen BeschalFenheit ausgeübt
haben dürfte; er führt uns das "Wesen der umbrischen Schule, das Seelen-
hafte ihrer Auffassungsweise in einem vorzüglichen Beispiele entgegen, wenn
uns auch Einzelnes (wie z. B. der Kopf des Engels zur Linken der Maria)
etwas zu weich gebildet, Andres, wie der Mantel der Maria, in ein wenig
fremdartiger "Weise, vielleicht in zu unruhigem Faltenwurf, wiederherge-
stellt scheint. Doch können wir auf diese geringen Einwürfe kein Gewicht
legen, da wir uns hier nur auf dem Felde der "Vermuthungen bewegen und
diese leicht von dem so oder anders beschaffenen Auge des Beschauers ab-
hängen mögen. Die Ausführung des Stiches ist dieselbe, welche bereits
von den Italienern zur Nachbildung älterer Werke mit gutem Erfolge, wenn-
gleich nicht häufig mit eben so zartem Eingehen in den Geist der Originale,
angewandt worden ist: es ist jene, mehr Zeichnungs-artige Weise der Dar-
stellung, welche auf die malerische Wirkung, von der ohnedies bei den
Werken älterer Kunst selten die Rede ist, keine Rücksicht nimmt. Zugleich

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Le moyen äge pittoresque. 505

jedoch ist die Behandlung keinesweges leicht und etwa nur andeutend,
sondern das Einzelne mit grosser Zartheit empfunden und ausgeführt. In
einer meisterhaften Manier ist der fröhliche Arabeskenrand des Ganzen
behandelt, und durch eine freiere Führung der Nadel charakterisirt sich
dessen Malerei (grau in grau auf goldnem Grunde) auf sehr ansprechende
Weise. Die reizenden Eckbilder, — oberwärts zwei Sibyllen, unterwärts
zwei Heilige, — in denen besonders der raphaelische Geist ersichtlich wird,
sind dagegen wiederum nicht minder zart als das Hauptbild ausgeführt.
Möge sich doch Gelegenheit finden, dass noch manches Andre von den
reichen Schätzen .alterthümlicher Meisterwerke, welche die Gallerie des
Berliner Museums einschliesst, in ähnlicher Weise herausgegeben werde!
die andern, ebenfalls so höchst anziehenden Werke aus Raphaels Jugend-
periode (wir nehmen die Madonna aus dem Hause Colonna, als ein schon
späteres Bild, aus) sind, wie das besprochene, bisher noch nie gestochen
worden, und wie Treffliches ist ausserdem noch von andern Meistern vor-
handen! Um nur ein Beispiel zu nennen, so mag hier die Pi-etk von Man-
tegna, ein Gemälde unbedingt ersten Ranges, angeführt^werden, welche
ganz vorzüglich für den Stich geeignet scheint und in solcher Wieder-
holung auf den allgemeinsten Beifall rechnen dürfte.

Le moyen dge pittoresque. Vues et fragments iVarchitecture, meuhles
et decor en Europe du Xe au XVlle siede. Dessines d'apres nature par
Chapuy et autres et lithograplms etc. Paris.

(Museum 1837, Nr, 27.)

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i-

? --

■5

Das genannte Werk, davon uns die ersten 6 Lieferungen vorliegen und
dessen Inhalt und Zweck durch den Titel bezeichnet werden, reiht sich
dem bekannten Werke der
Cathedrales franqaises von Chapuy an und bietet,
wie jenes, mannigfach interessante und geistreich gearbeitete Blätter dar,
deren Interesse durch den grösseren Reichthum des Inhalts noch auf eine
namhafte Weise gesteigert wird. Wir geben über die wichtigsten der bisher
mitgetheilten Darstellungen Nachricht.

Notre-Dame la Grande ä Poitiers. Ein wundersam phan-
tastisches altbyzantinisches Bauwerk, welches uns in einer äusseren Ansicht
vorgeführt wird. Das Hauptportal durch schwere, reichverzierte Halbkreis-
bögen eingefasst; zu den Seiten spitzbogige Nischen in demselben Charakter.
Darüber zwei Reihen von byzantinischen Bogenstellungen, in denen Heilige
sitzen und stehen. Zu den Seiten der Fa?aden seltsame Thürmchen, die
dem grösseren Theile nach aus mächtigen Säulenbündeln gebildet scheinen;
oberwärts auch an ihnen wiederum byzantinische Bogenstellungen. Die
Seitenwand der Kirche eigenthümlich angeordnet, so dass sie nämlich in
einzelne Felder getheilt wird, welche durch Pfeilerbündel von einander
getrennt und durch grosse Halbkreisbögen überwölbt sind. Ueber dem
Queerschiff ein Thurm von ähnlicher Structur wie das Ganze Ein beson-
deres Blatt giebt einige Theile dieser, mit dem fabelhaftesten Ornament
bunt überladenen Architektur in grösserem Maassstabe.

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506 Bericlite und Kritiken,

Faqade de Buffec. Foitou. In ähnlichem Style, aber ungleich
gemässigter, mehr den italienischen Kirchen des zwölften und dreizehnten
Jahrhunderts verwandt. Auch ziehen sich hier an den Ecken der Fa^ade
und zu den Seiten des Hauptportales Halbsäulen bis zu dem Giebel, wel-
cher das Ganze bedeckt, empor. — Ausserdem Details verschiedener andrer
byzantinischer Kirchen in Frankreich, unter denen vornehmlich die anti-
kisirenden Säulenkapitäle von St. Germain zu Paris interressant sind;
ebenso die Details des Kapitelsaales von St. Georges zu B och er vi 11 e, in
denen sich ein Beispiel des byzantinischen Styles , in der schönen gesetz-
mässigen Entfaltung seiner späteren Zeit, bemerklich macht.

Notre-Dame de VE^oiiie pres Clidlons sur Marne.. Ein be-
deutendes Gebäude, an welchem der gothische Baustyl in einer ernsten,
schlichten Weise zur Anwendung kommt. Eigenthümlich macht es sich,
dass nichts von den Dächern sichtbar wird und auch von den kleinen
Spitzthtlrmchen nur Weniges über die horizontalen Kranzgesimse emporragt,
so dass das Ganze hiedurch einen sonderbar massenhaften Charakter er-
hält. — Noch werden uns verschiedene , meist bedeutend reiche, aber in
diesem Reichthum auch zum Theil bereits ziemlich verworrene, gothische
Architekturen vorgeführt, wie die Kathedrale zu Senlis (Seitengiebel),
St. Pierre zu Senlis, die Kathedrale zu Li moges, die zu L aon, u. a. m.
Unter den nicht-französischen machen wir eine Ansicht des Domes von
Bern bemerklich. Von andren Kirchen, wie von der zu Vi II e-Franche
(im Rhone-Departement), S t. G erV ais zu Paris u. s. w. sind nur einzelne
charakteristische Details mitgetheilt.

Sodann fehlt es auch nicht an den Beispielen städtischer Pracht-Archi-
tektur. Das mächtige und wohlerhaltene Stadtthor von Vendöme mit der
Brücke davor giebt ein malerisches Bild; mehr noch eine Ansicht inCaen,
wo sich auf der einen Seite des Vorgrundes die barock-romantische Kirche
St. Pierre erhebt und in der Ferne die Abtei de la Trinit6 die übrigen
Baulichkeiten überragt. — Das Portal im alten Paläst der Herzöge von
Lothringen zu Nancy zeigt den sogenannten Burgundischen Baustyl in
einer verwunderlich ungefügen Pracht. Der Treppenthurm im Schlosse von
Blois, einer späteren Periode dieses Styles angehörig, erscheint dagegen
als ein solides, mehr durchgebildetes Ganze. Aeusserst zierlich aber, in
dem letzten Uebergange des Styles zu dem der
Renaissance, nimmt sich
ein Schlösschen bei Chateaugontier aus, welches, von aller Ueberladung
frei, mit feinem Geschmacke aufgeführt ist. — In reinerem spätgothischem
Style erscheinen das Stadthaus zu Arras und die kleine Kapelle des heil-
Blutes zu Brügge.

Eine Reihe von Blättern ist der Darstellung voii Möbeln gewidmet,
unter denen sich aber nur sehr wenig Mittelalterliche^ findet; das Meiste
von diesen gehört der späteren Zeit der modernen Kunst, da die Perrücken
aufkamen, und somit einer neu hervorgesuchten Liebhaberei an, der wir
nicht allzuviel Geschmack abzugewinnen wissen.

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V(n-gleicliende Sämmluug für christliche Baukunst.

507

Vergleicheude Sammlung für christliche Baukunst. Erster
Theil , aciit Hefte Verzierungen; zweiter Theil, acht Hefte Grundrisse.
V^on B. Grub er, Architekt. Zanna et Comp, in Augsburg. Fol.

(Musseum 1837, Nr. 27.)

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Von diesem unlängst angekündigten Werke liegt uns so eben das erste
Heft der ersten Abtheilung vor. Es enthält, auf seinen 6 Blättern, Orna-
mente des byzantinischen Baustyles, Fries-Verzierungen, Kapitale und Me-
daillons. Drei von den Blättern sind, auf eine tüchtige Weise, in litho-
graphischer Kreide ausgeführt (wobei jedoch zu bemerken ist, dass hier die
vollere Plastik der Stein-Arbeit nicht überall genügend beobachtet scheint)";
die übrigen drei Blätter enthalten Umriss-Zeichnungen. Die Auswahl der
dargestellten Gegenstände ist vorzüglich anerkennungswerth, indem der
Herausgeber, der ohne Zweifel die Benutzung derselben von Seiten der heu-
tigen Kunst berücksichtigte, vornehmlich darauf ausgegangen ist,' nicht so-
wohl jene manierirten Ornament-Formen, die bekanntlich im Byzantinischen
vorherrschen, als vielmehr diejenigen, welche sich den Prinzipien des
griechischen Formensinnes anschliessen, mitzutheilen. Einige dieser Orna-
mente, wie namentlich die Kapitale aufBl. 2 und 3, sind in der That von
grosser und eigenthümlicher Schönheit. Da die Darstellung überall in der-
jenigen Grösse gehalten ist, welche eine künstlerische Benutzung der vor-
gelegten Motive leicht möglich macht, so darf das Werk ohne Zweifel
einem namhaften Beifall von Seiten des architektonischen Publikums ent-
gegen sehen. Wir hoffen , dass die zu erwartende Fortsetzung desselben
eine erfreuliche und brauchbare Anschauung von dem Systeme der mittel-
alterlichen Kunst geben werde.

Denkmale derBaukunst des Mi tt el al t er s in der Königl. Pr eu ss.
Provinz Sachsen. Bearbeitet und herausgegeben von Dr. L. Pu ttrich,
unter besonderer Mitwirkung von G. W. Geyser dem jüngeren, Maler.
Dritte und vierte Lieferung: Die Kirchen zu Klo ster Memleben,
Schraplau und Treben. Leipzig, 1837.

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(Museum 1837, Nr. 28 )

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Der rüstige Fortschritt eines Werkes, welches die Bestimmung hat, die
Monumente eines noch wenig untersuchten Theiles des deutschen Vater-
landes bekannt zumachen, und durch dessen bisher erschienene Lieferungen
schon mannigfach Merkwürdiges zu Tage gefördert ist, wird die lebhafte
Theilnahme der Freunde des vaterländischen Alterthums in Anspruch neh-

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508 iBerichte und Kritiken.

men. Auch die vorliegenden Lieferungen der dem preussischen Sachsen
gewidmeten Abtheilung des Werkes zeichnen sich, in Text und Abbildungen,
durch die interessantesten Mittheilungen aus; namentlich diejenigen, welche
sich auf die Klosterkirche von Memleben beziehen, sind von besonderer
Wichtigkeit für die Untersuchungen über die Kulturgeschichte des früheren
Mittelalters unserer Heimat. Denn bekanntlich bildet das bei dieser Kirche
angewandte architektonische Princip einen nicht unerheblichen Streitpunkt
für die Betrachtung der mittelalterlichen Kunst nach ihren historischen
Beziehungen; mit gewissen entschiedenen Motiven des gothischen Baustyles
versehen, wird sie von einigen Forschern der frühen Periode des zehnten
Jahrhunderts zugeschrieben, dieser Periode somit eine Richtung des Formen-
sinnes, des architektonischen Gefühles vindicirt, die der Anschauung des
gesammten Charakters jener Zeit und ihrer weiteren Entwickelung ein
eigenthümliches Gepräge geben muss, — wie diese Ansicht denn in der
That bereits als die Grundlage mannigfach fortgesponnener Hypothesen
benutzt worden ist. Auch wird die Lösung dieses wichtigen Streitpunktes
um so schwieriger, als die Kirche gegenwärtig eine verfallene Ruine ist
und ihre ehemalige BeschalTenheit, der ihrer Gestaltung zu Grunde liegende
Organismus nur noch aus einzelnen Bruchstücken beurtheilt werden kann.
Mit um so grösserem Danke also haben
Avir die sorgfältigen historischen
Mittheilungen, welche sich überall auf sichere Quellen und deren neuste
kritische Bearbeitung stützen, die genauen, auch in den wichtigeren Details
durchgeführten Abbildungen und die mit künstlerischem Verständniss ge-
arbeitete Beschreibung, die uns der Herausgeber in den genannten Heften
vorlegt, aufzunehmen; wir erhalten hiedurch wenigstens die Mittel, um,
über das Feld oberflächlicher Muthmaassungen hinaus, zu einem sichern Ur-
theil in Bezug auf die angeführten Punkte zu gelangen.

Die Abbildungen über die Kirche von Memleben betreffen die folgen-
den Gegenstände: No. 1. (Titelvignette), eine radirte Ansicht der Kirche in
ihrem ursprünglichen Zustande, nach eiuer älteren kleinen Abbildung und
nach dem, dem Ganzen zu Grunde liegenden System restaurirt. — Vignette
vor dem Text: das Haupt-Portal der Kirche. — No. 2. Ansicht der Süd-
seite, — und No. 3. Aeussere Ansicht des Chores der Kirche, beide in ihrem
gegenwärtigen Zustande, in lithographischer Kreide ausgeführt. — No. 4.
Längen- und Querdurchschnitte, Aufriss der Westseite, und Säulenkapitäle
der Crypta, soviel von dem Allen noch erhalten ist; ein radirtes Blatt. —
No. 5. Grundrisse der Kirche und der Crypta, nebst verschiedenen Details.
— No. 6 Perspektivische Ansicht der Crypta, ein trefflich lithographirtes
Blatt (von Courtin in Paris). — No. 7. Die alten Wandgemälde an den
Pfeilern der Kirche, ebenfalls lithographirt. |

Die Kirche scheint in einem consequenten Gemisch des spitzbogigen
und rundbogigen Systemes der mittelalterlichen Baukunst, also in demjenigen
Style, welchen man insgemein als den Uebergang aus dem byzantinischen
in den gothischen zu bezeichnen pflegt, erbaut worden zu sein. Der Grund-
plan ist von dem der gewöhnlichen byzantinischen Kirchen, bis auf eine
Ausnahme, nicht wesentlich unterschieden; aber diese Ausnahme, — dass
nemlich die Altartribunen am Chor imd an den Flügeln des Kreuzes nicht
im Halbzirkel, soudern in einem halben Achteck gebildet sind, ist von
grösster Wichtigkeit, iudem sie (soweit wenigstens die Kunde des Referenten
reicht) nie bei Gebäuden, in denen nicht schon ein gewisses Verhältniss
zu den Eigenthümlichkeiten des gothischen Styles sichtbar wird, vorkommt.

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Denkmale der Baukunst des Mittelalters in Sachsen. 509

Die Pfeil erstell ungen im Schiff, das Hauptportal'), die äusseren Bögen der
Fenster, welche zur Crypta führen, sind im Spitzbogen, und zwar in jener
schweren, massigen Form, 'welche dessen erstes Auftreten bezeichnet, ge-
bildet; die durchgehende glockenförmige Bildung der Kapitale zeigt sich
ebenfalls in der Uebergangs-Periode vorherrschend. Im Uebrigen findet
man die Elemente des byzantinischen Styles, namentlich was die Rundbögen
an dem kleinen Seiten-Portal und an dem oberen Theile des Ghorschlusses

{-■ hier sind auch die Fenster rundbogig tiberwölbt, ebenso wie, einer älteren & e

Abbildung zufolge, alle übrigen Fenster der Kirche gebildet waren—) und ^r .

was das gesammte Innere der Crypta unter dem hohen Chore anbetrifft.

Wo aber diese byzantinischen Elemente eine reichere Formation zulassen: j

an dem zierlich gebildeten rundbogigen Friese der Chornische, an den k i'

schlanken Säulen der Crypta mit ihren leichten Blätterkapitälen und der ,

Blattverzierung auf dem unteren Wulste des Fusses, da erkennt man die

bestimmteste Analogie mit denjenigen Gebäiiden, welche der letzten Ent- '

wickelungs-Periode des byzantinischen Styles (somit ebenfalls der Zeit jenes 1

Ueberganges) angehören; und insbesondere wird diese spätere Periode auch ■

durch das Gewölbe der Crypta charakerisirt, indem hier nemlich sämmt-

liche Säulen unter sich und mit den Wandconsolen durch breite Gurtbän-

dcr verbunden und zwischen diesen erst die Kreuz-Gewölbe eingesetzt sind, ^

während sich die älteren byzantinischen Crypten stets ohne Gurtungen der

Art überwölbt zeigen. Aus verschiedenen Anzeichen lässt sich endlich mit

Bestimmtheit annehmen, dass die Kirche selbst nicht durch ein Gewölbe,

sondern durch ein flaches Täfelwerk bedeckt war. .j

Durch die, vom Herausgeber mitgetheilten Notizen erfahren wir sodann .

über die ältere Geschichte des Klosters, dass Hemleben bereits zu der Zeit

König Heinrich's I. (der bekanntlich daselbst starb) ein namhafter Ort, ein g

„Castell", mit einer Kirche und Priesterschaft war; dass die Abtei um das ■

Jahr 975 gestiftet wurde und sich unter Otto II. und Otto III. bedeutender

Schenkungen zu erfreuen hatte; dass dieselbe aber unter Heinrich II-., im ^

Jahre 1015, einer andern Abtei, der zu Hersfeld, untergeben wurde, — an-
geblich Avegen der Armuth des Klosters, ein Grund, der indess nach dem
abweichenden Berichte eines andern Zeitgenossen (nicht minder auch bei
Berücksichtigung der bis auf das Jahr 1002 fortgeführten Begünstigungen)
verdächtig wird. Dann schweigen die Berichte Über das Kloster fast zwei-
hundert Jahre lang. Erst im Jahre 1202 wird des Kloste'rs wieder, bei
Gelegenheit eines Güter-Verkaufes, gedacht. Später, vom Jahre 1250 ab,
finden neue Verkäufe statt, und es wird dabei mehrfach ausdrücklich er-
wähnt, dass dies wegen grosser Verschuldung des Klosters
geschehen sei.

Weil nun das Kloster unter den sächsischen Kaisern in so bedeutender
Blüthe stand, so fanden sich die Kunstforscher seither bewogen, das vor-
handene, nicht unansehnliche Kirchen-Gebäude als einen Rest eben derselben
Periode, somit dessen architektonische Eigenthümlichkeiten als charakter-
istisch für die letztere zu betrachten, — eine Schlussfolgerung, die bei einem

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1) Charakteristisch für die Eigenthümlichkeiten des gothischen Styles ist die
Gliederung des spitzen Bogens über diesem Portale, indem darin mehrfach, um
die schwere Form der Ecken zu brechen, das Profil der Kehle angewandt ist.
Leider hat der Herausgeber das Profil dieser Bogengliederung nicht mitgetheilt, f ]

und in jener Vignette, welche eine Ansicht derselben giebt^ findet man statt d«r
Kehlen überall rechtwinklige Vertiefungen.

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Berichte und Kritiken.

Vergleiche dieses Gebäudes mit anderen wenigstens zweifelhaft erscheinen
muss. Referent ist, soviel ihm bekannt, der erste, Avelcher diese Meinung
angefochten und das Gebäude, wie oben angedeutet, der Uebergangsperiode
aus dem byzantinischen in den gothischen Styl (also der Zeit etwa um das
Jahr 1200) zugeschrieben hat'). Der Herausgeber spricht vor der Hand
keine bestimmte Meinung über diesen Punkt aus, indem er sich eine nähere
Entscheidung für die allgemeinen artistischen Bemerkungen am Schlüsse
seines Werkes vorbehält; aus der Art und Weise jedoch, wie er die Gründe
für die eine und für die andre Ansicht zusammenstellt, scheint es hervor-
zugehen, dass er sich schon gegenwärtig jener älteren Ansicht zuneige. Da
er indess auch die eben angeführten Notizen des Referenten über die Kirche
von Memleben unter den von ihm berücksichtigten Schriften nennt, so darf
es diesem wohl gestattet sein, die Gründe, welche der Herausgeber zur
nochmaligen Unterstützung jener älteren Meinung aufstellt, in eine nähere
Erwägung zu ziehen.

Der Herausgeber spricht von dem Reichthum der Abtei zu Ende des
zehnten und von dem Zustande des Verfalls und der Verarmung zu An-
fange des dreizehnten Jahrhunderts; letzterer lasse es nicht glaublich er-
scheinen, dass man damals einen so bedeutenden Bau werde unternommen
haben. Wir hören aber erst im Jahre 1250 von einer Verschuldung des
Klosters (der einzelne Güterverkauf im Jahre 1202 ist an sich noch kein
ausgesprochener Beweis dafür), und die vom Herausgeber aufgestellte Ver-
muthung, dass die im Jahre 1015 angeführte Verarmung (auch wenn diese
als gänzlich unzweifelhaft angenommen wird) bis in die traurige Zeit des
dreizehnten Jahrhunderts fortgedauert habe, kann, in Ermangelung all und
jeder besonderen Nachricht für diese Zwischenzeit, nur als eine willkür-r
liehe Annahme gelten. Alles dies macht somit die Möglichkeit, dass die
Kirche um die Zeit des Jahres 1200 erbaut worden sei, keinesweges un-
wahrscheinlich; im Gegentheil dürfte man die Ausgaben, die ein solcher
Bau veranlasst, wohl mit als einen Grund der später ausgesprochenen Ver-
schuldung betrachten können.

Der Herausgeber spricht ferner, im Gegensatz gegen die, auch ihm be-
fremdlich erscheinenden Motive des gothischen Baustyles, von den Eigen-
thümlichkeiten der Crypta, die ihm als der Rest einer „frühen Vorzeit"
erscheint; er würde geneigt sein, sie für älter zu halten, als das übrige
Gebäude, wenn nicht wiederum verschiedene Details die entschiedenste
Verwandtschaft mit jenem erkennen Hessen. Letzteres ist ohne Zweifel
richtig. Aber wir haben schon oben bemerkt, dass die Crypta keineswegs
das Gepräge einer besonders alterthümlichen, sondern vielmehr der spätesten
Entwickelung des byzantinischen Styles, eben jener I^eriode, die dem go-
thischen Baustyle zunächst vorangeht, trägt. Sie ist (njcht minder wie das
ganze übrige Gebäude) aufs Bestimmteste abweichend von denjenigen Bau-
werken, deren Erbauungszeit mit Sicherheit der Periode des Jahres 1000
angehört, wie z. B. von den alten Theilen der Stiftskirche zu Quedlinburg
und deren Crypta; — und doch müsste man gerade voraussetzen, dass sie
mit der Quedlinburger Kirche, die sich ebenso, wie die von Memleben der
besonderen Begünstigungen der sächsischen Kaiser erfreute, in Bezug auf
den Geist und Charakter der architektonischen Formen die nächste Ver-
wandtschaft zeigen würde.

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') Vergl. oben, S. 174, f.

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Denkmale der Baukunst des Mittelalters in Sachsen. 511

Endlich führt es der Herausgeber noch, als einen besonders beachtens-
werthen Umstand an, dass die unfern der Kirche gelegenen ßuiaen, „welche
Reste des ehemaligen Castells oder Königshofes sein nüJgen," in der
Ausführung ihres Mauerwerkes (platte Bruchsteine eines silbergrauen
Thonschiefers) ganz dieselbe Arbeit zeigen, wie der grösste Theil der

Kirchenmauern, dass die Kirche somit auch aus diesem Grupde jenem (im l

zehnten Jahrhundert bereits als vorhanden angeführten) Castell gleichzeitig ; |

zu sein scheine. Da aber die Identität dieser Ruinen mit dem Castell ■ i

gegenwärtig noch alles Beweises entbehrt, so ist auch diese übereinstimmende '

Technik ohne Gewicht; und selbst wenn es sich so verhielte, würde eine
solche üebereinstimmung an sich noch keinen entscheidenden Ausschlag
geben können. -

Wir finden also auf keiner Seite einen haltbaren Gruud, der uns mit /j

Bestimmtheit nöthigte, die Kirche von Hemleben in jene frühe Periode des
zehnten Jahrhunderts zurück zu datiren, — keinen Grund, der es an sich
unwahrscheinlich machte, dass die Kirche etwa im Anfange des dreizehnten
Jahrhunderts erbaut worden sei. Wenn wir aber an den sichern Werken
des zehnten Jahrhunderts (und bis in das elfte hinein) — ganz in Analogie
mit den Entwickelungsmomenten der bildenden Kunst — nur mannigfache
Reminiscenzen classischer Kunst, verbunden mit neuerfundenen, tlieils in
kindlicher »Rohheit, theils in barbarischer Phantasterei ausgeführten Formen
kennen gelernt haben; und wenn wir zu Anfange des dreizehnten Jahr-
hunderts die letzten Motive des byzantinischen und die ersten des gothischen
Baustyles einander begegnen sehen, so kann es in der That nicht länger
zweifelhaft sein, welcher Zeit wir das besprochene Gebäude zuzuschreiben
haben. Es leuchtet von selber ein, dass man, in Bezug auf die muthmaass-
lichen Werke früherer, dunklerer Jahrhunderte, ohne die strengste Kritik
keine Bestimmungen treffen darf, und dass man bei willkürlichen Annah-
men Gefahr läuft, das ganze Bild der Kultur-Geschichte zu verwirren.
Denn das gerade ist das Wichtige hei diesen chronologischen Unter- i i

suchungen. Nicht auf die einzelne verfallene Ruine kommt es uns an, ' t

sondern darauf, dass sie in ihrer besondern Form, in dem inneren Organis-
mus, der ihrem Baustyle zu Grunde liegt, in der Gefühlsweise, die sich
darin ausspricht, einen weiten Blick über den Sinn und Geist einer ganzen ;

geschichtlichen Periode — und zwar einer Periode, die mit früheren und I 1

späteren nothwendig in fortschreitendem Zusammenhange stehen muss, j

eröffnet. . , ; '

Möge der geschätzte Herausgeber diese Bemerkungen nicht übel deuten!
Referent bekennt es sehr gern, dass er eben in dem vorliegenden Werke ' ■

selbst, in den historischen Notizen, wie in den Abbildungen und deren
Beschreibung, nur die bestimmteren Gründe zur Feststellung seiner Ansicht
gefunden hat; es ist dieser Umstand somit nur ein günstiges Zeugniss für
die vorurtheilslose Behandlung, welche dem vorhandenen Stoffe zu Theil
geworden ist, — eine Behandlung, wie sie überall bei ähnlichen Werken,
z\ir Begründung wissenschaftlicher Studien, wünschenswert!! erscheint.

Wir haben endlich, in Bezug auf die Kirche von Memleben, noch über
die an den Pfeilern enthaltenen Wandgemälde zu sprechen , deren Nach-
bildung uns auf Blatt 7 vorgeführt wird. Sie stellen zumeist fürstliche^
Personen vor, vier männliche und vier weibliche, und der Herausgeber
erklärt sie, eine ältere Tradition modificirend, als die Glieder der sächsischen
Kaiserfamilie uud den ersten Abt des Klosters. Gegenwärtig sind diese

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Berichte und Kritiken.

Figuren fast ganz erloschen; erst wenn man die Steine mit "Wasser anfeuchtet,
treten die Linien hier und dort erkennbar hervor, aber auch so sind mehrere
Gestalten auf keine Weise mehr in ihren Umrissen deutlich zu verfolgen.
Der Herausgeber indess war im Stande, eine vor längerer Zeit gefertigte
Zeichnung zu benutzen, welche uns namentlich die ganz oder zum Theil
verschwundenen Figuren noch auf gewisse Weise erkennen lässt, wie z.B.
die Gestalt des Abtes (No. 8.) und-jene fürstliche Gestalt, unter deren
Füssen eine andre sichtbar wird (No. 5.). Vielleicht aber hat sich der Zeich-
ner des vorliegenden Blattes zu sehr und ohne mit genügender Sorgfalt die
noch vorhandenen Spuren der Gemälde zu verfolgen, an jener älteren Ab-
bildung gehalten; wenigstens möchten wir einen gewissen Mangel iu Bezug
auf die Wiedergabe des eigenthümlichen Styles dieser Gemälde lieber einer
solchen (da man bekanntlich in früherer Zeit nicht sonderlich auf den Cha-
rakter alterthümlicher Darstellungen einzugehen pflegte) zuschreiben. Es
fehlt diesen Abbildungen an einer gewissen volleren, grossartigeren Ent-
wickelung der Gestalten , an der stylistischen Bestimmtheit in der Linien-
führung, an der feineren Beobachtung einiger zarteren künstlerischen Mo-
tive, wäe sich dies Alles auch in den geringen erhaltenen Resten immer
noch mit Bestimmtheit erkennen lässt; auch die Gesichtstheile sind durch-
weg zu schwer, zu wenig in dem besonderen Charakter der Originale auf-
gefasst. Referent ist zufällig verpflichtet gewesen, sich mit den Resten
dieser Malereien sorgfältigst bekannt zu machen; auch glaubt er durch
langjährige ausschliessliche Beschäftigung mit Arbeiten des früheren mittel-
alterlichen Styles sein Auge genügend geschärft, um ein Urtheil, wie das
vorstehende, mit Sicherheit aussprechen zu können. — Bekanntlich galten
diese Malereien, ebenso wie das Gebäude der Kirche, früher für Werke
des zehnten Jahrhunderts; Referent indess hat bereits (Museum 1834, a. a. 0.)
die Gründe dargelegt, die ihn veranlassen, auch diese etwa in den Anfang
des dreizehnten Jahrhunderts zu setzen, und von denen abzugehen er noch
keine Veranlassung findet'). Der Herausgeber spricht keine Ansicht über
das muthmaassliche Alter der Malereien aus und bemerkt nur, dass sie
einer „andern Periode" als die von ihm bekannt gemachten Wechsel burger
Sculpturen angehören dürften.

Das 8te Blatt der vorliegenden Lieferungen stellt das Portal der Kirche
zu Schraplau, in einer lithographirten Ansicht, dar. Es ist in einem
schweren byzantinischen Style ausgeführt und gehört, wie der Herausgeber
gewiss richtig bemerkt, etwa der Mitte des zwölften Jahrhunderts an. Sehr
eigenthümlich — und für das heutige Wiederaufnehmen byzantinischer
Motive besonders interessant — ist der rechtwinklige Einschluss, mit dem
das im Halbkreisbogen überwölbte Portal versehen i^t. Die Begränzung
dieses Einschlusses besteht aus zwei schlanken Säulchon, deren Höhe den
in der Gliederung des Portales befindlichen Säulen entspricht, und aus
einem Wulst von der Stärke der Säulchen, welcher die über letzteren
befindlichen vertikalen und die obere horizontale Linie des Einschlusses
unigiebt.

Das 9te Blatt endlich giebt eine äussere Ansicht und einige Details der
kleinen Treben-Kirche bei Weissenfeis, welche, der vom Herausgeber
mitgetheilten Sage zufolge, zum Andenken an die grosse Hunnenschlacht
unter Heinrich 1. (im Jahr 933) errichtet sein soll. Die Chornische und

') Vergl. oben, S. 175, f.

512

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üeber das neuerworbene Gemälde von Charles le Brun etc. 513

der Thurm zeigen noch den Charakter eines roh-byzantinischen Styles;
das Andre ist später. Der Verfasser stellt die VermXithung auf, 'dass die
älteren Theile der Kirche wirklich dem zehnten Jahrhundert, oder wenig-
stens einer nahverwandten Zeit, angehören dürften; er stützt dieselbe vor-
nehmlich auf den Charakter einiger Details, die sich im Innern der Chor-
nische befinden. Das eine ist die würfelförmige Verzierung des Kämpfer-
gesimses der Pfeiler, welche die Chornische einfassen, eine Form, die sich
bei verschiedenen Bauwerken des elften Jahrhunderts (aber auch noch
später) zeigt. Das zweite ist ein roh gearbeitetes Tabernakel, Der Heraus-
geber bemerkt, dass letzteres in seiner ganzen Form und Verzierung den
„frühesten" byzantinischen Styl zeige; — seine rohe Einfassung jedoch
und der kleine Giebel über derselben mit den Rosetten und einer Art
rundbogigen Frieses giebt hiefür keinen hinreichenden Beleg; noch weniger
die (unverständliche) Inschrift des Tabernakels, welche der gothischen Mi-
nuskel ähnlich ist; denn die Bemerkung des Herausgebers, dass die gothische
Minuskel bei'Inschriften nach der angenommenen Meinung zwar erst im
13ten Jahrhundert vorkomme, dass er aber geneigt sei, zu glauben, die hier
vorhandene Inschrift gehöre dem lOten oder Ilten Jahrhundert an, wo die
gothische Minuskel in Handschriften bereits erscheine, kann doch nicht füg-
lich als ein Grund gelten. "Wir müssen also die Annahme über das frühe
Alter dieser Bautheile dahingestellt sein lassen, und um so mehr, als auch
alle diejenigen historischen Details jener Hunnenschlacht, welche der
Herausgeber anführt und mit denen er die Gründung der Kirche in Ver-
bindung bringt, durchaus einer späten, willkürlich ausgesponnenen Sage
angehören. (Vergl. hierüber Dr. G. Waitz: Jahrbücher des deutschen
Reichs unter der Herrschaft König Heinrichs I., Berlin 1837, S. 192 ff.)

lieber das neuerworbene Gemälde von Charles leBrun, in
der Gemäldeg allerie des Königl. Museums zu Berlin.'

(Museum, 1837, No. 31.)

Berlin. Die Gemälde-Gallerie des Königl.Museums ist kürzlich wie-
derum mit einem, an Umfang wie an künstlerischer Bedeutung zwiefach
beachtenswerthen Meisterwerke bereichert worden. Es ist dies das be-
rühmte Jabach'sche Familienbild von Charles le Brun, welches sich
seither im Besitz der Familie von Groote zu Köln befand und daselbst in
dem Kempis'schen Familienhause aufgestellt war. Das Gemälde, seit seiner
Entstehung in den Büchern der Kunstgeschichte als eins der namhaftesten
Erzeugnisse der älteren französischen Schule verzeichnet, eignet sich in der
That, dieselbe von ihrer vortheilhafteren Seite kennen zu lernen. Manche
tüchtige Werke dieser Schule, unter denen zunächst nur die von N. Poussin
und E. le Sueur genannt werden mögen, befinden sich zwar bereits in der
Gallerie des Museums; und wenn in letztere, bei ihrer Gründung, aus den
Kugler, Kleine Schrifien. t. 33

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514 iBerichte und Kritiken.

zahlreichen Schätzen französischer Malerei, die die königlichen Schlösser
besitzen, ausser jenen und einigen weniger bedeutsamen Arbeiten, nicht
mehrere aufgenommen wurden, so lag dies gewiss vornehmlich darin, dass
die unerfreuliche theatralische und innerlich hohle Manier, welche bei der
Mehrzahl der älteren französischen Bilder vorherrscht, genügend durch
einige wenige Beispiele repräsentirt wird. Diese Manier tritt — kaum mit
Ausnahme jener beiden Meister — fast überall hervor, wo mythische, heilige
oder allegorische Gegenstände darzustellen waren; wo aber die Künstler
sich unmittelbar an das Vorbild der Natur anzuschliessen hatten, da musste
ihr Talent natürlich zu einer ungleich reineren Entwickelung Gelegenheit
finden. So sind die Portraitbilder der französischen Künstler jener Zeit,
— wie überall in den Epochen, in welchen anderweitige höhere Aufgaben
durch eine verdorbene Richtung der künstlerischen Phantasie in verfehlter
Weise gelöst werden, — im Allgemeinen bei Weitem das Ansprechendste
ihrer Leistungen; so zeichnen sich auch, unter den bisher im Museum vor-
handenen Bildern, neben den genannten, zwei treffliche Portraits von P.
Mignard und H. Rigaud eigenthümlich aus; und so schliesst sich ihnen, als
Beispiel des Vorzüglichsten, was diese Schule geliefert, das in Rede stehende
Gemälde le Bruns an.

Es ist ein Bild von bedeutenden Dimensionen, mit einer Gruppe von
sechs , vollständig lebensgrossen Figuren und mannigfachem Beiwerk aus-
gefüllt. Vater und Mutter, von vier kräftigen, wohlhäbigen Kindern um-
geben, stellen sich dem Blicke des Beschauers dar; der Schmuck des Zimmers,
in welchem sie sich befinden, deutet auf mannigfachen Genuss und Freude
an den Werken der Kunst, wie denn in der That das stattliche Haupt
dieser Familie, Evrard Jabach, ein reicher kölnischer Banquier und zn
Paris ansässig, seiner Zeit als einer der eifrigsten Sammler und Kunstfreunde
bekannt war. Er sitzt auf der einen Seite des Bildes, im schwarzen faltigen
Schlafrock, das edle, etwas derbe Gesicht seitwärts zu den Seinigen ge-
wandt, und auf das Geräth, welches die Ecke des Bildes füllt, hinweisend.
Hier sieht man eine bronzene Colossalbüste der Minerva, eine andere Büste
auf dem Boden liegend, Bücher, Zeichengeräth, einen grossen Globus u. s, w.
Darüber hängt ein Bildniss, Avelches das Portrait eines Malers, ohne Zweifel
le Bruns selbst, darstellt; es scheint, indem der Künstler hiedurch in an-
sprechender Weise in den Familienkreis hereingezogen ist, auf ein ver-
trautes Verhältniss zu letzterem hinzudeuten und erklärt somit zugleich die
Liebe und Sorgfalt, mit welcher das ganze Werk durchgeführt ist. Ueber
die Lehne des Stuhles, auf welchem der Vater sitzt, neigt sich ein roth-
bäckiger Knabe, der, ein Hündchen im Arme, mit jenem spricht und auf
die Mutter hinweist. Diese, ein feines, zartgefärbtes Gesicht, sitzt zur Seite
des Vaters und neben ihr, auf einem Kissen, ein andrer Knabe, etwa ein-
jährig und nackt. Ein hübsches kräftiges Mädchen steht zwischen den
Knieen der Mutter; ein andres, etwas älteres, zur äussersten Rechten; diese
prangt in einem bunten blumigen Seidenkleide und stellt, mit ihren etwas
blassen Zügen, bereits die angehende junge Dame vor. Vorn ist ein Tritt
mit einer gewirkten Decke, auf welcher ein Windhund sitzt. An der hin-
teren Wand des Zimmers bemerkt man verschiedene Gemälde und Kunst-
sachen. — Wenn Avir den grossen Werth des Bildes anerkennen , so soll
damit auf der andern Seite jedoch nicht behauptet werden, dass es nicht
das Gepräge seiner Zeit trage, dass die Anordnung der Gruppe nicht auch
ein wenig theatralisch berechnet sei, und dass nicht im Colorit das Stoffliche

I";

E'i

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Ueber das neuerworbene Gemälde vcn Charles le Brun etc. 615

der Farbe (statt des Stofflichen des dargestellten Gegenstandes) sichtbar
werde. Doch tritt, diesen Mängeln zum Trotz, die grosse Meisterschaft
des Künstlers siegreich hervor, und das "Werk, besonders in einiger Ent-
fernung betrachtet, übt durch die volle lebendige Gegenwart jener Personen,
durch die Sicherheit und Heiterkeit der Existenz, welche der Maler ihnen
zu geben ge-yvusst hat, einen vorzugsweise erfreulichen Eindruck auf den
Beschauer aus.

Goethe hat dem Bilde in seiner Biographie (Dichtung und Wahrheit, —
gesammelte Werke, Bd. 26, S. 288) ein schönes Denkmal gesetzt, indem
ihm dasselbe einst, in den Zeiten seiner unruhigen, lebhaft bewegten Ent-
wickelung, durch die Kraft jener eben angedeuteten, klar ausgebildeten
Existenz, beruhigend und versöhnend gegenübergetreten ist. Freilich wurde
diese Eigenthümlichkeit des Bildes durch die vollkommen übereinstimmen-
den Umgebungen, in denen es sich befand, noch um ein Bedeutendes her-
vorgehoben. Goethe erzählt, wie er sich, von mannigfachen Neigungen
hin und wider getrieben, in Köln aufgehalten, wie aber dort der bunte
und für einen Laien scheinbar widerspruchvolle Reichthum der Vbrwelt
sein leicht empfängliches Gemüth nur mit noch grösserer Unruhe erfüllt
habe. „In diesen mehr drückenden als herzerhebenden Augenblicken (sagt
er) ahnete ich nicht, dass mich das zarteste und schönste Gefühl so ganz
nah erwartete. Man führte mich in Jabachs Wohnung, wo mir das, was
ich sonst nur innerlich zu bilden pflegte, wirklich und sinnlich entgegen-
trat. Diese Familie mochte längst ausgestorben sein, aber in dem Unter-
geschoss, das an einen Garten stiess, fanden wir nichts verändert. Ein
durch braunrothe Ziegelrauten regelmässig verziertes Estrich, hohe geschnitzte
Sessel mit ausgenähten Sitzen und Rücken, Tischblätter, künstlich eingelegt,
auf schweren Füssen, metallene Hängeleuchter, ein ungeheueres Kamin mit
dem angemessenen Feuergeräthe, alles mit jenen früheren Tagen überein-
stimmend und in dem ganzen Räume nichts neu, nichts heutig, als wir
selber. Was nun aber die hiedurch wundersam aufgeregten Empfindungen
überschwenglich vermehrte und vollendete, war ein grosses Familiengemälde
über dem Kamin. Der ehemalige reiche Inhaber dieser Wohnung sass mit
seiner Frau, von Kindern umgeben, abgebildet: alle gegenwärtig, frisch
und lebendig wie von gestern, ja von heute, und doch waren sie schon
alle vorübergegangen. Auch diese frischen rundbäckigen Kinder hatten
gealtert, und ohne diese kunstreiche Abbildung wäre kein Gedächtniss
von ihnen übrig geblieben. Wie ich, überwältigt von diesen Eindrücken,
mich verhielt und benahm, wüsste ich nicht zu sagen. Der tiefste Grund
meiner menschlichen Anlagen und dichterischen Fähigkeiten ward durch
die unendliche Herzensbewegung aufgedeckt, und alles Gute und Liebevolle,
was in meinem Gemüthe lag, mochte sich aufschliessen und hervorbrechen."
— Später (Bd. 43, S. 310) gedenkt Goethe des Bildes noch einmal in dank-
barer Vorliebe. Sein Wunsch, dass es als eine der ersten Zierden einer
öffentlichen Anstalt eingeordnet werden möge, ist auf eine schöne Weise
in Erfüllung gegangen.

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516 iBerichte und Kritiken.

Souvenirs de vieux Paris, exemples d'Architecture de temps et de
styles divers. Trente vues dess. d'apres nature par le Comte T. Turpin
de Crisse et litliograpMes. Avee des notices historiques et descriptives.

Paris 1S36. Fol.

(Museum 1837, No. 33.)

I .

Den Freunden der Vorzeit wird in diesem geschmackvoll ausgestatteten
lithographischen Werke eine willkommene Gabe dargeboten. Es enthält
malerische Ansichten derjenigen Architekturen von Paris, welche dem
Mittelalter und der Periode der
Renaissance angehören und die verheeren-
den Stürme der Revolution des achtzehnten Jahrhunderts tiberdauert haben,
indem der Herausgeber, wie es scheint, zugleich mit besonderer Absicht
darauf ausgegangen ist, das minder Bekannte, wie namentlich Privat-Archi-
tekturen, hervorzuheben und die durch frühere Werke schon öfter darge-
stellten Gebäude nur in einzelnen neuen Ansichten oder in der Abbildung
weniger beachteter Theile vorzuführen. Die Auffassung ist durchweg geist-
reich und überlegt, so dass der Beschauer auf gleiche Weise belehrt und
unterhalten wird; die Ausführung bezeugt, bei aller Leichtigkeit der Be-
handlung, die französische Meisterschaft im Bereiche von lithographischen
Darstellungen der Art.

Die Reihe der Blätter wird mit einer äusseren und inneren Ansicht
jenes merkwürdigen Ueberrestes der Römerherrschaft eröffnet, mit der Dar-
stellung des grossen Saales der Thermen, bei dessen Anblick man sich
aus dem Gewühle der Weltstadt in die imposanten Ruinen von Rom ver-
setzt glaubt. — Dann folgt die alte Kirche St. Germain des Prös, von
der uns zuerst der uralte, noch entschieden an römisches Werk erinnernde
Glockenthurm mit seiner byzantinischen Bekrönung, sodann das Innere des
Chores vorgeführt wird. In letzterem erinnern die Säulen und ihre roma-
nisirenden Kapitale auch noch an das frühere Mittelalter, im Uebrigen je-
doch treten die Motive des entwickelten byzantinischen Styles mit Bestimmt-
heit hervor; sehr eigenthümlich macht sich hier die kleine Gallerie über
den unteren Arkaden, welche nicht, wie gewöhnlich, eine Bogenstellung
bildet^ sondern aus romanisirenden Säulchen zwischen Pilastern, die ein
horizontales Gesims tragen, besteht. — Die frühere, doch bereits selb-
ständige Entwickelung des gothischen Styles repräsentirt die bekannte
Sainte Chapelle; ebenso, wie es scheint, die Fagade von St. Germain
l'Auxerrois. Auch eine Kapelle in der Strasse St. Pierre aux Boeufs,
sowie die Kirche St. Severin, die in einzelnen Ansichten vorgeführt
werden, gehören im Wesentlichen demselben Style an. — Notre-Dame
ist mannigfach durch ausführlichere Werke bekannt; hier sieht man nur,
auf einem Blatte, die Glockenthürme der Kirche, die malerisch über den
Garten des Hotel-Dieu emporragen, auf einem andern ein alterthümlich
gothisches Seiten-Portal. — Der Hof des Hotel Cluny giebt uns ein
Beispiel der zierlichen Ausbildung des gothischen Bauslyles für grossartige
Privat-Gebäude. Mehr imponirend, mit seinem grossen Thorwege und den
keck hervorspringenden Erkerthürmchen, erscheint das alte Hotel der

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Denkmale einer sehr ausgebildeten Holzbauknnst etc. 517

ErzbischöfevonSens. An Erkerthürmchen der mannigfaclisten Art,
an einfachen und schwereren, wie an bunten und zierlicheren, ist überhaupt
kein Mangel in dem vorliegenden Werke; einige Blätter geben ganze üeber-
sichten der minder bedeutenden unter ihnen, andre stellen die interessan-
teren in ausgeführten Ansichten dar. Vor allen anmuthig ist das Erker-
thürmchen eines Hauses in der Rue des Bourdonnois, das auf schlanken
Säulen ruht und ganz und gar mit reicher Dekoration, welche der letzten
Zeit des gothischen Styles oder schon dem Uebergange in die moderne
Kunst angehört, bedeckt ist. — Mannigfache Blätter endlich geben uns
Architekturen des sechzehnten Jahrhunderts, da die Kunst italienischer
Architekten in Frankreich Eingang fand, aber noch mehr oder minder mit
dem romantischen Sinne der früheren Zeit aufgefasst und wiedergegeben
wurde. Es sind, bis auf wenige Ausnahmen, Privat-Gebäude, in denen
wohl manch ein Motiv auch für die Kunst unsrer Tage von besonderem
Interesse sein dürfte. Vornehmlich anziehend sind unter ihnen zwei Ge-
bäude, das eine ein reichgeschmücktes Giebelhaus in der Strasse St. Denis,
das andre die Facade eines Hofes in der Strasse St. Paul. Letztere zer-
fällt in zwei Geschosse, von denen vornehmlich das untere reich und be-
deutend wirkt. Stark vorspringende, brillante römische Pilaster bezeichnen
hier die Mauerabtheilungen, zwischen denen sich, von einem üach ge-
schwungenen Bogen überspannt, die Fenster befinden; Jedes der Fenster
zerfällt wiederum in Arkaden von je drei Bögen, deren Pfeiler auf eigen-
thümliche "Weise mit Kandelabern geschmückt sind. Auch das Obergeschoss
ist mit einem zierlichen Pilasterwerk versehen. Finden wir hier auch nicht
in allen Theilen den wünschenswerthen architektonischen Organismus, so
ist doch eine Freiheit und Eleganz des künstlerischen Gefühles darin, die
alle Anerkennung verdient.

Das Werk ist mit einem sehr ausführlichen Texte (76 S. in Fol.) ver-
sehen, welcher, neben mancherlei extatischen Ergüssen und Klagen über
den Untergang des Mittelalters, auch sehr wichtige belehrende Beiträge
giebt. Die einzelnen Artikel sind, ausser von einigen Gelehrten wie Qua-
tremere de Quincy, Eaoul-Rochette u. a., zumeist von Personen des höchsten
und höheren Adels von Paris verfasst.

Denkmale einer sehr ausgebildeten Holzbaukunst aus den
frühesten Jahrhunderten in den innern Landscha f ten Nor-
wegens. Herausgegeben von J. C. C. Dahl, Landschaftsmaler und-'Pro-
fessor der K. S. Akademie der bild. Künste zu Dresden und Leipzig,
Mitglied der Königl. Akademieen zu Kopenhagen, Stockholm und Berlin etc.
— L Heft. Enthaltend die Kirche zu Borgund (Stift Bergen) in 6
(lithographirten) Blättern. Dresden, 1837. Fol.

(Museum 1837, No. 39.)

Unter diesem Titel beginnt ein Unternehmen, welches das lebhafteste
Interesse der Freunde des Alterthums germanischer Stämme zu erwecken
geeignet ist. Wir wissen aus den mannigfachsten urkundlichen Zeugnissen,

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518 Berichte und Kritiken.

dass in den ersten Zeiten christlicher Kunstübung in den germanischen
Ländern vornehmlich der Holzbau (ohne Zweifel die Technik der vorchrist-
lichen Architektur weiter befolgend) zur Anwendung gebracht wurde, und
dass sowohl bei Häusern, Burgen und Schlössern, als auch bei Kirchen und
andern gottesdienstlichen Gebäuden das Material des Steines im Ganzen
zunächst nur selten benutzt ward. Auch fehlt es nicht an Nachrichten über
die bei solchen Gebäuden angewandte Pracht, so dass wir dabei eine eigen-
thümliche Ausbildung dieses Architekturstyles voraussetzen müssen. Das
leicht zerstörbare Material aber hat (vielleicht mit Ausnahme vereinzelter
Details) wenigstens in Deutschland nichts Namhaftes der Art auf unsre Zeit
kommen lassen. Von den Resten dieser Kunst, welche sich in den Land-
kirchen wenig besuchter Gegenden Norwegens erhalten haben, war bisher
keine nähere Kunde zu uns gedrungen; das vorliegende "Werk ist das erste
welches uns anschaulich mit ihnen bekannt macht. Und wenn dasselbe
natürlich zunächst das bedeutendste Interesse für denjenigen Boden hat,
welchem die dargestellten Monumente angehören, wenn es z. B. geeignet
sein wird, uns einen Begriff von dem Aussehen der alten hölzernen Resi-
denzen skandinavischer Könige oder Jarls in den frühesten Jahrhunderten
zu machen, so kann es gleich^^ohl auch eine Andeutung dessen geben, was
in dieser Art bei verwandten Volksstämmen geschaffen worden ist, — so
namentlich in unserm eigenen Vaterlande, wenn wir auch dabei voraus-
setzen müssen, dass eine aus allerlei lokalen und historischen Verhältnissen
hervorgegangene, abweichende Formalion des Einzelnen werde Statt gefun-
den haben.

Wir haben dem Herausgeber für sein Unternehmen um so mehr Dank
zu sagen, als auch die norwegischen Denkmale der Art bereits mit nahem
Untergange bedroht sind, und gegenwärtig wenigstens eine bildliche Dar-
stellung derselben erhalten bleibt. „Viele (sagt der Herausgeber, — be-
kanntlich selbst ein geborner Norweger), die ich noch im Jahre 1826 ge-
sehen, fand ich bei meiner Heimreise 1834 abgerissen und durch Gebäude
von gemeinem Zimmerwerk ersetzt. Man hätte diese alten, schönen, acht
nationalen, ja, ich möchte sagen, mit den religiösen Begriffen innig verweb-
ten Formen beibehalten und nach dem Bedürfnisse der Zeit in vergrösser-
tem Maassstabe umwandeln sollen."

In Rücksicht auf die erhaltenen Gebäude bemerkt der Herausgeber,
dass die meisten von ihnen durch die Zeit, durch Vergrösserungen und
Reparaturen mehr oder weniger an ihren Urformen gelitten haben. „In den
entfernteren Gegenden indess (fährt er fort), wo man sich weniger um die
sogenannte Verbesserung dieser Gebäude bekümmerte, hat eben dieses zur
Erhaltung ihres alterthümlichen Charakters beigetragen. Oftmals waren
diese Kirchen nur Annexen (Filial-Kirchen), worin nur einigemal im Jahre
Gottesdienst gehalten wurde, und deren Unterhaltung, je nach den Um-
ständen, der Gemeinde oder den Privateigenthümern überlassen blieb. Es
ward daher nur wenig, oder kaum das Allernöthigste dafür gethan, und
man beschränkte sich nicht selten auf ein äusseres Bestreichen der Bretter
mit Theer, welcher ihre Erhaltung .wesentlich beförderte. Auch wurden
bei Reparaturen die Hauptformen thcils aus Mangel an Kenntniss , theils
aus Gewohnheit, ja, ich möchte sagen , auch aus Aberglauben beibehalten.
Denn ich habe selbst ganz neue Gebäude gesehen, an welche man die
alten Bretter mit ihrem alten Schnitzwerke wieder genagelt hatte; ebenso
hat man bei vorzunehmenden Reparaturen alter Kirchen alte Verzierungen,

5

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Denkmale einer sehr ausgebildeten Holzbaukunst etc. 519

welche bei Erneuerung innerer Constructionstheile waren abgenommen
worden, späterhin wiederum daran befestiget. Es lag auch in dem Interesse
der Kirchenbesitzer, nur so wenig als möglich daran zu thun, weil der
Kostenaufwand meistens mehr betrug, als die Kirchen ihnen einbrachten.
Denn als während der Reformation, unter der dänischen Regierung, die
Kirchengtiter eingezogen und die Einkünfte geschmälert wurden, gelangten
die Kirchen häufig in den Besitz von Privatpersonen. In Folge dessen ver-
änderten sie nicht selten ihre Besitzer und es hat bei "Versteigerungen Fälle
gegeben, dass, weil es an Käufern fehlte, ganze Kirchen mit dem Altare,
den Glocken und dem Kirchengeräthe für 30 norwegische Speeles und den-
noch mehr aus Religiosität als in der Hoffnung auf Gewinn, erkauft wor-
den sind. Denn in Ansehung dessen, dass dem Besitzer die Pflicht obliegt,
die Kirchen zu unterhalten, ist ihr Besitz vielmehr als eine Last zu be-
trachten."

„Auch in England haben einige sehr alte Kirchen aus Eichenholz sich
erhalten; allein sie sind den norwegischen weder im Plane noch in ihren
Zierden ähnlich. Die nächste Verwandtschaft möchten die letztern mit den
russischen Landkirchen haben, wie sie Olearius noch im 17. Jahrhundert
vorfand und ohne architektonische Gründlichkeit abbilden liess, obwohl
anzunehmen ist, dass Verschiedenheit des Cultus und sonstiger Richtungen
eigentliche Gleichförmigkeit nicht habe aufkommen lassen. Die russischen
Landkirchen haben nämlich in ihrer Bauart Aehnlichkeit mit gewöhnlichen
Blockhäusern, indem die Balken horizontal aufeinander liegen. Bei den
nowegischen alten Landkirchen hingegen stehen die Pfosten-Bretter auf-
recht, und werden daher „Staw- oder Reiswerkskirchen" genannt."

Wir wenden uns nunmehr zu einer näheren Betrachtung der im vor-
liegenden Heft dargestellten Kirche von Borgund, wobei wir jedoch gleich
von vornherein bemerken müssen, dass — so dankbar wir auch dem Her-
ausgeber für das bereits Mitgetheilte sind — einige Verhältnisse Uns leider
dunkel bleiben, indem es sowohl an einer speciellen Erklärung, als auch
an einigen, zum Verständniss der Construktion nöthigen Durchschnitten
oder inneren Aufrissen fehlt;

Der Grundriss (Tab. I.) zeigt bereits eine eigenthümliche Anlage, Avelche
nur im Allgemeinen die räumliche Eintheilung des christlichen Kirchen-
baues befolgt. Das Schiff und der Altarraum sind zwei gesonderte Theile.
Ersteres bildet den Hauptraum; es ist viereckig, von ein wenig über das
Quadrat verlängerter Dimension. Eine Thür führt in den Raum des Al-
tares, der als ein Viereck von ungleicli'^ engeren Verhältnissen erscheint und
an den sich die halbkreisrunde Nische des Allares anschliesst. Diese be
stimmte Scheidung der beiden Räume dürfte uns an das rituale Princip
neugriechischer Kirchen erinnern, indem in der lateinischen Kirche eine
solche nicht Statt findet; es dürfte interessant sein, aus den nächfolgenden
Heften zu ersehen , ob dieselbe auch bei andern alten Kirchen Norwegens
angewandt und somit als eine besondre, durchherrschende Eigenthümlich-
keit zu betrachten ist. (Die Gesammtlänge dieser Räume beträgt, nach
dem beigefügten Maassstabe, c. 20 Ellen, die Breite des Schiffes etwas über
IOV2 Ellen.) Ein zweiter, sehr merkwürdiger Umstand in der Anlage ist
der, dass sich rings um diese Räume ein schmaler Umgang, auch den halb-
runden Ausbau der Altarnische befolgend, umherzieht; an den drei Haupt-
seiten desselben sind vorspringende, Vestibül-artige Vorbauten , in denen
die Portale sich befinden. Eine Notiz über den Zweck dieses Umganges

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520 iBerichte und Kritiken.

wäre dem Beschauer sehr erwünscht gewesen. Sämmtliche Ecken des Ge-
bäudes erhalten durch starke Rundsäulen einen festen Schluss, (Ein vier-
ter, ebenfalls vortretender Ausbau, der sich an den Altarraum anlehnt und
den Umgang unterbricht, scheint ein späterer Zusatz; wenigstens unter-
scheidet er sich in der Aussenansicht des Gebäudes von dem Uebrigen
durch das rohere Zimmerwerk, in dem er aufgeführt ist. Er dient ohne
Zweifel als Sakristei.)

Das Innere des Schiffes wird durch Stellungen von je vier starken
Rundsäulen in ein breites Mittelschiff und schmale Seitenschiffe abgesondert.
Dieselben Säulenstellungen ziehen sich jedoch auch vor dem westlichen
Eingange und vor dem Zugange zu dem Altarraume hin. Ein perspekti-
vischer Aufriss des Inneren (Tab. III.) lässt uns die nähere Einrichtung
dieser Anordnung erkennen. Die Säulen scheinen sehr einfach, ohne Kapi-
täle, gebildet und sind nur oberwärts, wo ein flaches Gesims über ihnen
hinläuft, durch zwischen-eingespannte Halbkreisbögen verbunden. Ueber
dem Gesims sieht man noch eine kurze Fortsetzung der Säulen und zwischen
ihnen buntverzierte Kreuzbalken, Ob dies die Fenster sind, ist nicht wohl
ersichtlich, indem in der Aussenansicht an den entsprechenden Stellen nur
kleine riinde Löcher bemerkbar werden; das Hauptlicht scheint von den
Giebelseiten einzufallen. Das Mittelschiff ist mit einer hohen gewölbten
Bretterdecke, in der Form eines Tonnengewölbes, versehen; die Seiten-
schiffe zeigen als ihre Decke die einfache Dachschräge. Ob übrigens diese
gesammte innere Einrichtung oder wie viel davon ursprünglich sei, sind
wir, in Ermangelung näherer Notizen, ausser Stande zu bestimmen. Das
im Inneren vorhandene Gestühl u. dergl. ist natürlich als spätere Hinzu-
fügung zu betrachten. Die Kanzel springt zur Seite der Thür, welche in
den Altarraum führt, hervor.

Sehr interessant und nicht minder eigenthümlich erscheint das Aeussere
des Gebäudes. (Tab. II.) Jener Umgang, der sich um das Gebäude herum-
zieht, ist an seiner oberen Hälfte offen und enthält daselbst kleine, mit
flachen Bögen überspannte Arkaden. Darüber erheben sich in buntem
Wechsel die verschiedenen, nach und nach zurückspringenden Dächer und
Giebel des Umganges, der Vestibüle, der Seitenschiffe, des Mittelschiffes,
welche wiederum nach den Verhältnissen des Altarraumes und des Schiffes
gebrochen werden. Ueber der Altarnische erhebt sich ein seltsames Kup-
pelthürmchen; über der Mitte des Mittelschiffes, als Schluss des Ganzen,
ist ein andres, viereckiges und in mehrere Geschosse zerfallendes Thürm-
chen, an welchem man eine Uhr bemerkt, angeordnet. Jede der zahlreichen
Giebelspitzen enthält ihren besonderen Schmuck; an den unteren Theilen
besteht derselbe zumeist aus einem einfachen Kreuze, an den oberen Haupt-
giebeln aus einer seltsamen, vorspringenden Verzierung, welche den antiken
Schiffsschnäbeln verglichen werden könnte. Mit Ausnahme der untersten
Theile des Gebäudes sind sämmtliche Flächen , Dächer und Wände mit
rautenförmig gelegten Schindeln bedeckt.

Zwei Blätter (Tab. IV. und V.) sind der Darstellung zweier Portale
derselben Kirche gewidmet; sie geben die Hauptbeispiele für die bei den
älteren Bauwerken dieses Styles angewandte Verzierungsweise. Beide sind
auf ihren Seiten mit schlanken Säulen versehen, denen sich oberwärts ein
verzierter Halbkreisbogen anschliesst. Sehr eigenthümlich sind die Kapi-
tale dieser Säulen; sie haben die Gestalt eines länglichen Cylinders, etwas
stärker als der Säulenschaft und gegen diesen schräg abgeschnitten. — Das

K -

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Denkmale einer sehr ausgebildeten Holzbaukunst etc.

erste Portal ist einfacher. Die Säulen ruhen, statt der Basis, auf seltsam
stylisirten Thierköpfen, die Schäfte sind glatt, die Kapitale und der Bogen
über der Thür jedoch mit zierlichem Rankenwerk bedeckt; über den Ka-
pitalen, vor dem Ansätze jenes Bogens, erheben sich ein Paar wunderliche
langgereckte Thierflguren. Das zweite Portal dagegen ist sehr reich; wie
der Bogen und die Kapitale, so ist auch der Schaft der Säulen mit buntem
Rankenwerk bedeckt; doch fehlen die Thierbilder und die Säulen haben
eine Art Basis, welche wiederum auf einem kurzen Cylinder ruht. Dazu
kommt noch eine breite, viereckige Einfassung des Portales, welche eben-
falls durch buntes Schnitzwerk erfüllt wird; hier sieht man Schlangen und
Drachen, die sich mannigfach durcheinanderringeln, phantastisch gebildet
und mit Laubarabesken verbunden. Der Styl dieser Verzierungen (an bei-
den Portalen) ist demjenigen ziemlich nahe verwandt, welchen man in der
deutschen Kunst des zwölften Jahrhunderts, an Sculpturen und vornehm-
lich auch an den Ornamenten der Malereien in Handschriften, vorfindet.
Die Unterschrift zu dem letztgenannten Portale besagt, dass dasselbe „äl-
tere, heidnisch-nordische Motive, mit orientalisch-byzantinischen ge-
mischt", enthalte. Gewiss darf man eine solche Annahme im Allgemeinen
gelten lassen, — vielleicht indess mehr in der Beziehung, dass überhaupt
in den phantastischen Verzierungen der Art eine nationell germanische
Gefühlsweise sich ausspricht; denn, wie bemerkt, fehlt es auch in Deutsch-
land keineswegs (und zwar vornehmlich in einer Zeit, die der ersten Ein-
führung des Christenthums schon ferner liegt) an Bildungen der Art, so dass
wir dieselben wenigstens nicht mit Gewissheit als eine unmittelbare Re-
miniscenz heidnischer Darstellungen in Anspruch nehmen dürfen. Charak-
teristischer scheint uns die schon besprochene Grundform der Kapitale, und
so auch der eigenthümliche Anschluss des Bogens an letztere.

Das letzte Blatt (T. VI.) giebt eine Ansicht des Glockenthurmes der
Kirche von Borgund, der ohne Verbindung mit der letzteren, sogar ausser-
halb des dieselbe einschliessenden Zaunes, errichtet ist. Es ist ein vier-
eckiger Bau von schweren, nicht hohen Verhältnissen; die Wände schräg,
in einfachem Zimmerwerk aufgeführt; das hohe Giebeldach, ausser auf den
Eckpfosten, zugleich auf kleinen Arkaden (denen des erwähnten Umganges
der Kirche ähnlich) ruhend, und die Giebelseiten mit offnem Rautenwerk
ausgefüllt. Eine beigefügte Vignette giebt die Lage und die Verhältnisse
des Glockenthurmes zur Kirche zu erkennen. —

"Wir sehen den Fortsetzungen dieses Werkes, aus denen uns, wie wir
hoffen, das eigenthümliche System dieser alten Bauanlagen in seinen vor-
herrschenden Beziehungen und in der Art und Weise der Formation des
Einzelnen noch deutlicher entgegentreten wird, mit der gespanntesten Er-
wartung entgegen.

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522 iBerichte und Kritiken.

Die Gemälde der Grallerie zu Dresden
in lithographischen Nachbildungen.
(Museum, 1837, No. 44.)

Die vorzüglichsten Schätze der Dresdner Gemäldegallerie werden ge-
genwärtig in zwei lithographischen Prachtwerken herausgegeben. Ueber
die ersten Lieferungen des einen, welches im Verlag von J. Wunder in
Leipzig erscheint und von französischen Lithographen ausgeführt wird,
haben wir bereits in früheren Jahrgängen unserer Zeitschrift gesprochen.

Das zweite Prachtwerk über die Dresdner Gallerie führt den Titel:
Die vorzüglichsten Gemälde der Königlichen Gallerie in Dresden,
nach den Originalen auf Stein gezeichnet. Herausgegeben von Franz
Hanfstaeng]. Dresden, beim Herausgeber. Leipzig, in der Anstalt
für Kunst und Literatur von R. Weigel.

Dasselbe ist, seit seinem Beginnen im Jahr 1835, bereits rüstig vorge-
schritten und legt in 7 vollendeten Lieferungen (deren die erste 4, jede
der folgenden 3 grosse Blätter enthält) die lithographischen Nachbildungen
von 22 Gemälden verschiedener Gattung vor. Die bei weitem grössere
Mehrzahl der Lithographieen rührt von der Hand des rühmlichst bekannten
Herausgebers her, wenige von andern Künstlern, unter denen zunächst,
als Lithograph der Landschaften und Landschaft-ähnlichen Compositionen,
Hr. Friedrich Hohe zu nennen ist. Die Technik in diesen Lithographieen
ist durchweg höchst meisterhaft; es ist in ihnen (und ganz besonders in
denen des Herausgebers) eine Tiefe , Fülle und Wärme des Tones, eine
Klarheit und Freiheit der Behandlung, dass der Mangel der Farben ver-
schwindet und das Auge des Beschauers den wechselnden Spielen der
Farbe zu folgen glaubt. Mit grösstem Glück ist die charakteristische Be-
handlungsweise der verschiedenen Meister wiedergegeben; der kräftige Vor-
trag des Ann. Caracci, der weiche Schmelz Correggio's, die Reinheit des
tizianischen Pinsels, das wunderlich gefegte Wesen Rembrandt's, die zier-
lichste Sauberkeit eines Metsu, Netscher, G. Dow, die tüchtige Derbheit
Ostade's u. drgl. mehr. Alles diess wiederholt sich in den vorliegenden
Lithographieen in gelungenster Nachahmung. Dabei ist zugleich nichts
Aengstliches oder Gesuchtes. Die Fülirung des Stiftes ist überall geistreich
und frei, und wenn die Arbeit bei den Darstellungen des feineren Genre
das zarteste, in einander geschmolzene Korn zeigt, so macht sich ander-
weitig, wo eine so feine Ausführung nicht vorgeschrieben war, die sichere
Grundlage freier Strichlagen bemerklich. Natürlich konnten solche Vor-
züge, ein so gediegenes Eingehen in den Geist und Charakter der Origi-
nale, — Vorzüge, auf welche das vorgenannte Werk, trotz der säubern Ar-
beit der Lithographen, in ungleich geringerem Grade Anspruch hat, —
nur dadurch erreicht werden, dass überall unmittelbar nach den Vorbil-
dern gearbeitet wurde. Mit gerechtem Stolze aber müssen wir es anerken-
nen, dass dies Unternehmen als ein rein vaterländisches auftritt, und dass
wir, nach so glänzender Beweisführung, nicht französischer Hülfe nöthig

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523

Die Gemälde-Gallerie zu Dresden etc.

haben, um auch in dem Fache der Lithographie das Vorzüglichste zu
leisten.

Wir geben einen flüchtigen Ueberblick der in den genannten 7 Heften
enthaltenen Lithographieen, indem wir, der Kürze halber, nur bei denje-
nigen Blättern, welche nicht vom Herausgeber herrühren, den Namen des
Lithographen anführen. Die Eröffnung des Werkes bildet eine Darstellung
nach Ann. Caracci, der Genius des Ruhmes, der, von kleineren Genien
umgeben, durch die Lüfte emporschwebt; dies Bild ist
Vignetten artig be-
handelt, jedoch % nicht minder sorgfältiger Ausführung als die anderen.
Ausserdem ist noch ein zweites Blatt nach Ann. Caracci vorhanden, eine
thronende Madonna mit dem heil. Matthäus und andern Heiligen; der freie,
aber würdige Styl des Originales tritt hier dem Beschauer lebhaft entgegen.
~ Das wundersame Gemälde Tizian's, Christus mit dem Zinsgroschen.
Die fast überirdische und doch so menschliche Klarheit des Christuskopfes,
so auch der kräftigere Kopf des Pharisäers, ist in der Lithographie auf's
Glücklichste wiedergegeben. — Die Madonna mit dem heil. Sebastian von
Coreggio; die heil. Cäcilie von Dolce (dies Blatt von Schertie ge-
zeichnet) ; die schöne Madonna mit dem Kinde und dem kleinen Johannes
von Vincenzio da S. Gimi^nano; die Madonna, um welche sich die
Familie jenes Baseler Bürgermeisters anbetend versammelt, von Holbein,
erscheinen auch in diesen Copieen als vollendete Meislerwerke. Vornehm-
lich in Bezug auf das letztgenannte Blatt ist es rühmend hervorzuheben,
dass die schlichte Ruhe der dargestellten Personen mit vollkommener Le-
bendigkeit aufgefasst ist, ohne durch Uebertreibung in eine trockene Ma-
nier auszuarten und ohne sonst irgend ein dem Originale fremdes Element
hereinzutragen. Nach Rembrandt sieht man das eigene Portrait des
Künstlers, der mit seiner jungen Frau beim lustigen Gelage sitzt, — ein
nicht besonders ansprechendes Bild, was indess nicht Schuld des Litho-
graphen ist; im Gegentheil ist dieser dem launig kecken Vortrage des Mei-
sters wiederum auf's Sicherste gefolgt.

Die Mehrzahl der vorgelegten Lithographieen gehört dem holländischen
Genre an. Höchst geschmackvoll sind die feineren Genrebilder dieser Art
wiedergegeben. So, nach Terburg, ein junges Mädchen im Atlaskleide,
welches sich in einer Schüssel, die die Magd hält, die Hände wäscht. Nach
Caspar Netscher eine zierliche Scene vornehmen Lebens: eine junge
Dame, ebenfalls in Atlas gekleidet, die stehend an dem reichgeschmückten
Claviere spielt, indem ein prächtig costümirter Cavalier, zur Seite sitzend,
dazu singt und eine Freundin, auf der andern Seite, zuhört. Zwei höchst
reizvolle Darstellungen nach G. Metsu: ein alter Wildprethändler, vor
dem eine feine Dame steht und Über einen dargebotenen Hahn unterhan-
delt; sodann eine Wildpretthändlerin, die einer Köchin einen Hasen zu
empfehlen bemüht ist. Eine Spitzenklöpplerin, der eine Frau in's Fenster
herein einen Hahn reicht, nach Slingelandt, ein äusserst sauberes Bild-
chen. Ein schönes Mädchen, welches am Fenster stehend, bei heller, nach-
mittäglicher Beleuchtung, einen Brief liest, nach dem bekannten und be-
liebten Bilde von P. de Hooghe. Ein alter Schreibmeister, am Fenster
sitzend und eine Feder schneidend, im Innern der Stube die Schülerinnen,
nach einem höchst ergötzlichen Bildchen von G. Dow und ganz in der
säuberlichen Weise dieses Meisters. Das Bild eines Kesselflickers vor
einem Bauernhause, mit einer Bäuerin, die jenem einen schadhaften Kessel
dargereicht hat, nach Fr. van M i e r i s. Das Innere einer Bauernschenke

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524 iBerichte und Kritiken.

nach Ost ade. Nach demselben: des Künstlers eignes Atelier, von
Straub mit trefflicher Wiedergabe des Helldunkels lithographirt.

Endlich sind vier von Fr. Hohe lithographirte Blätter zu nennen.
Ein Reitergefecht, eine meisterhafte Composition voll trefflich dramatischen
Lebens, nach Ph. Wouverman. Eine Schmiede mit vornehmer Jagdge-
sellschaft , nach demselben. Eine schöne , ruhige Abendlandschaft nach
Joh. Both, und eine zweite Landschaft nach dem berühmten Gemälde
von J. R u i s d a e 1, welches einen Eichenwald, in dem eine Hirschjagd
vorüberbraust, darstellt. Auch diese Blätter sind duii|iweg von grosser
Tüchtigkeit der Ausführung.

Von dem Text, der zur näheren Erklärung der dargestellten Gemälde
dienen soll, ist bis jetzt erst ein Blatt mit dem „Vorworte" erschienen,
welches mit einer geschmackvollen Arabeske, im Neureuther'schen Style,
geschmückt ist.

La Reale Galleria di Torino, ülusraia da Roberto d'Azeglio,
Direttore della medesivia etc., dedicata a S. M. il Re Carlo Alberto.
Fascicolo 1 — Vll. Torino
1836 — 1837. Gr. Fol.

(Museam, 1837, No. 45.)

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Die durch den König Karl Albert gegründete öffentliche Gemälde-
Gallerie von Turin, welche die Schätze der Malerei, die in den könig-
lichen Schlössern zerstreut waren, zu einem bedeutsamen Ganzen vereinigt,
und ausserdem durch neue Erwerbungen auf mannigfache Weise bereichert
ist, bildet eine neue Erscheinung unter den grossen Kunstsammlungen, an
denen der italienische Boden, trotz so häufiger Veräusserungen, noch im-
mer vor Allen reich ist. Berichte aus Turin rühmten von der neuen Gal-
lerie, dass sie im Besitz einer ausgezeichneten Reihenfolge von Werken
der als klassisch anerkannten italienischen Meister sei; vornehmlich aber,
dass sie einen Reichthum an Werken niederländischer Künstler enthalte,
wie keine andere Sammlung Italiens. Durch das obengenannte Werk be-
kundet sich nunmehr das Dasein und die eigenthümliche Richtung der
Gallerie auch nach ausserhalb, und es reiht sich dasselbe den mit grosse-
rer oder geringerer Pracht ausgestatteten Werken an, die wir über viele
der vorzüglichsten Sammlungen Italiens besitzen. Es enthält Abbildungen
der vorzüglichsten Gemälde mit sehr ausführlichem erläuterndem Text von
der Hand des Herausgebers, R. d'Azeglio, des Direktors der Gallerie.
Die Abbildungen sind mehr ocler minder ausgeführte Kupferstiche, welche
zumeist mit erfreulicher Feinheit in den Geist und Charakter der Origi-
nale einzugehen scheinen. Namhafte Kupferstecher aus verschiedenen Ge-
genden Italiens haben einen Theil ihrer Thätigkeit diesem Werke gewid-
met, wie in den bisher erschienenen Mittheilungen die Namen Lasinio
d. j., Rosaspina, Ferreri, Garavaglia, die Schule Toschi's
u. a. m. genannt werden. Die einzelnen Lieferungen, in denen das Werk
herausgegeben wird, enthalten je vier Kupferstiche; das Ganze ist auf 80
Lieferungen berechnet. Die sieben ersten Lieferungen desselben liegen uns
so eben vor.

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La Keale Galleria di Torino, etc.

In diesen linden wir die Werke .aus der Periode des siebzehnten
Jahrhunderts — Italiener der eklektischen Schulen und Niederländer —
vorherrschend. An Gemälden aus der grossen Blüthezeit der italienischen
Kunst, aus den ersten Decennien des sechzehnten Jahrhunderts, an Ge-
mälden früherer Perioden scheint die Gallerie somit keinen sonderlichen
Reichthum zu haben. Nur Ein Gemälde unter den mitgetheilten gehört in
den Anfang des sechzehnten Jahrhunderts, — ein Werk von der Hand
des Gaudenzio Ferrari, den man gewöhnlich den Mailändern zuzählt.
(Der Herausgeber, patriotisch gesonnen, bestreitet diesen Gebrauch und
zählt ihn, in Rücksicht auf seinen Geburtsort, der geringfügigen Zahl sa-
voyischer Künstler zu.) Es ist ein sehr interessantes Gemälde : Der Leich-
nam Christi auf dem Schoosse der Mutter, von den heiligen Frauen und
den übrigen Freunden beklagt, denen sich einige spätere Kirchenheilige zu-
gesellt haben. Die ganze Auffassung der Composition weicht auffallend
von denjenigen Gemälden Gaudenzio's (meist Fresken) ab, die sich in
der Gallerie der Mailänder Brera befinden und in denen sich die Einflüsse
der römischen Schule bereits deutlich erkennen lassen. Hier ist noch un-
gleich mehr Verwandtschaft mit der Richtung des Leonardo da Vinci, un-
gleich mehr alterthümliches Element; namentlich die Gewandung, obgleich
sie in einzelnen grossen Würfen die eigenthümliche Fassung Gaudenzio's
bezeugt, hat mehr alterthümliche Strenge, als in jenen Werken bemerkt
wird. So ist auch die Gruppirung noch von grosser Einfachheit: die vor-
deren Gestalten um den Leichnam des Erlösers her sitzend und knieend,
die hinteren wie im Halbkreise nebeneinander stehend, jeder für sich auf
den Erlöser blickend, jeder für sich mit seinem eignen Schmerze beschäf-
tigt. Dabei aber geht ein eigenthümlich schlichter Adel durch diese Ge-
stalten ; sie haben eine Reinheit und Schönheit der Gesichtsbildungen,
eine Tiefe und Innigkeit des Ausdruckes, welche wiederum in Gaudenzio's
späteren Werken nicht mehr in gleichem Maasse gefunden werden. Hierin
besteht die Verwandtschaftt dieses Bildes mit Leonardo; die Richtung des
letzteren ist in diesen Beziehungen ganz in ähnlicher Weise erfasst, wie
in den Werken Sodoma's; ja es hat das ganze Bild, auch in der Anord-
nung der Composition, auffallende Aehnlichkeit mit einem Gemälde von
Sodoma, welches sich im Berliner Museum befindet und denselben Gegen-
stand darstellt. Ueber die Entwickelungs-Verhältnisse Gaudenzio's, welche
sich solcher Art in diesem Bilde aussprechen, haben wir übrigens in dem
weitläufigen Texte, der demselben beigegeben ist, vergebens irgend einen
näheren Aufschluss gesucht.

Die übrigen der bis jetzt mitgetheilten Werke gehören, wie bereits be-
merkt, der späteren Zeit der italienischen Malerei an. Aus der späteren
Zeit der Mailänder Schule werden vorgeführt: Ein Altargemälde von
Giul. Ces. Proccacini, der heil. Franciscus und der heil. Carl Borro-
mäus, welche die Statue der heil. Jungfrau anbeten, ein Bild von mitt-
lerem Werthe. — Von Daniele Crespi ein nicht uninteressantes Bild,
der heil. Johann Nepomuk im Beichtstuhl, die Beichte der Königin von
Böhmen, die auf der einen Seite des Stuhles knieet, anhörend, auf der
andern Seite ein alter Mann. Es spricht sich darin eine erfreulich unbe-
fangene Naturnachahmung aus; seltsam aber macht es sich, dass die Ge-
sichter der Hauptpersonen zur Hälfte verdeckt sind. — Von Morazzone
ein widerwärtiges imd nicht bedeutendes Bild, Fulvia mit dem Leichen-
haupte Cicero's.

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526

Berichte und Kritiken.

Spätere Florentiner: Das vortrelFliche Portrait des Grosslierzoges von
Toskana, Cosimo de' Medici 1., von Angiolo Bronzino. — Eine "Ver-
kündigung Maria von Orazio de' Gentileschi, ein beachtenswerthes
Bild, dem Style Poussins verwandt. — Ein höchst anmuthvoller Madon-
nenkopf von C. Dolce: von einer zarten Naivetät, wie man sie selten in
den Bildern dieses Künstlers trifft.

Künstler der bolognesischen Schule und deren Nachfolger: Dionisio
Calvart, die heil. Magdalena, die von Engeln in die Lüfte eraporgetra-
gen wird, in der ziemlich süssen Manier dieses Künstlers, die Engel aber
nicht ohne eine reinere Anmuth. — Drei Bilder von Guercino, im Gan-
zen ohne besonders hervorstechenden Werth, die Rückkehr des ver-
lornen Sohnes, der Kopf der heil. Elisabeth von Ungarn und die heil.
Francesca Romana, Zur Seite der letztgenannten Heiligen steht ein Engel-
knabe im Diakonen-Gewande (also in derselben Weise costümirt, wie die
wundersam schönen Engel auf W, Schadow's jüngstem Altarbilde), der
durch die zarte kindliche Naivetät seiner Erscheinung ungemein anzieht.

— Eine ziemlich theatralische Fama von Guido Reni. — Von Albani:
Salmacis und Hermaphrodit, zierliche Gestalten in der Umgebung einer
heiteren Landschaft. — Venus und Amor, von Cignani, höchst unbedeu-
tend. — Endlich eine Madonna mit dem Kinde von Sassoferrato, die
aber ebenfalls nicht zu den schöneren Leistungen des Künstlers gehört.

Unter den Leistungen nordischer Künstler ist zuerst ein Portrait des
Erasmus von Holbein zu nennen. ^— Sodann vier Gemälde vonRubens:
eine heil. Familie, ganz in seiner eigenthümlichen Weise. Zwei Portraits,
das eines Mannes von mittleren Jahren in ganzer Figur und das Brustbild
eines älteren Mannes. Eine höchst vortreffliche Darstellung einer Eberjagd
(ohne menschliche Figuren); in Rücksicht auf die Originalität des letztge-
nannten Gemäldes, dass dasselbe nehmlich nicht, wie auch wohl diese
Meinung ausgesprochen sei, von Snyders herrühre, beruft sich der Heraus-
geber auf das Zeugniss Horace Vernet's. — Eine ansprechende Madonna
mit dem Kinde von Van Dyk. — Ein grotesker Leiermann von Teniers.

— Ein anderes kleines Genrebild von Isaak van Ostade (nach dem Ku-
pferstich zu urtheilen, mehr in der Art des A. Brower).

Sodann mehrere Landschaften: eine von Caspar Poussin, zwei
von Joh. Both, eine von R. de Vries. Rücksichtlich des Stiches dieser
Landschaften ist zu bemerken, dass derselbe nicht charakteristisch ge-
nug, in einer zu einförmig wiederkehrenden Manier behandelt ist.

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Neuerworbene Gemälde des Königl. Museums zu

Berlin.

(Museum, 1837, No, 48.)

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Die Gemälde - Gallerie des Königl. Museums ist kürzlich aufs Neue
durch verschiedene sehr interessante Werke bereichert worden. Aus den
Fonds des Instituts ist ein vorzügliches Gemälde von Govard Flinck

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Neuerworbene Gemälde des K. Museums zu Berlin. 527

erworben: die heil. Anna, welche die kleine Maria lesen lehrt, Kniestück.
Anna, matronenhaft, in der Art einer Nonne bekleidet, zeigt einen Kopf
von kräftigster und edelster Naturwahrheit', der Ausdruck desselben ist
tief gemüthlich, das Ganze des Bildes ungemein innig, im Charakter des
liebenswürdigsten Familien-Verhältnisses. Die Malerei ist höchst kräftig
und breit, dabei aber in vollster Wärme und mit der zartesten Beobach-
tung des Helldunkels. Das Bild reiht sich den mannigfach bedeutsamen
Leistungen der Rembrandt'schen Schule, welche die Gallerie bereits besitzt,
auf erfreuliche Weise an. — Ein, schon vor einiger Zeit erworbenes Genre-
bild von Zorgh, die Werkstatt des Künstlers darstellend, welches die
neueste Auflage des Verzeichnisses bereits namhaft macht, war uns bisher
noch nicht zugänglich. — Sodann sind drei Gemälde anzuführen, welche
die Gallerie als Geschenk Sr. Maj. des Königs erhalten hat. Das eine von
diesen rührt von der Hand des Hugo van der Goes her und dient, als
das vorzüglichste unter den Werken dieses Künstlers, welche das Museum
gegenwärtig besitzt, dazu, die Nachvi^irkung der schönen Eigenthümlich-
keiten des Joh. van Eyck in dessen Schule klar zur Anschauung zu bringen.
Es ist eine Madonna mit dem Kinde, auf einer zierlich geschnitzten go-
thischen Polsterbank, unter einem Thronhimmel sitzend; zu den beiden
Seiten des letzteren sind Säulenstellungen, durch welche man in eine nie-
derländische Landschaft hinausblickt; im Vorgrunde steht ein bemaltes
Töpfchen mit Lilien am Boden. Spricht sich auch hier, wie ziemlich
überall in den Gestalten des genannten Künstlers, keine sonderliche Tiefe
und Freiheit des geistigen Lebens aus, so zieht das Gesicht der Madonna
gleichwohl durch eine tiefe Gemüthlichkeit an. Sehr beachtenswerth aber
sind die trefflichen Motive der Gewandung, der schöne, tief gesättigte
Farbenton in sämmtlichen Gewandstoffen, die zarte und naturgemässe Be-
handlung der anderweitigen Nebendinge und die klare heitere Luft in der
Landschaft. — Einen interessanten Gegensatz hiemit bildet ein Gemälde
altholländischer Schule, in der Art des Hieronymus Bosch und ganz
mit dem wunderlich phantastischen Wesen dieses Künstlers übereinstim-
mend. Es stellt die Anbetung der Könige dar. Vor einer dürftig ge-
brechlichen Hütte sitzt die heil. Jungfrau mit dem Kinde; vor ihr knieen
und stehen die Könige mit ihren prachtvollen Gaben, alle in strenger,
seltsamer Feierlichkeit. Sanct Joseph hat sich hinter eine Mauer verkro-
chen und sieht, durch ein Loch derselben, neugierig bestürzt dem uner-
warteten Ereigniss zu. Da sind auch die Hirten; eiiiige von ihnen klettern
auf einen Baum, andere haben sich auf das Dach der Hütte gelagert, um
von hieraus den Vorgang mit anzusehen. Oberwärts erhebt sich die Land-
schaft und schliesst mit den reichen Architekturen Jerusalems. Das Ganze
ist in einem seltsam blassen Farbenton gehalten, der aber mit der sonder-
baren Auffassung und mit den zum Theil abenteuerlichen Figuren wohl
übereinstimmt, — Das dritte Bild endlich gehört wiederum einer späteren
Periode der Kunst an. Es ist das Werk eines wenig bekannten Blumen-
und Früchtemalers, des Jakob Walscapele (mit der Namensbezeich-
nung versehen) und stellt ein reiches Gehänge der mannigfachsten Früchte
und Blumen, von allerlei Insekten belebt und umspielt, dar, unterwärts
einen steinernen Tisch, auf dem ein Mäuschen sein heimliches Wesen
treibt. Das Ganze ist höchst meisterhaft, in trefflicher Harmonie gehalten
und mit einer bewunderungswürdigen Frische, Saftigkelt und Heiterkeit
ausgeführt.

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528 iBerichte und Kritiken.

Leben der ausgezeichnetsten Maler, Bildhauer
und Baumeister, von Cimabue bis zum Jahre 1567, beschrieben
von Giorgio Vasari. Aus dem Italienischen. Mit einer Bearbeitung
sämmtlicher Anmerkungen der früheren Herausgeber, so wie mit eigenen
Berichtigungen und Nachweisungen begleitet von Ludwig Schorn. Zwei-
ter Band, enthaltend der Original-Ausgabe zweiten Theil Erste Abthei-
lung. Mit 22 lithographirten Bildnissen. Stuttgart und Tübingen. 1837.

(390 Seiten in 8.)

(Museum, 1837, No. 52.)

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Die lang ersehnte Fortsetzung eines Werkes (der erste Theil desselben
erschien bereits vor 5 Jahren)^ welches für unser kunstgeschichtliches Stu-
dium eine so wichtige Grundlage bildet und welches auch ohne diese
strengere wissenschaftliche Rücksicht eine so eigenthümlich bedeutende
Stelle in der modernen Literatur behauptet, muss allgemein mit lebhaftem
Interesse aufgenommen werden. In der That ist Vasari, wenn auch die
blinde Verehrung seiner Aussprüche in neuerer Zeit aufgehört, wenn man
es auch für nöthig befunden hat, seine Angaben mannigfach durch die Ver-
gleichung urkundlicher Zeugnisse zu berichtigen, gleichwohl noch immer,
in Rücksicht darauf, dass er die älteste, in grösserer Breite fliessende
Quelle der Tradition ausmacht, dass er für Vieles, oft für die wichtigsten
Erscheinungen, als ein unmittelbarer Zeuge auftritt, — derjenige Autor, von
dem stets unsere Untersuchungen über einen der Haupttheile der Kunstge-
schichte christlicher Zeit ausgehen müssen. Aber er hat zugleich noch ein
zweites, minder wandelbares Verdienst. Er repräsentirt uns diejenige Zeit,
welche zuerst, — ich will nicht sagen: wissenschaftlich, doch wenigstens:
literarisch — die vorübereilendenErscheinungen in ihrer gegenseitigen Be-
deutsamkeit festzuhalten, die Resultate mannigfacher Thätigkeit sicher zu
stellen bemüht war; er ist der Begründer der neueren Kunsthistorie, in der
ihm wenige, nur geringfügige Vorarbeiten, wenige gleichzeitige Bemühun-
gen von minder umfassender Bedeutsamkeit seinen Ruhm nicht streitig ma-
chen können; er hat namentlich für Vieles, was hier den Kreisen der nie-
deren oder höheren Technik angehört, zuerst die angemessene literarische
Form und Behandlung erfunden und festgestellt; er bewegt sich endlich
in alledem mit einer gemüthlichen Naivetät, er hat eine Frische , eine
Bildlichkeit, oft eine Poesie der Darstellung, welche Ivon keinem seiner
Nachfolger erreicht ist und welche bei der Lektüre deines "Werkes stets
den erheiterndsten Genuss gewährt. In dieser Beziehung möchte ich Vasari
mit Winkelmann vergleichen. Das Element der Kritik ist es ebenfalls
nicht, was dessen höchstes Verdienst ausmacht, und Jahr für Jahr wer-
den auch bei ihm in dieser Beziehung neue Berichtigungen erforderlich;
aber das Allgemeine, die Ausprägung des Wortes für den Gedanken, die
grossartige Begründung ^des Standpunktes für die Auffassung des Einzelnen
(eines Standpunktes, der freilich um ein Bedeutendes höher steht, als der
Vasari's), —- dies ist es, darin Winkelmann wiederum entscheidend her-
vorgetreten, darin auch er unübertroffen geblieben ist.

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Leben der ausgezeichnetsten Maler, Bildhauer und Baumeister. 529

Wie wir Deutsehen uns aber, bereits sei4 geraumer Zeit, das gute Recht
erworben haben, die*^ grossen literarischen Erscheinungen des Auslandes
auch unserer Literatur anzueignen, so hat vor manchen andern Vasari, den
die Italiener ihren Classikern zuzählen und dessen Publikum sich über ver-
schiedene Kreise erstrecken dtirfte, wohlbegrtindeten Anspruch auf diese
Auszeichnung. Freilich ist eine Uebersetzung seines Werkes nicht eben
eine leichte Sache. Es kommt bei ihm nicht blos auf den Gegenstand,
nicht blos auf richtige Uebertragung des Sinnes, sondern auch auf die ihm
eigenthümliche Form des Ausdruckes, auf seine ebenso gemüthliche wie
gemächliche Weise des Vortrages an. Bei einem Autor wie z. B. Lanzi
mögen dergleichen Rücksichten wegfallen; und wäre es etwa nur die
Deutschthümelei (nicht auch häufiges Missverständniss), was der deutschen
Uebersetzung von dessen Geschichte der Malerei einen etwas curiosen An-
strich giebt, so könnte man sich hier, wo die Form unwesentlich ist, eher
darüber wegsetzen; bei einer Uebersetzung Vasari's würde ohne Berück-
sichtigung der letzteren ein wesentlicher Vorzug verloren gehen. Die vpn
Hrn. Schorn herausgegebene Uebersetzung aber geht mit Absicht und Liebe
auf diese Eigenthümlichkeit des Originales ein, und der treuherzige Ton
desselben, aus dem ein Mensch und nicht blos ein wissenschaftlicher Ap-
parat zu uns spricht, scheint uns sehr glücklich wiedergegeben, im zwei-
ten Theil, wenn wir nicht sehr irren, noch freier und leichter als im
ersten. Dabei ist zugleich das richtige Verständniss des Einzelnen auf
keine Weise versäumt.

Da es jedoch in wissenschaftlicher Rücksicht bei Vasari zugleidi sehr
wesentlich auf die Berichtigungen des Textes und auf anderweitig nöthige
Ergänzungen desselben ankommt, so müssen diese natürlich auch bei einer
Uebersetzung, die nicht blos der Lektüre, sondern vornehmlich dem Studium
gewidmet sein will, bestimmt in's Auge gefasst werden. Die Italiener ha-
ben es sich mehrfach angelegen sein lassen, Bemerkungen solcher Art zu
seinen Biographieen zu liefern, und hierin bereits viele dankenswerthe No-
tizen, oft aber auch sehr überflüssigen Ballast mitgetheilt. Der deutsche
Herausgeber hatte demnach schon den ersten Theil der Uebersetzung so
eingerichtet, dass nur däs wesentlich Wichtige aus diesen Bemerkungen
(mit Angabe der einzelnen Quellen) herausgehoben und demselben sodann
dasjenige, was neuere Arbeiten und eigne Studien darboten, angefügt
wurde. Aehnlich ist sein Verfahren auch im vorliegenden zweiten Theile;
doch hat er hier, um sich noch kürzer und übersichtlicher fassen und
manche Wiederholungen vermeiden zu können, die Bemerkungen der frü-
heren Herausgeber frei in das Eigne verarbeitet und jene nur da, wo sie
als Autorität nothwendig schienen, namentlich angeführt: —
ein Verfahren,
dem wir, da es natürlich den Handgebrauch des Buches erleichtert, nur
beistimmen können. Schon dies Praktische der Einrichtung giebt der deut-
schen Ausgabe des Vasari einen bestimmten Werth vor den früheren: we-
nigstens sind uns hier, in den Anmerkungen des zweiten Theiles , kaum
ein Paar Zeilen aufgestossen, die wir, als nicht zur Sache gehörig, lieber
ebenfalls ausgemerzt gesehen hätten.

Wichtiger aber ist es, dass überhaupt diese Anmerkungen aus dem
freieren Standpunkte, den die deutsche Kritik vor der italienischen ein-
nimmt, hervorgegangen, dass mit durchgreifender Umsicht alle Hülfsmittel
welche der ersteren zu Gebot stehen, benutzt und ausser diesen viele we-
sentlich neue Bemerkungen (aus den eignen Reisenotizen des Herausgebers

Kugler, Kleine Schriften, I, 34

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530 iBerichte und Kritiken.

und als Mittheilungen andrer Kunstforscher, namentlich des Hrn. Dr. Gaye)
zum möglichst vollständigen Nachweis über die im Text namhaft gemach-
ten Kunstwerke und Künstler, sowie zur Berichtigung der in demselben
vorhandenen Irrthümer beigebracht sind, wobei jedoch mit Absicht (und
nur bis auf die einzelne nothwendige Ausnahme) alles weitläufigere Rai-
sonnement, welches das Interesse des Lesers von der Hauptsache, dem
Texte Vasari's, abwenden dürfte, vermieden ist. Alle diese Umstände die-
nen wiederum dazu, der deutschen Ausgabe wesentliche Vorzüge vor den
früheren zuzuertheilen, selbst vor der neuen Florentiner Ausgabe in Einem
Bande (welche seit 1832 bei Passigli in Florenz durch einen Verein von
Gelehrten besorgt ist), obgleich allerdings die Resultate der letzteren —
wenigstens von der zweiten Hälfte des vorliegenden Theiles ab — eben-
falls das Material zu manchen wichtigen Bemerkungen, in Bezug auf die
jetzigen lokalen Zustände (besonders von Florenz) und in Bezug auf selt-
nere italienische Schriften, darboten, was auch der Herausgeber anerken-
nend bevorwortet.

Auf eine Uebersicht des Einzelnen dieser neuen Bemerkungen des
zweiten Theiles (welcher vornelimlich den Künstlern aus der ersten Hälfte
des 15. Jahrhunderts gewidmet ist), können wir hier natürlich, da sie eben
in lauter gesonderte Einzelheiten zerfallen, nicht näher eingehen. Nur
einige der wichtigeren namhaft zu machen, möge verstattet sein. Zu die-
sen gehört vornehmlich eine ziemlich ausführliche Anmerkung, welche der
Herausgeber der Einleitung, mit der Vasari seinen zweiten Theil eröffnet,
angehängt hat. Vasari giebt hier eine Uebersicht des Entwickelungsganges
der italienischen Kunst bis auf die Blüthenperiode der letzteren, um den
Standpunkt, aus dem er seine ürtheile verstanden wissen will, festzustel-
len. Natürlich aber konnte er selbst, da eines Theils die Kritik überhaupt
nicht sein Amt und da er andern Theils noch zu sehr in dem Standpunkte
seiner Zeit befangen war, zu keinem wahrhaft durchgreifenden Gesammt-
Ueberblick gelangen; besonders die Erscheinungen in der Entwickelungs-
Geschichte der italienischen Architektur, die zum grossen Theile nur
durcli ausseritalienische Einflüsse zu erklären sind, konnten für ihn nicht
in derjenigen Klarheit heraustreten, in der sie — was wenigstens die
Grundzüge dieser Entwickelung anbetrifft — uns gegenwärtig bereits vor-
liegen. Diese Mängel zu verbessern und den Leser auf ein freieres Urtheil
über das Folgende vorzubereiten, dient die genannte Anmerkung; sie er-
füllt ihren Zweck in einer so klaren, anschaulichen und gediegenen Weise,
dass wir Mühe haben würden, eiue ähnlich gehaltreiche Uebersicht der
Entwickelungs - Geschichte der italienischen Kunst in ihren verschiedenen
Zweigen nachzuweisen. Bei dieser übersichtlichen Zus!|,mmenstellung aber
kommt zugleich auch Manches zur Sprache, worauf bisl^er, bei gesonderter
Betrachtung der einzelnen Zw^eige, wohl noch nicht ein genügendes Ge-
wicht gelegt ist, so namentlich der Umstand, dass mit der Wiederauf-
nahme des antiken Systems in der italienischen Architektur die früherhin
übliche Dekorirung der Gebäude durch Sculptur-Werke (bis auf einzelne
Ausnahmen) aufgehoben, hiedurch aber eines Theils eine wenig günstige,
in der Folge sehr manierirte Uebcrladung durch architektonisches Orna-
ment begründet, andern Theils die Sculptur aus ihrem, oft (und beson-
ders im Reliefj so notliwendigen Bezüge zu den Gesetzen der Architektur
herausgerissen wurde. Auf das, was der Verfasser hier über das Allge-
meine der Entwickelungs-Geschichte vorgetragen, wird sodann mehrfach in

ff

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Leben der ausgezeichnetsten Maler, Bildhauer und Baumeister. 531

den Anmerkungen zu den einzelnen Biographieen (so namentlich bei Bru-
nelleschi, Ghiberti, Donatello) zurückgedeutet, so dass dem Leser hiebei
stets der Blick auf das Ganze gegenwärtig bleibt.

Was die einzelnen Biographieen dieses Theiles anbetrifft, so finden sich
zunächst bereits der ersten derselben, der des Jacopo della Quercia,
einige umfassende und eigenthümlich wichtige Notizen beigefügt, so z. B.
über die von diesem (oder doch in seinem Style gearbeitete) „Madonna
della Mandorla" am Dome von Florenz, welche Baldinucci und Cicognara
(IL, tav. 50) dem Nanni d'Antonio di Banco zuschreiben; über die Lebens-
zeit und die Werke des Matteo Civitali, den Yasari nur kurz berührt,
u. s. w. .

Im Leben des Luca della Robbia werden mannigfache Nachweise
über Werke, die diesem Künstler und seinen Nachfolgern angehören, mit-
getheilt, auch verschiedene zwischen ihnen stattfindende Unterschiede her-
vorgehoben. Hier gedenkt der Herausgeber zugleich einiger der Werke
dieser Familie, die sich im Berliner Museum befinden, und schreibt unter
diesen das anmuthvolle Halbrund mit der Madonna und anbetenden En-
geln (unter H. aufgestellt) dem Andrea della llobbia zu. Bei dieser
Gelegenheit mag noch eines kleinen, in Thon gebrannten und mit natür-
lichen Farben bemalten Medaillons, welches das Profil-Bildniss des Sava-
narola enthält und sich auf der Königl. Kunstkammer zu Berlin befindet,
gedacht werden; in geistreich individueller Auffassung, gehört dasselbe ohne
Zweifel zu denjenigen Bildnissen Savonarola's, welche Vasari (S. 76) als
von den Künstlern dieser Familie gefertigt bezeichnet und die in kleineren
gegossenen Medaillen mannigfach vervielfältigt wurden. Sodann bemerkt
Referent, dass die interessanten Hauptwerke jenes Agostino, den Vasari
(S. 73) derselben Künstlerfamilie zuzählt, die Sculpturen der Fa^ade von
S. Bernadino zu Perugia, wohl einige Worte näherer Würdigung als sie
hier (und namentlich bei von Rumohr, It. F. IL, 297) finden, verdient hät-
ten. Der Herausgeber bezeichnet sie richtig als Marmorarbeiten; doch ist
hinzuzufügen, dass sie gleichwohl sämmtlich mit dem durch die Robbia
eingeführten blauen Grunde versehen sind, wodurch sie vielleicht als das
durchgeführteste Beispiel einer.nach architektonischen Gesetzen behandel-
ten polychromen Sculptur in der neueren Kunst dastehen, — ein Umstand,
der ihnen schon an sich ein nicht unwesentliches Interesse verleiht^).

Die Fa9ade von S. Bernardino, in weissem und schwarzem Marmor aus-
geführt, ist dem eigenthümlich anziehenden Style der Porta di S. Pietro zu Pe-
rugia (die nach Mariotti von demselben Augostino herrühreu soll) verwandt. In
ihrer Hauptform möchte sie mit einem grossen einfachen Triumphbogen zu ver-
gleichen sein, der mit einem flachen Giebel gekrönt ist. In diesem Giebel An-
den sich die Figuren des Gott-Vater und knieender Engel zu seinen Seiten dar-
gestellt. In dem Halbrund, welches den, die Hauptform bildenden Bogen aus-
füllt, sieht man den heil. Bernhard in der Glorie und zu seinen Seiten mehrere
schwebende Engel. Darunter läuft ein schmaler Fries, ebenfalls mit Figuren,
hin, unter dem zwei flachgedeckte Thüren in die Kirche einführen ; die Gewände
der Thürpfosten sind wiederum mit zahlreichen Sculpturen, einzelnen allegori-
schen Gestalten und Engeln, bedeckt. Zu den Seiten des Ganzen laufen zwei
Pilaster bis zu dem Giebel empor. An jedem derselben sind, oberwärts und
unterwärts, zwei Nischen mit kleinen Tabernakeln angebracht; die oberen dieser
Nischen enthalten die Statuen des Engel Gabriel und der Maria, die die Ver-
kündigung empfängt, die unteren die Gestalten zweier Heiligen. Der Styl in «
diesen sämmtlichen Sculpturen ist keinesweges ohne eigenthümlich hervorstechen- f ?

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532 iBerichte und Kritiken.

Im Leben des Lorenzo Ghiberti findet sich, neben manchen andern
Avichtigen Notizen, eine ausführliche Bemerkung über dessen oft genannten
^Trattato di Scultnra et Pittura", in der wir zum ersten Mal, mit den
Worten des Dr. Gaye, über diejenigen Theile desselben, die nicht kunst-
geschichtlichen Inhalts sind, unterrichtet werden. Der kunstgeschichtliche
Tlieil dos Traktats ist bekanntlich bei Cicognara abgedruckt, der Eingang
(der bei letzterem fehlt) durch Hrn. v. Eumohr nachgeliefert: einige von
Cicognara ausgelassene Worte und Zeilen , die für den Inhalt nicht un-
-wichtig sind, werden in der genannten Anmerkung ebenfalls noch mitge-
theilt, so dass wir jenen interessanten ersten kunsthistorischen Versuch
jetzt in seiner ganzen Integrität besitzen.

Für die Biographie des Piero flella Francesca haben die Anmer-
kungen einer besondren, im Jahr 1835 veranstalteten Herausgabe derselben
von Gh. Dragromanni, sowie von Hrn. Gaye gelieferte Notizen, mehr-
fache wünschenswerthe Bereicherung dargeboten. Bei Gelegenheit des in
derselben Biographie erwähnten Bramantino erfolgen belehrende Zusam-
menstellungen über diesen Künstler und den von ihm schwer zu unterschei-
denden Bartolommeo Suardi (der von ihm nach Lanzi's Ansicht nicht
untersclüeden ist), sowie über einige ihrer wichtigsten Werke. Die , als
Arbeiten des Bramante namhaft gemachten Fresken in der Karthause bei
Pavia werden u. a. vom Herausgeber, in Rücksicht auf ihren Styl, dem
Bart. Suardi zugeschrieben. (Der Herausgeber citirt hiebei mein Handbuch
der Geschichte der Malerei, wo ich diese Werke unter Bramante angeführt
hatte. Gern folge ich der besser begründeten Annalime; möge es mir hie-
bei aber auch gestattet sein, den sehr lebhaften und gewiss von Vielen
getheilten Wunsch auszusprechen, dass Kunstforscher, denen einige Müsse
in Italien verstattet ist, endlich einmal die so eigenthümlich interessanten
lombardischen Schulen — und nicht blos die der Malerei — einer gründlichen
Forschung unterziehen mögen !)

Auch bei Fiesole fehlt es wiederum nicht an mannigfach belehrenden
Zugaben, namentlich nicht an dem Nachweis verschiedener, von Vasari
nicht namhaft gemachter Werke seiner Hand. Bei Gelegenheit der Chor-
bücher, die Fiesole für das Kloster S. Marco zu Florenz mit Miniaturen
ausgemalt, bemerkt der Herausgeber, dass gegenwärtig noch einige daselbst
vorhanden seien. Als ich mich jedoch vor zwei Jahren bei Fra Sera-
fino, der den neueren Besuchern von 8. Marco als ein sinniger Verehrer
Fiesole's und als ein eifriger Nacliahmer seiner künstlerischen Darstellun-
gen wohl in der Erinnerung sein wird, der also ohne Zweifel die beste
Kunde von diesen Dingen haben muss, nach den genannten Chorbüchern
erkundigte, sagte er mir, dass das Kloster nichts mehr von ihnen besässe
und dass diejenigen, die man gewöhnlich als solche bezeichne, nicht von
ihm lierrühren konnten. In der That haben die Maleiieien der letzteren,
obgleich im Allgemeinen dem Style Fiesole's verwandt, bestimmt nicht das
Gepräge jener zarten Innigkeit, die bei seinen Arbeiten so unwiderstehlich

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den Adel und Anmoth, wenn auch in der That abweichend von dem des Luca
della Eobbia; ich möchte denselben nicht geradezu dem Donatello, mehr den
Malereien des Sandro Botticelli (doch nur wo diese in ihren edelsten Formen
erscheinen) vergleichen. Dies gilt sowohl von den grösseren Arbeiten im Giebel
und in dem Halbrund, aW vornehmlich von den kleineren, dem Auge näheren,
die sich au den Thürgewänden befinden; bei ungemein leisem Relief ist hier die
grösste Zartheit eines leicht bewegten Faltenwurfes meisterlich durchgeführt.

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Leben der ausgezeichnetsten Maler, Bildhauer und Baumeister. 533

wirkt. — Ueber den Miniatur-Maler Attavante, den Vasari in der Bio-
graphie Fiesole's rühmlich erwähnt und von dem er Miniaturen mit grosser
Sorgfalt beschreibt, wird in einer ausführlichen Anmerkung ebenfalls Nä-
heres berichtet, besonders in Bezug auf ein prachtvolles und mit grosser
Schönheit ausgemaltes Missale,, welches sich in der Köuigl. Bibliotheli zu
Brüssel befindet und mit seinem Namen und dem Datum der Vollendung
versehen ist.

Sehr dankenswerth sind ferner die Notizen, welche dem Leben Al-
berti's , den Vasari mit grosser Oberflächlichkeit behandelt, beigefügt sind.
Sie betrelTen theils dasjenige, was mit Sicherheit über die Lebensverhält-
nisse, den Charakter und die vielseitige Thätigkeit dieses merkwürdigen
Mannes festzustellen ist, theils enthalten sie ausführliche Nachrichten über
Alberti's Schriften, soweit letztere die Kunst betreflen. Diese Schriften,
vornehmlich die über die Architektur
(De re aedificatoria Hb. X.) und
über die Malerei
(De pictura Hb. III.), sind von grosser "Wlclitigkeit, be-
sonders für den so
eigenthümlichen Standpunkt jener Zeit, die letztere
aber auch in allgemeinerem Bezüge, und wir können den Wunsch des
Herausgebers — dass dieselbe für unsere Zeit bearbeitet werden möge ~
nur theilen. '

Endlich ist noch der Biographie des An ton eil o da Messina zu
gedenken, die wiederum über das Leben und über verschiedene "Werke
dieses Künstlers manches Neue giebt. An diese schliessen sich Bemerkun-
gen über den weiteren Einfluss der altflandrischen Kunst auf die italieni-
sche, sowie Nachweise von Bildern der ersteren, die schon früh nach Ita-
lien hinübergeführt wurden, an. Im Leben des Alessio Baldovinetti
wird noch weiter der ebengenannte Einfluss dargelegt. —

Wie bereits bemerkt, können die namhaft gemachten Mittheilungen
nur als einzelne Beispiele', die wir aus der reichen Fülle des Ganzen her-
ausgegriff"en , betrachtet werden. Wir haben schliesslich nur noch den
Wunsch auszusprechen, dass nunmehr durch rasches Förderniss die deutsche
Ausgabe des Vasari bald ihrer Vollendung entgegengeführt werden möge.
Wie wir indess vernehmen, ist die zweite Abtheilung des zweiten Bandes
ebenfalls bereits unter der Presse, so dass auch deren Erscheinung in Kur-
zem zu erwarten sein dürfte.

Joseph Werner und Ludwig XIV.

Unter den Zeitgenossen Lebrun's, unter denjenigen Künstlern, welche die
prunkvolle, weiland hochgeprieseue Periode Ludwig's XIV. bezeichnen,
wird Joseph Werner aus Bern (geb. 1637, gest. 1710) mehrfach als
einer der bedeutendsten genannt. Für Berlin hat er das besondere Inte-
resse, dass er unter den ersten Direktoren der hiesigen Kunst-Akademie
und bei Gelegenheit der künstlerischen Unternehmungen zur Zeit des ersten
Königes von Preussen eine, wenngleich nur vorübergehende Rolle-spielte.
Seit einiger Zeit befindet sich die Berliner Akademie im Besitz eines son-
derbaren Oelgemäldes von Werner, das," wenn freilich auch weniger durch

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534

Berichte und Kritiken.

seinen Kunstwerth, so doch als ein charakteristisches Zeugniss für die Sin-
nesweise der Zeit von Interesse ist. "Wir lassen über dasselbe einige Worte
folgen, indem wir zum näheren Verständniss vorerst auf die persönlichen
Verhältnisse des Künstlers Rücksicht nehmen.

Werner hatte seine künstlerische Ausbildung in Rom, unter den letz-
ten Nachfolgern der Caracci'schen Schule, empfangen, hatte sich dort aber,
merkwürdiger Weise, einem bis zu dieser Zeit wenig beachteten Zweige
der Kunst, der Miniatur-Maleiei, zugewandt, — vielleicht weil die Ar-
beiten der Art, durch ihren Gegensatz gegen die grossräumigen bunten
Wandmalereien der Italiener, Aufsehen zu machen begannen. Werner's
zarte, höchst sauber ausgeführte Miniaturen fanden in der That einen un-
gemessenen Beifall, und Ludwig XIV. berief ihn nach Frankreich, als sei-
nen Hofmaler in diesem Fache der Kunst, Mehrere seiner Miniaturen von
reicher Composition wurden so hoch geschätzt, dass sie bei den königlichen
Krön-Juwelen anfbewahrl wurden. Doch liess es sich Werner angelegen
sein, auch in der Oelmalerei ähnliche Erfolge zu erreichen. So arbeitete
er einst an einem grossen historischen Oelgemälde, welches dem Könige
so wohl gefiel, dass er dessen gegen seinen vorzugsweise begünstigten Hof-
maler, Lebrun, mit besonderer Vorliebe erwähnte.. Dieser, besorgt, dass
Werner auch in der Oelmalerei vom Könige möchte angestellt und sein
eigener Einfluss dadurch untergraben werden, beschloss den gefährlichen
Nebenbuhler zu stürzen; er liess Werners Zeichnung alle mögliche Ge-
rechtigkeit wiederfahren, sprach aber sein Bedauern aus, dass Werner sich
nicht auf die Behandlung der Farben verstehe und dass seine Malerei von
keiner Dauer sein könnte. Zugleich liess er insgeheim, wie erzählt wird,
durch einen ihm ergebenen Schüler Werner's Gemälde zur Nachtzeit mit
einer scharfen Flüssigkeit überstreichen, wodurch denn seine Prophezeihung
bald in Erfüllung ging. Nun erhub sich ein gross Geschrei, wie wenig
Werner sich auf's Malen verstehe, wie man Gefahr laufe, für vieles Geld
unnütze Waare zu erhalten, und der König fand sich in Kurzem bewogen,
Werner aus seinem Dienste zu entlassen ; wenig fühlte sich der Künstler
bei diesem Missgeschick durch die goldne Kette und die goldne Medaille
mit des Königes Bildniss, die ihm letzterer nachträglich einhändigen liess,
getröstet. Er ging nach Deutschland und arbeitete an verschiedenen Orten.
Im Jahr 1682 kam er wieder nach Bern. Als im Jahr 1685 Ludwig XIV.
das Edikt von Nantes aufhob und viele Tausende seiner protestantischen
Unterthanen sich in die Schweiz und meistens nach Bern flüchteten, ward
hier der Hass gegen den König so gross, dass auch Werner (dem übrigens
Lebrun's Betragen keineswegs unbekannt geblieben war) sich bewogen fand,
durch das Bild, von dem im Obigen die Rede war, seinem langverhaltenen
Zorne Luft zu machen.

Es stellt das Mahl des Königes, sammt allegorischer und symbolischer
Bezeichnung alles des Bösen, als dessen Mittelpunkt man ihn betrachtete,
dar. Ludwig XIV., im Gewände des Särdanapal, mit Satyrfüssen und
Schlangenschwanz, mit Hörnern, die aus den Locken seiner grossen Pe-
rücke hervorsprossen, und mit braunen Krallen-Armen, sitzt seitwärts am
Tische; er hält einen silbernen Teller, darauf, mit Blumen überstreut, ein
Todtenkopf liegt; das Weisse seines Auges ist brandroth gefärbt. Ihm ge-
genüber sitzt Madame de, Montespan als Bacchantin, in weissem, offenem
Gewände und rothem Ueberwurf, mit Perlen und Blumen geschmückt,
den einen Fuss über die Weltkugel ausgestreckt; in der rechten Hand

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Joseph Werner nnd Ludwig XIV, 535

erhebt sie einen Pokal, in der linken hält sie einen goldnen Teller mit
Seifenblasen. Zwischen beiden , hinter dem Tische, sieht man ihren'Bru-
der, den Comte de Vivonne, der, dick wie ein Silen, trunken und nackt,
eine Art Maccaroni zu verzehren beschäftigt ist. Sein Kopf ruht im Schoosse
einer weiblichen Figur mit verbundenen Augen und Libellenfltigeln, die
ihm mit einem Fächer Kühlung zuweht; sie möchte als Personification der
Wollust zu fassen sein. Neben der Montespan produciren sich allerlei an-
dre allegorische Wesen. So zunächst, an ihrem Sitze lauernd, ein weib-
liches Ungethüm mit der Schellenkappe und einem, in viele Facetten ge-
schliffenen Spiegel, — ohne Zweifel die Verleumdung. Dahinter steht die
Dame Hochmuth, mit Pfauenfedern geschmückt, und Scepter und Krone
in den Händen haltend; die Schmeichelei, welche Räucherwerk auf den
Tisch setzt; eine dritte mythische Person, welche die Geige streicht u. s. w.
Neben dem Könige endlich grinst ein hässlicher Satyr hervor,, der eine
Medaille in der Hand hält und mit einem Dolche nach derselben zielt; —
mit dieser Figur hatte der Künstler die Absicht, seinen triumphirenden Ge-
nossen Lebrun zu bezeichnen, — Oben aber naht sich, von dunklen Wol-
ken getragen, ein strafendes Gericht. Da sieht man einen Jüngling, der
aus Augen und Mund Feuer sprüht, einen Krieger mit Schwert, Fackel
und den Tafeln des Gesetzes, einen andern mit Pfeilen, den Winter, Tod-
tenköpfe u. s. w. Unter der Wolke blitzt es bedeutend und eine Masse
Gewürm fällt auf den König herab.

Es gewährt einen eigenen Eindruck, in einem Bilde, wie dem eben
beschriebenen, das Ringen nach Hass und Zorn, und doch zugleich allen
Mangel an Ausdruck entschiedener Leidenschaftlichkeit vor sich zu sehen;
denn trotz jenes mannigfachen Apparates von Karikatur, Symbolik und
Blitzen ist das ganze Bild ohne innerliches Leben, ohne Schärfe, ohne
Humor. Man sieht nur einen nüchternen, grübelnden Verstand, aber keine
Thatkraft, kein innerlich durclibrechendes Gefühl darin. Es ist, wie ge-
sagt, charakteristisch für eine Zeit, da man die Kunst überhaupt selten in
denjenigen Punkten zu fassen verstand, wo sie hervortreten muss, da die
Kunst von Laune und Willkür abhing, und gekränkter Künstlerstolz we-
nigstens im Stillen sein Müthchen an dem verhassten Gegenstande zu küh-
len benöthigt war. Man lächelt, wenn man den sonderbaren Fehdehand-
schuh betrachtet, den der Maler — freilich von einer sicheren Stätte, aus
— dem mächtigsten Fürsten seiner Zeit hinwarf.

Wie tief Werner durch jene Entlassung aus französischen Diensten ge-
kränkt sein musste, lässt sich auch aus einigen Zügen abnehmen, die uns
sein Schüler W. Stettier, der sich in Paris bei ihm aufhielt, über die Art
und Weise seines Charakters mittheilt, und die für ihren Theil nicht min-
der beweisen, wie sehr man die Kunst in andern Dingen, als in der Kunst
selbst suchte. „Seine Pinselstiele (so erzählt Stettier) waren von Silber,
wie ich meinte nur zur Pracht; darum fragte ich ihn, ob die hölzernen
nicht eben so gut wären. Er sprach nein; denn so kleine hölzerne Stiele
seien ihm zu leicht." Und bei Gelegenheit einer Reise, die Werner nach
Deutschland machte, berichtet derselbe: „Als nun Herr Werner in Ge-
sellschaft ein paar guter Freunde verreiset und zu Schaffhausen angekom-
men, stunden die Thorwächter zur Wehr, sahen Herr Werner köstlich ge-
kleidet vorherreiten, als ob die andern seine Diener.,wären. Die Wächter
fragten ihn alsobald. Aver er wäre? Herr Werner aber wollte sie keiner
Antwort würdigen, oder vielmehr, er schämte sich seines Herkommens und

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536 iBerichte und Kritiken.

HandtMerung; also dass die Wächter noch einmal fragten: ob er vielleicht
ein welscher Edelmann sei? Als aber Herr Werner sähe, dass er gezwun-
gen sei, sich zu offenbaren, sagte er, dass er ein Maler und Bürger von
Bern sei; da Hessen die Wächter alsbald ihre Hellepart sinken, und die-
sen welsclien Edelmann fahren!"

So scheint es auch, dass Werner in Berlin eine ähnliche Rolle, wie
Lebrun zu Paris, habe spielen wollen, was ihm freilich nicht sonderlich
geglückt ist. Nicolai (im Anfang zu seiner Beschreibung von Berlin und
Potsdam, S. 117 f.) hat hierüber das Nähere mitgetheilt. Die Schweizer
Kunstschriftsteller wissen freilich Rühmlicheres von ihm zu erzählen und
stellen es dar, als ob ihm in Berlin grosser Undank zu Theil geworden sei.

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HANDBUCH DER GESCHICHTE DER MALEREI.

von

CONSTANim D. GR. BIS AUF DIE NEUERE ZEIT.

Von

Dr. F. Kugler. Erster und zweiter Band; Berlin, 1837.

I

Zur Erinnerung an die erste Ausarbeitung dieses Werkes erlaube ich
mir, hier, wo dasselbe sich meinen andern kunstgeschichtlichen Arbeiten
anreiht, das "Wesentliche aus dem Vorworte zum ersten Theil der ersten
Auflage einzuschalten.

Vorwort.

Der Verfasser wünscht mit diesem Handbuch einem Bedürfnisse ent-
gegenzukommen, welches er selber lebhaft genug empfunden hat, als er
zuerst — ohne weitere Anleitung — bemüht war, eine Uebersicht von dem
Entwickelungsgange der Malerei zu gewinnen. Es felilt an einem kurzen,
leicht verständlichen Faden, der den Unerfahrenen in die verschiedenen
Haupt-Richtungen der Kunst und namentlich in die bedeutenden Unter-
suchungen der jüngsten Zeit einführt. Was demnach Anfangs zum eignen
Studium zusammengetragen war, durch Anschauung der wichtigsten Werke
der Malerei bereichert und gesichtet, dann zu kunstgeschichtlichen Vor-
trägen geordnet wurde, bietet sich hier dem nachsichtigen Urtheil des
Kenners dar: auf selbständigen Werth macht dies Buch keinen Anspruch,
es hat nur die Absicht, eine Brücke zu den werthvolleren Leistungen der
Kunst-Literatur zu bilden. Möge es dem Verfasser gelungen sein, nur den
nothwendigsten Anforderungen an einen solchen Plan zu genügen.

Dies Buch ist demnach wesentlich als eine Compilation zu betrachten.
Der Standpunkt, von welchem aus die mannigfach vorhandenen Mittel be-
nutzt worden sind, entspricht, soweit es in den Kräften des Verfassers lag,
dem der neuesten Kritik, vornehmlich jener Behandlungsweise, welche
zuerst in den Forschungen des Herrn v. Rumohr einen wissenschaftlichen
Grund gewonnen hat. (Wo der Verfasser in einigen Einzelheiten von den
Ansichten dieses Meisters der Kunstgeschichte abzuweichen genöthigt war,
geschah es nur durch das unabweisliche Gefühl einer andern, vielleicht
nicht unbegründeten Ueberzeugung.) Die Quellen, aus denen die Arbeit

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538 Handbuch der Geschichte der Malerei.

zusammengestellt wurde, und in denen der Leser eine weitere Belehrung
findet, sind der Hauptsache nach überall angegeben; auch ist dabei kein
Anstand genommen, diese oder jene Stelle wörtlich aufzunehmen, da es
nicht gerathen schien, das was einmal gut gesagt war, durch Umänderung
zu verschlechtern. Manche Sätze, manche Worte sind jedoch nicht immer
ausdrücklich als fremdes Eigerithum bezeichnet: die Anmerkungen hätten
hiedurch eine unnöthige Breite gewonnen. Auch ohne das wird der kun-
dige Leser dieselben leicht erkennen. Einzelnes dürfte hie und da als
das Ergebniss eigener Anschauung von Seiten des Verfassers zu bemerken
sein, namentlich im zweiten Theil bei den Betraclitungen über deutsche
Kunst, welche in einigen Punkten näher kennen zu lernen, der Verfasser
mehrfach Gelegenheit hatte.

Indess war, obschon das compilatorische Element im Ganzen und auch
in den letztgenannten Beziehungen vorherrscht, die Absicht des Verfassers
zugleich dahin gerichtet, soviel als möglich seine eigenthümliche Ansicht
und Auffassungsweise zu bewahren. Vielleicht ist hiedurch manche
Schroflheit, Einseitigkeit, oder —
Avenn man es gelinder bezeichnen will
— manche Subjektivität im Urtheil erzeugt worden; vielleicht fühlt sich
Mancher, der einer andern Auffassungsweise folgt, hiedurch mehrfach
verletzt. Doch dürfte eine solche Einseitigkeit einen andern, unangeneh-
meren Mangel, der nur zu häufig bei Compilationen ähnlicher Art hervor-
tritt, wiederum gut machen: den nemlich, dass dergleichen Arbeiten, cha-
rakterlos ihren verschiedenen Quellen folgend, auf der einen Seite dem
romantischen, auf der andern dem classischen Elemente huldigen, hier in
der Naivetät jugendlicher Epochen, dort bei der Regelrichtigkeit späterer
Akademiker das einzige Heil finden. In solcher Behandlungsweise verliert
der noch unerfahrene Leser leicht den Eaden, der ihn durch das Laby-
rinth verschiedenartiger Kunstrichtungen hindurchführen sollte. Wo er es
dagegen mit einer bestimmten Persönlichkeit zu thun und sich mit deren
Sinnesweise vertraut gemacht hat, wird er ohne Mühe das fremde Urtheil
in das eigne zu übersetzen im Stande sein. Wenigstens hat es der Ver-
fasser bei ähnlichen Studien gern mit ausgesprochenen Persönlichlteiten zu
thun gehabt; möge er in seinem eigenen Vorhaben nicht fehl gegangen sein.

Noch Manches mag der Subjektivität des Verfassers seine Entstehung
verdanken, was diesem oder jenem Leser missfällig sein dürfte, z. B. die
Inconsequenz in der Rechtschreibung der Namen. Der Verfasser könnte
sich nicht enschliessen, gewisse Namen, an deren eigenthümlichen Klang
sein Ohr sich von Jugend an gewöhnt hat und die in solcher Weise mit
dem Bilde einzelner Künstler für ihn einmal verschwistert sind, in ihrer
landesgemässen Form wiederherzustellen. Raffaele erscheint ihm unwill-
kürlich als eine fremde Person, während ihm mit Raphael zugleich
das Bild der holdesten Anmuth emportaiicht. Johann van Eyck, Hans
Hemling sind ihm befreundet; während das niederländische Jan ihm
bei diesen Künstlern nicht recht über die Lippen will. Indess ist das eine
äusserliche Sache und wäre von anders Fühlenden leicht zu berichtigen.
Schwieriger möchte es sein, die Charakteristik der Gruppen, in welche er
die Geschichte der Malerei abgetheilt hat, überall genügend zu rechtferti-
gen. Der Mensch ist — Gott sei Dank! — keine Pflanze, dass er nach
Blättern und Staubfäden ^in Classen zu rubriciren wäre; die Freiheit des
Einzelnen spottet dieser philosophischen Ansicht und leicht sind die Aus-
nahmen häufiger als die Regeln. Aber zur Uebersicht eines Ganzen sind

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von Constantin d. Gr. bis auf die neuere Zeit. 539

einmal einzelne Ünter^Abtheilungen nöthig, und so mag es denn immer-
hin gewagt sein.

Ueberhaupt musste es dem Verfasser mehr um, wenn auch nur flüch-
tige charakteristische Darstellungen zu thun sein, da nur diese, nicht aber
Nomenclaturen und Aufzählung von Arbeiten, dem betrachtenden Geiste
ein anschauliches Bild gewähren mögen. Die verschiedenen, bei den ein-
zelnen Künstlern angeführten Arbeiten sollen sodann im Wesentlichen nur
als Beispiele und Belege des Gesagten dienen. Der Verfasser hat sich
dabei bemüht, jedesmal das "Wichtigste und Zugänglichste zu nennen und
insbesondere bei beweglichen Werken den Ort der gegenwärtigen Aufbe-
wahrung (der durch die Bilderwanderungen seit den letzten fünfzig Jahren
so häufig verändert worden ist) zu bezeichnen. In dieser Beziehung lei-
tete ihn noch eine Nebenabsicht. Es war der Wunsch des Verlegers, dem
Buche zugleich den Charakter eines Reisehandbuches zu geben, wel-
ches auf das Wichtigere, was sich von Werken der Malerei an den ver-
schiedenen Orten befindet, aufmerksam machen könne. Das Orts ver-
zeichniss am Schluss der beiden Bände ist vornehmlich für eine solche
Benutzung des Buches ausgearbeitet. Vollständigkeit konnte hiebei natürlich
nicht im Plane des Verfassers liegen; doch dürfte das Angegebene für
denjenigen, der, vorläufig vielleicht, nicht tiefer einzudringen gewillt ist,
schon hinreichend sein — wenigstens mehr, als die gewöhnlichen Geleit-
bücher der Reisenden. Der in der Kunstgeschichte Erfahrene weiss es
auch ohne die Angaben des Verfassers, was er an den verschiedenen Or-
ten zu suchen hat . , . •

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BESCHREIBUNG UND GESCHICHTE

der

SCHLOSSKIRCHE Zü QÜEDLINBÜIIG

und

der in ihr vorhandenen Alterthümer.

Nebst

Nachrichten über die St, Wipertikirche bei Quedlinburg, die Kirche zu
Kloster Groningen, die Schlosskirche zu Gernrode, die Kirchen zu Frose,
Drübeck, Huyseburg, Conradsburg etc.
Bearbeitet von Dr. E. F. Hanke und Dr. F. Kugler.

Berlin, 1838.

Die folgende Schrift war zum Besten einer Orgel-Reparatur in der
Schlosskirche zu Quedlinburg von dem Prediger an derselben, Hrn. W. C.
Fricke, herausgegeben. Mein Freund, Hr. Dr. E. F. Ranke (der beider
Herausgabe so eben aus seinem Verhältniss als Direktor des Gymnasiums
zu Quedlinburg ausgeschieden war, um die Direktion des Gymnasiums zu
Göttingen zu übernehmen, und der gegenwärtig die Direktion des Friedrich-
Wilhelms-Gymnasiums zu Berlin und der mit letzterem verbundenen An-
stalten führt) hat mir gestattet, seinen Antheil an dieser gemeinschaftlichen
Arbeit hier mit aufzunehmen. Ich lasse zunächst das Wesentliche des von
ihm unterzeichneten Vorworts folgen: —

^;Nur v/eniger Worte bedarf es, um vorliegende kleine Schrift in das
Publikum einzuführen.

Herr Pastor Fricke wusste, dass ich bei Untersuchungen über die
Urgeschichte Quedlinburgs auch der Schlosskirche daselbst meine Aufmerk-
samkeit gewidmet und mich mit deren Geschichte beschäftigt hatte; er for-
derte mich schon vor längerer Zeit auf, was ich darüber gefunden zu haben
glaubte, zum Besten der Kirche aufzuschreiben und dem Drucke zu über-
geben. Von meinem Interesse an der Sache geleitet, erklärte ich mich so-
gleich dazu bereit und entwarf nach nochmaliger Durchforschung der Quel-
len und nach einigen Studien über die Baukunst des Mittelalters einen
kleinen Aufsatz, welcher nur dazu bestimmt war, den Einwohnern Quedlin-

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I

Vorbemerkung,

burgs die historische Bedeutung der Kirche zu zeigen und wenigstens einen
Begriff von deren Bauart zu geben.

Allein zu einer solchen Arbeit gehört nicht blos gründliche Kenntniss
der Quellen, aus denen sich Notizen über die Kirche schöpfen lassen, son-
dern auch eine durch genaue Studien gewonnene nähere Einsicht in die
baulichen Verhältnisse des Mittelalters, welche von meinen bisherigen Be-
schäftigungen allzu fern lag.

In üebereinstimmung mit dem Hrn. Pastor Fricke forderte ich daher
Hrn. Prof. Kugler zu Berlin zur Theilnahme an der Untersuchung auf,
der die Schlosskirche zu Quedlinburg schon selbst in Augenschein genom-
men und eine bestimmte Ansicht über den Bau derselben ausgesprochen
hatte. Er schloss sich bereitwillig an, unterzog meine Arbeit einer sorg-
fältigen Prüfung und untersuchte die Kirche bei einem längern Aufenthalte
in Neinstedt bei Quedlinburg (1836) von Neuem, so dass auch nicht der
kleinste Theil des Gebäudes unbeachtet blieb.

Eine völlige Umwandlung meines Aufsatzes war die Folge davon; jetzt
erst gewann er auch im artistischen Theil eine festere Grundlage und einen
weiteren Umfang, indem Herr Prof. Kugler zu vergleichenden Untersuchungen
über den Baustyl der benachbarten älteren Kirchen veranlasst ward und die
eigenthümlichen Resultate derselben, welche, an sich schon nicht uninteres-
sant, zugleich dem Hauptzweck des Aufsatzes förderlich entgegenkamen,
darin mit aufnahm.

Auf diese Weise ist vorliegende kleine Schrift entstanden, deren histo-
rische Theile, so weit sie sich auf Quedlinburg und die Schlosskirche be-
ziehen, ich zu vertreten habe, deren artistische Abschnitte aber Hrn. Prof.
Kugler angehören.

So viele Schwierigkeiten auch die Natur der historischen Quellen dem
Forschenden entgegenstellt, da sie nur dürftige, zusammenhangslose Nach-
richten aus verschiedenen Zeiten und diese oft sogar in vieldeutigen Aus-
drücken enthalten; so viel eindringende Kenntniss und Scharfsinn erfordert
wird, um bei einem Kirchenbau die älteren und neueren Theile zu unter-
scheiden und aus dem Vorhandenen auf die erste Grundanlage und den
nach und nach erfolgten weitern Ausbau der Gebäude zu schliessen; so
wenig also anmaassende Versicherungen, die Wahrheit entdeckt zu haben,
bei solchen Gegenständen am Orte sind: so dürfen wir doch mit Recht be-
haupten , dass nur wenige Kirchen aus dem zehnten Jahrhundert so viele
Wege zur Erforschung des Wahren darbieten möchten, als die Schlosskirche
zu Quedlinburg, und dass wir diese mit Sorgfalt aufgesucht und nach
Kräften benutzt haben. Beides wird man den Verfassern gewiss gern zu-
gestehen. ..."

Quedlinburg, am 8. October 1837.

541

i

P. Ranke.

Vorbemerkung.

Auf dem Schlossberge zu Quedlinburg, über dem südlichen Felsab-
hange desselben, erhebt sich unter den vielfachen und verschiedenartigen
Gebäuden der ehemaligen Abtei eine ehrwürdige alterthümliche Kirche,

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558 Schlosskirche zu Quedlinburg etc.

welche rings die Fluren des Bodethaies beherrscht und den malerischen
Gruppen der Landschaft einen mannigfach bedeutsamen Mittelpunkt dar-
bietet. Neun Jahrhunderte sind vorübergegangen, seit ihre Stätte zuerst
von König Heinrich L und dessen Gemahlin Mathilde, aus dem königlichen
Stamme Wittekind's, mit frommem Sinne dem Herrn gewidmet ward, seit
ihrem gehelligten Boden die Irdischen Ueberreste des grossen Königs, und
nachmals die seiner Gemahlin, zur sicheren Euhe anvertraut wurden. Mehr
als achthundert Jahre sind verflossen, seit der gegenwärtig vorhandene Bau
der Kirche mit feierlichstem Glanz, im Beisein des Kaisers, der höchsten
Fürsten und Prälaten des Reiches und unzählbarer Volksmenge, seine Weihe
empfing. Mannigfache Schicksale freilich sind seitdem über die Kirche
hingegangen, mannigfache Restaurationen sind, zu verschiedenen Zeiten, an
ihr nöthig geworden; in ihren vorzüglichsten Theilen aber trägt sie noch
immer das Gepräge jener frühesten Zeit der deutschen Kultur, giebt ihre
Gestalt und Bildung noch immer ein klar vernehmbares Zeugniss von dem
Sinn und der Gefühlsweise derer, über deren Gräbern das reiche Leben der
Gegenwart erwachsen sollte. Grosse geschichtliche Erinnerungen knüpfen
sich an sie, und nicht bloss das Interesse Quedlinburgs, dessen vornehmste
Zierde sie ohne Bedenken genannt werden darf, scheint eine ausführliche
Darstellung ihrer Beschaffenheit und Geschichte zu rechtfertigen, da sie
ebenso für das Studium der mittelalterlichen Baukunst von "Wichtigkeit, wie
in allgemeiner Beziehung für den Deutschen ein Ort heiliger Erinnerungen ist.

Der Baustyl, welchen die Schlosskirche von Quedlinburg in den älteren
Theilen ihrer Anlage zeigt, ist derjenige, in welchem überhaupt die ältesten
christlichen Kirchen Deutschlands, wenigstens der überwiegenden Mehrzahl
nach, aufgeführt worden sind. An sie reiht sich ein grösserer Cyklus an-
derweitiger Monumente an, aber sie muss als eins der vorzüglichsten Bei-
spiele desselben betrachtet werden. Hierüber möge für diejenigen, welche
nicht näher mit der Architektur-Geschichte des Mittelalters bekannt sind.
Folgendes zur allgemeinen Verständigung dienen.

Die Vorbilder der gebräuchlichsten Kirchenanlagen im Mittelalter finden
sich in den altchristlichen Basiliken vor, die eine Form des classischen
Alterthums für ihre Zwecke adoptirt hatten, — eine Form, welche trotz der
Mangelhaftigkeit des Einzelnen (denn sie bildete sich in den Zeiten des
Verfalles der Kunst aus) doch etwas eigenthümlich Poetisches und Feier-
liches hat. Das oblonge Mittelschiff ist der Hauptraum des Gebäudes: über
den Reihen der Säulen und den Halbkreisbögen, welche insgemein die Säulen
verbinden, erheben sich die Seitenmauern des Schiffes; sie tragen eine
flache Bretterdecke und lassen durch Fenster von genügender Grösse ein
bedeutendes Licht einfallen. Die Seitenschiffe sind insgemein niedriger;
sie erscheinen als beigeordnet und dienen dazu, durch ihren Contrast das
Grossartige des Mittelraumes klar ins Auge fallen zu lassen. Der Hoch-
altar steht vor einer grandiosen gewölbten Nische, welche das Gebäude in
würdiger Ruhe schliesst. Noch bedeutender wird die Gesammtwirkung,
wenn vor dem Altarraume ein Querschiff angewandt und die Verbindung
des Mittelschiffes mit diesem durch einen kühnen, weitgesprengten Bogen
(nach alter Weise „Triumphbogen" genannt) vermittelt ist. Noch sind in
Rom und in Ravenna zahlreiche Gebäude vorhanden, welche diesen Styl der
ältest christlichen Kirche in seiner vollkommenen Reinheit zeigen. Im Ver-
lauf der Jahrhunderte, etwa vom achten Jahrhundert ab, treten jedoch im
italienischen Basilikenbau mannigfache Veränderungen ein: die Fenster

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Vorbemerkung. 543

werden kleiner, die Säulen mit Pfeilern untermischt (zunächst nur,, um
besondre Abtheilungen des Innern bemerklicli zu machen), der heilige Raum
des Altares erweitert und durch eine grössere oder geringere Anzahl von
Stufen über die anderen Theile der Kirche erhöht. Die Erweiterung, oder
besser: Verlängerung dieses heiligen Raumes, geschah, seit man den Chor
(den Aufenthalt der niederen Geistlichkeit), der früher im Schiff der Kirche
gelegen war, jenseit des Altares verlegt hatte; die Erhöhung desselben hatte
eines Theils den Zweck, dem Altare und dem Altardienst eine würdigere,
feierlichere Erscheinung zu geben; anderen Theils erleichterte sie die An-
lage weitläufiger Gruftkirchen, deren man von dieser Zeit ab zu mannig-
fachen mysteriösen Feierlichkeiten, besonders zu dem Gräber- und Reli-
quien-Dienst, bedurfte. Die Gruftkirchen wurden in. der Regel durch Säu-
lenstellungen, mit Kreuzgewölben überdeckt, gebildet. Dieser gesammte
Basilikenbau in seiner späteren Ausbildung fand denn auch mannigfach
ausserhalb Italiens Eingang, und in Deutschland sind es vornehmlich die
dem Harz auf der Ost- und Nordseite benachbarten Gegenden, in denen
sich zahlreiche Beispiele desselben vorfinden, Wie in der Gesammt-Anlage,
so erkennt man an diesen auch in den architektonischen Details und den
Ornamenten noch insgemein einen mehr oder minder deutlichen Nachklang
antiker Bildungsweise.

Seit dem sechsten Jahrhundert, den Zeiten des Kaisers Justinian, hatte
sich jedoch noch eine zweite Hauptform für die Anlage christlicher Kirchen
ausgebildet, in welcher nicht ein Langraum, wie das Mittelschiff der Basi-
lika , vorherrschte, sondern wo ein mittlerer Raum, dem sich die übrigen
rings umher in verschiedner Weise unterordneten und der durch eine von
Pfeilern getragene Kuppel überwölbt war, als der Kern und Mittelpunkt
des Ganzen erscheint. Das erste bedeutendste Beispiel dieses Kuppel-
systemes ist die Sophienkirche zu Constantinopel, und es hat sich dasselbe
vorzugsweise in der griechischen Kirche ausgebildet und erhalten, daher
es speziell als das neugriechische zu bezeichnen ist. Ausserhalb des ost-
römischen Kaiserthums finden sich nur vereinzelte Beispiele desselben, wie
in Deutschland etwa nur der von Karl dem Grossen erbaute Münster zu
Aachen und die im vorigen Jahrhundert abgerissene Marienkirche auf dem
Harlunger Berge bei Brandenburg (letztere ganz nach den einzelnen Be-
dingungen der neugriechischen Kirche angeordnet) zu erwähnen sein dürften.

Beide Systeme blieben jedoch nicht ohne gegenseitigen Einfluss. Zu-
nächst zeigte sich derselbe wohl darin, dass man bei den nach einer Kreuzes-
form angelegten Basiliken, über der Durchschneidung des Querschiffes mit
dem Mittelschiffe, ein Kuppelgewölbe anbrachte, wie eins der bedeutend-
sten Beispiele der Art an der Kathedrale von Pisa gefunden wird. Doch
blieb man bei dieser nur äusserlichen Verbindung verschiedenartiger Ele-
mente nicht stehen. Man bestrebte sich, das gesammte System des Ge-
wölbebaues mit der Basilikenform zu verbinden und dem oberen Theile
des -Gebäudes eine würdigere Vollendung, als solche bei einer flachen Decke
möglich ist, zu geben. Man überspannte zuerst die schmaleren Seitenschiffe,
dann auch das Mittelschiff mit Kreuzgewölben und ward hiedurch freilich , _

genöthigf, auch die tragenden und stützenden Gebäudetheile zu verändern.
Kräftige Pfeiler traten somit vorherrschend an die Stelle der leichteren
Sänlen , Halbsäulen stiegen an den Pfeilern und Wänden empor, um als -

Träger der Gewölbgurte zu dienen; von der ursprünglichen Basilika blieb
nur noch die Gesammt-Anlage des Gebäudes übrig. Mannigfach auch
wagte

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I ■ 544 Schlosskirche zu Quedlinburg etc.

man es, bei diesen beträchtliclien Neuerungen, an die Stelle der Holzdecken
in den bereits vorhandenen Basiliken Gewölbe einzusetzen, und die solide
Bauart der Kirchen hat häufig bis auf unsre Tage diese Last getragen.
In Deutschland sind es vornehmlich die Rheinufer, wo sich die zahlreich-
sten Beispiele dieser mit halbrunden Kreuzgewölben überspannten, mit
Kuppeln über der Durchschneidung des Kreuzes versehenen Kirchen vor-
finden: strenger und mächtiger am Mittelrhein, — namentlich die Dome
zu Speyer, Worms und Mainz; — leichter, in weicheren Verhältnissen, in
reicherer Dekoration (häufig auch ohne Kuppeln) am Niederrhein, beson-
ders in Köln und der Umgegend dieser Stadt.

Im Detail machen sich hier die Formen der antiken Kunst (bis auf
einzelne, in sich begründete Ausnahmen, Avie z.B. die Bildung der Säulen-
Basen) nicht mehr sonderlich bemerklich, und die Gliederungen erhalten
im Allgemeinen eine Gestaltung und Zusammensetzung der Profile, welche
dem Gesammt-Charakter der Architektur angemessen ist. Die Ornamente
gewinnen ein ganz eigenthümliches Gepräge; ein wundersam phantastischer
Sinn herrscht in ihnen vor, der sowohl in grösseren Zusammensetzungen
derselben häufig fabelhafte Arabesken vorführt, als er auch überall die
einzelnen Blätter und Ranken in eigen geschweiften und gewundenen Linien
ausbildet. Man benennt diesen Styl der mittelalterlichen Architektur ins-
gemein mit dem Namen des byzantinischen Styles, und wir w^erden
im Folgenden, wo es sich um ganze Gebäude oder einzelne Formen der
Art handelt, diesen Namen, als den zumeist gebräuchlichen, beibehalten,
obschon er in sich, wie bekanut, keine eigentliche Begründung hat. (Auch
anderweitig aufgekommene Benennungen, wie z. B. die des „lombardischen
Styles," scheinen uns iiicht hinlänglich begründet, und wir lassen es somit,
lieber beim Alten.) Aber wir unterscheiden den byzantinischen Styl be-
stimmt von jenem älteren Baustyl, welcher, wie bemerkt, einen wesentlich
verschiedenen Charakter hat, und den wir einfach mit dem Namen des Ba-
siliken-S tyle s bezeichnen w^ollen. Dass jedoch
Uebergänge zwischen
beiden vorkommen müssen, liegt in der Natur der Sache. Der byzantinische
Baustyl erhielt sich in Deutschland bis in die ersten Jahrzehnte des drei-
zehnten Jahrhunderts, in welcher Zeit sodann der sogenannte gothische
Baustyl als ein neues Element in die Kunst des Mittelalters hineintritt.

Für unser Interesse sind vornehmlich die dem Basiliken-Styl ange-
hörigen Gebäude von Wichtigkeit. Zu ihnen gehört die Schlosskirche von
Quedlinburg, und wie sie selbst, so dienen auch verschiedene andre Kirchen
der nächsten Nachbarschaft dazu, die Eigenthümlichkeiten dieses Styles,
wie sich derselbe in der früheren Zeit der deutschen Kunst ausgebildet
hatte, näher erkennen zu lassen. Wir legen somit aussetr der Beschreibung
der Quedlinburger Kirche im Anhang die Beschreibungeiii noch einiger von
diesen Kirchen vor, welche hiezu einige brauchbare Mittel an die Hand
geben können. Doch beschränkt sich das Vorkommen (dieses Styles nicht
eben nur auf die nähere Umgegend; vielmehr findet sich weiter nördlich
und nordwestlich noch eine riamhafte Anzahl von Gebäuden der Art, welche
gleichfalls zu weiteren Forschungen auffordern, und unter denen namentlich
die Kirchen von Hildesheim von grosser Wichtigkeit für die ältere deutsche
Architektur-Geschichte sein dürften. Ueberhaupt gehört dieser Baustyl, in
Rücksicht auf seine vorherrschende Verbreitung, wesentlich den sächsischen
Landen an, und deutet Somit entschieden auf die Blüthe der Kultur, welche
hier in den früheren Zeiten des Mittelalters gegründet ward, zurück. In

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Vorbemerkung. 545

anderen Gegenden Deutschlands kommen Ülinliche Gebäude ungleich sel-
tener und eigentlich nur ausnahmsweise vor, wie z. B. die Kloster-Ruine
von Paulinzelle im Thüringer Wald, die Jakobskirche zu Bamberg, die
Schottenkirche zu Regensburg u. s. w.

Indem wir hier schliesslich einige allgemeine Eigenthümlichkeiten des
Basiliken-Styles folgen lassen, behalten wir jedoch nur diejenigen Gebäude
der Art im Auge, welche der nächsten Umgegend von Quedlinburg ange-
hören. Ihre Grundanlage stimmt durchweg darin überein, dass sie an der
östlichen Seite ein Querschiff, von der Höhe des Mittelschilfes, besitzen,
dass die Durchschneidung beider durch vier grosse, aufWandpfeilern ruhende
Schwibbogen vermittelt wird, und dass der Raum vom Querschitf bis zu
der grossen Altar-Nische insgemein die Grundform eines Quadrates (nur
ausnahmsweise die eines länglichen Vierecks) hat. An den östlichen Wän-
den des QuerschifFes sind in der Regel kleinere Altarnischen angebracht.
Ist ein hoher Chor angeordnet, so begreift derselbe den ganzen östlichen
Raum der Kirche mit Einschluss des Querschiffes; unter ihm erstreckt sich
die Gruftkirche, welche mit kleinen Säulenstellungen ausgefüllt und mit
Kreuzgewölben gedeckt ist. Die eigentliche Kirche selbst hat kein Gewölbe,
sondern ist ursprünglich überall flach mit Brettern gedeckt. Alle Oeffnun-
gen der Thüren und Fenster sind im Halbkreisbogen überwölbt; ebenso
die Bogenstellungen, welche das Mittelschiff der Kirche von den Seiten-
schiffen sondern. Diese Bogenstellungen werden durch Säulen, welche mit
viereckigen Pfeilern abwechseln, getragen: entweder wechseln je zwei, oder
je eine Säule mit einem Pfeiler (die letztere Einrichtung erscheint im All-
gemeinen als die jüngere). Die Pfeiler der einzelnen Bogenstellung haben
stets eine Entfernung von einander, welche der Breite des Mittelschiffes
gleich ist, so dass sie dasselbe in einzelne quadratische Räume abtheilen;
hienach wird, wenn zwei Säulen zwischen den Pfeilern stehen, die Bogen-
stellung enger, als wenn nur eine zwischen ihnen befindlich ist. — An der
Westseite bildet sich bei den meisten dieser Gebäude eitie Vorhalle, welche
durch eine olfene Bogenstellung mit dem Mittelschiff verbunden und über
welcher eine Loge oder Empore angeordnet ist; letztere erscheint entweder
durch eine reichgeschmückte Bogenstellung von dem inneren Räume des
Mittelschiffes abgesondert, oder ganz offen und nur in der Höhe durch einen
grossen Schwibbogen (den Schwibbögen in der Durchschneidung des
Kreuzes vollkommen ähnlich) überwölbt. Diese merkwürdige Einrichtung
ist bei einigen Gebäuden noch vorhanden, bei anderen die deutliche
Spur, dass eine solche ursprünglich Statt gefunden hat. Die Thürme, welche
sich gegenwärtig an dem Aeusseren der Westseite erheben, gehören sämmt-
lich nicht in die frühere Zeit des Basilikenbaues, und es ist die Frage, ob
sie mit jener Einrichtung von Halle und Loge (die wenigstens bei den
älteren Gebäuden die Breite der gesammten Kirche gehabt zu haben scheint)
wohl zu verbinden waren. — Endlich "kann man an diesen Gebäuden des
Basilikenstyles zwei verschiedene Stadien der Entwickelung nachweisen,
von denen die zweite Äne reichere Ausbildung der architektonischen An-
lage und einige, aber ndtsh ganz vereinzelte Motive des byzantinischen
Styles erkennen lässt; hierüber folgt das Nähere im Anhang.

Zu bemerken sind sodann noch einige besondere Veränderungen, die
mit mehreren dieser Gebäude vorgenommen sind. Mehrfach nämlich findet
sich (was jedoch auch in andern Gegenden Deutschlands häufig ist), dass

Kugler, Kleine Schriflcn. I. 35

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I ■ 562 Schlosskirche zu Quedlinburg etc.

am westlichen linde des Mittelschiffes, die ursprüngliche Anlage desselben
aufhebend, eine zweite grosse Nische, wie zur Einrichtung eines zweiten
Chores, angebaut ist; eine derselben (in der Kirche von Gernrode) scheint
bereits in eine sehr frühe Zeit zu gehören. Auffallender aber ist es, dass
man in einigen Kirchen kleine Kapellen eingebaut hat, welche ihrer Be-
schaficnheit nach nur zu Gruftkirchen bestimmt sein konnten: im einzelnen
Falle (ebenfalls in Gernrode) sogar in einer Kirche, welche überdies schon
eine Gruftkirche besass; so dass hieraus auf das grosse Bedürfniss nach
mysteriösen Functionen zur Zeit dieser Einbauten geschlossen werden darf.

Diese allgemeinen Bemerkungen dürften hinreichen, um uns nun zu
einer näheren Betrachtung der Schlosskirche von Quedlinburg anzuleiten,
welche im Folgenden vorgelegt werden soll.

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IJcschreibiing der Schlosskirche zu Quedlinburg.

Die Schlosskirche zu Quedlinburg ist eine ursprünglich flachgedeckte
Basilika mit Querschiff und hohem Chor, welcher letztere den gesammten
Raum des Querschiffes mit in sich begreift und durch das Gewölbe einer
ausgedehnten Unterkirche, des sogenannten alten Münsters, getragen wird.
Sie ist in jenem, zwar reichen, aber höchst alterthümlichen Style erbaut,
welcher dem ältesten deutschen Basilikenbau eigen ist und welcher noch
Nichts von den besonderen Eigenthümlichkeiten des sogenannten byzanti-
nischen Styles trägt. Nur der Chor, bis zu seiner Berührung mit dem
Querscliiff, zeigt die Formen des gothischen Baustyles und giebt sich dem-
nach als ein späterer Neubau zu erkennen; ausser diesem sind noch einige
Umänderungen, welche der modernen Zeit angehören, von den alten Bau-
theilen auszuscheiden. Das Material, aus welchem das Gebäude der
Schlosskirche aufgeführt ist, besteht aus dem ziemlich hartem Sandstein, der in
der Nähe von Quedlinburg selbst gebrochen wird; vermuthlich rührt es aus dem
sehr alten Bruch am „Steinholze'' her, der noch jetzt einen Reichthum von
Steinen enthält. Die folgende Beschreibung der einzelnen Theile möge
dazu dienen, ein näheres Bild des merkwürdigen Gebäudes zu entfalten.

1) Das Innere der Unterkirche oder des alten Münsters.

(Vergl. den beiliegenden Grundriss der Unterkirche.)

Die Grundrissform der Unterkirche bestimmt sich durch die darüber
befindlichen oder befindlich gewesenen KäumQ d«^ Oberkirche; sie ent-
spricht vollkommen dem ursprünglichen Chor lAd Querschiff der letzteren.
Die grosse Altarnische, am östlichen Ende des Hauptraums, hat dieselbe
Ausdehnung, welche der Altarnische des Chors in der Oberkirche — ana-
log allen erhaltenen Gebäuden eines verwandten Styles — angemessen sein
musste, ehe dieselbe durch den gothischen Neubau des Cliors vernichtet
ward; die kleineren Altarnischen an dem südlichen und dem nördlichen

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Das lunere der Uuterkirclie oder des alten Müiistors. 547

Ausbau (A B und C D) entsprechen noch gegenwärtig genau den Allar-
nischen des Querschiffes der Oberkirche,. Der Hauptranm der Unter-
kirche wird durch eine doppelte Säulenstellung ausgefüllt, welcher
entsprechend Halbsäulen in der Altarnische und an den Seitenwänden
angeordnet sind und denen sich, gegen das westliche Ende hin, einige
viereckige Pfeiler zugesellen. Eine Stufe erhebt den Raum der Altarnische;
zwei Stufen, die Mitte der Unterkirche durchschneidend, trennen den, dem
eigentlichen Gottesdienste gewidmeten Raum von dem minder heiligen
Vorräume, sowie wiederum die Ausbauten auf der Süd- und Nordseite
durch eine Stufe erhöht sind. Die Zugänge zu diesen Ausbauten werden
durch Bogenstellungen von starken Pfeilermassen und Säulen vermittelt.
Einfache Kreuzgewölbe, ohne Gurtbögen und Rippen, bedecken die Räume
der Unterkirche. Das
zierliche Portal (a), Avelches gegenwärtig vom Schloss-
hofe in die Unterkirche hineinführt, hat seine Gestalt zur Zeit des gothi-
schen Ueberbaues erhalten; eben so die beiden flachgewölbten Fenster
mit gothischem Stabwerk (m und n), welche zu den Seiten der Altarnische
befindlich sind. Sie sind in späterer Zeit vermauert worden, so wie auch
das kreisrunde P'enster in der Altarnische selbst, welches der ursprüng-
lichen Anlage anzugehören scheint. Jenem gothischen Portale gegenüber
(bei k) sieht man die Spuren einer älteren, "im Halbkreisbogen überwölb-
ten Thür, welche bereits zur Zeit des gothischen Umbaues vermauert, und
von der es nicht zu bestimmen ist, ob sie in's Freie, oder in anstossende
Gebäude des Stiftes geführt hat.

Das vorzüglichste Interesse erwecken die in der Unterkirche befind-
lichen Säulen und Halbsäulen. Ihre Schäfte sind der Mehrzahl nach rund,
nur einige wenige achteckig. Ihre Basen sind von attischer Form, so
zwar, dass der untere Pfühl bedeutend stärker ist, als
^ der obere, im Allgemeinen jedoch von einem guten Ver-
p hältniss und von einem lebendigen Schwünge in den
Linien des Profiles. Die Kapitäle sind sehr mannig-
faltig gebildet, grösseren Theils mit einem Blätterschmuck
nach Art des korinthischen Kapitäles, nur wenige von
der bekannten Form des unten abgerundeten Würfels
und mit verschiedenem Ornament versehen, eins mit
sorgfältig gearbeiteten Adlern, ein andres auf phantastische
Weise mit Masken und Schlangen geschmückt. Ueber
den Kapitälen ruht ein reiches Gesims (zur Unterlage der
Kreuzgewölbe), welches wiederum zumeist aus mannig-
fach wechselnden Gliedern zusammengesetzt und un-
streitig als eine Erinnerung an das antike (horizontale)
Gebälk, dessen Gesimse hier im engen Raurae zusam-
mengezogen erscheinen, zu betrachten ist. Als Haupt-
form findet sich unter den Gliedern dieser Gesimse ein
stark ausgebauchtes Karnies oder eine Hohlkehle mit gereiftem Stabe; eine
starke Platte krönt überall das Ganze. In mehreren Fällen jedoch ist die
Composition dieser Glieder einfacher gehalten und besteht nur aus einer
Platte und schräger Schmiege, wird dann aber durch reicheres Blätterorna-
ment wiederum mehr belebt. Die Sculptur des Ornamentes au den Kapi-
tälen und Deckgesimsen ist in verschiedener Art durchgeführt, — eines
Theils nämlich in jener einfachsten, uranfänglichsten Weise, welche kaum
anders, als eine sculptirte Zeichnung zu bezeichnen sein dürfte, indem die

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548

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Das lunere der Uuterkirclie oder des alten Müiistors. 549

Deckgesimse der Säulenkapiläle

(Überdies noch unsichern und schwunglosen) Linien derselben nur durch
abgeschrägte Vertiefungen und Erhöhungen dargestellt und somit keine
eigentlichen Reliefbildungen hervorgebracht werden; — andern Theils aber
sind sie nach den Gesetzen einer wirklichen, mehr oder minder vollkom-
menen Plastik ausgemeisselt. In letzterem Betracht sind vornehmlich jene
korinthisirenden Blätterkapitäle merkwürdig. Abgesehen von den Voluten
dieser Kapitale, welche theils kleiner, nach Art der wirklich korinthischen,
theils grösser, etwa nach Art der römischen Kapitale gehalten sind, zeigen
ihre Blätter zumeist eine einfache, breite Form, mit einem Zapfen am oberen
Ende, so dass sie ungefähr der Gestalt unserer Dachziegel zu vergleichen
sein dürften. Doch scheint es, dass diese rohe Bildung zur Ausführung
eines anderweitigen, reicheren Schmuckes bestimmt war. Wenigstens sieht
man an den Kapitalen zweier Halbsäulen (Grundriss,
cc und ß) in einem
jeden dieser grösseren Blätter, auf vertieftem Grunde, wiederum eine, wenn
auch nicht vollkommen genaue, so doch feine und saubere Blättersculptur
ausgearbeitet und auch jene Zapfen zu einem feinen Blattwerk ausgemeis-
selt, so dass hiedurch eine gewisse Aehnlichkeit mit denjenigen ägyptischen
Kapitalen entsteht, in welchen sich auf den grossen Lotosblättern ein fei-
neres Laubwerk hinzieht. An dem einen dieser Kapitale aber (Säule a)
bewahrt eins der Blätter noch jene oben beschriebene rohere Form, auf
welcher sich nur erst die Zeichnung des feineren Blätterschmuckes leicht
eingeritzt vorfindet. Dass überhaupt die Arbeit an den Kapitälen der Unter-
kirche nicht gänzlich vollendet worden, geht noch aus einigen andern Um-
ständen hervor: an dem Kapitäl der Halbsäule
S gewahrt man an den roh
geformten Blättern noch die deutlichen Spuren der Meisselschläge; und
ebenso zeigt es sich an dem, mit einfacher Bandverschlingung verseheneu
Würfelkapitäl der Halbsäule
s (und zwar an den Füllungen der unteren
Ecken) auf die augenscheinlichste Weise, dass eine angefangene Arbeit
unterbrochen wurde. Endlich ist noch der auffallende Umstand zu bemer-
ken, dass die Blätterornamente an den Deckgesimsen der Halbsäulen y und
(3 einen so vollendeten Schwung der Zeichnung, eine so feine Ausbildung
des Reliefs erkennen lassen, wie dergleichen an keinem Theil der in Rede
stehenden Architektur vorkommt, ohne dass jedoch der Anschein vorhan-
den ist, dass diese Stücke später eingefügt seien, und ohne dass die ver-
schiedenartig rohere Arbeit der übrigen Theile nur als die Anlage zu ähn-
lich vollendeter Ausführung irgend betrachtet werden darf. Ohne Zweifel
hat man dies als den in späterer Zeit unternommenen Versuch einer Ueber-
arbeitung zu betrachten. ~ Bei den Viertelsäulen, welche in den Winkeln

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I

Schlosskirche zu Quedlinburg etc.

des nördlichen und südlichen Ausbaues (A B und C D) vorhanden sind,
bemerkt man eine ähnliche Ausbildung des Details, wie bei den ebenbe-
sprochenen Säulen und Halbsäulen, so jedoch, dass hier in den Kapitalen
jene einfachere Bildungsweise (einer nur sculptirten Zeichnung) durchweg
vorherrscht.

Beträchtlich verschieden von der Detail-Bildung der gesammten so eben
besprochenen Anlage und als das Zeugniss eines späteren Umbaues erscheint
der Pfeilerbau im Westen der Unterkirche, zunächst die Reihe der beiden
freistehenden Pfeiler rj und Q- und der Halbpfeiler g und t, soweit letztere
an die grösseren Pfeilermassen, welche die Ausbauten von dem Hauptraume
absondern, angelehnt sind. Nicht nur verräth das Kämpfergesims dieser

Pfeiler eine wesentlich verschiedene Formation, indem
es nur aus Viertelstäben und Plättchen zusammenge-
setzt ist, und diese sowohl in der Bildung als vor-
nehmlich in der Ausführung höchst nachlässig behan-
delt sind; auch der Stein ist hier von andrer Beschaffen-
heit (ein schlechter, weicher Sandstein, während an den
übrigen Theilen durchweg ein Sandstein von trefflicher
Textur gefunden Avird), und die beiden Halbpfeiler §
und i sind an die erwähnten grosseren Pfeilermassen,
wie sich aus den Fugen der Steine aufs deutlichste
ergiebt, nur angelehnt, nicht mit ihnen in durchgeführ-
tem Verbände, so dass sie keinesfalls zu der ursprüng-
lichen Anlage gehören können. Dasselbe Kämpferge-
sims ist auch bei der Bogenstellung
% X (i fortgesetzt,
so dass auch diese als ein späterer Umbau erscheint. (Ueber die ent-
sprechende Bogenstellung auf der Nordseite ist kein Urtheil abzugeben, da
diese, wie aus dem Grundriss ersichtlich, in moderner Zeit vermauert ist,
um aus dem gesammten nördlichen Ausbau, C D, zwei verschlossene Ge-
mächer zu gewinnen.) Die Säule I unterscheidet sich ebenfalls von den
übrigen Säulen der Unterkirche ; ihr Kapital, von einer gänzlich abweichen-
den Form, entspricht jenen Säulen, welche man im SchitF der Krypta der
StWipertikirche bei Quedlinburg findet [vergl. unten]und ihre Basis hat
ein ungleich höheres Verhältniss der Kehle, als es au den übrigen Säulen
dieses Baumes der Fall ist. Uebrigens gehört dieser Umbau, wie sich mit
Bestimmtheit aus der Formation des besprochenen Kämpfergesimses ergiebt,
noch in die Periode des sogenannteu byzantinischen Baustyles. — Als ein
noch späterer, vielleicht erst in moderner Zeit hinzugefügter Zusatz erschei-
nen die beiden noch ungleich roheren Pfeiler
v und und mit ihnen gleich-
zeitig das schlechte Kappengewölbe, welches diesen w-estlichen Theil der
Unterkirche bedeckt.
 1

In der östlichen Hälfte der Unterkirche, gegen den heiligeren Raum
des Altares hin, sieht man verschiedene Spuren einer reichen Malerei, mit
■welcher hier die Gewölbe geschmückt Avaren. Sie scheinen an sich schon

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Hieraus ist jedoch nicht der etwaige Beweis zu entnehmen, dass der Bau
der Krypta der St. Wipertikirche mit dem Umbau, welcher in der Unterkirche
des Stiftes Statt gefunden, gleichzeitig sein müsse. Es kann im Gegentheil sehr
%vi)hl möglich seiu, dass mau für die in Hede stehende Säule (A) ein älteres Ka-
])itiil benutzt habe, was hier in der Tliat der wiederum härtere Stein, daraus
dasselbe gearbeitet ist, sehr wahrsclieinlich macht.

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Das lunere der Uuterkirclie oder des alten Müiistors. 551

mannigfach beschädigt gewesen zu sein, und sind nachmals durch darüber
gestrichene weisse Tünche verdeckt worden. Doch schimmern an einigen
Stellen noch die Farben der heiligen Gestalten durch die Tünche hervor;
und an andern Stellen, wo die Tünche wieder abgefallen ist, sieht mau
grosse Theile der zwar blassen, aber deutlich erkennbaren Unterzeichnung,
zum Theil sogar in dieser die Reste reichcomponirter historischer Darstel-
lungen (vermuthlich aus der Apokalypse oder Aehnliches). Der Styl dieser
Zeichnungen ist in byzantinischer Weise, zwar streng, doch edel und
grossartig gehalten, etwa in der Art, wie wir die schöne Eütwickelung die-
ses Styles um den Schluss des zwölften Jahrhunderts aus anderweitigen
Monumenten (deren namentlich auch der Zitter der Schlosskirche sehr wich-
tige bewahrt) kennen lernen.

Vor dem Altar und vor jener Stufe, welche den Raum der Altar-Nische
erhöht, sieht man zwei Gräber. Südlich das Grab König Heinrich's 1. (g),
dessen Platte von Marmor, aber an einer Seite zerbrochen und in den Brü-
chen mit Gypskalk ausgefüllt ist; sie ruht nicht auf dem Boden, sondern
ist in eine eichene Bohle eingefasst, welche durch vier kurze Pfosten
getragen wird, die ebenfalls auf einer dicken eichenen Bohle stehen, welche
das Grab deckt. Daneben nördlich (f) ist, nach gewöhnlicher (aber unhalt-
barer) Angabe, das Grab der Königin Matliilde, der Gemahlin Heinrich's,
dieses durch einen einfachen gewöhnlichen Sandstein gedeckt, der unmittel-
bar auf dem Boden aufliegt. Hinter diesen beiden Gräbern liegt ein dem
letzterwähnten ähnlicher Grabstein (d), welcher angeblich das Grab der
Aebtissin Mathilde, der Tochter Otto's des Ersten, bezeichnet. An dem
Ende des letztgenannten bemerkt man noch eine kleine viereckige Erhöhung,
welche gegenwärtig als das Grab des Hündchens Quedel benannt zu wer-
den pflegt, das nach einer Sage der Stadt ihren Namen verschafl't haben
soll. Zwei andre Grabsteine (b und c) liegen zunächst vor der Eingangsthür.

In dem südlichen Ausbau (A B) befindet sich eine Thür (1), welche

früher auf eine freie
Plattform hinausgeführt
hat, wie sich aus den
vollständigen und auf
eine freie Ansicht be-
rechneten Basamenten,
die hier die Aussenwaud
der Kirche schmücken,
deutlich ergiebt; ge-
genwärtig führt diese
Thür in einen später
angebauten Bodenraum.
Bei B beginnt eine ziem-
lich beschädigte Treppe,
welche in die sogenann-
te Marterkammer (jetzt
dem Anscheine nach
nichts als zwei ne-
beneinander befindli-
che Kellerräume) hin-
abführt. Zur Seite die-
Aus de, Bu.skapdic. '^'''Cppe ist abcr noch

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552

Schlosskirche zu Quedlinburg etc.

ein kleines höchst interessantes, kapellen-artiges Gemach (i), welches an
der Ostseite eine eigene kleine Altar-Nische hat und mit einem. Tonnen-
gewölbe überdeckt ist. Der Zugang zu demselben wird durch eine ofl'ene
Bogenstellung von kleinen Zwergsäulen gebildet, deren Kapitale eine, im
Mittelalter sehr seltene Form zeigen. Sie haben nämlich vollständige io-
nische Voluten, nur nicht (wie es bei der Antike der Fall ist) nach oben
hinaus, sondern nach unten gewunden und durch einen einfachen Blatt-
schmuck verbunden. Das Deckglied dieser Kapitale, von schräger Form,
ist beträchtlich "hoch und weit vorgekragt, um der Stärke des Bogens, den
es zu tragen hat, angemessen zu sein; es ist ebenfalls mit einem flachen
Blätterschmuck versehen. Man hält dies Gemach für eine Busskapelle;
einige auch für den Ort, In welchem der Bischof Bernhard von Halberstadt
eine Zeit lang gefangen sass, als er die Stiftung des Erz-Bisthums Magde-
burg nicht gestatten wollte i). Am Ausgange der Treppe endlich, vor dem
Eintritt in die Marterkammer, ist eine Oetfnung in der gegenüberstehenden
Mauer, in welcher man Gebeine gefunden hat, die man für die Reste einer
eingemauerten Nonne halten zu dürfen glaubte.

2) Das Innere der Oberkirche.

(Vergl. den beiliegenden Grundriss der Oberkirche.)

Dasselbe zerfällt, wie bereits bemerkt, in die beiden Räume des Schif-
fes und des über der Unterkirche ruhenden hohen Chores, welcher das
Querschiff mit in sich einschliesst. Au der Westseite der Kirche schliesst
sich der Thurm und der daneben befindliche, gegenwärtig abgesonderte
Raum dem Schiffe an.

Das Schiff' wird durch zwei Bogenstellungen, in welchen je zwei Säu-
len von bedeutender Dimension mit einem viereckigen Pfeiler we'chseln,
in die Räume des Mittelschiffes und der Seitenschiffe gesondert. Diese
Einrichtung, in welcher vornehmlich die grossartige Schönheit des Basili-
ken-Baues beruht, tritt gegenwärtig nicht mehr klar vor die Augen des
Beschauers, indem die gesammte Bogenstellung durch die, nach Annahme
der Reformation angeordnete Einrichtung der Priechen oder Elmporen auf
eine höchst unschöne und allen würdigeren Eindruck vernichtende Weise
verbaut ist. Auch hat dieser Einbau den Säulen und Pfeilern selbst be-
trächtlichen Schaden zugefügt, indem die Deckgesimse derselben bei dieser
Gelegenheit durchweg vertilgt, die Kapitäle mannigfach verletzt oder mit
Kalk oder Stuck verschmiert worden sind. Zwei von den Säulen (1 und m)
wurden dabei sogar ihres gesammten Obertheiles beraubt^) und der Bogen
über ihnen erweitert, um den an ihrer Stelle aufgeführten Zimmern der
Aebtissin und Priorin eine bequeme Ausbreitung zu vqrstatten. Die Ka-

1 ,

[

n Winnigstäd t's Halberstädt. Chronik bei Abel, S. 268: „Darum ward
der Kaiser unmuths über ihn, Hess ihn zu Quedlinburg ins Gefängniss setzen,
in ein Gewölbe, da itzt eine Kapelle ist, und heisst noch S. Nicolai in vinculis,
unter der Treppen in der Schlosskirche, darinnen sass er beinahe ein Jahr."
Vergl. F ritsch, I, S. 70 ff. Hauptqnelle der Erzählung ist Chron. Halb, bei
Leibn. II, p. 115.

Die Kapitäle derselben sind vielleicht erhalten worden. Wenigstens sieht
man am Fusse des Schlossberges, vor dem Hause, in welchem Klopstock geboren
wurde, zwei umgestürzte Kapitäle von ähnlichem Style und einer, wie es scheint,

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Das Innere der Oberkircbe. 553

pitäle der Säulen scheinen grösseren Theils, wie aus einigen erhaltenen
und aus den Spuren an andern geschlossen werden darf, mit je \ier gros-
sen Adlern verziert gewesen zu sein. Eins dieser Kapitale ist an seinem

unteren Theile mit Blatt-
werk geschmückt, und hat
darüber vier kleinere Vögel
auf den Ecken und noch
kleinere zwischen diesen.
Die Kapitale der beiden,
am westlichen Ende des
Schifles stehenden Säulen
(Grundriss, (n und o) sind
von der Form eines unten
abgerundeten Würfels und
theils mit den, in flachem
Relief gearbeiteten Figuren
vierfüssiger Thiere, theils
mit ornamentistischemZier-
rat und fabelhaften Men-
schenköpfen verziert. (Der
achteckige Schaft der einen
dieser Säulen, o, erscheint
als Restauration späterer Zeit.) Die technische Ausführung der Kapitale
steht etwa mit den einfacheren Bildungen der ünterkirche auf gleicher
Stufe, nur erscheinen sie noch um ein Bedeutendes roher. Letzteres könnte
jedoch zum Theil dem grösseren Maassstabe, in welchem sie ausgeführt
sind, zuzuschreiben sein; denn ohne Zweifel besassen die Steinmetzen —
wie ein verwandtes Verhältniss in der Malerei jener frühen
Jahrhunderte ganz allgemein gefunden wird — nur ein be-
stimmtes Schema für die Arbeit, welches bei kleineren Maassen
den Gegenstand natürlich sauberer, bei grösseren Maassen schwer-
fälliger erscheinen lassen musste. — Die Basen der Säulen sind,
wie bei der Unterkirche, von attischer Form, doch ebenfalls
minder angenehm gebildet, indem bei ihnen die Kehle im Ver-
hältniss zu den beiden Pfühlen ein beträchtlich überwiegendes
Höhenverhältniss hat. Die Pfeiler dagegen (deren Deckge-
simse, wie die der Säulen, gegenwärtig nicht mehr vorhanden
sind) haben attische Basen von einer ungleich reineren Form.

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V ■

Ueber den eben besprochenen Bogenstellungen erheben
sich sodann die Wände des Mittelschiffes, in welchen sich die
Fenster befinden, die dem letzteren das Licht zuertheilen.
Säulenbasis. Unter den Fenstern läuft ein Gesims, als Fortsetzung des

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ähnlichen Dimension, welche den hölzernen Säulen des Altanes zur Basis dienen.
Vielleicht gehören diese den in Rede stehenden Säulen au. — Noch ein andres
merkwürdiges Säulenkapitäl fand sich auf dem Boden der Schlosskirche; dies ent-
hält eine, zwar rohe und mit der Technik der übrigen ältesten Bantheile der
Kirche übereinstimmende, aber vollständige Nachahmung der antik-ionischen Ord-
nung, sogar mit dem Eierstabe unter den Schnecken, — ein Umstand, der die-
sem Architektur-Fragment einen in seiner Art einzigen Werth, für dio älteste
deutsche Baugeschichte geben dürfte.

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554 Schlosskirche zu Quedlinburg etc.

Kämpfergesimses der Pfeiler im Kreuz der Kirche, hin. Es
hat dieselbe Form wie dieses: Platte und schrägt Schmiege,
nur minder ausladend, und war ohne Zweifel, gleich jenem,
mit eingemeisselten Verzierungen versehen, die gegenwärtig
verschmiert sein dürften. Die Fenster selbst sind die der
alten Anlage, im Halbkreisbogen überwölbt und ursprüng-
lich mit einer gegliederten Einfassung versehen. Diese
Einfassung besteht, wo sie erhalten ist, ebenso wie im
Aeusseren des Mittelschiflfes (vergl. unten), aus einer, in
eine vertiefte Ecke eingelassenen Säule, die in gleicher
Form auch am Bogen umhergeführt ist. An den meisten
Stellen ist diese ursprüngliche Einfassung auf eine rohe
Weise umgeändert oder vielmehr, wie es scheint, mit Kalk
verschmiert, indem überall noch die Spuren der Basen jener
Säuleu wahrzunehmen sind.

Gegenwärtig ist das Mittelschiff mit einer flachgewülbten Bretterdccke
verseilen. Im Boden desselben, welcher gegenwärtig zumeist von Kirchen-
stühlen bedeckt ist, führt (bei d) eine Treppe in die sogenannte Fürsten-
gruft hinab. 0

Die Wand des südlichen Seitenschiffes ist ein Neubau aus neuerer Zeit.
Es befindet sich an ihr eine Inschrift auf eherner Tafel, des Inhalts, dass
die Mauer wegen schlechtgelegten Grundes im Jahr 1708 den Einsturz ge-
droht habe, und darum völlig neu gebaut worden sei — Die "Wand des
nördlichen Seitenschiffes ist die des alten Baues; aber die in derselben
befindlichen Fenster sind ebenfalls in neuerer Zeit erweitert worden. —
An den alten Querwänden, welche auf der östlichen Seite beide Seitenschiffe
von der Unterkirche trennen, bemerkt man die Spuren vermauerter, im
Halbkreisbogen überwölbter Thüren, durch die sie ursprünglich mit der Un-
terkirche verbunden waren.

An den Wänden der Kirche finden sich Leichensteine angelehnt, welche
mehreren älteren Aebtissinnen angehören. In artistischer Beziehung ist vor-
nehmlich der älteste derselben, der der Aebtissin Agnes, Tochter des Mark-
grafen Conrad von Meissen (st. 1203), merkwürdig. Er steht in dem süd-
lichen Seitenschiff, nach dem Chore zu, aufgerichtet und zeigt die Gestalt
dieser Aebtissin in ihrer geistlichen Tracht, die in einem, zwar einfach
strengen byzantinischen Style, jedoch ohne das manieristisch Trockne des-
selben, vielmehr zugleich in einer edlen und würdigen Weise ausgeführt
ist. Das Gesicht vornelimlich lässt bereits ein feines Formengefühl erkennen,
und namentlich ist hier die Augenpartie in löblicher Weise gearbeitet, die
Nase leider beschädigt. Der Grabstein führt folgende Umschrift:
Spiritus Agnetis teneat loca certa quietis,
Nil perhorrescat, placida sed pace quiescat.
l^r reiht sieh somit den, aus der Periode der Aebtissin Agnes herstammenden

I

') Die Fürstengruft ist ein unter der bekannten Pröpstin, Gräfin Aurora
Kijnigsinark (gest. 1728) erbautes Grabgewölbe. Die in derselben beigesetzten
Leichen sind unverwest erhalten. Jn dem Mumien-Aiitlitz der Erbauerin erkennt
man noch heute die einst hochgefeierte Schönheit.

„Sub regimine — dominae Mariae Aurorae Koeuigsaiark — murus hic
ob fuudamentum oliin male jactum admodum ruinosus, dirutus et fuudamento
posito — denuo exstructus. 1711"

1-
3

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Das Innere der Oberkirche. 555

Kunstwerken an, von denen weiter unten die Rede sein wird, und in denen
sich der Schwung einer eigenthümlich lebendigen und für die allgemeine
deutsche Kulturgeschichte sehr beachtenswerthen Kunstbltithe zu erkennen

giebt. !

Aus dem Mittelschiff führen zwei Treppen von bedeutender Höhe zu ;

dem hohen Chore empor. Zwischen ihnen befindet sich eine, noch gegen- /

wärtig praktikable Thür, welche zur Verbindung mit der Unterkirche dient, |

und über welcher die in moderner Zeit ausgeführte Kanzel (c) angebracht ist. f

Das Querschiff gehört im Wesentlichen noch der alten Bauanlage an. s

Im Kreuz, wo sich Querschiff und Mittelschiff durchschneiden, waren grosse
Bögen zur Verbindung und zum gegenseitigen Zusammenhalt des ganzen
 j

Gebäudes aufgeführt und von vorspringenden Wandpfeilern getragen. Von
diesen Bögen haben sich aber nur noch der westliche und der östliche er- . f

halten; der nördliche und der südliche sind nicht mehr vorhanden, obgleich .

die für sie bestimmten Wandpfeiler noch unversehrt dastehen. Das Kämpfer-
gesims dieser Pfeiler besteht, wie schon oben bemerkt, aus einer Pla^;te und
schräger Schmiege und war ursprünglich, wie im Mittelschiff, so auch an
den Wänden des Querschiffes umhergeführt. So läuft es noch gegenwärtig
durch die Nische des südlichen Kreuzflügels, wo es die Halbkuppel der-
selben unterwärts begränzt. Dies Gesims ist mit roh eingemeisselten Or-
namenten versehen, welche sich aus vertieftem Grunde (fast nach jener
uranfänglichen Weise, wie die koilanaglyplüschen Reliefs der ägyptischen
Kunst) erheben und aus Blattwerk, Bandverschlingungen und Vogelgestal-
ten bestehen. Sie entsprechen ganz jenen Ornamenten, mit welchen das
Dachgesims am Aeusseren der Kirche verziert ist.

Beide Flügel des Querschiffes werden von dem mittleren Räume des-
selben durch nicht hohe Wände abgetrennt. Die nördliche Wand (qr) be-
sitzt einen, wie es scheint, reichen Schmuck von Reliefs, welcher gegen- |
wärtig durch Kalk oder Stuck verschmiert ist, dessen Spuren man jedoch |
noch hinter einem, vor dieser Wand angebrachten hölzernen Gestühle be- v
merken kann. Wie sich aus diesen Spuren und aus dem verschiedenartigen \
Schall vermuthen lässt, den die Wand, wenn man über sie hinklopft, von ;
sich giebt, so scheint diese Verzierung durch ein Rahmen-artiges Täfelwerk ]
in verschiedene tiefere Felder gesondert zu sein. Auch die südliche Wand
scheint einen ähnlichen Schmuck unter dem gegenwärtig vorhandenen An-
putz zu besitzen.

Der südliche Kreuzflügel bildet eine eigne geräumige Kapelle. Die
Fenster an der Südwand desselben sind neueren Ursprungs, ebenso, wie es
scheint, die Thür (p), welche diesen Flügel mit den anstossenden Priechen
verbindet. Sehr interessant ist dagegen das Fenster, welches sich hier in
der Nische über dem Altar (b) befindet. Es ist von einer verhältnissmässig
nicht unbedeutenden Weite der Oeftnung, nach aussen zu mit einem Halb-
kreisbogen überwölbt, welcher jedoch nach innen in die Form eines Spitz-
bogens übergeht. Hier, an der inneren Seite, ist es mit schlanken Säulchen,
die mit gewundenen Reifen geschmückt sind, versehen. Dies Fenster dürfte
demnach in die Periode des Ueberganges aus dem byzantinischen in den
gothischen Styl gehören und als ein sonderbares Beispiel solchen Ueber-
ganges Beachtung verdienen.

Der nördliche Kreuzflügel hat in seinem inneren Räume eine abweichende
Einrichtung. Er wird, in der Höhe der genannten Wand, die ihn von dem
Mittelraume absondert, durch zwei niedrige Gemächer ausgefüllt, über denen

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I ■ 556 Schlosskirche zu Quedlinburg etc.

sich sodann ein grösserer Raum (gegenwärtig durch einen hölzernen Ver-
schlag von dem olfenen Kirchenraume abgesondert) erhebt, und zu dem
man durch eine, in der ehemaligen Altarnische angelegte Treppe (g) ge-
langt. Doch nur die unteren Gemächer, oder vielmehr nur das zweite von
ihnen, erwecken das Interesse des Alterthumsforschers. Das erste Gemach
nemlich, in welches man hier von der Kirche aus eintritt (e) ist die Sa-
kristei, das zweite der sogenannten Zitter (f)Oj in welchem seit uralter
Zeit die Kostbarkeiten des Stiftes aufbewahrt werden. Das Gemach des
Zitters enthält eine Stellung von vier, nicht hohen Säulen, über welche
sich eine einfach kreuzgewölbte Decke hinspannt, die nach den Wänden
zu nicht auf Halbpfeilern, sondern auf frei vorspringenden Consolen (aus
Platte und grossem Yiertelstabe gebildet) aufliegt. Die Säulen haben eini-
ges Unterscheidende von den übrigen in der Kirche, namentlich der Unter-
kirche, vorhandenen, was insbesondere aus den Bildungen der Kapitale
hervorgeht. Diese sind sämmtlich verschieden: das eine ist ein, an den
unteren Ecken roh abgestumpfter Würfel; das zweite eine feiner ausgebildete
Würfelform derselben Art, mit halbkreisrunden Verzierungen auf den Seiten-
flächen ; das dritte von ähnlicher Grundform, aber mit reichem Blätterwerk
von flachem Relief geschmückt, welches — das einzige Beispiel in dem
gesammtenBau — in den eigenthümlich geschweiften, typisch wiederkehren-
den Linien des entwickelten byzantinischen Styles gebildet ist; das vierte

Kapitäl endlich ist, ebenfalls auf
abweichende Weise, mit breiten,
gereiften und weit abstehenden
Blättern verziert. Auch die Deck-
glieder über diesen Kapitalen sind
anders als die in der Unterkirche
vorkommenden, von einfacherer
Bildung und ihrem Zweck, als
Vermittelung zwischen Kapitäl
und Gewölbe, mehr angemessen.
Aus diesen Umständen ist mit
grösster Wahrscheinlichkeit zu
schliessen, dass der Bau des
Zitters nicht mit der älteren An-
lage gleichzeitig ist, sondern einer
späteren Zeit angehört, in welcher
der byzantinische Styl bereits zu
einer gewissen Entwickelung ge-
diehen war. — Von den in dem Zitter aufbewahrten Alterthümern wird
weiter unten ein ausführlicher Bericht gegeben werden. i

1

i'f" .

') Der Name Zitter (auch Cither, Syttere, Syntero; u. a. geschrieben),
welcher sich vornehmlich bei norddeutschen Hochstifterni, wie Quedlinburg,
Halberstadt, Magdeburg, Gandersheim, vorfindet, wird nach der gewöhnlichen,
obgleich nicht genügend begründeten Annahme von Secretarium abgeleitet, wo-
raus Setarium, Setar, dann Syttere und die übrigen gebräuchlichen Formen her-
vorgegangen seien. Die eigentliche Bedeutung des Wortes ist noch sehr im
Unklaren, Vgl. die Notizen von Stock und Wiggert in L. v. Ledebur's
Allgemeinem Archiv für die Geschichtsknnde des
PrHuss. Staates, Bd. X.
S. 175 ff. — (Kratz, der Dom von Ilildesheim, II. , S, V, leitet Zitter von
Exedra her.) i

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Das Innere der Oberkirche. 557

Der Chorschluss ist, wie bereits bemerkt, in gothischen Formen von :

ziemlich einfacher Art gehalten und ein Umbau späterer Zeit. Nur die
Säulchen, welche in den Ecken desselben zum Tragen der Gewölbgurte
dienen, geben seinen Formen in Etwas ein zierlicheres Ansehen. Der an
dieser Stelle befindliche Hochaltar ist in den Zeiten der modernen Kunst
von einer brillanten, perspectivisch verjüngten hölzernen Kolonnade um- f

geben worden.

Endlich ist nocli der Raum, welcher' sich westlich an'das Schiff der !

Kirche anschliesst (J), in Betrachtung zu ziehen. Er bildete ursprünglich '

eine nach dem Schiff zu geöffnete Halle, über welcher sich eine gleichfalls
offene Loge oder Empore befand. Nach der Seite des Schiffes zu ist dies -

Alles durch eine später aufgeführte Mauer verdeckt; im Inneren dagegen. t

sind die Reste der ursprünglichen Einrichtung noch vorhanden und trotz ?

der späteren Umänderungen deutlich zu erkennen. Ohne Zweifel wurden
diese Räume früherhin auf ihrer Südseite ebenso von einem Thurme be- •"

grenzt, wie ein solcher noch gegenwärtig auf der Nordseite (der einzige f

Thurm der Kirche) vorhanden ist. Ob eine solche Einrichtung aber be-
reits in der ursprünglichen Anlage dieser Räume vorhanden, oder ob die
Halle und die Loge hier nicht vielleicht, statt der Thürme, mit gewissen
Seitenräumen von ähnlicher Beschaffenheit verbunden waren , lässt sich
nicht mehr mit Bestimmtheit entscheiden. Bei dem nachmaligen Verlust K

des südlichen Thurmes dürfte sodann auch die südliche Wand der Halle
(v w) aTifgeführt sein, welche weiter nach innen vorspringt als die gegen-
überstehendeWand (s t), und welche an ihrer Seite die ursprüngliche Ein-
richtung jener Räume beeinträchtigt hat. — Die untere Halle ist gegenwär- i
tig durch eine horizontale Decke in zwei Geschosse gesondert, von deneu
das unterste als Holzremise, das obere als Archiv-Gewölbe dient. Nach |
dem Schiff der Kirche zu war sie durch zwei grosse Bögen geöffnet, welche
in der Mitte ohne Zweifel von einem Pfeiler getragen wurden, dessen
Kapital man durch einen später vorgebauten Pfeiler (u) nur zum Theil
verdeckt sieht. An den schmaleren "Wänden (wie noch jetzt bei s t) trat
nur ein Bogen hervor. In den Ecken befanden sich Säulen, welche zum
Tragen des älteren Gewölbes bestimmt waren; die noch vorhandenen Säu-
len (s und t) sind an ihren Kapitalen mit gewundenem Blätterschmuck: ver-
ziert und mit reichgegliederten Deckgesimsen versehen. — Ungleich reicher
war die Loge geschmückt, welche sich über dieser Halle erhob und in
welcher gegenwärtig die Bälge der Orgel aufgestellt sind. Die Massen dieses
Geräthes, sowie das geringe Licht, welches hiereinfällt, lassen jedoch
nur mit Mühe die ursprüngliche Einrichtung dieser Loge erkennen. Sie
war nach dem Raum des Kirchenschiffes zu durch eine Bogenstellung ge-
öffnet, welche aus einem Pfeiler in der Mitte und einer Säule auf jeder
Seite desselben bestand; man sieht die eine dieser Säulen, halbeingemauert,
den Pfeiler und die Linien der zu ihnen gehörigen Bögen noch vollständig
erhalten. Das Kapitäl der Säule ist, im Styl der übrigen Säulenkapitäle
des Gebäudes, mit drei Reihen von Blättern geschmückt; von dem Kapitäl
des Pfeilers ist noch die eine Hälfte, mit einer rohen Thierfigur verziert,
vorhanden. Ueber dem Pfeiler sieht man ferner einen Kragstein, mit einer
f ;;
eigenthümlichen Bandverschlingung (der bekannten griechischen Wellenver-

(

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k

') Vergleiche hiezu, was im „Anhang" über die tirspriingliche Beschaffen-
heit der Kirche von (rernrode gesagt ist.

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558 Sclilosskirche zu Quedlinburg etc.

zierung nicht unähnlich) geschmückt, auf dem die Gurte des Kreuzgewölbes,
welches ursprünglich die Loge überdeckte, aufsetzten; ebenso erkennt man
an den Wänden rings die grossen Halbkreisbögen , — zwei an der breiteren
Wand nach der Kirche zu, einen an der schmaleren Wand, — in denen
das Kreuzgewölbe den Wänden angefügt war. Unter diesen Bögen des
ehemaligen Gewölbes läuft rings an den Wänden ein Fries mit ziemlich
stark ausladenden ornamentistischen Figuren umher, deren Form und Be-
schaffenheit jedoch bei der ungünstigen Lokalität nur schwer zu erkennen
ist; man findet unter ihnen einzelne phantastische Menschenköpfe, ähnlich
denen, welche bei einigen Säulenkapitälen des Kirchenschiffes (n und o)
angeführt wurden. — Die Vermauerung dieser interessanten Räume dürfte
der modernen Zeit zuzuschreiben sein, und ist vielleicht gleichzeitig mit
dem Untergang des südlichen Thurmes.

In solcher Weise stellt sich uns das gesammte Innere der Schlosskirche,
wenn wir uns dasselbe nach seiner ursprünglichen Einrichtung und von
allen Veränderungen späterer Zeit frei, vergegenwärtigen , als das Bild
einer, im Einzelnen zwar noch beträchtlich rohen, im Ganzen aber höchst
grossartigen und bedeutsamen Pracht und Majestät dar. Im Westen die
Vorhalle und darüber die reichgeschmückte Loge, welche unstreitig zum
Aufenthalt hoher Gäste, namentlich des kaiserlichen Hofes, bestimmt war;
dann die stolzen Colonnaden des Schiffes, in welchem die Gemeinde betend
kniete, weiterhin der erhabene Chor, dessen Seitenwände durch die Sitze
der Stiftsfräulein ausgefüllt wurden, und endlich, statt der leeren gothischen
Fenster, die hochgewölbte Nische des Hochaltars; — nehmen wir dann
den Schmuck der Farben hinzu, womit zu jener Zeit sämnitliche Einzel-
heiten der Architektur versehen wurden; die Malereien, die sich an den
oberen Wänden des Mittelschiffes hinzogen und die in der Nische des
Hochaltares das kolossale Bildniss des Erlösers, die Heiligen der Kirche
zu seinen Seiten, darstellten; dann die gemalten Gläser in den zierlichen
Umfassungen der Fenster, die gewirkten Teppiche, welche über den Sitzen
der Stiftsfräulein aufgehängt waren; endlich die gesammte feierliche Pracht
des alt-katholischen Gottesdienstes, dessen Ceremoniel im wesentlichen Ein-
klänge mit Umgebungen gerade solcher Art steht; — to tritt uns in alle dem
das Leben verschwundener Zeiten in einer Bedeutsamkeit entgegen, spricht
der Geist unserer Vorfahren in einer Weise zu uns, welche unser Gemüth
mit den heiligsten Schauern zu erfüllen geeignet ist.

3. Das Aeussere der Schlosskirche.

Wir betrachten vorerst diejenigen Theile, welche der älteren An-
lage angehören. Als der bedeutsamste Theil stellt sich demjenigen, welcher
den Schlosshof betritt, zunächst die hohe Fronte des nördlichen Kreuzgie-
bels dar. Derselbe ruht auf einem erhöhten Basament jvon attischer For-
mation, von welchem, in der Mitte und in den Füllungen der Ecken,
schlanke Halbsäulen bis zu dem, aus kleinen Rundbögen zusammengesetzten
Friese, der das (neuere) Giebeldreieck von der Hauptmasse der Wand
sondert, emporlaufen. Diese Säulen sind mit einer Art von Voluten-
kapitalen versehen. In den Rundbögen bemerkt man eine schwach
eingemeisselte Zickzack-Verzierung. An dem unteren Theile der süd-
lichen Giebelfrout, wie man denselben in jenem Bodenräume, in den man
durch die Thür der Unterkirche (Grundriss, 1.) eintritt, in seiner alten

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Das Aeussere der Schlosskirche. 559

Gestalt erhalten sieht, bemerkt mEn dasselbe Büsament
und die Anfänge ähnlicher Halbsäulen. •

Die Wand des nördlichen Seitenschiffes hat —
ausser demselben attischen Basament — zunächst dem
Kreuzgiebel eine ähnliche, bis zum Gesims empor-
laufende Halbsäule und eine zweite zwischen dem
ersten und zweiten Fenster (beide ebenfalls mit einem
Volutenkapitäl versehen). Von da ab sind jedoch keine
Halbsäulen weiter vorhanden, und es ist keine Spur^
dass dergleichen später fortgemeisselt sein könnten, was
sich vornehmlich aus der Formation des rundbogigen
Gesimses ergibt. Hier ist nemlich nirgend weiter zwi-
schen den scharf zusammenstossenden Rundbögen jener
breitere Zwischenraum zu finden, welchen der Ansatz
einer Säule erfordert. Auch ist zu bemerken, dass von
jener zweiten Halbsäule ab (an einer spätem Stelle
noch einmal) das attische Basament höher gerückt ist.
Wenn auch vielleicht nicht aus dem letzten Umstände^
welcher allenfalls einer Ungeschicklichkeit des Baumei-
sters — das Basament in Einklang mit dem sich ab-
wärts senkenden Boden zu bringen — zuzuschreiben
sein dürfte, so scheint doch aus dem ferneren Mangel der Halbsäulen auf
einen, an dieser Stelle erfolgten Umbau geschlossen werden zu müssen.

Weiter westwärts befindet sich, in der Wand desselben nördlichen
Seitenschiffes, der jetzige Eingang der Kirche (Grundriss der Oberkirche, k.)
mit sehr einfachem Portale, gerade unter einem auf Pfeilern ruhenden
Gange (einem neueren Bauwerk), welcher die Gebäude des Schlosses mit
der Kirche verbindet und durch welchen sich noch im Anfange dieses

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I ■ 500 Schlosskirche zu Quedlinburg etc.

Jahrhunderts die Aebtissin aus ihren Zimmern in ihren Kirchenstuhl begab.
Das Kämpfergesims, welches den Halbkreisbogen des Portales tragt, gehört,
dem Anscheine nach, noch der älteren Bau-Periode an (doch entspricht es
mehr jenen Gesimsen, die wir den frühesten, noch in diese Periode ge-
hörigen Veränderungen der alten Anlage zuschreiben zu dürfen glaubten,
namentlich den Deckgesimsen über den Säulenkapitälen des Zitters); die
übrige Einfassung des Portales hat eine einfach ausgenieisselte Verzierung
im Style des siebzehnten Jahrhunderts.

Unter den Dächern des nördlichen Seitenschiffes und des Mittelschiffes
zieht sich Jener, so eben besprochene, aus einfachen Rundbögen zusammen-
gesetzte Fries hin. lieber diesen Rundbögen aber befindet sich hier noch
ein schräg vorspringendes Gesims, welches, ähnlich wie die Gesimse im
Inneren der Kirche, mit verschiedenen, fast koilanaglyphischen Verzierungen
von beträchtlich roher Arbeit verziert ist. Diese Verzierungen sind man-
nigfacher, zum Theil seltsamer Art, indem sich darin, ohne scheinbar auf
einen tieferen Inhalt auszugehen, die Spiele einer noch ungeregelten Phan-
tasie kund geben. Bald ist es ein breites Blattwerk, welches auf eigen-
thümliche Weise mit einer der antiken Triglyplie nachgeahmten Verzierung

verbunden ist, bald andre Ranken- oder
Baadverschlingungen, bald Thiere: Löwen,
Drachen, Krokodille, Schafe u, s. w. Diese
Verzierungen folgen ohne sonderliche Ord-
nung und ohne Zusammenhang aufeinan-
der; auch lag es nicht in der ursprüng-
lichen Absicht, dergleichen hervorzubrin-
gen, da man u. a. auf einem einzelnen Steine zwei verschiedene Ornamente
der Art ohne Zusammenhang nebeneinander ausgemeisselt sieht. — An der
Wand des südlichen Seitenschiffes fehlen Friese der Art, da diese Wand,
wie bereits bemerkt, neueren Ursprungs ist.

Die Fenster des Mittelschiffes zeigen im Aeussern dieselbe Eitfrahmung,
welche sie auch im Innern ursprünglich hatten, welche dort jedoch, wie
bemerkt, meist verdorben worden ist. Die Säulchen, welche hier in die
vertieften Ecken eingelassen sind, tragen theils Voluten-, theils Blätter-
kapitäle.

Der Thurm und die Westwand der Kirche sind ohne besondere Ver-
zierung. Der Obertheil des Thurmes giebt sich als ein neueres Werk zu
erkennen, und die Schalllöcher desselben sind mit modern dorischen Säul-
chen geschmückt. —

Wenden wir uns nunmehr noch einmal zu dem Kreuz der Kirche zu-
rück, so sind hier noch die beiden, an den Kreuzflügeln Jierausgebauteu
Altarnischen zu betrachten. Die auf der Südseite hat ein attisches Basa-
ment und zur Linken der Fenster (von Unter- und Oberkirche) eine empor-
laufende Halbsäule (x, auf beiden Grundrissen), um die sich das genannte
Basament herumzieht. Ohne Zweifel entsprach dieser Halbsäule eine zweite
auf der rechten Seite der Fenster, welche aber durch den, bei einer spä-
teren Restauration des Gebäudes (vielleicht erst bei dem gothischen Umbau
des Chores) nöthig gewordenen starken Strebepfeiler (y) vernichtet worden
ist. Bei dieser Restauration dürfte auch das Dachgesims der Nische, auf
dessen einst reiche Form das Vorhandensein jener Halbsäule schliessen
lässt, verloren gegangen sein. — Die Altarnische auf der Nordseite ist da-
gegen von andrer Beschaffenheit: sie hat keine Spur von Halbsäiilen und

mm

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Das Aenssere der Schlosskirche. 561

statt des attischen Basaments nur ein roh abgeschrägtes Fussgesims; auch
hat sie unterwärts ein Ideines Fenster, vrährend an der südlichen Nische
ein grösseres (nachmals vermauertes) Fenster das Licht in die Unterkirche
zu führen bestimmt war. Der ganze Bau dieser nördlichen Nische trägt
indess noch das Gepräge des byzantinischen Styles und dürfte mithin, wenn
auch keinesweges der ursprünglichen Anlage, so doch wiederum einer alten
Eestauration derselben angehören.

Endlich ist es noch übrig, den Aussenbau des Chores selbst zu be-
trachten. Derselbe zeigt gänzlich die Formen der späteren, gothlschen
Architektur, indem auch die Mauern der Unterkirche soweit verstärkt wor-
den sind, dass die Grundlinien der älteren Anlage im Aeusseren nicht mehr
sichtbar werden. Statt der ursprünglichen Rundung der Altarnische tritt
hier der Chorschluss in drei Seiten (eines nicht regelmässigen Achtecks) her-
vor, an deren Ecken starke Strebepfeiler emporsteigen. Hohe spitzbogige
Fenster werfen das Licht in die Oberkirche. Doch ist das gothische System
hier fast von all jenem reicheren Schmucke entblösst, welcher demselben in
andern Fällen ein so bedeutsames Gepräge zu geben pflegt; es hat hier
etwas Nüchternes, was freilich dadurch noch in bedeutendem Maasse er-
höht wird, dass sämmtliche Fenster der Oberkirche, mit Ausnahme des nach-
mals vermauerten in der Mitte des Chorschlusses, die Stabverzierungen
verloren haben, mit denen sie ursprünglich ohne Zweifel versehen waren.
Aber auch die erhaltenen Stabverzierungen jenes Mittelfensters, namentlich
die innerhalb des Spitzbogens befindlichen Füllungen, sind in einer Weise
behandelt, welche nicht mehr dem elastischen Organismus entspricht, der
diesen Theilen bei der schönsten Entwickelung des Styles insgemein eigen
ist, sondern ebenfalls eine mehr nüchterne und willkührliche Conse-
quenz, somit eine spätere Periode des gothischen Styles, erkennen lässt.
Nur das Portal, welches in die Unterkirche führt (Grundr., a.), zeichnet
sich durch eine zierlichere Gliederung der Thürgewände und des Bo-
gens'), sowie durch eine geschmackvolle Umfassung des oberen Theiles
aus und ist mithin an dieser Stelle allein geeignet, das gothische System
in seiner anmuthigeren Form zu repräsentiren, obgleich es ebenfalls schon
das Gepräge einer späteren Entwickelung trägt. Der letztere Umstand wird
durch eine Inschrift bestätigt, welche sich auf einem Steine links über dem
Portale befindet und die Aebtissin Jutta von Kranichfeld als die Erbauerin
und das Jahr 1320 als die Zeit des Baues nennt').

') Wohl in Rücksicht auf jene feinere Gliederung wurde zu diesem Portale
ein noch härterer Stein, als zu der Gesamm't-Anlage des Baues, gewählt; es be-
steht nemlich aus dem trefflichen Blankenburger Sandstein.

Die Inschrift, deren Buchstaben durchaus den Charakter des vierzehnten
Jahrhunderts tragen, lautet wörtlich so:,„Anno domini MCCC|XX opibus Jutte] Ab-
betisse de | Kranekefeld | aediflcatum." Die Aebtissin Jutta regierte von 1309 bis
1347 5 doch kann weder der Anfangspunkt noch der Endpunkt der Zeit, während
welcher sie diese Würde bekleidete, mit Genauigkeit festgesetzt werden. S.Fritsch,
Gesch.
V. Quedl. I, S. 139 — 173.

Kugter, Kleine Schtirtea. I. 36

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562 Schlosskirche zu Quedlinburg etc.

Geschichte der Schlosskirche zu Quedlinburg.

Die Gründung der Schlosskirche zu Quedlinburg steht mit dem Ursprung
der Stadt selbst und dem Leben des Königs Heinrich des Ersten in dem
engsten Zusammenhange und kann daher nicht ohne Rücksicht auf Beides
besprochen werden. ,

Sachsen und Thüringen, Heinrich's Erbländer, hatten zur Zeit des Re-
gierungs-Antrittes des Königs meist offene Orte, welche bei Einfällen feind-
licher Horden dem üeberfall und der Verwüstung ohne Schutz und Schirm
Preis gegeben waren. Da nun gerade in jener Zeit ausser den Slaven
und Normannen auch die Ungarn ihre furchtbaren, Alles verheerenden
Raubzüge über Deutschland und Sachsen ausgedehnt hatten: so wuchs die
Nothwendigkeit, das Land im Innern auf alle nur mögliche Weise wider
diese Feinde zu sichern. Es wird zu Heinrich's Hauptverdiensten gerech-
net, dass er diese Pflicht erkannte und dafür leistete, was in seinen Kräften
stand; und zwar nennt man Quedlinburg gewöhnlich zuerst'), wenn man
Beispiele für diese Thätigkeit des Königs anführen will. Was aber Heinrich
eigentlich gethan, ob er Städte im heutigen Sinne gegründet, oder nur
Festungen zum Schutze seiner Unterthanen angelegt habe, ist zwar noch
immer nicht allem Zweifel entnommen, aber doch in neuerer Zeit mit
besserem Erfolge erforscht worden, als zuvor. Wie es sich mit Quedlin-
burg verhalte, davon wird sich ein ziemlich deutliches Bild entwerfen
lassen.

An einem vom Hauptstrom künstlich abgeleiteten Bodearme unmittel-
bar vor der jetzigen Stadt Quedlinburg liegen die merkwürdigen üeberreste
des Wipertiklosters mit einer zu denselben gehörigen, dem heiL Wigper-
tus und dem Apostel Jacobus geweihten alten Kirche. In einer Urkunde
Otto's des Grossen vom Jahr 961 v^ird aber dieselbe Kirche noch nicht als
Klosterkirche, sondern als Kirche der Pfalz Quidlingen (curtis Quidilinga)
bezeichnet und mit der Pfalz zusammen an das auf dem anstossenden Berge
erbaute Stift geschenkt^). Ueber diese Kirche giebt es eine alte, noch in
der neuesten Zeit als unzweifelhaft wiederholte^), aber schon längst be-
kämpfte Nachricht"), sie sei im Jahr 841 oder 849 vom Bischof Haimo zu
Halberstadt gegründet worden, und das mit ihr schon damals verbundene
Kloster habe einst dem berühmten Hrabanus Maurus nach seiner Entfer-
nung vom Kloster zu Fulda eine Zeitlang als Aufenthaltsort gedient. Allein

S. L. Ranke, Jahrb. des deutschen Reichs, Dr. Waitz, Heinrich I,,
S. 75, verg], S. 148 folgd.

S. Erath cod. dipl. Qiiedl. p. 11. „cortem scilicet Qiiitilinga cum eccle-
sia etc." Erst im Jahre 964 bekamen die dortigen Geistlichen das Recht, sich
einen Abt zu wählen. S. Erath p. 12.

Fritsch, Gesch. v. Quedl. I. S. 32 u. 287. Abel, Halberst. Chron.
S. 67. Kettner, Kirchengesch. v. Quedl. S. 114. Voigt, Gesell, v. Quedl. I.
S. 280. Limmer Osterland S. 24. (1834.)

S. Erath, cod. dipl. Quedl. p. 957. F. Ranke, über den Ursprung
Quedlinburgs, Gymnasialprogramm v. J. 1833, S. ö.

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Geschichte der Schlosskirche. 663

schon jene Urkunde, die noch im Jahr 961 nichts von einem Kloster weiss,
streitet dagegen; nnd die Biographen Hraban's wissen wohl von dem
Aufenthalte desselben auf dem Petersherge, wo er selbst ein Kloster an-
gelegt hatte, aber durchaus nichts davon, dass er jemals längere Zeit in
Quedlinburg gewohnt habe. Ausdrücklich wird dagegen in glaubwürdiger
Weise die Gründung desWipertiklosters der Königin Mathilde zugeschrieben^),
und kann also nicht von Haimo ausgegangen sein. Man hat versucht, die ganze
Erzählung aus einem Irr thume zu erklären'). Da nämlich das Quedlinburgische
Chronicon unter dem Jahre 849 die einfache Nachricht enthält, dass die
Wipertikirche geweiht worden sei*), so könnte man dies fälschlich für die
Wipertikirche zu Quedlinburg genommen, und so auf diese übertragen
haben, was eigentlich" von der Wipertikirche zu Hirschfeld zu verstehen
war. Allein daraus geht eine vollständige Aufklärung der Sache noch
nicht hervor, da an dieser Stelle hur von einer Wipertikirche, nicht von
einem Kloster die Rede ist, und jene Sage ausserdem hinzufügt, Haimo habe
Benediktinermönche aus Hirschfeld dorthin geführt. Es muss daher hier
noch etwas Anderes zu Grunde liegen; und'wirklich wird schon im zelm-
ten Jahrhundert in einer bisher noch üngedruckten, sichtbar im Interesse
des Klosters Hirschfeld verfassten Schrift die Behauptung ausgesproclien,
dass der Ort Quedlinburg ursprünglich ein Eigenthum des heiligen Wig-
pertus sei und zu den Besitzungen des dortigen Klosters gehört habe. Diese
Schrift handelt von den Wunderthaten des heil. Wigpertus®), dem das
Kloster Hirschfeld geweiht war, und dessen Yerehrung — er lebte im ach-
ten Jahrhundert — vorzüglich von dort aus sich verbreitete, „Est locus,"
heisst es hier, „Quidiligonburch nominatus, nunc in Saxonum regno propter
regalis sedis honorem sublimis et famosus®),
quondam autem istius congre-
gationis utilitati suhditus,
videlicet quia Sancti Wigperti extitit proprius:
atque ideo etiam adhuc ex eius reliquiis habetur a multis honorandus."
Dann wird der Heilige selbst redend eingefülirt: „Dicor Wigbertus,
cuius
iste locus ex traditione fidelium Qst proprius,
cuius et a deo sum provisor
ordinatus."'
Dies genügt, um jener Sage eines wirklichen Zusammenhanges
der beiden Wipertikirchen zu Hirschfeld und Quedlinburg eine Grundlage
zu geben. Sei es nun, dass in der That die Quedlinburgische Kirche eine
Tochterkirche von Hirschfeld war, oder dass man dies, nur weil sie
dem Wigpertus als Schutzpatron gehörte, behaupten zu können glaubte;
jedenfalls scheint das Kloster zu Hirschfeld an der weitern Ver-
breitung jener Erzählung wie das grösste Interesse, so den bedeutendsten
Antheil gehabt zu haben. Wie dem aber auch sei, zweierlei dürfen wir
ohne Zweifel als wahr ansehen, einmal, dass die Wipertikirche wirklich

') So Rodolph, Hraban's Schüler, in seiner vita Hrabani, am Ende; ygl.-
Bach, in Zimmermann's Zeitschrift für Alterthumswissenschaft, Jahrg. 1835,
S. 652.

S. Annal. und Chronogr. Saxo ad a. 968. (Vita Math. XII, p, 570, Pertz.)

S. Erath und Ranke a. a. 0.

„Basilica S. Wigbert! confessoris dedicata est" vgl. mit Lamb. Schaffn.
zu demselben Jahre.

Die Handschrift befindet sich in Wolffenbüttel, cod.. Guelph. 76, 14,
p. 38 sqq. unter dem Titel: „Quaedam Vigberti meritorum gesta beati; vilis
scfiptoris titulat prescriptio vilis." (Jetzt im Auszug gedr>bei Pertz, Monumtn.
Germ. VI, p. 224. sqq.) ' .

Diese Worte weisen entschieden darauf hin, dass die Schrift dem zehnten
Jahrhundert angehört.

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I ■ 564 Schlosskirche zu Quedlinburg etc.

ihrem Urspninge nach in ein höheres Alter hinaufreicht, als jede andere
Kirche Quedlinburgs, wenn auch die Zeit ihrer Stiftung und Einweihung
nicht angegeben werden kann, und zweitens, dass auch der Ort Quedlinburg
selbst, wiewohl er vor Heinrich's Zeit nicht erwähnt wird, doch ebenfalls
nicht erst damals und etwa durch Heinrich gegründet worden, sondern
älteren Ursprungs ist. Dafür spricht auch die Entdeckung eines heidnischen
Begräbnissplatzes in der Nähe der Stadt, welcher von ziemlicher Ausdeh-
nung ist und das frühe Vorhandensein einer bedeutenderen Ortschaft an
jener Stelle beweist^). Auch pflegen überhaupt die Pfalzen jener Zeit,
denen Quedlinburg überall beigezählt wird, sämmtlich einer altern Periode
anzugehören

Aber die Identität der jetzigen Wipertikirche mit jener ältesten Kirche
Quedlinburgs leitet uns noch bei einer andern, nicht minder wichtigen
Untersuchung auf den rechten Weg. Dass die Königliche Pfalz Quedlin-
burg unten im Thale, in der Nähe des jetzigen Schlossberges gelegen hat,
ist unzweifelhaft, und lässt sich aus einer Menge Stellen mit Ueberzeugung
darthun^). Ist nun die Wipertikirche, wie aus der angegebenen Urkunde
vom Jahr 961 mit Sicherheit folgt, die Kirche der Pfalz gewesen, so muss
diese nothwendig um die Wipertikirche her gelegen haben. So lag denn
eben so, wie die Pfalzen Wallhausen, Hemleben, Tilleda, Allstädt und
andere, welche dem König Heinrich gehörten, auch die Pfalz Quedlinburg
im Thale, und war durch das unbedeutende Flüsschen und durch den Wald
und die Felsenberge, die sie umgaben, nur wenig gesichert. Darum sah
sich Heinrich genöthigt, diesem Orte einen grösseren Schutz zu gewähren.
Er that es aber auf keine andere Weise, als so, dass er den anstossenden,
sich von Westen nach Osten hin erstreckenden Berg befestigte, und darauf
eine Burg (urbs) anlegte. Dahin konnten sich in Fällen der Noth die Be-
wohner des Ortes flüchten; dies reichte aus, ihre Habseligkeiten aufzuneh-
men, Frauen und Kindern einen schützenden Aufenthaltsort darzubieten
und die Räubereien der Feinde zu hindern; darauf passt auch die bekannte
Erzälilung AVittekind's vollkommen. Wenn daher Ditmar von Merseburg,
der sich selbst eine Zeitlang in Quedlinburg aufgehalten hatte, und sich
an Ort und Stelle unterrichten konnte, behauptet, dass Heinrich es von
Grund aus erbaut habe*), so ist dies nicht von der Pfalz, wie wir gesehen
haben, sondern blos von der Burg zu verstehen, die ja in dem Sinne der
' : Zeit, da es in Sachsen noch nichts Anderes gab, die Stelle der späteren

Stadt vertrat. Der Felsenberg war bis dahin ganz unbebaut gewesen;
Alles was hier geschah, war das Werk Heinrich des Ersten.

Wann Heinrich angefangen habe, den Berg zur Festung zu raachen,
kann man nicht ganz genau bestimmen. Liesse es sich tiberzeugend nach-
weisen, dass Quedlinburg ursprünglich Quidlingen geheissen habe (wie die

F ritsch, Gesch. von Quedl. I, S. 1. Klopstock's Ehrengedächtniss
S. 1. Selbst der Name Quitilingaburg, den wohl Niemand, mit der Sage, vom
Hündchen Quedel herleiten wird, deutet auf höheres Alter.

S. Wilhelm, Gesch. des Klosters Hemleben in Thüringen, Iste Abth,
Naumburg 1827, S. 9.

g_ Chron. Quedlinb. ad a. 999 u. 1000, Chronogr. Saxo zum Jahr 968.

„in Quedlinburg, quam ipse a fundamento exstruxit" bei Leibn. I, p. 328.
(I, p. 133. )

It.

1

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Geschichte der Schlosskirche. 663

Chronisten erzählen, und jene Urkunde zu beweisen scheint, die einer cur-
tis Quitilinga gedenkt), und dass der Name der Burg dem Orte erst beige-
fügt worden sei, nachdem er durch die Befestigung des Berges zu einer
solchen geworden war'), so würde anzunehmen sein, dass gleich in" den
ersten Jahren Heinrich jenen Bau angefangen habe, da schon in einer Ur-
kunde vom 20. Februar 922 der Name Quedlinburg vorkommt ^J. Allein
Beides bleibt unsicher. Dagegen verlieh Heinrich im Jahr 929 Quedlinburg
mit Pölde, Duderstadt, Nordhausen und Grona' als Wittwengut der Königin
Mathilde und übergab ihr ausdrücklich diese Orte mit Einschluss der
Burgen, so dass es damals bestimmt eine solche schon bei Quedlinburg
gegeben haben muss. Also ist es gerade in der Zeit gebaut worden, in
welcher nach allen Angaben der Schriftsteller Heinrich mit seinen Zu-
rüstungen gegen die Ungarn beschäftigt war.

Nicht lange darauf begann dieser Kampf, zu dem sich Heinrich wäh-
rend der Zeit des durch Tribut erkauften Waffenstillstandes vorbereitet
hatte, und wurde glücklich zu Ende geführt. Da erst, als der furchtbarste
Feind Deutschland überwundender Friede dem Reiche zurückgegeben,
das Vaterland gerettet war, konnte Heinrich einer zweiten, ihm nicht min-
der helligen Pflicht genügen. Im Namen Gottes und der Heiligen waren
die Waffenthaten geschehen; der beste Dank für den errungenen Sieg schien
nach dem frommen Sinne jener Zeit die Stiftung heiliger Gebäude zu sein.
Seit' das von Rom aus verbreitete Christenthum in den Herzen der Deutschen
tiefere Wurzel geschlagen hatte, durchdrang immer mehr der Gedanke die
Grossen und Vornehmen derselben, dass es ein höchst verdienstliches Werk
sei, welches ihrem Leben Werth verleihen, ihnen ein ehrenvolles Andenken
unter den Menschen und Gottes Wohlgefallen bewirken könne, wenn •
sie Kirchen und Klöster gründeten, und so zur Beförderung christ-
licher Frömmigkeit etwas beizutragen versuchten. In einer auf eigene Kosten
erbauten Kirche zu ruhen, erschien als etwas höchst Wünschenswerthes, was
Viele schon früh während ihres Lebens zu erreichen suchten. Heinrich I.,
welcher sich aus sfeinem Geschlechte zuerst zur Königlichen Regierung em-
porschwang, hatte schon das Beispiel seiner Ahnen, namentlich Ludolfs,
des Gründers von Gandersheim, vor sich^). Aber erst gegen das Ende
seines thatenreichen Lebens konnte er den Wunsch seines Herzens befrie-
digen; und Quedlinburg war es, auf welches er mit seiner geliebten Ge-
mahlin seine Blicke richtete; und nicht blos eine Kirche, sondern auch
ein Kloster wollten sie erbauen.

So ist der Ursprung der Schlosskirche Quedlinburgs mit dem Helden-
leben Heinrichs auf das Innigste verbunden. Auf einer Zusammenkunft
mit den Sächsischen Grossen gegen Ende des Jahres 935 und auf einem
Reichstage zu Erfurt im Anfang des Jahres 936®) berieth er sich nebst
seiner Gattin Mathilde mit den Grossen des Reichs über die neu zu grün-
dende Familienstiftung, und kam mit ihnen dahin überein, sie in Quedlin-
burg zu errichten, das verfallene Nonnenkloster zu Winethahusen bei Thale

') S. Ranke über den Ursprung Quedl. S. 13.

Erath, p. 1.

■■') Ebendas. p. 2. ,

*) S. Harenberg historia Gandershem. diplomat. p. 57. in der Schrift de
Ludolfe Saxoniae oriental. duce §.31.

sj Vgl. Waitz, Heinrich I. S. 121.

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I ■ 566 Schlosskirche zu Quedlinburg etc.

dorthin zu verlegen, und sein "Werk durch andere Schenkungen für die
Zukunft zu sichern '). Diese Schöpfung hatte für die Vornehmen und
Grossen selbst ein bedeutendes Interesse. Sie war für die Töchter dersel-
ben bestimmt, denen sie einen sorgenfreien, würdigen und stillen Aufent-
halt in einem Gott geweihten Hause gewähren sollte. Dem König aber
lag es vorzüglich am Herzen, hier in der Mitte seiner Stammgüter, w? er
gern und oft gelebt hatte, eine Kirche zu weihen, die nach seinem Tode
seine und seiner Gemahlin Gebeine bewahren könnte. Auch den Töchtern
aus seiner eigenen Familie kam die Stiftung zu Gute.

Aber noch war die Vollendung des beabsichtigten Werkes nicht weit
gediehen, als das Leben des Königs zu Memlebeu endete und die Fort-
setzung und Ausführung desselben der Königin Mathilde und ihrem Sohne
Otto 1. überlassen blieb Nachdem sein Tod schon in Memleben von der
Königin Mathilde und allen Anwesenden betrauert und nach gewohnter
Sitte durch Gottesdienst gefeiert worden war, wurde der Leichnam®) seiner
eigenen Bestimmung zufolge nach Quedlinburg geleitet und dort in der von
ihm erbauten Kirche des heiligen Petrus vor dem Altare desselben feierlich
beerdigt*). Dies ist zugleich die erste Erwähnung der Kirche selbst. Als
Ludolf, Heinrich's Grossvater, gestorben
Avar, konnten seine irdischen Ueber-
reste, wie bestimmte Nachrichten lehren'), nicht sogleich in der von ihm
gestifteten Kirche zu Gandersheim bestattet werden, weil diese noch un-
vollendet war, sondern wurden erst später dahin gebracht. Otto der Er-
lauchte, Heinrichs Vater, ruht neben ihm. Dagegen ist auch nicht die
geringste Andeutung aus jener Zeit auf uns gekommen, dass mit Heinrich
etwas Aehnliches vorgegangen sei. Wir dürfen daraus schliessen, dass die
Kirche im Juli 936 im Ganzen vollendet war. Da auch die Stiftungs-
urkunde der Abtei vom Jahr 937 die Vollendung der Kirche und die An-
stellung von Geistlichen an derselben voraussetzt®), so muss die Nachricht
Winnigstädt's, dass sie erst 937 vollendet worden und vom Bischof Bern-
hard von Halberstadt geweiht sei, wie so viele -seiner Nachrichten aus
jener Zeit auf sich beruhen und für unverbürgt gelten oder auf die ganze
Stiftung bezogen werden. Wann aber ihr Bau angefangen und die Weihung
geschehen sei, ist in den historischen Quellen nicht überliefert. Nur wissen
wir aus dem Calendarium der Kirche, dass man späterhin die Einweihung
des sogenannten alten Münsters, welches Heinrichs Grab enthält, am
29. December alljährlich feierteDa dies nun sicher auf Ueberlieferung

') Vita Mathlld. (bei Pertz, Monumm. Germ. VI, p. 288.) p. 930. bei Erath.
„Mechtild, inclita reglaa, obounte coniuge suo, praefato scilicet rege Hein-
rico, coenoblum in monte Quedelingensi,
ut ipse prius deci\everat, sancta devo-
tione coustruere coepit." Cliron. Quedl. ad a. 937. i

Dass man seine Eingeweide in Memleben beerdigt habf, ist eine erst späte,
# doch nicht ganz unwahrscheinliche Erzählung. Fabric. Saxon. ad a. 936,

£ „Translatum est autem corpus eius a filiis suis in civitatem, quae dicitur

Quidelingeburg et sepultum in Basilica Sancti Petri ante altare cum plauctu et
lacrvmis plurimaruui gentium.'' Wittekind Corbeiens. I, p, 641. cfr. Luitprand
Histor. II, p. 186. (Ekkeh. Ohron. univ. bei Pertz, VIII, p. 183.)
' Harenberg I. 1. §. XXXIV.

■ ' „et quldquid Clericls in eodem loco doraino servientibns prius concessum

habuimus." Erath. cod. dipl. p. 3.

'') S. Winnigstädt bei Abel, S. 483.

S, bei Erath S. 913 „dedicatio antiqui monasterü."

Li

mtsm

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Geschichte der Schlosskirche. 663

aus den ältesten- Zeiten beruht, so ist dieser Tag unbedenklich als der
Tag der Weihe anzunehmen.

Die Gebeine Heinrichs waren seitdem ein höchst werthvoller Besitz
dieser Kirche. Mathilde blieb ihrem Gatten unveränderlich treu, widmete
seinem Andenken die noch übrigen Tage ihres Lebens, und verweilte oft
an dem Orte, an welchem sie mit inniger Liebe hing, und wo auch sie einst
nach vollendeter Lebensbahn ihr Grab zu finden sich sehnteIhre Fröm-
migkeit, Demuth und Wohlthätigkeit fand da auf lange Jahre hin eine er-
wünschte Stätte freudiger Entfaltung.

Denn in der Kirche brachte sie den grössten Theil des Tages zu'^).
Auch des Nachts, wo Alles sich der Ruhe hingab, erhob sie sich nicht
selten in ihrem der Kirche benachbarten Schlafgemach, und betrat die-
selbe unbenierkt und nur von einer vertrauten Dienerin begleitet, um dort
betend und die heilige Schrift lesend zu verweilen. Gegen die Zeit des
nächtlichen Gottesdienstes entfernte sie sich zwar, kehrte aber, sobald das
Zeichen dazu gegeben war, wieder in das Heiligthum zurück, und verweilte
darin auch nach dem Weggehn der Uebrigen, bis die Morgenröthe anbrach.
Dann erst legte sie sich wieder zur Kuhe nieder, jedoch nur so lange, bis
das Geräusch der herannahenden Armen, welche aus ihrer Hand Nahrung
und Kleidung zu empfangen pflegten,, sie weckte. Nachdem sie in dem
frommen Glauben, dass sie die Hungernden speisend, und die Nackenden
kleidend, Christo dieses Alles erweise, dies Geschäft verrichtet hatte, ging
sie wieder zur Kirche, hörte die Messe und blieb dann von früh bis Abend
ununterbrochen in ihrer edlen rastlosen Thätigkeit.

Gewisse Tage feierte sie besonders; vor Allem den Todestag ihres
Gatten, nicht nur bei seiner jährlichen Wiederkehr, sondern auch an jedem
Sonnabend''), weil er an einem Sonnabend gestorben war. Bei der Jahresfeier
desselben war sie beständig mit Werken der Liebe beschäftigt. Ein Bad
zum Fusswasclien für Arme und Fremde machte am Morgen den Anfang;
bisweilen verrichtete sie es selbst, bisweilen liess sie es durch ihre Die-
nerinnen verrichten. Dann theilte sie Speise und Kleidung an die Gegen-
wärtigen aus, und sendete Abwesenden, die wegen Krankheit nicht erschei-
nen konnten, jede nur mögliche Erquickung. Als sie endlich selbst an
einem Sonnabend starb, sahen diejenigen, welchen sie Wohlthaten erwiesen
hatte, darin eine Gnade und Belohnung Gottes.

Sogar wunderbare Ereignisse werden aus ihrem Leben in Quedlin-
burg berichtet, und geben Zeugniss vpn der Reinheit ihres Lebenswandels,
durch welchen das Bild glänzte, das von ihr in der Seele ihrer Zeitgenossen
lebte. Einst feierte sie, so erzählt ihr frommer, gläubiger Biograph, mit
grosser Zurüstung den Tod ihres Gatten, und eine so grosse Menschenmenge
strömte von allen Seiten zusammen, dass man sie nicht zu zählen vermochte.
Die Königin, .durch die Ankunft derselben hoch erfreut, liess einige auf
dem Gipfel des Berges, andere in der Tiefe des Thaies sich lagern; jenen reichte
sie die Speise selbst; diesen wurde sie von andern zugetheilt. Aber schon hatte
sie Alles, was ihr zu Gebote stand, aufgewendet, und noch hatten die, welche
sich im Thale befanden, die ihnen bestimmte Gabe nicht empfangen*).

') Vit. Mathild. p. 925. seqq. bei Erath.

2) Vit. Mathild. p. 932. vgl. mit Wittekind €orbeiens. 1. III. p. 662.

p. 937. seq. (nicht au einem Sonntag^ wie jetzt'Prof.Giesebrecht dargetbau hat.)
„adhuc
torlum panem non perceperant, qui in valle sedebant" p. 937,

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I ■ 668 Schlosskirche zu Quedlinburg etc.

Da ergriff sie, auf der Höhe des Berges stehend, eine Brätzel und warf sie
von oben hinunter. Von Ort zu Ort über Steine und Dornen rollte sie un-
versehrt hinab und kam gerade in die Hände des Armen, für den sie be-
stimmt war. Eine grosse Menge Menschen stand umher und bezeugte das
wunderbare Ereigniss.

In Quedlinburg hielt sie sich auf, als ihr geliebter Sohn Heinrich, das
Ebenbild seines Vaters, und wie jener nicht minder durch männliche Schön-
heit, als durch Thätigkeit und Tapferkeit ausgezeichnet, im November 955
in Bayern starb Die Abgesandten, denen es aufgetragen war, die Todes-
botschaft zu überbringen, wagten es nicht, sie auszusprechen. Als sie die
Briefe gelesen hatte, die jene mitgebracht, ergriff sie der tiefste Schmerz.
Sie entfärbte sich; ihre Glieder zitterten; in dem Buche, welches sie in der
Hand gehalten hatte, verbarg sie ihr Gesicht; da flössen ihre Thränen; den
ganzen Tag nahm sie keine Speise zu sich. Zur Kirche rief sie dann die
Jungfrauen des Stiftes, für die Seele des Hingeschiedenen zu beten; dort-
hin begab sie sich selbst. In rührendem Gebet flehte sie knieend auch
wegen der vielen Leiden seines Lebens um sein ewiges Heil. Dann aber
wankte sie zum Grabe Heinrich"s ihres Gemahls und klagte ihm, das Haupt
zum Grabe geneigt, das Leid, welches ihr das Herz brach. Dass er der
Bitterkeit dieses Schmerzes entgangen und nun von dem grausamen Leide
fern die Freuden der Seligen geniesse, darum pries sie ihn glücklich. Sie
dagegen sei ihres letzten und liebsten Trostes beraubt, der sie bisher bei
der Erinnerung an ihren Gemahl aufrecht erhalten habe, seit der geliebteste
ihrer Söhne, der Stolz ihres Alters, der Erde entrückt sei. „0 mein
Gemahl," so lauteten ihre "Worte, wie sie uns ihr Biograph mittheilt, „wie
viel glücklicher bist du doch als ich, dass du die Bitterkeit dieses Schmerzes
im Laufe deines irdischen Lebens nicht empfunden hast. Jetzt, wie ich
hoffe, freust du dich der ewigen Ruhe und nimmst an unsern Leiden nicht
Theil. So oft ich an den harten Tag deines Todes dachte, war dies der
einzige Trost, der mich wieder aufathmen liess, dass der geliebte Sohn noch
am Leben war, der durch Gestalt, Namen und Haltung deinem Bilde vor-
zugsweise glich."

An diesem Tage legte sie die Königlichen Gewänder ab und vertauschte
sie für immer mit Trauerkleidern: fortan wollte sie weltliche Lieder nicht
hören, bei Spielen nicht gegenwärtig sein; nur geistliche Gesänge, die
heilige Schrift und Erzählungen vom Leben heiliger Männer blieben ihre
Lust und Freude.

Wie ihr Leben von jetzt an allein dem Wohle und Gedeihen ihrer
Stiftungen gewidmet war, so weilte sie nirgends so häufig und gern, als in
Quedlinburg, wohin sie in hölierem Alter noch ganz besonders der Umstand
zog, dass dort ihre Enkelin Mathilde Aebtissin geworden war, deren Aus-
bildung und Pflege natürlich einen Hauptgegenstand ihrer | mütterlichen Für-
sorge ausmachen musste. Quedlinburg blieb ihre Heimath, welche sie nur
verliess, um auch andern ihrer Lieblingsorte, wie Nordhausen und Pölde,
die Freude ihres Besuches zu bereiten, und allen Lieben, die sich dort
aufhielten, ihre Wohlthaten zu spenden.

(Die Schrift ist ihren wesentlichen Theilen nach nicht aus Heinrichs des Zweiten,
sondern aus Ottos des Dritten Zeit, wie aus der Göttinger Handschrift hervorgeht,
welche durch den Herrn Geh. Rath P er tz in den Mouumm. Germ. XII, p. 572 ff.
gedruckt ist, wo dieselbe Geschichte noch einfacher erzählt wird.)
a. a. 0, p. 935 seq.

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III.JA «^IjWlIWI IJi]

Geschichte der Schlosskirche,

Gern sah sie das Ende ihres Lebens herannahen. Vergebens versuchte
es ihre Dienerin Richburg, welche sie zur Aebtissin in Nordhausen ge-
macht hatte, sie dazu zu bestimmen, sich in Nordhausen ihr Grab zu wäh-
len i). Sie reiste nach Quedlinburg, und starb dort am 14. März 968 in
einem Alter von fast 80 Jahren. Als sie das Herannahen ihres Todes
fühlte, legte sie zuerst ihre Beichte ab, nahm dann das heilige Abendmahl,
liess Psalmen singen, ihren sterbenden Leib auf die Erde legen und ein-
gedenk des Spruches, dass es einem Christen zieme, in Sack und Asche
zu sterben, bestreute sie mit eigenen Händen das Haupt mit Asche; dann
bezeichnete sie sich mit dem Zeichen des heiligen Kreuzes und entschlum-
merte in derselben Stunde eines Sonnabends, in welcher sie immer die Armen
zu erquicken gewohnt gewesen war. Ihrem letzten Willen gemäss, wurde
sie in der Kirche des heiligen Servatius neben ihrem Gemahl, den sie mehr
als dreissig Jahre überlebt hatte, in geweihter Erde feierlich bestattet®).
Der Ruf ihrer Frömmigkeit und Menschenliebe^ war überall verbreitet;
darum fand die Aeusserung eines Einsiedlers Glauben, welcher "gesehen zu
haben versicherte, wie sich ihre Seele mit der des Bischofs Bernhard
mitten unter den Engeln in unnennbarer Glorie in den Himmel erhob

Wie Mathilde, so bewiesen auch ihre Söhne und Enkel der Kirche,
die durch die Gräber der Eltern für sie ein geheiligter Ort war, stets grosse
Liebe und Verehrung. In Quedlinburg das Osterfest zu feiern, wurde den
Königen aus diesem Hause, wenn sie in Deutschland sich aufhielten, Pflicht
und Gewohnheit, welcher sich erst'Heinrich der Zweite im folgenden Jahr-
hundert zu entziehen anfing1). Da nahmen sie an den Festlichkeiten der
Kirche, den Prozessionen, Messen und übrigen gottesdienstlichen Handlungen
AntheiP); auf dem Berge genügten sie in der Kirche ihrer Pflicht als
Menschen, unten in der Pfalz als Könige und Regenten®).

Bei einem dieser Feste im Jahr 941 bestand hier Otto eine Lebens-
gefahr^). Ein gegen sein Leben angesponnener Verrath, dem selbst der
eigne Bruder, Heinrich, der Liebling Mathildens, nicht fremd geblieben
war, wurde glücklich entdeckt; dennoch zunächst kein Schritt gethan, die
Verräther sogleich zu verhaften, damit nicht das Fest entweiht und die
heiligen Tage mit Blut befleckt würden; nur der Schutz der Getrexien ver-
hinderte die Ausführung des frevelhaften Unternehmens. Erst als das Fest
vorüber war, verfuhr man gegen die noch nichts von der Entdeckung ahnen-
den Verschwornen, Erich, Reinward, Walin, Escherich, Bucco (Burchard),
Herrmann. Nur einer der Theilnehmer, Escherich, — zwei dieses Namens
waren unter den Verschwornen — der sich bis auf diese Zeit durch Tugend

a. a, 0. p. 943,

„sepulta est coram altari Christi praesnlis Servatii iuxta seniorem suum:
quia quem viventem dilexerat, huic se mortuam coniungi, quamdiu-deguit, Sem-
per imploravit." Ditm, Merseburg, 1. II, p. 334.

„Piam famam super his nemo nos vituperet prodidisse, dum veri periculo
non succumbimus. Audivimus enxm a quodam solitario, in spiritu an manifesta
visione uescio, animam Bernhardi Episcopi et Reginae influita multitudine ange-
lorum cum ineffabili gloria se in coelos deferri vidisse." Annal. Saxo ad a. 968.
Chron. Quedlinb. bei Leibn, II, p. 287 et 289. ürspr. Quedlinb. S." 14.
Annal. Saxo ad a. 973.

Chron. Quedlinb. ad a. 1000. '

Id. ad a. 941,,Ditmar Merseb. 1. II, p, 335. Leibn. Annal. Saxo ad

a. 943.

669

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570 Schlosskirche zu Quedlinburg etc.

vor den Uebrigen ausgezeichnet hatte, wollte, eingedenk seines Adels und
seines tadelfreien frühern Lebens, die Schmach der Gefangenschaft nicht
dulden und starb, durch eine Lanze getroffen, im Kampf der Verzweiflung
mit seineu Verfolgern. Alle übrigen wurden gefangen und darauf getödtet.
Otto war gerettet und kehrte später vielleicht eben darum gern an dem-
selben Feste nach Quedlinburg zurück, um Gott für
seine Erhaltung zu danken.

Auch andre Feste wurden in dieser Kirche von den Königen begangen,
so oft sich diese mit den Fürsten zur Schlichtung weltlicher Händel hier
versammelten i).

Doch auch darin zeigte sich die Zuneigung und Verehrung der Glieder der
Familie, dass sie die Kirche nach der Sitte damaliger Zeit durch Reliquien
zu schmücken ernstlich bemüht waren. Dafür spricht schon die Sage, wie
die üeberreste des heiligen Servatius auf Mathildens Begehren aus dem
ehemaligen Bischofssitze des Heiligen in den Niederlanden geraubt und
drei Jahre später von den früheren Besitzern in der Stille der Nacht den
Sachsen entrissen und zu den alten Verehrern zurückgeführt worden seien
Sicherer ist eine andere Nachricht, nach welcher Heinrich die Hand des
heiligen Dionysius, welche er vom entsetzten König Carl von Frankreich
im Jahr
923 empfing, nach Quedlinburg gebracht haben soll''). Sie ist uns
um so interessanter, weil sie darauf zu führen scheint, dass Heinrich schon
io jener Zeit die Absicht gehabt habe, eine Kirche in Quedlinburg anzu-
legen. Später übersandte Otto im Jahr
962 der Kirche die Reliquien der
Märtyrer Fabianus, Eustachius, Pantaleo, Hippolytus, Eugeus, Valens und
den Körper der Jungfrau
Laurentia4); darauf im Jahre 964 den Körper der
heiligen Jungfrau Stephana^). Auf diese Weise entstand der Kirche ein
grosser Reichthum, der ihre Altäre schmückte, viele Anbeter der Heiligen
hier versammelte und zum Theil noch vorhanden ist.

Hieran knüpft sich die Frage, welchem Heiligen vorzugsweise der
Hoclialtar und mit ihm die Kirche und- das Stift selbst geweiht war. Mit
Unrecht nämlich hat sich die Meinung verbreitet, als sei es Petrus allein
gewesen, dem Heinrich die erste Kirche zum Schutze übergeben, und Ser-
vatius habe erst später nach der Vergrösserung des Gebäudes den Rang
eines ersten Patrones des Stiftes empfangen. Es gründet sich diese Ansicht
wahrscheinlich auf die Angaben der Schriftsteller, dass Heinrich vor dem
Altare des Petrus beerdigt sei, worin wirklich alle ohne Ausnahme über-
einstimmen®). Allein daraus darf nicht gefolgert werden, dass Petrus
allein , nicht einmal dass er vornehmlich Schutzpatron gewesen. Gehen
wir nämlich die Urkunden und urkundlichen Nachrichten der Schriftsteller
des ersten Jahrhunderts der Kirche durch, so erfahren wir, dass gleich
Anfangs Servatius und mit ihm viele andere Heilige die Kirche in ihren

1) Da die Chronisten genau anzugeben pflegen, wo die Kaiser die Feste feier-
ten, so können wir hier im Allgemeinen auf sie verweisen.

Bro wer Annall. Trevir. T. I, p. 469. Hoenschen. de Servat. Episcopo
ed. 1686, bei Kettn. Autiqq. Quedlinburgg. p. 77 seq.

Chronogr. et Annal. Saxo a.d a. 925. cfr. AYittek. Corb. p. 638. Ditm.
Merseb. I, p. 15. Kettner, Quedlinb. Kirchen- und Reformationshistorie S. 91
u. 99. Waitz, Heinrich I. S. 60.

4) Annal. et Chronogr. Saxo ad a. 962.

s) Dieselben ad a. 964.

«) Annal. u. Chronogr. Saxo ad a. 936. Wittek. Corb. I, p. 641. Chron.
Halberst. II, p. 114, Leibn.

■I'

a

f

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w

Geschichte der Schlosskirche. 571

Schutz nehmen sollten, dass man aber gern bald den einen, bald den andern
zu nennen pflegte und trotz der verschiedenen Bezeichnungen immer den
einen Altar meinte. Den Altar, vor welchem Heinrich beerdigt war, nannte
man den Altar des heiligen Petrus; jeneii, wo Mathilde neben Heinrich :

ihr Grab fand, nennt Ditmar von Merseburg den Altar des heiligen Ser- ^

vatius'). In Otto des Ersten Urkunden vom Jahr 937 und 955 wird i

Maria und mit ihr Servatius genannt-, im Jahr 956 Petrus in zwei Urkun-
den ; im Jahr 961 und 974 Servatius; im Jahr 993 Gott und Servatius; '
endlich in der Bestätigungs-Urkunde des Papstes Sylvester aus dem letzten ;
Jahrzehend dieses Jahrhunderts werden Gott und Servatius als die Patrone j|
des Stifts verbunden^). Nach beiden folglich, nach Petrus und Servatius
kann die erste Kirche sammt ihrem Altar mit vollem Rechte benannt
werden.

Wenn man Alles zusammenfasst, was bisher dargestellt worden ist, so |

kann darüber nicht der geringste Zweifel mehr obwalten, dass Heinrich
und Mathilde in der Schlosskirche zu Quedlinburg, welche sie gegründet,
auch ihr Grab gefunden haben; zumal ausdrücklich Otto der Erste eine
seiner frühesten Schenkungen an das Stift gerade dadurch motivirt^). Mit
Recht hat daher Fritsch jedes Bedenken der Art zurückgewiesen4). • Man
hat aber auch den Versuch gemacht, sich durch den Augenschein selbst
von dieser ^Thatsache zu überzeugen und die Gräber dieser grossen Todten
nicht unberührt gelassen. Ueber eine Oefl'nung der Gräber im vorigen Jahr-
hundert haben wir eine doppelte Nachricht, eine gedruckte von Wallmann,
eine ungedruckte von Quenstedt. ,Jener erzählt^): „Das Grab Heinrich's
ist ausgemauert und nicht tief; es hat auch nur die Länge und Breite eines
mittelmässigen Mannes. Es ist mit keinem gewölbten Bogen versehen, .'I

sondern nur mit einer eichenen Bohle gedeckt. In dem Grabe selbst steht
ein aus einem Sandsteine,, wie eine Krippe ausgehauener Sarg, der einen
runden, von dergleichen Steine gefertigten schweren Deckel hat. Der Deckel
ist viele Centner schwer und muss wegen seines grossen Gewichts durch
starke Männer mit dem Kloben gehöben werden, wenn die Gebeine gesehn
werden sollen. In dem Sarge sind nicht viel Knochen von dem Gerippe
des Königs vorhanden, und'es ist sonst weiter Nichts zu sehen. Man findet
darinnen keine Kleidungsstücke, kein Rüstzeug, keine Kostbarkeiten, noch
andere Sachen; weshalben auch zu vermuthen ist, dass der König Heinrich
vlflffe^'seiner Gemahlin, die eine grosse Demuth jederzeit geliebt und ausge-
übt hat, nackend und bloss in Linnen gewickelt, wie der Heiland in die
Gruft gelegt ist, in dieser Krippe beerdigt worden. Diese Beschaffenheit
des Grabes weiss ich gewiss, woher ich es aber weiss, das werde ich für
dies Mal nicht melden." Diese Worte sind im Jahr 1782 geschrieben
worden.

Ungleich offerier und wichtiger ist die zweite Nachricht, w^che sich

I

s.

V . H'

i /

0 II, p. 334. Leibu.

Sämmtliche Urkunden bei Eratb. - '

„Monasterium Quidilingaburg constructum, ubi dominus et genitor noster
piae memoriae rex Henricus extat tumulatus" bei Erath S. 5. Urkunde vom
Jahr 944.

F titsch, Gesch. von Qoedl, I, S, 47 folgd.

Wall mann, Beiträge zur Aufklärung der Geschichte des Reichsstifts
Quedlinburg, S. 82. vgl. Fritsch a. a. 0. S. 49.

h

r

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Schlosskirche zu Quedlinburg etc.

in einem Aktenstück der Superintendentur zu Quedlinburg findet und
eine vollständige Mittheilung verdient. Dort heisst es unter der üeber-
schrift: „"Nachricht vom Grabe imd Sarge des Kaisers Henrici Aucupis."
„Den 14. April 1756 wurde auf Befehl Ihrer Königlichen Höh. der Hoch-
würdigst. Durchl. Fürstin Abbatissin und Frauen, Frauen Anna Amalia das
Grab des Höchstgedachteu Kaisers vor dem Altar S. Petri im grossen Mün-
ster geöffnet, dessen Sarg zu besehen, dasselbige aber nicht gefunden, ob-
gleich die Erde 6 Fuss tief ausgegraben; nur ein Stück von einer Bohle,

ohngefähr von dieser Form ^ , das 3 Zoll dick, 15 Zoll lang und 12

Zoll breit war. Weil nun neben dem Orte, wo solcher Sarg nach An-
zeige D. Kettners in seiner Quedlinburgischen Kirchen- und Reformations-
Historie stehen sollte, zur rechten Seite gegen obgedachten Altar der stei-
nerne Sarg der Gemahlin des Höchstgedachten Kaisers gar bald ohngefähr
2 Fuss tief unter der Erde gefunden wurde mit dieser Aufschrift „H Jdus
Mar. obiit Regina Mathildis, quae et hic requiescit, cuius anima obtineat
aeternam requiem" ohne beigefügte Jahreszahl, der Deckel desselbigen aber
verschoben und unterwärts gegen den Altar 1 Fuss lang vom Ende abge-
brochen, so' wurde daraus geschlossen, dass der Sarg des Kaisers allbereits
müsste aufgegraben, als ein hölzerner und verfaulter gefunden und die an-
getroffenen Reliquien vom Körper des Kaisers in den steinernen Sarg seiner

Gemahlin gelegt sein; zumal da der Stein V , welcher sein Grab bedeckt,

bei a abgebrochen und wiederum in Kalk gesetzt war, auch von demselbigen
in der sogenannten Zitter bei der Sacristei nur allein sein Kamm noch
vorhanden, welcher ihm vermuthlich nach altem Gebrauch in seinem Sarge
beigelegt und nachmals in seinem Grabe gefunden, als man dasselbige
ge-
öffnet
hat, zu seinem Angedenken aber daselbst verwahrlich aufbehalten
worden. Als der Deckel vom steinernen Sarge der Kaiserin Mathildis in
Gegenwart höchstgedachter Königlicher Hoheit, des Durchlauchtigen Herzogs
Carl von Braunschweig und vieler andern hohen Standespersonen aufge-
hoben und hinweggenommen wurde, befand man es auch also und noch
zweierlei Gattung von Beinknochen nicht unterwärts, sondern vielmehr
oberwärts liegend, dagegen untervYärts einige ganz dünne und schwarze
Ribben. Der Deckel wurde hierauf auf das üntertheil des Sarges gerade
wieder aufgesetzt, mit Erde bedecket, und die Steine, welche beide Gräher
vorher bedeckt, wieder darauf gelegt, davon das oberste über dem Grabe
des Kaisers halb zerbrochen und mit Gipskalk wieder ausgegossen, in Holz
eingefasst. Weil das Üntertheil des Deckels von gedachtem steinern Sarge,
davon der Obertheil abgebrochen gefunden, unter dem Pfeiler des Gewölbes
befindlich, darüber auf dem hohen Chor der grosse Altar stellt, so ist
daraus zu schliessen, dass das grosse Münster nach djcm Tode höchstge-
dachter Kaiserin müsse gebaut sein. Zur nöthigen und nützlichen Nachricht
hat dieses allhier niedergeschrieben J. W. Quenstedtj h. t. Subsenior et
Aedilis."

Niemand wird anstehn, diese — einige von der Hauptsache unab-
hängige Behauptungen ausgenommen — durchaus nichts Unwahrscheinliches
enthaltende und von einem Augenzeugen ausgehende, schriftlich in den
Akten niedergelegte Erzählung für wahrhaft zu halten, und der Nachricht,

Es führt den Titel: ^^Calendarium Collegii Canonicorum." Die Nachricht
steht S. 341.

572

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- - . i r -

Geschichte der Schlosskirche. 573

welche Wallmann gegeben, vorzuzielin. So geht denn, wie nach den vor-
handenen urkundlichen Nachrichten zu erwarten war, aus der vorliegenden
Erzählung klar hervor, dass hier König Heinrich und seine Gemahlin be- L

graben worden sind, wie man auch über das Verschwinden des Sarges
Heinrich's des Ersten und die Aufnahme seiner Gebeine in den Sarg Ma-
thildens urtheilen möge. Ausserdem wird aber auch gegen die jetzt in
Quedlinburg verbreitete Ansicht Kettner's Angabe als die richtige erwiesen,
dass das Grab Mathildens rechts oder südlich, nicht links oder nördlich
vom Grabe Heinrich's zu suchen ist, und dass folglich der links von Hein-
rieh's Grabe befindliche Grabstein einem andern, als der Königin Mathilde
angehören müsse. Kettner nennt Heinrich's Tochter, Mathilde deren Da-
sein aber unerweislich und höchst zweifelhaft ist^).

Schon im ersten Jahrhundert ihres Bestehens wurde mit der Kirche
eine bedeutende, wesentliche Veränderung vorgenommen, „Im Jahr 997,"
sagt der Quedlinburgische Chronist^), „wurde die Erneuerung der heiligen
Hauptkirche des Stifts auf Befehl der Kaiserstocliter, Aebtissin Mathilde,
mit allem Eifer betrieben. Da sie bei der Menge des daselbst zusammen-
strömenden Volkes erkannte, dass die Kirche, wie sie ihr Grossvater und
ihre Grossmutter, Heinrich und Mathilde, erbaut hatten, zu eng war, als
dass sie so grosser Erhabenheit entspräche, liess sie aus angestammter und
angeborner Güte um der Vergrösserung der Kirche willen zur Ehre des
heiligen Servatius ein Gebäude von höherem und breiterem Bau hinzufügen,
welches der Bischof Arnulf im Beisein andrer Prälaten und Bischöfe am
10. März des genannten Jahres weihen musste."

So klar und deutlich der Chronist zu reden scheint, so drängen sich
doch bei Erklärung seiner Worte einige Schwierigkeiten auf. Denn einmal
fragt sich, ob die Erneuerung darin bestand, dass das ganze Kirchengebäude
Heinrich's und Mathildens hinweggenommen und ein ganz neues an die
Stelle gesetzt wurde, oder ob man das Kirchengebäude Heinrich's stehen
liess imd nur zunächst ein zweites Gebäude, etwa die jetzige Oberlcirche,
hinzufügte. Letzteres scheint am einfachsten dasWort apponere zu bezeichnen,
Avelches der Chronist gebraucht. Zweitens aber ist auch dies nicht ganz klar aus-
gesprochen, ob diese Einweihung der Kirche nachVollendung derselben,
oder beim Anfang des Neubaues geschah; denn auch da pflegte nach alter fe

christlicher Sitte die Weihe eines heiligen Gebäudes vorgenommen zu werden *)» I'

Die Worte unsers Chronisten, z. B. peragitur, lassen in der That an Vollen-
dung des Neubaues denken; ja die Halberstädtische Chronik, die dieselbe

Kirchen- und Reformations-Historie S. 290.

2) Fritsch, Gesch. von Quedl. I, S. 52.

3) „Hoc anno instauratio sanctae Metropolitanensis ecciesiae in. Quidi-
lingensi castello iussu Imperialis fliiae, Mathildis Abbatissae
omni studio peragi-
tur:
quam cum ab avo aviaque , Regibus scilicet Henrico et Machtilde construc-
tam, arctiorem, quam tantae celsitudinis ius exigebat, propter confluentis populi
frequentiam cerneret, innata ac concreta sibi benevolentia ad augmentum eiusdem
in honore S. Servatil Arch. et conf.
latioris et altioris structurae aediflcium ap
ponere
curavit: quod etiam, totius conventu cleri ac populi, ab Arnulfo, Halber-
stadensi Episcopo, nuper ordinato, cum aliis Archipraesulibus et Episcopis,
quo9
modo nominatim evolvere longum est, congruenter ad decorandam dei domum VI
Jdus Mart. dedicari fecit/' Chron. Quedl. ad a. 997. (Pertz, M. G. V, p. 74.)

S. die Beweisstellen bei du Fresne Glossar, med. latinit. s. v. crux. und
Bingham Origg. T. III, p. 323! ed Grischow.

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a

L

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574 Schlosskirche zu Qiiedlinhnrg etc.

Einweihung erwähnt, redet auf das Bestimmteste davon, dass Arnulf die
vollendete Kirche geweiht habe*). Dennoch erzählt derselbe Quedlinburgische
Chronist unter dem Jahre 1021 von einer zweiten Einweihung der Kirche,
ohne zu erwähnen, dass zwischen 997 und 1021 irgend ein Unglücksfall
der Stiftskirche gefährlich geworden wäre, oder gar ihr den Untergang ge-
bracht und einen Neubau nothwendig gemacht hätte.

Jm Jahr 1021, sagt er , war Kaiser Heinrich der Zweite in Halber-
stadt. Hier entschloss er sich, wiewohl es ihm unerwartet und wider
Vermuthen geschah, die Aebtissin Adelheid, seine Enkelin, zu besuchen
und bei der dortigen Weihung der Hauptkirche gegenwärtig zu sein. Mit
ungemeinem Glänze wurde diese im Beisein des Kaisers und seiner Ge-
mahlin und in Gegenwart der vornehmsten Fürsten und Prälaten des Reichs
und einer grossen Menge Volks und zwar am 24. September vollzogen.
Arnulf, Bischof von Halberstadt, weihte den Tempel und den Hochaltar zur
Ehre der heiligen Dreieinigkeit, der Jungfrau Maria, Johannes des Täufers,
des Apostels Petrus, des Stephanus, Dionysius und Servatius. Der Erz-
bischof Gero von Magdeburg weihte in der Mitte der Kirche den Altar
des heiligen Kreuzes, welcher zugleich vielen Heiligen gewidmet war, näm-
lich dem Laurentius und Pergentinus, Laurentius und Vincentius, Blasius,
J 3 Christopherus, Erasmus, Cosmes und Damianus, Clemens und Mauritius.

' f Den südlichen Altar weihte Meinwerk, Bischof von Paderborn, zur Ehre

f des heiligen Liborius, aller Heiligen und Auserwählten Gottes, des h. Vic-

^ tor, Candidus, Exuperius, Mauritius, Hippolytus, Pantaleon, Cyriacus, und

I Adrianus. Den nördlichen Altar weihte Bischof Elward von Meissen zur

Ehre des Apostels Bartholomäus und aller Apostel; Evangelisten und Schüler
des Herrn. Im Westen waren zwei Altäre, einer südlich, ein anderer nörd-
lieh. Jener war dem heiligen Remigius und Cyriacus und andern Heiligen,
: dieser den heiligen Jungfrauen Stephana, Laurentia, Justa, Pusinna u. a.

j ' geweiht. Jeder Altar bekam einen reichen Schatz von Reliquien, welchen

der Chronist ausführlich und genau beschreibt. Zum Andenken an seine
Gegenwart bei dieser Feierlichkeit machte der Kaiser dem Hauptaltar, den
er selbst kurz als den Altar Gottes des Allmächtigen, des heil. Servatius
y und vieler anderen Heiligen nennt, ein nicht unbedeutendes Geschenk 3).

t f Da diese Einweihung nur einige zwanzig Jahre später erfolgte, als die

vorige, und wie gesagt, nicht das Geringste von einem Unfälle, der die
Kirche in jener Zeit betrolfen hätte, bekannt ist, während doch die Quedlin-
~ burgische Chronik in jener Zeit unversehrt auf uns gekommen ist, und jede

Ii Kleinigkeit aufgezeichnet hat, die das Stift betraf, so haben wir hier nur

die Wahl zwischen zwei Erklärungen. Entweder bezieht sich die im Jahr
997 erwähnte Einweihung nur auf die Gründung des Neubaues (und dabei
würde anzunehmen sein , dass die Halberstädtische Chrpnik ihre Nachricht

I

*) „Eodem anno monasterium in Quidelingehurg latiori et altiori modo,
quam prior fuisset structura ,
perfectum, Arnolphus Episcopus, confaventibus
Archiepiscopis et Episcopls compluribus, VI Jdus Mart. divina favente dementia
dedlcavit." II, p. 119 Leibn.

Chron. Quedl. II, p, 292 seq. Leibn.

j^altari in honore Del omnipotentis et S. Servatii confessoris alioramque
plurlmorum sanctorum consecrato, cnius dedicationi interfnimus." Urkunde bei

r-f

i

i Erath, S. 61.

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Geschichte 'der Schlosskirche.

aus der Quedlinburgischen entlehnt und ungenau wiedergegeben habe)*);
— oder es war von der Aebtissin Mathilde neben das ältere Gebäude,
welches vorerst stehen blieb, ein neues gesetzt worden, welches zur Er-
weiterung des kirchlichen Raumes dienen sollte und im Jahr 997 vollendet
wurde, und erst nach dessen Yollendung fand ein Umbau des älteren Ge-
bäudes Statt, welcher im Jahr 1021 zu Ende gebracht war. Einige Um-
stände, von denen weiter unten, scheinen für die grössere Wahrscheinlich-
keit der letzteren Annahme zu sprechen.

Die Kirche stand nicht lange unversehrt, indem sie im Jahr 1070 nach
dem Zeugniss Lamberts von Aschaffenburg mit allen daranstossenden Ge-
bäuden in Brand gerieth und in Asche gelegt wurde Leider ist diese
Nachricht so in den allgemeinsten Ausdrücken auf uns gekommen, dass man
durchaus nicht sieht, ob von dem alten Gebäude irgend etwas und was
vielleicht davon erhalten worden sei.

Im Jahr 1129 aber am dritten Pfingstfeitrtage feierte der König Lothar
in Quedlinburg das Pfingstfest und wohnte bei dieser Gelegenheit der feier-
lichen Einweihung der Kirche des heil. Servatius bei, welche dies Mal
nicht von dem Bischof von Halberstadt , in dessen Sprengel Quedlinburg
lag, sondern von den Bischöfen von Hildesheim und Minden vollzogen
wurde *).

Nach diesen Ereignissen wird uns erst in beträchtlich späterer Zeit, im
Anfange des vierzehnten Jahrhunderts, der Umbau des Chores der Schloss-
kirche berichtet. Die an demselben befindliche wichtige Inschrift ist be-
reits im Obigen mitgetheilt worden. „Diese fromme Aebtissin (Jutte), sagt
Winnigstädt^), hub an, den neuen Chor zu bauen an das Münster und voll-
brachte ihn im Jahr 1320, worinnen sie auch begraben liegt." Auch hier
ist eine nähere Nachricht über die Gründe des Neubaues nicht vorhanden.
Nur wissen wir, dass nicht die Aebtissin allein den Bau auf ihre Kosten
ausgeführt hat. Denn in dem vorhin angeführten Aktenstück lesen wir®)*
„Den Altar S. Annae hat ein wohlthätiger und Gottliebender Bürger all-
hier zu Quedlinburg, Bernhard von Beckheim der Alten Stadt Bürgermeister
pla affectione gestiftet, mit schönen Aeckern und andern Einkommen mit
Einwilligung seiner ehelichen Hausfrau, Cunegundis genannt, reichlich be-
gabt. Derselbe Bernhard v. B. hat auch damals das bune (bunte) Fenster
gleich hinter dem hohen Altar ufm höhen Chor des Neuen Münsters in der
Stiftskirchen auf seiner Unkost auch machen lassen, darinnen auch gar unrn

0
V

Solche Urlgenauigkeiten sind sehr häufig. Sogar in einer Urkunde dea
Herzogs Ludolf für Gandersheim lesen wir, „ecclesiam construximus" für „con-
struere coepimus" s. Harenberg 1. 1. p. 61.

„Augustissimum in Quidelenburg templum cum omnibus attiguis aediflciis
(incertum divina ultione, an fortuita calamitate) incensum atque in cineres redac-
tum est," Lamb. Schaifnab. ad a. 1070. cfr. Oorneri chron. ap. Bccard Script.
I, p. 608 seq.

Später sind Streitigkeiten über diese Dinge ausgebrochen, s. Erath S. 96.
N. xxin.

*) Rex Pascha Goslariae celebrat et Pentecosten Quidelingehurch: monaste-
riumque S. Servatii ipso instituente consecratum et dedicatum est, feria secunda
ab Eplscopis Hildesheimensi et Miüdensi." Chronogr. et Annal. Saxo ad a. 1129.
Chron. Montis sereni ad a. eundem.
5) bei Abel S. 500.

Calendarium Servat. p. 137,

576

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iiiiiili

576 Schlosskirche zu Quedlinburg etc.

(sie) sein und seiner Hausfrau Bild noch zu sehen ist." Dieser Bernhard
T. B. hat aber den Altar vor 1331 geweiht'), also um dieselbe Zeit, "wo
Jutte lebte, jenes Fenster machen lassen. Jetzt ist das bunte Fenster sammt
den Bildern verschwunden und das Ganze zugemauert

Dies sind die bedeutendsten Veränderungen, welche sich im Laufe der
Zeit mit dem Kirchengebäude zugetragen und ihm im Ganzen und Grossen
seine jetzige Gestalt verliehen haben. Unbedeutendere Veränderungen
werden späterhin erwähnt werden. Als ein glücklicher Umstand muss es
erscheinen, z. Th. als eine Folge der Wichtigkeit des Quedlinburgischen
Stifts, dass von den für das Ganze des Gebäudes einflussreichen Bauten
keiner uns entgangen zu sein scheint, so dass dadurch für die Beant-
wortung der Frage, in welcher Zeit die jetzigen Theile der Kirche entstan-
den sind, eine sichere Grundlage gewonnen wird.

Die Unterkirche führt im Munde des Volkes den Namen des „alten
Münsters" und wird als ein selbständiges Gebäude, als die ursprüngliche,
von König Heinrich I. erbaute Kirche bezeichnet. Diese Meinung, die man
zunächst, wie so häufig die lokalen Traditionen, als ein Mährchen späterer
Zeit zu verwerfen geneigt sein dürfte, erhält scheinbar eine gewichtige Be-
stätigung durch alte, von den Aebtissinnen ausgegangene Urkunden des
Stifts. Denn das „alte Münster" wird in Urkunden von den Jahren 1314,
1386, 1395 und 1427, das „neue Münster" im Jahr 1458, beide zusammen
im Jahr 1439 unter diesem Namen aufgeführt 2). Diese Bezeichnungsweise
geht ohne Zweifel noch in ein höheres Alterthum zurück und wird dadurch
vornehmlich bestätigt, dass die Kirche, abgesondert, wie wir aus dem vor-
handenen Calendarium ersehen, ein Fest der Einweihung des alten Münsters
am 29. December, und des neuen am 4. Juni feierte '). Die letzte Angabe
führt uns zugleich auf einen bestimmten Zeitpunkt, da der vierte Juni der
Tag ist, auf welchen im Jahr 1129 der dritte Pfingsttag fiel, derselbe, an
welchem König Lothar, wie wir sahen, die Kirche in seiner Gegenwart
weihen liess. Der 29ste December aber weist in der That auf die früheste
Gründung der Kirche zurück, indem sowohl die Weihung vom Jahr 1021,
als die vom Jahr 997 an einem anderen, bestimmt angegebenen Tage Statt
gefunden hatte.

Dass indess die Unterkirche, in ihrer gegenwärtigen Beschaffenheit,
gleichwohl kein selbständiges Gebäude und somit auch nicht diej erste, an
dieser Stelle gegründete Kirche sein könne, ergiebt sich auf den engten Blick
aus ihrer Anlage und Construction. Indem sie näm|ich vollständig dem
Chor und QuerschifF der Oberkirche nach deren ursprünglicher Anlage ent-
spricht, gewinnt ihr Grundplan eine Gestalt, welche, für ein selbständiges
Gebäude, auf keine Weise den Regeln des mittelalterlichen Kirchenbaues
angemessen sein würde, überhaupt auch in sich keine harmonische Abge-

1) S. Erath S. 442. N. CLXXVI.

S. Erath, p. 372, n, 83.; p. 614, n. 446: p. 708, n. 102; p. 786, n. 227:
p.739, n. 152.

Calend. hei Erath, p. 910 u. 913.

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Geschichte der Schlosskirche. 663

schlossenheit hat; auch sind die Ausbauten unter den Flügeln des Quer-
schifFes (AB und CD) nicht als eine spätere Anfügung zu betrachten, indem
sie in ihren Details, wie oben bemerkt, denselben Styl haben, wie die an-
deren Theile der ünterkirche. Noch wichtiger sind einige andere Verhält-
nisse der Construction, welche nur dadurch erklärt werden können, dass
sie von,vorn herein mit bestimmter Rücksicht auf einen Oberbau.ausgeführt
sind. Die grosse Altarnische zunächst hat eine Form, welche sie durchaus
nur als den Unterbau einer (durch den gothischen Ueberbau vernichteten)
Nische des Hochaltares im Chore der Oberkirche erscheinen lässt; sollte
^ sie für sich eine eigne Gültigkeit haben, so müsste sie, wie dies überall in

ähnlichen Fällen gefunden wird, entweder schmaler sein und nur dem
' Mittelschiff der Unterkirche an Breite gleich kommen, oder — wenn man

hier eine Ausnahme voraussetzen wollte — bis an die Seitenwände zurück-
treten; auf keine "Weise aber dürfte sie, wie es gegenwärtig der Fall ist,
mit ihren Ecken und 0) mitten in die Seitenschilfe^^vorspringen. Auch
das Kreuzgewölbe, mit dem sie bedeckt wird, ist für eine selbständige
' Altar-Nische etwas durchaus Ungewöhnliches, da eine solche stets mit

einem halben Kuppelgewölbe bedeckt wurde. Sodann sind die beiden
breiten Wandpfeiler, an denen die Halbsäulen
ß und tc hervortreten und
die mit der Mauer im vollkommenen Verbände stehen (also gleich alt sind),
für die Unterkirche an sich ganz zwecklos und erklären sich wiederum nur
dadurch, dass sie die untere Fortsetzung jener Wandpfeiler der Oberkirche
bilden, welche in der Durchschneidung des. Kreuzes hervortreten. Ferner
ist der Styl, in welchem die Unter- und die Oberkirche ausgeführt sind,
vollkommen übereinstimmend, ja die Details der letzteren fast noch eher
auf ein höheres Alter hindeutend. Endlich scheint auch der oben mitge-
getheilte Bericht Quenstedt's, dass ein Theil des Sarges der Königin Ma-
thilde unter einem:-Pfeiler des Gewölbes (entweder der einen Säule der
Altar-Nische, oder der Ecke der Nische selbst) befindlich war, auf ein
späteres Alter dieses Baues schliessen zu lassen. Was gegen diese, so voll-
kommen begründete Ansicht, ausser den obigen Angaben , vorgebracht ist,
hat weiter keine Haltbarkeit. Man meint, dass der Bau für eine Unter-
kirche zu ausgedehnt sei, obgleich deren ebenso auch bei andern Kirchen
(z. B, eine sehr grosse im Dome zu Speier) vorkommen; man meint, dass
der Chor, durch die Höhe der Unterkirche, eine Höhe über dem Boden des
Schiffes der Oberkirche erhalten habe, welche ganz aussergewöhnlich sei,
obgleich es hiefür ebenfalls nicht an den verschiedensten Beispielen fehlt.
Auch der Umstand, dass der Boden der Unterkirche nicht, wie gewöhnlich,
^ in die Erde vertieft, sondern um Einiges höher ist, als der zunächst ge-

legene Theil des Schlosshofes, ist an sich kein Gegenbeweis gegen unsere
Annahme; denn eines Theils konnte der Felsboden, darauf die Kirche steht,
eine solche Einrichtung schwierig machen, anderen Theils aber ist eben
das gesammte Terrain gegen den Chor hin abschüssig, und der Boden des
eigentlichen Kirchenschiffes hiedurch in der That um fünf Stufen höher,
als der der Unterkirche (s. die Stufen bei der Thür h, Grundr. der
Unterkirche).

Bei alledem aber dürfen wir keinen Anstand nehmen, den Platz, auf
welchem die ünterkirche steht, als dieselbe Stelle zu bestimmen, welche
die Kirche Heinrich's I. einhabm. Ja, der in. der grossen Nische befind-
liche Altar ist unzweifelhaft derselbe, welcher schon für jene als Altar

Kugicr, Kleine Schriften, I. 37 ^

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I ■ 578 Schlosskirche zu Quedlinburg etc.

diente. Hiefür spricht zunächst der Umstand, dass man das Fest seiner
j Einweihung bis in das spätere Mittelalter hinein feierte, was bestimmt

nicht der Fall gewesen sein würde, wenn derselbe durch einen andern er-
setzt und somit eine neue Einweihung nöthig geworden wäre. Bei dem
ersten, in die Periode von 997—1021 fallenden Umbau der Kirche aber
hatte dieser Fall nicht eintreten können, da derselbe nicht durch irgend
eine Zerstörung der Kirche, sondern nur um sie zu erweitern, herbeigeführt
war. Wie sehr man aber in der gesammten katholischen Kirche für die
sichere Erhaltung einmal geweihter Altäre, vornehmlich solcher, an welche
sich eine vorzügliclie Bedeutung knüpft, Sorge trägt, ist bekannt; so sahen
wir z. B. noch in unsern Tagen den Hochaltar der uralten, jüngst durch
Brand verdorbenen Paulskirche bei Rom, während der Zeit ihrer Wieder-
herstellung, durch eia Bretterhaus gegen alle Unbilden bei diesem Umbau
geschützt. Hiedurch aber geht zugleich hervor, dass der Boden der Kirche
Heinrich's ungefähr dieselbe Höhe hatte, wie der jetzt in der Unterkirche
vorhandene, und dass man somit auch nicht genöthigt war, die Gräber
Heinrich's und seiner Gemahlin zu stören, was oluicdies die Gefühle der
Ehrfurcht und Dankbarkeit verboten haben würden. Ob aber die Ausdeh-
nung jener Kirche iu ihrer Länge und Breite mit den Umfassungsmauern
der gegenwärtig vorliandenen Unterkirche genau übereinstimmte, vermögen
Avir nicht zu beurtheilen.

Der Neubau, von welchem im J. 997, unter der Aebtissin Mathilde,
die Rede ist, kann zunächst jedoch (worauf im Obigen bereits hingedeutet
wurde) nur das Schiff der Oberkirche betroffen und die alte Kirche muss
noch mehrere Jahre hindurch unberührt daneben gestanden haben. Dies
beweist der Umstand, dass die Aebtissin Mathilde, die im J. 999 starb, in
der Mitte der Kirche neben ihren Grossältern begraben*) und ihre Nach-
folgerin Adelheid, zu Michaelis desselben Jahres, vor dem Altare derselben
I 1 zur Aebtissin geweiht wurde So dürfte auch die oben mitgetheilte An-

gabe des Chronisten, welcher von einer Anfügung des neuen Gebäudes zu
sprechen scheint („apponere curavit"), zunächst in ihrer wörtlichen Bedeu-
i tung zu fassen sein. Und wenn wir annehmen (was sich später bestimmt

erweisen wird), dass die Schlosskirche, in den Haupttheilen ihrer gegen-

„Atque in medio Basilicae Sancti Petri et Scti. Stephan!, luxta tumulos
regum, avi et aviae suae Henrici et Mathildis reconditur," Chron. Quedl. ad a.
999. Aehnlich sagt Ditmar Mers. II, p. 356, Leibn.: „Sepulta est iu ecelesia
ad Caput avi suimet, regis Henrici." Wir stimmen in nnsrer Behauptung nun
auch hier, wenn freilich bedingungsweise, mit Wilhelm a. a. 0. iibereih. S. 45:
„Das Wort Basilica bezeichnet nach den alten fränkischen Begriffen die Gruft-
kirche eines Fürsten. Eine Gruftkircho, welche sich Kötiig Heinrich noch bei
Lebzeiten zu seiner künftigen Ruhestätte ausersehen, uud die er wahrscheinlich
^ selbst hatte erbauen lassen, diese Gruftkirche nun, das sogenannte alte Münster,

befand sich auf dem Schlossberge zu Quedlinburg und wurde, nach Vollendung
des Baues der neuen Stiftskirche zu St, Servatii, mit dieser als Krypta in Ver-
bindung gebracht/' (Freilich so, dass man auch ihre Form dem neuen Bau ge-
mäss umwandelte.)

J ?
f

„Die solenni namque Michaelis Archangeli festo, electione iterata ab A.r-
nulfo coram Altari Sancti Petri Apostoli Principis et Sancti Stephani proto-
martyris honore congruo beuedicitur." Chron. Quedl. ad a. 999. Vergl.
Annal. Chronogr. Saxon. zu diesem Jahre, und Chron. Ilalberst. II, p.
119, Leibn.

-T|-Tm-|t»iiiiiiiaW

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Geschichte der Schlosskirche. 663

wältigen Beschaffenheit, dasselbe Gebäude ist, welches in der Periode von
997—1021 aufgeführt wurde, so dürfen wir diese Angaben auch vielleicht
mit der roheren Erscheinung der Säulen ira Schiff der Oberkirche in Ver-
bindung setzen. Denn wenn diese einige Zeit früher, als die der Unter-
kirche, gefertigt vurden, so ist es leicht denkbar, dass bei den letzteren
schon mehr geübte Künstler angewandt werden konnten. (Dies Verhältniss
ist indess nicht so sehr für die Verschiedenheit des Ornamentes in den
Kapitalen, als für die mehr entscheidenden Unterschiede der Formation der
Säulenbasen in Anspruch zu nehmen.) Die im J. 1021 angeführte Ein-
weihung dürfte sich somit vorzugsweise auf einen Umbau der älteren Kirche,
d. h. auf die ünterkirche in ihrer gegenwärtigen Gestalt — sammt dem
Oberbau, welcher ihrem Style vor der Ausführung des gothischen Chores
entsprechend gewesen sein muss, — somit auf die Vollendung des ge-
sammten Neubaues beziehen.

Im J. 1070 wurde das neue Kirchenge.bäude durch einen grossen Brand
verdorben. Es ist schon oben beklagt worden, dass die Nachricht, welche
wir über dieses Unglück besitzen, nur in allgemeinen Ausdrücken abgefasst
ist; es ist möglich oder vielmehr wahrscheinlich, — vorausgesetzt, dass
der in Rede stehende Bau massiv aufgeführt war (vergl. unten), — dass
nur das Holzwerk verbrannt und das Mauerwerk nicht eben in dem Maasse
zerstört worden war, dass sofort ein zweiter vollständiger Neubau eintreten
musste. Auch wissen wir, dass beträchtliche Zeit vor der folgenden Ein-
weihung im J. 1129, bereits im J. 1105, Kaiser Lothar das Osterfest in
Quedlinburg zu feiern im Stande war'), so dass es doch nicht gänzlich an
den kirchlichen Einrichtungen fehlen konnte. Halten wir hiemit nun die
Zeugnisse zusammen, welche uns an dem Gebäude selbst eine im früheren
Mittelalter vorgenommene Restauration desselben erkennen lassen, so dür-
fen wir leicht geneigt sein, diese mit den durch jenen Brand etwa hervor-
gebrachten Beschädigungen zusammenzustellen, "Wir sahen in der Ünter-
kirche einen Pfeilerbau eingefügt, welcher im angewandten Material, wie
in der Technik, die Spuren einer grossen Eilfertigkeit trägt; vielleicht war
die Unterkirche bis auf diese Stelle in der Durchschneidung des Kreuzes,
wo herabgestürztes Gebälk die Gewölbe durchbrochen haben mag, unbe-
schädigt geblieben und man beeilte sich nun, sie zunächst für die einst-
weilige Ausübung der gottesdienstlichen Gebräuche, so gut es ging, wieder-
herzustellen. Dann ist es, soweit wir aus den vorhandenen alten Theilen
der Kirche schliessen können, vornehmlich die nördliche Seite der Kirche
(die Wand des nördlichen Seitenschiffes und die Nische des nördlichen
Kreuzflügels), welche die Spuren bedeutender Restaurationen zeigt; und
auch hier, wo die Stiftsgebäude der Kirche zunächst standen, während die
südliche Seite der letzteren sich unmittelbar über dem Felsabhangc erhebt,
liegt es nahe, eine grössere Beschädigung durch Feuersgefahr vorauszusetzen.
Vielleicht gehört in diese Zeit auch das in seinem Aeusseren so schmuck-
lose Thurmgebäude; sehr wahrscheinlich ferner (wie sich aus den Eigen-
thümlichkeiten ihres Styles ergiebt und später bestätigt werden wird) die
im nördlichen Kreuzflügel eingebaute und von dem Gewölbe der Gruftkirche
getragene Kapelle des Zitters.

Das Dachwerk der Kirche musste natürlich, wie schon bemerkt, durch

») Annal. Saxo 1105. Vergl. Erath, Cod. dipl. Quedl. p. 112, 113.

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I ■ 580 Schlosskirche zu Quedlinburg etc.

das Feuer zerstört worden sein, und somit ist auch die Nachricht des Chro-
nisten sehr wahrscheinlich, dass zuerst nach dem Brande von 1070 die
Kirche mit Blei gedeckt worden sei*). Mit eben dieser Nachricht verbindet
sich noch eine andre, nach welcher gerade zu jener Zeit in dem benach-
barten Gernrode, am dortigen Osterberge, Bleierz gefunden und Bleiberg-
werke gegründet worden waren, w^elche für die Kirche des h. Cyriacus zu
I Gernrode, wie für die Stiftskirche zu Quedlinburg benutzt wurden, und

ein zweckmässiges und brauchbares Material zur Deckung derselben
lieferten 2).

Dass man aber, bei einer blossen Restauration der Kirche, so lange
Zeit bis zu einer neuen Einweihung derselben (von 1070 bis 1129) gebraucht
habe, dies erklärt sich genügend aus den bewegten und unruhigen Ver-
hältnissen jener Zeit, in welcher nicht nur die Aebtissinnen durch ihre
' Theilnahme an den ÖiTentlichen Staatsverhältnissen leicht von der Sorge

" für den Bau abgezogen werden konnten, sondern sogar das Schloss selbst,

im J. 1088, eine Belagerung auszuhalten hatte. Dass aber unter solchen
Umständen die im J. 1129 erfolgte neue Einweihung der Oberkirche von
um so grösserer Bedeutung war und die Feier derselben die der früheren
Einweihung vom J. 1021 (welche bis dahin ohne Zweifel in den älteren
Calendarien verzeichnet war) ersetzen musste, scheint in der Natur der
' ! Sache zu liegen.

' Aus alledem wird die Wahrscheinlichkeit sehr erhöht, dass das vor-

handene Gebäude der Stiftskirche (Ober- und Unterkirche) in seinen wesent-
' liehen Theilen, mit Ausnahme der eben angeführten Restaurationen und

der späteren Veränderungen, namentlich des gothischen Ueberbaues des
: ; Chores, in jene Bauperiode von 997 bis 1021 gehört. Mit Bestimmtheit

werden wir dies jedoch nur aussprechen können, wenn die Eigenthümlich-
[•. keitcn des hier angewandten Baustyles uns auf eben diese Zeit hinführen,

f und wenn derselbe im Einklang mit dem Style andrer gleichzeitiger Ge-

' ^ bäude steht und als ein Glied in der Gesammt-Entwickelung der Archi-

tektur des früheren Mittelalters erscheint. Dies ist in der That der Fall:
die hiezu erforderliche Untersuchung, welche eine weitere Abschweifung
nöthig macht, werden wir weiter unten folgen lassen.

j Es ist nun noch übrig, über die weiteren Veränderungen der Kirche

im Innern und Aeussern zu berichten , so weit sich sichere Nachrichten in
^ den Urkunden vorfinden.

tL Reparaturen und kleinere Umbildungen einzelner Theile der Kirche,

f wie Neubauten des Klosters, machten sich im Laufe der Jahre fortwährend

; i

I . 1) „Beatrix, sagt Win nig s t äd t, bei Abel, S. 489., soll die X070 ab-

; j gebrannte Stiftskirche wieder haben bauen, und mit Blei decken lassen, ihn

i : auch mit -vielen Zierraten und Kleinodien begäbet." . Auf den Namen der Aeb-

tissln kommt es hier nicht an, weil Winnigstädt in der Reihenfolge der Aebtissinnen
j- , viele Fehler hat.

t ^ So sagt die Chronik dor Stiftsbibliothek (ein Geschenk des Herrn Pastor

r . Zander) S. 54 , dass man Bleierz bei dem Osterberge bei Gernrode gefunden

und damit die genannten Kirchen gedeckt habe.

f
:

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Geschichte der Schlosskirche. 663

nöthig. Da aber die Einkünfte der Abtei, wie bei allen ähnlichen Stiftungen
im Mittelalter geschehen ist, durch verschiedene Umstände allmählich iin- .
mer tiefer sanken, von den Kaisern aber keine weiteren Schenkungen ge-
macht zu Averden pflegten, sah man sich oft gezwungen, zu Indulgenzen
und auch zu Verkäufen zu schreiten. Die Indulgenzen oder Ablassver-
kündigungen fangen im 13ten Jahrhundert an überhand zu nehmen, um den
Besuch des Münsters und seiner Altäre an den hier gefeierten Festen zu
fördern, und die für die Kirche nothwendigen Summen durch die Einnahmen
zu bestreiten, welche bei solchen Besuchen dem Stifte zu Gute kamen.
Bald sind es die Feste der "Weihung des Münsters, bald die der Patrone
des Stifts, bald die einzelnen Altäre, mit welchen sich nach und nach dje
Kirche füllte, für deren Besuch der Papst oder einzelne Erzbischöfe und
Bischöfe einen Ablass auf 40 oder mehrere Tage ausschrieben. Gleiche
Belohnung wird allen denen zugesichert, welche irgend etwas nicht nur zur
Erbauung, sondern auch zur Ausstattung von Altären beitragen, sei es zu
Wachslichtern, zu Altarbedeckungen, sei es zu anderem kirchlichen Be-
dürfiiiss. Die darüber ausgestellten Urkunden, deren eine ziemliche An-
zahl vorlianden ist, würden eine noch ergiebigere Quelle wichtiger Notizen
für ims sein, wenn nicht oft die Ausdrücke, in denen sie abgefasst sind,
allzu zweideutig und dunkel wären. Wenn wir z. B. im Jahr 134G in den
Urkunden zugleich eine Ablassverkündigung des Erzbischofs Otto von
Magdeburg und einen Güterverkauf der Aebtissin Jutte finden, weil, wie
sie bestimmt sagt, das Münster den Einsturz drohe und die Einkünfte der
Abtei zur Wiederherstellung desselben nicht hinreichten: so ist man dar-
über in Ungewissheit, ob unter dem Münster hier die Kirche oder die
sonstigen Klostergebäude zu verstehen sind. Dass an der Kirche in jener
Zeit gebaut worden ist, haben wir schon angegeben; dass aber auch an
dem Kloster gebaut werden musste, lässt eine Inschrift vermuthen, welche
rechts, au dem Eingangsthore unter dem Stiftswappen steht und zwar zum
Theil verwittert ist, aber doch die Zahl 1400 deutlich enthält. Auch aus
dieser Zeit haben Chronisten die an sich imbestimmte, durch diese Inschrift
aber verständliche Nachricht, dass die Aebtissin Ermgard von Kirchberg
einen Theil des Münsters wieder bauen liess^). Diese starb aber im Jahr
1405. Auch Anna von Plauen, von 1435 bis 1457, setzte den Bau des
Klosters fort.

Im Jahr 1511 drohte dem Kirchengebäude eine grössere Gefahr, indem
im Kirchenstuhl der Aebtissin Hedwig ein Brand ausbrach, welcher aber
durch schleunige Hülfe schnell gelöscht, den Gebäuden selbst keinen Scha-
den zugefügt hat. Nur einige stiftische Urkunden sind bei dieser Gelegen-*
heit durch das Feuer vernichtet worden^).

Ein ähnliches Unglück geschah im Jahr 1567, als am 12ten März ein
Blitz den Thurm traf und anzündete. Auch im Jahr 1678 wird von einer
Ausbesserung desselben berichtet. Noch einmal wurde der Thurm im Jahr

') S. Erath p. 471. n. 260 u. 262. „cum monasterium nostrum ad ruinam
propinquum et irrecuperabilem dlspositum videremus,' Ganz eben so ist es
aber schoH früher nicht selten, z. B, bei der Aebtissin Agnes, die auch Manches
für den Bau des monasterium, man weiss nicht, ob der Kirche oder des Klosters,
gethan hat, s. unten.

Winnigstädt bei Abel S. 505.

■■') Winnigstädt bei Abel S. 510.

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582 Schlosskirche zu Quedlinburg'etc.

1705 am 27ten November vom Blitze getroffen und stärker beschädigt; im
Jahr 1706 wurde er schon wieder hergestellt und bekam damals seine jetzige
Gestalt 1).

Bald darauf machte die südliche Mauer der Kirche einen bedeutenderen
Bau nothwendig, welcher im Jahr 1708 unter der Zwischenregierung der
Gräfin Aurora von Königsmark ausgeführt wurde. Zugleich begann sie
jenes Gewölbe, 6 Ellen breit, 6 Ellen hoch und 30 Ellen lang zu bauen,
welches jetzt die Fürstengruft genannt wird. (S, oben, S. 564 Anm. 1.) Beim
Aufgraben desselben stiess mau auf zwei kupferne Särge®).

Dies sind die wichtigsten Schicksale der zu Quedlinburg von Heinrich 1,
und Mathilde aus Frömmigkeit und Dankbarkeit gegen Gott gestifteten
Kirche. So ist sie durch neun Jahrhunderte hindurchgegangen, einst ein
Lieblingsaufenthalt deutscher Könige, die dem deutschen Namen ewige
Ehre gebracht haben, und mit dem Schönsten geschmückt, was sie besassen,
jetzt einer evangelischen Gemeinde Gotteshaus, und so noch immer, der
ersten Bestimmung gemäss, ein Ort christlicher Weihe

fi *i • f

t ■ i

Doch sind uoch mehrere Gegenstände der Erwähnung werth, welche
das Innere der Kirche betrelfen. Glocken besass bereits, wenn wir den
vorhandenen Andeutungen trauen dürfen, die älteste Kirche zur Zeit der
Königin Mathilde*). Erst unter Anna von Plauen in der ersten Hälfte des
14tcn Jahrhunderts wurde die sogenannte grosse Glocke gegossen. Im
Jahr 1705 fiel sie bei dem erwähnten grossen Thurmbrande herunter und
zersprang; auch sie wurde im Jahr 1706 wiederhergestellt; neben ihr gab
es noch zwei andere^).

Altäre waren in immer anwachsender Menge vorhanden. Ursprünglich
gab es nur einen, den Hochaltar; im Jahr 1021 wurden fünf Altäre im
neuen Münster geweiht; aber am Ende der katholischen Zeit zählte man
ihrer, die Kapellen mit eingeschlossen, zwei und zwanzig®). Mit Reliquien,
und schönen Beliältnissen für dieselben, kostbaren Teppichen, goldenen und
silbernen Cruciflxen wurden die Altäre geschmückt. Was Anfangs in dieser
Rücksiclit geschehen ist, ist weniger bekannt. Ein altes Evangelistarium'')
scheint ein Verzeichniss dessen zu enthalten, was um das J. 1000 vorhan-
den war, und nennt u. a. 8 Kreuze von Bernstein, 5 von Gold, 6 von Silber,
12 mit Edelsteinen geschmückte Flakon's, ein silbernes zum Theil ver-

') Fritsch, Gesch. von Quedl. II, S. 219. Gemeinnütziges Wochenblatt zu
Quedl. Jahrg. 1835. ;

Clirouik, im Besitz der Frau Räthin Fügemann, S. '501.
[In der neuesten Zeit ist durch den Brand der Probstei die Kirche dem
Blicke zugänglicher geworden und gewährt jetzt, noch mehr als zuvor, von allen
Selten dem Beschauenden eine grossartige Ansicht. 1853,]

„praecipite'' sagt Mathilde im Leben des Ungenannten, bei Erath p. 943
„Signa ecclesiae pulsari et pauperes congregari."
5) Fritsch, II, S. 219,

") So das Calendarium S. Servatii, dessen wir oben gedacht haben.

S. unten die Beschreibung der Alterthümer. Das Verzeichniss steht am
Ende des Evangelisten Lukas,

, I

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Geschichte der Schlosskirche. 663

goldetes Christusbild, eine Bernsteinkapsel, drei elfenbeinerne Kasten mit
den Reliquien, einen silbernen vergoldeten Adler, fünf Crystallschalen, eine
Schale von Gold, 53 goldene Behältnisse. In jener Zeit soll auch Otto der
Dritte seiner Schwester Adelheid einen goldenen Stab übersendet habeni).
Manche von diesen Dingen scheinen noch unter den im Zitter aufbewahrten
Alterthümern vorhanden zu sein.

Die Aebtissin Agnes, um 1200, hat nach ihrer eipnen Angabe ausser
einer goldnen Schale und Krone und 24 Mark, die sie zum Decken des
Münsters ausgab, der Kirche zwei Rücklaken von Seide, ein Rücklaken
hinter dem Kreuze, ein Rücklaken an einer Seite des Chors und Tapeten
vor dem Hochaltar geschenkt. Von ihrer Kunstfertigkeit wissen auch die
Chronisten zu erzählen. „Agnes, sagt "Winnigstädt soll eine gute Schrei-
berin gewesen sein, die viel Bücher in ihrem Amte mit schönen Gemälden
und vergüldeten Buchstaben geschrieben pro divino officio, dazu auch viel
herrliche Teppiche und Rücklaken oder Dorsualia gewirkt, die man noch
im Dom zu Halberstadt zu St. Johannis und in andern Kirchen lindet."
„Diese Aebtissin, sagt ein anderer Chronist^), hat bei ihren Zeiten schöne
Bücher mit ihren eigenen Händen geschrieben und hat sie mit Figuren
schön illuminirt; ingleichen köstliche Teppiche mit ihren Jungfrauen ge-
würkt, so von 24 Schuh lang, und 20 breit, darauf die ganze Philosophie
gewürket und genähet war, w^elche sollten dem Papst nach Rom geschickt
werden, aber es ist nach dem verblieben. Und sind noch jetzo zu finden
in der Stiftskirche, und waren ausgebreitet auf dem hohen Chor." Auch
von diesen sind noch Ueberreste vorhanden.

Ermgard von Kirchberg, die wir oben bereits erwähnt haben, trug auch
das Ihre zur Zierde der Kirche bei. „Sie gab einen Teppich," sagt Win^-
nigstädt^), „und köstlich Rücklaken, auch zum Bau des Münsters 40 Gül-
den und 24 Gülden ad ornamenta S. Servatii, ferner eine grüne Kapsel mit
Gold durchzogen, mit 6 Alben, zwei Krüge mit zwei Saphiren, einen herr-
lichen Vorhang von Gold und Perlen, mit einer köstlichen Leiste, dess-
gleichen auch Messingsformen den Feuerwächtern zu gebrauchen mit einem
Deutschen Passional und einer Hebemutter in Silber gefasst zum gemeinen
Gebraucli; sie liess den einen Theil des Münsters wieder bauen und gab
ein Kleinod von Gold, wie ein Herz, darinnen ein Heiligthum, und hänget
am S, Dionysii Daumen mit einer güldenen Kette; noch gab sie in den
Chor ein wohlgeschrieben Gradualbuch, item einen Sarkk von Elfenbein
und beschlagen mit ihren Kleinodien, "von ihren silbernen Bechern und dem
Holze, so in Silber gefasst war."

Auch Anna von Plauen war nach dem Chronisten®) „wohlthätig und

') Ditm. Merseb. II, p. 356. Leibn. „Caesar piis assensum praebens desi-
deriis, amitae suimet necem deflet et Abbatiam dilectae suimet germanae per
Becelinuin, portitorem, virga a longe coramisit aurea et ut ab Episcopo benedi-
ceretur Aruulpho praeeepit." — Vergl. in J. Grimm's Deutschen Rechtsalter-
thümern , S. 133, Lang. Reg. I, 76; „baculum in testimonium
perpetuuvi ibi
reliuquit;" — und Fantuzzi, 5, 263, Urkunde vom J. 996.

Urkunde bei Erath p. 109 sq. n. XL.

3) bei Abel S. 493. ^ ^

Chronik der Stiftsbibliothek S. 68.
bei Abel, S. 505.
Ebendas.
S. 507.

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I ■ 584 Schlosskirche zu Quedlinburg etc.

milde gegen die Kirche, und zierte sie mit schönen Messgewanden und
Ornaten."

Eine ganz andere Richtung nahm aber die Frömmigkeit im 16ten Jahr-
hundert durch die Reformation, welche im Jahr 1539 nach dem Tode des
Herzogs Georg von Sachsen in Quedlinburg eingeführt wurde. Sie ver-
änderte nach und nach das ganze Innere der Kirche'). Die Menge der
Altäre verschwand und verlor ihre Bedeutung; dagegen entstanden Stühle
für die Zuhörer der Predigt. Schon Anna die Zweite richtete den Kirchen-
stuhl der Aebtissin ein, baute die erste kleine Orgel und begann das Innere
auch sonst umzugestalten, Anna die Dritte veranlasste den Bau einer neuen
Orgel und liess den abteilichen Kirchenstuhl verbessern. Anna Sophie die
Pfalzgräfln „liess ihr Kirchenstübchen — sagt ein Chronist — von Neuem
zierlich aus geschnitzten Passionsbildern schmücken, auch die Decke darin
malen, auf welcher der Oelberg dargestellt wurde, und das Fensterblei ver-
golden." Und nach einer andern Chronik hat sie mit eigener Hand sehr
künstliche, feine Blumen zum Schmxicke des Altars verfertigt; ferner
schenkte sie im Jahre 1678 einen messingenen Kronleuchter, der zuerst am
.ij, y 25sten December jenes Jahres die Kirche zierte, und liess die gewölbte

Decke im Jahr 1674 mit Wolken und Sternen malen und 1678 eine schöne
künstliche Orgel verfertigen, für welche ansehnliche Beiträge eingesammelt
worden waren. Auch die jetzige Kanzel liess sie 1662 setzen und den
Altar, der noch gegenwärtig die Kirche ziert, verfertigen. Zu Anfange des
achtzehnten Jahrhunderts endlich gab Aurora von Königsmark dem Kirchen-
stuhle der Pröpstin ihre jetzige Gestalt; auch sonst hat sie für den inneren
Ausbau der Kirche in den Jahren 1712 und 1713 Manches geleistet.

Eine andere Zierde der Kirche darf schliesslich ebenfalls nicht über-
gangen werden, wenn gleich sie jetzt ihrer neuen Bestimmung wegen aus
ihrem vorigen Lokal hinweggenommen ist, die von Anna Dorothea, einer
Prinzessin von Weimar, im Jahr 1686 gegründete Bibliothek, Nach dem
Beispiel ihres Bruders, des Herzogs Wilhelm von Weimar, sammelte diese
I Aebtissin die vorhandenen handschriftlichen und gedruckten Bücher, that

I aus ihrem eigenen Vorrathe Manches hinzu, vermehrte es durch Ankäufe

aller Art und wurde auch von Fürsten und Gelehrten mit schätzbaren
Werken beschenkt. Die Gnade Sr, Majestät des Königs hat diesen kleinen
Bücherschatz der Stadt erhalten; er ist gegenwärtig im Besitz des Königl.
Gymnasiums; zugleich aber mit den Bibliotheken des Magistrats und der
St, Benedictikirche vereinigt, vertritt er die Stelle einer Stadtbibliothek.
Diese ist gegenwärtig in dem Schlosse selbst aufgestellt. •

l- 5

■i

A 11 h a 11 g. j

Kunsthistorische Untersuchung und Beschreibung meltrerer benachbarten

Kirchen.

Es wurde oben bemerkt, dass zur genaueren Bestimmung des Alters
der einzelnen Theile der Quedlinburger Schlosskirche eine nähere Ver-

Die Beweisstellea für das Folgende fluden sich sämmtlich in F ritsch's
Geschichte
yoq Quedlinburg, Bd, II.

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Anhang. Benachbarte Kirchen. St. Wiperti. 585

gleichung mit den Bauverhältnissen andrer kirchlicher Gebäude nöthig sei.
Hier bietet uns nun die nächste Nachbarschaft ein reichliches Material, und
wenn wir bei den meisten Kirchen der Umgegend auch nicht so detäillirte
historische Notizen besitzen, wie über die Schicksale der in Rede stehen-
den Schlosskirche, so werden uns doch die charakteristischen Eigenthüm-
lichkeiten der bei ihnen angewandten Baustyle und der in diesen stattge-
habten Veränderungen auf sichere Schlüsse leiten können. Es ist somit
im Folgenden eine genaue Beschreibung einer Reihe von diesen Gebäuden
gegeben worden, welche zu dem gegenwärtigen Vorhaben eine günstige
Gelegenheit darbieten und welche dasselbe um so mehr unterstützen, als
sie sämmtlich einem nur kleinen Kreise des sächsischen Landes ange-
hören , somit im Allgemeinen die Gefahr ausschliessen, durch Motive, die
nicht sowohl verschiedenen Zeitperioden als verschiedenen Localdistricten
angehören, auf zweifelhafte Schlüsse geleitet zu werden. Zugleich sind
diese Gebäude fast ohne Ausnahme bisher so wenig beaclitet, dass auch
aus diesem Grunde eine genauere Darstellung ihrer Eigenthümlichkeiten,
im weiteren Bezüge zur Geschichte der deutschen Architektur, nicht über-
flüssig erscheinen dürfte.

Die Resultate, welche aus der Vergleichung dieser Gebäude hervor-
gehen, fassen wir bereits hier zusammen, indem wir zur näheren Recht-
fertigung des Einzelnen auf die einzelnen Beschreibungen verweisen. ,

1) Als der alterthümlichste Baurest in diesen Gegenden, soviel uns be-
kannt, erscheint die Gruftkirche der St. Wipertikirche bei Quedlinburg.

2) In durchgebildeter Eigenthümlichkeit treten uns sodann zuerst die
Schlosskirche von Quedlinburg (in den Haupttheilen ihrer Anlage)
und die Kirche von Wester-Gröningen entgegen. Wollen wir auf die
oben angeführten Verschiedenheiten zwischen den Säulen der Ober- und
der Unterkirche zu Quedlinburg ein Gewicht legen und die letzteren als
die Arbeit schon mehr ausgebildeter Künstler betrachten, so dürfte über-
haupt die Kirche von Wester-Gröningen etwas älter sein als die von Quedlin-
burg, und in ihrer ganzen Anlage den Styl zu erkennen geben, dem man
bei dem Bau des Schiffes der letzteren noch zu folgen für gut fand. Doch
sind Unterschiede der Art vielleicht zu fein, um sie mit Sicherheit für
historische Schlussfolgerungen benutzen zu können. — In dieselbe Bau-
periode gehört auch die Schlosskirche (St. Cyriacus) zu Gern rode, über
deren Alter, nach ihren verschiedenen Theilen, wir weiter unten jedoch
noch einige besondere Muthmaassungen werden folgen lassen. — In diesen
drei Gebäuden sehen wir den Basilikenbau, wenn auch nicht ohne mehr
oder minder reiches Ornament, so doch noch in einfa^lier Ausbildung, im
Einzelnen mit namhafter Nachbildung antiker, aber ohne-alle Einwirkung
byzantinischer Formen vor uns.

3) Eine freiere und bedeutsamere Entfaltung des Basilikenbaues spricht
sich in der Kirche von Kloster Huyseburg aus. (Entscheidend ist vor-
nehmlich die reicher gebildete Bogenstellung des Schilfes.) Eine ähnliche
Anlage in den ältesten Theilen der Klosterkirche von Drübeck; doch ist
bei letzteren eine gewisse Schlichtheit zu bemerken, welche Vielleicht eine
etwas frühere Zeit andeuten dürfte. — Ungefähr in dieselbe Periode, wie
die ebengenannten, dürfte auch die Kirche von Frose gehören; bei ihr
sind zwar die Bogenstellungen des Schilfes noch in der früheren "Weise
angeordnet, aber der grosse Reichthum ihres architektonischen Details (dem
es gleichwohl noch an speziell byzantinischen Formen fehlt) deutet ebenso

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.1

I

586 Schlosskirche tu Quedlinburg etc.

auf diese spätere Entwicklungsperiode. Nimmt man auf die unten erwähnte
Aehnlichkeit einiger ihrer Formen mit den alten Resten des Kreuzganges
auf der Huyseburg Rücksicht, so dürfte sie etwa mit diesen gleichzeitig
und somit vielleicht etwas jünger als die dortige Kirche sein.

Ungefähr in die in Rede stehende Periode gehört aber auch noch der
in die Kirche von Wester-GrÖningen eingefügte westliche Einbau, welcher
in den Formen seines Ornamentes gewissen, in der Kirche der Huyseburg
vorkommenden eigenthümlichen Formen entspricht. — Ebenso dürfte, seiner
besonderen Beschall'enheit nach, der im südlichen Seitenschiff der Kirche
von Gernrode befindliche Einbau ungefähr als gleich alt anzunehmen sein.
(Die an beiden Einbauten vorhandenen Sculptiiren, die ebenfalls für die-
selbe Zeitbestimmung wichtig sind, können erst später in Betracht kommen.)
— Auch der Zitter der Schlosskirche von Quedlinburg, der in den Deck-
gesimsen seiner Kapitale von den übrigen Gliederungen dieser Kirche ab-
weicht und denen der Huyseburg vollkommen entspricht, ist mit der letzteren

fl^. ' als ungefähr gleichzeitig anzunehmen.

f /l Indem wir nun die an den Kirchen der Huyseburg und Drübeck's her-

vortretende bedeutsamere Entfaltung des Basilikenbaues in Betracht ziehen,
indem wir sodann auf die Art und Weise Rücksicht nehmen, wae nament-
lich der Einbau in der Kirche von Wester-Gröningen, die ältere, ursprüng-
lich grossartige Einrichtung des westlichen Theiles derselben verdunkelnd,
eingefügt ist, so werden war genügend berechtigt sein, einen beträchtlichen
Zeitraum zwischen jener früheren Bauperiode der Kirchen von Quedlin-
burg xind Wester-Gröningen, und der in Rede stehenden anzunehmen;
wir können auf keine Weise irren, wenn wir diese gesammten wesentlichen
Veränderungen, die überdies in sich einen deutlichen Zusammenhang haben,
um einen Zeitraum von ungefähr 70 Jahren später ansetzen, als jene augen-
scheinlich älteren Bauwerke.

4) Bei den eben genannten Gebäuden und Bautheilen finden sich aber
die speziellen Formen des sogenannten byzantinisclien Baustyles, nament-

i;'y lieh des dabei angewandten Ornamentes, nur im einzelnen Fall oder

| wenigstens noch ganz unausgebildet; im Allgemeinen herrscht auch hier

r f noch ein Nachklang antiker Formenbildung vor, wie er namentlich in der

' N Unterkirche zu Quedlinburg sichtbar wird, zugleich findet sich mehrfach

' 'j auch noch an den Ornamenten dieselbe Weise der einfachsten Sculptur.

I Ä Ganz im Gegensatz gegen alles dies erscheint uns dagegen der in der Kirche

t I von Drübeck angeordnete Umbau, welcher vollkommen bereits das Ge-

, präge des entwickelten byzantinischen Styles trägt, und alle Erinnerung an

i die Motive des früheren Styles auslöscht. Die überraschend durchgreifende

Weise, wie dieser Umbau unternommen wurde (vergl. unten die Beschrei-
bung dieser Kirche), lässt wiederum auf einen bedeutenden Zeitabstand
schliessen und wir werden denselben in diesem Fa](le gewiss auf einen
Raum von ungefähr oder beinahe 100 Jahren ausdehnen müssen.

1;

1 L

5) Doch zeigt dieser Umbau, trotz seines augenscheinlichen Reichthums,
den byzantinischen Styl (vornehmlich in den Ornamenten) noch immer in
derselben manierirten Weise, wie er insgemein an den bekannten Gebäuden
dieses Styles gefunden wird. In einer ungleich schöneren, zarteren und
geschmackvolleren Entfaltung, in einer vollkommen künstlerischen Durch-
bildung des Details und der Ornamente, — zugleich aber auch noch von
allem späteren Einfluss frei, — erscheint derselbe an der Kirche derC onrads-

' ¥

,Sf.

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Anhang. Benachbarte Kirchen. St. Wiperti. 603

587

bürg, einem der reizvollsten Denfemale deutscher Baukunst, Dieselbe ist
somit wiederum jünger als der eben besprochene Neubau.

6) Verwandt mit der Formation der an der Kirche der Conradsburg
vorkommenden Gliederungen ist der Unterbau der Thürme (und was hiezu
gehört, namentlich das Portal) am Dome i:u Halberstadt'). ImUebrigen
aber tritt hier zu den Motiven des byzantinischen Styles bereits ein frem-
des Element, welches in den Hauptformen vorherrscht, hinzu: der Spitz-
bogen und die durch denselben motivirten Anordnungen. Auch die Säulen-
kapitäle haben liier nicht mehr byzantinische Grundform, sondern eine,
dein neuen Style mehr angemessene, ja die Mehrzahl derselben ist bereits
vollständig in derjenigen Form gebildet, welche die frühesten Gebäude des
Spitzbogenstyles (des gothischen) charakterisirt. Wir haben hier einen
bedeutsamen und an sich allerdings eigenthümlich anmuthigen Ueberrest
des sogenannten Uebergangs-Styles vor uns, der somit wiederum später sein
muss als der Bau der Conradsburger Kirche, in welcher noch nichts von
dessen Motiven sichtbar wird.

7) Im entwickelt gothischen Baustyl tritt uns sodann zuerst der west-
lichste Theil des Schiffes des Halberstädter Domes (jenem Thurmbau zu-
nächst) entgegen, nemlich die Reihen der drei westlichen Pfeiler, Strebe-
pfeiler und der zwischen ihnen befindlichen Fenster. Doch zeigt dies Alles
den gothischen Baustyl noch in seiner früheren Einfachheit und Schlicht-
heit, wenigstens noch ohne Ueberladung von mannigfach buntem Schmuck
und ohne alle willkürlich geschweiften und gewundenen Formen. Die
Stabverzierung der Fenster ist namentlich noch vollkommen in jener schönen,
gesetzmässig organischen Weise gebildet, welche die Fenster des Kölner
Domes (gegründet im Jahr 1248) zeigen.

8) Die übrigen Theile des Halberstädter Domes lassen dagegen eine
ungleich spätere Entwickelung des gothischen Baustyles erkennen. Die
Strebepfeiler sind reicher, aber zugleich auch willkürlicher gebildet; in den
Fenstern hört jene einfach bedeutsamere Formation auf und macht einer
minder strengen, im Einzelnen — trotz der bunten Mannigfaltigkeit —
nicht mehr wahrhaft schönen Stabverzierung Platz die Gewölbrippen be-
wegen sich, die gesetzmässige Kreuzform grossen Theils verlassend, eben-
falls in willkürlich zusammengesetzten Linien u. dergl. m. — Eine ähnlich
willkürliche, wenngleich in der übrigen Ausführung nüchterne und zier-
lose, Stabverzierung bemerkten wir endlich an dem einen vollständig
erhaltenen Fenster des Chores der Quedlinburger Schlosskirche , dessen
Ausführung nicht bloss durch literarische Zeugnisse, sondern auch durch
jene, am Untertheil des Gebäudes befindliche, vollkommen unverdächtige
Inschrift auf das Jahr 1320 bestimmt wird.

Gehen wir nunmehr von dieser letzteren Bestimmung den Weg, den
wir eben durchlaufen haben, wiederum rückwärts und suchen wir so die
Zeitpunkte, in welchen das Einzelne ausgeführt sein dürfte, soweit es
thunlich ist, näher zu bestimmen. Zunächst betrachten wir in dieser Rück-
sicht den Dom von Halberstadt.

Durch urkundliche Zeugnisse®) wissen wir, dass das früher vorhandene

u

Vergl. das Werk von Dr. F. G. H. Lucanus: Der Dom zu Halberstadt,
seine Geschichte, Architektur, Alterthümer und Kunstschätze etc. Halberstadt 1837.

2) Wir folgen hier vornehmlich den in dem ebengenannten Werke von Lu-
canus gesammelten historischen Notizen, obgleich wir mit dem geschätzten Ver-

l

' J

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Scblosskirche zu Quedlinburg etc.

fe' '1

Gebäude, nach maiiclieiiei vorangegangenen Unbilden, im J. 1179 zerstört
und darauf im J. 1181 ein neues gegründet und dieses im J. 1220 einge-
weiht (also wesentlich vollendet) wurde. Dieser Neubau dürfte hier mög-
licher Weise in Betrachtung kommen; von etwanigen Kesten eines älteren
Gebäudes ist, dem Style nach, bestimmt nichts am Dome vorhanden. So-
dann wird, unter Semeca, der im J. 1237 zuerst als Dechant des Domstif-
tes genannt wird, neuer Bau-Unternehmungen, und, zwar an der Westseite,
wo die Thürme befindlich sind, gedacht. Im J. 1252 wird die Nothwen-
digkeit, die vor Alter schadhafte Kirche aufzubessern, ausgesprochen; im
J. 1258 wird gesagt, dass sie durch einen Brand zerstört worden sei und
von Grund aus neu gebaut werden müsse. Nun folgen in den Jahren
1263 — 1276 reiche Zeugnisse anhaltender Bauthätigkeit, die sodann aber
abbrechen und erst im Jahre 1341, 1354 und 1366, mit Bezug auf den
Chorbau, wieder hervortreten. Wir haben hier also vier Baiiperioden vor
uns (die um 1200, die um 1237, die in der späteren Hälfte des dreizehnten
und die in der Mitte des vierzehnten Jahrhunderts). Das Gebäude selbst
aber zeigt nur drei wesentlicli verschiedene Style. Es muss also zunächst
in Frage kommen, ob der älteste Theil desselben, der Unterbau der Thürme,
ein Rest des um 1200 erbauten Domes, oder der um das J. 1237 begon-
nenen neuen Unternehmungen sei, welche letzteren höchst wahrscheinlich
durch den urkundlich angeführten Brand nöthig geworden waren. Die
Frage ist schwierig, aber nicht unbeantwortbar. Werfen wir nemlich einen
Blick auf den gesammten Zustand der Entwickelung der Baukunst, welcher
in Deutschland in den ersten Jalirzehnten des dreizehnten Jahrhunderts
herrscht, so finden wir hier (bei Gebäuden, deren Datum feststeht) noch
überall den byzantinischen Baustyl, dem nur erst einzelne Motive des
Ueberganges zum Gothischen beigemischt sind^). In den in Rede stehen-
den Theilen des Halberstädter Domes aber, welche zwar gleichfalls das
byzantinische Element noch nicht verläugnen, herrscht der Spitzbogen be-
reits wesentlich vor und wir können somit ein Gebäude der Art nicht be-
reits als im J. 1181 gegründet betrachten. — Iliemit steht sodann auch
das historische Yerhältniss der übrigen Bautheile im sichersten Einklänge.

fasser in ihrer Anwendung auf den vorhandenen Bau nicht gänzlich übereinstim-
,nien. (Vgl Museum, Blätter f. blld. Kunst, 1837, No. 14 und 18, — oben,
S. 480 u. 489.) Für denjenigen unsrer Leser, welcher den Ansichten des Hrn.
Lucamis folgt, oder vielleicht einzelnen Theilen des Halberstädter Domes ein
noch höheres Alter zuzuertheilen geneigt ist, wird die gesammte Beweisführung,
welche uns hier beschäftigt, eine ungleich grössere Leichtigkeit (vielleicht aber
nicht dieselbe Sicherheit) haben, als Avir ihr zu geben im Stande sind,

1) Um hier weitläufiger Anführungen und Untersuchunglen überhoben zu sein,
möge statt weiterer Belege auf die treffliche Schrift von J. 1l^^etter: „Geschichte
und Beschreibung des Domes zu Mainz," und zwar auf die Anmerkung S. 49
verwiesen werden, wo das gesammte Verhältniss bereits genügend und unwider-
leglich auseinandergesetzt ist. — Auch ist es nicht überQüs&ig, bei dieser Gelegen-
heit wiederholt zu bemerken, dass die Ruine der Klosterkirche zu Memleben,
welche man gewöhnlich als einen Rest des zehnten Jahrhunderts und somit, da
sie in der That das entschiedene Gepräge des Ueberganges aus dem byzantinischen
in den gothischen Styl trägt, als ein Zeugniss für die frühen Anfänge des Gothischen
in Deutschland betrachtet, auf keinen Fall dies vorausgesetzte Alter haben kann,
Vgl. Museum, Blätter für bild. Kunst, 1834, No. 21J 1837, No. 28; — oben,
S. 174 u. 507, ff.

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Anhang. Benachbarte Kirchen.

Zunächst ergiebt es sich, dass der westlichste Theil des Schiffes in die
zweite Hälfte des dreizehnten Jahrhunderts gehört, und auch das bei ihm
angewandte System stimmt eben so mit jener noch strengen Ausbildung
überein, welche der gothische Styl an den Gebäuden dieser Periode, deren
Gründungszeit bestimmt ist, erkennen lässt. Die übrigen Theile des Domes
endlich, welche den Charakter eines niclit mehr vollkommen reinen gothi-
schen Styles tragen (wie letzterer im vierzehnten Jahrhundert, namentlich
auch am Chor der Quedlinburger Schlosskirche, erscheint), gehören sonach
der letzten Bauperiode an, was denn auch für den Chor durch die Urkun-
den vollkommen bestätigt wird.

Iliedurch gewinnen wir für den Uebergang aus dem byzantinischen in
den gothischen Styl, in Rücksicht auf denjenigen Kreis, auf welchen sich
unsre Untersuchung beschränkt, zunächst einen festen Fuss. Weiter rück-
wärts begegnet uns sodann zuerst die Kirche der Conradsburg, deren Bau-
zeit, bei ihrem nahen Verhältniss zu den ältesten Theilen des Halber-
städter Domes, obgleich noch von aller fremdartigen Einmischung frei, auf
die Periode um das Jahr 1200 bestimmt werden darf, eine Periode, die
überall in Deutschland die zierlichste Ausbildung des byzantinischen Styles
darlegt.

Wiederum etwas älter als diese erscheint der Umbau der Drübecker
Kirche, dessen Zeit wir sonach ungefähr auf die Periode um II70 — eben-
falls dem allgemeinen Style dieser Zeit vollkommen angemessen — fixiren
dürfen.

Von dem Umbau dieser Kirche bis zu der Zeit ihrer ursprünglichen
Anlage aber haben wir, in Rücksicht auf die angegebenen und wohl zu
beachtenden Verhältnisse, einen bedeutenden Sprung rückwärts zu machen,
den wir, wie bemerkt, kaum durch eine kürzere Zeit als den Raum von
etwa hundert Jahren hindnrchführen können. Wir werden hiedurch in
der That genothigt, die zweite Hälfte des elften Jahrhunderts als die Pe-
riode anzunehmen, in welcher die in Rede stehende Kirche, und somit
auch die der Huyseburg, erbaut ist. Ungefähr gleichzeitig mit dem Bau
dieser Kirchen erscheinen, wie angegeben, auch die Einbauten in den Kir-
chen von Gernrode und Wester-Groningen: die auf diesen vorhandenen
alten Sculpturen, welche dem Style der bildenden Kunst um das Ende des
elften Jahrhunderts entsprechen, stimmen nicht minder für dieselbe Periode.
Auch die Kirche von Frose gehört sonach ungefähr in diese Zeit.

Hiemit aber sind wir bis zu jener Periode vorgerückt, in welcher der
Brand der Quedlinburger Schlosskirche und der angebliche Neubau dersel-
ben (1070 — 1129) erfolgt ist. Der einfache Vergleich dieses Gebäudes, in
den wesentlichen Theilen seiner vorhandenen Anlage, mit den eben be-
sprochenen aber zeigt uns eine so bedeutende Styl-Verschiedenheit, dass
hier von einer gleichzeitigen Bau-Periode nicht die Rede sein kann. Ebenso
nöthigt uns der Einbau in der Kirche von Wester-Gröningcn, welche letz-
tere der Schlosskirche von Quedlinburg wesentlich gleichzustellen ist, eine
Zeit der Gründung anzunehmen, welche einem solchen, die alte Anlage so
sehr beeinträchtigenden Einbau bereits fern steht. Auch hier werden wir
somit genöthigt, einen neuen Sprung in die Vergangenheit zurück zu un-
ternehmen , und wir können demnach für die Erbauungszeit der Schloss-
kirche von Quedlinburg, keine andere, als die früher besprochene Bau-
Periode von 999—1021 mit Ueberzeugung annehmen. Diese Annahme be-
stätigt nun vollkommen die bereits oben (S. 579) angeführten UnlstUnde

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59G Sclilosskirche zu Quedlinburg etc,

(dass nemlich der Brand die Kirche nicht zerstört, sondern nur die ange-
führten Restaurationen nöthig gemacht habe), sowie sie selbst durch jene
Umstände ebenfalls ein um so grösseres Gewicht erhält.

Ungefähr in dieselbe Zeit scheint sodann auch die Schlosskirche von
Gernrode zu gehören. Doch bietet diese, in Bezug auf die Zeitbestimmung
ihrer einzelnen Theile, einige eigenthümliche Schwierigkeiten dar, die
ohne die speziellsten Durchforschungen ihrer baulichen Beschaffenheit nicht
gänzlich zu lösen sein dürften. Dass zunächst der in ihrem südlichen Sei-
tenschiflf vorhandene Einbau, welcher das Innere ihrer Erscheinung we-
sentlich beeinträchtigen musste und welcher ohne Zweifel in der späteren
Zeit des elften Jahrhunderts ausgeführt ward, auch ihre Erbauung in eine
ähnlich frühere Zeit zurücksetzt, wie denn auch der Charakter des Ge-
bäudes im Allgemeinen mit dem der Schlosskirche von Quedlinburg und
der von Wester-Gröningen übereinstimmt, — dieser Schluss scheint in sich
genügend gerechtfertigt. Aber der Umbau, welcher-hier ausserdem noch
am westlichen Theil der Kirche Statt gefunden hat, macht die Sache ver-
wickelter. An sich selbst nemlich scheint derselbe in der rohen "Weise, in
welcher er ausgeführt ist, schon in eine beträchtlich frühe Zeit zu gehören;
dann aber finden wir hier (vergl. die Beschreibung der Kirche) gewisse
Spuren, welche auf die beabsichtigte Anlage einer neuen Gruftkirche an
dieser Stelle hinzudeuten scheinen. "War nun jener Einbau im südlichen
Seitensclüff (welcher unstreitig zu einer zweiten Gruftkirche bestimmt war)
bereits vorhanden, so dürfte die Absicht, noch eine dritte der Art anzu-
legen, allzu unwahrscheinlich sein; in diesem Betracht können wir nicht
anders, als die Zeit dieses westlichen Umbaues vor die des eben ange-
führten Einbaues im Seitenschiff, d. h. in eine frühere Zeit des elften Jahr-
hunderts, setzen®); und wir müssen demzufolge die ursprüngliche Anlage
der Kirche, die durch diesen Umbau so durchgreifend verändert ward,

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Auffallend bleibt hiebei nur der Umstand, dass, Avie oben (S. 549) in der
Beschreibung der Unterkirche bemerkt wurde, die Säulen der letzteren mehrfache
Zeugnisse einer nicht gänzlich vollendeten Arbeit enthalten. Jedoch reicht dies
auf keine Weise hin , um deshalb die Richtigkeit der obigen Annahme zu be-
zweifeln. Wir können eine ganze Reihe von Möglichkeiten , durch welche ein
solcher vorzeitiger Abschluss der Arbeiten veranlasst worden, ersinnen, ohne frei-
lich, bei dem Mangel anderweitiger historischer Nachrichten, hiebei auf einen
sicheren Weg geleitet zu werden.

") Bei dem sächsischen Annalisten und dem Chronikon von Quedlinburg
findet sich (vergl. Erath, Cod. dipl. Quedl. p. 67.) die Angabe, dass das „Mo-
nasterium Geronroth etc." im J. 101.4 der Aebtissin Adelheid von Quedlinburg
übergeben worden sei (obgleich freilich in den Urkunden über Gernrode bei
Beckmann, s. unten, nichts der Art geäussert wird.) Dürfte es erlaubt sein, sich
auf diese Angabe zu stützen und in Folge eines solchen, vielleicht vorübergehen-
den Ereignisses neue rituelle Einrichtungen, welche den Biau eines zweiten Chores
auf der Westseite nöthig gemacht, anzunehmen? — Leider ist noch immer so
wenig über den eigentlichen Zweck der so häufig vorkommenden westlichen
CJiornischen bekannt! Doch mag beiläufig erwähnt werden, dass Bodolph,
der Schüler des Rabanus Maurus, in seiner vita firabani, bei Gelegenheit
der Kirchenbauten seines Meisters, mehrfach von einer „apsis orientalis" spricht,
wo Altäre und Reliquienkasten aufgestellt wurden. Sollte diese ausdrück-
liche Bezeichnung vielleicht bereits in jener Zeit auf eine apsis occidentalis
hindeuten ?

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Anhang. Benachbarte Kirchen. St. Wiperti. 591

wiederum weiter hinausrücken, sie demnach für namhaft älter als die
Kirche von Quedlinburg, — vielleicht für das ursprünglich von Markgraf
Gero gegründete Gebäude halten. Hiefür scheinen in der That die auf-
fallend kleinen Dimensionen der alten Fenster des Mittelschiffes und die
weite, leere Mauers welche sich unter ihnen bis auf die Bogenstellung
herab erstreckt, zu sprechen; oh aber die besondere Form der Säulenkapi-
täle einen solchen Schluss erlaubt, müssen wir dahingestellt sein lassen, ^
und um so mehr, als diese ganze Schlussfolgerung von einigen Anzeichen
ausgeht, durcli welche sie zwar als wahrscheinlich, doch noch nicht als
vollkommen unwiderleglich dasteht

Gewiss beträchtlich älter als die Schlo^sskirche von Quedlinburg, mög-
licher Weise noch in das neunte Jahrhundert gehörig, ist endlich die
Gruftkirche der dortigen Kirche St. Wii^erti, wie sich dies in jeder Be-
ziehung durch ihre besondere Beschaflfenheit ergiebt, —

Wenden wir nach diesen Betrachtungen den Blick noch einmal auf
die Schlosskirche von Quedlinburg zurück, welche in den gesammten (Thei-
len ihrer alten Anlage ein so eigenthümliches Bild bedeutsamer Pracht
und Majestät entfaltet, so darf es uns auf keine Weise befremden, ein sol-
ches in so früher Zeit, um den Anfang des elften Jahrhunderts, bereits
vor uns zu sehen. Erfreute sich das sächsische Land doch gerade in
dieser Zeit seiner höchsten Blüthe, war Quedlinburg doch der Stammsitz
der sächsischen Kaiser, den sie häufig besuchten, in dessen geheiligten
Mauern sie die höchsten Feste des Jahres feierten, für dessen Verherr-
lichung sie auf so mannigfache Weise bemüht waren. Aus diesen Um-
ständen sind wir sodann auch schon an sich berechtigt, vorauszusetzen,

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1) Beiläufig k«)nnen wir hier noch eines andern, nicht fern gelegenen Oebäudes
gedenken, dessen ursprüngliche Anlage ohne Zweifel in dieselbe Periode,-wie
die Schlosskirche von Quedlinburg und die Kirche von Wester-GronlBgen, ge-
hört, und welche zur Feststellung dieser Periode noch ein Gewicht mehr hinzu-
fügt. Dies ist die Frauenki rohe zu Magdeburg. Sie zeigt in ihrem Inneren
ein eigenthümliches, jedoch nicht inconsequentes Geraisch von Rundbogen und
Spitzbogen; bei näherer Betrachtung erkennt man indess, dass die gesaromte
spitzl?ogige Architektur des Inneren nur ein Ueberbau (aus dem dreizehnten Jahr-
hundert; ist. Die ursprüngliche Anlage wurde vornehmlich dadurch verdunkelt,
dass man beträchtlich verstärkte , gegliederte Pfeiler, zur sicheren Unterstützung
des spitzbogigen Gewölbes, anordnete; aber in den Ecken einiger dieser Pfeiler
(namentlich der beiden, welche dem Kreuz der Kirche zunächst stehen) sieht
man noch die Theile der umbauten alten Säulen und ihrer Kapitale hervorragen,
— letztere mit rohen Band^/erschlingungen geschmückt, welche ganz der Art und
Weise eben dieser Verzierxing, wie sie in Wester-Gröningen und Quedlinburg
vorkommt, entsprechen. (Vgl. oben, S. 127,) Die Kirche wurde im.Jahr 1014
durch Erzbischof Gero erbaut und zu einem Canonicat-Stifte bestellt; hundert
Jahre später war das Stift sehr in Verfall gerathen und wurde, iui Jahr 1129,
durch den heiligen Norbert zu einem Prämonstratenser-Kloster reformirt. Uns
sind die sehr ausführlichen Berichte über den Zustand des Stiftes und Klosters
in dieser letzteren Periode aufbehalten, aber wir finden keine Spur, welche dar-
auf hindeutete, dass gleichzeitig ein neuer Bau nöthig geworden wäre, so dass
wir für die ursprüngliche Anlage nur das genannte Jahr 1014 in Anspruch neh-
men können. Vergl, Leuckfelds Antiquitates Praemonstratenses, S. 4 u. 10.

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59G Sclilosskirche zu Quedlinburg etc,

dass die Kirche, welche von der Aebtissin Mathilde mit so grosser Pracht
erneut ward und für deren Vollendung der, bei so günstigen Verhältnissen
nicht kurze Zeitraum von vier und zwanzig Jahren nöthig war, nicht aus
Holz, sondern von Hansteinen müsse erbaut gewesen sein. Allerdings zwar
kommen vielfach Nachrichten vor, dass man in jenen frühen Jahrhunder-
ten die Kirchen aus Holz erbaut habe, doch fehlt es auch auf keine Weise
an Zeugnissen für das Gegentheil. Für das elfte Jahrhundert sind diesel-
ben schon in bedeutender Anzalil vorhanden auch für das zehnte Jahr-
hundert finden sich deren mehrere von besondrer Bedeutung. Vornehm-
lich wichtig ist es uns in dieser Rücksicht, zu wissen, dass auch der
etwas jüngere erste Bau des Domes von Mainz (978 — 1009), zu dem die
sächsischen Kaiser in einem ähnlich nahen Verhältnisse standen wie zu
der Schlosskirche von Qviedlinburg, von Stein (vermuthlich ebenfalls als
Basilika, und mit ähnlich ausgedehnter Gruftkirche) aufgeführt worden
war -). So fehlt es auch nicht an Zeugnissen, dass man bereits im zehnten
Jahrhundert begonnen habe, die Klöster mit steinernen Mauern za um-
geben was denn natürlich auch auf eine ähnliche Technik bei ander-
weitigen wichtigen Bau-Unternehmungen schliessen lässt. Demzufolge darf
es uns ebenfalls, nicht befremden, ausser der Quedlinburger Schlosskirche
noch einige andre Gebäude vorzufinden, welche um den Schluss des zehn-
ten Jahrhunderts, oder vielleicht noch etwas früher, aus Stein errichtet
worden sind.

In gleicher Weise sind auch die Besonderheiten des Styles, welche
uns an der Schlosskirche von Quedlinburg, ähnlich auch an den anderen
ältesten Gebäuden dieser Gegend (unter denen, wie bemerkt, die Gruft-
kirche von St. Wiperti vorzüglich wichtig ist) entgegentreten, — jenes
Gemisch aus Reminiscenzen antiker Kunst und eigenthümlichen, mehr oder
minder barbarischen Formen, ganz dem Charakter angemessen, welchen
die geistige Bildung des zehnten Jahrhunderts trägt. Vornehmlich gilt dies
von dem Style der Malerei und Sculptur, welcher in dieser Periode, trotz
mannigfach bedeutender Entartung, noch immer die überlieferte Darstel-
lungsweise des klassischen Alterthums erkennen lässt. Zeugnisse für diese
Erscheinung sind schon anderweitig bereits in genügender Anzahl aufge-

1) Vergl, z. B. Wetter a. a. 0., S. 160, Anm. fif.

2) Ebendas. S. 3 fif.

In diesem Betracht ist vornehmlich eine Stelle aus jener, bereits oben
erwähnten Handschrift der Bibliothek von Wolfenbüttel (mss. Guelpherbyt. 76,
14.), -welche die Wunder des h, Wigpertus enthält, anzuführen. In .einer darin
vorkommenden Erzählung: „De ruina cuiusdam supra mnrum sedentis heisst
es nämlich p. 38, b. folgendermaassen: „Nuper dirae calamitatis flagello^ super
nos paganis concesso regall consensu regaliumque principum dentis (?) decreto
sancitum est et iussum, honestorum virorum feminarumque conventicnlis loca
privata munitionibus flrmis murisquo circumdari. Quod ut et apud nos ita fleret
ex omni abbatia familia convocata labori cotidiano huic operi instabat peragendo
factumque est, nt propere quodam in loco et absque norma confuse paries con-
structus usqne ad deflnitam consurgeret snmmitatem. Cunctis itaque recedenti-
bns subito prolapsu dissolutus est murus nno tantum adhuc desuper remanente,
quem secum ruitura moles vasto impetu detraxit atque fossae XII pessibus (am
Bande ist pedibns verbessert) a muro distante iniecit." (S. Waltz zu der Stelle
bei Pertz M. G. VI. p. 225.)

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Anhang. Benachbarte Kirchen. St. Wiperti. 593

fi'jhrt worden ')•, hier wollen wir noch der Siegel der deutschen Kaiser
aus jener Zeit 2) Erwähnung thun, welche eben dasselbe bestätigen und
als vollkommen sichere. Zeugnisse zu betrachten sind. In der That sind
auf den Siegeln der Ottonen die Bildnisse der Kaiser noch immer in dem
antik römischen Typus gebildet, während erst im elften Jahrhundert, mit
denen Heinrichs IL, der Styl der byzantinischen Kunst sich bemerklich
macht, durch die Siegel der folgfinden Kaiser hin — und keinesweges die
Vorzüge jener antikisirenden Darstellungen erreichend — sich weiter
fortbildet, bis er endlich in denen Friedrichs L, in der späteren
Zeit des zwölften Jalirhunderts, noch vollendeter iii denen Friedrichs II.,
in eigenthümlicher Entwickelung erscheint. Bei den letzteren zeigen sich
die Motive des klassischen Alterthums wiederum neu und mit Absicht
aufgenommen, und ihnen entspricht denn auch (wie bei den vorhergehen-
den) wiederum die allgemeine Kunstrichtung dieser Zeit, die in solcher
Richtung eiü sehr beachtenswerthes, im Einzelnen höchst überraschendes Be-
ginnen hervorgebracht hat. Für alles dies, und namentlich für die letzt-
genannte Erscheinung, bieten uns u. A. die im Zitter der Quedlinburger
Schlosskirche aufbewahrten Alterthümer die interessantesten Beispiele.
Aber auch die Architektur des letzterwähnten Zeitraumes zeigt, ganz in
gleicher Weise, ein höchst merkwürdiges neues Eingehen auf die Bildungs-
weise der Antike, ohne dabei jedoch ihre eigenthümliche Freiheit irgend-
wie einzubüssen, und sie hat in dieser Weise Werke hervorgebracht, welche,
wie die rei/jvolle Kirche der Conradsburg, nicht minder das höchste In-
teresse in Anspruch nehmen.

1) Die St. Wipertikirche bei Quedlinburg.

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Die Gründung dieser Kirche wird, wie wir oben (S. 562 f.) sahen, dem
neunten Jahrhundert unserer Zeitrechnung zugeschrieben; die Art ihrer
Entstehung aber ist in Dunkel gehüllt. Wir linden sie zunächst in Hein-
richs des Ersten Besitz, aus dem sie bei dessen Tode in den Besitz der
Königin Mathilde überging, zu deren Wittwengut sie gehörte. Denn im
Jahr 961, ehe sie noch durch Mathilden's Tod dem Könige wieder zufiel,
schenkte sie Otto der Erste nach dem Willen seiner Mutter an das Stift,
unter der ausdrücklichen Bedingung, in der Kirche nicht weniger als zwölf
Geistliche auf eigene Kosten zu erhalten Bald darauf aber machte .sie
diese Geistlichen selbständiger; wir finden schon im Jahr 964 eine Urkunde
Otto des Ersten, worin sie das Recht erhalten, sich einen Abt zu wählen,
und das von Mathilde ihnen zugesicherte Eigenthum bestätigt wird. Aus-
drücklich verleiht ihnen der Kaiser die Rechte der königlichen Abteien'),

') V. Rumohr: Italienische Forschungen, I, S. 216 ff. — F. Kugler:
Handbuch der Geschichte der Malerei etc. II, Buch 1.

-) S. u. a. die Abbildungen bei Erath, Cod. diplom. Quedlnib.

S. Erath p. 12 „statuimus etiam, ut Abbatissa,. quae monasterium in
monte sltuin regere videbitiir, in ecclesia, inferius in corte constituta haud minus
quam duodecim clericos — toto victu et vestitu praevideat aevo."^

') S. Erath p. 13 „ut liberam inter se Abbatem sou Primicerium eligendi
habeant pot«statem, sicut
in veteris Abbatiis, regiae dominatloni subiectis; praedia
vero, qnae praenominata venerabilis Regina Mäthildis — concessit, concedimus.

Kiisler, Kleine SchrifUin. I.

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59G Sclilosskirche zu Quedlinburg etc,

denen sie von jetzt an, aber durchaus unter der Oberhoheit des Servatius-
stiftes, beigezählt werden.

Von dieser Zeit an hat das Kloster bis zur Reformation ununterbrochen
fortgedauert, und sich im Anfange seines Bestehens einer grossen Blüthe
erfreut. Die Mönche, welche hier lebten, waren ursprünglich Benedictiner;
vom J. 1148 an aber Prämonstratenser Das Kloster und die Kirche haben
viele sehr bedeutende Veränderungen und Zerstörungen im Laufe der Zeit
erlitten, von denen nur die wichtigsten hier angegeben werden können. Im
13. Jahrhundert unternahm der Propst des Klosters eine Erweiterung und
Vergrösserung seiner Gebäude, ohne dass ein Unfall vorangegangen war.
Aber im Jahr 1336, während des Krieges des Grafen Albert von Reinstein
mit der Stadt Quedlinburg, hatte sich der Graf in Besitz des Klosters ge-
setzt, es befestigt und von den Thürmen aus die Bürger bedrängt. Nach
der Gefangennehmung desselben am 22. Juli rächten sich die Bürger da-
für an dem Kloster selbst, welches dem Grafen Vorschub geleistet hatte,
und verwüsteten es mit, Feuer und Schwert. Dies ist das grösste Unglück,
welches die Kische traf; sie wurde verwüstet und verbrannt, ihrer beiden
Thürme beraubt, und zwar von den Bürgern selbst, aber sehr dürftig und
dem vorigen Glänze durchaus unangemessen wiederhergestellt 2). Nach Win-
nigstädt^) war „die Anzeigung des Brandes noch in jener Zeit an den alten
Mauern zu sehen." Doch hatte schon das Kloster von Neuem durch die
Verwüstungen der Bauern stark gelitten, die im J. 1525 auch die hiesige
Gegend durchzogen und verheerten^).

Die Räume des Hauptbaues dieser Kirche genau zu untersuchen, wurden
wiv durch den gegenwärtigen Zweck derselben verhindert. Sie dient als

Kornscheune und die darin aufgehäuften Vor-
räthe, zum Theil auch die neueren angefügten
Gebäude gestatteten keine umfassende Besichti-
gung. Für den Zweck dieser Blätter dürfte es
indess schon genügen, wenn wir anführen, dass
die rundbogigen Arkaden des Schiffes keine Säulen
enthalten, sondern, wie in der Liebfrauenkirche zu
Halberstadt, durch viereckige Pfeiler gebildet wer-
den. Das Kämpfergesims dieser Pfeiler besteht
aus Platte, scharf eingezogener Kehle und kleinem
Wulst mit einigen Zwischengliedern; das Fuss-
gesims ist attisch, von gutem Verhältniss der Glie-
der zu einander, doch wenig ausladend. — Im
Aeusseren, namentlich der Seitenschiffe, bemerkt
Kämpfer,esim, Fussfcesims i»»» mannigfache Veränderungen des Baues, zum
der Pfeiler iu der Oberkirche. Theil aus der früheren Zeit des gothischen Styles.

S. Erath p. 99.

Der Chor, der Kreuzgang und die Thünne wurden wiederhergesiellt.
S. Fritsch, Gesch. v, Quedl, I, 286.

3) Bei Abel, S. 502. Fritsch, I, S. 169.

«) Fritsch, S. 294.

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Anhang. Henachbarlö, Kirchen. St. Wiperti. 595

Von höchstem Interesse ist die
kleine Gruftkirche dieser Kirche,
der gegenwärtig sogenannte Altar-
keller. Ihre ganze Einrichtung,
sowie die Formation ihrer Details,
lässt hier auf den ersten Blick
das höchste Alter erkennen. Sie
besteht aus einem kleinen Mittel-
schiff und fast eben so breiten
Seitenschiffen, welche durch eine
Stellung von je zwei Säulen und
einem schweren viereckigen Pfei-
ler zwischen ihnen von einander
gesondert werden. AndasMittel-
schilT schliesst sich, wie gewöhn-
lich, die Altarnische an, welche
hier jedoch nicht durch Mauern,
sondern ebenfalls durch eine Stel-
lung von Pfeilern und Säulen (an
den Ecken zwei schwere viereckige Pfeiler, dann auf jeder Seite zwei
Säulchen und zwischen diesen, in der Mitte der Nische, ein kleinerer vier-
eckiger Pfeiler) umfasst wird'). Hinter der letzteren zieht sich ein halb-
runder Umgang als die Fortsetzung der Seitenschiffe umher. Diese sämrat-
lichen Pfeiler und Säulen, im Schiff und in der Nische, werden nicht, wie
in der entwickelten Kunst des früheren Mittelalters, durch Halbkreisbögen,
sondern, der Antike verwandt, noch durch ein horizontales Gesims ver-
bunden, dessen Hauptform in der Altarnische ein Viertelstab, im Schiff ein,
der Antike vornehmlich entsprechender Karnies ist. Von diesem Gesims
ausgehend werden sämmtliche Räume sodann durch Tonnengewölbe bedeckt,
nur die kleine Altarnische, wie gewöhnlich, durch eine Halbkuppel. An
den Wänden finden sich rings umher grössere und kleinere viereckige

Nischen. Die Gesammtlänge der Gruftkirche
~~ ^ beträgt 23 Fuss; die Breite 19 Fuss; die Höhe,
^^^^ im Mittelpunkt der Gewölbe, 9 Fuss, Die
(f^J Säulen haben, bis an das Gesims, eine Hohe
' von 6 Fuss. — Die grösseren Pfeiler sind ganz
roh, ohne Deck- und Fussgesimse. Der klei-
nere Pfeiler in der Altarnische hat ein ionisches
Voluten-Kapitäl, doch ohne Eierstab, aber
auch ohne fremdartige Verzierung; die Base
desselben ist von leidlicher attischer Form.

Von dem kl. Pfeiler in dej- Aiiarnische. Die Säulchcn ZU den Seiten desselben sind mit
einem höchst einfachen Kapitäl versehen, welches die später ausgebildete
Form des abgestumpften Würfels vorzudeuten scheint, es bildet nur einen

Diese Einrichtung, — halbrunde Nischen , von Säulen getragen, — die
sie* zuweilen bei Kirchen der späteren Zeit des byzantinischen Styles vor-
findet, ist gleichwohl kein Gegenbeweis gegen das angenommene hohe Alter
der Gruftkirche, dä sich ganz Aehnliches bereits an der Sophienkirche
zu Constantinopel, an S. Vitale zu Ravenna (vollendet im
J, 547) u. a. 0.
vorfindet. -

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59G Sclilosskirche zu Quedlinburg etc,

rohen Uebergang aus der runden Form der Säu]e in die viereckige Form
des Abakus. (Dieselbe Form findet sich häufig, wenn auch reicher orna-
mentirt, an den ältesten Kirchen des Mittelalters, wie z. B. vorherrschend
an den Säulenkapitälen von S. Vitale zu Ravenna, von S. Marco zu Ve-
nedig u. s. w.) Die Basen derselben sind ebenfalls attisch, aber mit starken
vortretenden Pfühlen und kleiner, eingezogener Kehle. — Die Säulenkapitäle
des Schiffes endlich haben eine merkwürdige Form, deren Profil man mit
dem eines umschlagenden Blattes vergleichen dürfte, und gewiss ist sie
aus dem antiken Blattkapitäle entstanden, vielleicht durch Bemalung dem-
selben ähnlicher gewesen; darüber ruht ein sehr schwerer Abakus. Die
Basen dieser Säulen sind wiederum attisch, aber von einer Bildung, welche
dem Geiste dieser Form noch wohl angemessen ist.

Alle diese Elemente, — die geradlinigen Gesimse, die theils der
Antike nah verwandten, theils aus eigner Unbehülflichkeit entstandenen
Formen, die Abwesenheit aller Motive, welche die mittelalterliche Kunst
?I)eciell charakterisiren, sodann die kindliche Rohheit der Gesammt-Aiis-

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Auliang. Benachbarte Kircherii Wester-Gröningen.

fühning, deuten auf eine sehr frülie Erbauiiiigszeit zurück und machen es
sehr wahrscheinlichdass wir in dieser kleinen Gruftkirche in der That
einen Ueberrest aus der frühesten Zeit christlicher Kunstübung in den
sächsischen Landen besitzen.

2) Die Kirche von Kloster- oder Wester-GrÖningen.

(Jetzt Dorf Gröiiiiigen, bei dem Städtchen gleiches Namens.)

Stiftungs-Urkunde vom 26. Mai des Jahres 936, durch welche Oraf
Siegfried dem Convente von Corvey zur Errichtung eines Klosters Über-
gicbt: „hereditatem suam in pago Hardgo, in loco cujus vocabulum est
Westergroningen sito juxta fluvium Bade: hoc est
ipsam ecclesiam cum
clericis, quos ibi proprios habuit etc." Das Kloster von Westergröningen
blieb, die Zeit seines Bestehens hindurch, dem Stifte von Corvey zugehörig;
weitere Nachrichten über die Geschichte desselben sind nicht bekannt').
Ob die gegenwärtig vorhandene Kirche die in jener Urkunde angeführte
sein möge, muss natürlich, in Ermangelung anderweitiger Zeugnisse, zweifel-
haft sein; indess zeigt sie in den erhaltenen Theilen ihrer ursprüngliclien
Anlage, die durch die späteren Unbilden und Veränderungen, welche sie
erlitten hat, niclxt gänzlich vernichtet ist, mannigfache Motive, welche
wenigstens an sich bereits auf ein beträchtlich hohes Alter zurückdeuten.
Zu bemerken ist, dass die Details dieser ursprünglichen Anlage den roheren
Tlieilen der Schlosskirche von Quedlinburg verwandt und einige der vor-
züglichst charakteristischen Ornamente beiden gemein sind.

Die Kirche war eine Basilika mit einem Querschiff auf der Ostseite.
Die Seiteuschilfe sind gegenwärtig nicht mehr vorhanden und die Bogen-
stelliingen, welche dieselben mit dem Mittelschilf verbanden, vermauert, so
jedoch, dass zwischen den Bögen verschieden gestaltete Fenster offen ge-
lassen sind. Die Fenster in den oberen Wänden des Mittelschiffes sind
ebenfalls vermauert. Auch die Allarnischen am ,Chor und an den Kreuz-
flugeln sind abgerissen und vermauert, und nur von der des südlichen
Kreuzflügels bemerkt man im Inneren noch die Spur. Die Kirche hatte
keinen hohen Chor, somit offene Zugänge von den Seitenschiffen zu den
Kreuzflügeln, welche letzteren zwar wiederum vermauert, doch im Inneren
noch deutlich erkennbar sind. Ueber der Dur^ischneidung des Kreuzes
(!rhebt sich ein acliteckiger Thurm. Zur Unterstützung desselben sind die
Kreuzpfeiler und die Schwibbogen, Avelche diese verbinden, neuerdings
beträchtlich verstärkt worden (sie haben ein modern griechisches Kämpfert
gesims); doch bemerkt man in den Ecken noch die ursprünglichen Wand-
pfeiler des Kreuzes mit ihren Kämpfern, sowie auch die von ihnen getra-
genen, (!twas vorspringenden Bögen.

In den Bogenstellungen des Schiffes wechseln zwei Säulen mit einem
Pfeiler (auf jeder Seite nur vier Säulen, und ein Pfeiler in der Mitte).
Die auf der südlichen Seite sind so vermauert, dass die Formen nicht mehr
mit hinlänglicher Deutlichkeit zu erkennen sind; die auf der Nordseite

Vergl. 11. a.: Leuckfeld, Antiquitates Gröningenses, S. 165 ff.
Wigaij d, Corvey S. l.'JS. — Die Urkunden von Kloster Groningen sollen nach

Coivi^y gekommen sein.

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59G Sclilosskirche zu Quedlinburg etc,

treten dagegen etwas mehr hervor. Die Basen der
Säulen und der Pfeiler, sowie sämmtlicher alten Wand-
pfeiler sind attisch, mit hoher Kehle und starkem un-
teren Pfühle; sie stecken meist tief in dem gegenwärtig
erhöhten Boden der Kirche und nur die der Wand-
pfeiler im westlichen Theil der Kirche (von denen
weiter unten gesprochen werden wird) sind noch ganz
zu erkennen. Die Kapitale haben die Form eines nach
unten abgestumpften Würfels. Eins derselben ist ganz
mit kleinen, roh gearbeiteten Sternblumen übersät, welche
ohne sonderliche Symmetrie zusammengeordnet sind.
An einem zweiten werden die vorderen Flächen des
Würfels durch seltsame Doppelkrokodille, an einem
dritten durch andre rohe Thierfiguren gebildet; die
unteren Rundungen dieser beiden sind wiederum durch
kleine Sternblumen ausgefüllt (deren an ähnlichen Stellen
auch in der Schlosskirche zu Quedlinburg vorkommen).
Das Deckgesims dieser Kapitale besteht aus einem
schrägen Gliede, welches von einer Platte gekrönt wird,
und ist mit verschiedenen Ornamenten versehen: theils
mit jenem Blattwerk, welches mit einer triglyphenarti-
gen Verzierung abwechselt (wie zu Quedlinburg, oben,
S. 560), theils mit andrer Rankenverzierung. Aehnliche
Deckgesimse beflnden sich auch als Kämpfer über sämmt-
lichen Pfeilern und Wandpfeilern der Kirche (nur der

Wniuipfdier im »vesii. Theil der ehemaligen Nische im südlichen Kreuz-

der Kirche Hügel zeigt eine gegliederte, aus Wulst und Hohlkehle

bestehende Form), sowie auch das Gesims, welches über den Bogenstellungen
hinläuft, dieselbe Form hat. Zumeist finden sich zur Verzierung dieser

Gesimse rohe Bandverschlingungen
angewandt, namentlich an dem Gesims
über der südlichen Bogenstellung des
Schiffes, wo sie nur an einer Stelle
durch ein wunderlich gestaltetes Dop-
pelkrokodill unterbrochen werden; das
Gesims über der nördlichen Bogen-
stellung ist mit einem Rankenwerk
verziert, welches mit Dreiblättern und

Trauben versehen ist. Alle diese Verzierungen an Gesimsen und Kapitalen
sind übrigens von sehr unsicherer und schwungloser Bildung und wiederum
nur mehr als eine ausgemeisselte Zeichnung, denn als wirkliche, hervor-
springende Reliefsculptur zu betrachten. Die fast fingerdicke Tünche, welche
dieselben gegenwärtig bedeckt, macht ihre Bildung noch unförmlicher er-
scheinen, als sie es schon an sicli ist. Wenn man die Tünche wegschabt,

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Aubaiig. Benachbarte Kircheu. "Wester-Gröningeu. 599

so bemerkt man allenthalben die, ohne Zweifel ursprünglichen Farben,
mit denen diese Ornamente bemalt waren: Roth, Blau, Grün u. s. w.

Eigenthümlich ist die ursprüngliche Anlage des westlichen Theiles
dieser Kirche. Hier treten nämlich zunächst Pfeiler nach dem Inneren des
Schilfes vor, welche denen in* der Durchschneidung des Kreuzes ganz
entsprechend sind und in der Höhe, quer über das Kirchenschiff hin,
mit einem ähnlichen grossen Schwibbogen verbunden werden; ihnen ent-
sprechen, in den westlichen Ecken der Kirche, die Spuren ähnlicher Wand-
pfeiler. Ohne Zweifel bildete sich hiedurch eine Vorhalle mit freier Em-
pore, wie sich eine Einrichtung der Art noch gegenwärtig in der Kirche
von Wechselburg vorfindet^). Auch scheint es, dass dieselbe in der ganzen
Höhe des MittelschilTes (einem zweiten Querschiife vergleichbar) vor die
Seitenschiffe hinausgetreten sei; wenigstens ist der aus kleinen Rundbögen
zusammengesetzte Fries, welcher im Aeusseren der^Kirche, unter dem Dache
des Mittelschifles, hinläuft, nur bis zu der Stelle hingeführt, wo die ersten,
so eben besprochenen Pfeiler bemerkbar werden, — so dass hier ein Ausbau,
Avelcher die Fortsetzung dieses Frieses aufnahm, vorspringen musste.

Diese ganze westliche Anlage ist jedoch durch aufgeführte Querwände,
in welche die genannten Pfeiler eingeschlossen sind, und durch eine, noch
in die Periode des byzantinischen Styles gehörige, höchst interessante Um-
änderung verdunkelt worden. Es ist' hier nämlich eine kleine Kapelle,
in der Breitenausdehnung des Schiffes, eingebaut, welche nur durch kleine
(nachmals vermauerte) Fensterchen ein geringes Licht empfing. Es scheint,
dass diese Kapelle zunächst zu den Zwecken einer Gruftkirche bestimmt
war, da die Kirche, nach ihrer ursprünglichen Anlage, keine solche besitzt
und das Vorhandensein einer solchen durch die Bedürfnisse des kirchlichen
Ritus nöthig geworden sein mochte. Dass sie ein späterer Einbau ist, geht
daraus hervor, dass sie sowohl die eben besprochene Pfeilerstellung ver-
deckt, als sie selbst in die Bogenstellung des Schiffes vortritt und mit der
Brüstung, wodurch sie bekrönt wird, das über jener Bogenstellung hin-
laufende Wandgesims durchschneidet. An ihrer östlichen Seite hat sie eine,
nach der Mitte des Kirchenschiffes hervortretende Altarnische, in welcher
sich drei kleine (vermauerte) Fensterchen befinden; zu den Seiten der Nische
zwei Thüren, von denen die eine ebenfalls vermauert ist; an der westlichen
Wand wiederum drei (gleichfalls vermauerte) Fensterchen. Ein Tonnen-
gewölbe, an welchem man Spuren von farbiger Verzierung bemerkt, über-
deckt die Kapelle; die Altarnische ist, wie gewöhnlich, mit einer Halb-
kuppel überwölbt. Doch scheint dieser merkwürdige Einbau, ausser als
Gruftkirche, auch noch zu einem anderen Zwecke gedient zu haben : —
etwa zu dem einer Kanzel oder eines Singechores für den in der Kirche
selbst abzuhaltenden Gottesdienst. Sie hat nämlich oberwärts, über dem
Tonnengewölbe, einen ebenen, horizontalen Boden, welcher sich auch über
den halbrunden Ausbau der Altarnische (so dass deren Kuppelgewölbe im
Aeusseren nicht sichtbar wird) erstreckt und von einer hohen stei-
nernen Brüstung, die sich somit auch um den genannten Ausbau herum-
zieht, eingefasst wird. Diese Brüstung ist auswärts mit grossen^ in Stuck
gearbeiteten Relieffiguren geschmückt, welche Christus und die zwölf Apostel
darstellen. Christus sitzt in der Mitte auf dem Regenbogen, die Hände aus-

') Vt^rgl. Dr. L Puttrich: Denkmale der Baukunst des Mittelalters in
Sachsen, Abth. .1, Lief. 1 uiid 2. (Taf. 7 u. 9.)

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Schlosskirche zu Quedlinburg etc.

gebreitet, über jeden Arrti ein lang berabhängendes Sprucb-
band. Zu seinen-Seiten sitzen die Jünger au^ Bänken, mit
Büchern in der Hand, je drei an dem halbrunden Ausbau,
die übrigen an den geraden Wänden. Sämmtliche Figuren
sind in .dem etwas kurzen, schweren, sehr massigen Style
gebildet, welchen die deutsche Sculptur um den Anfang des
zwölften Jahrhunderts aufweist^ und dürften demnach un-
gefähr diese Zeit als die Periode, in welcher der Einbau
ausgeführt worden, bestimmen; sie sind noch ungeschickt,
in der Gewandung noch streng stylisirt, aber ohne die An-
zeichen jener Verkrüppelungon, welche in der früheren
Zeit des elften Jahrhunderts so häufig gefunden werden,
und auch nicht ohne ein gutes Gefühl in der Anordnung
des Gefältes. Unter der Tünche, womit sie gegenwärtig
überstrichen sind, zeigen sich auch an ihnen die deut-
lichsten Farbenspuren. Leider sind diese Figuren nicht
von Beschädigungen frei geblieben; einigen sind die
Köpfe abgehauen, und zwei von ihnen fehlen ganz,
indem man die Brüstung durchbrochen hat, um liie-
durcli eine Verbindung des Raumes über der Kapelle
mit dem schlechten Orgelchore, welcher gegenwärtig diesen
gesammten Einbau verdeckt, zu gewinnen. Unterwärts
ist die Brüstung von einer Art attischen Basamentes be-
gränzt, oberwärts von einer I^ankenverzierung, in deren
Blättern man bereits Motive der eigentlich byzantinischen

Kr»iiuugsgesimä iinilBa-J^jjjjgj Crkeunt.
sunH'.nl der Brüstung.

GOO

Der achteckige Thurm, welcher sich über dem Kreuz der Kirche er-
hebt, trägt ebenfalls das Gepräge einer mehr entwickelten Periode der by-
zantinischen Kunst und gehört nicht zu der ursprünglichen Anlage der
Kirche (— vielleicht in dieselbe Zeit, in welcher der eben besprochene p]in-
bau ausgeführt wurde). Die Kühnheit, eine solche Masse über den nicht
starken Pfeilern und Bögen des Kreuzes zu errichten, die vermuthlich mit
der Zeit für die gesammte Kirche gefahrbringend geworden war, hat die
oben berührte Verstärkung dieser Pfeiler und Bögen veranlasst. Freist,
an seinen acht Wänden, mit zwei Reihen zierlicher Fenster geschmückt,
von denen die unteren eine einfache, die oberen eine zusammengesetztere
l'mfassung haben. Jedes dieser Fenster ist in der Mitte mit einem Säul-
cheu versehen, dessen Kapital, in mannigfach wechselnder Weise, mit ge-
schmackvoll gearbeiteten Baiulverschlingnngen verziert ist. Die über den
Kapitäleu ruhenden abgeschrägten Deckplatten sind ohne eine Verzierung
der Art. Das Kranzgesims des Thurmes ist nicht mqbr vorhanden.

3) Die SchlosskircIiG zu Gernrode.

Die Gründung dieser Kirche und die reichliche Ausstattung dos .Jung-
IVauen-Stiftes, zu dem sie gehörle, durch Markgraf Gero, fällt in die Zeit
des Jahres 900. Aus den nächsten hundert Jahren sind verschiedene

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Anhang. Benachbarte Kirchen. St. Wiperti. 601

Urkunde« aufbehalten, welche die Rechte und Freiheiten des Stiftes be-
stätigen ^J.

Die Kirche ist eine Basilika mit hohem Chor, in welchem ursprünglich
das gesaramte QuerschilT der Kirche, wie in der Schlosskirche von Quedlin-
burg, mit eingeschlossen war und darunter sich ohne Zweifel eine Gruft-
kirche von ähnlicher Ausdehnung befand. Diese Erhöhung ist nachmals
jedoch verändert worden und findet in der alten^Weise nur noch in den
kreuzflügeln Statt. Der Mittelraum des Querschifles ist gegenwärtig ohne
alle Erhöhung und dem Boden der übrigen Theile der Kirche gleich. Der
Raum des ehemaligen Hochaltars ist nur um einige Fuss niedriger geworden,
als er ursprünglich Avar, und ruht über einem beträchtlich niedrigen Kreuz-
gewölbe, welches von viereckigen Pfeilern getragen wird. Die Kopf- und
Fussgesimse dieser Pfeiler scheinen nicht mehr den Charakter byzantinischer
Kunst zu verrathen. Die Stufen, welche aus dem Mittelraum des Quer-
schiffes zu dem ehemaligen Altarraume" (wo gegenwärtig ein Grabmonument
des Gründers der Kirche aufgestellt ist) emporführen, gehören der, vor etwa
fünf Jahren erfolgten Restauration der Kirche an, da der Fussboden der-
selben mit zierlichen Thonfliesen belegt wurde-, sie sind aus den in der -'i
Kirche vorhanden gewesenen Grabsteinen (!!) zugehauen, und man erkennt
hie und da noch die Spuren vernichteter Inschriften.

Der südliche Kreuzflügel bewahrt noch einen Theil der ehemaligen
Gruftkirche, welche hier durch ein Kreuzgewölbe, auf vier kleinen Säulen
ruhend, gebildet wird. Die Säulen sind schlank, mit attischen Basen und
abgerundeten Würfelkapitälen, welche von ziemlich gedrücktem Yerhältniss
und auf verschiedene Weise ornamentirt sind. Der Styl dieser Kapitale
scheint eine etwas spätere Zeit anzudeuten als die Hauptanlage der Kirche.
Eine Bogenstellung mit zwei freistehenden viereckigen Pfeilern verband
diesen Flügel der Gruftkirche mit den übrigen Theilen derselben ; gegen-
wärtig führt sie zu dem ofi"euen Räume der Kirche, ist jedoch mit Brettern
verschlagen. Das Kämpfergesims dieser Pfeiler besteht einfach aus einer
Platte mit schräger Schmiege. — lieber diesem Gewölbe bildet der südliche
Kreuzflügel einen ofl'enen Raum; die Altarnische desselben ist abgebrochen,
doch die Spur ihres früheren Vorhandenseins noch deutlich zu erkennen.
— Der Theil der Gruftkirche, welcher sich unter dem nördlichen Kreuz-
flügel befindet, dient gegenwärtig als Grabgewölbe. Ueber demselben sind
verschiedene gesonderte Gemächer angeordnet, welche sich, in Rücksicht
auf die spitzbogigen Gewölbe, mit denen sie bedeckt sind, und die Stab-
verzierung eines Fensters auf der Nordseite, als ein späterer Einbau aus
der Periode des gothischen Baustyles zu erkennen geben. Trotz dieses
Einbaues ist hier jedoch noch die Altarnische erhalten, welche unter ihrem

') V«rgl. J. Chr. Beckmahn: Historie des Fürstenthums Anhalt, S. KiS ff.
(Ausführliche Mittheilungen und bildliche Darstellungen der Kir(he zu Gernrode
sind seit Abfassung des Obigen durch Puttrich, DcnUmale der Baukunst des
jMittelalters i n Sachsen, ,A.btb. I,, Bd. l., Liel'. 4 — 6, gegeben. Is'ach seiner näheren
Untersuchung haben sich über den Arkaden des Innern, an den oberen Wand-
fliirhen des Mittelschiffs, vermauerte Gailerioen vorgefunden; auch ist durch ihn
das Aeussere der, in das südliche Seitenschiff eingebauten Kapelle freigelegt und
vollständig dargestellt worden. Ueber seine Mittheilungen ist mein Bericlit,
Kunstblatt vom 30. August 1642, der später folgen wird, zu vergleichen.)

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602 Schlosskirche zu Queäliaburg etc.

Halbkuppel-Gewölbe mit einem Gesimse jener einfachsten Form (Platte
und Schmiege) versehen ist. Ebenso sieht man hier, wie auch in dem
offenen südlichen Kreuzflügel, oberwärts an den westlichen "Wänden, die
Spuren 'nachmals vermauerter grosser Doppelfenster, welche durch eine Ar-
kade von zwei Bögen, die auf einem viereckigen Mittelpfeiler ruhenj ge-
bildet werden; das Kärapfergesims dieser Arkaden gesellt jener einfachen
Hauptform (Platte und Schmiege] noch einige kleinere Plättchen als Zwischen-
glieder zu.

Mit dem eben erwähnten Kärapfergesims in gleicher- Höhe und von
gleicher Form sind jene Kämpfergesimse, welche, über vorspringenden
Wandpfeilern, die grossen Schwibbogen in der Durchschneidung des Kreuzes
trugen. Doch sind von diesen, wie in der Quedlinburger Schlosskirche,
nur noch der östliche und der westliche vorhanden. Der nördliche und
der südliche fehlen; eben so sind auch die Wandpfeiler, welche diese letz-
teren unterstützten, in späterer Zeit weggehauen worden, aber man erkennt
an der Wand noch die Spuren ihres ehemaligen Vorhandenseins. —

Das Schiff der Kirche wird durch Bogenstellungen, in welchen je eine
Säule mit einem viereckigen Pfeiler wechselt, von den Seitenschiffen ge-
treunt. Die Schäfte dieser Säulen haben eine eigenthüraliche, sich konisch
verjüngende Gestalt; ihre Basen sind von guter attischer Form, die Kapi-
tale sehr eigenthümlich gebildet. Sie haben einen Blätterschmuck, der
mehr oder minder reich zusammengesetzt und mit Voluten versehen ist, so
dass man sie noch immer als eine freie Nachahmung korinthischer Kapitale
bezeichnen darf. Das eine dieser Kapitale hat menschliche Köpfe auf den
Ecken. Die Deckplatte derselben ist verhältnissmässig nicht hoch , aber
stark ausladend, unterwärts in einem scharfen Winkel abgeschrägt, und
ohne weitere Gliederung. Die Wände und Bögen setzen in merkwür-
diger Weise auf diesen Deckplatten auf, indem sie dieselben nur -mit
ihren äusseren Linien berühren, dazwischen aber eine dreieckige Vertiefung
haben, so dass hiedurch, trotz der einfachen Form der Deckplatten, doch
ein reicherer üebergang vermittelt wird, — Die Pfeiler haben ebenfalls
ein einfaches Kämpfergesims, aus einer Platte und flacher Hohlkehle be-
stehend, und ein Fussgesims von derselben Form, nur umgekehrt. An
ihren Ecken sind sie ausgefalzt. — In geringer Höhe über diesen Bogen-
stellungen läuft, an der Seite des Mittelschiffes, ein Wandgesims hin, welches
dieselbe Formation hat, wie das eben besprochene Kämpfergesims der Pfeiler.
Darüber erheben sich die Wandflächen des Mittelschiffes, und in beträcht-
licher Höhe erst sind die Fenster desselben, von auffallend kleinen Dimen-
sionen, angeordnet. — Die Fenster des südlichen Seitenschiffes sind ver-
mauert, indem zur Zeit des entwickelt byzantinischen Styles ein Kreuz-
gang mit Corridoren vor ihnen angelegt wurde. Die Fenster des nördlichen
Seitenschiffes sind in neuerer Zeit erweitert.

Die Bogenstellungen des Schiffes bestanden urjsprünglich nur, vom
Querschiffe ab, aus je zwei Säulen und dem zwischen ihnen befindlichen
Pfeiler. Hierauf folgt auf jeder Seite ein anders gestalteter Pfeiler (im
Grundriss nicht viereckig, sondern ursprünglich von einer Kreuzform, —
das Kärapfergesims aus einer Platte und stark ausladendem Wulst gebildet),
welcher das Ende des Schiffes bezeichnete und dasselbe von einem hier
befindlichen Vorräume schied. Noch sind die von diesen Pfeilern nach
den Wänden der Seitenschiffe hinübergeschlagenen Bögen vorhanden; was
zwischen ihnen im Mittelschiff lag, ist dagegen weggenommen. Doch sieht

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t.

Anhang. Benachbarte Kirchen. Gerurode. 603 |

man noch die deutlichen Spuren, dass anöden Pfeilern selbst Vorspränge
und darüber etwa eine Wand, bis zur Decke des Mittelschiffes empor,
befindlich gewesen sind; bis zu diesen Spuren reichen auch nur die Ge-
simse, welche über den Bogenstellungeu des SchiiJes hinlaufen. Wahr-
scheinlich also öflnete sich hier gegen das Schiff zu, ähnlich wie in Qued-
linburg, eine Vorhalle lind darüber die ßogenstellung einer Loge. Diese
Halle stand aber hier mit den Seitenschiffen, durch noch gegenwärtig vor-
handene Bögen, welche von den genannten Pfeilern in der Linie des Schiffes
weitergehen, in Verbindung. Auch die Loge, deren ehemalige Existenz
über dieser Halle anzunehmen ist, war hier in Verbindung mit anderwei-
tigen Seitenräumen, wie sich aus andren (nachmals vermauerten) grossen
Bogenöffnungen ergiebt, welche sich au den Seitenwänden über den eben
erwähnten Bögen erkennen lassen; hienach musste sich also im Aeiisseren
ein eigenthümliöh vorragender, die Westseite begränzender Bau ergeben.

Die Veränderung dieser gesammten Einrichtung wurde hervorgebracht,
als man es, zu irgendwelchen gottesdienstlichen Zwecken, für nöthig fand,
das Schiff noch um etwas zu verlängern und hier eine zweite grosse Al-
tarnische, der auf der Ostseite correspondirend, anzulegen. Vermuthlich
hatte man die Absicht, in dieser Nische und dem von den Seitenwänden
eingeschlossenen Vorräume derselben einen zweiten hohen Chor (und*unter
diesem eine neue Gruftkirche) anzulegen; wenigstens sind an den Wand-
pfeilern, welche sich am Anfange dieses Raumes befinden, in nicht bedeu-
tender Höhe die Ansätze von Bögen zu bemerken, durch welche eine gegen-
seitige Verbindung und über ihnen vielleicht ein erhöhter Raum beabsich-
tigt gewesen sein dürfte. Gegenwärtig befindet sich eine etwas geringere
Erllöhung dieses westlichen Raumes, welche aber erst etwas weiter zurück
beginnt und mit einer Brüstung und einer kleinen Wendeltreppe in der
Ecke versehen ist. Diese Erhöhung scheint wiederum später als der Um-
bau des westlichen Theiles und vielleicht auf ähnliche Weise zu einem
Sänger-Chore bestimmt, wie bei jenem Einbau der Kirche zu Wester-
Gröningen vermuthet wurde.

Dieser Umbau trägt übrigens durchweg das Gepräge eines ebenfalls
noch wenig entwickelten byzantinischen Styles; ebenso auch die zu den
Seiten der westlichen Nische befindlichen runden Thürme, welche mit der
letzteren höchst wahrscheinlich zugleicli aufgeführt wurden. Die untere
Hälfte dieser Thürme ist mit rohen schmalen Wandpfeilern versehen, die
obere Hälfte zerfällt in drei kleinere Geschosse, deren jedes über dem
unteren ein wenig zurücktritt. Das unterste dieser kleineren Geschosse ist
mit einer leichten Pilasterstellung geschmückt, welche an dem südlichen
Thurm mit kleinen Rundbögen, au dem nördlichen mit giebelartigen Sparren
verbunden sind; auch diese Dekoration ist sehr roh^ ohne alle Genauigkeit
und künstlerisches Gefühl ausgeführt. In den obersten Geschossen sind
Fenster befindlich, mit einem byzantinischcn Säulchen in der Mitte. Beide
Thürme werden durch ein Glockenhaus verbunden, mit einer Art byzan-
tinisclier Fenster, die aber eine späte Nachahmung dieser Form zu sein
scheinen.

Die eben besprochene Nische auf der Westseite der Kirche ist im
Aeusseren ohne weitere Verzierung. Dagegen ist von der Hauptnische der
Ostseite anzuführen, dass diese ausserhalb, zu den Seiten des Fensters,
mit zwei schmalen Wandpfeilern und über diesen, durch ein durchlau-
fendes Gesims getrennt, mit niedrigen HalbsUuleu geschmückt ist, über

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59G Sclilosskirche zu Quedlinburg etc,

denen das einfache Kranzgesims aufliegt. Das grosse Fenster, welcliQS in
dieser Nische befindlich ist, und ebenso vermuthlich die unteren Fenster
an den Seiteuwänden des Altarraumes (vor dem QuerschitFj sind neu oder
wenigstens erweitert. —

. Ausser dem so eben besprochenen Umbau auf der Westseite dieser
Kirche ist sodann noch ein höchst merkwürdiger Einbau im Inneren der-
selben zu erwähnen, welcher ebenfalls noch der Periode eines wenig ent-
wickelten byzantinischen Baustyles angehört. Derselbe besteht aus zwei
kleinen Gemächern, welche die östliche Hälfte des südlichen Seitenschiffes
ausfüllen und ohne Zweifel mit dem an dasselbe anstossenden (noch erhal-
tenen) Flügel der Gruftkirche in Verbindung standen. (Vielleicht sind die
oben besprochenen Säulen dieses Theiles der Gruftkirche aus der Zeit des
in Rede stehenden Einbaues.) Das erste, der Gruftkirche zunächst gelegene
dieser Gemächer, in welches man von dem Schilf der Kirche aus eintritt,
ist gegenwärtig im Inneren ohne architektonische Ausbildung. Das zweite
dagegen, welches mit diesem durch eine zierlich ausgebildete Thür in Ver-
bindung steht, erscheint als eine eigene kleine Kapelle von reicher Archi-
tektur, doch empfängt sie ihr Licht nur durch ein kleines, rosettenför-
miges Fensterchen, welches sich nach dem Kreuzgange hin öffnet; sie
scheint somit wiederum zum Behuf einer Gruftkirche gedient zu haben.
Sie ist von quadratischer Form, mit flachen Nischen an den Wänden,
welche durch Halbsäulen eingeschlossen und durch Halbkreisbögen über-
wölbt sind. In den Ecken zwischen diesen Bögen treten kleine Gewölb-
kappen vor, durch deren Vermittelung der obere Raum der Decke eine
achteckige Gestalt gewinnt; — ob über diesem Achteck ein Gewölbe oder
eine flache Decke angeordnet war, ist bei dem gegenwärtigen Zustande der
Kapelle nicht mehr zu erkennen. Die Kapitale der Halbsäulen haben die
Form abgestumpfter Würfel und sind mit einem seltsamen blätterartigen
Ornament versehen, welches imnz in dem Style gehalten ist, wie man
dergleichen häufig in den Federzeichnungen und Malereien byzantinischen
Styles sieht und welches hier wiederum nur als eine sculptirte Zeichnung
(ohne eigentliches Relief) erscheint. Die eine der erwähnten Nischen, dem
Eingänge gegenüber (also an der westlichen Wand), ist
etAvas vertieft; in
ihr befindet sich eine kolossale Statue, der der Kopf fehlt, in dem Costüm
eines Abtes (ob vielleicht der heil. Cyriacus, der Schutzheilige der Kirche?).
Die Figur ist in einem leidlich ungeschickten byzantinischen Style gear-
beitet. — Im üebrigen scheint diese Kapelle mit Malerei geschmückt ge
wesen zu sein.

Beide Räume waren an ihren äusseren (nach dem Inneren der Kirche
zugewandten) Wänden reich mit Sculpturen dekorirt. Doch sind sie durch
hölzerne Gestühle u. A. so sehr verbaut, dass man von dieser Dekoration
nur noch Weniges erkennen kann. Am Deutlichsten und Zusammenhän-
gendsten sieht man einen Theil derselben an dem Aensseren der westlichen
Wand, im Seitenschiff der Kirche. Hier bildet sich, in der Mitte der
Wand, eine halbrunde Nische, die flachgedeckt und von reicher Einrah-
mung umgeben ist. Es ist eine Art steinernes Täfelwerk: gewundene Stäbe,
welche sich zu Cassetten verbinden, die mit Laubzügen und mannigfachen
Thierfiguren ausgefüllt sind. Auch sieht man zuoberst einen wunderlichen
Heiligen in diese Arabesken verwebt, der etwa nach Art des h. Onuphrius
(d. h. ohne sonderliches Costüm) angethan ist. Alles dies ist nun zwar,
besonders die Thiere und der Heilige, ungemein roh und schwerfällig aus-

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Anhang. Benachbarte Kirchen. St. Wiperti. 605

geführt, unglBicli mehr, wie die Ornamente des Inneren; jedoch trügt auch
dies, trotz des stärkeren Reliefs, ganz den Charakter von Federzeichnun-
gen des byzantinischen Styles, wie sich derselbe etwa gegen das Ende des
elften Jahrhunderts ausgeprägt hatte. In der Nische bemerkt man, zur
linken Seite, eine Säule, welche die Decke derselben stützt und welcher
ohne Zweifel eine zweite Säule zur Rechten entspricht, die hinter einem
an dieser Stelle vorhandenen späteren Vorbau versteckt sein dürfte. Sie
hat ein Blätterkapitäl in der Art der einfacheren korinthisirenden Kapitale
in der Quedlinburger Unterkirche und dasselbe Deckgesims (mit ausge-
bauchtem Karnies, S, 549, Q. 2.), welches eben dort zumeist vorherrscht. —
Sodann sieht man einen anderen Theil dieser äusseren Dekoration zu den
Seiten der Thür, welche aus dem Schiff der Kirche in den ersten der
beiden eingebauten Räume führt. Hier findet man wieder ähnliche Laub-
verzierungen, jedoch ist hier Manches zerstört, so das die Anordnung des
Ganzen nicht mehr deutlich ist. Zur Linken der Thür ist ein Feld mit
weggemeisselten Figuren, deren Umrisse indess noch ungefähr zu erkennen {

sind. Zur Rechten der Thür aber sieht man die erhaltene Relieffigür eines i

Qhristus, seitwärts gewandt, sprechend oder segnend,-in einem ziemlich }

ausgebildeten byzantinischen Style. Diese Figur scheint aus Stuck gear- I

beitet, Avährend die Füllungen und die vorerwähnten Ornamente aus Sand- 1

stein bestehen; auch scheint sie hier, in Rücksicht auf die Weise, wie sie '

in die Füllung eingesetzt ist, nicht wohl an ihrer ursprünglichen Stelle. |

Weiterhin kann mau, über die vorgebauten Gestühle emporragend, noch |

den Obertheil einer thronenden Christusfigur sehen, deren Kunstverdienst ^ i

etwa dem der vorigen gleichkommt. — Im Inneren der eingebauten Kapelle ■

finden sich endlich auch noch einige Relieffragmente, welche aus Stuck
gefertigt und von dem Grunde, darauf sie befindlich waren, abgelöst sind.
Das bedeutendste derselben enthält drei, leider sehr beschädigte, weibliche [

Figuren, etwa V/2 Fuss hoch; die beiden äusseren in starkem, die mitt-
lere in flachem Relief. Sie sind sich vorwärts bewegend dargestellt und I
tragen ein Räuchergefäss in den Händen, — vermuthlich die drei Marien,
die zum Grabe des Herrn wandeln. Sie zeigen eine Behandlung des by-
zantinischen Styles von hoher Vollkommenheit, der es nur noch an der
letzten Belebung zu fehlen scheint; es spricht sich in ihnen, besonders in
der einen, welche am besten erhalten ist, eine Zartheit und Innigkeit des
Gefühles aus, wie selten in der byzantinischen Kunst. Die genannte Figur
hat auch noch den zart gebildeten Kopf, welcher in sehr anmuthiger Weise
auf die Seite geneigt ist. Ein andres Relieffragment stellt eine sitzende
Figur dar und scheint, einer Schriftrolle zufolge, den Engel der auf dem
Grabe des Herrn sitzt, vorzustellen und mit jenen Figuren zusammen ein
Ganzes, in der althergebrachten Weise der Composition, auszumachen. Auf
keine W«ise ist nach alledem anzunehmen, dass diese sämmtlichen Stuck-
reliefs in gleicher Zeit mit den Ornamenten jener äusseren Dekoration
dieser Räume verfertigt seien. Ihre Eigenthtlmlichkeit weist vielmehr mit
Bestimmtheit auf den schönen Aufschwung hin, welchen die deutsche bil-
dende Kunst um die Zeit des Jahres 1200 einnahm. —

Endlich ist noch jenes Grabmonumeht des Markgrafen Gero, des
Stifters der Kirche, zu erwähnen, welches sich an der Stelle des ehemali-
gen Hochaltares, in der Hauptnische der Kirche befindet. Es ist eine Ar-
beit etwa aus dem Anfange des sechzehnten Jahrhunderts und in der, zu
jener Zeit gewöhnlichen einfachen Sarkophag-Form gehalten. Oben, in

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6-622 Schlosskirche zu Qui^dlinburg etc.

stailiem Relief, liegt die Gestalt des Helden, mit einem Panzer im Cha-
rakter dieser späten Zeit angethan, die Füsse auf einen Hund gestützt. An
den Seitenwänden umherlaufend sind kleine Figuren verschiedener Hei-
ligen dargestellt. Die Arbeit ist, wenn auch nicht von höchstem Kunst-
werth, so doch in männlicher Tüchtigkeit ausgeführt und sehr beachtens-
werth. — In dem Halbkuppel-Gewölbe dieser Nische ist, durch die weisse
Tünche hervorschimmernd, noch das riesige Gemälde eines thronenden
Christus in byzantinischem Style zu erkennen. — ''

Von dem Kreuzgange, welcher sich südlich von der Kirche aus er-
streckte, ist, ausser geringen Spuren, nur noch der an der "Wand des süd-
lichen Seitenschiffes hinlaufende Theil erhalten. Dass auch dieser neuer-
dings nicht das Schicksal des üebrigen getheilt hat, verdanken die F"reunde
vaterländischer Monumente der thätigen Verwendung des thüringisch-säch-
sischen Alterthums-Vereines. Die Architektur desselben, durch welche,
wie schon oben bemerkt, die Fenster des südlichen Seitenschiffes verbaut
sind, gehört einer späteren Entwickelungszeit des byzantinischen Styles an.
Hier ist, über der eigentlichen Halle des Kreuzganges, deren Bogenstellun-
gen durch geschmackvoll gegliederte Pfeiler gebildet werden, ein oberer
Korridor angeordnet, der sein "Licht durch Fenster, von dem Hofe aus,
empfängt. An diesen Fenstern ist eine besondere Eigenthümlichkeit zu
bemerken; sie haben nemlich, wie insgemein die offenen Fenster der Art,
eine kleine Säule in der Mitte, welche zwei Halbkreisbögen trägt; das
auf dem Kapital dieses Säulchens ruhende Deckglied ladet sehr beträchtlich,
in einer stark geschwungenen Hohlkehle, aus, um die Stärke der Mauer zu
erreichen; da aber diese Ausladung gleichwohl noch nicht hinreicht, so
sind unter der Deckplatte desselben noch zwei volutenartige Glieder hin-
zugefügt, — eine äusserst seltene Anordnung, welche, so viel wir wissen,
nur an den Pilaster-Kapitälen der bekannten antiken Basilika von Paestum
ihr entsprechendes Gegenbild findet. Die am Kreuzgange vorkommenden
Säulenkapitäle sind übrigens von der Gestalt abgestumpfter Würfel, aber
mit sauberen Blattverzierungen im Style der ausgebildeten byzantinischen
Kunst geschmückt.

4) Die Kirche zu Frose, bei Hoym.

Das Jungfrauen-Stift von Frose war gleichzeitig mit dem von Gern-
rode , ebenfalls durch Markgraf Gero (doch einige Jahre früher), gegründet
worden und stand zu diesem in nächster Beziehung, indem beide durch
dieselbe Aebtissin regiert wurden Die gegenwärtig vorhandene Kirche
ist bestimmt jünger, als die Gründung des Stiftes.

Basilika mit einem Querschiff auf der Ostseite, :ohne irgend eine Spur
vormaliger Erhöhung des Chores; die Dimensionen;nicht bedeutend; der
Styl auf eine reiche und feinere Ausbildung des Basilikenbaues hinweisend.

Vergl, J. Chr. Beckmann: Historie des Fürstentliums Anhalt, S. 184 f.
In der Stiftuugs-Urkunde von Gernrode vom J. 964, s. Beckm. S, 169, wird be-
reits, als zu Gernrode gehörig, erwähnt: „monasterinm in Fruose cum ipsa
villa et duabus parochiis pusitis in eadem." Es gehörte zu Gero's erblichem
Eigenthum, s. Meibom. II, p. 426. (Weitere Mittheilungen über die Kirche zu
Frose s. bei Puttrich, a. a. 0. Abtli. I,, Bd. I., Lief. 7).

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Anhang, X^enachbarte Kirchen,- Frose. 607

Die Mische des Hochaltares, wie sie gegenwärtig vorhanden ist, er-
scheint als eine Erneuung aus späterer Zeit. " Zwar liat sie die lialbrunde
Form des Grundris'ses, doch nicht das Halbkupiiel-Gewölbe und auch keine
Spur von dem früheren Vorhandensein eines solchen. Auch im Aeusseren
findet man Kennzeichen, die auf einen später erfolgten Umbau der Nische
zu deuten scheinen. — Die Flügel des Querschiffes habeo nicht mehr ihre
ursprüngliche Höhe. Durch eingezogene Wände in der Flucht des Mittel-
tichiffes sind sie so geschlossen, dass sie gegenwärtig nur noch als die Fort-
setzungen der niedrigen Seitenschiffe erscheinen. Von den Schwibbögen
in der Durchschneidung des Kreuzes sind demnach nur noch der östliche
lind der westliche zu sehen. Die Kämpfer der Wandpfeüer, über welchen
sich diese erheben, bestehen aus Platte und schräger Schmiege, das letz-
tere Glied mit einer eigenthümlichen Verzierung versehen, die mannigfach
noch in andrer Anwendung in dieser Kirche vorkommt, einem vertikal
laufenden Korbgeflechte nicht unähnlich. — Die Nischen der Kreuzflügel
sind nicht mehr vorhanden; die Räume auf der Südseite sind durch die
Sakristei u. dergl. verbaut; auf der Nordseite sieht man dagegen noch den
Bogen dieser Nische und den Kämpfer derselben, ebenso gebildet, wie die
eben besprochenen Kämpfer, nur ohne die genannte Verzierung. Denselben
Kämpfer haben auch die Bögen, welche die Seitenschiffe mit den Kreuz-
flügeln verbinden.

In der Bogenstellung des Schiffes wechseln zwei Säulen mit einem

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Schlosskirche zu Quedlinburg etc.

viereckigen Pfeiler (auf jeder Seite vier Säulen und der Pfeiler in der
Mitte). Die Säulen haben attische Basen von guter Bildung, doch ist der
untere Pfühl ziemlich stark; bei den meisten von ihnen «lieht sich von
den Ecken der Plinthe eine einfache Eckverzierung über diesen Pfühl
emijor, das spätere charakteristische Blatt der byzantinischen Säulenbasen
vordeutend. Die Kapitale haben der Mehrzahl nach die Form eines unten
abgerundeten Würfels. Die auf der Südseite sind durchweg nur mit ein-
faclien Verzierungen versehen, die auf der Nordseite dagegen sämmtlich
ungleich reicher gebildet. Die "Würfelkapitäle haben hier eine mehrfach
gereifte Einfassung der Seitenflächen, und einige dieser Reifen wenden sich
nach einwärts in der Form wohlgeschwungener Voluten; auch sorgfältig
gearbeitetes Blattwerk in einer gewissen muschelartigen Bildung ist dabei,
wiewohl nicht in starkem Relief, angewandt. Zwei Kapitale auf dieser Seite
sind nicht würfelförmig, sondern mit stark ausladenden gezackten Blättern
versehen; das eine mit zwei R^^Hien, das andre mit einer Reihe von Blät-
tern , aus denen sich starke Voluten erheben. Auffallend ist die grosse
Verschiedenheit, welche sich hier in der Bildung der Deckglieder an den
Säulenkapitälen und den Pfeilern zeigt. Während einige aus einer Platte
und schräger Schmiege (letztere mit Blätter- oder Rankenwerk geschmückt)
bestehen, sind andre aus einer Platte und starkem gedrücktem Wulst (dieser
mit jenem vertikalen Korbgeflecht) gebildet, wieder andre in einer ähn-
lichen Hauptform, in der aber der Wulst wiederum 'n eine Reihe horizon-

«anriifii

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Anhang, Benachbarte Kirchen. Frose, . 600

Deckglieder an Säulenkapiläkn unil Pfeilern im Schiff der Kirche.

tal übereinander liegender Pfühle zerfällt, noch andre endlich mehr archi-
tektonisch gegliedert und aus Pfühlen und Kehlen verschiedenartig zu-
sammengesetzt. — Das Fussgesims der Pfeiler besteht einfach aus Schmiege
und Platte. — Üeber der Bogenstellung läuft ein Wandgesims hin, welches
aus einer Platte und starkem Wulst gebildet ist. — Die Fenster des Mittel-
schiffes sind, bis auf eins an jeder Seite, neu.

Ausser jenen auffallenden Eigenthümlichkeiten der Kapitale ist diese
Kirche vornehmlich interessant durch die au der Westseite erhaltene Ein-
richtung einer Vorhalle (in der Breite des Mittelschiifes) und drüber be-
findlicher Loge. Die Vorhalle ist zwar gegenwärtige nach der Seite des
SchitFes zu vermauert, doch ist im Innern ihre Einrichtung noch deutlich
zu erkennen. Sie öflfnete sich durch zwei grosse Halbkreisbögen gegen
das Schiff, welche in der Mitte von einem freien viereckigen Pfeiler, seit-
wärts von vortretenden Wandpfeilern getragen wurden. Das Kämpferge-
sims der Wandpfeiler ist einfacher, das des Mittelpfeilers reicher profllirt,
beides im Styl der übrigen in der Kirche vorkommenden
Gliederungen. — Die Loge hat eine eigenthümliche Ein-
richtung. Sie" öflPnet sich durch eine Bogenstellung von
drei auf Pfeilern ruhenden Halbkreisbögen, von denen
aber ein jeder (wie es in der mehr entwickelten byzan-
tinischen Kunst häufig vorkommt) wiederum durch zwei
kleinere Bögen ausgefüllt wird; die letzteren werden von
je zwei Pilastern, die an den Seiten jener Pfeiler vor-
springen, und einem Säulchen in der Mitte getragen. (In der
Kämpfergesims des Millul- mittleren Arkade ist jedoch diese Füllung, bei Gelegenheit
Pfeilers der Vorhalle, der voigcbauten Orgel, deren Bälge in der Loge angebracht
sind, weggebrochen. Die Pfeiler und Pilaster haben hier wiederum jenes
häufig vorkommende Deckgesims (Platte und starken Wulst). Die Säulen
sind mit eigenthümlichen Kapitalen versehen: vier breite', aber nicht stark
erhabene Blätter auf den Ecken, die sich oberwärts zu grossen Voluten
umrollen, mit verschiedenen kleinen scharfprofilirten Gliedern bekrönt;
dann ein Deckgesims, fast von der Höhe des Kapitals, welches wiederum aus

') Nach dw Darstellung bei Puttrich erscheint die mittlere Arkade der Loge
schmäler, so dass sie ursprünglich keine Fülhiiig hatte.

Kugler, Kleine Schrifien. f. 39

f.

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6-610 Schlosskirche zu Qui^dlinburg etc.

lioliem Wulst und Platten gebildet ist; an der einen
Säule igt dieser Wulst-unverziert, an der andern mit
dem Korbgefleclite geschmtickt. Die Säulenbasen sind
attisch, 'svle die im Schiif, und ebenfalls mit jenem Eck-
vorsprung über dem unteren Pfühle versehen.

Zu den Seiten dieses westlichen Vorraumes steigen
zwei viereckige Thürme empor, die im Aeussereu jedoch
mit dem zwischen ihnen befindlichen hohen Zwischenbau
so verbunden sind, dass sie erst in dem letzten Theil ihrer
Erhebung über diesen Zwischenbau als Thürme zu erken-
nen sind. Unterwärts bieten sie an der Westseite nur eine
einzige breite, formlose Wand. Der gesammte Obertheil
. dieser Westseite giebt sich als einen späteren Aufsatz zu
erkennen, theils durch anders ausgeführtes Mauerwerk,
theils und vornehmlich durch die in dem Zwischenbau

f

5

'i'

Säulcnkapiläl in der Loge.

und in dem Obertheil der Thürme vorhandenen Fenster. Diese deuten näm-
lich auf die Uebergangsperiode aus dem byzantinischen in den gothischen
Baustyl, indem sie in ihrer Hauptform von einem Halbkreisbogen überwölbt,

mnät

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Anhang. -Benachbarte Kircaen, Huyseburg. 611

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i Snulenbasis in der löge.

in letzterem aber mit kleinen spitzbogigen Arkaden ausgefüllt werden.
Die Säulchen, welche diese kleinen Spitzbögen tragen, haben ebenfalls jenes
einfache Blätterkapitäl, welches den frühesten gothischen Bauwerken eigen
zu sein pflegt.

5) Die Kirche von Klöster Huyseburg.

Die erste Gründung der Kirche fällt in das Jahr 1080 — Es ist
eine Basilika mit einem Querschiff, aber ohne eine Erhöhung des Chores,
und einer späteren Entwickelung des Basilikenstyles angehörig. Sie ist,
wie es scheint, im Inneren vollständig in ihrer ursprünglichen Gestalt er-
halten, auch die einzige der sämmtlichen Basiliken dieser Gegend, welche
nicht durch Priechen und dergleichen unpassen.de Einbauten moderner
Zeit beeinträchtigt wird, indem sie noch gegenwärtig der Ausübung des
katholischen Gottesdienstes bestimmt ist. '

Die grossen Schwibbögen in der Durchschneidung des Kreuzes sind
noch sämmtlich erhalten. Auffallend ist, dass der Chorraum (östlich vom
Querschifl'e) eine grössere Tiefe hat, als man es gewöhnlich bei den Ba-
siliken findet, indem er die quadratische Grundform um ein Beträchtliches
überschreitet, — dass aber gleichwohl der Beginn jenes quadratischen Rau-
mes auch hier durch vorspringende, mit einem Schwibbogen verbundene
Wandpfeiler, denen in der Durchschneidung des Kreuzes ganz gleich, be-
zeichnet wird. Doch scheint kein genügender Grund vor-
handen, um dies als das Zeugniss einer stattgehabten Ver-
änderung des Baues anzunehmen; vielmehr deuten die an diesen
sämmtlichen Architekturtheilen angewandten Kämpfergesimse,
welche überall gleichmässig aus Platte,, Wulst und Hohlkehle,
mit ein Paar kleinen Plättchen als Zwischengliedern, bestehen,
auf eine gemeinsame Bauzeit hin. Auch ist zu bemerken, dass
eben dasselbe Gesims bei den Pfeilern des Schiffes angewandt
ist und" auch den Kapitalen der Säulen (hier nur bei einigen
noch durch ein Plältchen vermehrt) .als Deckgesims dient,
Kamprergesims. und dass es (mit Ausnahme der Zwischenglieder) vollkom-

Er ath, Cod. dipl.O«edl.

0 S.'Fritrch, Gesch."v. Quedlinb. I, S. 302. -
p, 74.— Leuckfeld, Antlq, Halberst. p. 476 s^.

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6-12 Schlosskirche zu Qui^dlinburg etc.

men jenen Deckgcsimsen entspricht, welche wir bereits im Zitier der Quedlin-
burger Schlosskirche bemerkt haben. — Die grosse Nische des Hochaltares
ist noch vorhanden; an den Flügeln des Querschiffes bemerkt man keine
Nischen der Art, und es scheint fast, als ob hier überhaupt keine solche
vorhanden gewesen sind.

Yornehmlich interessant ist hier dieBogenstellung des Schiffes, in welcher
je eine Säule mit einem Pfeiler wechselt, und zwar so, dass auf jeder Seite
drei Säulen und zwei Pfeiler zwischen ihnen vorhanden sind. Die Pfeiler
erscheinen hier als die Haupttheile der Anlage, indem sie unter sich und
mit den Wandpfeilern. welche auf jeder Seite die Bogenstellung beschlies-
sen, durch grosse Haibkreisbögen verbunden sind; innerhalb dieser grossen
Bögen, und um etwas vertieft, sind sodann erst die kleineren Bögen ange-
ordnet, welche die Pfeiler mit den zwischen ihnen befindlichen Säxilen ver-
binden, — eine Anordnung, die sowohl dazu dient, die schweren Massen
der von den Bogenstellungen getragenen "Wände leichter zu machen, als sie
überliaupt dem ganzen Schiffe den Eindruck einer grösseren Kraft und
Freiheit gewährt. Die Säulenkapitäle sind verschieden gestaltet, doch so.

dass immer die beiden gegenüberstehenden dieselbe Form-haben. Die eine
dieser Formen ist eine, etwas rohe Nachahmung des korinthischen Kapi-
tales (sogar mit den Kelchen, aus denen die Voluten emporsteigen), in jener
Weise, wie die einfacheren Kapitale der Quedlihburger Unterkirche gebildet
sind; die zweite Form igt auf eine eigenthümliche Weise mit gewundenen,
theils Voluten-artigen, theils Muschelähnlichen Verzierungen versehen; die
dritte mit einem Ranken- und Blattwerk geschmückt, welches bereits an die
Blattformen des byzantinischen Styles erinnert und namentlich dem Ranken-
Averk an der Brüstung des in der Kirche von Woster-Gröningen befind-
lichen Einbaues entspricht. Die Basen der Säulen und Pfeiler sind
attisch mit stark erhöhtem unteren Pfühl (soweit sich dies bei dem
gegenwärtig erhöhten Boden dei- Kirche erkennen lässt). Die Säulenbasen

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Anhang. Benachbarte Kirchen. St. Wiperti. 613

haben einen Eckvorsprung,
der sicli von diesem Pfühl
auf die Platte hinabsenkt
und bereits die Gestalt eines
ausgebildeten Blattes zu ha-
ben scheint. — Unfern über
den eben besprochenen
Hauptbögen dieser Bogen-
stellung, und in gleicher
Höhe mit den Kämpfern der
Kreuzpfeiler zieht sich das
Wandgesims hin, über wel-
chem unmittelbar di^ Fen-
ster des Mittelschiffes befind-
lich sind. Letztere sind die
der ursprünglichen Anlage,
im Halbkreisbogen über-
wölbt , aber von einer be-
trächtlichen Dimension in
Bezug auf Höhe und Breite,
welche gleichwohl jedoch
mit den vorherrschenden
grösseren Formen der Bo-
gen Stellung in gutem Ein-
klänge ist. — Die Seiten-
schiffe sind mit kleinen
Kreuzgewölben bedeckt,
welche aber, wie sich aus
dem Profil ihrer Gurte und
dem Ansatz derselben über
den Pfeilern ergiebt, einer
späteren Zeit angehören.

Am westlichen Ende des
Mittelschiffes ist eine grosse
Nische, der gegenüberstehen-
den Nische des Hochaltares
entsprechend, hinausgebaut.
Ob dieselbe ursprünglich im
Plane des Gebäudes lag oder
später angebaut ist, lässt
sich leider nicht mit Sicher-
heit entscheiden, da der in
neuerer Zeit eingefügte Orgel-
bau liier Vieles verdeckt. In der Tiefe dieser Nische bemerkt man zwei
vorspringende Halbsäulen mit Basen von attischer Form, aber von wenig
ausladenden Gliedern; an ihren verbauten Kapitalen erkennt man den
Ansatz eines fginen Blätterwerkes.

Die beiden Thürme, welche sich ausserhalb zu den Sexten dieser Nische
erhebent sind eine rohe Arbeit des späteren Mittelalters. Hiemit stimmt
die an dem einen derselben befindliche Inschrift des Jahres 1487
(in mittelalterlich arabischen Ziffern) überein, welche dies Jahr als die
Erbauungszeit derselben zu bezeichnen scheint. — An der Spitze des

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6-614 Schlosskirche zu Qui^dlinburg etc.

südlichen Kreuzgiebels findet sich die Jahresbezeichnung
1413 (mit neugothischen Buchstaben geschrieben), mit
welcher eine später erfolgte Restauration des Aeusseren
bezeichnet sein dürfte. (Inschriften, welche die Gründungs-,
überhaupt die eigentliche Erbauungszeit von Gebäuden
nennen, findet man durchweg nur am Untertheil der-
selben.)

Der neben der Kirche befindlich gewesene Kreuzgang
ist in neuester Zeit, sammt andern Gebäuden des weiland
mächtigen Klosters, grösstcntheils abgebrochen. Zunächst
an der Kirche war er gothisch; gegenüber, neben dem
ehemaligen Bibliothekgebäude, finden sich jedoch noch
einige Reste desselben, welche der älteren Anlage ange-
hören und in einigen Details an dea Styl der Kirche von
Frose erinnern. Die hier befindlichen Halbsäulen haben
nämlich abgestumpfte "Würfelkapitäle mit ähnlichen Vo-
lutenartig gekrümmten Reifen und an den Deckgliedern
wiederum die Verzierung jenes eigeiithümlichen Korb-
geflechtes.

I. f

l-H.

6) Die Klosterkirche zu Drübeck.

Das Kloster Drübeck ist im letzten Viertel des neunten Jahrhunderts
von der Gräfin Adelbrin gestiftet und von deren Brüdern, den Grafen Theti
und Wikker ferner ausgestattet worden, worauf König Ludwig der Jün-
gere, am 26. Januar 877, zu Frankfurt eine Befreiungs- und Immunitäts-
ürkunde für dasselbe ausfertigen liess. An späteren Urkunden über das
Kloster ist für unsern Zweck nichts Bedeutendes vorhanden. Heinrich II.
nennt es im Jahr 1004 „insigiie monasterium." In der ersten Hälfte des
z.wölften Jahrhunderts stand Drübeck in dem Rufe grösserer Zucht und
Ordnung, und der Landjiraf von Thüringen sah sich bewogen, seine Toch-
ter dahin zu geben (es war ein weibliches Stift), so dass es auch in dieser
Zeit bedeutende Mittel besessen haben dürfte

Die Kirche, in jenem mehr entwickelten Basiliken-Styl erbaut, gehört,
ihrer ursprünglichen Anlage nach, in die zweite Hälfte des elften Jahr-
hunderts (vergl. oben). Doch hat sie im Laufe der Zeit bedeutende Ver-
änderungen erlitten. Zunächst nemlich ist mit ihr in der Periode des aus-
gebildeten byzantinischen Styles (in der zweiten Hälfte des zwölften Jahr-
hunderts) eine fast , durchweg umgestaltende Veränderung vorgenommen
worden, so jedoch, dass man hier immer noch das Ursprüngliche erkennen
kann. Sodann ist der Chor in gothischem Style,; jedoch einfacher Art,
neugebaut, — endlich sind in neuerer Zeit die Seitenschiffe-und die Flügel

Nach brieflichen Mittheilungen des Hrn. Reg.Direktors Delius zu Wer-
nigerode, aus den im dortigen Archiv befindlichen Urkunden. (Weitere Mitthei-
lungen über die Kirche zu Drübeck s. bei Puttrich a. a. 0., Abth. II., Bd. Ii.,
Lief. 17, 18. Puttrich stimmt meiner Vermuthung bei, dass die Säulen der
Krypta dem Im 12. Jahrhundert vorgenommenen Umbau angehören. Die in seinem
Werke enthaltenen Abbildungen der Kapitale verstatten hierüber kein bestimmtes
UrtheiJ).

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Anhang. Benachbarte Kirchen, Drlibeck, 615

des Querschiffes abgerissen und die entstandenen Lücken mit eingezo-
genem Mauerwerk (so dass die Bogenstellungen des Schiffes auf der einen
Seite-halb in diesen-Mauern, auf der andern unmittelbar davor stehen)
ausgefüllt worden.

Für die ursprüngliche Anlage dieser Kirche sind demnach vornehm-
lich nur noch die Bogenstellungen des Schiffes interessant. Hier wechselt
je eine Säule mit einem viereckigen Pfeiler, so dass auf jeder Seite drei
Säulen und zwei Pfeiler zwischen ihnen befindlich sind. Gegenwärtig sind
nur noch die Pfeiler (unter sich und mit den Wandpfeilern, welche die
Bogenstellungen beschliessen) durch grosse Halbkreisbögen verbunden; die
Säulen stehen frei zwischen ihnen, ohne etwas zu tragen. Unstreitig deutet
dies auf eine ähnliche Einrichtung wie die, Avekhe sich im Schiff der
Kirche der Huyseburg erhalten zeigt, und die Säulen waren gewiss in
derselben AVeise mit den nächststehenden Pfeilern durch kleinere Halb-
kreisbögen verbunden, welche den Raum unter dem grossen Bogen aus-
füllten. Wie es scheint, wurden diese kleineren Bögen erst bei den letzten
Veränderungen der Kirche herausgenommen , da man wenigstens auf der
Nordseite in den somit gewonnenen grossen Bogenöffnungen Fenster ange-
legt hat. — Die Käpitäle dieser Säulen sind (soweit ihre ursprüngliche
Gestalt erhalten ist) mit einem Blattwerk, zumeist auch mit kleinen Volu-
ten , geschmückt, was noch immer an die Formen der antiken Kunst er-
innert und nichts von speziell byzantinischer Verzierungsweise enthält;, die
Blätter sind wenig ausladend, von nicht sonderlich genauer Zeichnung,
doch schon recht gut ausgearbeitet; an einigen dieser Blätter wird, was
als besondere Eigenthümlichkeit zu bezeichnen ist, die mittlere Rippe der-
selben durch ein Kreuz von nicht starkem Rt;lief gebildet. Das Deckge-
sims dieser Kapitäle hat durchweg dieselbe Form: eine Platte und eine
grosse, scharf vorspringende Schmiege; letzteres Glied ist allenthalben mit
einer, Voluten- oder Muschel - förmig gekrümmten Rankenverzierung ge-
schmückt. ~ '

Eine bedeutende Veränderung erhielt diese Anlage, wie bemerkt, in
der späteren Zeit des byzantinischen Styles, und zwar zunächst durch die
Bedeckung mit einem rundbogigen Kreuzgewölbe. Letzteres ist zwar (ebenso
wie das spitzbogige Gewölbe des Chors) nicht mehr vorhanden, doch sind
die Spuren seines Ansatzes an den Wänden noch deutlich zu erkennen.
Dass dasselbe nicht ursprünglich zur Anlage der Kirche gehörte, geht,
ausser andern Umständen, auch daraus hervor, dass die älteren, in regel-
mässigen Abständen angeordneten Fensterreihen an den oberen Wänden
des Mittelschiffes (deren Spuren man noch am Aeusseren deutlich sieht),
um dem Ansatz der Gewölbe genügenden Platz zu verschaffen, vermauert
nnd statt ihrer andre, eben wie jene im Halbkreisbogen Überwölbte Fenster
in den Lünetten des Gewölbes eröffnet wurden. Erhalten sind von dieser
Anlage nur noch die, oberhalb der Pfeiler des Schiffes vorspringenden
Pilaster, welche die Gurte des Gewölb'es unterstützten; sie ruhen auf Con-
solen, welche zierlich, im Style der entwickelt byzantinischen Kunst, orna-
mentirt sind; sie selbst sind auf eine geschmackvolle Weise, mit Halbsäul-
chen auf den Ecken, gegliedert. — Gleichzeitig mit diesen Umänderuijgen
ist auch die Anlage der grossen Nische am W^est-Ende des Mittelschiffes,
die in den reichen Gliederungen der Pfeiler, welche zu dieser Nische füh-
ren, und im Charakter-des dabei angewandten Ornamentes ebenfalls den
Styl der späteren byzantinischen Periode erkennen lässt.

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6-632 Schlosskirche zu Qui^dlinburg etc.

Indem hiedurch der Kirche schon ein wesentlich verschiedenes Aus-
sehen gegeben war, bestrebte man sich jedoch, auch den älteren Theilen
derselben einen mit dem Style der neuen Theile harmonirenden Charakter
zu geben, und man wandte dabei ein Mittel an, welches in der Geschichte
der mittelalterlichen Architektur gewiss als ein höchst seltnes Beispiel er-
scheint. Man umgab nämlich die, wie es scheint, durchweg ganz.wohl er-
haltenen Kapitale und Deckglieder der Säulen des SchitTes mit einem festen
Stuck, in welchem sodann neue Ornamente, dem Style der Zeit gemäss,

Kopiläl der SchilTsäulen in seiner späteren Ausslallung.

ausgegraben wurden. So stehen noch gegenwärtig einige dieser umge-
wandelten Kapitale in ihrer vollständigen Form, beträchtlich stärker als die
älteren, da; bei den meisten jedoch ist der Stuck gänzlich oder in grösseren
oder geringeren Massen wieder herabgefallen, und sie zeigen nun die alte
Form und das darüber gezogene neue Gewand in friedlicher Ruhe neben-
einander. Die neu-byzantinischen Ornamente der Kapitale bestehen in
phantastischen Köpfen, mit Blattwerk arabeskenhaft verbunden, in Üppig
geschweiften Blattgewinden u. dgl.; ebenso sind die Deckgesimse zum Theil
mit zierlich bunten Verzierungen versehen Wie aber dieses technische

Wir bedauern sehr, dass wir mit den Resten des Klosters von Ilsen-
burg, naraeutlich den grossartigen Säulenhallen daselbst, vermuthlich Kapitelsaal
und Refektorium, deren Kapitäle ebenfalls von Stuck sein sollen, nicht bekannt
geworden sind. Hier ist es geschichtlich bestätigt, dass iu der zweiten Hälfte
des zwölften Jahrhunderts Refektorium und Dormitorium neugebaut wurden.
(Mittheilung des Hrn. Beg.-Direktors Delius, — Einiges Nähere über die alten
Klostergebäude vou Ilsenburg, s. in den vorstehend genannten Lieferungen des
inzwischen erschienenen Werkes von Puttrich.)

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Aubaiig." Benachbarte Kirclieu. Drübeck. 617

Verfahren, so ist nicht minder der, dem Mittelalter sonst so fremde feind-
liche und bis zum üebermuth gesteigerte Sinn, mit dem hier die alte, an
sich ganz gute Form verdeckt ward, höchst auffallend und lässt schon
hierin mit Bestimmtheit eine, von der Zeit der ersten Anlage wesentlich
verschiedene Bildungsperiode, somit einen län^'ährigen Zwischenraum zwi-
schen ihr und der ersten Bauzeit erkennen. Auch musste die Erinne-
rung an die Mühen und an diei Freude des früheren Baues bereits lange
im Gedächtniss der Menschen erloschen sein, wenn man eine so durch-
greifende Veränderung durchzuführen keine Scheu mehr trug.

Gleichzeitig mit dieser Restauration sind endlich auch noch die beiden,
zu den Seiten der westlichen Nische aufgeführten zierlichen Thürme. Der
Unterbau derselben, welcher bis zur Höhe des Mittelschiffes reicht, ist vier-
eckig, mit rundbogigem Fries, mit Lissenen auf den Ecken und Halbsäul-
chen zyvischen diesen. Darüber erhebt sich ein achteckiges Obergeschoss,
welches mit je drei schlanken Halbsäulchen auf den Ecken geschmückt ist.,
Ein hoher Zwischenbau verbindet beide Thürme. —

Der Schreiber dieser Zeilen, bei def'zur Untersuchung vergönnten Zeit
beschränkt, hatte nur Gelegenheit, die vorstehend genannten Gegenstände
genauer zu besichtigen. Da der gegenwärtige Boden des^-Klrchenschiires
keine beträchtliche Erniedrigung gegen den Boden des Chores zeigte', so
blieb es ihm unbekannt, dass unter letzterem noch die Reste einer Gruft-
kirche (zu welcher der Zugang von ausserhalb führt) vorhanden sind. Den
gefälligen Mittheilungen des Hrn. Reg.-Direktors Delius verdankt er indess

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6-618 Schlosskirche zu Qui^dlinburg etc.

einige Notizen Über diese Gruftkirche, Avelche hier folgen mögen. Dieselbe,
bei dem gothisclien Umbau des Chores bedeutend beeinträchtigt, zeigt in
ihren Umfassungsmauern nicht mehr die ursprüngliche Gestalt, wie nament-
lich die Altarnische fehlt. Aber sie hat (von Norden nach Süden) noch
eine Breite von 32 Fuss und eine Tiefe von 21 Fuss, -während der Chor
nur 2IV4 Fuss breit und 18 tief ist. Die"nördliche Wand des Chores wird
von einer Pfeilerstellung der Crypta getragen, woraus hervorzugehen scheint,
dass der frühere Chor breiter und vermuthlich mit Seitenschiffen versehen
war. Ausser dieser Pfeilerstellung werden die Kreuzgewölbe der Crypta
noch von einer zwiefachen Reihe von je 3 Säulen und Pfeilern (ohne regel-
mässige Abwechselung) getragen, unter denen aber die Pfeiler nicht der
urspriinglichen Anlage anzugehören scheinen. Nur zwei von diesen Säulen
haben noch ihre alten Kapitale; das eine ist ein Blätterkapitäl, ungefähr
den Formen eines römischen Kapitales verwandt; das andre hat die Grund-
form eines unten abgestimipften Würfels, dessen Seitenflächen mit sorgfältig
ausgeführten und zum Theil frei vorspringenden Verzierungen, Arabesken
und Thierfiguren, versehen sind. Von Stuck-Ueberzug findet sich keine
Spur. Da es uns an eigner sicherer Anschauung fehlt, so wagen wir kein
Urtheil über die Zeit, in welcher die Gruftkirche erbaut ist, auszusprechen;
doch dürfte es als wahrscheinlicher anzunehmen sein, dass sie nicht der
ursprünglichen Anlage der Kirche, sondern dem im zwölften Jahrhundert
Statt gehabten Umbau angehört.

7) Die Kirche von Kloster Coiiradsburg
bei Ermsleben.

Kleine Grund- und Aufrisse dieser Kirche nebst einer allgemeinen Be-
schreibung derselben von Hrn. v. Horn befinden sich in dem „Bericht vom
Jahre 1834 an die Mitglieder der deutschen Gesellschaft zur Erforschung
vaterländischer Sprache und Alterthümer in Leipzig, herausgegeben von
K. A. Espe Dort wird, auf den Grund eines älteren Zeugnisses^), das
Jahr 1176 als das Jahr der Gründung des Klosters angegeben. Da indess
bereits im J. 1151 eines Abtes zu Conradsburg erwähnt wird^), so kann
das Jahr 1176 nicht auf die eigentliche Stiftung des Klosters bezogen wer-
den; und da die Edlen von Conradsburg, welche-ihr Stammhaus dem klöster-
lichen Dienste übergeben hatten, sich bereits seit dem Jahre 1120 nach
ihrem neuen Aufenthalte Falkenstein nennen, so ist es auch nicht wahr-
scheinlich, dass man erst in so viel späterer Zeit (1176) zur Gründung der
Klostorgebäude geschritten sein sollte. Die gegenwärtig vorhandene Kirche
gehört aber nicht den, in eine frühere Zeit zurückzudatirenden ersten
klösterlichen Anlagen, noch weniger dem ursprünglichen Schlosse von Con-

1) Nähere Mittheilungen und ausführliche Darstellungen über die Kirche zu
Conradsburg sind inzwischen bei Puttrieh, a. a. 0., Abth. II., Bd. II., Lief.
1—4, erschienen.

Reimann, in seiner Idea Historiae Ascaniensis, p. 4: „Monast, Con-
radesburgense prope Ermslebiam a Nobilibus de Conradesburg in honorem S.
Sixti conditum."

In einer Urkunde bei Schöttgen u. Kreysig in den Diplomat, bist.
Germ. II, 701.

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Anhang. Benachbarte Kirc'hep, Conradsburg. 619

radsburg au. Auch das Jalir 1176 (welches schon an sich auf einem Jrr-
thume zu beruhen scheint \ind Überdies in keinem speziellen Bezüge zu
den eigentlichen Kirchengebäuden steht) dürfte der Kirche, wie bereits oben
(S. 689.) bemerkt wurde, ein um einige Jahrzehnte zu frühes Alter zuer-
theilen. Sie ist ein Rest der anmuthigsten, reichsten und lautersten Ent-
wickelung des byzantinischen Baustyles, besteht jedoch nur aus dem hohen
Chor und der Unterkirche, indem das eigentliche Schiff der Kirche, welches
gleichwohl im ursprünglichen Plane lag, gegenwärtig nicht vorhanden ist.
Der Verfasser der oben angeführten Beschreibung irrt, Avenn er das Ge-
bäude als ein für sich abgeschlossenes und dem Grundplane nach vollendetes
Ganze betrachtet; noch mehr C. L. Stieglitz (in seinen ^Beiträgen zur
Geschichte der Ausbildung der Baukunst," 1834, Th. IL S. 82.), welcher
das vorhandene Gebäude in Eine Kategorie mit den Doppelkapellen setzt,
wie deren auf den Burgen von Eger, Nürnberg, Freiburg a. dj Unstrut
u. s. w. vorkommen. _ *

Beide Theile der vorhandenen Anlage, Chor und Unterkirche, zerfallen
in ein Mittelschiff von quadratischer Grundform und Seitenschiffe von
gleicher Länge, aber nur halb so breit. Mittelschiff und Seitenschiffe'
schliessen mit halbrunden Nischen, von denen natürlich die des Mittel-
schiffes der Form und der Tiefe nach als vorherrschend erscheint.

In der Unterkirche werden die Seitenschiffe vom Mittelschiff durch
Bogenstellungen mit Je zwei viereckigen Pfeilern abgesondert; das Mittel-
schilf ist hier dürch eine doppelte Bogenstellung (von zweimal drei
Säulen und Pfeilern) ausgefüllt. Sämmtliohe Säulen und Pfeiler werden
unter sich und mit den ihnen correspondirenden Wandpfeilern an den
Wänden und in der Nische des Mittelschiffes durch halbkreisrunde Gurt-
bänder verbunden, zwischen welchen kleine Kreuzgewölbe (ohne hervor-
tretende Gewölbrippen) eingelassen sind. Die Kämpfergesimse Über den
Pfeilern und Wandpfeilern sind aus den Haupiformen von Platte. Wulst
und Hohlkehle, Alles fein profilirt und der Wulst einem Echinus sich an-
nähernd, zusammengesetzt; an den in der Nische des Mittelschiffes befind-
lichen Wandpfeilern ist der ebengenannte
Wulst in der Art eines antiken Perlen-
stabes ausgemeisselt, was freilich für die
Stärke und das Profil dieses Gliedes nicht
ganz passend .erscheint. — Die Pfeiler,
welche die Seitenschiffe vom Mittelschiff
absondern, sind mit gegliederten Ecken,
in denen Ilalbsäulchen mit verschieden-

, , gebildeten Kapitalen eingelassen sind, ge-
Kä„,pfcrgesi,ns de= Mu.e)sch,ire. der ^nter den Pfeilern und Säulen,

welche das Mittelschiff ausfüllen, sind stets
die zusammengehörigen Paare von einander entsprechender Bildung. Zu-
erst nämlich, vor dem Beginn der Nische, findet man ein Paar Pfeiler,
wiederum viereckig, mit gegliederten Ecken und Halbsäulchen, doch hier
die Seitenflächen nicht breiter als diese Halbsäulchen. Dann folgen- ein
Paar Säulen, deren Schäfte mit verschiedenartig gebildeten, gewundenen
Kanelluren versehen und deren Kapitale mit reichem Ranken- und Blätter-
werk geschmückt sind. Das dritte Säulenpaar besteht' zum grösseren Theil
aus einer neuen Restauration. ^ Das holie Deckgesims, welches diese Säulen
und Pfeiler des Mittelschiffes bekrönt, ist wiederum mit dem mannigfaltig-

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620 Schlosskirche zu Quedlinburg etc.

sten Blattwerk verziert, . welches zwar (wie auch
das Ornament an den Säulenkapitälen) immer noch
den eigenthümlichen Schwung und den^Styl der
byzantinischen Kunst bewahrt, denselben aber zu-
gleich mit der anmuthigsten Freiheit und der vol-
lendetsten Ausführung behandelt; Blätter und Ran-
ken zeigen hier eine vollkommen plastische Durch-
bildung, welche den Organismus ihrer Formation
mit feinstem Gefühle anschaulich macht. -— Die
Basen sämmtlicher Säulen und Pfeiler sind von at-
tischer Form und ebenfalls schon trefllich profilirt;
die Säulenbasen mit einem Blatt auf den Ecken
des unteren Pfühles.

In der ünterkirche sind sämmtliche Räume,
wie dies insgemein bÄ solchen der Fall ist, von
gleicher Höhe. In der Oberkirche (dem Chore) hiii-
gegen sind die Seitenschiffe niedriger als das Mittel-
schiff; auch werden sie hier von letzterem durch
eine Bogenstellung gesondert, welche nur aus Einem
freistehenden Pfeiler (und den entsprechendenWand-
pfeilern) besteht. Dieser Pfeiler wird, also nicht
durch einen der in der Unterkirche befindlichen
Pfeiler, sondern durch die zwischen diesen ange-
ordnete, mittlere Bogenwölbung getragen. Diese
Einrichtung ist nicht willkürlich: sie stimmt viel-

O'li

ten und auf die Anwendung von Gewölben berechneten byzantinischen Styles
überein, in welchen dem einzelnen Kreuzgewölbe des Mittelschiffes zwei
kleinere Kreuzgewölbe in den Seitenschiffen entsprachen. So sind auch
hier die Seitenschiffe mit zwei kleineren Kreuzgewölben bedeckt, während
der quadratische Raum des Mittelschiffes nur mit einem überwölbt werden
sollte. Letzteres ist zwar gegenwärtig niclit vorhanden (ist auch wohl nie

i

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vollendet gewesen) und statt dessen eine flache Decke
eingelegt; doch sieht man oberwärts in den Ecken anfs
Deutlichste die, mit der Mauer in Verband stehenden
Anfänge desselben. Auf diese Einrichtung deutet auch
der Umstand, dass die beiden Halbkreisbögen, welche
das Mittelschiff von den Seitenschiffen absondern, an
der nach ersterem zugekehrten höheren Wand von einem
grösseren Bogen, der auf den entsprechenden Wand-
pfeilern ruht, umfasst wird, somit die Zweitheiligkeil
der Seitenschifle für das Mittelschiff aufhebt. Dieselbe
Einrichtung war unstreitig auch für das, dem Chore
vorzubauende Hauptschiff der Kirche beabsichtigt'. —
Die erwähnten viereckigen Pfeiler sind hier auf den
Ecken ausgefalzt, mit einem trefflich geschwungenen
Profil, welches eine Art gedoppelter Halbsäulchen her-
vorbringt, die oberwärts in ein umschlagendes Blatt aus-
gehen. Das Kämpfergesims der Pfeiler (und ebenso
überall auch an den Wandpfeilern) hat
dieselbe Form wie in der Unterkirche; die
Basis derselben ist hipr jedoch nicht attisch,
sondern dem Kämpfergesims gleich, nur
umgekehrt. — Die Nische des Hochaltares

wird von zwei vorspringenden Eckpfeilern
(mit den dazu gehörigen Bögen) eingefasst;
die Eckpfeiler sind gegliedert und mit empor-
laufenden Halbsäulchen versehen, welche
letzteren mit zierlich byzantinischen Blät-
terkapitälen geschmückt sind,

Eine rohe Wand verschliesst gegen-
wärtig die westliche Seite des Chores. Jm
Aeusseren bemerkt man jedoch die gesummte
Anordnung der Pfeiler und Bögen, welche
den Chor mit dem Hauptschiff der Kirche
verbinden sollten und welche scharf und
deutlich in ihrer feineren Construction, mit
den Kämpfergesimsen, ja mit den in Ver-
band stehenden Ansätzen für die fortzu-
setzenden GewMbe, aus jener roheren Wand
hervortreten. Durch letztere führt gegen-
wärtig eine einfache, mit einer Vortreppe
versehene Thür in den Chor, sowie tiefer
seitwärts eine andre Thür in das Seiten-
voii den Pfeilern der oberkircbe, schiff der Untcrkirche führt. Es Scheint,
dass das Hauptschiff nie ausgeführt worden ist.

In den 8eitenschift'en befinden sich je drei (vermauerte) im Halbkreis-
bogen überwölbte Fenster; ebenso sind in der Hauptnische — im Chore
sowohl, wie in der Unterkirche — je drei, in den Seitennischen je ein
Fenster befindlich. Die Seitenwände sämmtlicher Fenster bestehen aus ein-
fachen Schmiegen. — Sehr zierlich ist das Aeussere'der genannten drei
Nischen. Sie sind mit horizontalen und vertikalen Gesimsen (Lisseneu)
reich umfasst und abgetheilt. Die Bildung dieser vertikal niederlaufenden

P

621

Anlia ng. Benachbarte Kirchen, Conradsbxirg.

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Lissenen ist von vorzüglicher Schönheit
und ganz im reinsten Geiste der Antike
ausgeführt; sie bebtehen aus einem flachen
Bande, welchem sich zu beiden Seiten
AVellen von höchst zart geschwungenem
Profile anschliessen, — Der Giebel, der sich
über den Nischen erhebt, ist unvollendet. Ein neu aufsetzendes, erhöhtes
Dachwerk beeinträchtigt wesentlich den Eindruck des Aeusseren. Dies und
ebenso die geringen Dimensionen des unvollendeten, versteckt liegenden
Gebäudes lassen den Vorüberreisenden nicht erwarten, dass hier einer der
edelsten und anmuthreichsten Punkte der deutschen Kunstgeschichte ver-
borgen ist. Gegenwärtig dient der Chor als Kornscheune, die Unterkirche
glücklicher Weise zu keinem ökonomischen Bedarf.

622

Schlosskirche zu Quedlinburg etc.

Ür

NacIiträgIicIi0 Bemerkungen.

Vom J. 1851. — Ich habe die vorstehenden architekturgeschicbtlichen
Untersuchungen einer noclmialigeu sorglichen Prüfung unterzogen. Im Allgemeinen
kann ich nicht sagen, dass die Ergebnisse derselben mit meinen seitdem ge-
wonnenen Erfahrungen in einem besonderen Widerspruche ständen. Aber die
frühe Zeit, in welche hienach ein Theil jener Gebäude zu setzen ist, nöthigt
jedenfalls zur Vorsicht. Vielleicht ist bei jenen Unters'uchungen, — wie es bei
der Besitznahme eines wibsenschaftlichen Gebietes zu Anfange der Fall zu sein
pflegt, — etwas zu streng systematisch verfahren; vielleicht ist auf die stylistischen
Gleichklänge bei dem einen uiid dem andern Gebäude oder Rautheile ein etwas
zu entschiedenes Gewicht gelegt, sind die kleinen Diversionen, die durch zufällige
Einflüsse bewirkt werden können, nicht überall hinreichend vorw.eg in Anrech-
nung gebracht. Sehr entscheidend bleibt jene merkwürdige Bauveränderung der
Kirche zu Drübeck aus der späteren Zeit des 12. Jahrhunderts, wonach die
ursprüngliche Erbauung ihrer ältesten vorhandenen Bautheile ohne Zweifel in das
11, Jahrhundert hinaufrückt. Es ist möglich, dass gleichwohl die Kirchen zu

BBB

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Alterthümer im bitter der Sclilosskirclie zu Qaedlinlsiirg. eö3

Huyseburg und zu Frpse, der westliche Eintiau der K. zu Wester-Gro-
ningen, der südliche in der K. zu Gern rode, der Zitter in der Schlosskirche
zu Quedlinburg, der ursprünglichen Bauzeit der Drübecker Kirche nicht un-
mittelbar nahe liegen, dass sie, in dieser oder jener Abstufung, um verschiedene
Jahrzehnte jünger sind. Es Hesse sich hienach auch die Schlussfolgerung an-
knüpfen, dass der Bau der Schlosskirche zu Q ue dl in bürg später, als vorstehend
angenommen, dass er in die Bauepöche von 1070 — 1129 falle und dass dies
Gebäude somit der ursprünglichen Anlage der Drübeck'er Kirche gleichzeitig sei.
Hiebei aber bleibt der befremdliche Umstand ungelöst, dass wir dann den mäch-
tigen Kaiserbau bei all seinem Aufwände auf einer ungleich primitiveren Stufe
erblickten, als jenes unfern gelegene Bauwerk während andrerseits die Quedlin-
burger Schlosskirche, besonders durch Vermittelung der K. zu Wester-Gröningen,
mit der Liebfrauen- (Marien-) Kirche .zu Magd eb urg in ungleich näherem Ver-
hältnisse steht, für diese aber selbständige Grüude auf die Frühzeit des 11. Jahr-
hunderts deuten. Ich sehe mich also einstweilen noch nicht veranlasst, in wesent-
lichen Punkten von den Ergebnissen der vorstehenden Untersuchungen abzugehen.
Vom J. 1852. — Die „Zeitschrift für Bauwesen," Jahrgang II. (Berlin 1852),
bringt S. Ii3
ff. den ersten Artikel einer „Archäologischen Wanderung durch einige
Romanische Kirchen am Harze, von v. Quast." Hierin wird besonders die
Kirche von Huyseburg und das Geschichtliche derselben auf Grund des
Chronicon Anonymi Huiesburgensis monaslerii hei Meibom, Script, rer. Germ.,
II, p: 538 ff.,
behandelt. Der erste Bau einer Kapelle an diesem Ort llele hie-
nach zwischen 1051 und 1059, — der eigentliche erste Kirchenbau, mit Beibe-
haltung eines vorhandenen westlichen Sanctuariums , an das Ende des 11, Jahr-
hunderts , — und der Abbruch desselben und ein Neubau schon einige Jahre
später, indem der letztere im J. 1121 geweiht worden sei. Es wird den weiteren
Mittheüungen des geschätzten Verfassers entgegen zu sehen, sein,

F. K.

Beschreibung der Alterlliiiiner, welche im Zitter der Schlosskirche zu
Ouedliiihurg aufbewahrt werden.

Der sogenannte Wasserkrug von der Hochzeit zu Cana in Galiläa

(No. 1). •

Eine grosse steinerne Vase von schöner, stark gerundeter Form, leicht
geschwungenem Sockel und kurzem, etwas verengtem Halse, zu den Seiten
zwei schlangen-artige Doppelhenkel, von denen der eine abgebrochen ist;
16Va Zoll in der Höhe, 12 Zoll im Durchmesser, 8 Zoll an der Möndung
messend. Der Stein, von gelblicher Farbe, gestreift, durchschimmernd, ist,
nach den übereinstimmenden Zeugnissen einsichtiger Mineralogen, Tra-
vertin. (Vergl. Frits.ch, Gesch. von Quedl. II,.?. 263.) Ueber den ge-
schichtlichen "Werth dieses interessanten Gefässes sind bereits weitläuftige
Untersuchungen angestellt worden. Der Rektor Wineke am Gymnasium
zu Quedlinburg begann diese im J. 1761 und kam zu dem Geständniss,
das wahre Vaterland des Kruges, was er für ein Gefäss sei und wie er
an das Stift zu Quedlinburg gekommen, nicht angeben zu können. Wall-

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Schlosskirnhe zu Quedlinburg «to.

mann (Abhandlung von den schätzbaren Alterthümern der hohen Stifts-
kirche zu Quedlinburg S. 35—82.) glaubte glücklicher in Auffindung dieser
Umstände zu sein und behauptet am Schlüsse seines Versuchs, dass der
berühmte Wasserkrug von. Cana kein griechisches oder römisches, sondern
ein von arabischem OnyGhmarmor verfertigtes jüdisches Gefäss, und zwar
ein jüdischer Staatswein- oder
TrinkAvasserkrug sei, der auf der Hochzeit
zu Cana mit dem wunderthätigen Weine aus den sechs grossen steinernen
Wasserkrügen gefüllet und mit diesem Weine auf die Hochzeittafel gesetzt
worden, u. s. w. Wir kehren, da alle diese gelehrten Forschungen Wall-
mann's nicht wohl einen Beweis liefern, gern zu dem Nichtwissen seines
Vorgängers zurück. Nach Kettner's Bericht (Kirchen- u. Ref.-Historie,
S. 99.) ist der Krug am zweiten Sonntage nach Epiphanias, wo das Evan-
gelium von der Hochzeit zu Cana
erklärt wurde, auf den Altar gesetzt,
mit Weine gefüllt und dem Volke gezeigt worden.

Pfergamenthandscliriften.

1. Evangelistarium in gross Fol. (No. 65.), die vier Evangelien
nach der Vulgata, vor diesen eine Harmonie der Evangelisten und hinter
ihnen ein Calendarium Servatianum enthaltend. Es ist mit goldnen Buch-
staben geschrieben, welche durchaus schön erhalten sind; einige in Silber
geschriebene Buchstaben sind dagegen verblichen. Am Schlüsse der Hand-
schrift nennt sich der Schreiber mit folgenden Worten: „In nomine domini
ego Samuhel indignus vocatus presbiter scripsi istum evangelium." (Eine
spätere Hand hat über das m in dem Worte istum ein d geschrieben.) Die
Ornamente der Initialen sind ganz in der Weise ausgeführt, wie in den
bekannten Prachthandschriften, welche der karolingischen Periode (dem
neunten Jahrhundert) angehören. — Jedes der in dieser Handsclirift ent-
haltenen Evangelien ist mit dem Bilde des entsprechenden Elvangelisten
versehen. Die Evangelisten sind sämmtlich vor dem Schreibpulte sitzend
dargestellt und über ihnen, wie zu ihnen hcrabschwebend und verkündend,
die zugehörigen symbolischen Gestalten (Engel, I.öwe, Ochs und Adler),
■welche Bücher in ihren Händen oder Klauen halten. Johannes ist, wie
insgemein in den ältesten Bildern, noch im Greisenalter dargestellt. Der
Styl in diesen Bildern entspricht ebenfalls den Arbeiten der karolingischen
Periode, wie sich dies sowohl in der gesammten saftig pastosen Malerei
(welche noch nichts von den trockenen Miniatur-Farben der byzantinischen
Kunst zeigt) als insbesondere in der Zeichnung der Köpfe und Extremitä-
ten, im Faltenwurf, in dem derberen Colorit der Köpfe zu erkennen giebt.
Sie bewahren, trotz der grossen Rohheit in der Ausführung, wie die Ma-
lereien der karolingischen Zeit, noch immer eine Erinnerung an die letzten
Eigenthümlichkeiten der antiken Kunst; jedoch tritt ihier in der Zeichnung
der Körper ein gewisses Element hinein, welches bereits als eine Vordeu-
tung des speziell byzantinischen Styles, wie sich derselbe im elften Jahr-
hundert zeigt, betrachtet werden muss. In Rücksicht auf diese Verhält-
nisse dürfte das zehnte Jahrhundert als die Zeit, in der die Handschrift
angefertigt worden, zu bestimmen sein. J. G. Eccard setzte dieselbe in
die Zeit der Karolinger; der Rektor Tob. Eckhard hielt sie dagegen (der
eben ausgeführten Ansicht im Allgemeinen entsprechend) für ein Geschenk
Ottos I. an seine Tochter Mathilde, die erste/Aebtissin des Stiftes. — Der

624

Hl

1

■'1

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Altertllümer im Zltter der Schlosskirche zn Quedlinburg. G25

obere, sdiwcre imd reichverzierte Deckel des Buches ') gehört einer spH-
teren Zeit als die Handschrift selbst an. Er ist mit einer vergoldeten Silr
berplatte belegt, in der Mitte vertieft und mit einem breiten Rahmen um-
geben. In der Vertiefung sind, in getriebener Arbeit, eine Maria mit dem
Kinde und darunter zwei Bischöfe dargestellt; der Styl dieser Figüren ist
roh und von spät-byzantinischem Charakter, d. h. etwa deiii-Ende des
zwölften Jahrhunderts angehörig. Die Urnralimung ist mit Filjgran-Avbeit
überzogen, darin rohe Edelsteine (unter diesen eine antike Gemme mit
einem ziemlich roh gearbeiteten Hundej, Perlen und kleine Mosaikbilder
tingelassen sind. Die letzteren sind niclit ohne Interesse. Die Linien der
Zeichnung sind in ihn<?n mit feinen Goldlinien angedeutet. In der Mitte
des oberen Rahmens sieht man, in solcher Weise, einen Christuskopf in
byzantinischem Style, zu dessen Seiten die griechischen Charaktere IC
und
XG i'lrjGovg XQiazog') enthalten sind; in der Mitte des unteren Rah-
mens das Brustbild der Maria mit den Zeichen
MHP und &Y &sov).
Zu den Seiten beider sind mehrere ornamentistische Stücke angebracht, unter
denen man das Symbol des geflügelten Ochsen, einen Vogel u. a. erkennt.

2. Evangelistarium in klein Fol. (No. 66.), die' vier Evangelien
nach der Vulgata enthaltend, denen die Tabellen der Harmonie voran-
gehen. Es ist schörT geschrieben, doch nicht ganz vollendet, indem nä»'
mentlich die Initialen nur angedeutet, nicht mit Gold ausgemalt sind.
Schon früher ist davon die Rede gevresen, dass es am Ende des Evange-
liums des Lukas ein Verzeichniss der Schätze der Kirche zu enthalten scheint.
Auf dem ersten Blatte findet man folgende Nameui Hisice, Mome, Redburg,'
Rodburg, Mazuke, Ibike, Bezeke, Cunice, Hildisin, Aebbe, Ase, Adda,
Aizad, Athilger f, Hatheburg, Walin, Mcgingerd, Traice, Ode, Gerburg,
von denen einige Gelehrte, z. B. Eratli cod. dipl. p. 57 vermuthet haben,
dass sie Jungfrauen des Stifts und and_ere Stiftspersonen zu bezeichnen
scheinen. Ode und Gerburg
Vierden wirklich im Chron. Quedlinb. als
Stiftsdamen genannt (II, p 294, Leibn.) und ihr Tod im Jahre 1023 be-
richtet; Athilger war der Name eines Ilalberstädtischen Geistlichen, von
dem die Quedlinburgische Chronik (p. 291) berichtet, dass er im J. 1018
gestorben ist. Doch wird im J. 1020 der Tod von fünf Stiftsdamen be-
richtet, deren Namen wir hier nicht lesen, Emerita, Otholhulda, des Mark-
grafen Dietrich Tochter, Thieden, Heminkin und Lucia; so dass die Frage
nicht vollständig gelöst erscheint. Hierauf folgt nun auf dem zweiten und
den folgenden Blättern ein Gebet, mit der Aufschrift „Consecratio cerei
adita a sancta Augustino dum adhuc Diaconus- esset^, doch sucht man in
den Schriften Augustin's vergeblich etwas Aehnliches. Es schliesst mit
folgenden Worten: „Precamur ergo te domine, ut nos famulos tuos, omnem
clerum et devotissimum populum una cum famulo tuo papa nostro Sil-
vestro et gloriosissinio imperatore nostro Ottone (am Rande mit schwarzer
Tinte ein Zusatz „et antistite nostro") et famula tua abbatissa nostra Athel-
heida (daneben mit andrer Hand Beatrice, aber mit derselben Hand ,,nec
non pia congregacione sibi commissa") quiete temporum concessa in his

1) Es ist bekannt, dass insgemein nur die oberen Deckel der Handschriften
des Mittelalters reich gesclimückt waren, indem die Bücher nicht, wie gegen-
wärtig, aufgestellt, sondern mit ihrem unteren Deckel (auf.Pulte oder den Altar
der Kirche) aufgelegt wurden. So sind auch die unteren Deckel der, oben be-
sprochenen Handschriften sämmtlich ohne Verzierung •••
k

Kiielcr, Kleine Schriflcn. I. 40

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6-26 Schlosskirche zu Qui^dlinburg etc.

festis pascalibus conservare dignoris" u. s. w. Da nun die Aebtissin Adel-
heid Michaelis 999 zur Aebtissin geweiht wurde, Otto der Dritte aber
schon 1002 starb, und hier seine Anwesenheit im Stifte nicht undeutlich
bezeichnet wird, so tragen wir kein Bedenken, das Osterfest des Jahres
1000 als die Zeit zu nennen, auf welches sich die Worte beziehen. Dieses
hat nämlich wirklich Otto III. in Quedlinburg gefeiert, Chron. Quedl. II,
p. 285 Leibn. Doch hat man das Gebet, wie der beigeschriebene Name
Beatrix lehrt, auch später bei Einweihung der Wachskerzen benutzt.

Die Schrift des Codex ist übrigens nur in Correkturen schwarz, sonst
schimmert sie Oberall ins Röthliche. Ein Paar Worte auf dem Titelblatte:
„Dieses Buch hat der Apotheker Hans Walpurger mit Schanden wieder
von sich geben müssen, den 4. Januar 1602" lehren, dass es einmal ent-
wendet und glücklich wieder gerettet worden.

Wenn demnach die Zeit des Jahres 1000 für die Anfertigung dieser
Handschrift fest steht, so dürfte jedoch wiederum der, in artistischer Hin-
sicht höchst interessante obere Deckel, wie es scheint, nicht als gleich-
zeitig, sondern als einer späteren Periode, etwa dem Ende des zwölften
Jahrhunderts angehörig, zu betrachten sein. Derselbe besteht aus einer
Elfenbeinplatte mit
Relief-Darstellungen, welche von einem, mit vergolde-
tem Silberblech überzogenen breiten Rahmen umgeben wird; letzterer ist
mit Filigran-Arbeit und Edelsteinen geschmückt. Die Elfenbein-Reliefs
enthalten die vier Scenen der Geburt Christi, seiner Taufe, seines Todes
am Kreuz und der Abnahme vom Kreuz. Sie sind fein gearbeitet und im
Style der byzantinischen Kunst, manche Figuren noch starr und streng in
der Zeichnung, doch ohne alle Yerkrüppelung oder Gedunsenheit, welche
den früheren Arbeiten dieses Styles häufig eigen ist. Im Gegentheil finden
sich hier im Einzelnen bereits die trefflichsten Motive, wie z. B. die Maria
auf der ersten Darstellung, welche neben der Krippe sitzt und das in Win-
deln eingewickelte Kind hineinlegt, eine hohe Gestalt von wirklich juno-
nischem Charakter ist. Auch Joseph, der sich unterwärts nachdenklich
mit der Hand stützt, ist sehr wohl gearbeitet. Ebenso hat Johannes, in
der Taufe Christi, eine meisterhaft schöne Gewandung. So gehört diese
Arbeit in ihren bedeutsameren Einzelheiten mit zu denjenigen, in Deutsch-
land vorhandenen und neuerdings erst in nähere Betrachtung gezogenen
Denkmälern mittelalterlicher Sculptur, in denen sich ein auffallendes Vor-
bild jener späteren wunderwürdigen Leistungen des Italieners Nicola Pisano
zeigt, welche letzteren in der italienischen Kunstgeschichte noch ohne
llebergang zu den rohen Werken seiner Vorgänger dastehen. Wir werden
weiter unten (an dem Reliquienkasten der Aebtissin Agnes) noch ein
zweites wichtiges Werk derselben Art kennen lernen. Die an den in Rede
stehenden Reliefs vorhandenen griechischen* Inschriften dürften dieselben
jedoch nicht wohl als die Arbeit eines deutschen Künstlers erscheinen
lassen. Auch diese (mit Spiritus- und Accentzeichen versehen) sind an
sich interessant. Sie lauten; ^
ysvvrjaigf tj ßanriat^, i] azavQcoaig, ri aito-
■KttQ-riXmeiQ (die Geburt, die Taufe, die Kreuzigung, die Kreuzabnahme).
Der Buchstabe scheint hier durch ein blosses Kreuz -f- angedeutet zu
sein, wiewohl Einige noch einen dunklen Rest der Umfassung O bemerken
wollen. Das Kreuz scheint sonst nirgend als Zeichen für das & allein
vorzukommen.

3. Evangelistariüm in Fol. (No. 67.), die evangelischen Texte nach
der Vulgata, wie sie im Kreislaufe des Jahres gebraucht werden, enthal-

h

1

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Alterthümer im Zitter der Sfhlosskircbe zu Quedlinburg. 027

It'iul und mit den Weihnachfstexfen liegiiiiiend. Lange sclirieb man (schon
zu Kettner's Zeit, S. 4 a. ii. Wailmann, S. 101.) dieses Buch der Aeb-
lissin Agnes, die um das Ende des zwölften Jahrhunderts regierte, zu;
allein der Charakter der Schrift und ebenso die zierlich gemalten blumigen
Arabesken, womit die Initialen derselben gesclimückt sind, widersprechen
einer solchen Annahme und deuten vielmehr auf die Zeit um das Ende
des fünfzehnten Jahrhunderts. Den Styl eben dieser Periode trägt auch ■
die Arbeit des stariten mit Silberblech überzogenen vorderen Deckels. In
der Mitte desselben sieht man nemlich die in Silber getriebene und mit
vergoldetem Mantel versehene Gestalt Christi, in Haut-Relief und von
tüchtiger Arbeit; auf dem Rahmen umher ein silbernes, reich und ge-
schmackvoll gebildetes Hankengeflecht; in den Ecken die symbolisclien Ge-
stalten der Evangelisten mit den beigeschriebeuen Namen der letzteren,
und zwischen ihnen die Bilder der vier Kirchenlehrer in flachem Relief,
diese in einem sehr tüchtigen Style ausgeführt, Alles aber, wie bemerkt,
das Gepräge der Kunst um den Schluss des fünfzehnten Jaluliunderts tra-
gend. Hiemit stimmt endlich auch eine^ (gegenwärtig fragmentirfe) Inschrift
überein, welche auf den Silberplatten an den Rändern des oberen Deckels
vorhanden ist; die Jahrzahl MVCXIII und die Worte: „Sub Laurentio pre-
posito'S sowie ferner: „Awe Maria gratia plena dominus" ... sind von der-
selben noch erhalten. Und da wir wissen, dass im Jahr 1515 Laurentius
Gobingk Probst des Klosters Wiperti war (s. Erath p. 597.), und hiemit
jene Jahresbezeichnung 1513 übereinstimmt, so wird man kein Bedenken
tragen, dies Buch für das Altar-Evangelienbuch Jenes Klosters anzusehen.'

Kleinere Reliqiiienkasten.

1, Der angebliche Reli q u i e n k a sten Heinrich's I. (No. 6.),
von länglich viereckigem Format, aus Holz, mit Elfenbeinplatten, welche
geschnitzte Reliefs enthalten, und mit in vergoldetem Silberblech geprägten
Darstellungen belegt; dazwischen Filigran-Arbeit mit eingesetzten Edel-
steinen, namentlich einer bedeutenden Anzahl von Rubinen. Die Elfen-
beinschnitzwerke sind hier von grossem kunsthistorischem Werth, aber sie
gehören augenscheinlich zwei verschiedenen Stylen, somit zwei verschie-
denen Epochen der Kunst-Entwickelung an. Die älteren und vorzüglich
interessanten Reliefs sind auf den grösseren Platten befindlich, zwei auf
dem Deckel, zwei an den schmaleren Seiten; jene stellen die drei Marieen
am Grabe des Herrn und Christus, welcher die Jünger segnet, diese die
Fusswaschung Petri und die Verklärung Christi, dar. Die letztere Dar-
stellung, in der Weise, wie Christus mit Moses und Elias auf Wolken
steht und unterwärts die drei Jünger in verschiedenartiger Stellung auf
dem Boden liegen, entspricht vollkommen dem besonderen Typus, in wel-
chem diese Scene durch die ganze Zeit christlicher Kunstausübung, von
den ältesten Zeiten bis Giotto und bis auf Raphaels hohes Meisterwerk,
behandelt worden ist. Die in Rede stehpnden Reliefs sind übrigens sämmt-
lich von grösster Rohheit in der Ausführung, von einer ausserordentlichen
Ungeschicklichkeit in der Handhabung des Messers, welche besonders ,der
Formation der Köpfe, sowie den durch blosse Einschnitte hervorgebrachten
Falten der Gewandung nachtheilig geworden ist; auch das kurze, plumpe
Gesammt-Verhältniss der Figuren ist nichts weniger als angenehm. Bei

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628 Sriilosskircbe zu Quedlinburg eto.

alledem aber eriimern sie mit vollkommener Entschieclenheit (wie die in
dem Evangelistarium, No. 65, besprochenen Malereien) an den Styl der
karolingisclien Periode oder vielmehr gerade an die ältest-cliristlichen, in
Nachwirkung des antiken Knnstgeistes ausgeführten Sarkophag-Sculpturen
(im christlichen Museum des "Vatikans zu Rom), denen sie in den tech-
nischen Bezügen auffallend ähnlich sindAuch die in diesen Reliefs
dargestellten Architekturen — der Kuppelbau des Grabes auf der ersten,

'W

fi.
■.II

!?ir

1

das Tempelfronton, darunter Christus steht, auf der zweiten Platte — sind
noch gänzlich in den Formen des klassischen Alterthums, ohne alle Hin-

Auch die Weise, Christus unbärtig darzustpllen, erinnert au jene Sarivo-
pliag-Scrupturen.

I'
j.

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AUertlmmer im Zitter der ScblossUircLo zu Quedliuburg. iß29

(leutung auf speziell mittelalterliche Kuiistforin, gearbeitet, sowie auch die
Blättereinfassungen der einzelnen Platten noch die antike Akaüthusform
bewahren. Gleichwohl tritt in den Linien der Figuren, ^— ähnlich wie in
den oben besprochenen Malereien, — ein gewisses Motiv hervor, welches,
wie es scheint, den letzten Nachklängen des antiken Gefühles nicht mehr
angemessen ist und sich bereits als den Uebergang zu späterer Bildungs-
weise anktlndigt, so dass wir auch diese Arbeiten einer Uebergangsperiode
der Art, d. h. ebenfalls dem zehnten Jahrhundert, zuschreiben dürfen.
Hiedurch konnte die Tradition, welche diesen Reliquien kästen als ein,Ge-
schenk Heinrich's I. bezeichnet, einigen Grund erhaltöi; aber es könnten
eben auch nur diese Tafeln als die Reste eines solchen bezeichnet werden,
denn die übrigen Theile des Kastens"^ deuten, wie gesagt, auf eine spätere
Epoche. Die schmalen Elfenbeinplatten nemlich, welche an den Lang-
seiten desselben angebracht sind und die sitzenden Gestalten der zwölf
Apostel enthalten, tragen einen wesentlich verschiedenen Charakter; sie
lassen eine ungleich feinere Handhabung des Messers erkennen, haben aber,
trotz dieser grösseren Sauberkeit, keine Spur mehr von jenem Nachklange
antiker Würde, sondern gänzlich das Gepräge eines barbarischen, unglück-
lich verzwickten Formensinnes, und deuten in dieser Eigenthümlichkeit
auf die frühere Hälfte des elften Jahrhunderts. Ebenso auch die bei ihnen
angewandten Architekturen. Noch späterer Zeit endlich gehören die er-
wähnten, in Silber getriebenen Darstellungen an, welche sich ebenfalls an
diesem Kasten befinden. Sie enthalten an den vier Ecken der schmaleren
Seiten, und in längeren Streifen über und unter den Elfenbeinplatten der
Langseiten, eine Reihe von Brustbildern heiliger Personen, und in der
Mit'te des Deckels die Gestalt Christi, von den Symbolen der Evangelisten
umgeben, letztere Figur in einer würdigen Ausbildung des byzantinischen
Styles. Es erhellt aus diesen Umständen, dass der in Rede stehende Kasten
nicht vor dem zwölften Jahrhundert seine gegenwärtige Gestalt' erhalten
haben kann.

2. Der angebliche Reliquienkasten Otto's I. (No. 1.), Wände
und Deckel ganz aus Elfenbein gearbeitet, mit mannigfachen Goldzierra-
ten und zum Theil sehr kostbaren Steinen (unter denen in der Mitte des
oberen Randes ein grosser ovaler Karfunkel) besetzt, der Boden aus einer
silbernen Platte bestehend. Die letztere ist auf ihrer unteren Fläche mit
bildlichen Darstellungen und Inschriften in Niello verziert: in dem grösseren
Mittelfelde die thronende Gestalt des Erlösers, zu dessen Seiten die griechi-
schen Buchstaben
A und mit einem kleinen Kreuz über jedem eingegraben
sind, unter dem Bilde Christi ein Altar, zu dessen Seiten, knieend und in
kleinerem Massstabe zwei Frauen in geistlicher Tracht, wie sich aus der
Umschrift ergiebt: die Aebtissin Agnes und die Pröpstin Oderade. Diese
Umschrift, in welcher es heisst: „Tempore Agnetis Abbatissae et Oderadis
praepositae facta est haec capsa", bestimmt auch zugleich die Zeit um den
Schluss des zwölften Jahrhunderts als diejenige, in welcher der in Rede
stehende Kasten angefertigt worden ist, und widerlegt die obige, fälsclilich
angenommene Meinung. Zu beiden Seiten dieses grösseren Mittelfeldes
sind, in drei Reihen über einander, zwischen Nischen mit kleinen Säulen
die Brustbilder von achtzehn Heiligen angebracht Aus-der Hauptumschrift
der Platte geht endlich hervor, dass der Kasten Reliquien des h. Servatius,
der Jungfrau Maria und der Heiligen, denen der Hochaltar der Kirche ge-
weiht war, enthielt und die Bestimmung hatte, auf den Hochaltar gesetzt

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6-630 Schlosskirche zu Qui^dlinburg etc.

zu werden; die erwälmten Reliquien weiden, sammt vielen anderen, im
Zitter noch gegenwärtig" aufbewahrt. Die Zeichnung dieser Niello's lässt
übrigens einen tüchtigen, bestimmten und ernsten byzantinischen Styl (wie
in den besseren Miniaturen der Zeit) erkennen; im Faltenwurf findet sich
an ihnen im Einzelnen manches schöne, lebendig bewegte Motiv.

Die aus Elfenbein gearbeiteten Seitenflächen des Kastens werden durch
Bogenstellungen mit Pfeilern und Säulen in eine Reihe von Nischen (zwölf
an der Zahl, je vier au den Langseiten, je zwei an den schmalen Seiten)
abgetheilt. Die Basen dieser Pfeiler und Säulen sind von attischer Form,
ihre Kapitäle mit Blätterwerk, zum Theil akanthusartig, zum Theil von
eigentlich byzantinischer Bildung, geschmückt. Ueber ihnen läuft zunächst
ein horizontales Gesims hin, von welchem nach hinten zu Vorhänge, die
um die Säulen geschlagen sind, niederhängen. Darüber erheben sich, von
Säule zu Säule, die halbrunden Bögen. In den Nischen stehen, in man-
nigfaltigsten Geberden, die Gestalten der zwölf Apostel. Die Figuren ge-
hören wiederum zu den vorzüglichsten Zeugnissen des Aufschwunges,
welchen die Kunst in Deutschland um den Schluss des zwölften Jahrhun-
derts genommen hat. Zwar fehlt ihnen hie und da die nothwendige Fe-
stigkeit der Stellung; durchweg aber haben sie in erfreulicher Weise Le-
ben, Bewegung und freie Naivetät, und im Einzelnen sind die Motive des
Faltenwurfes bei ihnen von einer hohen Schönheit und Anmuth, so dass
sie mehr als einmal an die Formen der Antike erinnern. (Dieses bewusste
Eingehen auf den Geist des klassischen Alterthums, wovon gerade jene
Periode die merkwürdigsten Zeugnisse liefert, ist etwas wesentlich Ver-
schiedenes von der unbewussten und rohen Nachachmung desselben, welche
im Vorigen besprochen wurde.) Im Allgemeinen sind die Verhältnisse
der in Rede stehenden Figuren leidlich, nur ein wenig kurz die Hände
sind meist gross; die Arbeit ist nicht gerade fein, aber ein lebendiges
Gefühl in der Führung des Messers, vornehmlich in Rücksicht auf die
Bildung der Hauptmassen. Ueber den Aposteln, in den Lünetten der Bo-
genstellung, sind die zwölf Figuren des Thierkreises angebracht, auch diese
im Allgemeinen von tüchtiger Arbeit. Die Ilauptumfassungen des Kastens
sind von Goldblech mit feinem Filigran, in welchem an der Vorderseite
des Kastens auch musivische Blumen angebracht sind; der Deckel ist ohne
bildliche Verzierung und ausser den Goldzierden nur mit edlen Steinen
und Glasflüssen in der angegebenen Weise geschmückt. — Doch ist auch
hier dem älteren Schmuck des Kastens einiger spätere Zierrat angefügt,
wie sich an der minder feinen Bearbeitung der goldnen Einfassungen er-
kennen lässt. Vornehmlich gehört hiezu eine an der Mitte der Vorderseite
angebrachte grosse antike Camee, in Amethyst geschnitten, welche mit ihrer
Einfassung die obere Hälfte der Mittelsäule und einen Theil der Thierfelder
zu deren Seiten bedeckt. Es ist ein jugendlicher Kopf, fast vollständig
herausgearbeitet, in den schönen Formen griechischer Gesichtsbildung, mit
langem lockigem Haar, Stirnbinde und Epheukranz, also ein Bacchus oder
eine Ariadne. Leider ist dieses treü'liche Stück, welches in Rücksicht-auf
seine Grösse (es misst Zoll in der Hölie), wie auf die geistreiche Ar-
beit alle Beachtung verdient, nicht von Beschädigungen frei geblieben,
welche gegenwärtig den Eindruck desselben auf den Sinn des Beschauers
wesentlich beeinträchtigen; denn ausser einigen Brüchen auf der rechten
Seite des Steines ist auch die Nase und der Mund verletzt worden, so dass
vornehmlich nur noch die obere Partie des Gcsichtes, Stirn und Augen,

-J

h

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Altertllümer im Zltter der Schlosskirche zn Quedlinburg. G25

sowie die "Wangen und das Kinn den eigenthümlichen "Werth desselben
erkennen lassen.

3. Ein Reliquienkasten (No. 5.) von Holz, mit vergoldetem Sil-
berblech überzogen, darauf getriebene Relief-Darstellungen. Die Haupt-
darstellung befindet sich auf-dem Deckel. Hier sieht man in der Mitte
den gekreuzigten Heiland, das Haupt auf die Seite gesenkt, mit einem, bis
auf die Kniee herabhängenden Schurz bekleidet, die Füsse auf ein Brett
gestellt. Oberwärts, zu den Seiten des Kreuzstammes, Sonne und Mond,
als zwei Köpfe in rundem Medaillon. Unter den Kreuzarmen stehen Maria
und Johannes, beide in klagender Geberde. Zu deren Seiten, vor byzanr

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6-632 Schlosskirche zu Qui^dlinburg etc.

tinischon Arcliitekturen (wie man deren auf älteren Siegeln findet) die Hei-
ligen Petrus und Andreas, welche in der einen Hand Spruclibander mit
Inschriften tragen und mit der andern auf den Gelireiizigten hinweisen,
lieber den letzteren, in den oberen Ecken des Deckels, sieht man die
Halbfiguren des Hiob und Esra, ebenfalls mit Spruchbändern in den Hän-
den; sie sind durch ein Kreisstück, aus dem sie herabschauen, von der
übrigen Darstellung abgesondert; hiedurch wird, wie sehr häufig in Dar-
stellungen byzantinischen Styles (z. B. bei den Erscheinungen von Engeln)
der himmlische Aufenthalt seliger Wesen angedeutet. Die künstlerischen
Verdienste dieser Arbeit sind ebenfalls von grossem Werth; zwar herrschen
hier noch die Motive des byzantinischen Styles in aller Strenge vor, was
namentlich bei der Christusgestalt (in der die getriebene Arbeit leider sehr
\erdrückt und somit verdorben ist) ersichtlich wird; aber es ist hiemit
zugleich eine grossartige Würde, ein freier, lebenvoller Ausdruck des Ge-
fühles verbunden, welche im Einzelnen die anziehendsten Resultate zu
Wege bringen und die Zeit, in. welcher diese Arbeit gefertigt wurde, Avic-
derum auf die lebenvolle Periode um den Schluss des zwölften Jahrhun-
derts bestimmen. Vornehmlich die erhabene Trauer in den Gestalten der
Maria und des Johannes ist sehr glücklich ausgedrückt und ihre Gewan-
dung in würdevollen Linien angeordnet. Dieselben Verdienste hab<3n auch
die kleineren Darstellungen an den Seitenwänden des Kastens; an der einen
der schmaleren Seiten sieht man hier nemlich di« Gestalt des verklärten
Erlösers in der Glorie, die rechte Hand zum Schwüre des neuen Bundes
aufgehoben und von den symbolischen Figuren der Evangelisten umgeben;
an den übrigen Seiten die zwölf Apostel. Letztere sind sämmtlich, in
verschiedener Geberde, auf langen Bänken mit byzantinisch verzierten
Rücklehnen sitzend und Bücher in den Händen tragend dargestellt. — Die
sämmtlichen Flächen des Kastens sind mit der saubersten und geschmack-
vollsten Filigranarbeit, sowie mit zierlich getriebenem Blattwerk eingefasst.

Verschiedene Gegenstände des früheren Mittelalters.

Der sogenannte Bartkamm König Heinrich's I. (Nr. 4.), ein
starker Kamm aus Elfenbein mit hohem, doppelgehörntem Griff, mit aus-
geschnitztem Ranken- oder Blätterwerk und Einfassungen von Gold und
Edelsteinen. Die angenommene Bezeichnung desselben, und so auch die
oben (S. 572.) mitgetheilte Vermuthung Quenstedt's: dass er im Sarge des
Königes bei der ersten Untersuchung desselben gefunden worden sei, ist
jedoch nicht passend, da König Heinrich, wie aus seinen Siegeln hervor-
geht, keinen Bart getragen hat; auch deutet der Styl des Schnitzwerkes
bereits auf eine spätere Periode. Nach der bequemsten Handhabung des
Kammes zu urtheilen, war derselbe indess ohne Zweifel als Bartkamm be-
nutzt worden.

Ein geistlicher Hirtenstab (No. 2.), zwei und eine viertel Elle
lang, einen Zoll dick, am oberen Ende einfach gekrümmt. Er war ur-
sprünglich mit schwarzem Sammt bekleidet, von dem jedoch nur noch ge-
ringe Reste erhalten sind; darüber, der Länge nach, vier breite Streifen
von feinem Goldblech und diese in gewissen Abständen von ähnlichen
Goldblech-Ringen umfasst; der ganze Goldüberzug mit einfachem Filigran

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Altertllümer im Zltter der Schlosskirche zn Quedlinburg. G25

geschmückt. Doch ist von
diesem Goldsciimuck be-
reits manches entwandt-,
auch war der Stab schon
früh in der Mitte gebro-
chen, was später durch
einen Beschiag von ver-
goldetem Silberblech re-
staurirt istr Die ganze
Bechaflenheit des Stabes
deutet auf ein hohes Al-
ter; und da Ditmar er-
zählt, dass Kaiser Otto III.
im Jahr 999 durch einen
Grafen Bezelin der Aeb-
tissin Adelheid bei ihrer
Einweihung zum Amte
einen goldnen Stab über-
sandt habe (vergl. oben,
S. 583, Anm. 1.), so liegt
die Yermuthung nahe,
dass oben dies der gegen-
wärtig vorhandene Stab
sei. Im Jahr 991 hatte
derselbe Kaiser der Dom-
kirche zu Halberstadt
ebenfalls einen goldnen
Stab verehrt.

Drei Krystall fla~
sehen mit darin ein-
geschlossenen Reliquien.
Die einfachste derselben
(No. 22.), in Gestalt eines
kleineren Flacons, mit
einigen Buckeln und Rei-
fen ausgeschlilTen und einige Haare enthalfend, hat auf ihrer alten, aus
vergoldetem Silber gearbeiteten Umfassung die Worte: Cai)ills Marie Otto.
T. Impr. (Otto tertius imperator). Sie gehört somit, als ein Weihgeschenk
dieses Kaisers, der Zeit um den Schluss des zehnten Jahrhunderts au. -r-

Die zweite (No. 14.), in Gestalt eines Herzens,
hat auf ihrer vergoldeten Einfassung ebenfalls
eine Inschrift, welche die verschiedenen Heiligen
namhaft macht, deren Reliquien darin bewahrt
sind. Da diese Schrift dem Charakter der eben-
genannten ganz gleich, auch das Gefäss selbst,
wenn schon reicher dekorirt, im Style des vori-
gen gearbeitet ist, so muss auch dies derselben
Epoche zugeschrieben werden. Die Verzierun-
gen, die auf den Flächen desselben ausgeschlif-
fen sind, bestehen in Ranken, welche in der
Weise von Voluten geschwungen und gekrümmt

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Schlosskirche zu Quedlluburg etc.

Ü34

sind und ein palmetten - artiges Blattwerk zwischen sich enthalten (unge-
fähr im Charakter des Ornamentes auf apulischen Vasen, ~ also wieder
den Formen des klassischen Alterthums verwandt). Die Zeichnung dieser
Verzierungen ist gut, die Schleifarbeit aber noch ziemlich ungeschickt. —
Das dritte Gefäss (No. 25.), von bedeutender Grösse und Stärke, hat wie-
derum die Gestalt eines Flacons; doch ist dieselbe hier noch reicher aus-
gebildet, indem die Seiten desselben in der
Gestalt zweier, nach auswärts sitzender .Vögel
(vermuthlich Falken mit der Kappe) ausge-
schliffen sind. Von dem einen dieser Vögel
ist der Schnabel, sowie auch Einiges von dem
unteren Theile des Gefässes, abgebrochen. Die
in demselben aufbewahrten Reliquien (darun-
ter auch ein Tropfen Milch von der Jungfrau
Maria) befinden sich in drei eingebohrten Höh-
lungen. Die silberne Einfassung ist später
und hat keine Schrift; aber die ausgeschliffe-
nen Verzierungen, deren Detail denen des
ebengenannten Gefässes vollkommen entspriclit,
'deuten mit Bestimmtheit auf eine gleichzeitige
Ausführung. Auch an sich sind die Gefässe
wegen der seltenen Grösse der Bergkrystalle,
aus denen sie gearbeitet sind, kostbar und
merkwürdig. — Wir habeu in diesen drei
Flaschen somit sehr interessante Ueberreste
aus der Zeit Otto's III., und in ihnen, wie
es scheint, wichtige Zeugnisse für den orna-
mentistischen Styl in den Sculpturen dieser
Periode.

Eine Reliquientafel (No. 8.), von nicht bedeutender Grösse; von
Holz, mit Silberblech überzogen. Auf der Vorderseite, wo die Reliquien
eingelassen sind und offen daliegen, ist das Blech vergoldet und mit In-
schriften versehen, welche die aufbewahrten Heiligthümer namhaft ma-
chen; es sind folgende: 1) Pauli Apostoli. — 2) De sepulcro Domini. —
3) Johannis Baptistae. — 4) De loco nativitatis. — 5) De ligno Domini. —
6) De monte Calvariae. — 7) Thomae Ap. — 8) De sepulcro S. Mariae —
9) S. Bartholomaei Ap. — 10) Stephani Prothomartyris. — 11) S. Andreae
Ap. — 12) Caro et os Georgii. — 13) Caro Martini. — 14) S. Nicolai Ep. —
15) S. Blasii Ep. — 16) S. Margarethae. — 17) Mariae Magdalenae. —
18) Danielis. — Die Platte der Rückseite ist mit Relief-Verzierungen ver-
sehen: Maria mit dem Kinde in einer Rosette und sechs Brustbilder von
Engeln; dazwischen zierliche Blätterstreifen im Charakter der spätest by-
zantinischen Zeit. Die Arbeit hat insofern ein besonderes Interesse, als
mau deutlich sieht, dass das Einzelne hier mit Formen geprägt ist.

Ein Cruclfix (No. 10.) von Holz, mit vergoldetem Silberblech über-
zogen. Die an demselben befindliche, frei ausgearbeitete Figur des Chri-
stus ist im byzantinischen Style gebildet. Ueber dem Crucifix noch ein
kleineres Kreuz von Gold, in welchem eine Reliquie eingeschlossen ist,
mit Filigran-Avbeit und Steinen verziert.

Ein kleiues Kreuz (No. 16.) von Kupfer, ebenfalls zur Aufbewah-
rung einer Reliquie bestimmt. An der Vorderseite desselben befindet sich

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1

/

Alterthnnier iui Zitter der Schlosskirche zu Quedlinburg." 635

das Bild des gekreuzigten Heilandes in Gold und Eoiaillefarben^ und im
hochalterthümlichen Style der Kunst
yok Byzauz. Zu bemerken ist, dass
XU Oberst im Kreuz, über dem Haupte des Erlösers» die Sonne (in der
Form eines weissen Kreises) und darunter, liegend, der Halbmond (in
gelber Farbe) dargestellt ist. —

Teppiche. -

Von l edeutendem Werth für die Kenntniss der Kunst des früheren
Mittelalters sind die grossen Stücke in Wolle gewirkter Teppiche, welche
neuerdings zur sicheren und fortan gefahrlosen Aufbewahrung in den Zltter
niedergelegt sind, nachdem sie früher als Fussdecken in den* Priechen der
Kirche gedient halten. Sie enthalten bildliche Darstellungen , welche so- / ■

wohl in Rücksicht auf die schwierige Technik als auf den Styl der Zeich-
nung und den eigenthümlichen Inhalt ein vorzügliches Interesse gewähren.
Im Allgemeinen tragen sie das Gepräge des byzantinischen Styles, wie siph
derselbe gegeft das Ende des zwölften'Jahrhunderts (vornehmlich in den
vielfach bekannten Miniaturbildern der Handschriften dieser Zeit) ausge-
bildet hatte; sie bestehen aus scharfen Umrisszeichnungen mit einfacher
Farben-Ausfüllung, doch schon nicht ohne eine gewisse, wie angetuschte
Schatten-Angabe. Dabei aber unterscheidet man hier, in Rücksicht auf die
mehr oder minder geistreiche, Weise der Zeichnung, die Arbeit zweier
Hände, vOn denen die Cartons zu diesen Teppichen ausgeführt gewesen
sein mussten. Während nemlich einige der vorhandenen Stücke sich nicht
über die gewöhnlichen bildlichen Darstellungen der Zeit erheben und nur
im Einzelnen bessere und lebendigere Motive erkennen lassen, tritt bei
anderen, trotz der beibehaltenen, durchaus charakteristischen Eigenthüm-
lichkeiten des byzantinischen Styles, eine Würde und Anmuth der Haupt-
formen, vornehmlich aber eine Durchbildung des Faltenwurfes hervor,
welche bei den Werken so früher Zeit in der That das Erstaunen des Be-
schauers in Anspruch nimmt. Leider sind die Stücke gegenwärtig nicht
mehr zu einem Ganzen zusammenzusetzen, und auch an sich haben sie,
durch die Gleichgültigkeit, mit der sie behandelt worden sind, bedeutende
Beeinträchtigungen erlitten.

Schon beim ersten Anblick erinnern diese Teppich-Stücke an die
Rücklaken der Aebtissin Agnes, von welchen wir früher (S. 583) nach
Chronisten - Angaben berichtet haben. Auch der Inhalt des Dargestellten
scheint übereinzustimmen, indem jene nach dem Ausdrucke der Chronisten
die ganze Philo""sophie dargestellt haben sollen, diese aber die von
Marcianus Capella so eigenthümlich beschriebene Vermählung des Mercu-
rius mit der Philologia, welche wohl mit jenem Namen bezeichnet sein
soll'), enthalten, - Auf der ersten Decke sieht man zunächst-am Anfang
eine männliche, bärtige Gestalt, sitzend, deren recht« Hand gehoben den
Zeigefinger ausstreckt, deren linke aber ein Band hält mit der Aufschrift
„Sors erit aequa tibi." Darüber liest man „cianus"; offenbar sind die vor-
hergehenden Buchstaben ""mit einem Theile der Decke abgerissen; es^ ist
Marcianus Capeila. Neben ihm steht zunächst Mercutius, wie schon die

Die Philosophia hat gewiss auch selbst in jenen Darstellungen nicht ge-
fehlt, da sie Marc. §. 96, 131, §. 576 «rwähut hat.

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C3()

Schlosskirche zu Quedlinburg etc.

Uebersdirift lehrt; es ist der jugpiidliche, unvermählte Gott, fast wie ihn
Mardanus schildert. „Ac iam puhentes genae seirilnudum eum incedere,
chlamydeque indutura parva invelaturaque cetera humeronnn cacnnieu ob-
nubere sine magno Cypridis risu non sinebant", Hb. 1. §. 5. p. 22. ed.
Kopp. Er ist nur halb mit einer Art antiker Toga bekleidet, welche eine
Schulter vmd — abweichend von der gewöhnlichen Darstellung, aber für
die Darstellerin selir passend — den "Vorderleib leicht bedeckt, und einen
guten Faltenwurf bildet. In der Hand hält er ein Band mit der Aufschrift
„Deprecor auxilium vestrum, sociae." Zunächst dem Mercurius findet sich
eine Gruppe von drei Jungfrauen, die erste Manticeu, die zweite Sichern

(diese vornehmlich von einer
hohen Schönheit und sehr treff-
lichen Gewandung), die dritte
Sophia überschrieben. Es sind
die drei von Marciainis erwähn-
.ten Jungfrauen, an welche man
bei Mercurius "Vermählung zu-
erst gedacht hatte. Die Sophia,
sagt M., liebte er zwar sehr
(„Sophiam ipse miro quidem cu-
piebat ardore") wegen ihrer Klug-
heit, Sittenreinheit und Schön-
heit: konnte sie aber, ohne Pal-
las zu beleidigen, nicht aus dem
Chore der Unvermählten hinweg-
nehmen. Aehuliche Liebe führte
ihn zur Mantice, („Non dispar
illum, sagt M., formae desidera-
bilis grataque luculentas in Man-
ticen quoque succenderat." Man
bemerke, dass sogar der Accusa-
tivus beibehalten ist) aber sie
hatte sich eben mit dem Apollo
vermählt. Auch Sichern ist trotz
der Verbindung des Namens nicht
zu verkennen ; es ist Psyche, von
welcher M. §.7 sagt: „His igitur
Wv%^v opimam superis ditemque
muneribus, atque mulla coele-
stium coUatione decoratam in
connubium Accas superiorum ca-
stus optabat." Gerade an dieser
Stelle hat die Göttinger Perga-
ment-Handschrift aus dem 13tcn
Jahrhundert auf dieselbe Weise,
p. 6, deutlich Sichern. Auch sie
hätte Mercurius gern geheirathet, weil sie von fien Göttern mit grösster
Sorgfalt erzogen und mit den mannigfaltigsten Gaben geschmückt worden
war. Allein Cupido hatte sie bereits mit diamantenen Fesseln umschlun-
gen. — Hierauf folgt wieder eine männliche Gestalt mit thurmartiger Kopf-
bedeckung, mit der Uebcrschrift Imineus, und einem Bande iu der Hand

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Altertkümer im Zittur der Schlosskirche zu Quedliuburg, 637

mit fler Aufschrift „qua felix copia talis." Sie stellt offenbar, den Hyme-
naeus vor, der in der Göttinger Handsehrift immer Ymeneus gesclmebeii
wird. Darauf folgt dann das letzte Bild dieser Decke, eaie männliche und
eine jveibliche Gestalt, die sich die Hände reichen, von denen^jener Mer-
curius, diese Philolpgia überschrieben ist; wie man sielit, der Yermäh-
lungsact selbst. Bei allen diesen Figuren finden sich Bänder mit Inschriften,
von denen bei Marcianns keine Spur^ist; so hat Psyche ein Band mit den
Worten: „constanter ivi"; der sich vermählende Mercurius „sum tuus";
hinter der-Philologia steht „nitor astri,"

Die übrigen Teppich-Stücke stellen ebenfalls Figuren ähnlicher Art,
sämmtlich aus dem genannten Buche des Marcianus entlehnt, dar. Unter
diesen ist, nächst dem eben Besprochenen, ein Fragment vornehmlich aus-
zuzeichnen, welches ausser dem Brustbilde der Pudicicia die ganzen Figuren \
der Fortitudo (?) und Prudencia enthält, die beiden letzteren von eigenthüm-
licher Grossartigkeit: Fortitudo mehr in feierlicher Würde, Prudencia in
einer mehr schlichteren Weise, aber mit einigen, für jene Zeit höchst merk-
würdig durchgeführten Motiven der Gewandung. Auch dies nach Marc. II,
§. 127 Kopp, „ecce quaedam matronae sobrio decore laudabiles, nec con-
quisitis flgmentis circa faciem vultuosae, verum simplici quadam comitate
praenitentes, in penates virginis thalamumque conveniunt. Quarum una
intenta circumspectione cautissima et omnia jerum vigili distinctione discri-
minum dicebatur Prudentia vocitari." Dann folgen Justitia, Temperantia,
und zuletzt Fortitudo §. 130. „Quae supererat fortissima ac tolerandis
Om-
nibus adversis semper infracta,, subeundis etiam laboribus robore quoque
corporis praeparata
Virium >|Dcabulum possidebat." Eigenthümlich ist das
Brustbild der Pudicitia, welche bei Marc. II, §. 147 mit Coucordia und
Fides als Begleiterin der Pronuba erscheint. — Die Stücke, die ausserdem
noch vorhanden sind, — das eine mit den Gestalten der Philologia, ihrer
Mutter Pronesis §. 114, 217. (statt Phronesis, so auch in der Göttinger
Handschrift) und Genius §. 49.; das andre mit Cipris, Naiade, Risus lovis
§. 17. und Ver; ein drittes mit anderen Gestalten, — haben.; wie bereits
oben bemerkt, nicht dieselben Vorzüge der Zeichnung.

Wir dürfen demnach nicht zweifeln, dass wir in diesen Stücken in
der That die Ueberreste jener Teppiche besitzen, welche die Aebtissin
Agnes, laut der oben mitgetheilten Berichte der Chroniken, hatte ausführen
lassen. Sie stehen, ihren Kunstverdiensten nach, im entschiedens'ten Eiri-
klänge mit den, in ihrer Art so beachtenswerthen Werken der Malerei und
Sculptur, welche den Aufschwung der geistigen Bildung in Deutschland
um die Zeit des Jahres 1200 charakterisiren und die man gegenwärtig
einer günstigeren Aufmerksamkeit gewürdigt hat; ja, es erhält die Zeit
ihrer Anfertigung durch die anderen, sicheren Kunstwerke zu Quedlinburg,
Avelche derselben Epoche angehören (den Reliquienkasten der Aebtissin
Agnes und ihren in der Kirche vorhandenen Grabstein),^ die genügendste
und zureichendste Bestimmung. Auch haben die Inschriften auf dem eben-
genannten Reliquienkasten mit denen der Teppiche, besonders was die
merkwürdige Form des N .anbetrifft, eine vollkommene Aehnlichkeit, so
dass auch dies Verhältniss für die Richtigkeit der ausgesprochenen Zeit-
bestimmung bürgt. , ^ >

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6-38 Schlosskirche zu Qui^dlinburg etc.

Kleinere Reliqiiienbehälter des späteren Mittelalters.

Monstranzförmige.Gefässe. Bei dem grösseren derselben (No. 3.)
besteht der Behälter der Reliquien ans einem Straussenei, welches auf
einem vergoldeten Fusse sieht und mit einem sechsecltigen vergoldeten
Thürmchen, von gothisrher Form und ein kleines Cruciflx tragend , ge-
krönt ist. — Bei drei andern von geringerer Höhe (No. 11., 12., 13.) sind
die Reliquien in einem gläsernen oder krystallenen Behälter bewahrt und
kleine Edelsteine zum Schmuck angewandt.

Runde Kapseln von Silber, zum Theil vergoldet; die Deckel theils
ebenfalls von Silber, theils vou Glas oder Perlmutter. Zwei von ihnen
No. 27. und 32., sind einfach in gothischer Weise ornamentirt, die letztere
mit einem zwiefachen Deckel, von denen der äussere eine Herzform hat. —
Zwei andere, No. 30. und 35., sind mit dem Bilde des Lammes geschmückt,
welches auf dem letzteren von den vier Symbolen der Evangelisten um-
geben ist. (Dies gehört, älter als die übrigen, der Zeit um das Jahr 1300
an.) Auch mehrere der folgenden enthalten auf der einen Seite das Bild
des Lammes. — Auf der Kapsel No. 26. findet sich das Bild des Gekreu-
zigten. - Auf der Kapsel No. 29. eine vorzügliche getriebene Darstellung,
der Leichnam Christi in den Armen von Maria und Johannes; sie gehört,
ihrem Style nach, der Zeit um das Jahr 1400 an. — Die Kapseln No. 23.
und 24. sind mit Schnitzwerk in Perlmutter versehen. Das auf No. 23.
stellt die Dreieinigkeit, sehr sauber gearbeitet, im Style des vierzehnten
Jahrhunderts dar; das auf No. 24. die Gebvtrt Christi im Style des fünf-
zehnten Jahrhunderts, aber von roherer Arbeit. — Die Kapsel No. 31. hat
eine gravirte Darstellung des Gekreuzigten zwischen Maria und Johannes,
im Style des fünfzehnten Jahrhunderts. — No. 33. endlich ist mit einem
kleinen, ziemlich rohen Miniaturbilde, den h. Christopherus darstellend,
versehen, im Style der Zeit um das Jahr 1400.

Kreuze von Silber, zumeist dem fünfzehnten Jahrhundert angehörig.
No. 21., wohl das älteste von ihnen, ist mit der erhaben aufgesetzten Figur
des Heilandes versehen und mit Korallen an den Enden des Kreuzes be-
setzt. — Bei den übrigen ist die Figur Christi nur en relief dargestellt und
bei No. 19. mit kleinen getriebenen, bei No. 15., 17. und 20. mit gravirten
Bildern umgeben, — No. 18. enthält mir gravirte Figuren.

Grosse Reliquienkasten des späteren Mittelalters.

Es sind deren drei vorhanden, aus Holz gearbeitet, in der Form von
gothischen Kapellen (so dass das Dach den Deckel bildet), an den Wänden
von den Reliefgestalten verschiedener Heiligen umgeben und gänzlich ver-
goldet. An dem älteren derselben (No 59.), welcher dem Ende des vier-
zehnten Jahrhunderts angehört, sind die Wände mit einer Bogenptellung
von-breiten Spitzbögen, unter denen die Heiligen stehen, umgeben; letztere
in einem guten Style, nur von etwas kurzen Verhältnissen. — Der zweite
Kasten (No. 58.), der Dimension nach der grösste, ist von einer ähnlichen
Bogenstellung umgeben-' doch sind es hier bereits Rundbögen mit spät-
gothischem Ornament und auf gewundenen Säulchen ruhend. Er gehört

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Alterthünoer im Zitter der Sclilosskirche zu Quedlinburg,

639

somit dem funfzelmteii Jahrhundert an. .Die Heiligenfiguren sind von löb-
licher Arbeit. — Der dritte Kasten (No. 60 ), aus derselben Zeit, ist ohne
eine Bogenstellung der Art und nur mit Pfeilern auf den Ecken versehen.
Die Heiligenfiguren, in Hautrelief, stehen hier auf Consolen, sind .aber roher
als die an den vorigen gearbeitet"; zu bemerken ist, dass ihre Gesichter
mit natürlichen Farben bemalt sind, während bei jenen die Gesichter, wie
alles üebrige, vergoldet sind.

Die Gebeine der Heiligen, für deren Aufbewahrung diese Kasten be-
stimmt waren, sind noch in ihnen vorhanden, so z. B. in dem Kasten
No. 60. die Gebeine der h. Corona. — Ausserdem wird noch eine grosse
Menge von Reliquien in Kasten, Körben, Tafeln,, Taschen, Büchsen u^ s. w.
im Zitter bewahrt, wie z. B. in einer runden hölzernen Büchse Reliquien
von den Haaren der h. Maria Magdalena, von den hh. 11,000 Jungfrauen
u. a., in einer Schachtel Reliquien des hi Ammonlus u. a. befindlich sind.
Auch dürfte -zu diesen Mirakel-Geräthen eine viereckige rothe Tafel mit
einer Steinplatte gehören, welche ganz und gar mit Ohren bemalt ist.

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BESCHREIBUNG BER KÜNSTSCHÄTZE VON BERLIN

UND POTSDAM.

(Erster und zweiter Theil. Berlin, 1838.)

Es ist nicht thunlich erschienen, die beiden Bände des unter vorstehen-
dem Titel im J. 1838 begonnenen Unternehmens der Samnilnng meiner
kleinen Schriften und Studien für Kunstgescliichte einzuverleiben. Da es
jedoch im Interesse dieser Sammlung liegt, dass der beiden Bände an der
entsprechenden Stelle gedacht werde, und da, was icli zur allgemeinen
kunstgeschichtlichen Charakteristik der darin behandelten Sammlungen und
über meine Weise der Behandlung gesagt, hier füglich am Orte sein -wird;
so lasse ich das Vorwort eines jeden der beiden Bände folgen.

1) Beschreibung der Gemälde-Galleric des König! Miiseimis

zu Berlin.

Vorwort.

Her Zweck des Werkes, dessen erster Band hiemit dem Publikum.über-
gehen wird, geht zunächst dahin: den Besuchern der zahlreichen und ver-
schiedenartigen Kunstschätze von Berlin und Potsdam einen auf wissen-
schaftlicher Grundlage beruhenden Leitfaden vorzulegen; — sodann: der
l^rinnerung, wie an das Allgemeine, so namentlich an das einzeln Bedeu-
tendere nähere Anknüpfungspunkte darzubieten und abwesenden'Kunst-
freunden ein übersichtliches Bild des an den genannten Orten Vorhandenen
zu geben. Mit der Beschreibung der Gemälde-Gallerie des Königl. Museums
ist der Anfang gemacht,' sofern dieses Institut sich der lebhaftesten Theil-
nahme des grösseren Publikums erfreut und seine eigenthümliche Beschalfen-
heit zugleich eine nähere Verständigung über seine wissenschaftliche (histo-
rische) Bedeutung wünschenswerth gemacht hat. ,

Die Gemälde-Gallerie des Königl. Museums zu Berlin w'rd, was ihre
gegenwärtigen Bestandtheile anbetrifft, von einigen andern lierühmten Samni-

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Gemälde-Gallerie des K. Museums zu Berliu.

6-11

lungen durch reicheren Besitz an Werken eines höchsten Ranges iibertroffen.
Einer allmähligen Abhülfe dieses Mangels ist für die Zukunft entgegen zu
sehen, indem die durch königliche Gnade angeordnete reichliche Dotirung
des Museums stets neue Erwerbungen zulässig m'acht; und in der That
sind, seit Eröifnung des Museums, die schätzenswerthcsten Bereicherungen
dieser Gallerie Jahr für Jahr erfolgt. Daneben aber besitzt die-Gemälde-
Gallerie des Museums den Vorzug, der sie von allen ähnlichen Sammlungen
auf eine eigenthümlich bedeutsame Weise unterscheidet: den nämlich, dass
sie sich nicht einseitig auf diese oder jene Epoche künstlerischer Thätig-
keit beschränkt, sondern dass sie die ganze Periode christlicher Kunst-
übung, von den dunkleren Jahrhunderten des Mittelalters an bis in das
zuletzt verflossene Jahrhundert hinab (also nur im Gegensatz gegen die
neuen Bestrebungen der Gegenwart), mit einem Interesse umfasst, dessen
grössere oder geringere Gleichmässigkeit bisher allein durch unabweisliche
äussere Umstände bedingt zu sein scheint.

Die Gemälde-Gallerie bietet somit ein zusammenhängendes Ganzes, —
ein bis auf wenige Punlüe vollständiges und seltnes Bild der Geschichte der
christlichen Malerei dar; ihre äussere Anordnung folgt den Gesetzen der
geschichtlichen Entwickelung der Malerei und leitet somit schon von selbst
den Beschauer zu einer Aufnahme dieses Zusammenhanges au. Die stufen-
weise Ausbildung der Kunst, ihre Blüthe, der Verfall, das Emporrail'en zu
neuer Grösse u. s. w., alles dies tritt uns hier in mannigfachen Beispielen
entgegen, — zugleich aljer, was von höherem und allgemeinerem Interesse
ist: die Anschauungskraft, die Sinnes- und Gefühlsrichtung der vergangenen
Tage selbst. Denn das eben ist das Grosse und Bedeutende aller Kunst,
dass in ihren Werken das Leben und Sinnen der Zeit, in der sie entstan-
den sind, eine feste Gestalt gewönnen hat utsd dass sie noch den späten
"Nachkommen eine geheimnissvolle und doch so klar verständliche, so un-
mittelbare Kunde von dem, was die Geister ihrer Zeit erfüllte und bewegte,
zu geben vermögen. Dies gilt nicht blos von denjenigen Epochen, in
welchen .die Kunst mit vollkommener Freiheit über die Mittel der Dar-
stellung zu schalten ermächtigt war; dies gilt auch von den beschränkteren
Zeiten, in denen die Darstellungen noch an einseitige, mehr oder weniger
conventioneile Formen gebunden erscheinen: eine solche Einseitigkeit ist
nicht als das starre Gesetz zu betrachten, an welchem das geistige Leben
zerschellt; sie ist im Gegentheil eben nur der Ausfluss der noch erst auf
einen einzelnen Punkt hingerichteten und oft in dieser Richtung um so
wirkungsreicheren Bestrebungen. Eine Kunstsammlung, wie die .in Rede
stehende, führt also durch die Werke, welche sie vereinigt, unmittelbar die
Bilder der innerlichen, geistigen Entwickelung der Geschichte an uns vor-
über; und wenn auch hier, wie überall bei geschichtlicher Betrachtung,
nur die Höhenpunkte der Bildung unserm Gefühle eine wahrhafte Befriedi-
gung gewähren, so werden nicht minder auch die dämmernden Träume
aus den Tagen der Kindheit, das mächtige Ringen der lebhaft erwachten
Kräfte, das kecke Spiel mit den sicher erworbenen Gütern unser Interesse,
oft unsre Bewunderung in Anspruch nehmen.

Freilich ist es nicht überall leicht, die Sprache, welche diese Bilder
sprechen, zu verstehen. Sie sind nur einzelne Momente aus grossen Lebens-
epochen, sie sind aus dem Zusammenhange, in den sie mit grösserer oder
geringerer Energie eingriilen und durch den sie getragen wurden, heraus-
gerissen. Sie sind nicht ursprünglich für eine solche Zusammenstellung,

Kugicr, Kleine Schriflcn. I. 41

-ocr page 654-

w.

Bwsclireibuiig der Kiinstscliätzß von Berlin und Potsdam.

wie sie gegenwärtig einnehmen, bestimmt. Treten wir in eine Kapelle, in
einen Dom, dessen hehre Gewölbe unser Gemiitli mit ehrfurchtsvollem
Solianer erfüllen, da wissen wir, was die alten Bilder über den Altären
sagen wollen; treten wir in einen fürstlichen Prunitsaal, dessen bnnte Wände
noch von den Klängen des Festreigens zu widerhallen scheinen, da ist uns
der freudige Glanz, mit welchem die Bilder von den Wänden auf uns herab-
blicken, nicht fremd. Und mehr noch als dies: —jedes einzelne Werk
der Kunst hat wiederum seine Individualität für sich, jedes will für sich
beschaut und aufgefasst sein, während das Auge, über die bunte Mannig-
faltigkeit des Verschiedenartigen hinschweifend, so leicht abgestumpft wird
und die Fähigkeit und die Lust verliert, sich dem Einzelnen, in seiner stets
eigentliümlichen Forderung zu bequemen. Dies beides aber ist eine un-
umgängliche Bedingung, der Avir uns bei der Anschauung von Kunstwerken
einer vergangenen Zeit und von Sammlungen solcher, — soll sie uns anders
einen wirklichen Genuss gewähren, — unterwerfen müssen: wir müssen die
Interessen und die-Bestrebungen der Gegenwart vergessen, um uns denen
der Yergangenheit willig hingeben zu können, und wir müssen das Einzelne
mit derjenigen Müsse betrachten, die überhaupt
zur Erkenntniss einer jeden
Individualität nöthig ist. Dann gewinnen wir durch den engen Raum, den
das Kunstwerk einnimmt, einen Blick in ein weites Gebiet des Lebens;
dann, Schritt vor Schritt fortschreitend, werden wir auch den Fortschritten
des Lebens mit stets deutlicherem Bewusstsein folgen können.

Eine solche Absicht zu unterstützen, ist, wie bereits oben bemerkt,
der Zweck dieses Buches. Der Leser findet hier den reichen Vorrath der
Gemälde-Gallerie nach seinen geschichtlichen Beziehungen in übersichtliche
Gruppen gesondert, das Allgemeine der wechselnden Imnsthistorischen Ver-
hältnisse angedeutet und die einzelnen Werke, mit mehr oder minder aus-
führlicher Charakteristik, namhaft gemacht. Natürlich konnte bei einer
Anzahl von 1232 Gemälden >— dies ist der gegenwärtige Bestand der Gallerie
— nicht eben erschöpfend auf alles Einzelne eingegangen, konnte Manches
nicht anders als nur in der grössten Kürze berührt werden: es lag dem
Verf. vorzugsweise eben daran, die Gesichtspunkte für die eigne Betrachtung,
für das eigne Urtheil des Beschauers hinzustellen. So macht der Verfasser
auch keinen Anspruch darauf, dass seine Ansicht über ein jedes Einzelne
als die allein gültige angenommen werden solle; das Wesentliche der
Kunst ist eben nur mit dem subjectiven Gefühl aufzufassen, für dessen Rich-
tigkeit ausserhalb desselben kein weiterer Maassstab vorhanden ist. An
einigen Stellen ist der Verf. von den Bestimmungen dfes von dem Direktor
der Gemälde-Gallerie, Hrn. Dr. Waagen, verfassten Verzeichnisses abge-
wichen ; zu seiner Rechtfertigung muss der Verfasser sich theils auf jenes
subjective Gefühl, theils aber auch auf die Gelegenheit berufen, die ihn
mit einigen besondern Punkten der Kunstgeschichte näher vertraut gemacht.
Jedenfalls dürften diese Abweichungen dazu dienen, den in der Kunstge-
schichte minder Erfahrenen zu vorsichtiger Betrachtung gewisser Punkte,
die theils noch minder erforscht, theils schwieriger zu erforschen sind, an-
zuleiten. Dass im Uebrigen der Verf. dem genannten Verzeichniss, welches
bei den Kunstfreunden längst als eine vorzügliche Autorität anerkannt ist,
für die vorliegende Beschreibung vielfache und höchst wesentliche Förde-
rung verdankt, braucht, wie es scheint, wohl kaum hinzugefügt zu werden.

In Bezug auf manche, in der folgenden Beschreibung vorhandene Be-
merkungen über allgemeine oder besondre Gegenstände erlaubt sich der

042

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"»III

Gemälde-Gallerie des K. Museums zu Berlin.
H

Verf. hier auf sein, im Jahr 1837 erschienenes „Handbuch d^r'Ge-
schichte der Malerei etc." hinzudeuten, in welchem eine weitere Aus-
führung, auch im Einzelnen eine nähere Begründung seiner Ansichten zu
finden sein wird. Die vorliegende Arbeit bildet gewissermaassen eine An-
wendung des dort Mitgetheilten für eine Reihe bestimmt gegebener Fälle..
Einige der im Handbuch gegebenen Beschreibungen vorzüglich merkwürdiger
Gemälde des Berliner Museums sind hier wiederholt; doch hat sich der
Verf., wo es zulässig war, bemüht, sich ausführlicher und bestimmter aus-
zusprechen, als es^früher geschehen, und dem neu Mitgetheilten ein ver-
bessertes Gepräge zu geben. Auch sind in der Gesammt-Anordnung der
vorliegenden Arbeit einige Punkte anders gestellt, als es im Handbuche der
Fall ist, um solchergestalt eine leichtere Uebersicht der geschichtlichen
Verhältnisse zu begünstigen.

Die angehängten Schlussregister sind für den Handgebrauch des Buches
bestimmt. Dem Inhalts-Verzeichniss ist eine Uebersicht der interessantesten
Gemälde beigefügt, um den in seiner Zeit beschränkten Besucher zunächst
auf die vorzüglich hervorragenden Punkte hinzuführen. Doch bemerkt der
Verf. wiederum, dass, bei dem grossen Reiclithume des Gesammt-Vorrathes,
die Aufstellung dieser Auswahl niclft durchweg als letzte Instanz gelten
kann und dass auch für sie, mehr oder minder, der subjecfive Geschmack
entscheiden musste.

2) Beschreibung der in der Königl. Kunstkammer zu Berlin
vorhandenen Kunst-Sammlung. , "

V 0 r Av 0 r t, ' •

Die Kunstsammlung, welche die Königl. Kunstkammer in sich
einschliesst, besteht aus verschiedenartigen, den Zeiten der christlichen
Kultur angehörigen Arbeiten. Zu einem Ganzen vereinigen sich diese,
sofern sie, vorherrschend, dem Boden desjenigen Kunstbetriebes entspros-
sen sind, in welchem die Kunst minder um ihrer selbständigen-Bedeu-
tung willen, als zur edelsten Gestaltung und Ausschmückung des feineren
Bedürfnisses gepflegt wird. Sie beziehen sicli demnach auf diejenigen
technischen Elemente, in, welchen Kunst und Handwerk einander berühren,
Geräthe der mannigfachsten Art, für den Schmuck des öflTentlichen (beson-
ders des kirchlichen} wie des häuslichen Leben»- gearbeitet, theils durch
das verfeinerte .Handwerk kunstreich ausgebildet, theils mit wirklichen
Kunstwerken in grösserem oder geringerem Reichthum versehen, — Kunst-
gegenstände, welche ursprünglich für die letztere Bestimmung gefertigt sind
oder deren äussere Beschaffenheit sich vorzugsweise in den Grenzen einer
solchen Bestimmung hält, — diese sind es demnach, was den Kern der
in Rede stehenden Sammlung ausmacht. Doch ist dabei nicht ausser Acht
zu lassen, dass in der angegebenen Beziehung die Grenze sowohl gegen
das gewöhnliche Handwerk als gegen die vollendet freie Kunst nicht immer
mit Sicherheit zu ziehen sein kann; dass Manches von Gegenständen des
Handwerkes, bei denen nicht sowohl die Form als vielmehr die üeberwin-
dung technischer Schwierigkeiten die Hauptsache ist. Manches von selb-
ständigen Kunstarbeiten, in deren technischer Behandlung allein ein näherer

648

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C50 Beschreibung der Kuustschätze von Berlin iind Potsdam.

Zusammenhang mit rlem entsprechenden Handwerke hervortritt, von dem
Kreise dieser Anschauungen nicht ausgeschlossen werden darf. So umfasst
denn die Kunstsammlung der Kunstkammer, nächst den wirklichen Prachl-
geräthen, eine Reihe von plastischen und der zeichnenden Kunst angehöri-
gen Arbeiten, Beides aber von vorherrschend kleinerer Dimension. Nur
einige wenige grössere Werke reihen sich diesen, als besondre Ausnahmen, an.

Die Begründung dieser Sammlung gehört in die zweite Hälfte des sieb-
zehnten vund in den Anfang des achtzehnten Jahrhunderts, in die Zeiten
des grossen Kurfürsten von Brandenburg, Friedrich Wilhelm, und seines
Nachfolgers Friedrich Hl- (nachmaligen Königes Friedrich I.). Viele der
vorzüglichsten Stücke unter den gegenwärtig noch vorhandenen sind in
dieser Periode der Kunstkammer einverleibt worden; doch eröffnen diesel-
ben, bis auf einzelne Ausnahmen, keinen sonderlich weiten Ueberblick
über das Ganze der kunsthistorischen Entwicklung, indem sie zumeist in
der genannten Periode selbst oder in der nächst vorangegangenen gefertigt
sind. Was ihnen in historischer Beziehung mangelte, ist durch Ankäufe
der neuesten Zeit, welche man der Gnade Sr. Majestät des jetzt regieren-
den Königes verdankt, auf die grossartigste Weise ausgefüllt worden. Unter
diesen ist als der wichtigste Ankauf der der Sammlungen Sr. Excellenz
des Staats-Ministers und Genei-al-Postmeisters Herrn von Nagler anzuführen;
für die Kunstkammer haben letztere eine grosse Anzahl vorzüglicher
Schnitzwerke aus Elfenbein, den verschiedensten Epochen christlicher Cul-
tur angehörig, den grössten Theil der merkwürdigen Holzschnitzwerke aus
dem Anfange des sechzehnten Jahrhunderts, mannigfach andre plastische
Arbeiten, sämmtliche so äusserst seltne Email-Malereien des sechzehnten
Jahrhunderts, sowie die Mehrzahl späterer Emaillen, die grössere Mehrzahl
der kunstreichen Glasgeräthe, u. a. m. geliefert. Unter diesen Verhältnissen
steht die genannte Sammlung gegenwärtig in einer Bedeutung für die Ge-
schichte der Kunst und des Kunstbetriebes da, welche es schwer machen
würde, ihr eine zweite Sammlung von ähnlicher Ausbreitung des Ganzen
und ähnlicher Trefflichkeit des Einzelnen an die Seite zu stellen. Ihre
Betrachtung gewährt durchweg die wichtigsten Aufschlüsse über das Kunst-
leben der verschiedenen Epochen.

Ausser dieser Kunstsammlung schliesst die Kunstkammer noch einige
andre Sammlungen in sich ein, auf welche indess, da sie wesentlich ver-
schiedene Zwecke haben, die folgende Beschreibung im Allgemeinen nicht
näher eingehen durfte. Doch scheint es zweckmässig, dem Besucher der
Kunstkammer durch einige kurze Notizen über dieselben wenigstens den
Gesichtspunkt für die Zusammensetzung des Ganzen vorzulegen.

Die eine dieser Sammlungen wird als die „Abtheilung für Ge-
schichte" bezeichnet; sie umfasst Gegenstände, deren Interesse nicht so-
wohl in ihrer besonderen Bildung, nicht in der Rücksicht auf das etwaige
künstlerische Vermögen ihres Verfertigers als vielmehr darin beruht, dass
sie, was ihre ursprüngliche Bestimmung, ihren früheren Gebrauch anbe-
trifft, mit namhaften Erinnerungen an denkwürdige Zeiten und berühmte
Personen, vornehmlich an das Königliche Herrscherhaus und das Vaterland,
verknüpft sind. Auch unter ihnen finden sich die unschätzbarsten Stücke ').

1) Den bedeutenderen Theil dieser Abtheilung für Geschichte hat der gegen-
wärtige Direktor der Kunstkammer, Hr. L. v. Ledebur, in dem von ihm her-
ausgegebenen „Allgemeinen Archiv für die Geschichtskunde des Preuss. Staates,"

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Kunst-Sammlung der K. Kunstkammer zu Berlin. 045

liiozelne derselben haben indess zugleich eine kunsthistorische Bedeutung;
da aber diese Sammlung von der „Abtheilung für Kunst" gegenwärtig
nicht durchgehend (durch gesonderte Aufstellung) getrennt ist, so finden
sich im Folgenden einige Gegenstände mit aufgeführt, die — im Fall einer
solchen Trennung — vielleicht nicht zu der Kunst&aramlung geschlagen
werden dürften.

Eine andre Sammlung von höchster Wichtigkeit besteht aus Siegel-
abdrücken, welche von der früheren Zeit des MittelaUers bis in die
Gegenwart herabreichen und im Ganzen eine Anzahl von 24,000 Stück um-
fassen. Die Bedeutung, welche diese Sammlung für strengere histqrisohe
Forschungen liat, ist zu einleuchtend, als dass es hierüber noch .einer nä-
heren Erläuterung bedürfte. Im Einzelnen gewinnen aber auch diese Ar-
beiten ein, mehr oder minder liervorstechendes, kunsthistorisches Interesse;
vornehTnÜch für die dunkleren Epodien der Kunstgeschichte sind sie, als
die sichersten Leitpunkte für die Feststellung des Entwi'ckelungsganges der
Kunst, von sehr eigenthümlichem Werthe. Es ist somit in der folgenden
Beschreibung die Voreinigung dieser Sammlung mit der Abtheilung für
Kunst in dem Einen Lokale der Kunstkammer benutzt und eine Reihe
von Siegelabdrücken mit in den Kreis der Betrachtung gezogen worden..

Eine dritte, wiederum abweichende Sammlung wird, durch die „Ab-
theilung für Völkerkunde" gebildet. Diese umfasst die mannig- '
fachste Auswahl von Qeräthen, Waffen, Kleidungsstücken u. dergl.'m.,
welche den , ausserhalb der europäischen Civilisation stehenden Völker-
schaften angehören. Der Zweck dieser Sammlung ist der: von der Cultur,
der Sitte, vornehmlich von dem eigehthümlichen Stande der Kunstfertigkeit
dieser verschiedenen Völkerschaften Kunde zu geben. Es liegt in der
Natur der Sache, dass sich hier wiederum einzelne Gegenstände vorfinden,
au denen eine wirklich künstlerische Durchbildung, wenn auch die einer
mehr oder minder untergeordneten Stufe, hemerklich wird ; da diese ganze
Sammlung aber nicht in den Entwickelungsgang der europäisch-christlichen
Kunst eingreift, so ist sie im Folgenden gänzlich unberührt geblieben. Hier
mögen, als vorzüglich interessant für die künstlerischen Verhältnisse, nur
einige Punkte dieser Abtheilung, hervorgehoben werden. So ist z. B. an
plastischen Arbeiten hindostanischer Kunst, in Stein, Elfenbein,
Bronze, welche jene wundersamen Gestalten der indischen Mythe mit ihren
vielen Armen, ihren weichlich-schwülstigen Formen, ihren phantastischen
Geberden vorstellen, eine bedeutende Anzahl vorhanden. Anziehender sind
einige indische Malereien, unter ihnen ein grosses Bild, auf welchem man
einen Fürsten mit seinem Hofstaate vorgestellt sieht; drei andre, auf denen
Jungfrauen im Bade sich ergötzen und von Jägern belauscht werden, u. s. w..
Vorzüglich zahlreich sind die Arbeiten-chin es isc he r Kunst: grosse und
kleine Statuetten, von Speckstein und andrem Material, alle in dem wunder-
lichen , fast sentimentalen Charakter, der dem chinesischen Wesen eigen
ist; einige naturgemäss bemalt und an Kopf und Händen beweglich. Eine
grosse Menge chinesischer Malereien grösserer und kleinerer Dimension,
zum Theil, und besonders die naturhistorischen Darstellungen, mit unge-
meiner Zierlichkeit ausgeführt. Zierlichst diirchbrochene chinesische Elfen-

•» ■ *

Bd. XII. S. 3-34 und 289-319 beschrieben, unter dem Titel: „Wanderung
durch die KÖnigl. Kunstkammer in Berlin mit besonderer Rücksicht auf Erin-
nerungen an das hohe Herrscherhaus."

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C50 Beschreibung der Kuustschätze von Berlin iind Potsdam.

beinarbeiten, unter denen einzelne mit dem grössten Raffinement des Kunsl-
handwerkes ausgeführt sind', kostbare Stickereien5 mannigfaches Geräth,
besonders merkwürdige Bronzegefässe von fabelhaften Formen (wohl
zw
Tempel-Räucherungen bestimmt) u. dergl. m. . Von reineiv^ Schönheit und
dem wohlthuendsten Eindruck auf das Auge des Beschauers sind einige
Metall-Gefässe arabischer und persischer Kunst; sie sind* sämmtlich
reich ornamentirt, zum Theil mit niellirten Verzierungen auf silbernem
Grunde, zum Theil mit in Bronze eingelegtem Silber; hier zeigen sich
die schönsten Bandverschlingungen, das zierlichste Blattwerk, wie diese
Gegenstände der Kunst der genannten Nationen so besonders eigenthümlich
sind. Von australischen Völkerschaften sieht man kunstreiche Feder-
arbeiten, Webereien, Flechtwerke, mannigfaches Waffengeräth, etc.; Vieles
von alten und neuen Arbeiten der Bewohner Mexico's, u. s. w., u. s. w^ —

Die Vereinigung dieser heterogenen Sammlungen zu dem Einen Ganzen
der „Kunstkammer," welche gegenwärtig noch Statt findet, erklärt sich
durch die Geschichte dieses Instituts^). Schon oben ist der Periode der
Begründung desselben, in der zweiten Hälfte des siebzehnten Jahrhunderts,
gedacht worden. Dies Jahrhundert war es, in welchem überhaupt zuerst
Sammlungen von grösserer Bedeutsamkeit und weiterem Umfange angelegt
wurden; aber ohne einen tieferen, wissenschaftlichen Plan ging man hiebei
vorzugsweise darauf aus, alles Merkwürdige, Interessante, die Neugier und
das Nachdenken Fesselnde, soviel man dessen habhaft werden konnte, —
Erzeugnisse der Natur nicht minder wie Arbeiten menschlicher Hand, —
auf einem und demselben Schauplatze zusammenzustellen. So war auch
die Kunst- oder „Raritäten"-Kammer von Berlin aus den verschiedensten
Gegenständen: Prachtgeräthen, Curiositäten, Antiken, Münzen, Naturalien,
ethnographischen Merkwürdigkeiten, mathematischen und physikalischen
Instrumenten u. dergl. mehr zusammengesetzt. Erst in neuerer Zeit, bei
dem mehr anwachsenden Reichthume der einzelnen Abtheilungen, bei dem
gesteigerten Bedürfnisse nach wissenschaftlicher Behandlung, ist die wirk-
liche Trennung des den verschiedenen Disciplinen Angehörigen erfolgt.
Nachdem zunächst die genannten Instrumente, sodann die Naturalien-Samm-
lung, als das zumeist Abweichende, ausgeschieden waren, erfolgte Aehn-
liches bei der Errichtung des neuen Museums, indem auch verschiedene
Fächer der Kunstgegenstände an dessen verschiedene Abtheilungen über-
gingen und das, was in der Kunstkammer zurückblieb, dem umfassenden
Institute des Museums untergeordnet wurde.

Die Kunstkammer ist demnach, trotz der so ausserordentlichen neueren
Bereicherungen ihrer einzelnen Abtheilungen, in dem Ganzen ihrer gegen-
wärtigen Zusammensetzung noch immer als ein Rest ihrer ursprünglichen
Beschaffenheit zu betrachten. Wenn dies nun allerdings kein Hinderniss
sein kann , die einzelnen Abtheilungen der Kunstkt^mmer in ihrer selb-
ständigen Bedeutsamkeit aufzufassen, so dürfte es für den vorliegenden Fall
— in Rücksicht auf die „Abt Ii eilung für Kunst" — gleichwohl nicht
zu übersehen sein, dass einige der von ihr getrennten und in das Lokal

') Vergl. „Geschichte der Königl. Kuiistkaminer in Berlin, von L. v. Lede-
bur. Berlin 1831." (Aus dem Allg. Archiv für die Geschichtsk. des Pr. Staates
besonders abgedruckt); — und über die früheren Kunstkammern im Allgemeinen:
„Zur Geschichte der Sammlungen für Wissenschaft und Kunst in Deutschland,
von Dr. G. Klomm. Zerbst 1837."

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Kunst-Sammlung der K, Kunstkammer zu Berlin. 647

des Museums übergegangenen Kmistfächer, ihrer wesentlichen Bedeutung
nach, ebendemselben Kreise des .Kunstbetriebes angehören und bei einer
Gesammt-Anschauung des letzteren nicht übergangen werden dürfen. Dies
sind-vornehmlich die, in den Neben-Sälen der Sculpturen-Gallerie des
Museums aufgestellten Majoliken und Glasmalereien. Beide Fächer
gehören, Aft'ie es oben in Rücksicht auf die Kunstsammlung der Kunstkammer
ausgesproclien wurde, denjenigen Elementen des Kunstbetriebes an, wo
Handwerk und Kunst einander berühren. Beide stehen ausserdem zu an-
dern, auf der Kunstkammer vorhandenen Arbeiten in nächster verwaudt-
schaftlichei* Beziehungdie Majoliken zu den Emaillen des sechzehnten
Jahrhunderts , die Glasmalereien zu der Sammlung bemalter Glasgefässe,
von welchen die folgende Beschreibung nähere Nachricht geben wird.
Ausser den Majoliken und Glasmalereien sind sodann ein Paar einzelne,
in denselben Räumen des Museums aufgestellte Werke zu nennen, die nicht
minder der Richtung der in der Kunstkammer bewahrten Sammlung an-
gehören. Das eine von ihnen isf eine mit Schnitzwerken verzierte hölzerne
Truhe '), eine italienische Arbeit, welche für die Art und Weise italienischer
PraClitgeräthe ein merkwürdiges Beispiel gewährt und mit den in der Kunst-
kammer vorhandenen deutschen „Kunstschränken" interessante Vergleichungs-
X)unkte darbietet; das andre ist "^ein geschliffenes, dem Valerio Vicentino
zugeschriebenes Krystall-Gefäss^), welches den ähnlichen Arbeiten der
Kunstkammer angereiht werden muss. Beide Stücke finden zugleich in
anderweitigen, der italienischen Plastik angehörigen Arbeiten, die sich auf
der Kunstkammer befinden, mannigfache Berührungspunkte. — Auch ver-
schiedene der, im Antiquarium des Museums aulbewahrten Gegenstände,
— mittelalterliche Schnitzwerke in Elfenbein, moderne Gemmen und in
Krystall geschliil'ßne Darstellungen, — fallen demselben Kreise des moder-
nen Kunstbetriebes anheim.

Was nunmehr die Abfassung der folgenden Beschreibung anbetrifft, so
hat der Verfasser das Ganze der Sammlung vorzugsweise aus dem Gesichts-
punkte der kunsthistorischen Entwicklung betrachtet. Die Haupteinthei-
iung folgt den vorzügliclisten Stadien dieser Entwickelung, wie sich die-
selben durch die Eigenthümlichkeiten des vorhandenen Vorratlies bestim-
men; in den Unter-Abtheilungeu sind sodann die verschiedenen Kunst-
Fächer, soviel es möglich war, auseinandergehalten. Der Verfasser gesteht,
dass diese Anordnung (wie eine jede synchronistische Behandlung) ihre
Schwieriglfeiten hat, dass die Abschnitte zwischen der einen und der andern
geschichtlichen Perlode nicht immer mit Genauigkeit festzustellen sind,
und dass es für eine nur äusserliche Uebersicht des grossen Vorrathes
gewiss günstiger gewesen wäre, die verschiedenen Fächer, von den frühsten
Entwickelungszeiten bis auf die neusten Leistungen herab, gänzlich geson-
dert zu betrachten. Gleichwohl scheint die befolgte Anordnung Vortheile
darzubieten, welche die genannten Mängel bei weitem überwiegen; denn
durcb die Zusammenstellung dessen, was der Zeit nach gleichartig ist, wird
sich eben das Wesentliche, — der innere Charakter, die Sinnes- und
Gefühlsvveise der einzelnen Perioden, — ungleich deutlicher erkennen lassen,

als bei andrer Betrachtungsweise möglich ist. Für die angeregten Miss-

»

Verzeichniss von Werken der della Robbia, Majolica, Glasmalereien u. s. w,,
welche in den Neben-Sälen der Sculpturen-Gallerio dos Königl. Museums zu
Berlin aulgestellt sind, von F. Tieck: Berlin, 1830; S. ü, 0.

Ebendaselbst, S. 87. - ■ ' ' ■

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648 Beschreibung der Kunstscliätze-von Berlin und Potsdam,

stände hofl't der Verfasser durch die angehängten, nach dem Material uud
der Beschaffenheit der Gegenstände angeordneten Register zu entschädigen.

Da der "Verf. sonach nicht die Absicht hatte, ein Verzeichniss des l»e-
trofl'enden Theiles der Kunstkaramer zu liefern, so konnte es auch nicht
in seinem Plane liegen, alles Einzelne namhaft zu machen. Verschiedene,
zum Theil zahlreich besetzte Fächer, deren Ausdehnung ebenso wie ihre
BeschaflPenheit, für die Periode, der sie angehören, bezeichnend ist, waren
mit verhältnissmässig kurzen Worten zu charakterisiren ; bei manchen schien
sogar die blosse Andeutung ihres Vorhandenseins genügend. Je bedeuten-
der indess das künstlerische Element in den einzelnen Werken hervortrat,
um so mehr war eine ausführliche Darstellung ihrer Eigenthümlichkeit
nothwendig, auch wenn , sie äusserlich von untergeordnetem Werthe schei-
nen mochten. So sind namentlich auch Abgüsse plastischer Werke, die,
zum grösseren Theile wenigstens, nicht als die Originale gelten können,
mit aufgeführt, in einzelnen Fällen einer speciellen Untersuchung gewür-
digt worden. Diese bestehen sowohl in Bronze-Abgüssen (indem der Fall
nicht selten ist, dass mehrfach vorhandene Exemplare auf Ein , wiederholt
benutztes Original zurückdeuten), als vornehmlich in Blei-Abgüssen ; in dem
letzteren Material wurden in früherer Zeit gewöhnlich verschiedene Abgüsse
genommen, und-vsie sind häufig, bei dem Untergange der Originale, von
grosser Wichtigkeit für die Kenntniss der betreffenden Kunstzweige. Unter
diesen Umständen durfte der Verfasser auch keinen Anstand nehmen, einige
wenige vorhandene Gyps-Abgüsse plastischer Arbeiten an der nöthigen
Stelle einzureihen, indem sie den Kreis der Anschauungen auf belehrende
Weise erweitern halfen. Im Gegentheil scheint es ebenso wünschenswerth
wie leicht ausführbar, dass mit der in Rede stehenden Sammlung zugleich
eine möglichst vollständige Sa mml u ng von entsprechenden Gyps-
Abgüssen eingerichtet werden möchte; hiedurch würde man alles Vor-
züglichste, alles historisch Wichtige, was an andern Orten vorhanden ist,
in vollkommen getreuer Nachbildung vereinigen und eine so umfassende
Uebersicht für ein ganzes Fach der Geschichte der Kunst gewinnen können,
wie solche, in andrer Beziehung, allein durch die Kupferstichsammlungen
dargeboten wird' Den Kunstwerken des classischen Alterthums ist diese
Gunst schon häufig genug zugewandt worden; für Werke des Mittelalters
und der neueren Zeit würde sie gewiss von nicht minder erfreulichem Er-
folge sein.

Der Verfasser hat den eben besprochenen Punkt mit Absicht hervor-
gehoben, indem ihm, bei der Abfassung der nachfolgenden Beschreibung,
bei der historischen Anordnung des reichen Vorrathes, bei dem Wunsche,
die einzeljien Werke auf bestimmte Zeiten und Lokale, auf namhafte
Meister und Schulen zurückzufüliren, die eigenthümlichen Schwierigkeiten
einer solchen Arbeit in ihrer vollen Ausdehnung gegenüber getreten sind.
In der That gehören die Kunstfächer, aus denen die Sammlung der Kunst-
kammer besteht, zu den, noch am wenigsten aufgeklärten Theilen der Kunst-
geschichte; die literarischen Zeugnisse über dieselben sind gering, zurneist
in unerspriesslicher Allgemeinheit gehalten; die'Arbeiten selbst sind selten
mit dem Namen oder der Chiffre des Meisters uud mit der Jahrzahl ver-
sehen ; die vorhandenen ChitTren sind grossen Tlieils unbekannt'). Der

') DiejenigHii Monograiniao und Künstlerzoicheii, die sich in der neuen Aus-
gabe voji Briilliots' Möuograainieii-Lexicon gar nicht oder nicht in gleicher Form
vorfinden, sind auf der angehängten Monograramen-Tafel mitgetheilt.

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Kunst-Sammlung der K. Kunstkammer zu Berlin. 649

I

J

Styl, die Behandlungsweise, die besondre Richtung des Gedankens waren
CS, was in den meisten Fällen — in Analogie mit andern Fächern der
Kunst — allein zu einer mehr oder minder genauen Feststellung des Ein-
zelnen hinführen konnte. Mehrfach auch.,kam es darauf an, vorhandene
l'raditionen über den besondern Ursprung dieses oder jenes Werkes zu
prüfen; — zumeist aber haben sich dieselben, einer solchen "Prüfung gegen-
über, als wenig haltbar ausgewiesen und somit auch von ihrer Seite für
das Dunkel, welches über diesen Fächern ruht, ein Zeugniss abgegeben.
Bei vielen Werken darf es vorausgesetzt werden, dass sie einer nach-
ahmenden Kunst angehören, dass zu ihrer Herstellung vorzüglich die Kupfer-
stiche und Holzschnitte namhafter Meister, mehr oder minder frei, nach-
gebildet sind. Bei verschiedenen ist es geglückt, den vorhandenen Bezug
auf Originale der Art nachzuweisen.

Bei alledem aber hofft der Verfasser, dass seine Arbeit nicht als über-
flüssig betrachtet werden wird. Sie dürfte eines Theils — wozu sie . zu-
nächst bestimmt ist ■— Gelegen^it geben, eine der merkwürdigsten Samm-
lungen ihrer Art mehr, als es bisher geschehen ist, in"-gebührendem Maasse
zu würdigen und eine genauere Bekanntschaft mit den Schätzen derselben
zu vermitteln; andern Theils dürfte sie, nach den Bestimmungen, welche
der Verfasser dem Einzelnen zu geben im Stande war, der neueren Kunst-
geschichte ein nicht unwichtiges Material zuführen, auch manche nicht un-
wesentliche Lücke derselben, wenigstens theilweise, auszufüllen geeignet
sein. Eine vorzügliche Unterstützung in dieser Arbeit ward dem Verfasser
durch mannigfache gütige Mittheilung von Seiten des gegenwärtigen Direk-
tors der Kunstkammer, Herrn L. v. Ledebur, — namentlich durch die
Erlaubniss zur Einsicht in die von ihm verfassten (gegenwärtig bis auf die
Erwerbung der v. Nagler'schen Sammlung hinabgeführten) Kataloge zu
Theil, welche letzteren durch ihre, reiche allgemein-historische Grundlage
vielfache Belehrung darboten. Indem der Verfasser sich hiebei verpflichtet
sieht, dem Direktor der Kunstkammer für diese Förderung seinen Dank zu
sagen, muss er jedoch zugleich bemerken, dass letzterer nicht ebenfalls dfe
sämmtlichen, in der folgenden Beschreibung enthaltenen kunsthistorischen
Ansichten vor dem Publikum zu vertreten habe. Der Verfasser ist in diesen
nur der Ueberzeugung gefolgt, welche er sich^durch eigne Studien envor-
ben hat; ob dieselben einen weiteren Beifall und Bestätigung finden wer-
den, muss er für jetzt dahingestellt sein lassen. —

In Bezug auf die äussere Einrichtung der Beschreibung ilt endlich noch
zu bemerken, dass es, da die sämmtlichen Werke der Sammlung gegenwärtig
noch nicht mit durchlaufenden Nummern versehen sind, dem Verf. zweck-
mässig geschienen hat, die namhaft gemachten Arbeiten durch fortlaufende
Nummern, am Rande der Seiten, zu bezeichnen. Diese Bezeichnungen die-
nen indess lediglich nur zum bequemeren Handgebrauche des Buches. Aus
gleicher Rücksicht sind die, schon genannten Register ausgearbeitet.

Dem Inhalts-Verzeichuiss ist (ebenso, wie in der Beschreibung der
Gemälde-Gallerie des Museums) eine Uebersicht der vorzüglichst interes-
santen Gegenstände beigefügt, um auch hier den in seiner Zeit beschränk-
ten Besucher in der Kürze, auf das Wichtigste der Sammlung aufmerksam 'vli
zu machen.' '

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C50 Beschreibung der Kuustschätze von Berlin iind Potsdam.

Nachträgliche ßcmerkiiiig.

Plan zur Einrichtung einer liistorisclien Gallerie.

Ein dritter Band sollte den Ku nstscliätzen der Königlichen
Sclilösser zu Berlin und Potsdam gewidmet sein. Was mir darüber
an Materialien aus jener Zeit vorliegt, ist nicht
zur Veröffentlichung geeignet;
doch erlaube ich mir, hier eine Notiz über eine besondre Arbeit zu geben,
auf welche ich durch die IcünstlerisChe Umschau in den Schlössern geführt
wurde.

Durch eine Weisung, die mir aus dem Kabinet des hochseligen Königs
zuging, wurde ich veranlasst, zunächst den Bildnissen der Personen des
königlichen Hauses eine grössere Aufmerksamkeit zu widmen, als es ohne-
dies vielleicht geschehen wäre. Ich fand deren und andrer Bildnisse von
fürstlichen Personen und berühmten Männern eine überaus grosse Folge,
zum guten Theil zugleich Arbeiten von vorzüglichem künstlerischem Werthe-
Ich konnte mich gegen die seltene, besonders historische Bedeutung eines
solchen Materiales nicht verschliessen,; je mehr ich mich mit demselben
vertraut zu machen suchte, um so lebendiger wurde in mir der Wunsch,
dass daraus eine eigenthümliche historische Gallerie gebildet werden möchte,
die Hoii'nung, dass sich dies ohne allzu grosse Schwierigkeit werde ausführen
lassen. Zunächst schien es mir nöthig, eine möglichst genaue Uebersicht
des Vorhandenen aufzustellen. Zu diesem Behuf arbeitete ich, in historischer
und genealogischer Folge geordnet, ein „Verzeichniss der Bilder und
historischen.üarstellungen (Gemälde, Zeichnungen und Sculp-
turen), welche sich in den Königlichen Schlössern und Palais
zu Berlin, zu Schönhausen, zu Charlottenburg, zu'und bei
Potsdam, zu Paretz, zu Schwedt, zu Königsberg in Pr., sowie
im Gemälde-Vorrath b efinden; ne bst einem Anhange, ein Ver-
zeichniss der in den Königlichen Kunst-Sammlungen befind-
lichen Bildnisse und historischen Darstellungen enthaltend,"
aus. Das Verzeichniss umfasste im Ganzen 2367 Nummern und zerfiel in
folgende Unterabtheilungen: — 1) Die Kurfürsten von Brandenburg und
die Könige von Preussen mit ihren Vorfahren, Seitenlinien und Nachkommen
(782 Nummern); — 2) Römische, römisch-deutsche und.österreichische Kaiser
(53 Nummern); — 3) Die übrigen deutschen Fürstenhäuser (196 Nummern);
— 4) Fürstenhäuser ausserhalb Deutschlands (213 Nuii|mcrn); — 5) Per-
sonen in Diensten des kurbrandenburgischen und königl. preussischen Hauses
(323 Nummern); — 6) Personen ohne dienstliche Beziehung der Art (137
Nummern); — 7) Bildnisse unbekannter Personen, welche eine historische
Bedeutung zu haben scheinen (360 Nummern); — 8) Historische Scenen,
allegorisch-historische Darstellungen und alterthümliche Prospecte (122
Nummern); — Anhang (180 Nummern). Das Verzeichniss wurde dem
Könige zu Anfang des 1839 vorgelegt, und ich hatte, in Folge weiterer
Weisung, Gelegenheit, mich ausführlicher über die Bedeutung einer der-

-ocr page 663-

j Nachträgliche Bemerkung. 651 ('S

artigen historischen Gallerie, über ihre Aufstellung (wozu mir damals die
Festräume des Schlosses zu Berlin und die an dieselben sich weiter an- ' f '

schliessendeuLokalieii besonders passend erschienen), über den künstlerischen
Werth der einzelnen Bilderfolgen, über falsche Benennungen, die mehrfach
den Bildern gegeben waren, über die Feststellung der Persönlichkeiten
unter den bisher unbekannt gebliebenen Bildnissen (unter denen ich z. B.
ein vortrelHiches Portrait Friedrichs d. Gr. aus dessen zweitem Lebens-
jahre nachzuweisen vermochte) u. s. w. auszusprechen. Die Sache blieb
jedoch ohne weitere Folge. Das Manuscript des Verzeichnisses dürfte in
die Bibliothek des königl. Hofmarschallamtes gekommen sein.

Nach einer Reihe von Jahren wurde die Idee auf's Neue angeregt. Es
wurde zugleich dargethan, wie es in vielfacher Beziehung angemessen
scheine, mit einer solchen historischen Gallerie auch die historischen Reli-
quien , und besonders die des Königlichen Hauses zu verbinden , deren
einige in den Schlössern zerstreut sind und die der überwiegenden Mehr-
zahl nach sich in der Kunstkammer — in einer, ihrer tieferen Bedeutung
doch nur wenig entsprechenden Sammlung — befinden. Soviel mir bekannt,
haben indess auch diese Vorschläge zu keinen weiteren 'Maassnahmen
gcfülirt.

} f

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POMMERSCHE KUNSTGESCHICHTE.

Nach den erhaltenen Monumenten dargestellt. Stettin, 1840.

(Baltische Studien. Herausgegeben von der Gesellschaft für Pommersche
Geschichte und Alterthumskunde. Achten Jahrganges, erstes Heft.)

Einleitung.

Die Arbeit, welche ich hier unter dem Titel einer pommerschen
Kunstgeschichte dem Publikum übergebe, ist das Resultat einer Reise, die
ich im Sommer 1839 durch Pommern gemacht habe. Die Reise geschah
im Interesse und auf Veranlassung der Gesellschaft für pommersche Ge-
schichte und Alterthumskunde, deren Mitglied zu sein ich die Ehre habe;
der grössere Theil der dazu nöthigen Mittel war, auf den Antrag der ge-
nannten Gesellschaft, durch die Gnade Sr. Majestät, des hochseligen Kö-
niges, huldreichst bewilligt worden. Bereits seit längerer Zeit war es
nämlich zur Sprache gekommen, wie es in mehr als einer Beziehung höchst
wünschenswerth sei, von den in Pommern etwa vorhandenen Kunstmonu-
menten eine nähere Kunde zu besitzen; wie man, wenn eine feolche vor-
liege, um so genügender für die Erhaltung und für die Bekanntmachung
der Monumente werde wirksam sein können, und wie hiedurch die Cul-
turgeschichte des Vaterlandes ein vielleicht nicht unbedeutendes Material
gewinnen dürfe. Diese Ideen fanden in mir einen um so lebhafteren An-
klang, als es mir stets höchst wünschenswerth erschienen war, die, für den
ersten Anschein zwar unübersehliche Zahl der öffentlichen Kunstdenkmäler
in Deutschland, und zunächst die des preussischen Staates., —die in ihrer
Gesammthelt als ein colossales Museum von eigenthümlichster und gross-
artigster Bedeutung zu betrachten sind und die für dea Entwickelungsgang
der Culturgeschichte so überaus mannigfaltige und noch so wenig benutzte
Anknüpfungspunkte darbieten, — in einer gründlichen Weise untersucht
und verzeiclmet zu sehen. Es schien mir doppelt interessant, eine solche
Arbeit mit einem Laude zu beginnen, über dessen Kunstmonumente noch
gar wenig bekannt war, und es schmeichelte — ich will es gern gestehen —
meinem vaterländischen Sinne, dass mit Pommern, dem Lande meiner
Heimat, ein solcher erster Versuch gemacht werden sollte.

Die Reise hatte förmlich den Charakter einer Entdeckungsreise. Man-
ches Einzelne hatte ich Wohl früher an einem oder dem andern Orte des

-ocr page 665-

Einleitung. - 653

m
M

Vaterlandes gesehen und eine dunkle Erinnerung daran bewahrt;, über
Manches war mir eine mehr oder weniger bestimmte Nachricht zugekom-
men, so dass sich wohl schliessen lies», der Versuch werde nicht gerade
fruchtlos ablaufen-, einen, nur irgendwie bestimmten Wegweiser hatte ich
gleichwohl nicht vor mir. Aber der Erfolg übertraf die Erwartungen bei
Weitem. Fort und fort stiess ich auf neue und eigenthümliche Werke der
Kunst, und hatte ich zuweilen auch Tagereisen ohne Ausbeute zurückzu-
legen (in, Gegenden, die, entfernt von den Schauplätzen des historischen
Lebens, auch keine Erinnerung an ein solches bewahren konnten), so fan-
den sich doch stets in kurzer Frist wiederum neue Ueberraschungen. Der
Reichthum meiner Notizen schien mir endlich zu bedeutend, als dass es
zweckmässig gewesen wäre, sie als blosses Verzeichniss, nach den Lokalen
geordnet, auszuarbeiten; es schien mir im Gegentheil doppelt vortheilhaft,
die Kunstmonumente, soviel es sich irgen4 bestimmen liess, nach dem . - | 1

Gange der historischen Entwickelung aufeinander folgen zu lassen. Denn
eines Theils liess sich aus solcher Zusammenstellung ungleich klarer,, als
es ohne dies möglich gewesen wäre, eben dieser Gang der historischen
Entwickelung, somit das verschiedene Alter der Monumente, darstellen;
andern Theils aber gestaltete sich meine Arbeit in solcher Art zu einem
ungleich besser benutzbaren Material für die weiteren historischen For-
schungen. So durfte ich es denn auch wagen, da die vorhandenen Monu-
mente eben die einzigen namhaften Urkunden für das frühere Kunstleben
in Pommern sind, meine Arbeit mit dem Titel einer „pommerschen Kunst-
geschichte" zu versehen und sie als ein Glied der allgemeinen Geschichte
der Kunst hinzustellen.

Ich kann es mir indess vorstellen, dass der Titel, den ich gewählt,
von manch Einem — und wohl nicht allein von solchen, die mif Pom-
mern unbekannt sind, — werde belächelt und eines in ihm selbst enthal-
tenen Widerspruches bezüchtiget werden. Wann hat man je von einer
pommerschen Kunst gehört! und wann gar von einer so eigentümlichen .

Gestaltung derselben, dass sich ihre Geschichte hätte schreiben lassen!
Was Fiorillo auf zwei Seiten seiner vierbändigen „Geschichte der zeich-
nenden Künste in Deutschland" über Pommern zusammengetragen, lässt
hier nichts der Rede Werthes vermnthen; und unter den Millionen der
Künstlernamen, welche Füssly's grosses Künstler-Lexicon enthält, findet
sich nur ein einziger Pommer, der Baumeister Heinrich Brunsberg
von Stettin, angeführt, dessen Name eben auch nur dadurch bekannt ist,
dass er ausserhalb seiner Heimat, in Brandenburg, baute')- Im Gegentheil
gefällt man sich in herkömmlicher Weise darin, die edlere Geschmacks-
bildung ebenso wie die feinere Lebenssitte für unvereinbar mit dem pom-
merschen Namen zu halten.

Es ist die schöne Katharinenkirche von Brandenburg, welche durch den
Stettiner Meister aufgeführt wurde, wie dies eine Inschrift an der Nordseite der
Kirche bezeugt. Sie lautet: „Anno domini MCCCCI constructa est hec ecclesia in
die assumtionis Marie virginis per Magistrum Hinricum Brunsbergh de Stettin." —
Ein Paar Jahre

später erscheint auch noch ein zweiter Stettiner Baumeister zu ^

Brandenburg. An dem Thorthurme, welcher neben dem Mühlenthor, auf der J

Nordseite der Neustadt, steht, findet sich nämlich die folgende Inschrift: „Anno (

domini MCCCCXI edifloata est hec turris per Magistrum Nicolaum craft d' Stettin." V

— Die Bedeutung, welche beide Meister etwa für die heimischen Bauunterneh-
mungen haben, vermag ich leider nicht nachzuweisen. f

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670 Pommersche Kunstgeschiclite.

TP""

Es mag sein, dass die Natur des pQmmersclien'Vollies minder ge-
schmeidig organisirt ist, als die mancher anderen Stämme; daraus folgt
aber gewiss nicht, dass es anch mflsse arm gewesen sein an Sinn für
Schönheit und Poesie, die allein dem Leben seine edlere Gestalt geben,
und dass es keine genügende Kraft besessen habe, Beides zu einer höheren
Vollendung zu entwickeln. Tritt doch schon in der allgemeinen Geschichte
von Pommern poetisches Element genug hervor! Jene Kaufherfen, deren
Flotten die nordischen Meere beherrschten; jene Städte, vor deren Mauern
die verbündete Macht von Fürsten und Herren vergeblich lagerte; die
humoristische Laune, ^mit der so oft die kleinen Abenteuer in Krieg und
Frieden ausgeführt wurden; die tragischen Verwickelungen, die sich häufig
genug durch den unzähmbaren Freiheitsdrang des Bürgerthuiiis bereiteten, —
dies und vieles Andere sind Erscheinungen, die sich bei keinem Volke
finden, dem der höhere Gehalt des Lebens fremd geblieben ist. Und wie
lange eine solche Sinnesrichtung angehalten, zeigt vor Allem das Beispiel
Stettins; die heldenmüthige Ausdauer, mit welcher die Bürgerschaft dieser
Stadt die furchtbare Belagerung des Jahres 1677 ertrug, wird durch keine
politischen Gründe genügend erklärt, wolil aber durch den poetischen
Geist, der allein zu so denkwürdigen Thaten treiben konnte.

Aber auch in Sprach(?i und Wort liündigt sich mannigfach die poe-
tische Aiiffassiing und Gestaltung des Lebens an. Konnte Pommern an
dem wundersamen Aufschwünge der deutschen Poesie im dreizehnten Jahr-
hundert nur auf untergeordnete Weise Theil nehmen, — denn dies war
die Periode, in welcher hier deutsches Wesen und deutsche Cultur erst
f gegründet wurden, — so finden sich gleichwohl mancherlei Zeugnisse.

dass es diesem Aufschwünge nicht müssig und theilnahmlos zugesehen.
Die schöne Nachblüthe des Minnegesanges in der späteren Zeit und am
Schlüsse des dreizehnten*Jahrhunderts, die vornehmlich dem nordöstlichen
Deutschland angehört, reicht auch nach Pommern herüber. Fürst Wizlav
der Junge, von liügen, der letzte seines Geschlechtes, trat selbst in den
Beigen der Minnesinger ein und beschloss den Kreis der Fürsten, welche
die edle Kunst des Minnegesanges geübt, auf würdige Weise. Die Jenaer
Minnesinger-Handschrift führt 17 Lieder unter seinem Namen auf; die
ganze Holdseligkeit und ebenso auch der tiefe Ernst, welche die lyrische
Poesie Deutschlands im dreizehnten Jahrhundert charakterisiren, klingen
wunderbar anregend durch seine Lieder. Dazu kommt, dass auch seine
für einen hellen Tenor componirten Melodieen — die Dichter erfanden
damals die musikalische Form des Liedes zugleich mit der poetischen —
sich in anmuthvollem Wohllaute bewegen und sich selbst durch leben-
digen Fluss und durch die Andeutung individueller Stimmung, vor der
Mehrzahl der bekannten Minnesinger-Melodieen vorthleilhaft auszeichnen.
Andre Minnesinger jener Zeit lassen den Preis des i„jungen Helden in
Rügenland" laut erschallen. Der Goldener erzählt voni einem Kranz, der
im Ehrengarten von allen Tugenden gewunden und durch den Ausspruch
edler Frauen für Wizlav bestimmt ward; Meister Frauenlob rühmt ihn in
kunstreicher Canzone als die Blume aller Zucht und Tugend, und berich-
tet, dass sein Lob bei den fahrenden Singern weit verbreitet sei. — Aber
auch andre pommersche Herren werden von gleichzeitigen Minnesingern
höchlich gepriesen und erscheinen dadurch ebenfalls in persönlichem Ver-
hältniss zu den Dichtern und ihrer Kunst. So rühmt Hermann Damen
mehrfacli den Johann von Gristow und seinen Bruder, Verwandte des

•ß.

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ri'igischen Fürstenhauses. So singt Meister Rumeland von den Tugenden
des milden Fürsten Barnim'(I.) von Stettin und fordert Herren, Eitter.und
Singer auf, seiner nicht zu vergessen, obschon der Herzog, als Rumeland
das Lied dichtete, bereits verstötben war. So wird, durch den Meisner,
Bischof Hermann von Cammin als Diener der Frau Ehre bezeichnet und
seinem Namen durch zierliches Wortspiel (Heer, hehr, Herr und Mann)
ein bedeutsamer Inhalt gegeben

Dann muss des Volksliedes gedacht werden, das vorzugSM^eise die
poetische Neigung des Volkes erkennen lässt. Mancherlei Bruchstücke und
Reimverse, die uns aus mittelalterlicher Zeit erhalten sind, bezeugen es,
wie frisch und lebendig das Volk den öffentlichen Ereignissen im Lande
zugeschaut, wie es dieselben durch Klang und Rhythmus der Erinnerung

eigen

aufbewahrt, sie mit humoristischer Derbheit aufgefasst und sich zu

gemacht habe. Auch bis,in die spätere Zeit hält diese poetische Thätig-
keit des Volkes an; manch ein fliegendes Blatt des siebzehnten Jahrhun-
derts giebt uns davon erfreuliche Kunde. Ich kenne fast kein schöneres
deutsches Lied jener Zeit, das sich auf öffentliche Ereignisse bezöge, als
das Lied, welches den Heldenmuth Stettins im Jahre 1677 feiert; es hat
ganz die frische Kraft, welche in jenem Jahrliunderte/ nur einem Martin
Opitz eigen war— Meistersingerzünfte hatten sich in deii pommerschen
Städten nicht ausgebildet; aber ich weiss nicht, ob dies, wo es sich um
den lebendigen Erguss des Gefühles handelt, sonderlich zu beklagen sei.
Dagegen findet sich Andres, was ganz im Style eines Hans Sachs gedichtet
ist. Ich meine hier namentlich ein komisches Drama: „Tetzelocramia, das
ist. Eine lustige Comoedie von Johann Tetzel's Ablasskram etc." — wel-
ches zum Beschluss der Reformations-Jubelfeier im Jahr 1617 zu Stettin
aufgeführt wurde. Es ist von dem damaligen Conrector des herzoglichen
Pädagogiums zu Stettin, Heinrich Kielemann, gedichtet und zeichnet sich,
ohne sich zwar in seiner Gesammt-Composition über den Kreis, der Dra-
men des Hans Sachs zu erheben, in vielen einzelnen Stellen durch eine
frische, lebendige Laune aus, sowie sich auch Momente einer .wirklich
ergreifenden tragischen Kraft darin linden.

Das vorzüglichste Zeugniss des poetischen Geistes in Pommern aber
ist ohne Zweifel Kantzow's Chronik, die, wenn auch in Prosa geschrieben,

') Vergl. über alles dies von der Hagen's so eben vollendete grosse Ausgabe
der Minnesinger. "Wizlav's Gedi,chte Bd. III, S. 78, ff.; seine Biographie Bd. IV,
S. 717, ff.; seine Melodieen ebendas. S. 809, ff. Zwei seiner Lieder, von Prof.
Fischer in neue Notenschrift übertragen, ebendas. Bd. IV, im Anhang, No. 1 u. 2.
(Ein drittes Lied Wizlav's ist, schon vor längerer Zeit, von mir in moderne No-
tenschrift übertragen und mit Accompagnement versehen ; s. mein j.Skizzenbuch,
1830", Beilage zu S. 60, No. 4. — Gegenwärtig, bei Herausgabe dieser Samm-
lung meiner kleinen Schriften zur Kunstgeschichte, habe ich zwei seiner Lieder,
in'"Wort und Weise erneut,' "meinen „Liederheften"', deren Herausgabe ebenfalls
im Gange ist, eingereiht:) — Die erwähnten Stellen vom Goldener" s. ebendas,
Rd. III, S. 52, 4; von Frauenlob, ebendas., S, 123, 53; von H. Damen, S. 168, 9
und S. 164. 10 (über letztere Stelle vgl. Bd. IV, S. 743); von Rumeland, Bd. III,
S. 65, 14 u. 15; vom Meisner,-ebendas., S. 92, 4.

2) Abgedruckt in der Beschreibung der Stadt und Festung A. Stettin, 1G78."
(Wiederholt in meiner Geschichte des Preussischen Staates und Volkes, von 16(50
bis 1786, — Bd.- IV, des von E. Heinle. unter diesem Titel begonnenen
Werkes.) .

655

Einleitung.

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1 Jll ,,. 1 jiiiip,. I.iijii^pjj»

i 656 Pommersche Kunstgeschichte.

doch die Begebenheiten inid Personen in einer so vollendeten plastischen
Klarheit darzustellen weiss, dass sie den Leser wie ein unabhängiges Er-
! zengniss dichterischer Phantasie fesseln. Wesentlich trägt hiezu freilich

die untibertreiriiche Anmuth bei, mit welcher Kantzow den niederdeutschen
Dialekt behandelt, so dass seine Sprache sich wie in herodotischem Flusse
bewegt. Gewiss ist diese Chronik das schönste von allen Werken ähn-
licher Art, welche Deutschland besitzt. Auch muss der Umstand hervor-
gehoben werden, dass viele der einzelnen Erzählungen, welche sich theils
^ bei Kantzow selbst, theils bei seinen späteren Bearbeitern finden, auf eine

Weise gefasst sind, dass sie durchaus dem Trefl'lichsten, was die italieni-
sche Novellenliteratur hervorgebracht hat, zur Seite stehen.

Ich will indess gern zugeben, dass die eben angeführten poetischen
Momente, — wenn sie auch nicht anders, als aus einem dazu geeigneten
Boden hervorgehen konnten, — doch nur als vereinzelte Zeugnisse da-
stehen. Ungleich reicher tritt uns der Sinn fiir eine edle und würdevolle
Gestaltung des Lebens in den zahlreichen Werken der Kunst entgegen, die
sich in Pommern, trotz so vielfacher verheerender Stürme, erhalten liaben
und denen die vorliegende Arbeit gewidmet ist. Denkt ihrer die bisherige
geschriebene Kunstgeschichte nicht, findet sich auch sonst in den vorhan-
denen Nachrichten der pommerschen Geschichte, selbst in den bekannt
gewordenen Urkunden, kaum eine oder eine andre flüchtige Notiz über diese
Werke oder über ihre Meister, tragen die Werke selbst nur in seltenen
Fällen ein schriftliches^Zeugniss über ihren Ursprung an sich, so genügt
docli — und mehr als alle diese äusseren Vermittelungen — ihre blosse
Existenz hinreichend, um in ihnen den belebenden Prometheusfunken zu
erkennen, der auch in diesem germanischen Grenzlande gezündet und die
Gemüther für höhere und innigere Zwecke des Lebens'erwärmt hatte.
Bald nach der Einführung des Christenthums in Pommern, und vornehm-
lich seit der Umwandlung des Landes zu seiner ursprünglichen Bestiin-
mung — seit seiner neuen Germanisirung ~ entwickelt sich hier eine künst-
lerische Thätigkeit, die den Kunst - Unternehmungen des übrigen Deutsch-
lands ehrenvoll zur Seite steht. Zwar wdrd auch schon in slawischer Zeit,
durch verschiedene Missionsberichte, mancher künstlerischen Werke ge-
dacht: die Tempel der Hauptgötter erglänzten in bunten Farben, die Götter-
bilder waren zum Theil auf kunstreiche Weise zusammengefügt; auch hat
der getreue Boden des Landes viele Arbeiten der heidnischen Vorzeit be-
wahrt. Die letzteren indess stehen noch auf so einfacher Culturstufe, jene
Berichte sind so wenig genügend und scheinen auch gerade keine höhere
Kunstbildung zu verrathen, endlich trägt Alles, auch das Früheste, was
von eigentlichen Werken der Kunst vorhanden ist, so entschieden das Ge-
präge des deutschen Geistes, dass man eben nur mit dem neuen Auftreten
des letzteren die erfolgreiche Darstellung eines wirklichen Kunstlebens be-
ginnen kann. ' f

Der Anfang einer wirklichen pommerschen Kunst fällt demnach in die
Zeit um den Schluss des zwölften'Jahrhunderts. Es ist dies jene merk-
würdige Krisis, die gerade die Entwickelungsmomente eines höheren Auf-
schwunges der Kunst in sich begreift; es ist die Zeit, in welcher die Ar-
beiten eines sogenannten byzantinischen Styles in ihrer höchsten Vollen-
dung und in ihrem Verfall erscheinen, während sich gleichzeitig ein neuer,
die Blüthe des germanischen Mittelalters bezeichnender Styl (den man in
der Baukunst als den gothischen benennt) aus ihnen zu entwickeln beginnt.

'm

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Einleitung. - 657

Pommern nimmt diese Eutwiokelungsmomente in sich auf; es gestaltet von
Ihnen heraus eine eigenthümliche Weise der Kunst, die, wenn auch in
gleichmässigem Fortschritt mit den Werken des übrigen Deutschlands, doch
alsbald das Gepräge einer besondern Nationalität gewinnt,, die Selbstän-
digkeit des künstlerischen Schaffens mit Entschiedenheit bekundend. Zahl-
reiche Werke der Architektur wurden aufgeführt, in grösster Anzahl von
jener Epoche ab, da die Städte ihre selbständige Macht erworben hatten.
Das feste Material, das der felsenlose Boden versagte, erschuf sich das
Volk selbst, indem es die Erde zum Stein brannte. Nur bei den Bauwer-
ken früherer Zeit findet man das schwerzubehandelnde Material des Gra-
nits , wie derselbe als grosses Gerolle über Pommern verstreut ist, ange-
wandt; später erscheint der Granit nur bei Fundamenten, sowie schwedi-
scher Kalkstein bei den Gesimsen der.Fundamente. Einfache, ernste und
mächtige Formen wurden in den Hauptmassen der Architektur, besonders
im Aeusseren, vorgezogen; aber ein lebendiger organischer Hauch erfüllte
die Formen des Inneren; und wo das Innere in das Aeussere übertrat,
vornehmlich an Thüren und Portalen, entwickelte sich ein reichgestaltetes
Leben architektonischer. Glieder. Mit der ernsten und ruhigen Grund-
stimmung der pommerschen Architektur, obwohl sich ihr in späterer Zeit
mannigfacher Schmuck zugesellte, hängt es sodann zusammen, dass sie
fast nirgend mit Bildwerk geziert erscheint; es sollte die Darstellung des
individuellen Lebens von derjenigen, welche die allgemeinen, die festen
und ixnveränderlichen Grundgesetze des Lebens zu vergegenwärtigen hat,
getrennt bleiben. Um so eigenthümlicher und 'freier aber gestaltete sich
die Kunst der Bildnerei, die nun zum prachtvollen Schmuck des Inneren
verwandt wurde. Es sind dies Schnitzwerke in Holz, mit architektoni-
schen Zierden und mit farbiger Bemalung versehen, die in grösstem Reich-
thum angewandt, in mannigfach wechselnder Weise ausgebildet erscheinen
und unter denen sich Werke von höchster Schönheit vorfinden. Es scheint,
dass alles bildende Vermögen so ganz in diese Gattung der Kunst aufge-
gangen war, dass für andre Zweige künstlerischer Darstellung nur wenig
Kräfte übrig bleiben konnten. Wenigstens ist von selbständigen Werken
der Malerei nur sehr Vereinzeltes zu nennen.'

Bis zum Schlüsse des Mittelalters, bis zu den Zeiten der Reformation,
hielt dieser rüstige künstlerische Verkehr an; auch noch das nächste Jahr-
hundert sah, trotz vielfacher Veränderungen in den öffentlichen Zuständen
des Landes, manches treffliche und-geistreiche Werk entstehen. Aber,
soviel sich auch aus den vier Jahrhunderten eines glücklichen uüd be-
wegten Volkslebens erhalten hat, so ist doch Vieles, gar Vieles verloren,
und wir sehen heutiges Tages nur jFragmente jener grossen Tage vor uns..
Keine einzige der Hauptkirchen Pommerns ist in ihrer ursprünglichen Ge-
stalt oder mit der ganzen Fülle ihrer früheren Einrichtungen erhalten. Die
mächtig emporstrebenden Thürme wurden häufig durch die Orkane, welche
von der See hereinbrauseten, gebrochen oder durch die Flammen des Him-
mels verzehrt. Die schönen Zierden, welche die Gotteshäuser schmückten;
wurden an mehr, als an einem Orte durch die Wuth der Bilderstürmer
vernichtet. Furchtbarer als alles dies aber war das Elend des Krieges,
welches fast das ganze siebzehnte Jahrhundert hindurch Pommern heim-
suchte, so dass diese Zeit eine nur zu fühlbare Scheidewand zwischen
seiner alten und seiner neuen Geschichte ausmächt. Pasewalk ward in
einen Aschenhaufen verwandelt, Stettin ebenso, Ueckermünde war so hart

Kugler, Kleine Schriften. I. 42

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658 Pommersche Kunstgeschiclite.

heimgesucht worden, dass nach dem Ende der Qualen des dreissigjähfigen
Krieges nur acht Menschen in der Stadt übrig blieben; vile andre Orte
theilten mehr oder weniger ein solches Schicksal. Auch das achtzehnte Jahr-
hundert führte noch manche harte Prüfungen herauf. Da darf es uns nicht
befremden, wenn heutiges Tages viele kirchliche Gebäude, von denen wir
anderweitig Kunde besitzen, gänzlich verschwunden sind; wenn die erhal-
tenen Kirchen noch gegenwärtig oft genug einen wüsten Eindruck auf uns
machen, oder wenn sie ihrer freieren Zierden, ihrer Thürme, ihres rei-
cheren Fensterschmuckes, der Thürmchen über den Strebepfeilern und
ähnlicher Dinge entbehren. »Da müssen wir es im Gegentheil bewundern,
dass noch so viel Herrliches sich erhalten hat. Und wenn wir aus dem
Vorhandenen einen Schluss auf den ursprünglichen Zustand machen, wenn
1 wir uns die alten Gotteshäuser in ■ der Reinheit ihrer Formen vergögen-

j wärtigen, wenn wir sie, wenigstens die bedeutenderen, uns mit einem

ähnlichen Eeichthum an Bildwerken ausgefüllt vorstellen, wie z. B. die
Nikolaikirche zu Stralsund noch heute besitzt, so tritt uns freilich das
Bild einer künstlerischen Vollendung und eines Lebens im Genüsse der
Kunst vor Augen, das wohl geeignet ist, dem Bedeutendsten an die Seite
gestellt zu werden.

Das mannigfache Verderben, welches über die "Werke der pommerschen
Kunst heraufgeführt ist, mag zum Theil wohl an den oben berührten Vor-
urtheilen Schuld haben. Die traurige Periode J" von der ich eben gespro-
chen, vernichtete zugleich grösstentheils, nicht blos die Mittel, "^^das Zer-
störte zu ersetzen und würdig auszubessern,' sondern auch die Fähigkeit
dazu. Das edlere Handwerk musste unter jenen Stürmen mit zu Grabe
getragen werden, und es konnte sich wohl nur selten mehr, als die roheste
Geschicklichkeit, deren der Mensch zur Herstellung eines sicheren Ob-
daches einmal bedarf, erhalten haben. So ward, indem man zu den Aus-
besserungen des Beschädigten schritt, auch nur auf eine roh handwerks-
mässige Weise verfahren, und so musste sich, indem man das Schlechte
neben dem Edeln ertragen lernte, auch der Sinn für das letztexe mehr
und mehr abstumpfen. Und leider, — ich muss es hinzufügen, so schmerz-
lich es ist, denn vielleicht können diese Zeilen zur Beseitigung der Uebel-
stände beitragen, — leider ist es auch noch heute, einzelne bedeutsame
Ausnahmen abgerechnet, nicht gar viel anders. Gedankenlos wird in den
Kirchen noch immer Tünche über Tünche gestrichen, so dass die feinen
Formen der Gliederungen oft fingerdick verschmiert sind; gedankenlos
wirft der Maurergesell, den man zur Ausbesserung etwaniger Schäden be-
stellt, unförmliche Kalklagen über die Bautheile, die von hoher iMeister-
hand geformt und mit sinnigem Fleisse ausgeführt wurden. Solche Er-
scheinungen stossen denn freilich das feinere Gefühl aib, und leicht trägt
derjenige, der seinen Abscheu vor diesen Barbareieii nicht überwinden
, und sich nicht zu weiterer Forschung anstrengen mag, seinen Unwillen

auf das ursprünglich Vorhandene über. Aber auch von andern, .noch
schlimmeren Barbareien habe ich hier zu berichten. Der Werth der mittel-
alterlichen Schnitzwerke, die sich in unsern Kirchen vorfinden, in denen
sich" eine so eigenthümliche, in vielen Erscheinungen eine so hoch vollen-
N dete Kunstblüthe offenbart, scheint noch gar wenigen Augen einzuleuchten.

Es tritt öfters — wie sich das zwar heutiges Tages, auch in andern Gegen-
den bemerken lässt — .eine Art von Manie hervor, die alten Kirchen im
Inneren recht glatt und kahl und inhaltlos zu sehen, und da wirft man

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Einleitung. - 659

denn das alte Schnitzwevk eben ohne Weiteres hinaus. Mehrere Kirchen,
die jetzt so ganz leer erscheinen (z. B. die Marienkirche zu Stargard) sollen
noch vor wenig Jahrzehnten einen grossen Reichthum solcher Bildwerke
besessen haben. Augh war es mir selbst beschieden, ein Beispiel dieser

Barbarei mit eigenen Augen zu sehen. Die Kirche von F........'.e wurde

gerade restaurirt, als ich dieselbe besuchte. Man hatte hier ebenfalls alles
Bildwerk aus der Kirche entfernt; man hätte das mit geringer Mühe, wollte
man doch einmal ein kahles Haus haben, irgendwo zusammenstellen und
für Freunde der Kunst und der historischen Erinnerung aufbewahren kön-
nen: es war aber für zweckmässiger befanden worden, Alles auf dem
kleinen Boden der Sakristei übereinander zu werfen, so dass Vieles ver-
dorben war und dass das zierliche Ornament in reichen Trümmerliaufen
den Boden bedeckte. Und es handelte sich hier nicht etwa um Arbeiten
von untergeordnetem Werth; vielmehr war Alles, was ich noch ans Licht
zielien konnte, von guter, zum Theil sogar von selir ausgezeichneter Arbeit.
Das einfache Volk-theilt aber, Gott sei Dank, eine solche Barbarei nicht;
die Frau im Gasthofe zu Freienwalde, wo ich eingekehrt war, sagte mir,
es habe sie schon manche Thräne gekostet, dass sie nun die lieben alten
Bilder, die, so lange sie denken könne, in der Kirche gestanden, nicht
wieder sehen solle. —^

Möge es mir verstattet sein, an diese Darstellung des gegenwärtigen
Zustandes einige besondere Bemerkungen anzuknüpfen. Zunächst über die
Restauration der Kirchen, in künstlerischer Beziehung. Mir scheint, dass
deren Ausführung überall, wo es sich nicht um die Ergänzung bedeutender
Theile handelt, auf sehr einfachen Principien beruhe. Es kann dabei eben
nur die Absicht zu Grunde liegen, das Ursprüngliche in seiner eigenthüm-
lichen Gestalt wieder ans Licht treten zu lassen; also vor Allem: vollkom-
mene Reinigung der architektonischen Formen von all dem Unwesen, wel-
ches eine spätere rohe Zeit darüber gehäuft hat, und Wiederherstellung
der etwa beschädigten Theil^ im Style der erhaltenen. Als Anstrich des
Inneren würde ich statt des kalten Weiss und statt der nicht minder nüch-
ternen, hier und da beliebten Rosa^arbe eine warme ßandsteinartige Fär-
J^ung (aus lichten, gelb-bräunlich-grünlichen Tönen gemischt) vorschlagen,
4ie dem Auge vorzüglich wohlthut und die mit dem ernsten Charakter
nnsrer Kirchen am Besten übereinstimmt'). Was von mittelalterlichen Ge-
genständen in den Kirchen vorhanden ist, dürfte ganz ungestört an seiner,
in der Regel isehr zweckmässigen Stelle zu erhalten sein; Gemälde und
Schnitzwerlie würde man höchst vorsichtig zu reinigen und vor aller Re-
stauration, wenn nicht ein vorzüglich anerkannter Restaurator "dafür zu
gewinnen wäre, zu hüten haben (damit nicht etwa ähnliche Unbilden vor-
falleii, wie in der Colberger Marienkirche über die Cranach'schen Bild-
nisse und über den schönen Schlieffen'schen Kronleuchter ergangen sind).
Auch gegen die Denkmale späterer Zeit, die sich in unsern alten Kirchen
vorfinden, möchte ich durchaus kein Anathem aussprechen: denn das eben
ist das Grossartige an,diesen Kirchen, dass sie viele Geschlechter in sich
haben vorübergehen sehen, und dass sie', ohne an dem Eindruck ihrer
Grösse zu verlieren, die Spuren dieser verschiedenen Geschlechter in sich

Noch besser freilich wird es sein, wenn man den Anstrich ganz ent-
fernen und die reinen Ziegellagenwie sie wenigstens hei den älteren Kirchön
ursprünglich jedenfalls erscheinen, wieder zum Vorschein bringen kann.

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660 Pommersche Kunstgeschiclite.

aufzunehmen sehr wohl geeignet sind. Nur wo cliese späteren Werke die
architektonischen Formen gewaltsam beeinträchtigen, wo z. B. bunte Epi-
taphien an den Pfeilern emporgebaut sind und so das Gerüst der Archi-
tektur verdecken, da dürfte es günstig sein7 sie mit Sorgfalt von solcher
Stelle wegzunehmen und in die mehr untergeordneten Räume der Seiten-
schiffe zu versetzen. Hiemit geschieht, wie es mir scheint, diesen Denk-
malen der späteren Zeit auch kein Unrecht; im Gegentheil bleibt ihr Zweck
ungestört derselbe, und nur die Anmaassung, deren sie sich selbst schuldig
gemacht haben, wird wiederum aufgehoben. Anders aber verhält "es sich
mit denjenigen Gegenständen, die nicht den "Werth der Denkmale haben,
sondern die nur, um den Bedürfnissen späterer Bequemlichkeit zu genü-
gen, errichtet worden sind: ich meine besonders, mit jenen Emporen (oder
Chören, wie man sie in Pommern nennt, — Priechen im Sächsischfen), die
mehr oder minder den architektonischen Eindruck gänzlich verderben;
diese würden, soviel es nur irgend möglich ist, ganz zu beseitigen sein;
oder sollten die vorhandenen Bedürfnisse allzu hartnäckig widerstreben, so
müsste man sie jedenfalls soweit hinter die Pfeiler des Hauptschiffes der
Kirchen zurückrücken, dass wenigstens der Eindruck der Hauptformen der
Architektur ungestört bliebe. '

Es liegt jedoch in der Natur der Sache, dass manch ein Stück von
den Bildwerken, welche den alten Schmuck der Kirchen ausmachen, aus
diesen oder jenen Gründen — sei es, dass man sich einmal mit seinem
Style nicht mehr befreunden könne, sei es, dass man seine Darstellung in
andrer Beziehung für unpassend zum Schmucke des Gotteshauses halte, —
aus den Kirchen verschwinden wird; ,es ist auch nicht zu erwarten, dass
statt der bisherigen, häufig genug gegebenen Beweise von Theilnahmlosig-
keit plötzlich eine allumfassende Pietät gegen diese alten Denkmale ein-
trete. Es dürfte somit sehr wünschenswerth sein, für solche Werke ein
gemeinsames Asyl gestiftet zu sehen, wo ihnen ein sicherer Schutz zu
Theil würde, wo sie der Anschauung kommender Geschlechter erhalten
blieben. Nicht minder dürfte es wünschenswerth seiii, manche alterthüm-
liche Kunstwerke hohen Ranges, die sich jetzt an Orten befinden, wo ihr
Werth entschieden verdeckt und unbeachtet bleibt, an Stellen zu ver-
setzen, wo ihnen eine umfassende Würdigung zu Theil werden könnte.
Es käme somit, um solchen Zwecken zu genügen, auf die Gründung eines
vaterländischen Museums, oder vielleicht mehrerer Institute dieser Art, an.
Mir scheint, dass ein solches Museum sich aufs Nächste mit den Samm-
lungen vereinigen liesse, welche von der Gesellschaft für pommersche Ge-
schichte und, Alterthumskunde angelegt sind, und die sich gegenwärtig
durch einen beträchtlichen Reichthum, besonders an Denkmalen heidni-
scher Zeit, bereits auf erfreuliche Weise auszeichnen^ Würde aber bei
solchen Museen entschiedene Rücksicht auf alles dasjenige genommen, was
die gesammte Culturgeschichte des Vaterlandes berührt so liesse sich mit
Zuversicht erwarten, dass auch vieles Einzelne; was hie und da im Pri-
vatbesitz befindlich ist, in dieselben überginge. Und dehnte man ihren
Zweck zugleich auf die Interessen einer allgemeinen Kunstbildung aus,
vereinigte man mit ihnen z. B- Abgüsse der vorzüglichsten Antiken (durch
deren Gegenüberstellung die Eigenthümlichkeit der vaterländischen Werke
sich nur um so klarer herausstellen dürfte), nähme man Rücksicht auf die
Erzeugnisse der Malerei und auf die Wiederholung classischer Werke
durch den Kupferstich, 'öffnete man endlich die Sammlungen zu gewissen

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Einleitung. - 661

Stunden dem Besuclie des Publikums, so dürfte- man sich ohne Zweifel
einer sehr regen Theilnahme versichert halten. Auch lässt sich erwarten, "
dass,,bei einer so ausgedehnten Rücksicht auf die allgemeineren Interessen,
die nöthigen ausgedehnten Räume ohne gar grosse Schwierigkeit zu be-
schaifen sein würden. Von belebender Wechselwirkung dürfte es freilich
sein, wenn diese Räume selbst ein historisches Interesse hätten, und, als
Ueberbleibsel einer älteren Zeit, auch äusserlich mit jenen Denkjnalen der
Vorzeit in Einklang ständen. So wüsste ich z, B. in Stettin keinen Raum
zu nennen, der für solche Zwecke schicklicher wäre, als den grossen
Prachtsaal des Schlosses, der von Herzog Bogislav" X. erbaut ist, der un-
mittelbar die Tage dieses glänzendsten Helden der pommerschen Ge-
schichte vergegenwärtigt, und dessen vortreffliche Erhaltung schon an sich
eine, den grossartigen historischen Erinnerungen entsprechende Bestim-
mung sehr wünschenswerth macht.

Mit der Sorge für die Erhaltung der Monumente hängt endlich ihre sorg-
fältigere Untersuchung in historischem und artistischem. Bezüge nah zusam-
men. Ich darf hoffen , dass die Arbeit,-die ich hier dem Publikum vorlege,
für Untersuchungen dieser Art eine umfassende Grundlage darbieten wird.
Gleichwohl verkenne ich es auf keine Weise, so redlicher Anstrengung ich
mich auch rühmen darf, dass diese Schrift nur erst als eine Vorarbeit
gelten kann. Eine En,tdeckungsreise, — und eine solche, in der ich zu-
gleich, anderweitiger Pflichten halber, auf möglichste Zeitersparniss bedacht
sein musste, in der ich auch nicht eben willkürlich die erforderlichen
Mittel zu bestimmen hatte, — konnte natürlich nicht
zn Resultaten führen,
wie sie da vorliegen, wo mehrfach wiederholte Forschungen auf einen und
denselben Punkt zurückgekehrt sind. Vielleicht giebt aber meine Schrift
Veranlassung zu weiteren Untersuchungen der Art, wobei auch das Un-
scheinbare, das oft zu einem wichtigen Gliede einer grösseren Kette wer-
den kann, nicht zu übersehen sein dürfte; vielleicht finden sich, bei wei-
terer'Forschung in den Archiven, manche Urkunden auf, die da, wo,ich
nur vermuthen konnte, ein bestimmtes und sicheres Licht geben. Sehr
Nichtig aber würde es in diesem Bezüge sein, wenn man eine würdige
Bekanntmachung der vorhandenen Monumente durch Zeichnungen veran-
staltete, indem natürlich nur die Anschauung und unmittelbare Verglei-
chung zu vollkommen befriedigenden Schlüssen führen kann. Grund- und
Aufrisse der Architekturwerke nach sorgfältiger Vermessung, Darstellung
der architektonischen Gliederungen im Profil-Durchschnitt (und zwar in
einer genügenden Grösse), malerische Ansichten, die besonders bei den
reicheren^ Architekturwerken der späteren Zeit, bei denen eben auf einen
malerischen Effekt liingearbeitet ist, wünschenswerth sein dürften, — so-
da:nn Abbildungen der Bildw^erke, in denen Styl und Charakter der Ori-
ginale sich getreu ausspräche, — dies dürften etwa die Hauptbedingungen
sein, nach welchen eine solche Herausgabe einzurichten wäre. Gewiss
hätte dieselbe auch auf eine lebhafte Theilnahme eines grösseren Publi--
kums, nicht blos der Forscher im Gebiete der Geschichte und der Kunst,
zu rechnen; und vielleicht könnte eine solche Theilnahme wesentlich erhpht
werden, wenn man theils malerische Ansichten der historisch wichtigsten Orte
(im Gesammt-Ueberblick), theils Darstellungen andrer Gegenstände von histo-
rischer Bedeutung, namentlich Bildnisse merkwürdiger Personen, beifügte.

Ich schliesse hiemit diese, vielleicht schon zu weit ausgedehnten^ein-
loitendeü Bemerkungen. Ueber die Einrichtung meiner Arbeit habe ich

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662 Pommersche Kunstgeschiclite.

Dur noch das Folgende zu bevorworten. Sie begreift die in Pommern
vorhandenen Monumente nach den heutigen Grenzen des Landes; nur
einige wenige Orte von untergeordneter Bedeutung, zu denen meine Reise
mich nicht geführt, sind unberührt geblieben. Ueber die Grenzen des
Landes, auch nur zur Betrachtung derjenigen Nachbardistrikte, die zu
Zeiten mit Pommern verbunden waren, hinauszugehen, schien mir nicht
zweckmäs^sig, da eben eine bestimmte Grenze gezogen werden musste.
Freilich steht die pommersche Cultur nicht als eine isolirte Erscheinung
da; sie.wird wesentlich durch die Culturverhältnisse des gesammten öst-
lichen Niederdeutschlands bedingt sein. Diesen gegenseitigen Verkehr aber
genügend zu begreifen und darzustellen, dürfte es sehr nöthig sein, auch
die Monumente sämmtlicher Nachbarländer ähnlich umfassend zu unter-
suchen, Bezieht man sich nur auf eine oder die andre vereinzelte Erschei-
nung, so kann man leicht zu einseitigen Schlüssen verleitet werden. So
hielt ich es für das Beste, die etwa vorhanden gewesenen Wechselwirkungen
für jetzt ganz unberücksichtigt zu lassen und, statt zwiefach Unvollständiges
zu liefern, meine ganze Aufmerksamkeit nur dem Inlande zuzuwenden.

Die Abtheilungen, welche ich meiner Arbeit gegeben, sind durch die
Beschaffenheit des vorhandenen Materials bedingt worden. Die Betrach-
tung der Architektur Kess sich um so leichter von der der bildenden
Kunst trennen," als beide Fächer, wie bemerkt, hier mehr als anderswo
unabhängig von einander sich entwickelt haben. In der bildenden Kunst
Hessen sich aber die verschiedenen Gattungen nicht gleich scharf von ein-
ander sondern, da sie in der Regel zu gemeinschaftlichen Zwecken zusam-
menwirken. Hier suchte ich in der Zusammenstellung besondrer Gruppen
dem allgemeinen Gange historischer Entwickelung zu folgen.

Wenn ich in den Zeitbestimmungen, die ich aufgestellt, mancher her-
gebrachten Meinung widersprochen habe, so hoffe ich, dass man darin
nicht ein willkürliches Besserwissen, sondern die Resultate einer kriti-
schen Forschung erkennen wird. Es ist freilich schwer, wenn wir von
dem, was alte Ueberlieferung und oft der poetische Hauch der Sage uns
Werth gemacht, uns lossagen sollen; gerade die dunkeln, unbewussten
Eindrücke, die wir in der Jugendzeit empfangen haben, haften am Feste-
sten in uns, als seien sie mit unserm Dasein verflochten, und oft suchen
wir später allerlei Sophismen hervor, um ihnen eine scheinbare Begründung
zu geben. Aber das Gebiet der Geschichte verlangt Klarheit; hier kommt
es nicht auf unser subjektives Gefühl, sondern auf die unbefangene Dar-
stellung des organischen Elntwickelungsganges, den der menschliche Geist
zurückgelegt, an. Diesen organischen Entwickelungsgang in den Kunstmo-
numenten unseres Vaterlandes nachzuweisen, war das fiauptbestreben, wel-
ches mich bei der historischen Gestaltung meiner Reis^otizen leitete; ich
hoffe, dass mein Bestreben nicht als ein erfolgloses ersjiheinen wird i).

1) Seit Abfassung meiner pommerschen KuDStgeschichie sind manche von
den kirchlichen Gebäuden des Landes einer mehr oder weniger umfassenden
Restauration unterzogen, Hiehei werden mit ihrer baulichen Beschaffenheit und
mit ihrer Ausstattung an bildnerischen Denkmälern vielleicht nicht ganz un-
erhebliche Veränderungen vorgenommen sein. Ich bin indess ausser Stande ge-
wesen, in Bezug auf derartige Vorkommnisse deii Text meiner Schrift zu über-
arbeiten. Nur in einigen Anmerkungen habe ich auf solche Yerändernngen, von
denen mir eine Nachricht zugekommen war, hindeuten können, (1852.)

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ERSTER HAUPTABSCHNITT.

ARCHITEKTUR.
I.

KIRCHLICHE ARCHITEKTUR.

I. Byzantiuischer Styl und Uebergang aus dem byzantinischen in

den gothischen Styl.

Unter den Kirchen von Pommern und Rügen, an denen Reste des by-
zantinischen Baustyls enthalten sind, ist zunächst die Marienkirche zu
Bergen auf Rügen zu bemerken. Ueber die Zeit ihrer Erbauung besitzen
wir eine ziemlich bestimmte Nachricht. In einer Urkunde vom Jahre 1193
erklärt nämlich Jaromar L, Fürst von Rügen, dass er aurihm zugehörigem
Boden eine Kirche von Ziegelsteinen (opere latericio) erbaut und durch
den Bischof Peter (von Roskild) der h. Jungfrau habe weihen lassen; dass
er, damit in seiner neuerbaüten Kirche die Verehrung der Mutter Gottes
gebührend abgewartet werde, beschlossen habe, an ihr Nonnen von der
Marienkirche zu Roskild aufzunehmen, dass er die nöthigen Einrichtungen
zum Unterhalt und zur Verpflegung der letzteren getroffen habe, u. s. w.
Längere Zeit vor Ausstellung dieser Urkunde kann die Kirche nicht füglich
erbaut sein, 'indem mit dem Jahre 1193 eben nur erst ein Viertel Jahrhun-
dert seit der gewaltsamen Bekehrung der Rügianer zum Christenthum ver-
flossen war-, im Gegentheil scheint aus der Fassung der Urkunde hervor-
zugehen, dass der Fürst den Bau gleich in der Absicht, klösterliche Ein-
richtungen mit demselben zu verbinden, unternommen habe, dass somit seine
Vollendung und Einweihung erst kürzlich vor sich gegangen war. Späterer
Zeit aber können die alten Bautheile der Kirche auch nicht angehören, da
sie eben das Gepräge jener Zeit tragen, und da das ausldrücklich genannte,
feste Material des Ziegelsteines (im Gegensatz gegen den Holzbau) den Ge-
danken ausschliesst, dass schon in den nächsten Jahren ein Neubau dürfte
nöthig geworden sein. •

Die ursprüngliche Anlage der Kirche entspricht vollständig den ander-
weitig bekannten Gebäuden eines entwickelt byzantinischen Styles: ein
hohes Langschilf mit zwei niedrigen Seitenschifl'en, auf der Westseite be-
grenzt durch eine eigerithümlich gebildete Halle, auf der Ostseite durch ein
Querschiff (Kreuzschiff) von der Höhe des Laugschiffes; dann weiter östlich

der Chor, als Fortsetzung des Langschiffes, der durclx eine, im Halbkreis

*

Grümbke: Gesammelte Nachrichten zur Geschichte des ehemaligen Oister-
zienser Nonnenklosters St. Maria in Bergen auf der Insel Rügen. S. 191.

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680 Pommersche Kunstgeschiclite.

geführte Altarnisclie• beschlossen wird; endlich an den östlichen Wauden
des Querschiffes (zu den Seiten des Chores) zwei Ideine Altarnischen von
ähnlicher Form. Hiervon sind aber nur einzelne Theile erhalten, nämlich
die Wände des Qnerschiffes und des Chores mit ihren Fenster- und Thür-
Oeffnungen; der halbrunde Unterbau der grossen Altarnische, bis zu einer
Höhe von etwa zwölf Fuss über dem gegenwärtigen Boden des Chores,
während der obere Theil dieser Altarnische gothisch, in dreiseitiger Form,
gebildet ist; die (vermauerten) Einfassungen der kleinen Altarnischen an
den östlichen Wänden des Querschifles, während diese Nischen selbst ab-
gerissen sind; die vier grossen, im Halbkreis geführten Schwibbogen, welche
in der üurchschneidung von Querschilf und Langschiff den Zusammenhalt
des Gebäudes bilden, während alle Gewölbe in Chor und Querschiff spitz-
bogig, in späterer gothischer Form erscheinen; der niedrige Zugang aus dem
Querschiff in das nördliche Seitenschiff und der Untertheil des ersten Schiff-
pfeilers an der Nordseite, während der ganze Bau des Langschiffes und
der Seitenschiffe — welche letzteren mit jenem gegenwärtig gleich hoch
sind — ebenfalls in spätgothischer Form ausgeführt ist. (Das Langschift"
wird von den Seitenschiffen durch zwei Reihen von je 4 achteckigen frei
stehenden Pfeilern getrennt.) Endlich gehört zu den alten Bautheilen noch
der Unterbau der Halle auf der Westseite der Kirche, wo gegenwärtig sich
der Thurm erhebt, das Portal der Westseite und die südliche Giebelwand
jener Halle. Aeltere und spätere Bautheile erscheinen also an dieser Kirche
gemischt; auch an denjenigen Stellen, wo die älteren Theile vorherrschen,
drängen sich die spätem gewaltsam ein. Eine durchgreifende Beschädigung
des alten Baues muss hiezu die Veranlassung gegeben haben. In der That
finden wir eine solche in den Berichten der Chroniken angeführt, indem
bemerkt wird, dass im Kloster zu Bergen im Jahre 1445 ein grosser Brand
stattgefunden habe, durch den die Klostergebäude, die Kirche, das Städt-
chen selbst grossen Schaden erlitten hätten Wir dürfen nicht zweifeln,
dass die gothischen Theile der Kirche von Bergen dem nach diesem Brande
erfolgten Neubau angehören, indem ihre rohe Form mit andern, dieser spä-
ten Zeit angehörigen Gebäuden übereinstimmt.

Was das Detail der byzantinischen Bau-
theile anbetrifft, so ist dasselbe in ziemlich
einfachen Formen gebildet, doch so, dass man
an den verschiedenen charakteristischen Stel-
len, der Gründungszeit der Kirche gemäss, die
Motive spät-byzantinischer Architektur er-
kennt. Die grossen SchwibbÖgen in der Durch-
schneidung von Quer- und Langsqhilf be-
stehen aus einem breiten,'^ptarken Bande; sie
werden von flach vorspringenden Wandpfei-
lern und Halbsäulen getragen. Die Kapitale
der letztern (L) haben eine gewisse kelchar-
tige Form, indem der Uebergang aus der halb-
runden Säule zu der viereckigen Deckplatte
einfach durch einen schrägen Abschnitt der
Ecken hervorgebracht wird. Die Deckplatten

') Ürüuibke, a.ja. 0., S. 37. —. Vgl. Berckmanns Stralsundische Chronik,
herausgeg. von Mohnike uj Zober, S. 185..

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665

Kirchliche Architektur. 1. Byzantinischer Styl etc.

sind schmal und ohne weitere Gliederung; die Scheidung des
Kapitals vom Säulenschaft bildet ein Rundstab. Etwa in halber
Höhe werden die in Rede stehenden Wandpfeiler sammt den
HaJbsäulen durch ein wohlgegliedertes Band (2.) umgeben. In
den Formen eben dieses Bandes sind die Kämpfer gebildet, welche
den halbrunden Bogen der (vermauerten) Altarnischen im Quer-
schifF tragen. Die kleinen Fenster und das Portal an der Süd-
wand des QuerschifFes sind von einfacher Form und wiederum
im Halbkreis überwölbt. — Das Portal der "Westseite hat dieselbe
Form; nur ist es, mehrfach wechselnd, aus Pfeilerecken und Halb-
säulen zusammengesetzt. Die Halle im westlichen Theil der Kirche
wird von dem übrigen Raum ,durch zwei starke Pfeiler gesondert, deren
Gliederung im Einzelnen den erwähnten Eckpfeilern in der Durchschnei-
dung von Quer- und LangschiflP vollständig entspricht; aber die, offenbar
alten, Bögen, welche hier von den Halbsäulen getragen werden, haben
nicht mehr die Form des Halbkreises, sondern — den Beginn des Ueber-
ganges aus dem byzantinischen Baustyl in den gothischen vordeutend —
bereits die eines gedrückten Spitzbogens. (Die zwischen diese Bögen ein-
gesetzten Gewölbe gehören dem späteren Umbau der Kirche an.) Die Halle
hat übrigens keine bedeutende Höhe. Ohne Zweifel war über ihr eine
zweite Halle, eine Loge oder Empore, die sich nach dem innern
Räume der
Kirche durch eine Pfeiler- oder Säulenstellung öffnete, befindlich, wie wir
solche Einrichtung nicht selten an andern Kirchen älterer Zeit wahrneh-
men '). Denn die Seitenwände dieser Halle erheben sich, einer solchen
Einrichtung gemäss, in der Art, dass sie bei der äussern Ansicht der Kirche
den Eindruck eines zweiten Querschiffes gewähren. Und dass wenigstens
die hohe südliche Giebelwand der Halle der ursprünglichen Anlage ange-
höre, bezeugt der aus> kleinen, sich durchkreuzenden Halbkreisbögen ge-
bildete Fries, welcher imAeussern das Giebeldreieck von der darunter be-
findlichen Wandfläche sondert — Die Aussenwände des wirklichen Quer-
schifFes sind oberwärts durch einen, aus einfachen Halbkreisbögen zusam-
mengesetzten Fries, der von.senkrecht laufenden Wandstreifen (Lissenen)
ausgeht, begränzt. Merkwürdig ist die Anordnung des südlichen, wie auch
des nördlichen Giebeldreieckes am Bau des QuerschifFes. Hier liegen näm-
lich, an der untern Hälfte, die Steine nicht
horizontal, sondern schräg, aber schichten-
weise wechselnd, so dass dadurch eigenthüm-
■ liehe., Zickzacklinien entstehen (3.); an der
obern Hälfte dagegen sieht man horizontale
Lagen, doch so ,angeordnet, dass Reihen
übereck gesetzter Steine mit glatten Stein-
n^ lagen wechseln. Diese Giebel scheinen spä-
ter zu sein, als der ursprüngliche Bau, doch
dürften sie nicht in eine bedeutend ferne
Zeit fallen, da ähnliche Zickzacklagen der Steine sich an den ältern Thei-
len des Domes von Cammin finden. (Vergl. unten.) — Endlich ist noch zu
bemerken, dass im_ Aeusseren an dem alten Theil der grossen Altarnische

*) Beispiele der Art s.- in der von F. Ranke und mir virfassten Beschrei-
bung u. Geschichte der Schlösskirche zu Quedlinburg etc.

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666 Pommersche Kunstgäschiehte.

p" uu IL V11 iiiim«

zierlich gebildete Halbsäulchen in gewissen Entfernungen voneinander (ur-
sprünglich die Räume der höher gelegenen Fenster von einander sondernd)
niederlaufen.

An den spätgothischen Theilen der Kirche ist, wie bereits angedeutet,
nichts Bemerkenswerthes vorhanden; auch nicht an dem Thurme, der sich
in einfach viereckiger Masse über der Mitte der Westseite erhebt. Die
älteren Theile dagegen sind sehr interessant, indem sie,
wie gesagt, die,
Elemente des byzantinischen Baustyles in dem letzten Stadium seiner Ent-
wickelung, und nur erst ganz im vereinzelten Maasse (rücksichtlich der
gedrückten Spitzbögen der westlichen Halle) das Eintreten neuer architek-
tonischer Motive erkennen lassen Sie sind, da ihre Bauzeit feststeht,
als ein willkommener Anknüpfungspunkt für weitere Forschungen zu be-
trachten. — ,

"War an der Kirche von Bergen einer der wichtigsten Bautheile der
ursprünglichen Anlage, die grosse Altarnische, grösstentheils zerstört, so
finden wir eine solche, derselben Bauperiode angehörig, an der Kirche von
Altenkirchen, auf der rügischen Halbinsel Wittow, erhalten. Ueber die
Erbauung dieser Kirche ist keine Nachricht vorhanden; man meint, dass
das erste christliche Gotteshaus, welches nach dem Bericht des Saxo Gram-
raaticus von dem Holzwerk des Arkonischen Swantevit-Walles aufgeführt
wurde, zu Altenkirchen gestanden habe Wäre diese Meinung, die
übrigens nichts Unwahrscheinliches hat, historisch gesichert, so würde schon
sie genügen, um in den ältesten Theilen der gegenwärtigen Kirche yon Al-
tenkirchen Reste eines Baues vom Ende des zwölften Jahrhunderts zu er-
kennen, da der Holzbau doch ohne Zweifel wenigstens für die Dauer von
ein Paar Jahrzehnten zureichen musste. Der architektonische Styl dieser
ältesten Theile entspricht der eben angedeuteten Zeit; erheblich jünger
können dieselben auch nicht füglich sein, da das byzantinische Element an
ihnen völlig rein und unvermischt erscheint.

Die Kirche ist von einfacher Anlage: ein
Langschiff mit niedrigen Seitenschifl'en, ohne
QuerschifF, der quadrate Altarraum (Chor) in
\ der Breite des Langschiffes, und an diesen die
j \ grosse, im Halbkreis gebildete Nische sich

' 1 anschliessend. Nur der Altarraum, mit den

» ihm unmittelbar verbundenen Bautheilen, ist
es, was der ursprünglichen Anlage des Gebäu-
des angehört. Vom Schiff wird derselbe durch
einen, aus mehreren breiten Bändern beste-
henden, im Halbkreisbogen geführten und von
Wandpfeilern getragenen i Schwibbogen ge-
trennt; ähnlich ist die Einfassung der Altar-
nische gebildet. An beiden Stellen ist das
Kämpfergesims der Wandpfeiler wohlgeglie-
dert (und entspricht dem Gesims an der Ein-
fassung der kleinen Nischen in der Kirche

Die westliche Halle -wird, wie dieser Fall sich so häufig findet, als ein
der ursprünglichen Anlage nicht ganz gleichzeitiger, -vielmehr etwas später ausge-
iührter Bautheil zu betrachten sein.

Grümbke; Darstelltingen von der Insel und dem Fürstenth. Rügen II. S. 6,

t

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Kirchliche Architektur. 1, Byzantinischer Styl etc.

667

von Bergen). Die Nische (4.) ist mit einer Halbknppel tiberwölbt. In ihrer
halbcylinderförinigen Wand befinden sich drei im Halbkreis überwölbte
Fenster, die im Innern eine einfache, aber geschmackvolle Gesammt-Um-

fassung haben, während im Aeussern jedes Fenster
auf eine gesonderte Weise von Säulchen und Bogen
umfasst -wird. — Der eine Wandpfeiler zur Seite des
Altarraumes, welcher mit der südlichen Pfeilerstel-
lung des Schiffes correspondirt, gehört ebenfalls noch
dem byzantinischen Bau an (5 u. 6.); aus ihm treten
drei Halbsäulen hervor, 'von denen die mittlere stark
und schwer gebildet ist, in ihrem Kapital Aehnlich-
keit mit den byzantinischen Halbsäulen zu Bergen
hat, auch — trotz ihres kurzen Verhältnisses — in
der Mitte durch ein Band umgürtet
ist, welches an- solcher Stelle den
Werken des spätbyzantinischen Bau-
styles eigen ^u sein pflegt. — Im
Aeussern läuft an den Wänden des
Altarraumes, unter dem Dache, ein
aus kleinen, sich durchkreuzenden
Halbkreisbögen gebildeter Fries hin;
am Aeusseren der Altarnische aber
sieht man statt dessen geradlinige,
sich kreuzförmig durchschneidende
Streifen, deren Spitzen von kleinen
Köpfchen getragen werden (7.).

X

N

Das Schiff wird von den Seiten-
schiffen durch zwei Reihen von je 5
einfachen kurzen Pfeilern getrennt,
auf denen schwere massige Spitzbö-
gen ruhen. Diese Anlage gehört ohne
Zweifel dem dreizehnten Jahrhun-
dert (und zwar dessen früherer Zeit),
der Periode des Ueberganges aus
dem byzantinischen in den gathl-
schen ßaustyl, an. Ob dieselbe als
ein Umbau der Kirche, oder ob sie
als unmittelbare Fortsetzung des by-
zantinischen Baues bezeichnet wer-
den muss, möge unentschieden blei-
ben. "Vermuthlich aber hatte-<iie

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684 Pommersche Kunstgeschiclite.

668

Kirche bis dahin, mit Ausnahme der Altarnische, kein Gewölbe; durch,
gegenwärtig vermauerte, Fenster über jener Pfeiler- und Bogenstellung fiel
grösseres Licht in das MittelschifF. Das Gewölbe, welches gegenwärtig über
dieser Bogenstellung aufsetzt, ist, wie Styl und Anordnung desselben er-
kennen lassen, erst in späterer gothischer Zeit ausgeführt.

Sonst ist an der Architektur der Kirche nicht eben Beraerkenswerthes
hervorzuheben; die "Westseite hat nichts Eigenthümliches; ein Thurmbau
fehlt ganz, ein hölzerner, isolirt stehender Thurm ersetzt denselben. Viel-
faches Interesse aber hat bereits das an der Kirche eingemauerte Swante-
vitsbild (8.) erregt. Dasselbe besteht bekanntlich aus einer Steinplatte, auf

H

u

der mau in schwachem Relief und in beträchtlich roher Arbeit die Figur
eines Mannes ausgemeisselt sieht, der vor der Brust ein grosses Trinkhorn
hält, das Gesicht mit einem grossen Schnurrbarte geschmückt, das Haupt
mit einer spitzen Mütze bedeckt, bekleidet mit einem weiten Rocke, unter
dem unförmlich kleine Füsse sichtbar werden Der Styl dieser Arbeit
liat so wenig Charakteristisches, dass er, bei ihrer rohen I3ehaiid]ung, für
jede beliebige Zeit passend sein könnte. Der Stein ist so eingemauert,
dass die Figur liegend erscheint; er befindet sich unterwärts an der Aus-
senseite derjenigen "Wand, die den östlichen Abschluss des südlichen Sei-
tenschiffes bildet, innerhalb eines kleinen Vorbaues, der hier in später-
gothischer Zeit errichtet ist. Dass dieser Stein jedoch nicht zur Zeit der
ursprünglichen Anlage der Kirche hierhergesetzt ist, geht daraus hervor,
dass die Fussgesimse des Altarraumes, die sich an der in Rede stehenden
Wand fortsetzen, in seiner Nähe plötzlich und unharmonisch abgebrochen
sind. Es ist somit keine äussere Wahrscheinlichkeit vorhanden, dass das
Bild aus jener frühen Zeit herrühre. Dagegen ist es älter, als der an die-
ser Stelle aufgeführte Vorbau, indem durch letzteren ein Theil des Steines
verdeckt wird. Er dürfte somit gleichwohl in einer nicht gar späten Zeit
unseres christlichen Mittelalters an seine Stelle gesetzt und in der That
nicht ganz bedeutungslos sein. Ich erkläre es mir so, das's man auf ihm
wirklich habe das berühmte Götzenbild von Arkona darstellen wollen (frei-
lieh nur nach der Tradition, so wie diese sich ein- bis zweihundert Jahre

If;

Pfi

Vgl. Grümbke, a. av 0„ II. S. 219.

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Kirchlicbe Architektur. -1. Byzantinischer Styl etc. 669

nach Zerstörung des wirklichen Swantevit erhalten haben mochte), und
dass man das Steinbild liegend in das Fundainent der Kirche von Alten-
kirchen eingemauert habe, um dadurch anzudeuten, dass gerade diese Kirche,
als eine siegende, an die Stelle des Götzentempels getreten sei. Hiedurch
könnte denn auch die oben besprochene Meinung, dass an diesem Orte das
erste christliche Gotteshaus errichtet worden sei, einiges Gewicht mehr
erhalten.

■ \

Verwandte Motive mit den byzantinischen Bautheilen der beiden ge-
nannten Kirchen, namentlich der Kirche von Bergen, zugleich aber einen
Schritt zu weiterer Entwickelung, finden wir in den älteren-Theilen der
Kirche des ehemaligen Klosters Colbatz in Hinterpommern. TJeber die
Gründungszeit dieses Klosters schwanken die Angaben zwischen den Jah-
ren 1159, 1163 und 1173 Des Kirchenbaues geschieht, so viel ich weiss,
keine Erwähnung; nur die Bemerkung, dass die Kirche bereits dem Stifter
des Klosters, "Wartislav II. (gest. 1186 oder U88) zur Ruhestätte gedient
habe dürfte darauf schliessen lassen, dass dieselbe in den zuletzt ger
nannten Jahren auf eine würdige "Weise ausgebaut gewesen sei und dass
die vorhandenen ältesten Theile die Reste dieser ersten Anlage seien.

Der Baustyl dieser ältesten Theile der Kirche von Colbatz scheint in-
dess, so viel ich zu urtheilen im Stande bin, ein um einige Jahrzehnte
jüngeres Alter zu bezeichnen. Entwickelt sich nämlich an ihnen das by-
zantinische System zum Theil zwar in reiner Ausbildung, so treten doch
zugleich, und zwar auf consequente Weise durchgeführt, die Motive des-
jenigen spitzbogigen Systems hinzu, welches man als den Uebergang von
der byzantinischen zur eigentlich gothischen Bauweise bezeichnen muss.
Mir ist aber kein sicheres Beispiel bekannt, dass, wenigstens in der deut-
schen Baukunst (in der französischen dürfte es schon anders sein), dieser
Uebergangsstyl vor dem Beginn des dreizehnten Jahrhunderts anders als in
zufälligen Einzelheiten erschienen sei % während im Gegentheil mehrfache
Beispiele vorhanden sind, aus denen es hervorgeht, dass der wirkliche
byzantinische Baustyl bis in das dreizehnte Jahrhundert hinein zur Anwen-
dung gekommen ist. Und um so mehr bin ich geneigt, die^ältesten Theile
der Colbatzer Kirche für etwas jünger zu halten, als die von Bergen, als
sie eben in den wirklich byzantinischen Elementen mehrfache Aehnlichkeit
mit dieser hat. Gegen die Anwendung dieses Vergleiches und die daraus
zu ziehenden Schlussfolgerungen dürfte sich zwar bemerken lassen, dass
es sich hier um den Formensinn verschiedener Nationen (somit um eine
historisch verschiedenartige Entwickelung der Baustyle) zu handeln scheine,
indem die Baumeister der Kirche von Bergen, bei dem dort ausgesproche-
nen Verhältnisse zu Dänemark, vermuthlich aus dänischer Schule her-
stammten. Hierauf mag aber die Erwiderung erlaubt sein, dass Pommern
überhaupt um den Beginn des dreizehnten Jahrhunderts in einem abhän-

1) Vgl. J. J Steinbrück: Geschichte der Klöster in Popimeru etc. S. 40.

2) Ebend. S. 57.

•■') Wo solche Ansiebten bis jetzt aulgestellt sind, ermangeln sie durchweg
noch einer bestimmten und zureichenden historischen Begründung.

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Pommersche Kunstgeschichte.

gigeii Verhältnisse zu Dänemark stand, dass hiedurch auch leicht weiteie
Culturverbindungen hergestellt sein können, und dass es selbst nicht ausser
dem Bereiche der Möglichkeit liegt, dass dieselben Arbeiter, die zu Bergen
gebaut, auch in Colbatz thätig gewesen sein dürften. Wie sich indess dies
verhalten möge, so scheint es jedenfalls sicherer, den Beginn des Baues
der gegenwärtigen Kirche von Colbatz in die Zeit um den Anfang des drei-
zehnten Jahrhunderts zu setzen, als sie für gleich alt mit der Stiftung des
Klosters zu halten. Dass dieser Neubau (denn als einen solchen hat man
ihn zu fassen) statt fand, wenn auch die frühere — vielleicht unansehnliche
— Kirche eine fürstliche Grabstätte enthielt, darf nicht befremden, indem
ähnliche Beispiele auch an andern Orten vorkommen '), und um so weni-
ger, als Colbatz schnell an Einkünften zunahm.

Die Kirche ist wiederum als eine Kreuzkirche angelegt, d. h. sie be-
stand ursprünglich aus einem hohen Langschilf mit niedrigen Seitenschiffen,
einem Querschiff in der Höhe des Langschiffes, und aus einem Chorbau als
Fortsetzung des letzteren. Die Seitenschiffe sind gegenwärtig abgerissen
und die Pfeilerstellungen des Schiffes vermauert (doch so, dass ihre archi-
tektonische Gliederung ausserhalb deutlich vortritt); der innere Raum des
Langschiffes, das schon in späterer mittelalterlicher Zeit von den übrigen
Theilen der Kirche durch eine Quermauer getrennt wurde, ist zu ökonomi-
schen Zwecken verbaut. Die ältesten Bautheile bestehen aus dem Quer-
schiffe und den an dasselbe zunächst anstossenden Theilen des Chores und

des Langschiffes. Der übrige Theil des letzteren
gehört dem ersten Entwickelungsstadium des go-
thischen Styles, im weitern Verlauf des dreizehn-
ten Jahrhunderts, der Haupttheil des Chores dem
vierzehnten Jahrhundert an.

Die Eckpfeiler in der Durchschneidung des
- Quer- und Langschiffes (9.) sind denen in der
Kirche von Bergen ziemlich ähnlich gebildet; als
Hauptunterschied (schon an sich eine feinere Aus-
bildung bekundend) dürfte hervorzuheben sein,
dass das'Deckgesims über den Kapitalen der Halb-
säulen, welches zugleich über die Pfeilerecken sich
herumzieht, in einer reicheren tind geschmackvollen
Form gebildet ist (10.), Die vier grossen Schwibbogen,
welche von diesen' Pfeilern ausgehen und im Halb-
kreise geführt sind, bestehen aus mehreren starken
Bändern. An den Seitenflügeln des Querschiffes treten
aber nicht, wie es iu Bergen der Fall war, kleinere
Altarüischen hervor. Vielmehr sipd in der Mitte ihrer
Seitenmauern Wandpfeiler (ähnlich gebildet, wie jene
Eckpfeiler) angeordnet, von deneti die einander-gegen-
überstehenden wiederum durch halbrunde Schwibbo-
gen verbunden werden. Zwischen diesen Schwibbogen
ist in den Seitenflügeln des Querschiffes das ursprüng-
liche Kreuzgewölbe erhalten, dessen Gurte von.eigen-

') So wurde z. B. die Schlo.sskirche von Quedlinburg, welche den Gebeinen
König Heliiiichs 1. znr Iluhestätte dient, 60 Jahre nach ihrer Erbauung und
nach dem Tode dos Königes, gänzlich neugebant.

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Kirchlicbe Architektur. -1. Byzantinischer Styl etc. 671

^thümliclier Bildung sind (11.)» wie solche wohl nur in der
Periode des Ueberganges aus der byzantinischen in die
gothische Bauweise vorkommt. Das Gewölbe in der Mitte
des» Querschiffes gehört dagegen der spätesten Zeit des
Mittelalters an; es hat eine sehr nüchtern gebildete Sternform. Im eigent-
lichen Chor fehlt das Gewölbe. — An die östlichen Wände der Seiten-
flügel, des Querschiffs waren, statt jener Altarnischen, verhältnissmässig
niedrige Kapellen angelehnt und durch ofifene Zugänge mit dem Querschiff
verbunden. Von diesen Kapellen ist die auf der Südseite belegene abge-
rissen. Die Zugänge — auf jeder Seite zwei und durch jene Wandpfeiler
in der Mitte der Mauern gesondert — sind'in dem schweren/ den Ueber-
gangsstyl bezeichnenden Spitzbogen überwölbt. Pfeiler und Halbsäulen,*
die den Spitzbogen tragen, - entsprechen jedoch in ihrer
Ausbildung den übrigen Formen des Querschiflfes, wenn
auch in Deck- und Fussgesimsen (12 u. 13.) manche kleine

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Eigenthümlichkeiten sichtbar werden. Auf dieselbe Weise
^ sind die Zugänge aus dem Querschiff zu den Seitenschiffen
gebildet, auf dieselbe Weise auch die ersten beiden Bogenstellun-
gen, welche, auf jeder SeitS der Kirche, das Langschiff von den

Seitenschiffen sonder-
ten (d. h. die Bogen-
stellungen, welche dem
alten Theil des Langschiffes an-
gehören). In all diesen klei-
neren Bogenstellungen sehen
wir demnach, wie bemerkt, das
Element des Uebergangsstyles
bi^stimmt und consequent durch-
geführt. — Die Fenster in der
Höhe des Querschiifes, sowie die in der Höhe
der alten Theile des Chores und des Lang-
schiffes, haben dagegen die reine byzantinische
Form; ebenso die Portale an den Giebelwänden
des Querschiifes. Von den letzteren hat das
Portal auf der Südseite eine einfachere, das auf
der Nordseite eine etwas reicher gebildete Form.

Dies (14.) ist aus Pfeilerecken und
Hälbsäulchen zusammengesetzt und
ausserhalb durch einen breiten Vor-
sprung der Mauer umgeben; reiche-
res Ornament im Style der byzanti-
nischen Kunst (wie solches an dem
-Hauptportale des Domes von Cam-
min sichtbar wird) fehlt der Thür
zwar, doch ist sie durch eigenthüm-
lich feine Verzierung auf der Fläche
der Ziegelsteine merkwürdig (15.),
Um die Keilsteine nämlich, welche
die äussere Einwölbting des Portals
bilden, legen sich zunächst gebogene
Steine umher,,auf denen man flache

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Pommersche Kunstgeschichtö.

Reifen eingedrückt sieht; die nächste horizontal laufende Steiulage über
dieser Wölbung ist glatt; darin folgen aber, nah unter der Bedachung und
gewissermassen die Bekrönung bildend, zwei Lagen von Steinen, von denen
die unteren mit leis erhabenen kleinen Halbkreisbögen (je drei auf einem
Steine nebeneinander stehend), die oberen mit einem ähnlich gebildeten
Zikzak-Ornament versehen sind. Die ganze, so bescheiden gejialtene Ver-
zierung giebt hier der strengen technischen Construction das Gepräge eines
heiteren Spieles. — Ueber dieser nördlichen Thür ist in später mittelal-
terlicher Zeit ein hohes und breites spitzbogiges Fenster eingebrochen;
doch sieht man auch hier noch die Reste vermauerter byzantinischer Fen-
ster. Beide Giebel des Querschilfes hatten ursprünglich die dem byzanti-
nischen Baustyl angemessene Höhe, den Seiten eines gleichschenkligen
Dreiecks ungefähr entsprechend; später sind sie erhöht, doch kann man
die ursprünglichen Linien noch deutlich verfolgen. — Endlich ist zu be-
merken, dass unter den Dächern der alten Bautheile, als obere Bekrönung
der Mauern, der aus kleinen Halbkreisbögen zusammengesetzte Fries hinläuft.

Der gesammte Chor war ursprünglich ohne Zweifel in demselben Style,
wie jene alten Bautheile und gleichzeitig mit diesen gebaut; die später
gothischen Formen desselben sind unbedenklich einer Erneuung des Baues
zuzuschreiben. Die späteren, beträchtlich ausgedehnten Theile des Schiffes,
halte ich dagegen nicht für eine Erneuung, sondern für eine Fortsetzung
des Baues, die nach der Pause von einigen Jahrzehnten erfolgt sein mag.
Im Allgemeinen ist ein solcher Fall nicht selten, und namentlich bei Kir-
chen, bei denen der Gottesdienst der Geistlichen oder Mönche, nicht der
der Laien, die Hauptsache war, findet man es häufig genug, dass die zum
Chor gehörigen Räume vorläufig gesondert aufgeführt wurden, indem man
das "Weitere, die Erwerbung neuer Mittel oder sonstige günstige Yerhält-
nisse von der Zukunft erwartend, dahingestellt sein Hess. Im gegenwär-
tigen Falle tritt aber zugleich der Umstand als ziemlich entscheidend hinzu,
dass, wenn auch in den neuen Theilen des Schifl'es ein neues Princip der
Architektur vorherrscht, doch in einzelnen Motiven ein so nahes Anschlies-
sen an die Form jener alten Bautheile gefunden wird, dass eben kein sehr
bedetender Zeuitabstand zwischen beiden angenommen werden kann. Wäre
aber das ganze Belnif ursprünglich in der Weise der alten Bautheile (so-
mit auch in deren solider Technik) ausgeführt gewesen, und wäre schon
nach einigen Jahrzehnten eine Erneuung nötjiig geworden, so hätten sich,
wie es scheint, gewiss mehrfache Reste der älteren Anlage erhalten müssen.

Charakteristisch für die Anlage der späteren Theile des Schiffes sind
die Bogenstellungen, welche hier die Trennung des Mittelschiffes von den
Seitenschiffen ausmachten. Jm Allgemeinen, in der Anordnung und Be-
handlung der Hauptformen, sind sie den entsprechenden Bogenstellungen
der älteren Theile ähnlich, tragen auch sie noch das Gepräge des Üeber-
gangsstyles; doch hat der Spitzbogen an ihnen ein höheres Verhältniss und
ist, sowie auch die Pfeiler, die ihn tragen, etwas feinter gegliedert (16.). An
die Stelle der starken Halbsäule tritt hier ein halber achteckiger Pfeiler,
dessen Kapitäl indess dem der Halbsäulen in den älteren Theilen ent-
sprechend bleibt. (Der spätere Theil des Schiffes hat auf jeder Seite 6 sol-
cher Bogenstellungen, so dass die Gesammt-Ausdehnung des Schiffes, mit
Einschluss jener älteren Bogenstellungen, die bedeutende Anzahl von 8
Bogenstellungen auf jeder Seite umfasst). — Wesentlich verschieden aber von
der Einrichtung der älteren Bautheile ist die Beschaffenheit der Fenster über

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Kirchliche Architektur. 1. Byzantinischer Styl etc.

673

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den genannten Bogenstellungen, welche dazu bestimmt
waren, Licht in das Mittelschiff fallen zu lassen.
Byzantinisches Element wird an ihnen nicht weiter
sichtbar. Auch sie sind in spitzbogiger Form gebil-
det. Doch unterscheiden sich die Fenster der Nord-
wand auffällig von denen der Südwand, indem jene
wiederum noch an die Motive des Uebergangsstyles
erinnern, diese hingegen bereits in rein gothischer
Formation erscheinen, so dass man nicht >vohl umhin
liann, auch bei Erbauung dieser oberen "Wände eine
einfache (wenn auch nicht sonderlich bedeutende)
Zeitverschiedenheit bei dem Bau der oberen Süd-
wand vielleicht den Eintritt eines neuen Meisters —
anzunehmen. Die Fenster der Nordwand (17.) sind
einfach, schmal und hoch, ausserhalb von einem
feinen Säulchen umgeben (18.), und zu den Seiten eines
jeden zwei noch schmalere Fensterblenden. Die

Fenster der Südwand (19.)

dagegen sind breiter, ihre
Umfassungen von meh-
reren Säulchen und Ecken
gebildet (20.); in der Mitte
jeden Fensters ist ein
Stab (21.) angebracht, der seine gesonderten kleinen Spitzbogen trägt,

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zwischen denen und dem grösseren Spitzbogen eine kleine Rundöffnung ein-
geschlossen wird. — Nicht minder interessante Eigenthümlichkeiten bietet
die westliche Fagade der Kirche dar. Die Anordnung derselben ist unregel-
mässig, was indess insofern minder auffallen dürfte, als sie hier — der
gewöhnlichen Einrichtung der Klosterkirchen gemäss — keinen Hauptein-
gang, ursprünglich vielleicht gar keinen Eingang, hatte. Möglich auch, dass
diese Unregelmässigkeit durch besondre Einrichtungen im Inneren der Kirche
an dieser Stelle Bedingt war. Zu beiden Seiten der Fagiade springen Strebe-
pfeiler hervor, von'denen der zur Linken breiter ist, als der zur Rechten.
In der Mitte, doch mehr nach der linken Seite zu, ist ein hohes spitzbogiges,
in neuerer Zeit vermauertes Fenster. Zu den beiden Seiten desselben sind
gleich hohe Fensterblenden, eine schmale zur Linken, eine breitere zur
Rechten. Das Fenster und die beiden Blenden werden in ihren Ecken
durch ein zierlich gebildetes Säulchen umfasst. Die Blende zur Rechten
aber hat ein vollständiges feines Fensterstabwerk, indem an ihr, in der
Mitte, noch zwei ähnliche Säulchen emporlaufen,^ über denen kleine Spitz-
bögen ruhen; zwischen den letzteren und dem grossen Spitzbogen, der die

Kugler, Kleine Schriflcn. I. 43

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674 Pommersche Kunstgeschiclite.

Blende abschliesst, ist eine dreiblättrige Rose angebracht. Unter diesen
Fenstern und Blenden läuft sodann ein aus Halbkreisbögen zusammenge-
setzter Fries (22.) hin, der
auch an den Strebepfeilern
sichtbar wird; erinnert dieser
wiederum an die byzanti-
nischen Formen (und giebt
er somit das, wenigstens nicht
ferne Verhältniss der in Rede
stehenden Bautheile zu jenen
älteren aufs Neue zu erken-
nen), so ist er doch so eigen-
thümlich reich und zierlich
ausgebildet, dass man in ihm jedenfalls eine ganz neue Behandlungsweise
alter Formen ausgesprochen sieht. Endlich hat auch der Giebel dieser
Weslfa^ade eine sehr eigenthümliche Decoration. Dieselbe besteht aus
einer grossen, im Relief gebildeten Fenster-Rose, wie solche an den gothischen
Kirchen westlicher Länder, doch auch schon an spätbyzantinischen Gebäu-
den, vorkommen (23.). Sechzehn Säulchen, je 2 übereinander, durch ge-

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brochene Bögen und Giebelchen verbunden, gehen von dem Mittelpunkt
der Rose aus und begegnen einem Kreise von sechszehn sechsblättrigen
Rosetten, welche an der Umfassung des Ganzen hinlaufen. So reich diese
Decoration erscheint, so ist ihr Detail doch noch ziemlich einfach gehalten
und unterscheidet sich in mehrfacher Beziehung von jenen bunten Rosetten-

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Kirchlicbe Architektur. -1. Byzantinischer Styl etc. 675

Verzierungen, die im Verlauf'des vierzehnten und im fünfzehnten Jahr-
hundert an unsern Backsteinkirchen vorkommen (vergl. unten): Ich nehme
somit keinen Anstand, sie mit den spätesten Theilen des Kirchenschiffes
(namentlich den Fenstern der Südwand) für gleichzeitig zu halten.

Die späteren Theile des Chores der Colbatzer Kirche gehören, -wie be-
reits bemerkt, dem entwickelten ßaustyl des vierzehnten Jahrhunderts an.
Historische Zeugnisse sind auch für diese Bestimmung nicht weiter vorhan-
den , aber die Formen des Baues geben dafür hinreichenden Beleg. Die
Anlage des Chores ist einfach gothisch, mit dreiseitig gebildetem Schluss.
Zwischen den hohen und weiten spitzbogigen Fenstern sind im Aeusseren
starke Strebepfeiler angebracht, die aber zugleich auch gegen das Innere
der Kirche in Etwas vortreten und hier, als Einschluss der Fenster, Nischen
mit zierlich gegliederten Ecken bilden. Sodann springen, an diesen inneren
Seiten der Streben (24.), drei durch abreite Einkehlungen gesonderte Halb-

säulen von guter Formation vor, welche schlank in die Höhe laufen und
dazu bestimmt waren, die Gurte des Kreuzgewölbes zu tragen. Diese Gurt-
träger sind es vornehmlich, was zur Zeitbestimmung der späteren Chortheile
berechtigt. (Vergl. unten, über die weitere Entwickelung des gothischen
Styles). Sonst ist an der Architektur des Chores nichts Bemerkenswerthes
hervorzuheben; dass die Gewölbe desselben nicht mehr vorhanden sind,
ist schon oben gesagt. —

Von den mannigfachen Gebäulichkeiten, die ausser der Kirche den
Glanz des weiland mächtigen und durch seine Lebensfreuden selbst im
Mährchen berühmten Klosters bekundeten, ist wenig mehr vorhanden, das
höhere architektonische Bedeutung hätte. Eine Reihe von Säulen-Kapi-
tälen, etwa 11 an der Zahl und gegenwärtig vor der Amtswohnung auf-
gestellt, dürfte deni Refectorium oder einem ähnlichen Prachtraurae ange-
hört haben. Sie sind sämmtlich aus Kalkstein (von graü und röthlich ge-
mischter Farbe) gearbeitet, — demjenigen Material, welches vorzugsweise
bei freistehenden Säulen , wie sonst auch bei anderm architektonischem
Detail, angewandt wird. Die Grundform dieser Kapitäle ist die des Kelches;
einige sind ohne besondere Zierde; andre haben jene breiten Blätter an
den Ecken, welche in der früheren Entwickelungszeit des gothischen Styles
vorzukommen pflegen, andre (25. u. 2Ü.) sind mit frei gebildetem Blatt-
werk geschmückt, noch andre endlich mit figürlichen Darstellungen
versehen. An dem einen der letzteren sind vier Mönchsflgureii auf den
Ecken angebracht; an einem zweiten (27.) aber sieht man, um das Kapital

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Pommersche Kunstgeschichte.

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umherlaufend, eine fabelhafte Geschichte dargestellt: — ein Priester steht oder
kniet anbetend vor einem Altar, auf dem Kelch und Hostie befindlich
sind; hinter ihm steht ein Mönch, ein zweiter kniet anbetend hinter diesem;
dem Priester gegenüber, dem Altar zugewandt, steht ein dritter Mönch, der
ein Buch in der Hand hält; dann aber folgt die phantastisch frazzenhafte
Figur des Teufels, der einen vierten Mönch an der Kapuze festhält; Geberde
und Mienen des letzteren drücken das grösste Entsetzen aus. Diese Dar-
stellung erinnert an ein Bild, das sich früher in der Kirche befunden
haben soll, den Teufel vorstellend, der einen Mönch bei dem Halse ergriff'),
beide aber, -wie es scheint, an jenes Mährchen von dem Colbatzer Abte,

Steinbruck, a. a. 0., S. 56. — Doch scheint es jfast, als ob die Nach-
richt von dem Bilde in der Kirche nur durch ein Versehin entstanden und nur
die Eine Darstellung am Säulenkapitäl vorhanden gewesen sei. Wenigstens führt
Hainhofer (Reise-Tagebuch vom J. 1617.) die Inschrift, die dem Gemälde zuge-
schrieben wird, als dem Kapital zugehörig an, indem er (S. 89.) sagt; „In meines
Herrn (des Herzogs Philipp II.) Schlafkammer zu Colbatz noch observiert ainen
steinerin Pfeiler, in den der böse Gayst eingehawen, welcher ainen Mönch bey
der Kutten fasset, und darüber geschähen stehet: Redde rationem villicationis
tuae." (Bei Hainhofer, S. 85., findet man auch die vollständige Inschrift, die
früher neben dem Altare der Kirche befindlich war, und die Steinbrück, a. a. 0.,
nur zur Hälfte mittheilt.)

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Kirchlicbe Architektur. -1. Byzantinischer Styl etc. 677

der dem Teufel seine Seele für ein Gericht
Muränen verschrieben hatte und nur durch
die Geistesgegenwart seines Guardians vom
ewigen Verderben gerettet ward. "Was die
Arbeit an den Figuren des letztgenannten
Säulen-Kapitäles anbetrifft, so sind sie von
sehr kurzen und plumpen Verhältnissen, die
Behandlung ist aber nicht unsauber; der
Styl, besonders in der Gewandung, entspricht
ziemlich bestimmt der Darstellungsweise vom
Schlüsse des dreizehnten Jahrhunderts, wel-
cher Zeit somit dieses Kapital, wie auch
die übrigen, angehören dürfte.

Unter den für ökonomische Zwecke- auf-
geführten Gebäuden ist besonders der Kel-
ler, unter dem ehemals sogenanntenTriglafs-
saal (dem Gebäude, welches an der West-
seite der Kirche gen Süden hin liegt),
beachtenswert!!. Er hat schöne gothische
Gewölbe, die aber nicht im Spitzbogen, son-
dern in dem spätgothischen Rundbogen ge-
bildet sind und deren Gurte (28., — eben-

falls voii spätgothischer Form) von vier
kurzen achteckigen Pfeilern (29.) ausgehen,

welche in der Mitte desKellers hinlaufen'). Während die übrigen Oekonomie-

Die Kapitale dieser Pfeiler haben übrigens eine gewisse Verwandtschaft
mit denen in den ältesten Theilen der Kirche. Es dürfte die Bestimmung über
das Alter des Kellers hienach in Frage zu stellen sein,

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678 Pommersche Kunstgeschiclite.

Gebäude von Colbatz, die aus klösterlicher Zeit herrühren, zwar massiv uud
für die Dauer einer halben Ewigkeit gegründet, doch aller weiteren
architektonischen Ausbildung ermangeln, so zeigen sich hier, an Pfeilern
und Gewölbgurten, die Detailformen so wohlgebildet, das Ganze so schön
und präcis ausgeführt, dass man in dem Keller wohl eine Bestimmung
für höhere Zwecke vermuthen darf. Ohne Zweifel versammelten sich hier,
wenn des Tages Last und Mühen vorüber waren, die frommen Brüder
des Klosters, aus stattlichen Fässern den Trank zu schöpfen, der die müden
Geister erquicken und zu neuem Thun kräftigen mochte. Die Bauzeit
des Kellers darf man nicht füglich früher als in das fünfzehnte Jahrhundert
setzen.

, Einen nicht minder wichtigen Platz unter den ältesten pommerschen
Baudenkmalen, als die Klosterkirche von Colbatz, nimmt die Domkirche
von Gammin ein. An ihrer Stielle war, bereits im Jahr 1124, eine der
ersten pommerschen Kirchen durch Bischof Otto von Bamberg gegründet
und dem Täufer Johannes gewidmet worden. Im J. 1175 wurde diese durch
Herzog Casimir I. dem Bischöfe und Domkapitel von Julin, nachdem letz-
teres durch die Dänen zerstört war, als neuer Sitz des Stiftes, welches fortan
in Cammin blieb, übergeben. Dass die älteren Theile der gegenwärtig vor-
handenen Domkirche Eeste jener Kirche seien, welche von Bischof Otto
erbaut wurde, ist, bei der Bedeutsamkeit ihrer Anlage, auf keine Weise
denkbar Dass im Verlauf von fünfzig Jahren ein neuer Bau an die
Stelle jenes ursprünglichen Kirchengebäudes getreten war, ist möglich, doch
fehlt es, soviel mir bekannt, an aller näheren historischen Bestimmung.
Dass aber das Kapitel gleich nach seiner Versetzung zu einem Neubau der
Kirche* geschritten sei, ist nicht eben wahrscheinlich, da demselben eine vor-
handene Kirche für seine Zwecke übergeben ward. Im Gegentheil dürfte
es sicherer sein, anzunehmen, dass das Kapitel und der Bischof in den
ersten Jahrzehnten nach jener Versetzung gar mancherlei mit der Reguli-
rung äusserer Verhältnisse zu thun hatten, und dass man erst, nachdem
diese in Ordnung gebracht und bedeutendere Einkünfte gesichert waren,
auch zur Ausführung eines stattlichen, der geistlichen Residenz würdigen
Kirchenbaues schritt. Mit solcher Annahme stimmen wenigstens die älte-
ren Bautheile der Domkirche von Cammin, was ihren Styl anbetritft, über-
ein; nur ein einzelner Theil des vorhandenen Gebäudes (das'grosse Portal
auf der Nordseite) gehört, wie es scheint, in das zwölfte Jahrhundert die
übrigen Theile können nicht füglich vor dem Beginn des dreizehnten auf-

geführte sein.

Die Domkirche von Cammin hat wiederum die Gestalt einer Kreuz-
kirche: ein Langschiff mit niederen Seitenschiffen, Querschifl' und Chor in
der Breite des Langschifles. QuerschifT und Chor unterscheiden sich von
den übrigen Theilen durch Formen, die das Gepräge eines höheren Alters

') Vergl, Böhmer, in den neuen Pom. Prov, Blättern, I, S. 203.

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Kirchlicbe Architektur. -1. Byzantinischer Styl etc. 679

tragen. Wir betrachten diese Theile, wie bisher, zunächst für sich allein.
— Die Portale an den Giebelseiten des Querschiffes sind'im byzantinischen
Halbkreisbogen überwölbt; die grosse Altarnische hat im Grundriss eben-
falls die Form eines Halbkreises. .Im Uebrigen jedoch herrscht die Form
des Spitzbogens vor, aber jene schwerere strengere Form, welche den Ueber-
gangsstyl bezeichnet. In dieser Weise sind die grossen Schwibbögen über
der Durchschneidung vom Mittel- und Querschilf gebildet, ebenso der Bo-
gen, welcher zur Einfassung der Altarnische gehört, und die Bögen an den
Wänden der in Rede stehenden Räume, an die sich die,Gewölbe anlehnen.
Doch ist das ganze spitzbogige System hier bereits auf eine reichere Weise
durchgebildet. An den Wandpfeilern tritt nicht Eine Halbsäule hervor,
sondern es sind deren zwei nebeneinander als Träger des breiten Haupt-
bandes jener Schwibbögen angeordnet (30.j; neben diesen und in den übri-

gen Pfeilerecken laufen feinere Säulchen empor, die sich theils als Rund-
stäbe zu den Seiten der Gewölbbänder fortsetzen, theils als Träger der
Kreuzgurte des Gewölbes dienen. Alle diese feineten Säulchen sind zwei-
mal durch einfache Ringe umgürtet. Die Träger der Kreuzgurte haben
verschiedengeformte Kapitäle im Style der spätbyzantinischen oder früh-
gothischen Kunst; sonst sind keine Kapitäle vorhanden und über der gan-
zen Pfeilermasse bildet nur ein schmaler Stab die Scheidung von den
darauf ruhenden Bögen. Auch die grossen Halbsäulen sind ohne Kapital;
doch ruht über ihnen (unter dem ebengenannten Stabe) eine starke, archi-
trav-ähnliche Platte (31.), welche eine Art Vermittelung zu jenem breiten

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680 Pommersche Kunstgeschiclite.

Bogenrande zu Stande bringt, aber freilich
von gar schwerem Eindrucke ist; den Ueber-
gang von den Halbsäulen zu dieser Platte
vermitteln kleine Consolchen unter den
Ecken der letzteren. Die Kreuzgurte im
Gewölbe des QuerschifFes haben eine Form,
deren Durchschnitt , (32.) sich bereits dem
in der gothischen Bauweise üblichen und
gesetzmässigenbirnenartigenProfll annähert;
im- Gewölbe des Chores scheinen sie noch
aus Rundstäben zu bestehen'). —DieUeber-
wölbung der halbrunden Altarnische hat
eine eigenthiimliche Anordnung. Durch
den grossen Spitzbogen, der ihre Einfassung beschliesst,
muss ihre Halbkuppd nach oben zu natürlich die Form
der Kugelfläche allmählig verlassen. Diesen Widerspruch
aber zu maskiren, oder richtiger: harmonisch auszugleichen,
laufen vom Beginn des Kuppelgewölbes, zwischen den
Fenstern, sechs Gurtbänder nach dem Mittelpunkte des Spitzbogens empor,
so dass die Wölbung eine fächerartige Erscheinung darbietet. Auch dies
darf man wieder als einen üebergang zum gothischen System bezeichnen;
doch ist zu bemerken, dass nicht bereits, wie bei ähnlichen Anordnungen
des Uebergangsstyles, Strebepfeiler an dem Aeusseren der Halbkuppel hin-
austreten, so wenig, wie diese sonst an den älteren Theilen der Domkirche
gefunden werden. — Die Fenste"r sind von hoher, nicht breiter Form und
vorherrschend ebenfalls im schweren Spitzbogen überwölbt. In der Altar-
nische sind deren sieben angebracht, die mit ihrer Spitze in den Beginn
der Kuppelwölbung hinreichen; sie sind mit feinen Säulchen umfasst. An
den Wänden der alten Bautheile sind überall je drei ähnliche Fenster
nebeneinander angebracht, von denen das mittelste jedesmal höher ist als
die beiden zu den Seiten.

Bei der Schönheit der gegenseitigen Verhältnisse, bei der harmonischen
Durchbildung der Formen, bei dem Umstände, dass Nichts durch spätere
Yeränderungen entstellt ist, gewährt das Innere der alten Bautheile solcher
Gestalt einen edlen, befriedigenden Eindruck und scheint dem Auge der
historischen Forschung als ein Ganzes von gleichmässigem Gusse, als Eins
in Anlage und Vollendung gegenüber zu stehen. Dies ist aber nicht der
Fall; eine weitere Untersuchung, namentlich des Aeusseren, lehrt, dass auch
hier verschiedene Meister thätig waren, dass nicht Alles in dem Sinne auf-
geführt ist, in welchem es begonnen wurde, dass eine längere Reihe von
Jahren, vielleicht nicht ganz ohne Unterbrechung, ü|3er der Herstellung
dieser Bautheile hingegangen sein muss.

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Der untere Theil der nördlichen Wand des Quers(|iiffes giebt sich zu-
nächst als ein völlig abweichendes Baustück zu erkennen. Während im
Uebrigen das Material des gebrannten Steines durchgehend gefunden wird,
ist dieser Theil aus Granit aufgeführt, der in ziemlich regelmässig behauenen

Ich kann mich in der letzteren Angabe irren; die abgesfihmackte Be-
malung der Gewölbgurte erschwerte es mir trotz meines Fernglases ungemein,
alle Formen ganz sicher z'u erkeuuen.

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Kirchlicbe Architektur. -1. Byzantinischer Styl etc. 681

Quadern übereinander lagert. In der Mitte desselben
befindet sicli ein schNveres byzantinisches Portal, eben-
falls aus Granitquadern gebildet, die Seiten wände
und der Bogen desselben aus vier einfachen Pfeiler-
ecken zusammengesetzt
(33.), Kämpfer- und Fussge-
sirase
(34.) ebenfalls sehr einfach gearbeitet. Dieser
Theil ist unbedenklich als der älteste des Baues zu
betrachten, da es auf keine "Weise wahrscheinlich ist, dass mau
den feineren Formen des Uebrigen diese schweren und rohen,
hätte man sie nicht bereits vorgefunden, mit Absicht würde zu-
gefügt haben.

An dem Aeusseren der Altarnische sodann ist es auffallend, dass ihre
obere Hälfte der unteren nicht vollständig entspricht. Die Fenster der
Nische
(35, 36.) sind mit Säulchen umfasst, von denen etwa das untere
Drittel aus schwarz glasirtep Ziegelsteinen besteht, während das Obertheil
aus gewöhnlichem rothem Backstein gebildet ist. Jeder dieser schwarzen
Schäfte besteht aus Einem Stück; die des Mittelfensters bilden gewundene
Säulchen
(37.), eine Verzierungsweise, die'an ihrem Obertheil ebenfalls nicht

fortgesetzt wird-. Sie sind oberhalb durch einen Ring begränzt und haben
unterhalb schwere attische Basen Kapitale, die diesen Basen entsprochen
und ihrer Last ein Gegengewicht gegeben hätten, sind an den rothen Ober-
theilen nicht vorhanden, vielmehr gehen diese unmittelbar in die Bogen-
wölbung über. Ferner sind am Untertheil der Nische zwischen den Fen-
stern Lissenen (vertikale Wandstreifen) angeordnet, wie sie in der spät-
byzantinischen Kunst gewöhnlich vorkommen; mit ihnen sind in den Ecken,
wo die Nische an den östlichen Giebel der Kirche anstösst, Halbsäulchen
verbunden; aber beide, Lissenen und Halbsäulchen, brechen genau in der
Höhe jener schwarzen Säulenschäfte ab, und werden nicht weiter fortgesetzt.
(Dass oberhalb nichts zerstört ist, sondern die Lagen der Backsteine in
regelmässigem Wechsel aufeinander folgen, sieht man aufs Deutlichste.)
Diese übereinstimmenden Missverhältnisse nöthigen zu der Schlussfolgerung,
dass, als die untere Hälfte der Nische aufgeführt war, eine Pause in der
Arbeit eingetreten sein muss und dass man, als der obere Theil hinzuge-
fügt ward, den Bau einer andern Leitung übertragen hatte.

Ferner hat die südliche Wand des Querschiffes mancherlei abweichende
Eigenthümlichkeiteu. Zunächst ist sie durch ein, in einem Vorbau befind-
liches, reiches und geschmackvolles Portal byzantinischen Styles — das
einzige, welches in Pommern von solcher Beschaffenheit gefunden wird

sasai

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682 Pommersche Kunstgeschiclite.

— ausgezeichnet. Das Portal (38.) hat drei schlanke Säulen auf jeder
Seite, zwischen Pfeilerecken, über denen sich die reich gegliederten Halb-
kreisbögen erheben. Die Säulen haben zierlich geschmackvolle Blätter-
kapitale in der Kelchform, sind in der Mitte mit fein gebildeten Ringen (39.)
umgeben und ruhen auf nicht minder wohlgebildeten attischen BasQn (40.),

an deren unteren Ecken sich die in der spätbyzantinischen Kunst gewöhn-
liche Blattverzierung findet. (Auch die, freilich viel schwereren Basen der
schwarzglasirten Säulenschäfte an den Fenstern der Altarnische haben diese
Blattverzierung.) Die Bögen über der Thür sind zum Theil mit zierlich
byzantinischem Rankenwerk geschmückt. Diese, sowie die Säulenkapitäle,
sind aus Stucco gearbeitet, die Säulenbasen bestehen.aiis gl,asirtera Ziegel,
die Ringe dagegen aus einfach gebranntem Stein 0- Vor diesem Portal ist
eine Vorhalle aufgeführt worden, die in ihren Hauptformen ebenfalls noch
dem spätbyzantinischen Style entspricht. Das im Halbkreisbogen gebildete
Portal der Halle ist ausserhalb durch ein einfaches Säulchen umgeben; auch
im Innern ist die Halle in derselben Form gewölbt, und als Träger der
Gewölbgurte sind in den Ecken Säulchen angeordnet, durch welche sich
die Säulen des im vorigen besprochenen Hauptportales der Kirche auf jeder
Seite um zwei vermehren. Dass die Halle aber, trotz ihres scheinbar über-
einstimmenden
Charakters, später ist als das Portal der Kirche, geht augen-
gpheinlich aus dem Umstände hervor, dass der Ansatz ihres Gewölbes über
dem Portal in einem entschieden disharmonischen Verhältnisse zu dessen
äusseren Theilen (dem Eckpfeiler und der ersten Säule) steht, was gewiss
picht der Fall sein würde, wenn beides unter der Leitung ein und dessel-

1) Dass all diese feinen Formen gegenwärtig (1839), durch mehrhundert-
jährige UebertüachuDg, auf's Eckelhafteste entstellt sind, versteht sich leider von
selbst; nur weun man die letztere mit dein Messer fortschabt, erkennt man den
Sinn und Geist des edeln Meisters, durch den sie gefertigt wurden. — (Seit Ab-
fassung des Obigen hat eine vollständig durchgreifende Restauration des Domes
statt gefunden.)

M

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Kirchliche Architekiur. 1: Byzantinischer Styl etc.

ben Meisters ausgeführt wäre. Ueberhaupt beeinträchtigt auch die Halle,
namentlich durch das in ihr herrschende geringere Ebenmaass, den Ein-
druck des schönen Portales. Die Kreuzgurte im.Gewölbe der Halle sind
ebenso gebildet, wie die im Querschiff der Kirche. Diese Uebereinstlmmung
lässt ein ungefähr gleiches Alter der Halle mit dem Gewölbebau des In-
neren vermuthen (ja, es scheint, da der Rundbogen an der Halle vorherrscht,
dass man sie noch für älter halten müsse), woraus denn hervorgehen würde,
dass das Portal in eine, wenn auch nicht eben bedeutend frühere Zeit gehöre.

Aber auch die oberen Theile dieser südlichen Wand des Querschiifes

(41.) haben mancherlei Abweichen-
des von den übrigen älteren Bau-
theilen der Domkirche, und scheinen
nicht minder auf ein etwas höheres
Alter hinzudeuten. So bewahren
zunächst die drei Fenster über dem
Portale in ihrer Ueberwölbung noch
den reinen Halbkreisbogen')- Zu
ihren Seiten sind grosse Fensterblen-
den angebracht, die ebenfalls nicht
im Spitzbogen, sondern in dem ge-
brochenen Rundbogen der spätby-
zantinischen Kunst schliessen. In
ihren Ecken laufen feine Halbsäul-
chen als Einfassung empor. Aehn-
liche Blenden endlich befinden sich
in dem Giebeldreiecke, welches durch
ein Gesims und den aus kleinen Halb-
kreisbögen zusammengesetzten Fries
von der übrigen Mauerfläche getrennt
wird; eine grössere in der Mitte, zwei kleinere zu den Seiten, durch zier-
lich gekuppelte Halbsäulchen verbunden, die in ihrer Mitte durch Ringe
umgürtet sind und byzantinische Blätterkapitäle in der Kelchform tragen.
In den oberen Rundungen dieser Blenden sind Reliefsculpturen angebracht;
in der mittleren sieht man zwei Engel, die ein Lamm in verehrender Ge-
berde emportragen; in denen zur Seite einzelne Heilige. Soviel ich von
diesen Sculpturen deutlich erkennen konnte, schienen sie mir dem bild-
nerischen Style der Zeit um den Anfang des dreizehnten Jahrhunderts zu
entsprechen. In den Mauerflächen innerhalb der Blenden liegen die Mauer-
steine nicht horizontal, sondern, wie an den Giebeln der Kirche von Bergen,
in schichtenweise wechselnder Schräge, was dem Auge hier, bei dem festen
Einschluss dieser Theile, den Eindruck eines anmuthigen Linienspieles ge-
währt. Der Mauertheil dieser Südwand unterhalb der Fenster scheint eine
andre, ebenfalls durch das einfache Material hervorgebrachte Dekoration
zu haben, indem die rothen Steine wechselnd durch Lagen heller gebrannter
Steine unterbrochen werden; die Bedachung der Halle vor dem Portal
verhindert es, diese Einrichtung vollständig zu übersehen,

') Bei dem grösseren Fenster in der Mitte ist dies ziemlich bestimmt aus-
zusprechen ; bei den kleineren Seitenfenstern kann möglicher Weise eine leise Nei-
gung zum Spitzbogen stattfinden, was mit Gewissheit zu erkennen, bei der Eut-
leraung des Beschauers von diesen Fenstern, natürlich seine Schwierigkeiten hat.

683

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Pommersche Kuustgeschichte.

Auch die verschiedenartige Form der Friese, welche unter den Dächern
der älteren Bautheile hinlaufen, scheinen Unterschiede in den Zeiten ihrer
Ausführung anzudeuten. An dem südlichen Flügel des Querschiffes haben
diese die Form, in welcher sie gewöhnlich im byzantinischen Baustyl und in dein
der Uebergangsperiode vorkommen; ebenso an der Südwand des Chores.
(Ein kleiner Unterschied ihrer Formation, der zwischen den letzteren, welche
denen der Ostwand des südlichen Kreuzflügels gleich sind, und zwischen
denen der südlichen und der westlichen Wand eben desselben Kreuzflügels
stattfindet, scheint unerheblich.) Die Altarnische hat einen ähnlichen Fries;
aber die kleinen Rundbögen stehen hier mehr von einander entfernt und
das Ganze ist flacher" ausgeführt, so dass es einen matteren Eindruck her-
vorbringt. Die nördliche Wand des Chores endlich und der gesammte
nördliche Flügel des Querschiffes haben einen Fries von abweichender For-
mation, indem nicht durch Halbkreisbögen, sondern — gewissermaassen in
roherer Benutzung des Materials — durch übereinander vorkragende eckige
Steine die kleinen Nischen desselben gebildet werden (42.). Einen ebenso

gebildeten Fries sieht mau an der genannten Vor-

684

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ifiippPipi

/ halle des südlichen Fortals,
n Endlich ist unter den älteren Bautheilen des

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Domes noch die Sakristei zu besprechen, die zur
Seite der nördlichen Chorwand steht. Zu ihr
führt vom Chor aus eine geschmackvoll gearbeitete
Thür' (43.), die in ihrer Hauptform halbkreis-
bogig, innerhalb jedoch im gebrochenen Rund-
bogen überwölbt ist. Sie hat auf jeder Seite
eine Säule mit einem Blätterkapitäle und at-
tischer Base. (Letztere, durch den erhöhten
Fussboden zum Theil verdeckt, scheint von
guter Bildung.) Ueber den Säulen steigt ein
mit Blättern geschmückter Bogenwulst em-
por, auf Löwen ruhend, die kleinere Thiere
(etwa Schafe) zwischen ihren Klauen halten.
Alles Ornamentistische ist auch hier, wie an
dem grossen Portal, aus glasirtem Stein, lei-
der zum Theil, namentlich die Löwen, be-
schädigt. — Die Sakristei selbst ist in dem-
selben Style ausgeführt, wie das Innere der
übrigen älteren Bautheile. Sie hat eine kleine,
im Grundriss halbrunde Altarnische, deren Ueberwölbung ebenfalls halb-
rund erscheint. Das Band des kleinen Bogens, der die Nische einfasst,
wird von zwei kauernden menschlichen Figuren getragen, die aus glasirtem
Stein bestehen und vortrefflich gearbeitet, leider jedoch auch zum Theil
beschädigt sind. Ihr Styl gehört bestimmt bereits dem dreizehnten Jahr-
hundert an. Ausserhalb hat die Nische, schon merkwürdig von der byzan-
tinischen Weise abweichend, eine dreiseitige Form; an ihrem Halbgiebel,
der an die Kirche sich anlehnt, zieht sich ein aus Halbkreisbögen gebildeter
Fries empor.

Aus alledem geht hervor, dass wir an den älteren Theilen der Dom-
kirche mindestens drei von einander verschiedene Bauzeiten zu bemerken
haben. Das älteste Stück, wie bereits bemerkt, ist der Unterbau der nörd-
lichen Wand des Querschiffes mit dem dort befindlichen Portale.* Ohne

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685

Kirchliche Architektur, 1. Byzantinischer Styl etc.

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Zweifel gehört dasselbe noch dem zwölften Jahrhundert an. Als ein Ueber-
rest des Ottonischen Baues vom J. 1124 kann es jedoch nicht gelten, da
dieser, ^bei dem Mangel an Zeit und Mitteln, unbedenklich nicht auf so
massive und mühsame Weise ausgeführt war. Ob das in Rede stehende
Baustück von einer etwanigen Erneuerung der Kirche vor dem Auftreten
der Chorherrn herrühre, oder ob es deren erstes Auftreten in Cammin be-
zeichne, muss, da keine weitere historische Nachricht vorhanden ist, zur
Zeit unentschieden bleiben. Aus den Detailformen des Portales selbst lässt
sich über sein Alter nicht eben etwas Näheres bestimmen, da der Granit
überall, auch bei Anwendung des Spitzbogens, sehr einfach behandelt er-
scheint. — Sodann kommt die Altarnische in Betracht. Ich vermuthe, dass
ihre untere Hälfte auf eine regelmässig byzantinische Anlage berechnet war.
Ich schliesse dies besonders aus der Form des älteren Theiles der Fenster.
Denn da jene schwarzglasirten Säulenschäfte, der ursprünglichen Idee nach,
genau als die unteren Hälften der Fenstersäulen betrachtet werden müssen
(wozu der Ring, mit dem sie oberwärts schliessen, nothigt), so würden die
Fenster, wären sie nach dieser Idee vollendet, ein breites, minder hohes
Verhältniss erhalten haben, wie solches mit dem System der reinen byzan-
tinischen Kunst, nicht aber mit den spitzbogigen Theilen des Uebergangs-
styles übereinstimmt. Dabei aber ist zu bemerken, dass die sämmtlichen
Detailformen dieses unteren Theiles der Nische, auf eine "Weise ausgebildet
sind, die nur der spätesten Entwickelungszeit des byzantinischen Systemes
angehört. Ungefähr gleichzeitig dürfte sodann die ganze südliche Wand
des Querschilfes sein. Diese trägt noch ungleich entschiedner das Gepräge
des spätest byzantinischen Styles, wie solcher (z. B. bei vielen nieder-
rheinischen Bauten) sogar bis tief in das dreizehnte Jahrhundert hinab-
reicht. Zugleich ist nicht wohl anzunehmen, dass die halbe Altarnische
und die ebengenahnte Wand beim Beginn des Neubaues der Kirche ganz
isolirt für sich aufgebaut worden seien,'dass man nicht gleichzeitig mit
ihnen auch die übrigen Theile des gesammten Chorbaues werde wenigstens
angelegt und begonnen haben; ja, die Sakristeithür, welche dem südlichen
Portale nah entspricht, scheint dafür einen bestimmten Beleg zu geben.
Aus dieser Annahme folgt aber, dass auch die Formation des Inneren (ich
meine besonders die reiche Formation der Pfeiler in der Durchschneidung
von Quer- und Mittelschiff) schon durch die ursprüngliche Anlage bedingt
war; und da diese Formation soviel mehr ausgebildet erscheint, als die
entsprechenden Theile derjenigen Kirchen, an denen wir bisher byzan-
tinisches Element bemerkten (an denen von Bergen und Colbatz), so sind
wir, wie es mir scheint, genöthigt, auch der ursprünglichen Anlage der
älteren Theile der Camminer Domkirche (etwa mit Ausnahme des nörd-
lichen Portales) ein jüngeres Alter als jenen zuzuschreiben, sie somit be-
reits in das dreizehnte Jahrhundert zu setzen. (Dass die Vorhalle vor dem
südlichen Portale, die später als dieses ist, noch' dea Halbkreisbogen hat,
ist kein Gegenbeweis, indem, wie eben angedeutet, byzantinische Formen-
weise sich mehrfach lange neben den späteren erhielt.) Noch jünger end-
lich ist der, in consequent spitzbogiger Weise aufgeführte Oberbau der
älteren Theile der Domkirche. Nehmen wir auf die disharmonische Vollen-
dung der Altarnische Rücksicht, so können wir nicht füglich umhin, einen,
wenn auch nicht allzubertächtllchen Zeitabstand dieses Oberbaues von den
früheren Theilen anzunehmen, dijrch welchen die regelmässige Fortsetzung
des Baues unterbrochen wurde. So werden wir denn genöthigt sein, djese

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686

Pommersche Kunstgeschichte.

späteren Theile noch weiter in das dreizehnte Jahrhundert hinabzurücken.
Eine nähere Zeitbestimmung dürfte sich durch eine Gesammt - Uebersicht
ergeben, die weiter unten erfolgen soll. —

Das Schiff der Domkirche von Gammln ist entschieden später als die
bisher besprochenen Bautheile, obgleich es sich ihnen in einer nicht un-
harmonischen Weise anschliesst. Es hat ausgebildet gothische Formen und
giebt für die. schönste Entwickelung des gothischen Styles im Backsteinbau
einen sehr interessanten Beleg. Auf eigenthümliche Weise ist die Bogen-
stellung zwischen dem hohen Mittelschiff und den niedrigen Seitenschiffen
angeordnet, indem stärkere Pfeiler, als die Hauptträger des Ganzen, mit
schwächeren abwechseln (44.). Zwei dieser stärkeren Pfeiler stehen auf jeder

Seite frei zwischen den Pfeilern des (juer-
schiflfes und der westlichen Kirchenwand, in
Abständen, welche der Breite des Mittelschiffes
gleich sind. In der Hauptform sind die Pfei-
ler achteckig, aber ihre schrägen Seiten sind
mit feinen Halbsäulchen gegliedert (45.)-, diese
Gliederungen laufen bis zum Gewölbe empor
und bilden unter demselben einen nischenar-
tigen Einschluss der oberen Wände des Mittel-
schiffes. An die vordere Fläche der Pfeiler
lehnt sich ein stärkeres Halbsäulchen (eigent-
lich zu Dreivierteln vortretend), das mit einem
gothischen Blätter-Kapitäl gekrönt ist und die
Kreuzgurte des Gewölbes trägt. Die Bildung
der letzteren ist den Kreuzgurten des Quer-

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schiffes entsprechend. In dieser, nicht gerade reichen, aber vortrefflich
organischen Gliederung der Pfeiler beruht eine der Hauptschönheiten dieses
Bautheiles. Kleinere und einfach achteckige Pfeiler treten zwischen jene
grösseren und bilden die eigentliche, niedrigere Bogenstellung, welche den
Zugang vom Mittelschiff zu den Seitenschiffen ausmacht und auf der die
oberen Wände des Mittelschiffes ruhen. Die Fenster in diesen oberen

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Kirchliche Architektur. 1, Byzantinischer Styl etc.

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687

Wänden und die der Seitenschilfe sind von einfach gothischer Form. Audi
im Aeusseren zeigen sie eine einfache, aber geschmackvoll gothische Pro-
filirung (46.). Eine im südlichen Seitenschilfe vorhandene Thür entspricht
in ihrer ziemlich reichen Gliederung (47.), obwohl die
Ausführung nicht eben zu rühmen ist, den Formen eines
ausgebildeten, aber noch wohlgemessenen gothischen Ge-
schmackes. — Was die Zeit der-Ausführung dieses Bau-
theiles anbetrilFt, so halteich dafür, dass auch er noch

dem dreizehnten Jahrhundert,
doch der späteren Zeit dessel-
ben, angehört. Dies ergiebt sich
aus der grösseren Reinheit und
Einfalt, selbst Strenge der For-
menbildung, verbunden mit dem
lebenvollen Organismus, der hier
im Gegensatz gegen die Werke
des vierzehnten Jahrhunderts
und der in verwandter Weise
den wirklich gothischen Gebäu-
den des dreizehnten Jahrhunderts sichtbar
wird. Ich glaube selbst, dass zwischen der
Aufführung der älteren Theile der Domkirche
und der des Schilfes nicht eben ein sehr be-
deutender Zeitabschnitt verflossen sei, und
dass diese somit als eine wirkliche Fortsetzung
des Baues betrachtet werden müssen. Für
dies nicht allzu entfernte Verhältniss giebt
schon die übereinstimmende Bildung des Gewölbes (der Gewölbgurten)
einen Beleg; mehr noch die vortreiflichen übereinstimmenden Gesammt-
verhältnisse, durch die in der That das ganze Innere der Domkirche den
schönsten Eindruck hervorbringen würde, wäre dasselbe gegenwärtig nicht
durch abgeschmackte Einbauten und sinnlose Bemalung auf eine wider-
wärtige Weise entstellt.

Doch ist auch bei den SchifFtheilen einer späteren, ausserhalb sehr in
die Augen fallenden Erneuung des Baues zu gedenken. Diese betrifft das
südliche Seitenschiff. Im Inneren erkennt man hier eine Umänderung, so-
fern das Gewölbe desselben nicht, wie an den übrigen Theilen der Kirche,
durch Kreuzgurte gebildet wird, sondern in der späteren Sternform erscheint.
Im Aeusseren erhebt sich über dem Dachgesims dieses Seitenschiffes eine
Giebelreihe, an der sich das dekorative Element des gothischen Back-
steinbaues, durch bunte Zusammensetzung zierlicher, grossentheils glasirter
Ornamente, im reichsten Maasse entwickelt. Jeder Giebel ist mit reich-
gebildeten Rosetten, die sich reliefartig auf die MauerMche auflegen, ge-
schmückt. Vor dem unteren Theile der Giebel, auf der Schräge des Ge-
simses stehend, treten freie kleine Tabernakel-Architekturen vor. Geson-
dert werden diese Giebel durch je zwei fein gestaltete Thürmchen, die
wiederum durch schmalere, durchbrochen gearbeitete Giebelchen verbunden
sind. Alles Detail des ausgebildeten gothischen Freibaues, wie derselbe
in den' westlichen Ländern erscheint, zeigt sich an diesem kleinen Pracht-
stücke nachgeahmt, obgleich Einzelnes hier und da gegen die Einwirkun-
gen der nahen nordischen See nicht Stand gehalten hat; Spitzen und Ecken

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Pomraerscbe Kunstgeschichte.

steigen frei und selbständig empor, Blnmen laufen überall an den Giebel-
gesimsen hinauf und bekrönen ihre Spitzen, sowie die Spitzen der Thtlrm-
chen. Gleicliwohl gewährt das Ganze keinen künstlerisch reinen Eindruck;
die Zusammensetzung der Formen ist mehr oder weniger willkürlich, die
üebergänge sind oft mangelhaft, der lebendige, klare Organismus, der im
Inneren der Kirche so wohlthuend wirkte, fehlt grossentheils. Unbedenk-
lich ist diese Dekoration, was die Zeit ihrer Ausführung anbetrifft, den
ähnlichen Arbeiten zuzuzählen, die etwa in der späteren Zeit des vier-
zehnten Jahrhunderts, besonders aber im fünfzehnten erscheinen, und bildet
mit ihnen einen charakteristischen Beleg für die Gesammtrichtung dieser
späteren Zeit.

Der Thurm der Domkirche ist ganz unbedeutend. Er springt an ihrer
westlichen Wand in der Breite des Mittelschiffes vor und hatte früher, wie
sich aus vorhandenen Mauerresten etgiebt, eine quadrate Grundfläche.
Gegenwärtig hat er mir die Tiefe eines halben Quadrats-und schliesst, nah
über dem Dach der Kirche, mit einer stumpfen Spitze

Endlich ist noch der, auf der Nordseite belegene Kreuzgang zu
erwähnen. Er ist gegenwärtig zum Theil abgerissen, zum Theil verbaut,

doch sind noch Reste des Stabwerkes, mit wel-
chem seine nach dem Hofe zugekehrten ' Oefl'-
nungen ausgesetzt waren, vorhanden C48.). Das-
selbe ist, wenn im Detail auch einfach geformt(49.)
doch auf eine geschmackvolle Weise im
Style der spätgothischen Kunst zusam-
mengesetzt und bildet nach oberhalb ^^^
eine durchbrochene Rosette. Der Styl
scheint mehr dem vierzehnten als dem fünfzehn-
ten Jahrhundert zu entsprechen.

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te.

Ein Paar Kirchengebäude untergeordneten Ranges, beide in Vorpom-
mern belegen, enthalten wiederum noch Elemente der byzantinischen Ar-
chitektur, mit dem Spitzbogen des Uebergangsstyles wechselnd.

Das eine von diesen ist die Kirche von Loitz, die aus einem seltsam
barbarischen Gemisch der Bauformen aller Jahrhunderte besteht. Sie hat
ein breites Mittelschiff und sehr schmale Seitenschiffe. Aus dem, der West-
seite vorgebauten Thurme führt eine niedrige byzantinische Thür, deren
Gliederung einfach aus einigen Pfeilerecken besteht, in die Kirche. Der
Kämpfer der Thürpfeiler hat die Form eines Wulstes. Dann folgen auf
jeder Seite zwei sehr breite Pfeiler, die durch hohe, weite und schwere
Spitzbögen von einfachster Form verbunden sind. (Das sehr zerstörte
Kämpfergesims dieser Pfeiler scheint ebenfalls aus einem dicken Wulste
bestanden zu haben.) An der Wand des südlichen Seitenschiffes bemerkt
man kleine vermauerte byzantinische Fenster, die aber so niedrig stehen
dass der Kämpfer jener Pfeiler noch um Einiges höher liegt, dass es mithin
zweifelhaft bleibt, ob diese Fenster mit der Anlage jener Spitzbögen

Bei der neuerlich erfolgten Restanration des Domes ist derselbe zugleich
mit einem neuen, schlank aufsteigenden Thurmbau versehen.

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Kirchlicbe Architektur. -1. Byzantinischer Styl etc. 689

• «

gleichzeitig sind, auch wenn man (was anderweitig öfters vorkommt) an-
nehmen wollte, dass unter den letzteren ursprünglich noch eine doppelte
Pfeiler- und Bogenstellung angebracht war. An derselben südlichen Wand
befindet sich zugleich ein kleines einfach gebildetes Portal im Spitz-
bogen, letzterer wiederum auf einem Kämpferwulst ruhend. Ueber der
genannten Pfeilerstellung ist das Mittelschiff mit einem spätgothischen
Sterngewölbe überspannt; was von ihr aber nach dem Altare zu liegt, ist
in verschiedenartigen Formen der modernen Bauperiode ausgeführt. Es
scheint, dass die (gegenwärtig mit Kalk beworfenen) Mauern der Kirche
ganz aus Feldsteinen (Granit oder dergleichen) bestehen; die Einfassung
der Thüren ist aus grossen Ziegeln gebildet.

Die zweite dieser Kirchen ist die des Dorfes Tribohm, unfern der
Recknitz, auf der Strasse zwischen Dammgarten und Tribsees belegen. Sie
ist ganz aus Feldsteinen erbaut und von höchst einfacher Anlage. Das
Schiff (natürlich ohne Pfeilerstellung) ist länglich viereckig, der Altarraum
schmaler und ebenfalls von viereckiger Form (ohne Nische); beide werden
durch einen schweren einfachen Spitzbogen von einander gesondert. Die
Thüren sind ebenfalls im einfachen Spitzbogen, mit mehreckiger Glie-
derung, gebildet; die sehr schmalen Fenster sind durch Halbkreisbögen
überdeckt. Je drei Fenster finden sich an den Wänden des Schifl'es, je
eins an den Seitenwänden des Altarraumes (eins der letzteren ist später
erweitert), zwei an der östlichen Wand und zwischen diesen ein kleines
Rundfenster. Die Einfassungen von Thüren und Fenstern bestehen hier
nicht aus Ziegelstein. — Es ist leicht möglich, dass noch mehrere Dorf-,
kirchen dieser Art vorhanden sind.

In einer Weise des Uebergangsstyles, welche dem Chore und Quer-
schiffe des Domes von Cammin verwandt ist, erscheinen die älteren Theile
unter den Resten der Kirche von Kloster Eldena bei Greifswald. Ge-
stiftet wurde dies Kloster durch den Gründer der Kirche von Bergen, Fürst
Jaromar I., in den ersten Jahren des dreizehnten Jahrhunderts, etwa zwi-
schen 1200 und 1207. (Nach Steinbrück's Angabe') ist es wahrscheinlich,
dass die Stiftung noch vor 1203 falle.) Die ersten Mönche des Klosters
kamen, ebenso wie die Nonnen zu'Bergen, aus Dänemark, so dass auch
in diesem Fall die Culturverbindung mit letzterem Lande ausgesprochen
ist. Es scheint,-dass man sich diesen Umständen gemäss, die Kirche von
Eldena, falls sie ursprünglich nicht etwa von Holz gebaut war, in ähn-
lichen Formen aufgeführt denken muss, wie die älteren Theile der Kirche
von Bergen. Da dies aber bei den vorhandenen Resten nicht der Fall ist,
da im Gegentheil wesentlich abweichende Formen erscheinen und — so-
weit wenigstens die alten Bautheile erhalten sind — von speziell byzan-
tinischer Weise nichts weiter erscheint, als jener rundbogige Fries unter
dem Däche, so dürfte die Annahme nicht allzu gewagt sein, dass die
Kirche erst einige Zeit nach der Gründung des Klosters in derjenigen be-
deutsameren Weise angelegt wurde, welche uns aus ihren Resten entgegen-
tritt. — Leider ist die Kirche gegenwärtig eine Ruine, und erst in rieuerer
Zeit dem gänzlichen Untergange entzogen worden. Rasenflächen und grünes

') Geschichte der Klöster iu Pommern, 'S. 75.

Kugler, Kleine Schriflen. I. 44

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Pommersche Kunstgesclncbte.

Gebüsch breiten sich neben den ehrwürdigen rothen Baiitrümmern hin und
bilden mit ihnen ein Ganzes, in dem sich Ernst und heiteres Naturleben
auf anziehende "Weise mischt, das aber mehr malerischen Reiz als Gegen-
stände für die historische Forschung darzubieten scheint. Doch sind auch
noch für die letztere sehr interessante und belohnende Einzelheiten übrig
geblieben.

Die Gesammtanlage der Kirche "war wiederum den bisher besprochenen
Hauptkirchen gleich. Zu den älteren Resten gehören die, noch immer nicht
unansehnlichen Ueberbleibsel des Querschiffes, die daran anstossenden
Pfeilerpaare zu den Seiten des Mittelschiffes und das "Wenige, was vom
Chore vorhanden ist. Die Pfeiler an den Ecken von Chor und Quer-
schiff (50) haben hier eine ganz eigenthümliche Formation, indem an ihnen
^ auf jeder Seite drei Halbsäulen von gleicher Stärke

nebeneinander vortreten. Ich möchte diese dreimalige
Wiederholung schon als eine gewisse Ausartung des
Princips bezeichnen. An den Ecken von Querschiff und
Langschiff ist jedoch die Formation anders (51); es springt
hier nur Eine Halbsäule von bedeutender Stärke vor,
indem feine Säulchen von xintergeordnetem Verhältnlss
zu ihren Seiten angeordnet sind. Letztere sind, etwa
7 Fuss über dem Boden, durch Ringe umgürtet. Die
älteren Bogenstellungen des Schiffes sind im schweren
Spitzbogen gebildet, als dessen Träger auf jeder Seite

zwei nebeneinanderstehende
Halbsäulen aus den Pfeilern
vortreten; diese Halbsäulen
werden unter dem breiten
Bande des Spitzbogens in
derselben Gestalt, als Wul-
ste, emporgeführt; statt ei-
nes besonderen Kapitäls sind
Halbsäulen und Bogen nur

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691

Kirchlich« ArcliiteUtur. 1. Byzautiniselior Styl etc.

durch ein einfaches Glied in der .Form eines Rimdstabes gesondert. Die
an den Wänden des Querschiffes erhaltenen Fenster sind ebenfalls in dem
Spitzbogen des Uebergangsstyles überwölbt und durch Säalchen umfasst.
Oberwärts an den Aussenmauern des Querschiflfes, wo diese bis zu der
Dachhöhe erhalten sind, sieht man jenen rundbogigen Fries, der auch am
Giebelgesimse emporläuft. Die Neigung des Giebels ist steiler, als sie bei
byzantinischen Gebäuden gefunden wird.

Im Schilf sind, ausser jenen älteren Bogenstellungen, noch die Reste
achteckiger Pfeiler erhalten, welche das Mittelschiff von dem nördlichen
Seitensciiiff' trennten. Offenbar gehören sie einer beträchtlich späteren Bau-
periode an. (Wiederum in späterer Zeit sind sie durch Zwischenmauern
verbunden.) Gleichzeitig mit diesen Pfeilern scheint die westliche Giebel-
wand des Mittelschiffes zu sein, die noch hoch emporragt unä mit dem
weiten Fensterbogen des grossen gothischen Fensters, das in ihr sich
öff'net, den malerischen Eindruck der ganzen Ruine wesentlich verstärkt.

Die Einfassung dieses Fensters (52) ist in
einfacher, ausgebildet gothischer Weise
gestaltet. Zur linken Seite des Fensters
steigt ein Treppenthürmchen in die Höhe,
das mit bunten Fensterblenden und Ro-
settenverziernngen von glasirten Ziegeln
versehen ist; zur Rechten des Fensters
steht ein Strebepfeiler, der eine ähnliche,
doch minder reiche Decoration hat. Diese
späteren Theile der Kirche scheinen gegen
das Ende de^ vierzehnten Jahrhunderts"
erbaut zu sein. —
Vor der südlichen Wand des Querschiffes erstreckt sich sodann ein
Theil des alten Klosterbaues, ebenfalls eine Ruine. Man sieht dort ver-
schiedene Formen des Spitzbogens, zum Theil auch diejenige, die eben-
falls noch der früheren Entwickelungszeit angehören dürfte. —

Eine ähnliche Weise des Uebergangsstyles, wie an den älteren Theilen
der Kirche von Eldena, zeigt sich ferner an der Kirche von Lassan,
und zwar an dem Altarraume derselben, der die einfache Gestalt eines
Vierecks hat. Von dem (späteren) Schiffe wird der Altarraum durch wnen
breiten und schweren Spitzbogen getrennt. An seiner östlichen Wand be-
finden sich drei schmale spitzbogige Fenster, welche an der inneren wie
an der äusseren Seite mit Säulchen umfasst sind. Die Fenster stehen aber
so nahe nebeneinander, dass sie durch stärkere Halbsäulen, die zwischen
ihnen (zwischen den ebengenannten Säulchen eines und des andern Fen-
sters) vortreten und die ihre Hauptbögen tragen, zu Einer Gruppe verbun-
den werden (53). An der Aussenseite läuft über ihnen ein rundbogiger

Fries hin, und über diesem, im Gie-
bel, sieht man Gruppen ähnlich ge-
bildeter Fensterblenden. Diese ganze
östliche Wand gewährt für das Auge
einen wohlthuenden Eindruck. — Im
Inneren hat der Altarraum eine später
gothische . Ueberwölbung. Das Schiff
hat auf jeder Seite zwei einfache acht-
eckige Pfeiler, die die Seitenschiffe

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PomiHersehe Kunstgeschiclite.

vom Hauptraunie. sondern. Es ist ungewölbt. Ueber der Westseite erliebt
sich ein einfacher Thurm, dessen innere Halle, wie es bei den Gebäuden
des vierzehnten Jahrhunderts sehr häufig ist, mit dem Schifl' der Kirche in
Verbindung steht. Die Details der Portale an Schiff und Thurm (54. und
55.) entsprechen ebenfalls den Formen des vierzehnten Jahrhunderts. ■

Auch an dem, gleichfalls viereckigen Altarraume der Kirche des Dorfes
Reinberg, zwischen Greifswald und Stralsund, gewahrt man eine ver-
wandte Formenbildung. Besonders eigenthümlich ist das an der Nordseite
dieses Altarraumes befindliche Portal, das durch sechs nebeneinanderste-
hende kleine Halbsäulen gebildet wird (56.). Unter dem Dach des Altar-
raumes, als horizontale und neben
der Dachschräge emporlaufende Gie-
belzierde, findet sich auch hier der
rundbogige Fries. Die einfache Kirche
selbst ist von roher spätgothischer
Form. Neben ihr steht die bekannte
uralte Linde, die mindestens gewiss
nicht jünger ist als der Altarraum.

Endlich ist noch der Kirche des
Dorfes Vilmnitz auf Rögen (unfern
von Putbus) zu gedenken. Ein ein-
fach gothisches Gebäude, und ausser einigen Monumenten im Inneren (von
denen später) nur durch die malerische Lage auf der Anhöhe zwischen
Bäumen ausgezeichnet, bewahrt auch sie an ihrem viereckigen Altarraume
jenen rundbogigen Fries, der hier nicht minder die Reste einer frühen
Anlage erkennen lässt.

Peinige aus Feldsteinen gebaute Kirchen, die der Anlage nach sehr
einfach sind, haben bei ihren Ueberwölbungen die Form des dem Ueber-
gangsstyle angehörigen Spitzbogensj während dasjenige Element, welches
hei den zuletzt genannten Kirchen immer noch die bestimmte Nachwir-
kung byzantinischer Bauweise erkennen liess— der aus kleinen Halbkreis-
bögen zusammengesetzte Fries — bei ihnen nicht mehr gefunden wird.

Zu diesen gehört zunächst die Nikolaikirche von Päse walk. Sie
hat vollständig die Form eines einfachen, fast gleichschenkligen Kreuzes,
ursprünglich ohne Seitenschiffe und mit geradem Abschluss der Altarwand;
vor der westlichen Wand erhebt sich der Thurm. Die Seitenflügel des
Querschiffes werden von dem Hauptraume durch Schwibbogen in der

692

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Kirchlicbe Architektur. -1. Byzantinischer Styl etc. 693

schweren Spitzbogenform abgesondert; in derselben Form sind die, übri-
gens nicht kleinen Fenster überwölbt, ebenso das aus ein Paar einfachen
Pfeilerecken zusammengesetzte Portal des Thurmes. — In späterer Zeit ist
aber» mit dieser tCirche eine bedeutende Umwandlung vorgenommen. Im
Inneren sind auf jeder Seite drei Pfeiler hineingesetzt und hiedurch schmale
Seitenschiffe von -dem Hauptraume abgesondert, lieber diesen Pfeilern
steigt sodann ein ganz eigenthümliches spätgothisches Fächergewölbe mit

späten Anlage sind
dann auch die Giebel
des Querschiffes und
der Altarwand mit
buntem, sich durch-
kreuzendem und
durchschneidendem
Blendendwerk ver-
ziert. Ohne Zweifel
zu gleicher Zeit ha-
ben ferner die beiden
Portale des Querschif-
fes (57) ihre spätgothische, ziemlich manie-
rirt gebildete Gliederung erhalten. Endlich
dürfte auch der Oberbau des Thurmes, der
aus dem Viereck ins Achteck übergeht,
derselben Umwandlung des Baues angehö-
ren. Soviel ich zu urlheilen im Stande bin,
scheinen mir all diese Formen die letzten
Aeusserungen des mittelalterlichen Formen-
sinnes , d. h. die frühere Zeit des sech-
zehnten Jahrhunderts, zu bezeichnen').

Vielfache. Aehnlichkeit mit dem ebengenannten Gebäude hat die Ni-
kolaikirche zu Greiffenhagen. Auch sie hat die vollständige Kreuz-
form mit gerader Altarwand und den Thurm der Westseite vorgebaut;
nur lehnen sich hier an das erste Quadrat des Schiffes (vor dem Quer-
schiff) noch schmale Seitenschiffe an, die bereits zu der ursprünglichen
Anlage gehören. Bedeckt ist die Kirche mit einem der späteren Zeit an-
gehörigen Sterngewölbe; doch sind die grossen Schwibbogen in der Durch-
schneidung des Kreuzes noch in der ursprünglichen schweren Form er-
halten. Die Thür an der Nordselte des Querschiffes hat dieselbe Form,
ebenso auch die grossen thürartigen Blenden, die, in sehr eigenthümlicher
Anlage, am Unterbau des • Thurmes angebracht sind. Sonst ist freilich
auch an dieser Kirche viel verändert und umgebaut, so dass sie einen

') Mir ist später mitgetheilt worden, dass jene Umwandlung der Nikolai-
kirclie zu Pasewalk im Wesentlichen nicht der spätmittelalterlichen Zeit, sondern
einer modernen Restauration, etwa vom J. 1825 , angehöre. Ob überhaupt und
wie weit dies der Fall, bin ich gegenwärtig nachzuweisen ausser Stande. In Be-
treff der Gewölbgurte oder Kippen bemerkt mein Freund von Qnast, dass deren
auffällige Form lediglich durch dicken Kalküberzug bei der ge-
nannten modernen Restauration hervorgebracht und dass unter
diesem Ueberzuge noch ihre ursprüngliche Gestalt in Form
eines Rundstabes vorhanden sei, dem nebenstehenden Doppel-
profll (58.) entsprechend.

scharfen Graten (Gurte kann
man sie nicht mehr nennen,
da -sie sich nicht als ein

selbständiges architektoni-
sches Glied gestalten), empor.
Uebereinstimmend mit dieser

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Pommersche Kunstgeschichte.

ziemlich wüsten Eindruck gewährt. Die Fenster namentlich, die eine roh-
gothische Formation haben, gehören späteren Umänderungen an. — Der
Thurm steigt einfach viereckig in die Höhe, hat oberwärts einen olfenen
Umgang, und über diesem, zurücktretend, eine gemauerte achteckige
Spitze.

Ferner gehört hieher die Kirche von Bahn, deren Anlage jedoch ab-
weichend ist. Sie hat kein Querschlif. An den viereckigen Altarrautn
st(3sst unmittelbar das Schilf, dem sich zu den Seiten Nebenschilfe an-
schliessen. Letztere werden von jenem durch eine Pfeilerstellung von je
zwei rohen viereckigen Pfeilern mit entsprechenden schweren Spitzbögen
gesondert. Mittel- und Seitenschiffe waren auf gleiche Höhe berechnet
und in Verbindung mit ihnen die Halle des Thurmes auf der Westselte
angelegt. Auch soll die Kirche früher ein schönes, mit Malereien ge-
schmücktes Gewölbe gehabt haben. Dies fehlt jetzt, und die Decke der
Seitenschilfe ist beträchtlich niedriger angelegt. Im Altarraum sieht man
hohe, schmale Fenster von alter Form; die Thüren, besonders die aus
mehreren Pfeilerecken gebildete Thurmthür, haben ebenfalls den frühen
Spitzbogen; die Fenster der Seitenschifle haben rohe spätgothische Form.
Ueberhaupt ist das ganze Gebäude von roher, unerfreulicher Erscheinung
und wird, wenn es auch durch Brände sehr gelitten hat , ohne Zweifel
auch früher nicht eben von sonderlicher Bedeutung gewesen sein.

Auch einige, aus Feldstein gebaute Kirchen in der Gegend von Greif-
fenhagen und Bahn, die nur aus einem einfach oblongen Raum bestehen,
gehören in diese Kategorie, so namentlich die Kirche von Fiddichow.
Das Thurmportal dieser Kirche und zwei Portale auf der Südseite zeigen
die Form des frühen Spitzbogens. Die F'enster sind in moderner Zeit er-
neut. Die Kirche hat nur eine flache Decke. — Dann mehrere Dorfldr-
chen, unter denen mir besonders die von Lindow, eine Meile östlich
von Fiddichow, bemerkenswerth schien. Diese Kirche war vor einem Jahr
ausgebrannt, doch standen die Mauern noch, und die hohen und schmalen
Fenster der Seitenwände Hessen dieselbe alte Formation erkennen. —

Endlich sind, zum Schlüsse des gesammten Abschnittes, noch ein Paar
Kirchen zu erwähnen, die aber beide ebenfalls keine sonderliche Bedeu-
tung haben. Die eine ist die Kirche von Sagard auf Rügen. An ihr
ist entsetzlich viel durcheinander gebaut, verbaut und verschmiert, dass es
kaum möglich sein dürfte, aus ihrer gegenwärtigen Erscheinung die Ge-
schichte ihres Baues zu entwickeln. Bogenstellungen von kurzen vierecki-
gen Pfeilern, die durch schwere massige Spitzbögen verbunden werden,
trennen das Mittelschiff von den Seitenschilfen. Aber, was höchst befrem-
dend ist, die Bögen auf der Südseite sind höher, als die auf der Nord-
seite. Das Mittelschilf ist ursprünglich jedenfalls hoch gewesen, davon
sieht man noch deutliche Spuren; später ist dasselbe mit einem niedrigeren
gothischen Kreuzgewölbe überspannt worden. Das südliche Seitenschiff ist
so hoch wie das Mittelschiff, das nördliche ist niedriger. Der (ungewölbtp)
Chor gehört zur ursprünglichen Anlage; dann sieht man an ihm rohe Go-
thicismen aus späterer Zelt. Auch am Unterbau des Thurmes sieht man
die Form des frühen Spitzbogens; der einfache, schwere Oberbau ist später.
Am Aeusseren der Kirche findet man nur rohe spätgothische Formen.

Brüggemann: Beschreibung des K. Pr, Herzogth. Vor- und Hinter-Pom-
mern, II, S. 64,

694

l:

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Kirchliclie Architektur, 1. Byzantinischer Styl etc.

Die Kirche von Dammgarten erscheint ebenfalls meist roh und
mehrfach verbaut. Ihre Anlage ist einfach; sie besteht nur aus einem
oblongen, Schiffe ohne Pfeilerstellungen und aus einem quadraten Altar-
raume* Keides gegenwärtig ohne Ueberwölbung. An den vier Seiten des
Altarraumes treten vier grosse, starke Spitzbügen in jener frühen Form
hervor; zwischen ihnen sind an den drei Wandseiten die Mauern einge-
setzt, so dass es fast den Anschein gewinnt, als ob hier die Ueberreste
der Durchschneidung von Quer- und Langschiff eines grosseren Kirchen-
gebäudes vorhanden seien; auch finden sich in den Ecken zwischen diesen
Bögen die Ansätze eines früher vorhanden gewesenen Gewölbes. Im
Aeusseren des Altarraumes sieht man jedoch nur Eine ursprüngliche,
gleichmässige alte Wandfläche. Was hier an alter Fenstereinfassung sicht-
bar wird, hat ebenfalls frühe Form. Das Schiff ist roh gpthisch und ohne
. f—I ß^'i^utung; doch macht sich unter dem

^ 1_ J L, J L.^ Dach desselben ein Fries (59) bemerklich,

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—1 der dem an dem nördlichen Flügel der
Domkirche von Cammin ähnlich ist.

Wir haben bisher die kirchlichen Gebäude Pommerns betrachtet, an
denen die Elemente derjenigen architektonischen Systeme, welche dem
reinen gothischen Baustyl vorangehen, sichtbar wurden. Da die Gebäude
aber, was ihre einzelnen Theile betrifft, aus mannigfach verschiedenen
Bauperioden herrührten, so war es, ohne bedeutende Verwirrung in die
Darstellung zu bringen, nicht wohl möglich, sie genau nach den einzelnen
Entwickelungsstadien, somit in der chronologischen Folge der einzelnen
Theile, zu ordnen. Eine solche Anordnung jedoch ist nöthig, wenn man
den .Entwickelungsgang genauer beobachten und zu einer ungefähren Zeit-
bestimmung gelangen will. Die folgendij Uebersicht möge zu einer be-
stimmteren Anschauung dieser Verhältnisse dienen. Ich bemerke dabei
nur, dass die Gründe für die Stellung, die hier jedem Einzelnen gegeben
ist, in dem Vorigen enthalten sind; dass die hinzugefügten Jahrbestim-
mungen eben nur als ungefähre gelten sollen; dass in der Wirklichkeit
leicht kleine Abweichungen stattgefunden haben mögen, indem es sehr
wohl denkbar ist, dass an dem einen Orte die Schritte der Entwickelung
schneller vor sich gegangen sind, als an dem andern, — dass aber gleich-
wohl in dem allgemeinen Entwickelungsgange solche Stadien, somit auch
eine, den letzteren entsprechende Zeitfolge, mit einer gewissen Nothwen-
digkeit bedingt sind.
12, Jahrh. Nordportal der Domkirche von Canimin.
Um 1190. Die älteren Theile der Kirche von Bergen, als fester Aus-
gangspunkt für diese chronologischen Bestimmungen.

Der Altarraum der Kirche von Altenkirchen.
Um 1200. Das Querschiff und die zunächst anstossenden Theile der

Kirche von Colbatz. ^

Um 1210. Die älteren Theile am Chor und Querschiff der Domkirche
von Cammin (mit Ausschluss des vorgenannten Portales).

Die alten Theile der Kirche von Loitz.

Die Kirche von Tribohm.

695

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96 Pommersche Kunstgeschiclite.

Um 1220. Die späteren Theile am Clior und Qiierschiff der Domkirche
von Cammin.

Uni 1230. Die älteren Thoile der Kirche von Eldena.

Die älteren Theile der Kirchen von Lassan, Reinberg,
Vilmnitz.

Um 1240. Die Haupttheile des Schiffes der Kirche von Colbatz. ^

Die Nikolaikirchen von Pasewalk und Greiffenhagen in ihrer
ursprünglichen Anlage. Die Kirchen von Balin, Fiddi-
chovv, Lindow. Das Schiff der Kirche von,, Altenkirchen.
Die älteren Theile der Kirchen von Sagard und Damm-
garten.

Um 1250. Die oberen Theile an der Südwand des Schiffes der Kirche
von Colbatz, vielleicht auch deren M'estliche Giebelwand.

Es ist möglich, dass in dieser Uebersicht die Zeitabschnitte etwas zu
kurz angenommen sind, dass somit (auch abgesehen von den oben berührten
Schwankungen) die zuletzt genaimten Gebäude und Bautheile schon mehr
in die zweite Hälfte des dreizehnten Jahrhunderts hinabreichen. Das Um-
gekehrte aber ist auf keine Weise wahrscheinlich. Wir werden somit, da
uns an den zuletztgenannten Theilen der .Kirche von Colbatz die ersten
Elemente des eigentlichen , rein gothischen Baustyles — hier aber noch
immer in grosser Strenge — entgegentreten, die Gebäude, welche das
Gepräge der vollkommenen Ausbildung des gothischen Baustyles in dem
ersten Stadium seiner Entwickelung an f'ich tragen, in keine frühere Zeit
als in die zweite Hälfte des dreizehnten Jahrhunderts und spätestens etwa
in den Beginn des folgenden setzen können In eine spätere Zeit dürfen
wir sie nicht hinabrücken, da schon mit den ersten Decennien des vier-
zehnten Jahrhunderts sich andre Motive der Entwickelung des gothischen
Baustyles über ganz Pommern verbreiten. Zu diesen Bauwerken gehört,

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') Was sich hier durch unabhängige Betrachtung und Vergleichung der
pommerschen Gebäude unter einander lierausstellt, stimmt vollkommen mit dem
übereiu, was anderweitig über die Entwickelung des gothisciien Baustyles in
deutschen Landen fessteht. Soweit wir sichere Beispiele haben, beginnt diese
selbständige Entwickelung fast überall erst um die Mitte des dreizehnten Jahr-
hunderts. Als eins der sichersten Beispiele ist namentlich, soviel mir bekannt,
der Chor der Kirche von Schulpforte anzuführen, welcher, zu Folge einer, au
seinem Unterbau befindlichen Inschrift, im Jahr 1251 gegründet und urkundlich
(ohne Zweifel mit ilinschluss des im Schiff erfolgten Umbaues) im J. 1268 ein-
geweiht wurde. Dieser Chor aber trägt durchaus das Gepräge der ersten Ent-
wickelung des gothischen Styles, sogar noch mit gewissen Reminiscenzen an den
Uebergangsstyl. Vergl. Dr. L. Puttrich: Schulpforte, seine Kirche und sonstigen
Alterthümer; — und meine Aufsätze im Museum, Blätter f. bild. Kunst, 1834,
No. 20, oben, S. 173) und in den Hallischen Jahrbüchern,, 18.39, No. 68 (in
Bd II. der Kl. Schriften). — (Vgl. ferner den vortreiflichen Aufsatz von v. Quast
,,Zur Charakteristik des .älteren Ziegelbaues in der Mark Brandenburg, mit be-
sonderer Rücksicht auf die Klosterkirche zu Jerichow", im deutschen Kunstblatt,
1850, No. 29 — 31. Hierin werden auch einige der oben aufgeführten Kirchen,
namentlich die von Colbatz, besprochen. Wenn v. Quast die Daten etwas weiter
hillabrückt, so habe ich im Allgemeinen um so weniger etwas dagegen, als
im Obigen auch schon von mir ein mögliches Erforderuiss der Art angenommen,
sowie zugleich auf die nicht unbedingte Gleichartigkeit des Fortschreitens der
Entwickelung hingedeutet war.)

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Kirchliche Architektur 2. Gothiseber Styl der 2. Hälfte des 13. Jahrh. 697

unter den bisher besprochenen, das Schiff der Domkirche von Cammin;
einige'andre Kirchen, zu denen wir uns im Folgenden wenden, reihen
sich ihr an. -

'^Diejenigen Bautheile der bisher besprochenen Gebäude, die in das
vierzehnte, fünfzehnte oder sechzehnte Jahrhundert fallen , werden sich,
sofern^ sie überhaupt nähere Beachtung verdienen, später an passender
Stelle aufs Neue einreihen lassen.

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2. Gothischer Styl der zweiten Hälfte des dreizehnten Jahrhunderts.

Die kirchlichen Gebäude, die, nebst dem Schiff der Domkirchc
von Ö am min, in die zweite Hälfte des dreizehnten Jahrhunderts fallen,
tragen, wie bemerkt, das vollständige Gepräge des gothischen Baustyles:
in der Anwendung der Strebepfeiler, in dem mit diesen und mit der
ganzen Gewölbeinrichtung tibereinstimmenden, eckig gebrochenen Schluss
der Altärnische (falls nicht statt deren ausnahmsweise eine gerade Wand
erscheint), in der Einführung grosser weiter Fensteröffnungen und in der
gesamrnten Formation der architektonischen Details. Zugleich findet sich
bei diesen Kirchen zuerst eine eigenthümliche Ausdehnung der räumlichen
Dimension, indem die Seitenschiffe gleiche Höhe mit dem Mittelschiff ge-
winnen. Es sind vorzugsweise städtische Kirchen, die uns jetzt in
dieser Weise entgegentreten, während die bedeutenderen der bisher be-
trachteten Gebäude, als Kloster- oder Stiftskirchen, vorzugsweise der Geist-
lichkeit angehörten und die städtischen Kirchen durchweg so wenig durch
räumliche Ausdehnutig wie durch architektonische Ausbildung sich aus-
zeichneten: Der Grund dieser Erscheinung liegt in den allgemeinen ge-
schichtlichen Verhältnissen klar ausgesprochen. Denn da die Gründung
deutscher Gemeinwesen in Pommern (durch die eben Pommern aufs Neue
zu einem deutschen Lande und der Entwickelung germanischer Cultur theil-
haftig gemacht wurde) erst mit der späteren Zeit des zwölften Jahrhunderts
beginnt, da sie erst im weiteren Verlauf des dreizehnten Jahrhunderts sich
festsetzen und eigenthümlich ausbilden konnten, so ist es natürlich, dass
sie nicht eben früher als- in der späteren Hälfte dieses Jahrhunderts
das Bedürfniss empfanden und die Mittel zur Hand hatten, ihren
Städten durch emporragende Kifchenbauten dasjenige Gepräge der Würde
zu geben, nach welchem der edle Sinn des mittelalterlichen Bürgorthums
fort und fort strebte.' Ja, es würde auffallend sein, in dieser Zeit schon
so grossartigen Gebäuden, wie z. B. der Marienkirche von Pasewalk (vergl.
unten) zu begegnen, wüssten wir nicht, wie schnell und mächtig die pom-
merschen Städte sich, nachdem sie einmal eine feste Stellung gewonnen,
zu ihrer Entwickelung emporgerungen haben.

Zunächst dürfte unter den Gebäuden dieser Zeit die Marienkirche
von An dam in Betracht kommen, oder vielmehr die in Ihr vorhandenen
älteren Theile, indem die grössere Masse des Baues, wie dieser gegenwärtig
erscheint, auch hier wiederum späteren Zeiten angehört. Die Kirche ist ein

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698 Pommersche Kunstgeschiclite.

grosses, weites Gebäude,
Mittelschilf und Seiten-
schiffe gleich hoch. Es
zerfällt in zwei Haupt-
theile, indem die west-
liche Hälfte durch Pfei-
lerstellungen von fünf
achteckigen Pfeilern auf
jeder Seite gebildet
wird, während in der
östlichenHälfte ungleich
breitere Pfeiler zur
Scheidung des Mittel-
schiffes von den Sei-
tenschiffen angeordnet
sind (60.). Diese östli-
chen Pfeilerstellungen
erscheinen eigentlich
nur als durchbrochene
Wände, und sie sind
es in der That. Sie bildeten ursprünglich die Seitenwände der Kirche.
Noch treten an ihren Aussenflächen (die jetzt den Seitenschiffen zugekehrt
sind) Strebepfeiler hervor; noch sieht man an ihren inneren Seiten die An-
sätze eines weitgesprengten spitzbogigen Gewölbes, welche den Formen
einer früheren Zeit entsprechen, während die Gewölbe, die sich gegenwär-
tig über diesem Bautheile liinziehen, mit den übrigen Theilen der Kirche

übereinstimmen; noch ist selbst das Por-
tal dieses alten Baurestes, welches gegen-
wärtig in das südliche Seitenschiff führt,
erhalten. Die Gliederung dieses Portals (61.)
ist besonders charakteristisch für die erste
schöne Entwickelungszeit des gothischen
Baustyles; sieben Halbsäulchen, durch tiefe
Einkehlungen von einander gesondert,
springen an seinen Seitenwänden hervor
und tragen den ähnlich reich gebildeten
Spitzbogen; sie haben eigenthümliche Ka-
pitälchen, die aber so verschmiert und ver-
dorben sind, dass ihre Formation nicht mehr deutlich zu erkennen war.
Atich sonst scheinen die Einzelheiten dieses alten Bautheiles in ähn-
lich feiner Weise gebildet gewesen zu sein. — Die ostwärts vorhanden
gewesene Verbindung dieser Wände, deren Ansätze man noch sieht, ist

weggebrochen und das Kirchenschiff auch hier noch
weitergeführt, indem auf jeder Seite noch eine
Rundsäule gesetzt ist. Dann folgt der gerade Ab-
schluss des Altarraumes, in dessen Fläche sich ein
grosses Fenster öffnet. Für den Eindruck des
Aeusseren ist aber hier der im Gothischen gewöhn-
liche dreiseitige Abschluss insofern angedeutet, als
man die Seitenschiffe schräg abgeschnitten hat. Die
Pfeiler im westliHien Theil der Kirche (62.) sind

{V XI

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Kirchliche Architektur. 2. Gotbischer Styl der 2. Hälfte des 13. Jahrh. 699

von einfacher Form, doch springen auf ihren acht Ecken eckige Stäbchen
vor, welche bis zum Ansätze der Schwibbogen, die die Pfeilerstellungen in
der Flucht des Kirchenschiffes verbinden, emporlaufen; ganz in derselben
Weise sind auch diese Schwibbogen gebildet. An den schrägen Flächen
der letztern sieht man die Spuren gemalter gotbischer Rosetten; auch an
den Pfeilern scheinen Farbenspuren durch die weisse Tünche vorzu-
schimmern. Eigenthümlich ist es, dass an der Südseite die Strebe-
pfeiler nach dem Inneren der Kirche vortreten und somit kapellenartige
Räume zwischen sich einschliessen, während an der Nordseite die Strebe-
pfeiler frei nach Aussen hinaustreten. All diese späteren Theile der Kirche,
somit den gesammten mit ihr vorgenommenen Umbau, dürfte man am besten,
wie es scheint, der späteren Zeit des vierzehnten Jahrhunderts zuschreiben.
— Noch jünger erscheint der Thurm der Kirche.' Dieser erhebt sich, in
einfach viereckiger Gestalt, in mehreren Geschossen rohe Fensterblenden
enthaltend, vor dem sMlichen Theile der Westwand; ihm entsprechend
sollte ein zweiter Thurm auf der Nordseite, wo jetzt rohe kapellenartige
Vorbauten aus der spätesten Zeit des Mittelalters stehen, aufgeführt wer-
den. (Oder ist ein solcher zweiter Thurm vielleicht wirklich vörhanden
gewesen und früh zerstört worden?) Interessant ist es übrigens, dass auch
die Giebel über den vier Wänden des Thurmes erhalten sind, über denen
sodann sich eine schlanke Spitze erhebt.

Ein sehr zierliches Portal, dem an den alten Bautheilen der Marien-
kirche von Anclam entsprechend, somit gewiss aus derselben Periode, be-
merkte ich aji der Kirche des Dorfes Hohen-Mocker, zwischen Demmin
und Treptow a. d. T. belegen. Das Aeussere dieser Kirche erschien gothisch
modernisirt. —

Als ein vollständig erhaltenes Kirchengebäude aus der zweiten Hälfte
des dreizehnten Jahrhunderts dürfte die Katharinen-Klosterkirche
in Stralsund zu betrachten sein. Doch kann ich über-sie nur allgemeine
Andeutungen geben, indem ihre Untersuchung durch ihre gegenwärtige Be-
stimmung — sie dient als Arsenal und ist im Innern verbaut — sehr er-
schwert wird. Das Mittelschiff wird von den gleich hohen Seitenschiffen
durch Pfeilerstellungen von je 7, theils runden, theils achteckigen Pfeilern
getrennt. Der Chor verlängert sich in der Breite des Mittelschiffes und hat
einen mehreckigen Schluss. An den Halbsäulchen, die im Chore als die
Träger der Gewölbgurten emporlaufen, bemerkte ich gothische Blätterkapi-
täle, die in den pommerschen Kirchen des vierzehnten Jahrhunderts nicht
weiter vorkommen, wie auch die Rundforra der Pfeiler im Langschiff hier
nur dem dreizehnten Jahrhundert eigenthümlich zu sein scheint. Eine alte
Nachricht bestimmt für den Anfang des Baues dieser Kirche das Jahr 1251,
für ihre Vollendung und den Beginn des Gottesdienstes in ihr das Jahr
1317*). — Die neben der Kirche belegenen Klostergebäude gehören
einer späteren Zeit an. Sie bestehen aus einer Reihe heiterer Räume, die

I

1

') Nachrichten über die Stralsundischen Kirchen. (Aus einem alten Manu-
script unter den Charisianis auf der hiesigen Rathsbibliothek.) Mitgetheilt tu der
Sundine, 1835, Nro. 92, S. 367. — Ein Grundriss der Kirche, nebst dem der
austossenden Klostergebäude, findet sich in dem „Ersten Beitrage zur Geschichte
des Stralsunder Gymnasiums"; doch ist zu bemerken, dass dort die sämratlicheii
Pfeiler der Kirche fälschlich in runder Form und, nicht minder unrichtig, der
Chorschluss in seiner Hauptform als Halbkreis erscheinen.

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K«'

700

Pommersche Kunstgeschichte.

sich, sehr wohlgeordnet, um zwei Höfe gruppiren. Es sind grössere und
kleinere Säle, Zimmer und Corridore, theils mit Kreuzgewölben, theils mit
sehr zierlichen Sterngewölben überspannt, die in den grössern Räumen von
einzeln oder in Reihen gestellten schlanken Säulen getragen werden. Letz-
tere haben eine achteckige Gestalt und sind aas grauem Kalkstein (soge-
nanntem schwedischem Stein) gebildet. Ihre Kapitale und Basen gehen in
einer kelchartigen Form, durch schräge Abschnitte auf den Ecken, aus dem
Achteck in die viereckige Deck- und Fnssplatte über. Sämmtliche Räume
dürften der späteren Zeit des vierzehnten Jahrhunderts, oder, was mir
noch wahrscheinlicher ist, dem fünfzehnten Jahrhundert angehören. Sie
sind gegenwärtig dem Gymnasium, zum Theil auch dem städtischen Wai-
senhause überwiesen und fast sämmtlich wohl erhalten. Nur der eine der
zierlichsten Säle ist durch eine Mauer in zwei Theile (gegenwärtig die
Classen Prima und Sekunda des Gymnasiums enthaltend)' getrennt; und
nur der grösste durch zwei Reihen von Säulen ausgefüllte Saal ist für die
Zwecke des Waisenhauses verbaut. —

Der späteren Zeit des dreizehnten Jahrhunderts gehört ferner die Ja-
kohikirche zu Greifswald an. Ihre Anlage ist der der vorgenannten
Kirche ähnlich. Hier sind es je 4 runde (nicht mit achteckigen wechselnde)
Pfeiler, welche die Seitenschiffe vom Mittelschiff sondern, und dem letzte-
ren ist auf der Westseite ein viereckiger Thurm vorgebaut. Den Pfeilern
des Schiffes, die mit einfachen Deckgesimsen versehen sind, correspondiren
die an den Seitenwänden vortretenden Gurtträger des Gewölbes (63.), die
aus schmalen Pilastern mit Halbsäulchen an der Vorderfläche und auf den

'rt

Ecken bestehen; die Gurfträger im Chor (64.) bestehen aus einem dickeren
Bündel stärkerer und schwächerer Halbsäulchen. Diese Formen, nament-
lich die der Gurtträger des Schiffes, entsprechen wiederum der ersten Aus-
bildung des gothischen Styles. Die Gewölbe der Kirche rühren aus späte-
rer Zeit her, wie sich deutlich insbesondere daraus ergiebt, dass an jenen
Gurtträgern des Schiffes die drei Hauptsäulchen (deren jede auf einen der
drei Gurte des Kreuzgewölbes berechnet ist) etwas unter dem Ansatz des
Gewölbes abbrechen und dass dessen Gurte sodann einzig von dem Pila-
ster getragen werden. Doch ist eine Besonderheit in der Einrichtung des
Gewölbes ohne Zweifel der ursprünglichen Anlage zuzuschreiben. Wäh-
rend nämlich im Allgemeinen bei Kirchen, deren Seitenschiffe dem Mittel-
schiff an Höhe gleich sind, durchgehend aber bei denen des vierzehnten
Jahrhunderts, starke in der Regel reich gegliederte Schwibbögen von Pfei-
ler zu Pfeiler (in der Flucht des Langschiffes) geschlagen sind, so ist dies
hier nicht der Fall; die Pfeiler werden auch in dieser Richtung nur durch
Gurte verbunden, welche den übrigen Kreuzgurten des Gewölbes ganz ent-
sprechend sind. Unbedenklich würden aber, wären solche Schwibbogen
bei der ersten Anlage der Kirche aufgeführt worden, sich diese oder we-
nigstens einzelne von ihnen erhalten haben, wie es sonst überall, selbst bei
Kirchen, über die eine mehrfache Zerstörung des Gewölbes hingegangen.

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Kirchliche Architektur, 2. Gothischer Styl der 2, Hälfte des 13. J(»hrh. 701

der Fall ist. Es scheint, dass man demnach auch diese Einrichtung als
ein Zeugniss für die in Anspruch genommene Bauperiode (in der eine
Uebereinstimmung in der Bauanlage der Kirchen sich noch nicht ausgebil-
det haben konnte) zu betrachten hat. Ich weiss leider nicht, ob dieselbe
Einrichtung sich nicht vielleicht auch an der Katharinenkirche von Stral-
sund zeigt. — Der Thurm der Kirche steigt in einfach viereckiger Masse
empor, in mehreren Geschossen, die mit ziemlich einfach gebildeten Fen-
sterblenden versehen sind. Doch zeigt sich an ihm schon ein besonderer
Schmuck, sofern die Abtheilungen der Geschosse aus breiten Streifen
schwarzglasirter Steine, reich zusammengesetzte Rosettenformen bildend, be-
stehen. Eigenthümlich und
wiederum charakteristisch für
das dreizehnte Jahrhundert ist
das Portal des Thurmes. Die
Seitenwände und der Bogen
desselben sind reich geglie-
dert, doch haben diese Gliede-
rungen (65.) noch eine sehr ein-
fach wiederkehrende Grund-
form , indem eine Art von Halbsäulchen,
dnrchEinkehlungen getrennt, dreizehnmal auf
jeder Seite vorspringen. (Doch sind es nicht
mehr eigentliche Halbsäulchen; sie haben im
Durchschnitt vielmehr schon das birnenför-
mige Profil, welches von der Form der go-
thischen Bogengliedevung entnommen, an den mannigfaltiger zusammenge-
setzten Portalen des vierzehnten und folgenden Jahrhunderts vorherrschend
ist.) Die Steine, aus welchen diese Gliederi^ng des Portales zusammenge-
setzt ist, wechseln in rother und schwarzer Farbe; nicht aber — wie es
im vierzehnten Jahrhundert durchaus vorherrschend ist r- in horizontalen
Ijagen, welche die Formen, unästhetischer Weise, durchschneiden, sondern

nach richtigerem Gefühle vertikal, so dass
immer eio Säulchen roth, das andere schwarz
ist. Zugleich haben die Säulchen erne eigne
durchlaufende Kapitälverzierung (66.), welche
von Sandstein gearbeitet und mit grossen
Weinbläitern geschmückt ist. Auch diese Ein-
richtung, die Kapitäle aus anderem Material
als dem Backstein zu arbeiten, gehört der
früheren Zeit des Backsteinbaues an, während
dies s'päter nur ganz ausnahmsweise der Fall
ist und in der Regel gar keine Kapitäle mehr
erscheinen. —

Auch die Marienkirche von Greifs-
wald gehört dieser Bauperiode an, wenn sie
auch, bei reicherer Durchbildung ihrer Theile, als eine der letzten, somit
etwa dem Schlüsse des dreizehnten Jahrhunderts angehörig, betrachtet
werden dürfte. Ihrer Gründung nach ist die Marienkirche die älteste der
Stadt; sie wurde in der früheren Zeit des dreizehnten Jahrhunderts, von
Seiten des Klosters Eldena, als,eine Feldkirche angelegt und ungefähr im
Jahr 1233 vollendet; die vielbesuchten Messen, die in ihr gehalten wurden,

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702

Pommersche Kunstgesöhrehte. . .

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gaben den Anlass zur Aufführung anderer Gebäude um sie her, aus denen
die Stadt Greifswald erwuchs -Als eine Feldkirche hatte sie jedoch
ohne Zweifel keine bedeutende Ausdehnung, so dass, schon ans diesem
Grunde, die gegenwärtig vorhandene Kirche nicht von jener frühsten An-
lage herrühren kann; da aber Greifswald sich in grosser Schnelligkeit zu
einer bedeutenden Stadt -ausdehnte, so scheint es natürlich, dass man auch
nach nicht gar langör Zeit an die Stelle des kleineren Gebäudes ein grös-
seres, den gesteigerten Bedürfnissen entsprechendes setzte. — Die Kirche
ist zunächst insofern von der Jakobikirche verschieden, als sie keinen Chor
hat, und Mittel- und Seitenschiife auf der Ostseite durch eine gerad durch-
laufende "Wand mit grossen Eensteröfl'nungen begrenzt werden. Die abwei-
chende Anlage, die sie auf der Westseite hat, ist durch eine spätere Ver-
änderung hervorgebracht" .'Die Pfeiler des Innern, 4 auf jeder Seite, haben
nicht die Rundform, sondern sind auf verschiedenartige Weise gebildet,
und zwar so, dass stets das* Paar der einander gegenüberstehenden Pfeiler
einander entspricht. So ist das erste Pfeilerpaar (67.) achteckig, aber mit
feinen Halbsäulchen, welche in die Ecken eingelassen sind; das zweite
Paar (68.), in der Grundform ebenfalls achteckig, verwandelt diese Form

U

in eine eigenthümliche Zusammensetzung von Halbsäulen; das dritte (69.) ist
aus acht Halbsäulen und acht scharfen Pfeilerecken zusammengesetzt; das
vierte Paar (70.) ist von viereckiger Grundform mit starken Halbsäulen,
die aus den vier Seitenflächen heraustreten. Nach meiner Ansicht deutet
schon diese verschiedenartige Bildungsweise darauf hin, dass die Kirche
eher gebaut ist, als die geregelten Systeme des vierzehnten Jahrhun-
derts sich festgesetzt hatten. Die Pfeiler sind durch Schwibbogen in der
Flucht des Schiffes verbunden. Die Gewölbe sind später, indem der
Ansatz ihrer Gurte über den Seitenschiffen wiederum zu den Gurtträgern
nicht passt; vielmehr stehen die letzteren, wie in der Jakobikirche, in

4k. i'
i

') Vergl. Gesterding, Beitrag zur Geschichte der Stadt Greifswald, S. 2.

A

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Kirchliche Architektur. 2. Gothischer Styl der 2. Hälfte des 13. Jahrh. 703

grösserer Stärke vor. Im Uebrigen zeichnet sich das Innere der Marien-
kirche durch ansprechend weite und hohe Verhältnisse aus. — An der Süd-
seite der Kirche sind zwei Portale (das
eine derselben innerhalb einer später vor-
gebauten Kapelle), deren Gliederungen (71.)
nach ähnlichem Princip, nur feiner und
leichter gebildet sind, wie die des Thurm-
portals der Jakobikirche; auch bei ihnen
haben die durchlaufenden Kämpfergesimse
besondere Blattverzierungen. Der Thurm
springt auf der Westseite der Kirche frei
vor; die hier befindlichen Nebenräume
sind später. Das Portal an der Vorder-
seite des Tliurmes (72.) ist ziemlich einfach gebil-
det 5 dasjenige hingegen, welches aus dem Thurm
in die Kirche führt, ist von sehr reicher Formation
(den Thüren auf der Südseite verwandt); die an
letzterem befindlichen Halbsäulchen haben reich
verzierte Kapitale, mit phantastischen Thierflguren
u. dgl., die aber sehr verschmiert und verdorben
sind. All diese Portalbildungen sind wiederum
noch charakteristisch für das dreizehnte Jahrhun-
dert. Im Thurm selbst gestaltet sich zwischen bei-
den Portalen eine ansprechende kleine Vorhalle,
deren Seitenwände mit zierlich gothischen Bogen-
stellungen geschmückt sind; aber auch diese sind
zum Theil sehr verdorben. Der Thurm steigt in einfach viereckiger Masse
empor; an seinem oberen Geschosse ist er mit Fensterblenden versehen,
die bereits etwas reicher als die am Thurm der Jakobikirche gebildet und
mit schwarzglasirten Rosetten geschmückt sind. — Eine wesentliche Ver-
änderung im Verhältniss des Thurmes zur Kirche ist, etwa hundert Jahr
nach Erbauung der letzteren, dadurch hervorgebracht worden, dass man,
die frühere Einrichtung auf eine, zum Theil unharmonische Weise ver-
ändernd, die Seitenschiffe der Kirche bis an die Westwand des Thurmes

hinausgeführt und sodann der ganzen
Westseite eine niedrige, mit dem Thurm
und mit den Seitenschiffen zusammen-
hängende Vorhalle vorgebaut hat. Die
Formen, die an diesen neueren Theilen
erscheinen, tragen den Charakter der
spätgothlschen Kunst. Zierlicher ist die
Kapelle, welche dein Hauptportal der
Südseite vorgebaut ist (73.). Sie erscheint
im Innern ziemlich geräumig und hat,
auffallender Weise, an ihrer Ostseite zwei
nebeneinander gestellte, fünfseitig ge-
schlossene Alsarnischen (eine Einrich-
tung , die übrigens durch besondere liturgische Bedürfnisse veranlasst sein
könnte)! In der Mitte ist die Kapelle durch ein einfaches, länglich schma-
les Kreuzgewölbe überspannt; aus Veranlassung jener Nischen aber ver-
bindet sich mit diesem ein eigenthümlich zusammengesetztes sternartiges

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1

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V

704

PommerscUe Kunstgeschichte,

Gewölbe. Das Portal, welches von
aussen in die Kapelle führt, hat eine
reiche, aber schon inauierirte Glie-
derung (74.); an den Strebepfeilern
im Aeusseren der Kapelle (75.) sind
die Ecken oberwärts durch Rund-
stäbe gebildet, was einen vortreffli-
chen Eindruck hervorbringt; leider
nur sind die freien Thürmchen über
diesen Strebepfeilern, wie fast über-
all, nicht rnehr vorhanden. Anlage
und Ausbildung der Kapelle schei-
nen der späteren Zeit des fünfzehnten Jahrhunderts zu
entsprechen; sie dürfte den feineren Architekturen dieser
Zeit als eins der interessantesten Beispiele zuzuzählen sein.

Endlich muss den Kirchen des dreizehnten Jahrhun-
derts noch die Marienkirche von Pasewalk zuge-
zählt werden, ein Gebäude, ,welches rücksichtlich der
schönen freien Verhältnisse seines Inneren und rücksicht-
lich der darin durchgeführten edeln, gesetzmässig orga-
nischen und klaren Formenbildung als eins der schönsten
Denkmale des pommerschen Mittelalters zu betrachten ist. Leider nur hat die
Kirche, wie ich gleich von vornherein bemerken muss, durch die Verwüstung,
die über Pasewalk im siebzehnten Jahrhundert hingegangen, manche Be-
schädigungenerlitten, indem die, dem Pfeilerbau ursprünglich entsprechenden
gothischen Gewölbe fehlen , (statt deren eine moderne Einwölbung, etwa
aus dem Ende des siebzehnten Jahrhunderts erscheint), und indem nicht min-
der auch von den schönen Details dieser Pfeiler Vieles zerstört ist — Die
Kirche ist, wie es scheint, schon in der ersten Hälfte oder etwa um die Milte
des dreizehnten Jahrhunderts begonnen worden. Am Unterbau des Thurmes
nämlich, der wiederum in der Breite des Mittelschiff^ vortritt und dessen
ganze untere Hälfte sehr massiv aus Feldsteinen erbaut ist, sieht man ein,
ebenfalls aus Feldsteinquadern gebildetes Portal in der Form jenes alter-
thümlich schweren Spitzbogens, einfach nur durch vier breite Pfeilerecken
gebildet. Auch der Unterbau der Giebelmauern der Seitenschiffe besteht
aus Feldstein Alles üebrige hingegen scheint wesentlich aus Einem Gusse
zu sein. — Ein geräumiges Mittelschiff, dem sich zwei Seitenschiffe von
gleicher Höhe anschliessen, bildet auch hier das Innere der Kirche; sehr
eigenthümlich aber ist die Einrichtung des Chorschlusses, indem nicht bloss
das Mittelschiff" jenen mehrseitig gebrochenen Schluss hat, sondern auch
jedes Seitenschiff in ähnlicher Weise ausgeht, aber in so reicher Entwicke-
lung der Form, dass ihre Nischen, fast wie gesonderte Kapellen, über die
Seitenwände der Kirche hinaustreten. Ich weiss nicht, ob man nicht wie-
derum auch dies Motiv (wie die Pfeilerbildung in der Marienkirche zu
GreifswaldJ als charakteristisch für eine Anlage, die den mehr geregelten,
aber auch mehr nüchternen Bauten des vierzehnten Jahrhunderts vorangeht,

') Wie ich (1852) höre, ist die Marienkirche zu Pasewalk neuerlich einer
umfassenden Restauration unterzogen ^worden. Der Thurm ist dabei mit einer
massiven achteckigen Spitze versehen. ; Zugleich aber sollen bei dieser Gelegen-
heit die unten erwähnten merkwürdigeji Treppenthürme zu den Seiten des Chores
wesentlich verändert worden sein.

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Kirchliche Architektur. 2. Gothischer Styl des 13, Jahrhunderts. 705

bezeichnen muss. Vortrefflich ist hier die (durchweg gleichmässige) Bildung
der Pfeiler (76.). Sie sind in der Hauptform achteckig; an den Ecken aber

treten gedoppelte feine Halbsäulchen vor, welche dem Ganzen der Pfeiler-
masse ein regeres Leben geben; ganz in ähnlicher Weise sind dann auch
die Schwibbögen gebildet, welche die Pfeilerreihen verbinden. (Die ein-
fach schrägen Flächen dieser Bögen waren vielleicht mit gemalten Orna^
menten versehen.) Die den Schiifräumen zugewandten Seiten der Pfeiler
sind etwas breiter; an ihnen laufen stärkere Halb- oder richtiger Dreivier-
telsäulchen, zum Tragen der Gewölbgurte bestimmt, in die Höhe; diese,
sowie auch jene kleineren Halbsäulchen, sind mit gothischen Kapitalen in
der Kelchform, doch ohne Blätterschmuck, versehen (77.). Den Pfeilern
correspondirend treten an den Seitenwänden der Kirche Wandpfeiler (78,

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Pommersclie KuiistgescLichte.

— eigentlich die Kücktlieile der in ihrer Hauptmasse nach aussen gewand-
ten Strebepfeiler) vor, in deren Ecken feine Halbsäulchen eingelassen sind
und an denen ebenfalls Dreiviertelsäulen als Gurtträger einporlaufen. Im
Chor sind die letzteren in gewisser Höhe durch einen Ring umfasst, eine
Form, die, wie in spätbyzantinischer Zeit und in der des Uebergangsstyles,
nur in der früheren Entwickelungsperiode des Gothischen gefunden wird.
Diese Ringe vornehmlich, zugleich aber auch die Anwendung der reinen
einfachen Säulenform als Gurtträger und die selbständige Kapitälform der

letzteren, bezeichnen mit Bestimmtheit die
Periode, der das Gebäude angehört. Die er-
wähnten "Wandpfeiler schliessen spitzbogige
Nischen ein, innerhalb derer die hohen go-
thischen Fenster angebracht sind (79.). Unter
den Fenstern läuft (die Wandpfeiler durch-
brechend) ein erhöhter Umgang umher, der
von einer doppelten Bogenstellung, im Ein-
schluss jeder Nische, getragen wird; im Chor
sind diese Bogenstellungen durch zierliche
Gliederungen (80.) einge-
fasst. Diese ganze An-
ordnung belebt das In-
nere der Seitenwände auf
eine sehr ansprechende
Weise. — Zwei Portale
auf der Südseite sind

70G

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reich gegliedert, doch den im Inneren der
Kirche angewandten einfachen Detailformen

entsprechend. An dem einen Portal (81.) ist zwi-
schen den Gliedern ein breites Band angeordnet,
auf dem man die Reste einer gemalten gothischen
Blätterverzierung sieht. Die Umfassungen der
Fenster (82.) sind einfacher, aber harmonisch mit
den Formen dieser Portale gebildet. Ein Portal

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Kirchliche Architektur. 3. Gothischer Styl des 14. Jahrhunderts. ' 707

auf der Nordseite dagegen ist in
seinen Gliedern bunter gestaltet
und willktlrlicher zusammenge-
setzt (83.) zugleich sind die Stane
roher geformt und minder sorg-
fältig gemauert, als es an den
südlichen Portalen der Fall ist,
so dass man dasselbe als eine
spätere Erneuerung, nicht aber
als ein Merkzeichen für den Styl
und die Zeit der Gesammtanlage,
betrachten muss. —^Ueber den
Strebepfeilern, die an den Giebelecken der
Seitenschiffe stehen, erheben sich zierlich
gothische Thürmchen; doch rühren sie, wie
sie gegenwärtig erscheinen, aus späterer
Zeit her; auch ist die Maurerarbeit an
ihnen wiederum minder sorgfältig, als an
dem übrigen Bau. Zwei Treppenthürme
dagegen, die zu den Seiten jener reichge-
formten Altarnischen der Seitenschiffe in
achteckiger Grundform vortreten, haben
noch ihre ursprüngliche ^geschmackvolle
Bekrönung (84.), die nur an einzelnen
Stellen beschädigt ist. Oberhalb nämlich,
nah unter dem Dachgesims der Kirche,
läuft um sie ein Rosettenfries hin, und
über diesem ist jede Seite mit einem zier-
lichen, von Halbsäulchen getragenen Gie-
bel versehen; über den Giebeln ragt so-'
dann die kegelförmige gemauerte Spitze
der Thürme empor- Da so selten von den
frei emporsteigenden Theilen unserer Kir-
chen etwas erhalten ist, so dürften diese
Thürrae, bei denen zugleich der ganze Schmuck in vortrefflich harmoni-
scher "Weise angeordnet ist, eine um so grössere Beachtung verdienen. '

3. Gothischer Styl des vierzehnten Jahrhunderts.

Der Beginn des vierzehnten Jahrhunderts bezeichnet den Eintritt der-
jenigen Periode, in welcher die pommerschen Städte zu Kraft, Ansehen
und Selbständigkeit gelangt waren und nach allen Seiten hin eine frische
Lebensthätigkeit entwickelten. Dem vierzehnten Jahrhundert gehört auch
die bei weitem grössere Mehrzahl der in den pommerschen Städten vor-
handenen kirchlichen Gebäude an, die ebenso, wie die grossartigen Unter-
nehmungen in Krieg und Handel, von der Bürgermacht jener Zeit und von
dem Bewusstsein dieser Macht Zeugniss geben. Ein gemeinsamer Sinn liat

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708 Pommersche Kunstgeschichte.

diese Denkmale des ehrenhaftesten Selbstgefühles, das aber nicht sich, son-
dern dem Herrscher im Himmel die Ehre giebt, aus demfSchooss der
Städte hervorgerufen; eine gemeinsame "Weise
der Formenbildung, — ob
auch Unterschiede im Einzelnen durch die verschiedenen Gegenden des
pommerschen Landes und durch die verschiedenen Jahre des Baues bedingt
seien, — tritt an diesen Werken hervor. Es ist sehr natürlich, dass eine
solche Uebereinstimmung in den Hauptformen eintreten musste, sobald das
Bedürfniss zur Aufführung bedeutender Bauten allgemein wurde; Kunst
und Kunst-Handwerk mussten nun von Ort zu Ort getragen werden; mannig-
fach vermehrte gegenseitige Mittheilung, Ausbildung des Befähigteren zur
Meisterschaft, Beobachtung der Lehren des Meisters von Seiten der minder
Begabten waren die Folge davon. Aber ebenso natürlich ist es, dass sich,
bei all diesen Umständen, dem künstlerischen Schaffen allmählig ein mehr
handwerksmässiger Betrieb beimischte, dass hier und dort an die Stelle des
freien, lebendigen Gefühles eine trockne Regelrichtigkeit trat, dass zuletzt
nur eben noch die von dem Künstler vorgeschriebene Hauptform übrig
blieb und statt der organischen Klarheit des Einzelnen theils nüchterne, in
sich mehr oder weniger bedeutungslose Formen, theils willkürlich phan-
tastische Zusammensetzungen der Formen erscheinen. Das haben wir aber
nicht als einen künstlerischen Mangel auf Seiten unsrer Vorfahren zu be-
trachten, das ist überall, za allen Zeiten und in allen Schulen, — selbst
die "Wundererscheinung des griechischen Geistes macht nicht gänzlich eine
Ausnahme, — der Fall gewesen. Das edelste Gefühl für architektonische
Formenbildung finden wir an einzelnen Theilen der im vorigen besproche-
nen Baureste, am Vollständigsten in der Marienkirche zu Pasewalk und
im Schiff der Domkirche zu Cammin, so einfach auch diese Anlagen ge-
halten sind; aber auch in den Gebäuden, die dem Anfange des vierzehn-
ten Jahrhunderts angehören, entwickeln sich noch grosse, zum Theil über-
raschende Schönheiten. Als das merkwürdigste unter diesen nenne ich
besonders die Nikolaikirche zu Stralsund, die weiter unten beschrieben
werden soll. Als eine sehr grossartige und schöne Anordnung aber, die
mit dem Beginn des vierzehnten Jahrhunderts erscheint und fortan in den
pommerschen Kirchenbauten, bis auf wenig einzelne Ausnahmen, beibe-
^ halten wird, ist die Einrichtung zu bezeichnen, dass die Thürme nicht

mehr als isolirte Bautheile an die Kirchen anlehnen, sondern sich im hohen
Bogen gegen das Innere öffnen, dass solchergestalt eine weite Vorhalle des
inneren Raumes vorhanden ist, die auf verschiedene "Weise (je nachdem
Ein Thurm oder zwei Thürme angebracht sind) mit dem Mittelschiff so-
wohl, wie zumeist auch mit den Seitenschiffen in Verbindung steht. Lei-
der wird diese Halle gegenwärtig meist überall durch die Orgelbauten
ausgefüllt, so dass ihre Wirkung für das Innere verloren geht.

Jene Unterschiede der lebendigeren und der mehr nüchternen oder
willkürlich phantastischen Formenbildung werden als maassgebend für das
verschiedene Alter der Gebäude des vierzehnten Jahrhunderts zu betrach-
ten sein. Andre Unterschiede dürften in Rücksicht auf die Zeitfolge nicht
in Betracht kommen. So ist z. B. bei den kirchlichen Gebäuden des vier-
zehnten Jahrhunderts, welche Vorpommern angehören, grösseren Theils
eine eigenthümliche Weichheit der Formenbildung an gewissen charak-
teristischen Details vorherrschend, während man bei den hinterpommerschen
Bauten eine grössere Strenge und Gemessenheit des Details wahrnimmt,
ohne dass jedoch weder durch das Eine noch durch das Andre die schöne

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Kirchliche Architektur, ' 3. Gothischer Styl des 14. Jahrhunderts. 709

Durchbildung des Ganzen an sich beeiuträchtigt würde. Noch mehr in
die Augen fallend ist der Unterschied, dass ein Theil der Kirchen dieser
Zeit (gleich den zuletzt genannten des dreizehnten Jahrhunderts) aus gleich
hohen Schiffen besteht während bei einem andern Theile (dem ursprüng-
lichen Bausystem des Mittelalters gemäss) die SeitenschiiFe niedriger gehal-
ten sind, als das Mittelschiff. Beide Bauweisen geben zu der Entwickelung
eigenthümlicher Schönheiten Anlass; aber weder ist, was die in Rede
stehende Periode anbetrifft, die eine von ihnen der Zeit nach vorangehend,
noch ist ihre Anwendung durch umfassende lokale Unterschiede bedingt.
Nur das dürfte zu bemerken sein, dass sich hier und da einzelne Gruppen
von Gebäuden bilden, die der einen oder der andern Gattung angehören,
und dass namentlich die Strecke Hinterpommerns von Belgrad bis Stolp
ausschliesslich Hauptkirchen mit niedrigen Seitenschiffen besitzt. Die Pfei-
ler der beiden Gattungen der pommerschen Kirchen haben fortan überall
die Grundform des Achtecks.

Für die bequemere Uebersicht der vorhandenen Kirchenbauten scheint
es indess am Zweckmässigsten, sie nach dem zuletzt genannten Unterschiede
gesondert zu betrachten, indem natürlich durch die eine oder die andre
Hauptform ein verschiedener Bildungsgang bedingt ist. Wir wenden uns
zunächst zu den Kirchen mit gleich hohen Schiffen.

A. Gebäude mit gleich hohen Schiffen.

Die Marienkirche zu Colberg (Maria gloriosa genannt)') scheint
unter den pommerschen Kirchen des vierzehnten Jahrhunderts eine der
ältesten zu sein. Sie hat die seltne, in Pommern die einzige Form, dass
sie nicht aus drei, sondern aus fünf Schiffen, und zwar von wenig ver-
schiedener Höhe, besteht; dem Mittelschiff' schliesst sich sodann der, in der
Länge ziemlich ausgedehnte Chor als der Sitz des mit der Kirche verbun-
denen Domkapitels an. Das Ganze ist somit von eigenthümlich freiem und
grossartigem Eindrucke, und man hat nur zu bedauerü, dass die Länge der
Schiffe ihrer Gesammtbreite nicht angemessen ist. Doch ist diese grosse
Breitenausdehnung der fünf Schiffe nicht ursprünglich; die beiden äusseren
Seitenschiffe sind eine Hinzufügung späterer Zeit. Der ursprüngliche Bau
gilt gewöhnlich als eine Anlage sehr früher Zeit; schon vor dem Jahre 1230,
in welchem das Colberger Domkapitel an diese Kirche versetzt wurde,
sollen die drei mittleren Schiffe gestanden haben und unmittelbar nach
dem J. 1230 der Chor angefügt worden sein. Beides ist aber unzulässig,
in Erwägung des Baustyles, der mit dem, was wir im Obigen über die
pommerschen Kirchenbauten bis zur Mitte des dreizehnten Jahrhunderts
ermittelt haben und was sonst über die Entwickelung des Baustyles jener
Zeit fest steht, auf keine Weise übereinstimmt. Vielleicht ist die Kirche,
was die gegenwärtige Erscheinung ihres Hauptbaues anbetrifft, in der spä-

Vergl. über dieselbe: J. F. Wachs, Geschichte der Altstadt Colberg etc.,
bei welchem Werke zugleich Grund- und Aufrisse der Kirche (doch in nicht
sonderlich genügender Darstellung) enthalten sind; — und: J. G. W. Maass,
Geschichte und Beschreibung der St. Marien-Domkirche zu Colberg.

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Pommersche Kunstgeschichte.

leren Zeit des dreizehnten Jahrhunderts gegründet worden; urkundlich
wissen wir, dass sie im J. 1316 noch im Bau begriffen, aber wie es scheint
ihrer Vollendung schon nahe war, indem Ablassbriefe für diejenigen, die
zur Vollendung des Baues etwas beitragen wollten, erlassen wurden. Die
Vollendung scheint bald erfolgt zu sein, denn im J. 1321 wird, gleichfalls
urkundlich, bereits der Abhaltung des Gottesdienstes in der Kirche ge-
dacht'). Das südliche Seitenschiff (welches den Namen des „Baden-Ganges"
führt) ist in der späteren Zeit des vierzehnten Jahrhunderts hinzugefügt
und wird im J. 1379 als vorhanden erwähnt; das nördliche Seitenschiff
(der „Holken-Gang" genannt) ist noch jünger und wurde im J. 1410 vollen-
det Alle fünf Schiffe werden durch ein einziges hochgegiebeltes Dach
überdeckt, welches im J. 1450 mit kupfernen Platten belegt wurde und
dessen riesenhafte Masse noch gegenwärtig mit diesem glänzenden Ueber-
zuge versehen ist.

Unter den alten Bautheilen scheint der (dreiseitig geschlossene) Chor
etwas früher gebaut zu sein, als die Schifte. An ihm sieht man noch jene
schöne und klare Formation, die am Inneren der Wände der Marienkirche
von Pasewalk bemerkt wird; auch hier treten die Rücktheile der Streben
als "Wandpfeiler nach innen vor, sind auf den Ecken ähnlich mit feinen
Halbsäulchen versehen, und eine stärkere Halbsäule läuft an ihnen als Gurt-
träger empor; zwischen den Wandpfeilern bilden sich Nischen, durch welche
unterhalb der Fenster, ebenfalls wie in Pasewalk, ein freier Umgang sich
umherzieht. Das Kreuzgewölbe des Chores ist eine, in neuerer Zeit ge-
arbeitete Restauration aus Holz. (Ob dies Material für den Fall einer
Feuersgefahr, zumal da die Kirche in einer Festung belegen, sehr zweck-
mässig sei, möge hier unerörtert bleiben.) — Die Pfeiler des Hauptschiffes,
4 auf jeder Seite, sind dagegen von einfach achteckiger Gestalt; an ihren

vier Hauptseiten (85.) treten Bündelchen von je
drei feinen Halbsäulen vor, welche als Träger
der Gewölbgurte und der Schwibbogen, die
die Pfeilerreihen verbinden , emporlaufen. Die
Schwibbogen (86.) haben vortrefflich gegliederte
■Seitenflächen. Die sämmtlichen
Gewölbe der alten Bautheile sol-
len früher mithalten Malereien ver-
ziert gewesen sein; davon sind
aber nur die über dem grössten
Theil des Mittelschiffes erhalten.
Alle Gurten und Bögen des Ge-
wölbes haben durch diese Malereien
ein einfach gothisches Ornament er-
halten; über die zwischen ihnen
befindlichen figürlichen Darstellungen wird weiter unteu; berichtet werden.
— Eine schöne hohe Thurmhalle öffnet sich gegen das Schiff und die bei-
den älteren Seitenschiffe; einen.eigenthünüich selbständigen Abschluss er-
hält diese Halle, indem sie nach den Seiten hin in Nischen ausgeht. Nach

710

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') Beide Nachrichten bei Wachs, a. a. 0., S. 462. und 463. — Wachs,
a. a. 0., S. 87, 88.

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Kirchliche Architektur. 3. Gothischer Styl des 14. Jahrhunderts. 711

/

der westlichen Fa^ade hin öffnet sie sich durch das Portal und über die-
sem durch drei, dem MittelscliifT und den Seitenschiffen correspondirende
hohe Fenster. Im Aeusseren erhebt sich der Raum, der durch die Halle
gebildet wird, als eine ungeheure schwere Masse, die in horizontaler Linie
abschliesst. Bei näherer Besichtigung erkennt man indess, dass diese Masse
in drei Theile gesondert werden muss, dass sie eigentlich aus zwei Thür-
men, auf der Nord- und auf der Südseite (vor den beiden Seitenschiffen)
besteht, zwischen denen ein schmaler Giebelbau (vor dem Mittelschiff) ein-
gefügt ist. Yermuthlich war der letztere ursprünglich nicht auf die Höhe
berechnet, die er jetzt einnimmt, vielleicht auch sollten die beiden Thiirme
noch höher aufgeführt werden; es scheint, dass man dem Ganzen die jetzige
schwere Einrichtung gab, um den Stürmen, welche die nahe See so häufig
hereinsendet, ein um so festeres Gewicht entgegen zu stellen. Alles dies
wird durch die besondern Formen der Fenster und Fensterblenden, mit
denen der Oberbau dieser Masse versehen ist, näher bestätigt. Denn indem-
der südliche Thurm nur mit kleinen spitzbogigen Fenstern und Blenden
versehen ist, während, die des nördlichen grösser und mehr zusammenge-
setzt erscheinen, so sieht man deutlich, dass jener zuerst isolirt in die
Höhe geführt wurde. In den sämmtlichen Fensterblenden des nördlichen
Thurmes aber zeigt sich, im Einschluss des Spitzbogens, als Verbindung
der einzelnen Fensterstäbe bereits die Form des Halbkreises angewandt,
die erst in der letzten Zeit des gothischen Baustyles, d. h. im fünfzehnten
Jahrhunderte, wiederkehrt, so dass der Oberbau dieses Thurmes auch nicht
früher ausgeführt sein kann. Aehnliche Fensterblenden sieht man auch an
dem obersten Theile des Giebelbaues. Noch später sind sodann die drei
Thurmspitzen, welche diese Masse bekrönen und den seltsamen Eindruck,
den sie hervorbringt, vollenden; über den beiden Thürmen selbst sind
niedrige Dächer von einfach pyramidaler Form errichtet, über dem Mittel-
bau aber erhebt sich eine höhere schlanke Spitze.

Die beiden äusseren, in späterer Zeit zugefügten Seitenschiffe haben
ebenfalls manche besondre Eigenthümlichkeiten, die, zum Theil wenigstens,
für den Formensinn der Zeiten, in denen sie errichtet wurden, charak-
teristisch sind. Wie naiv man, nachdem die alten Seitenmauern durch-
brochen waren, sich den erhaltenen Theilen derselben angeschlossen, be-
zeugen die alten Strebepfeiler, die noch an der Rückseite derjenigen Pfeiler-
reihen, die gegenwärtig zwischen den inneren und äusseren Seitenschiffen
stehen, erhalten sind, und an denen die Gewölbgurte der äusseren Seiten-
schiffe in ziemlich disharmonischer Weise ansetzen. Der Holken-Gang
(das nördlichste Seitenschiff, welches zuletzt gebaut wurde,) schliesst gen
Osten, gleich den älteren Seitenschiffen, mit einer geraden Wand ab; der
Baden-Gang hingegen hat eine eigne, dreiseitig gebrochene Altarnische.
Beide sind mit Sterngewölben bedeckt, während die Gewölbe der älteren
Bautheile die einfach klare Kreuzform haben; die Gewölbe des Badenganges
(aus der späteren Zeit des vierzehnten Jahrhunderts) sind besonders reich
gebildet. Die Pfeiler des Badenganges sind unterwärts durch starke Bögen
(von der Breite der Pfeiler) verbunden, deren gedrückt flache Form auf
eine späte Zeit (auf die zweite Hälfte des sechzehnten Jahrhunderts) schlics-
sen lässt; vermuthlich wurden sie hinzugefügt, um der Anlage mehr Festig-
keit zu geben. Ueber und zur Seite dieser Bögen laufen jetzt hölzerne
Emporen hin. Im Holkengange (vom J. 1410) befinden sich ähnliche Em-
poren, welche aber ganz von Stein gebaut sind und die ganze Breite dieses

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Pommersche Kunstgeschichte.

nördlichsten Seitenschiffes ausfüllen. Sie gehören zu dessen ursprünglicher
Anlage und werden von flachen Sterngewölben getragen. In Uebereinstim-
mung mit dieser Gewölbform sind auch die Fenster der Nordseite, die
oberen nicht minder wie die unteren, ebenfalls in flachen Bögen überwölbt,
während die der Südseite noch den regelmässigen Spitzbogen haben.

Jünger, wie es scheint, als die beiden äusseren Seitenschiffe, und wohl
erst im weiteren Verlaufe des fünfzehnten Jahrhunderts errichtet, ist ein
eigenthümlich interessanter bühnenartiger Bau, welcher den Chor von dem
Schiff der Kirche trennt. Dies ist ein sogenannter Lettner, der einzige,
der sich in pommerschen Kirchen vorfindet. Sein Name (aus dem mittel-
alterlich lateinischen Lectorium gebildet) bezeichnet seine Bestimmung; von
ihm herab wurde dem im Schiff versammelten Volke das Evangelium vor-
gelesen, gepredigt und dergl., während er zugleich dazu diente, den hei-
ligeren Gottesdienst der Geweihten im Chore von dem der Laien abzu-
• sondern. Der Lettner bezeichnet, wenn ich mich so ausdrücken darf, das
Heraustreten der Geweihten gegen das Volk, daher erscheint er insgemein
in reicher künstlerischer Gestaltung; doch kommt er, wenige Ausnahmen
abgerechnet, hur in der spätesten Zeit des Mittelalters vor. Der in Rede ste-
hende Bau ist in geschmackvoller Form, doch, der ganzen Empfindungs-
weise unsers Nordens gemäss, in einer mehr einfach klaren Composition
ausgeführt. Er besteht aus einer Empore, welche durch eine Bogenstellung
von sechs schlanken achteckigen Pfeilern (aus Kalkstein) mit mehrfach ge-
gliederten Deckgesimsen (87.) getragen wird. Die Pfeiler sind durch Halb-
kreisbögen von einfacher Pro-
fllirung (88.) verbunden. Die
Brüstung über den Bögen hat
eine einfach gothische Stabver-
zierung, auch einige Giebelzier-
den dazwischen; doch ist diese
Dekoration durch eingesetzte

(übrigens nicht moderne) Gemälde zum Theil verdunkelt.
An Bögen und Stabwerken wechselt, in üebereinstimmung
mit den dekorirenden Theilen, welche gewöhnlich am
Aeusseren der Kirchen jener Zeit erscheinen, rother und
schwarz glasirter Stein. Die Rückseite der Bogenhalle
unter dieser Empore ist durch eine Wand verschlossen, in
der zwei Thüren zum Chore führen; zwischen diesen, unter der Halle, ist
der Hauptaltar des Schiffes der Kirche angebracht.

So bietet die Marienkirche von Colberg, indem ihr Hauptbau den Styl
des vierzehnten Jahrhunderts auf charakteristische Weise einleitet, zugleich
auch verschiedene, nicht minder bezeichnende Beispiele für die weitere
Entwickelung der Architektur unsres Vaterlandes dar. —

712

Die Marienkirche zu Treptow an der Rega dürfte sich dem
eben besprochenen Gebäude zunächst anschliessen. Es wird berichtet, dass
ihr Bau im Jahre 1303 angefangen und 1370 beendet worden sei'). Sie
besteht aus drei Schiffen, denen sich wiederum ein besondrer Chorbau in

') Brüggemann, Beschreibung des K. Pr. Herzogth. Vor- und Hinterpommern,
II., S. 377.

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Kirchliche Architektur, ' 3. Gothischer Styl des 14. Jahrhunderts. 713

der Breite des Mittelschiifes, fünfseitig schliessend, anfügt Auf der "West-
seite, über der Mitte, erhebt sich nur Ein Thurm, der sich als hohe Halle
gegen das Mittelschiff hin ölTnet; aber auch die Seitenschilfe sind bis zur
vorderen Flucht des Thurmes (bis zur Westwand} fortgeführt, so dass die
Vorhalle, der in der Colberger Marienkirche ähnlich, wiederum der Ge-
sammtbreite der Kirche entsprechend wird. Die Gurtträger an den Wän-
den des Chores (89.) haben eine geschmackvolle Composition, als deren

Haupttheile drei Halbsäulchen erscheinen;
den Chor dürfte man demnach wohl als einen
älteren Theil des Baues betrachten. Die Pfei-
ler des Schiffes, 3 auf jeder Seite, sind ein-
fach achteckig, ohne alle weitere Gliederung;
W^/mf die Schwibbogen über ihnen (90.) sind mehr-
^ fach gegliedert, doch nicht mehr so geschmack-
voll wie die der Colberger
Marienkirche. Der grosse,
breite Schwibbogen, wel-
< eher den Chor vom Mittel-
schiffe sondert, ist mit ge-
malter gothischer Deko-
ration , Rankenwerk und
menschliche Figuren dar-
stellend, geschmückt. Die
Gewölbe der Kirche haben
die Sternform und scheinen sämmtlich später als der Hauptbau; nament-
lich im Chor zeigt sich dies deutlich, indem sie disharmonisch über den
Gurtträgern aufsetzen, auch an sich roh gearbeitet sind. Das Aeussere der
Kirche ist ziemlich einfach (das Fensterprofll: — 91.); der Thurm, in
schlichter viereckiger Masse^ emporsteigend, hat einen Oberbau von acht-
eckiger Form. —

Aehnlich in der Anlage ist die Marienkir che von
Greiffenberg; doch ist zu bemerken, dass der Chor
nicht mehrseitig, sondern mit einer geraden "Wand ab-
schliesst. Der Thurm, eine hohe Halle vor dem Mittel-
schiff bildend, hat keine Seitenhallen, vielmehr springt
er frei vor dem Hauptkörper der Kirche vor; indess lag
dies nicht in der ursprünglichen Absicht, vielmehr erkennt
man im Aeusseren deutlich, dass auch hier die Seitenschiffe bis zur west-
lichen "Wand des Thurmes, und in Verbindung mit seiner Halle, vorge-
führt werden sollten. Was die an dieser Kirche vorkommenden Detail-
bildungen anbetrifft, so ist es auffallend, dass wechselnd Formen, welche
der früheren gothischen Zeit verwandt sind, und solche, die das Gepräge
einer ziemlich späten Zeit tragen, vorkommen. Vielleicht erklärt sich dies
durch die Annahme, dass wirklich einzelne Theile des Baues verhältniss-
mässig früh begonnen wurden, und dass man bei andern die Motive der
früheren Zeit in zumeist wenig klarem Bewusstsein nachgeahmt hat, wäh-
rend gewisse nüchtern rohe Formen darauf hindeuten, dass die Vollendung
des Baues erst etwa gegen das Ende des vierzehnten Jahrhunderts erfolgt
sein dürfte. So sieht man an der Nordseite des Chores ein gothjsches Por-
tal (gegenwärtig vermauert und zum Theil in dem erhöhten Erdboden

, j
n

"A

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Pommersche Kunstgeschichte.

714

steckend), dessen Gliederung (92.),
obgleich durch einen raschen Wech-
sel vieler kleinen Theile hervorge-
bracht, doch zumeist auf einfachen
Principien beruht-, namentlich ist
dabei eine Menge von Halbsäulchen
verwandt, deren jedes, nach früh-
gothischem Systeme, noch sein eignes
Kapitälchen hat. Bei einem andern
(ebenfalls vermauerten) Portale auf
der Nordseite der Kirche erscheint die
Nachahmung dieses frühgothischen

Systemes schon ziemlich
missverstanden , wäli-
rend das Thurmportal
(93.) den gewöhnlichen
Formen des vierzehnten
Jahrhunderts entspricht.
So ist ferner die Anord-
nung der "Wände im In-

nern der der Marienkirche von Pasewalk und des Chores der Colberger Marien-
kirche ganz ähnlich, sogar mit der Form der als Gurtträger vorspringenden
Halbsäulen; aber die unteren Nischen, über denen der Umgang zwischen
den Wandpfeilern hinläuft, werden hier, sehr auffallend, durch gedrückte
oder flach geschwungene B{)gen gebildet. Endlich haben die Pfeiler des
Schin'es, deren, wie in Treptow a. d. R., 3 auf jeder Seite stehen, die ein-
fach achteckige Form, zwar mit Gurtträgern an ihren vier Hauptseiten (94.),

die aber stabartig, mit geradlinig ge-
schnittenem Profil (welches dem Cha-
rakter des geschlossenen Emporstrebens
widerspricht) gebildet sind. Die Glie-
derung an den Seitenflächen der Spitz-
bögen erscheint nüchtern und roh, in-
dem auch sie nur durch geradlinige
Einschnitte hervorgebracht wird. Die Gewölbe der Kirche fehlen grössten-
theils, seit dem grossen Brande, welcher im J. 1658 die Kirche und die
Stadt betroffen und von dem u. a eine iu der Kirche vorhandene Inschrift

1
fc,

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Kirchliche Architektur, ' 3. Gothischer Styl des 14. Jahrhunderts. 715

Kunde giebt. — Als besondere Eigenthümlichkeit ist noch zu bemerken,
dass neben den Rosettenfriesen am Thurm und unter dem Dach des Chores
(wie solche, durchbrochen gearbeitet und in die Mauer eingesetzt, gewöhn-
lich vorkommen) sich auch noch die Reste eines andern Frieses vorfinden,
dessen aus Weinranken gebildete Verzierungen reliefartig erhöht sind, was
sehr selten der Fall ist. Dieser Fries findet sich aussen^ unter dem west-
lichsten Fenster der Südwand. — Der Thurm und besonders der über dem
Chor emporragende Giebel des Kirchenschilfes sind mit geschmackvollen
Fensterblenden versehen. An die Nordseite der Kirche lehnt sich eine
wohlgebaute Kapelle, deren Giebel mit zierlich gegliederten Thürmchen
geschmückt ist.

if

'M

bezeichnend sein. Die Gewölbe scheinen nicht der ursprünglichen Anlage
anzugehören; namentlich ergiebt sich dies durch das Missverhältniss, in
welchem die Kreuzgurte des Chorgewölbes zu den Gurtträgern und die
bunte Form des Sterngewölbes im Mittelschiff zu den rohen achteckigen
Pfeilern stellen. Die Strebepfeiler treten nach ausserhalb vor die Seiten-
wände der Kirche'vor; unterwärts jedoch sind die Seitenwände zwischen
die äusseren Flächen der Strebepfeiler hinausgerückt, so dass sich hier kleine
niedrige Kapellchen bilden. Der östliche über den Chor emporragende
Ciebel des Kirchenschiffes ist mit bunt geschmückten Fensterblenden
versehen. {Fensterprofil im Chor: — 97.) — Wenn demnach die Kirche

■A

Unter den gothischen Kirchen, die sich in S tettin erhalten haben, ge-
hören die beiden bedeutendsten in das vierzehnte Jahrhundert, beide indess
wohl nicht in dessen frühere Zeit. Als die ältere von diesen giebt sicli,
ihrer Beschaffenheit gemäss, die Johanniskirche zu erkennen. Ihr
Chor, der sich wiederum als besondrer Bautheil dem Mittelschiffe anschliesst,
hat die merkwürdige und seltne Form, dass seine Altarnische, über die
Seitenwände vortretend, siebenseitig (aus sieben Seiten eines Zehnecks)
gebildet ist. Da die Kirche, als Klosterkirche, keinen Thurmbau hat, so
fehlt ihrem westlichen Theil auch die Vorhalle. Die Pfeiler des, Schiffes,
sechs auf jeder Seite, sind einfach achteckig gebildet; die Seitenflächen
der Schwibbogen über ihnen (95.) haben eine lebendige Gliederung. An
den Seitenwänden des Schiffes sind keine Gurtträger; im Chore jedoch
sind solche angebracht, deren Profil indess nicht sehr elastisch gebildet
ist (96.); beides dürfte für die etwas spätere Bauzeit der Kirche besonders

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Poinmersche Kunstgeschichte.

in ihrer gegenwärtigen Gestalt etwa um hundert
Jahre später ist als die Gründung des Klosters,
die in das Jahr 1240 fällt (vielleicht diente
bis zum Neubau die schon im J. 1219 an dieser
Stelle aufgeführte Kirche); so scheint es doch,
dass der neben der Kirche noch vorhandene,
zum Theil verbaute Kreuz gang in die Zeit
der ersten klösterlichen Anlagen gehört. Er
ist in hohem Spitzbogen aufgeführt, seine Kreuz-
gurte sind vortrefflich (im birnenförmigen Profil) gebildet und von ge-
schmackvollen, rein gothischen Consolen getragen. Namentlich der südliche
und der (verbaute) östliche Theil des Kreuzganges erscheinen in dieser
schöneren Form.

Als noch jünger und gewiss erst der zweiten Hälfte des vierzehnten
Jahrhunderts angehörig, muss, wie es scheint, die grosse Jakobikirche
von Stettin betrachtet werden. Doch gilt dies nur von dem Hauptkörper
ihrer gegenwärtigen Anlage, denn theils ist der Rest eines älteren Baues,
theils sind mannigfache Anfügungen und Umänderungen späterer Zeit da-
von auszunehmen. Von demjenigen Gebäude indess, welches zuerst, im
J. 1187, an dieser Stelle errichtet wurde®), ist nichts mehr vorhanden;
die ganze Anlage, auch die des ältesten Theiles, hat mit den Elementen
des byzantinischen Styles, der zu jener Zeit noch entschieden herrschend
war, nichts mehr gemein. Der älteste Baurest besteht aus der nordwest-
lichen Ecke des Gebäudes bis zu dem Halbgiebel, welcher dieselbe krönt;
seiner Formation nach scheint er dem Schlüsse des dreizehnten Jahrhunderts
anzugehören. Von den übrigen Theilen der "Westseite unterscheidet sich
dieser Bautheil im Aeusseren durch die minder ausgedehnte Dimension
und die edlere Gliederung seiner Fenster; auch dadurch, dass unter seinen
oberen Fenstern ein Gesims hinläuft, bis zu dem die hier angeordneten
Strebepfeiler emporsteigen, während dies Gesims weiter südlich an der
Westwand der Kirche nicht mehr gefunden wird, und die dort vorhandenei
Strebepfeiler höher hinaufreichen. In seinem Inneren bildet der in Rede
stehende Bautheil unterwärts eine niedrige Halle, die sich durch^ einen
starken schweren Spitzbogen gegen das nördliche Seitenschilf öffnet. Ueber
diesem Spitzbogen, im Inneren des hohen Seitenschiffes, gewahrt man so-
dann noch ein Fenster, welches denen am Oberfheil des Aeusseren voll-
kommen gleicht und somit ursprünglich ins Freie führte. Hiedurch ergiebt
sich das interessante Resultat, dass die Kirche, der dieser Bautheil auge-
hörte, mit niedrigen Seitenschiffen neben einem höheren Mittelschiffe ver-
sehen war, und dass sie, im strengeren gothischen Style aufgeführt, auf
ihrer Westseite durch zwei Thürme begrenzt wurde, als deren nördlicher
eben der besprochene Bautheil zu betrachten ist, während gegenwärtig sich,
über der Mitte der West-Fa^ade, ein einzelner starker Thurm erhebt. —
Es scheint, dass jene ganze ältere Thurmanlage stehen blieb, als man, in
der späteren Zeit des vierzehnten Jahrhunderts, den erweiterten Neubau
der Kirche veranstaltete, und dass die Umänderung des Thurmbaues erst
nach ber Mitte des fünfzehnten Jahrhunderts unternommen wurde. Ueber
einen zu dieser Zeit (im J. 1456) erfolgten Thurm-Einsturz berichtet nära-

Böhmer in den Neuen Pomni. Prov.-BJättern, I.. S. 207. — -) Böhmer,

a. a. 0.

716

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Kirchliche Architektur, ' 3. Gothischer Styl des 14. Jahrhunderts. 717

lieh eine alte Inschrift, die in dem ersten Pfeiler auf der Südseite des
Kirchenschiffes eingemauert war, mit folgenden Worten: „Anno dni. M".

cccc". Ivj".....cecidit ista turris vna cu(m or)gano Der Zusatz des

Wortes ista dürfte nicht ganz ohne Bedeutung sein. Wäre damals über-
haupt nur Ein Thurm vorhanden gewesen, so hätte man ohne Zweifel eine
allgemeinere Bezeichnung (etwa turris S, Jacobi) gesetzt; so aber scheint
durch jenes ista ein südlicher Thurm von einem nördlichen unterschieden
zu sein. Dazu kommt, dass man bei dem kolossalen Neubau des vier-
zehnten Jahrhunderts den westlichen Räumen der Kirche schwerlich die
unharmonische Einrichtung gegeben hätte, welche sie gegenwärtig haben,
indem das südliche Seitenschiff und auch das Mittelschiff mit'hoher Vor-
halle beginnen, während vor der Westseite des nördlichen Seitenschiffes
die oben besprochene Einrichtung statt findet; gewiss hätte mau, wäre
nichts mehr als diese von dem älteren Bau benutzbar geblieben, auch sie
in Uebereinstimmung mit der Hauptanlage umgeändert. Endlich scheint
auch der Umstand auf den späten Ursprung der Westseite in ihrer gegen-
wärtigen Gestalt zu deuten, dass die Fensterblenden, welche, wie am Thurme
selbst, so auch am Unterbau angebracht sind, innerhalb des grösseren Spitz-
bogens, der sie umfasst, schon Halbkreisfctögen zur Verbindung des Stab-
werkes haben. Vollendet wurde der neue Thurmbau im Jahre 1504, durch
Meister Hans Bönecke

Die Haupträume im Inneren der Kirche haben hohe und weite Ver-
hältnisse. Sie zählt im Ganzen 18 freistehende Pfeiler. Ein starkes Pfei-
lerpaar in der Mitte der Kirche, quer über das Mittelschiff durch einen
starken Schwibbogen verbunden, scheidet einen Chorraum von dem eigent-
lichen Schiffe; letzteres hat auf jeder Seite drei Pfeiler. Der Chor'ist
fünfseitig geschlossen, doch sind die Seitenschiffe in gleicher Höhe als Um-
gang um den Chor herumgeführt, eine Einrichtung, die bei pommerschen
Kirchen nicht gerade häufig und zumeist nur als eine Eigenthümlich^eit
jüngerer Anlagen zu betrachten ist. Die Pfeiler sind einfach achteckig,
die des Chores sind an ihrer unteren Hälfte von noch einfacherer vier-
eckiger Gestalt; die Schwibbögen, welche
die Pfeilerreihen verbinden (98.), sind an
ihren schrägen Flächen nur durch gerad-
linige Einschnitte gegliedert. (Sollten auch,
bei der späteren Verwüstung der Kirche,
in welcher sie sämmtliche Hauptgewölbe
verlor, mehrere dieser Schwibbögen zerstört
und die zerstörten hernach in der angegebenen Weise wiederhergestellt
worden sein, so zeigt sich doch nirgend eine edlere Gliederung.) Von
Gurtträgern habe ich nichts bemerkt. Alles dies scheint sehr bezeich-
nend für die in Anspruch genommene Bauzeit (die spätere Zeit des vier-
zehnten Jahrhunderts). Am Umgange des Chores treten die Strebepfeiler,
ausserhalb nur durch flache Wandstreifen bezeichnet, nach innen vor und

*) Der Stein, auf welchem die Inschrift eingegraben ist, wurde bei einer
neueren Reparatur der Kirche zerbrochen und herausgenommen, ist jedoch in
seinen Stücken erhalten. — Friedeborn, Hist. BescTirbg. d. St. Alten Stettin,
S. 115, giebt irrthümlicher Weise das Jahr 1469 als das auf der Inschrift ge-
nannte an. — Friedeborn, a. a. 0.

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bilden eine Reihe schmaler und hoher Kapellen, durch die in gewisser
Höhe, die Strebepfeiler durchbrechend, Emporen umherlaufen. Dabei ist
die besondere Einrichtung zu bemerken, dass, indem der Umgang mit den
fünf Seiten des Chorschlusses parallel geht, somit ebenfalls fünfseitig
schliesst, die fünf äusseren Seiten seines Schlusses eine bedeutende Breite
erhalten, — dass man aber, um den nüchternen Eindruck einer solchen An-
ordnung zu vermeiden, nicht bloss (der gewöhnlichen Regel gemäss) in den
Ecken, sondern auch zwischen diesen, in der Mitte einer jeden Seite, Strebe-
pfeiler angeordnet hat, welche den übrigen, nach innen hereintretenden
Strebepfeilern im Uebrigen vollkommen-gleich sind. — Ohne Zweifel hat-
ten auch die eigentlichen Seitenschiffe der Kirche dieselbe Anordnung.
Mit ihnen sind jedoch in späterer Zeit, vielleicht gleichzeitig mit dem
neuen Thurmbau, bedeutende Veränderungen und Erweiterungen vorgenom-
men. Ks scheint, dass man die Absicht hatte, an dieser Kirche, wie an
der Marienkirche zu Colberg, noch zwei neue Seitenschiffe anzubaueht
Auf der Nordseite der Jakobikirche ist in der That ein solches Zweites
Seitenschilf zu Stande gekommen, indem sich dort, zwischen der zweiten
Pfeilerreihe (den alten Strebepfeilern) und den weiter hinausgerückten
Seitenmauern ein breiter Durchgang bildet, der gegenwärtig nur durch
allerlei störende Einbauten, namentlich durch Erbbe-
gräbnisse, grösseren Theils ausgefüllt wird (99.). Ueber
diesem Durchgange läuft, wie im Holkengange zu Col-
berg, eine Emporenreihe, in gleicher Höhe mit den Em-
poren des Chor-Umganges hin; sie wird von. Sternge-
wölben getragen, die sich gegen die Kirche zu theils im
Spitzbogen, theils im Halbkreisbogen öffnen. Oberwärts
aber hat dieser Anbau nicht die Höhe der übrigen Räume
der Kirche; im Gegentheil sind die Bögen (gedrückte
Halbkreise), durch welche sich die Sterngewölbe seines
Oberbaues gegen die Kirche hin öffnen, beträchtlich niedri-
ger als die Gewölbe des eigentlichen Seitenschiffes. —
Auf der Südseite der Kirche sind verwandte Einrichtun-
gen getroffen; auch hier ist eine ähnliche Emporenreihe
angeordnet. Doch sind die Seitenwände nicht so weit
wie auf der Nordseite hinausgerückt, und wenigstens
unterhalb der Emporen findet sich kein Durchgang zwi-
schen den alten Strebepfeilern und den Seitenmauern;
(die Streben sind hier mit den letzteren durch verstärktes Mauerwerk ver-
bunden). Dann ist hier der Anbau höher hinaufgeführt, indem die Bögen
(ebenfalls gedrückte Halbkreise) durch welche sein Oberbau sich gegen die
Kirche öffnet, bis nah unter das Gewölbe des Seitenschiffes reichen. Noch
ist zu bemerken, dass im Aeusseren der Seitenmauei;n dieser Anbauten
keine Streben hinaustreten, und dass dieselben auf dei: Südseite nur durch
schmale und hohe Fensterblenden, die besonders am unteren Theile zier-
lich dekorirt erscheinen, bezeichnet sind. Alles aber, was an beiden An-
bauten von architektonischer Form besonders zu bemerken ist, deutet auf
sehr späte Zeit, etwa die zweite Hälfte des fünfzehnten Jahrhunderts. — Von
eigenthümlicher Schönheit ist ein dritter Anbau, der sich dem eben be-
sprochenen auf der Nordseite anschliesst. Es ist eine eigene kleine Ka-
pelle von trefflichem Verhältniss, deren ziemlich bunt geformtes Gewölbe
von zwei freistehenden Rundpfeilern getragen wird. Auch sie scheint dem

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718

Pommersche Kunstgeschichte.

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Kirchliche Architektur, ' 3. Gothischer Styl des 14. Jahrhunderts. 719

fünfzehnten Jahrhundert anzugehören. Leider dient sie, die den g;eschraack- ;

vollsten gothischen Raum in Stettin ausmacht und eine edlere Bestimmung r

in Anspruch nimmt, gegenwärtig nur zur Aufbewahrung von Baumaterialien.

Noch einmal endlich wurden umfassende Bauveränderungen in der
Jakobikirche nothwendig, als sie, bei jener ewig denkwürdigen Belagerung J

Stettins im Jahre 1677, welche die ganze Stadt in einen Trümmerhaufen
verwandelte, ausgebrannt war und ihre Hauptgewölbe verloren hatte. Die j

letzteren wurden um das Ende des siebzehnten Jahrhunderts als flach- ;

geschwungene moderne Kreuzgewölbe erneut; der prunkvolle Altar, die J

Gestühle, die Brüstungen der Emporen u. dgl. wurden im Style jener Zeit,
doch in sehr tüchtiger, reicher und zumeist sehr geschmackvoller Schnitz-
arbeit hergestellt. So giebt gegenwärtig das Innere der Kirche einen ganz r
eigenthümlichen, doch keineswegs unschönen Eindruck. Von eigentlich
gothischer Form tritt dem Auge nur wenig entgegen, indem diese auch j
bei den Anbauten der Seitenschiffe bereits wenig beobachtet ist. Nur die
grossen feierlichen Massen des Ganzen herrscheu vor und ihre einfache
Colossalität steht zu dem reichen Schmuck der modernen, dem Auge näher
gestellten Dekoration in wirkungsreichem Contraste. — \
Die Kirche des ehemaligen St. Marien-Nonnenklosters zu Stet- i
tin (ursprünglich ausserhalb der Stadtmauer belegen) ist als Arsenal er-
halten, aber so verbaut, dass es schwer ist, etwas Bestimmtes über die i
architektonische Beschaffenheit ihrer Bautheile zu sagen. Indess zeigen die ;
Gliederungen der ursprünglichen Fenster, wo sie erhalten sind, eine so or- ■
ganische Bildung, dass ich keinen Anstand nehme, das Gebäude als aus ;
der ersten Hälfte des vierzehnten Jahrhunderts herrührend, somit als das- ^^
selbe zu beträchten, welches hier um das Jahr 1336 errichtet wurde •
Von der Marienkirche Stettins, die äls die schönst^, des Ortes <
galt, ist keine Spur mehr vorhanden; die letzten Reste des Baues, die seit {
dem Brande vom Jahre 1789 übrig geblieben waren, sind vor einigen f
Jahren abgetragen, um neuen Bedürfnissen der Gegenwart Platz zu machen.
Aus, leider nur dunkler Erinnerung schwebt es mir vor, wie an diesen
Bauresten (den Chortheilen) so durchgebildete Formen sichtbar waren, dass
sie der besten Zeit der Entwickelung des gothischen Baustyles angehört
haben dürften. Merkwürdig ist es, dass zwei Abbildungen der Kirche aus
früheren Zeiten den Chor mit einem reichgeformten Zinnenkranze ge-
schmückt zeigen, während dieser auf der jüngsten Abbildung der Marien-
kirche, die ihre Beschaffenheit unmittelbar-vor dem letzten verhängniss-
vollen Brande darstellt nicht mehr vorhanden ist. Zinnen solcher Art
habe ich übrigens bei keiner pommerschen Kirche (den Thnrm der Nikolai-
kirche zu Greifswald ausgenommen) erhalten gefunden, obgleich sie ander-
weitig wohl bei Kirchen des Backsteinbaues vorkommen. Die drei ge-
nannten Abbildungen lassen zugleich erkennen, dass der Eine Thurm, den ^

^ 1

si

Nach der Angabe Steinbrücks, Gesch. d. Klöster in P., S. 130. —
Die eine auf der grossen, in Oel gemalten Ansicht Stettins auf dem dor-
tigen Seglerhause, die dem sechzehnten Jahrhundert zugeschrieben wird (lith.
von F. Lübcke, herausgegeben von M. Böhme); — die andre in Hering's „Hist.
Nachricht von der Stifftung der zwei Collegiat-Kirchen in Stettin etc." 1725, —
Seil, Briefe über Stettin, 1800.

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Pommersche Kunstgeschiclite.

720

die Kirche hatte, vor dem nördlichen Seitenschiffe stand, dass sie somit
auf die Anlage zweier Thürme berechnet war. Ob aber der Unterbau eines
südlichen Thurmes wirklich vorhanden gewesen, weiss ich nicht zu sagen.

Wir wenden uns nunmehr zu denjenigen Kirchen des westlichen Pom-
merns, die der in Rede stehenden Abtheilung angehören. In die frühere
Zeit des vierzehnten Jahrhunderts scheint die Bartholomäuskirche
von Demmin zu gehören. Der Chor ist hier nicht als ein gesonderter
Bau der Hauptmasse des Gebäudes angefügt; vielmehr schliesst das Mittel-
schiff unmittelbar, und so auch
jedes der beiden Seitenschiffe, in
dreiseitig gebrochener Nische (100.).
Die Pfeiler, 4 auf Jeder Seite, sind
einfach achteckig, aber von leich-
tem, liochstrebendem Verhältniss;
so sind auch die Schwibbogen über
ihnen, deren Seitenflächen wohl
gegliedert erscheinen, in etwas
überhöhtem Spitzbogen aufgeführt;
alles dies giebt dem ganzen inne-
ren Räume etwas eigen Leichtes
und Freies. Die Gurtträger an den Seiten-
wänden (101.) sind eigenthümlich reich und
elegant gebildet, indem die drei an ihnen
vortretenden Halbsäulen hier jenes ge-
schwungene birnenartige Profil haben. Von
vorzüglich schönem Eindruck ist die hohe
Thurmhalle, in der Breite der gesammten
Kirche aufgeführt, über deren Mitte sich
ausserhalb der Thurm erhebt; die inneren Seitenwände der massiven Thurm-
pfeiler, welche den Mittelraum der Halle bilden, sind init Mschen und
mannigfachen Fensterblenden geschmückt, wodurch die grossen Massen in
heiterster Weise belebt erscheinen. Die Gliederungen der Portale (102,
103.) sind, den Gurtträgern im Innern verwandt, ebenfalls aus weichge-

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Kirchliche Architektur, ' 3. Gothischer Styl des 14. Jahrhunderts. 721

schwungenen Formen zusammenge-
setzt, ähnlich, doch ungleich einfacher,
die der Fenster (104.105.). Das Thurm-
portal, dessen Kämpfergesims von
Sandstein und mit Pflanzenr, Thier-
und Menschenfiguren geschmückt, aber
schon sehr verwittert ist, ist zu beiden Seiten, was bei
den Backsteinbauten sehr selten erscheint, mit einer
Art Streben eingefasst, die reich mit Nischen und Giebelchen verziert
sind. Der Thurm hat oberwärts den Ansatz reicher Fensterblenden; sein
Oberbau ist aber zerstört und schliesst mit einer modernen Kuppelspitze.
Von den Halbgiebeln der Seitenschiffe, die sich dem Thurm anlehnen, hat
der nördliche einige eigenthümlich gestaltete Fensterblenden, deren Deko-
ration nicht den im Backsteinbau gewöhnlichen Rosetten gleicht, sondern
aus einfacher gebildeten Formen besteht. —

Die Petrikirche zu Treptow an der Tollense dürfte als ein
jüngeres Gebäude zu betrachten sein, etwa mit Ausnahme des Thurmes,.
der nicht durch eine Halle der bisher geschilderten Art mit der Kirche ver-
bunden ist, sondern frei vor das Mittelschiff derselben vortritt. Der Chor
der Kirche ist dreiseitig geschlossen; die Seitenschiffe sind, ebenfalls in
dreiseitiger Form, um den Chor herumgeführt, in derselben Weise, wie
dies in der Jacobikirche zu Stettin der Fall ist. Im Innern der Kirche
laufen auf jeder Seite sieben Pfeiler in gerader Flucht hin; diesen reihen
sich die beiden Pfeiler an, welche die Ecken des Chorschlusses bilden.
Die Pfeiler sind wiederum einfach achteckig; die Seiten der Schwibbogen
über ihnen haben jene nüchterne Bildung, die nur durch geradlinige Ein-
schnitte hervorgebracht ist. Die Gurtträger an den Wänden sind ebenso
gestaltet, wie die an der vorgenannten Kirche von Demmin. Die Gewölbe

in dem gesammten Chor-
theil der Kirche haben die
spätere Sternform, während
man im Uebrigen nur Kreuz-
gewölbe sieht. Unter den
Fenstern, deren Umfassung
(106. 107.) übrigens wohl-
gebildet ist, findet sich
«ins, an der Südseitie, des-
sen schlanke Stäbe (108.)
vortrefflich geformt sind
und dessen Obertheil (109.) von mehreren durchbrochenen Rosetten
(alles dies aus Backstein) ausgefüllt wird, während im Allgemei-
nen das Fensterstabwerk der gothischen Backsteinkirchen theils
sehr einfach, theils sogar roh erscheint, was keineswegs überall
als der ursprünglichen Anlage angehörig betrachtet werden kann.
Das ebengenannte Fenster dürfte somit für die Anschauung des Systemes
in seiner Reinheit ein sehr wichtiges Beispiel abgeben. — Sehr eigenthüm-
lich ist ferner der Thurm dieser Kirche. Das Portal desselben ist, wie
das der Bartholomäuskirche von Demmin, durch Streben, nur einfacher ge-
bildete, eingefasst; zwischen diesen Streben aber springt über dem Bogen
des Portales ein wohlgebildeter Spitzgiebel empor (110.), - eine Einrich-
tung, die ich sonst fast nirgend an den pommerschen Kirchen gefunden

Kugler, Kl. Schriften. I. 46

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I

Pommersche Kunstgeschichte.

722

J

jil I I J ■ 1 J

habe (nur an der Kirche von Damm finden sich die Spuren, dass eine
ähnliche beabsichtigt war), und die wohl direkt der Nachahmung des rei-
cher ausgebildeten gothischen Baustyles in südwestlichen Ländern zuge-
schrieben werden muss. Das Portal führt zunächst in eine flache, offene

i \

Halle, die in der Dicke der Thurmmauer angebracht ist und in deren Sei-
ten sich zierlich geschmückte Wandnischen (III.) zeigen. Die eigentliche
Halle des Thurmes scheint niedrig gewesen zu sein; aus ihr führt ein be-
sonderes Portal in die Kirche, dessen Gliederung (112.), vornehmlich in
Betreff" der Kämpferformation (113), dem zweiten Nordportal der Kirche

von Greiifenberg entsprechend, als eine miss-
verstandene Nachahmung früherer gothischer
Motive zu betrachten sein dürfte. (Es findet
sich hier sogar eine Verzierungsform, die
dem bekannten byzantinischen Würfelkapi-
täl ähnlich ist; doch halte ich dies für eine
reine Zufälligkeit.) Der Thurm ist durch
bunte Friese in drei Geschosse getheilt; der

Ii.

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Kirchliche Architektur. 3. Gothischer Styl dfis 14. Jahrhunderts, 723

unterste von diesen Friesen (114.), der durch Consolen getragen wird, hat
Aehnlichkeit mit einer durchbrochenen Gallerie, wie solche ebenfalls an
südlicheren Gebäuden vorkommen. — An der Südseite der Kirche steht
ein kapellenartiger Anbau von zwei Geschossen, der dem fünfzehnten Jahr-

s*

\

h.

I

hundert anzugehören scheint; in dem unteren Geschoss bemerkte ich Fächer-
gewölbe, die von einem Pfeiler in der Mitte des Gemaches getragen werden. —
Die Nicolaikirche von Anclam ist an ihrer Altarseite ähnlich ge-
schlossen wie die Kirche von Demniin, mit dem Unterschiede jedoch, dass

die Nischen der Seitenschiffe, in vier-
seitigem Schluss, über die Seitenwände
der Kirche vortreten (115.). Die Pfei-

1er, 7 auf jeder Seite, haben einfach achteckige Form; die Schwibbögen
über ihnen(116.) sind wiedemm nur durch ein Paar geradlinige Einschnitte
gegliedert. Die Gurtträger der Seitenschiffe hingegen (117.) sind sehr reich

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Pomraersche Kunstgescliichto.

724

gebildet, denen der beiden vorge-
nannten Kirchen ähnlich, doch man-
nigfacher zusammengesetzt und die
grossen Wandnischen in weichge-
schwungener Gliederung einfassend;
eigenthümlich weichgeschwungen auch
sind die beiden Eckpfeiler der Altar-
nische (118.) gebildet. Ueber diesen
vollen Gurtträgern setzt das Kreuzge-
wölbe in unharmonisch dünner Weise
auf, so dass es als späterer Zeit an-
gehörig zu betrachten sein dürfte.
Eine grosse Vorhalle steht hier wiederum mit dem Schiff und mit den
Seitenschiffen in Verbindung. Der Thurm erhebt sich über dem mittleren

Räume des Halle; er
hat (gleich dem Thurm
der Marienkirche von
Anclam) seine ganze
Höhe und auch die Gie-
bel seiner vier Seiten
beibehalten, über denen
sodann die schlanke
Spitze emporsteigt. Das
Thurmportal ist in

phantastisch reichen
und doch im Grundprin-
zip nüchternen Formen
(119.) gegliedert. Diese
Formation und die der
Gurtträger im Innern,
scheint ebenso, wie die
rohe Nüchternheit der
Schwibbögen, ein ziem-
lich spätes Alter der
Kirche zu bezeichnen.
Zu bemerken ist sonst
noch, dass sichimAeus-
seren über einem der
Strebepfeiler das ein-
fach gebildete Thürm-
chen, welches alsSchluss
seiner Gesammtform nöthig ist, erhalten hat.—
Der Südseite der Kirche sind einige, nach dem
Inneren geöffnete Kapellen angebaut. Der Gie-
bel der einen von diesen (120.) ist ganz durch
Rosetten, die von Halbsäulchen getragen wer-
den, auf zierliche Weise ausgefüllt. —

An dieser Stelle dürfte ferner die Kirche
von Barth zu erwähnen sein. Thurm und
Thurmportal sind denen der eben genannten
Kirche ähnlich; das Portal hat ganz dieselbe
Gliederung. Die Thurmhalle ist ebenfalls auf
gleiche Weise gebildet. Die Schiffe werden
durch zwei Reihen von 5 achteckigen Pfeilern
gesondert; die Seitenflächen der Schwibbögen
über diesen sind jedoch wiederum nach leben-
digerem Gefühle gegliedert (denen der Marien-


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Kircliliche Architektur. 3. Gothischer Styl des 14. Jahrhunderts. 725

kirche zu Colberg ähnlich.) Der Chor fügt sich dem Mittelschiff als be-
sondrer Bautheil au; er ist durch eine geradlinige Wand abgeschlossen.
Eigenthümlich ist es, dass hier eine Art Querschiff entsteht, indem näm-
lich die letzten Schwibbogen vor dem Chore, die aus dem Mittelraume in
die Seitenschiffe führen, von weiter Dimension und schwerer Form aber
von geringerer Höhe sind als die übrigen Bögen, und indem auch die
ihnen zugehörigen Theile der Seitenschiffe dieselbe geringere Höhe haben.
Unter dem Dach des Kirchenschifi'es, im Aeusseren, läuft ein aus kleinen
Spitzbögen zusammengesetzter Fries hin. Vielleicht deuten diese Form
(die wenigstens an das Princip des byzantinischen Frieses erinnert) und
die Gliederung der Schwibbogen im Inneren auf ein minder spätes Alter
der Kirche.

Endlich gehört zu den bedeutenderen Kirchen der in Rede stehenden
Gattung noch die Kirche von Grimme. Ihre Thurmanlage und die Vor-
halle unter derselben ist der der zuletzt besprochenen Kirchen ähnlich;
ihr Chor ist dreiseitig geschlossen und die Seitenschiffe um denselben als
Umgang, wie an der Jakobikirche von Stettin und an der Petrikirche von
Treptow a. d. T., umhergeführt. Sieben einfach achteckige Pfeiler stehen
auf jeder Seite des Mittelschiffes in gerader Flucht, dann folgen die beiden
Pfeiler des Chorschlusses; die Schwibbogen über den Pfeilern haben die
einfachste Formation. Der Chorraum scheidet sich von dem eigentlichen
Schiff durch ein stärkeres Pfeilerpaar; hier sieht man, namentlich wo die
Seitenschiffe in den Chor-Umgang übergehen, die Reste einer älteren Bau-
anlage , die noch der frühsten Entwickelung des Spitzbogens, dem Ueber-
gangsstyle, anzugehören scheint und bei dem Neubau auf ziemlich rohe
Weise umgeändert ist. Dasselbe bemerkt man an den Stellen, wo die
Seitenschiffe in die Thurmhalle übergehen.

B. Gobäudfe mit niedrigen Seiten schiffen.

Die Nikolaikirche zu Stralsund ist die schönste unter den Kir-
chen der zweiten Gattung, überhaupt diejenige unter sämmtlichen pom-
merschen Kirchen des vierzehnten Jahrhunderts, welche die reichste und
edelste Entfaltung der Architektur des Inneren zeigt. Ihre ganze Anlage
deutet darauf hin, dass sie der früheren Zeit des vierzehnten Jahrhunderts
angehört. Eine alte Nachricht sagt, dass sie im J. 1311 zu bauen ange-
fangen sei'); dieselbe Nachricht fügt hinzu, im J. 1329 sei „der Thurm"
derselben Kirche angefangen worden. Uebereinstimmend mit letzterer lautet
eine zur Seite des westlichen Portales befindliche, in einen Stein gegrabene
Inschrift; „Inceptio turris S. Nicolai anno millesimo ccc uicesinio nono."
Später aber heisst es, unter den Nachrichten Stralsundlsclier Chroniken:
„Anno 1366 in der nacht by 2 vhren, do fieel der türm aft" von St. Nico-

Nachrichten über die Stralsundischen Kirchen. (Aus einem alten Ma-
nuscript unter den Charisianis auf der hiesigen Rathsbibliothek.) Mitgetheilt in
der Suudine, 1835, No. 92, S. 367. — Der obigen Nachricht sind zwar, a. a. 0.,
in einer Anmerkung die Worte „Schwerlich richtig" beigefügt^ doch darf man
diese wohl nur, da weiter keine Gründe angegeben werden, als die subjektive
Meinung des Mittheilers ansehen.

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726 Pommersche Kunstgeschiclite.

lauss-kerken Alle drei Nachrichten scheinen nur von der Anlage
Eines Thurmes zu sprechen; sie scheinen noch durch den Umstand ein
grösseres Gewicht zu erhalten, dass an dem mittleren Theil der Westseite,
über der sich jezt zwei Thürme erheben, das Fundament anders gestaltet
ist, als zu den Seiten, so dass man dasselbe als einen Rest der ersten
Thurmanlage betrachten dtlrfte. Es wird demnach mit Wahrscheinlichkeit
der gegenwärtig vorhandene Bau der beiden Thürme als eine Anlage aus
der späteren Zeit des vierzehnten Jahrhunderts zu betrachten sein; die
Eichtigkeit der Angabe über die Gründung der Kirche selbst finde ich in
ihrem ganzen Baustyle aufs Entschiedenste bestätigt.

Das Innere der Kirche hat bedeutende und würdige Dimensionen; das
Mittelschiff erhebt sich zu namhafter Höhe , die niedrigeren Seitenschiffe
schliessen sich demselben in trefflichem Verhältnisse an. Der Chor ist
dreiseitig geschlossen; die Seitenschiffe sind als Umgang um den Chor
umhergeführt, doch so, dass sie in der Hauptform einen fünfseitigen Schluss
des Ganzen bilden. An den fünf Seiten dieses Schlusses aber treten wie-
derum kleinere kapellenartige Vorlagen, meist dreiseitig gestaltet, hinaus.
Diese reiche, gegliederte Form, in welcher der östliche Theil der Kirche
aufgeführt ist, hat unter den erhaltenen Kirchen Pommerns kein zweites
Beispiel; sie ist der Anlage der Dome in südwestlichen Landen verwandt
und scheint es anzudeuten, dass der Baumeister der Nikoiaikirche dort
seine Studien gemacht hat-. Doch bestätigen dies auch noch andre Motive.
Schiff und Seitenschiffe werden auf jeder Seite durch neun Pfeiler geson-
dert, denen sich die beiden in den Ecken des Chorschlusses anreihen, so
dass im Ganzen 20 freistehende Pfeiler vorhanden sind, von denen die
10 westlichen dem eigentlichen Schilf, die 10 östlichen dem eigentlichen
Chorbau angehören. Die Pfeiler des Schiffes sind achteckig, mit feinen,
in die Ecken eingelassenen Halbsäulchen; ihr Deckgesims wird durch ein
einfaches schräges Band gebildet, über dem die reichgegliederten Schwib-
bogen und die Halbsäulchen aufsetzen, die an den oberen Wänden des
Mittelschiffes, als Gurtträger für das Gewölbe des letzteren, emporlaufen.
Die Chorpfeiler (121.) aber sind durchaus aufs Reichste und Lebendigste
gegliedert, indem nicht nur an ihrer Vorder- und Rückseite die zierlich
weich geformten Gurtträger niederlaufen, sondern auch die andern Seiten,
welche die Schwibbogen tragen, in regem Wechsel der Theile belebt sind.
Im anmuthigsten Verhältniss reihen sich hier Halbsäulchen an Halbsäul-
chen, die mehr vortretenderen im Durchschnitt jenes reichere birnenför-
mige Profil zeigend, die andern durch wirkliche Kreisform gebildet. In
ähnlicher Weise, nur ein wenig einfacher, erscheint dann "auch die Glie-
derung der Schwibbögen (die zugleich im ganzen Schiff durchgeht}. Das
Basament dieser Pfeiler erscheint, wo es sichtbar ist, ganz im streng go-
thischen Style. Ihr Deckgesims ist mit sauberem gothischem Blattwerke
verziert. Nah über den Schwibbögen zieht sich an den'Wänden des Mit-
telschiffes, über die Gurtträger sich herumwindend, ein Fries mit ähnli-
chem Blattwerk hin. Oberwärts ist die Last dieser Wände durch grosse
spitzbogige Nischen, von Pfeiler zu Pfeiler reichend, erleichtert; im Grunde
der Nischen sind die Oberfenster angebracht; durch die Nischen läuft eine
offene Gallerie hin, Die Gewölbe scheinen nicht der ursprünglichen An-

Herausg. von Mohnike und

*) Berckmann's Stralsundiscliö Chronik etc.
Zober, S. 163.

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Kirchliche Architektur, ' 3. Gothischer Styl des 14. Jahrhunderts. 727

läge der Kirche anzugehören; ihre Kreuzgurte sind meist zu dünn im
Verhältniss zu den Gurtträgern; auch sieht man an einzelnen Stellen die
Ansätze stärkerer Gurte. Manche andre Spuren von Veränderung der Ge-
wölbe geben sich besonders im Chor-Umgange zu erkennen.

Die Vorhalle auf der Westseite zerfällt in drei Haupttheile, indem der
mittlere Raum die Höhe des Hauptschiffes hat, während die Seitenräume
der Höhe der Seitenschiffe entsprechen. Die Bögen, welche aus den Sei-
tenschiffen in die Halle führen, sind wiederum vortrefflich gegliedert. Zu
bemerken ist jedoch, dass der mittlere Hauptraum der Halle sehr schmal
ist, indem hier die Thurmpfeiler so mächtig vortreten, dass nur etwa ein
Drittel von dem freien Räume des Mittelschiffes offen bleibt. Dies giebt,
für den Gcsammteindruck des Inneren, kein recht harmonisches Verhält-

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728 Pommersche Kunstgeschiclite.

niss ')i und so scheint es, dass man hieraus auf eine, nach jenem Tharm-
einsturz erfolgte Veränderung der ursprünglichen Anlage schliessen dürfte.
Vielleicht hat man es, um ein neues Unglück zu verhüten, für nöthig be-
funden, die Thurmpfeiler in der angegebenen "Weise stärker anzulegen.

Die Strebepfeiler der Seitenschiffe treten, kleine Kapellen zwischen
sich einschliessend, in das Innere der Kirche hinein. Ausserhalb sind sie
jedoch über das Dach der Seitenschilfe emporgeführt und tragen starke
Strebebögen, die sich frei gegen die Wände des Mittelschiffes hinüber-
schlagen. Dies ist wiederum das einzige Beispiel solcher Art, welches an
pommerschen Kirchen gefunden wird. An den Strebepfeilern selbst zeigt
sich gegenwärtig kein thurmartiger Schluss über dem Ansatz der Bögen,
wie solcher, wenn auch in einfachster Gestalt, zur harmonischen Ausbil-

deutlich wenigstens aus
dem oberen Ansatz der
Strebepfeiler desChores;
an ihren Seiten sind
nämlich vertikale Strei-
fen , die gegenwärtig
auf unpassende Weise
durch die Bedachung
der Bögen abgeschnitten
werden und die darauf
hindeuten, dass diese
Theile ursprünglich hö-
her hinaufgeführt wa-
ren. — Die Fenster sind zumeist sehr ein-
fach. Das Hauptportal auf der Westseite(122.)
hat eine reiche Gliederung, aus Halbsäu-
len und Einkehlungen gebildet, die sich in
angemessener Weise zu einzelnen Gruppen
zusammenordnen; Kapitale oder Kämpfer-
gesims sind an demselben nicht vorhanden,
wohl aber ein rein gothisches, nur sehr beschä-
digtes Fussgesims. Zwei Portale an der Süd-
seite des Chores (123.) sind nach verwandtiem
Princip, nur einfacher, gebildet. Ein Portal
des südlichen Seitenschiffes nahe am Thurme
hat dagegen eine Gliederung von ziemHch ma-
nierirter Formation (124.), so dass ich es für
später eingesetzt halten möchte. — Beide Thürme
steigen in einfach viereckigen Massen empor.
Bis etwas über der Dachhöhe der Seitenscliiffe
sind sie ohne alle weitere Verzierung; dann sind an ihnen in vier Ge-
schossen wohlgestaltete Fensterblenden angebracht, je drei auf jeder Seite
der Thürme; auch diese sind indess sehr einfach gebildet und namentlich
ohne den in der späteren Zeit des vierzehnten Jahrhunderts so häufigen

Als ich die Kirche besuchte, war die Orgel aus dem Mittelraume jener
Halle, einer Reparatur wegen, herausgenommen, so dass ich zufällig Gelegenheit
hatte, den Gesammteindruck deutlicher zu empfinden, als es ohnedies der Fall
gewesen wäre.

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Kirchliche Architektur. 3. Gothischer Styl des 14. Jahrhunderts. 729

Schmuck der Rosetten von geljranntein
Stein. Die ganze Thurmanlage steht
solcher Gestalt mit dem, in einfachen
Massen aufgeführtem Aeusseren des
Kirchenbaues in guter Harmonie. —

Beträchtlich später als die Nikolai-
kirche erscheint die Jakobikirche
zu Stralsund Zu Anfang des vier-
zehnten Jahrhunderts wird zwar schon
von dem Vorhandensein. dieser Kirche
gesprochen; der gegenwärtige Bau kann
aber, seiner ganzen Beschaffenheit nach,
erst der späteren Zeit, vielleicht dem
Schlüsse des Jahrhunderts angehören. Die gesammte Ostseite der Kirche,
Mittel- und Seitenschiffe in-Einer Flucht, wird durch eine gerade Wand
abgeschlossen. Sechs Pfeiler scheiden auf jeder Seite das Mittelschiff von
den Seitenräumen; sie haben eine einfach achteckige Gestalt, nur an den
beiden Pfeilern zunächst dem Altar sind Halbsäulchen in die Ecken ein-
gelassen. An den Schwibbogen über den Pfeilern ist die Gliederung nur
durch geradlinige Einschnitte hervorgebracht (wie oben, S. 717, No. 98.).
Diese nüchterne Detailbildung giebt einen Beleg für die in Anspruch ge-
nommene spätere Zeit, ebenso auch die Höhenverhältnisse der inneren
Räume. Denn während in der Nikolaikirche das. schönste gegenseitige
Verhältniss zwischen dem Hauptraume des Mittelschiffes und den Neben-
räumen der Seitenschiffe obwaltet, so zeigt sich hier das Streben, durch
Erhöhung der letzteren eine bedeutsamere Wirkung hervorzubringen, das
aber nur als ein Verkennen des reinen Styles, als eine Entartung zu
betrachten ist, und das nur eine Zwittergestalt zwischen den Kirchen
beider Gattungen zu Wege bringt. Dadurch wird denn auch die Licht-
öffnung der Fenster in den oberen Wänden des Mittelschiffes unverhält-
nissmässig klein. Ja, es beginnt bei der Bildung dieser Fenster, nach
ihrer inneren Seite, bereits eine eigenthümliche, sehr unschöne Form, die
nur aus dem nüchternsten Handwerkssinne hervorgegangen ist und die ich
in^ihrer vollen Erscheinung als charakteristisch für die Zeit des fünfzehnten
Jahrhunderts betrachten muss (125.). Indem nämlich der Bogen, der das
Fenster oberwärts schliesst, mit den Linien der Wand-
nische des Inneren parallel läuft, indem aber das Fenster
selbst schmaler ist als die Nische, so wird der Uebergang
aus den vertikalen Seiten des Fensters in den Bogen zu
einer gebrochenen Ecke, die den lebendigen Organismus
der Form geradehig aufhebt. Bei der Jakobikirche ist
diese Einrichtung insofern minder auffällig, als die Licht-
öffnung der Fenster eben nur im Einschluss jenes Bogens
besteht, somit durch ihren unteren Abschnitt jener ge-
brochene Uebergang anderweitig bedingt scheint. Bei der Marienkirche
von Stralsund (vergl. unten) entwickelt sich diese Form in ihrer ganzen
unschönen Eigenthümlichkeit. — Die Thurmhalle der Jakobikirche ist von
grossartiger Einrichtung, üeber ihreni Mittelraurae erhebt sich der Thurm

ri

Vergl, Zober, die S. Jakobikirche zu Stralsund, in der Sundine, 1837,
No. 71, If.

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746 Poiamersche Kuustgeschichte.

730

(als ein einzelner), der schlank in die Höhe steigt und auf eine reiche und
geschmackvolle Weise geschmückt ist. Zunächst über der Höhe des Mittel-
schiffes ist der Thurm, in zwei Geschossen, viereckig gestaltet. Zur Ab-
theilung der Geschosse dienen zierliche Rosettenfriese von schwarzglasirten
Steinen; an den Seiten jedes einzelnen Geschosses sind je drei Fenster-
blenden angebracht, denen der Nikolaikirche ähnlich, aber mit reichen
Rosetten, ebenfalls von schwarzglasirtem Steine, geschmückt, üeber den
Ecken des zweiten Geschosses springen dann kleine viereckige Thürmchen
mit Fensterblenden empor, zwischen denen sich der achteckige Oberbau
erhebt, dessen Seiten wiederum denen der unteren Geschosse ähnlich ge-
schmückt sind. Auch diese reiche Dekoration des Thurmbaues' scheint
mir charakteristisch für die genannte spätere Zeit, in w^elcher das künst-
lerische Element mehr am Aeusseren der Gebäude als an ihrem Inneren
hervorzutreten beginnt. —

Die Nikolaikirche zu .Greifswald'ist um den Beginn des vier-
zehnten Jahrhunderts angefangen und höchst wahrscheinlich im Jahr 1326
vollendet worden Ohne Zweifel gehört der gegenwärtig vorhandene
Hauptbau der Kirche in diese Zeit, wenigstens sprechen dafür die sehr
schönen Verhältnisse des Inneren, namentlich das sehr harmonische Yer-
hältniss der Seitenschiffe zum Mittelschiff. Auffallend ist nur die etwas
nüchterne Gestaltung der Ostseite, indem das Mittelschiff mit einer gerad-
linigen Wand schliesst, während die Seitenschiffe hier durch schräge Wände
begrenzt werden, so dass (wie an der Marienkirche von Anclam in deren
gegenwärtiger Erscheinung) für das Aeussere eine Art dreiseitigen Chor-
sehlusses entsteht. Das Hauplfenster der östlichen Wand ist bemerkens-
wie es scheint, alte Stabverzierung (126.), deren Ver-
schlingungen der Fensterbildung mancher Gebäude in
südwestlichen Landen entsprechen, doch, dem Back-
steinbau gemäss, auch so ziemlich einfach gehalten
sind. Sonst lässt sich über die Detailformen der
Kirche kaum etwas Besondres sagen , da sie bei der
neuerlich erfolgten, übrigens sehr geschmackvollen
Restauration durchweg erneut und umgewandelt sein
dürften. — Nur der Thurmbau der Kirche ist in seinen
ursprünglichen Formen erhalten; diese jedoch deuten
auf ein jüngeres Alter, als das der Kirche, ihrer Anlage nach, zu sein
scheint. Vermuthlich gehört der Thurm, der sich über der Mitte der West-
seite erhebt und dem Thurm der Jakobikirche von Stralsund in mehreren
Motiven ähnlich ist, der Zeit um den Schluss des vierzehnten Jahrhunderts
an. Bis zur Höhe des Mittelschiffes und diesem an Breite gleich steigt er
in einfach viereckiger Masse empor, «nur am Obertheil mit einigen Fen-
sterblenden von zusammengesetzter Gestalt, doch ohne-weiteren Schmuck,
versehen. Dann springen über den Ecken kleine Rund thürmchen empor,
deren rolhe Steinmasse in gewissen Zwischenräumen von schwarzen Stein-
lagen durchzogen wird (127.). Die Thürmchen stehen aber nicht frei, son-
dern sind durch kleine Zwischenbauten verbunden, die aus drei Geschossen,
übereinander zurücktretend, bestehen. Das unterste dieser Zwischen-
geschosse hat eine
Zinnen - artige Bekrönung; zugleich ist dies, sowie

44

1) Gesterding, Beitrag zur Gesch. d. St. Greifswald, S. 40. — Vgl. Bieder-
stt'dt, Gesch. d. Nikolaik, in Greifswald, S. 8.

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Kirchliche Architektur. 4. Gothischflr Styl des 15. Jahrhunderts. 731

das oberste Zwischen-
geschoss, durch Reihen
kleiner Fensterblenden
geschmückt, die aber
nicht im Spitzbogen,

sondern, charakteri-
stisch für die spätere
Zeit, im Halbkreisbo-
gen überwölbt sind,
üeberhaupt scheint die-
ser ganze Zwischenbau
mit den Rundthürm-
chen, der sich so be-
deutend von den kirch-
lichen Eigenthümlich-
keiten entfernt und die
Anlage von Bauwerken
eines kriegerischen Zweckes nachahmt, schon an sich-ein jüngeres Alter
zu bezeichnen. Dann folgt der schlanke achteckige Oberbau des Thurmes
in zwei Geschossen, die durch ein Rosettenfries geschieden werden und
deren Fensterblenden mit sehr brillanten Rosetten von schwarzglasirtem
Steine (128.) geschmückt sind. Den Schluss des Ganzen macht eine hohe,

phantastisch geformte Kup-
pelspitze, die aus moderner
Zeit herrührt, die aber, bei
der eigenthümlichen Ge-
staltung des Thurmes,
nicht eben zu seiner Ver-
unzierung dient, wie es an-
derweitig bei solchen Kup-
pelspitzen oft genug der
Fall ist. Uebrigens muss
hinzugefügt werden, dass
^ der gesammte Thurmbau
mit Ausnahme der Spitze,
seinem Style nach auch
nicht eben namhaft später
sein kann, als oben ange-
geben wurde. Zwar wird
von einem zweimaligen,
durch Orkane veranlassten
Sturz des Thurmes in spä-
terer Zeit, in den Jahren 1515 und 1650, berichtet, durch den auch die
Kirche zu beiden Malen sehr beschädigt worden sei Beide Fälle können
indess wohl nur das Gemäuer, welches sich etwa noch über den beiden
vorhandenen achteckigen Geschossen erhob (der Thurm soll ursprünglich
übermässig hoch gewesen sein) und die darüber befindlich gewesenen älte-
ren Spitzen betroflFen haben. —

Die Petrikirche zu Wolgast ist ein Gebäude, in welchem sich der

') Biedoriätedt, a. a. 0., S. 17 u. 22.

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732 Poiamersche Kuustgeschichte.

Baustyl der in Rede stehenden Gattung in einfach tüchtiger Weise ent-
wickelt. Es scheint der ersten Hälfte des vierzehnten Jahrhunderts (doch
mehr der Mitte als dem Anfange) anzugehören. Mittel- und Seitenschiffe
stehen hier in gutem Verhältniss zu einander. Der Chor ist dreiseitig ge-
schlossen, doch sind hier wiederum die Seitenschifle um denselben als
Umgang herumgeführt, und zwar so, dass sie der Ostseite des Gebäudes
einen fünfseitigen Schluss geben. Im Inneren stehen fünf Pfeiler auf jeder
Seite des Hauptschifl'es in gerader Flucht, denen sich die beiden Pfeiler
des Chorschlusses anreihen. Die Pfeiler haben eine einfach achteckige Ge-
stalt, doch treten an ihren vorderen und hinteren Seiten flache Bänder,
mit Halbsäulchen auf den Ecken, hervor (129.), die als Gurtträger in die

Höhe laufen. Die Schwibbogen über den Pfei-
lern sind auf ihren Seitenflächen wohlgeglie-
dert. Das Mittelschiff hat ein gutes Sternge-
wölbe. Die Gliederung an den Portalen der
Kirche ist zum Theil reich zusam-
mengesetzt (130.), besonders aus Bün-
deln von Halbsäulen, indess so, dass
hier in dem Princip der Zusammen-
setzung keine rechte Lebensfrische
sichtbar wird. Ein Paar Kapellen-
bauten, die sich der Kirche an-
schliessen und gegen das Innere
derselben öflfnen, sind in guten Ver-
hältnissen aufgeführt. Der Giebel der
Sakristei zeichnet sich durch leicht
emporsteigende Strebethürmchen und
andre, den leichteren Freibau be-
zeichnende, doch im Wesentlichen
noch ziemlich einfach gehaltene For-
men aus. — Es wird von mehreren Zerstörungen berichtet, die die Kirche
im Lauf der Jahrhunderte, namentlich in den Jahren 1512, 1628 und 1713,
durch Brand erlitten habe i); indess scheinen wenigstens die Haupttheile
der Anlage hiebei nicht wesentlich beschädigt worden zu sein. . Der obere
Theil des Thurmes, der sich über der Westseite erhebt, ist als die wesent-
lichste Erneuerung des Baues, und zwar aus der Zeit des vorigen Jahr-
hunderts, zu betrachten.

An die ebengenannte Kirche schliessen sich fünf in dem östlichen
Theile Hinterpommerns belegene Kirchengebäude, die Hauptkirchen von
Belgard, Cöslin, Rügenwalde, Schlawe, Stolp, alle den Namen
der Marienkirche führend, — an. An diesen entwickelt sich das Bau-
system der in Rede stehenden Gattung in ziemlich consequenter Weise,
und zwar so, dass ihre Formen mit denen der früher erwähnten Gebäude
Hinterpommerns (den Hauptkirchen von Colberg, Treptow a. d. R., Greif-
fenberg) manche Verwandtschaft haben und unter sich, je nachdem ein

Heller, Chronik der Stadt Wolgast, S. 13 u. 229. (Nach Heller's Dar-
stellung sollte mau vermuthen, dass aus dem letzten Brande der Kirche vom
J. 1713 sehr wenig Brauchbares übrig geblieben sei.)

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Kirchliche Architektur. 3. Gothischer Styl des 14. Jahrhunderts. 733

lebendigeres oder ein mehr nüchternes Gefühl darin hervortritt, wiederum
ein höheres oder jüngeres Alter bezeichnen. Zu bemerken ist im Allge-
meinen, dass der Chor an diesen sUramtlichen Kirchen als gesonderter
Bautheil, in der Breite des Mittelschiffes und dreiseitig geschlossen, er-
scheint; dass Mittel- und Seitenschiffe durchweg in gutem Verhältniss zu
einander stehen, und dass die Kirchen überhaupt durch ihre räumlichen
Verhältnisse von guter Wirkung sind; dass ferner die Pfeiler in der Haupt-
form achteckig sind; dass über dem einfachen Kämpfergesims der Pfeiler,
neben der Gliederung der Schwibbogen, welche die Pfeiler verbinden, zu-
gleich die Gliederung der grossen flachen Nischen an den oberen Wänden
des Mittelschiffes aufsetzt; dass die vier erstgenannten Kirchen auf jeder
Seite des Mittelschiffes drei Pfeiler haben (nur in der Kirche von Stolj)
sind deren vier); dass die Gewölbe d^r Haupträume überall in der Stern-
form erscheinen, die wenigstens bei einigen Gebäuden der ursprünglichen
Anlage anzugehören scheint; dass überall auf der Westseite sich nur Ein
Thurm erhebt, und dass dieser in der Regel ursprünglich vor die Seiten-
schiffe vortritt und nur mit dem Mittelschiff durch eine hohe Halle in
Verbindung steht (nur die Kirche von Stolp hat hierin eine wesentlich
abweiciiende Einrichtung); dass überall unter den Dächern der Seiten-
schiffe Rosettenfriese, off gedoppelte, hinlaufen (eine Einrichtung, die
zwar auch bei mehreren der im Vorigen besprochenen Gebäude vorkommt);
dass aber sonst sich im Aeusseren keine reichere Dekoration entwickelt.

Als die edelste unter den fünf genannten Kirchen, somit als der frü-
heren Zeit des vierzehnten Jahrhunderts angehörig, erscheint die Marien-
kirche von Belgard. Die Gliederung der Schwibbögen und der Wand-
nischen über diesen ist einfach, aber von reiner Bildung; an der Vorder-
seite der Pfeiler läuft eine Halbsäule als Gurtträger empor (131.). Ueber

den Schwibbögen zieht sich durch die Wandnischen ein Rosettenfries hin.
Fenster und Portale sind in lebendig bewegten Formen gegliedert. — Im
Mittelschiff fehlen gegenwärtig die Gewölbe, doch sieht man aus den vor-
handenen Ansätzen derselben noch,, dass sie, wie die des Chores, die Stern-
form hatten.

Nicht ganz so edel in den Detailformen und offenbar etwas jünger
als die ebengenannte Kirche, doch noch einige schöne Einzelheiten bewah-
rend, zeigt sich die Marienkirche von Cöslin. In den Gliederungen
der Bögen und Nischen, namentlich über der südlichen Pfeilerstellung der
Kirche, tritt schon mehr nüchternes Element hinzu, indem dieselben grossen-
theils nur durch geradlinige Einschnitte hervorgebracht sind. Doch sind

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734

Pommersche Kunstgeschichte.

auch hier noch Gurtträger an den Hauptseiten der Pfeiler angeordnet, die
aus Bündelchen von je drei feinen Halbsäulen bestehen (132.). Diese, so-

wie die als einfache Halbsäulen gebildeten Gurtträger des Chores stehen
zu den Gurten des Sterngewölbes in harmonischem Verhältniss. Die Seiten-
schiffe sind hier zu den Seiten des Thurmes vorgeführt und mit seiner
Halle verbunden, was sich aber als eine spätere, ziemlich rohe Umänderung
der ursprünglichen Anlage zu erkennen giebt. An den äusseren Theilen
der Architektur hat manche , zum Theil rohe Umänderung statt gefunden.
Die Chorfenster sind ziemlich nüchtern profllirt (133.). Eigenthümlich ist

es, dass hier der unter dem Dach angebrachte
Rosettenfries um die Strebepfeiler herumläuft
und dass man über diesen die freistehende
Bekrönung, als Thürmchen von sehr einfacher
Gestalt, erhalten sieht (134.).

Etwa gleich altmit
der Kirche von Cös-
linist die Marien-
kirche vonSchla-
we. Bei ihren Bo-
gen und den Wand-
nischen über diesen
finden sich ähnliche Elemente wie dort; Gurt-
träger sind an den Pfeilern nicht vorhanden, doch
haben ihre Ecken ein eigenthümlich zierliches
Profil (135.), indem sich aus tiefen Einkehlungen

feine Halbsäulchen entwickeln. (Die Feinheit

1

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Kirchliche Architektur. 3. Gothischer Styl des 14. Jahrhunderts. 735

dieser Form steht übrigens nicht recht in Harmonie mit der schweren Ge-
sammtmasse der Pfeiler.) Auch hier sind die Seitenschiffe zu den Seiten
des Thurmes vorgeführt und mit seiner Halle verbunden. Eigenthtimlich
ist die Anlage einer Halle am nördlichen Seitenschiffe, welche sich um
dessen östliche Ecke herumzieht und in den Chor führt. Sie ist, wie alle
Räume der Kirche, mit Sterngewölben überspannt, doch von roher Arbeit.
Die Gliederungen der Fenster entsprechen denen der Bögen über der
Pfeilerstellung im Inneren. Die Gliederung des Hauptportales ist reich,
aber nach ziemlich nüchternem Princip, aus Halbsäulen von verschiedener
Stärke zusammengesetzt.

Auch die Marienkirche von Stolp dürfte derselben Periode (etwa
der Mitte des vierzehnten Jahrhunderts) angehören. Seltsam ist es, dass
hier die Bögen und Nischen über der nördlichen Pfeilerstellung der Kirche
(136.) eine lebendigere, die über der südlichen (137.) eine mehr nüchterne

Gliederung haben; auch sind an der Nordseite frei vorspringende Gurtträger,
in ihrer Hauptform als Halbsäulchen, angeordnet. Diese Gurtträger brechen
aber nah unter dem Ansatz der Gewölbgurte ab, und letztere beginnen in
dünneren Verhältnissen, so dass sich hier die Veränderung der ursprüng-
lichen Anlage deutlich erkennen lässt. Ueber den Schwibbogen der nörd-
lichen Pfeilerstellung zieht sich ausserdem auch ein Rosettenfries (138.) hin.

— Es ist schon bemerkt, dass
die Marienkirche von Stolp
die grösste des in Rede stehen-
den Cyclus ist. Noch bedeut-
samer wird die "Wirkung ihrer
architektonischen Masse durch
die Anordnung einer Thurmhalle, deren Seitenräume, vor den Seitenschiffen,
dem mittleren Raum an Höhe gleich sind, so dass sich hier eine Art west-
lichen Querschiffes bildet. Die Thurmhalle hat keine Gewölbe, doch zeigen
die in ihr vorhandenen Gurtträger, dass sie auf die Ausführung eines sol-
chen eingerichtet war. — Die an Fenstern und Thüren vorkommenden
Gliederungen sind ohne sonderliche Bedeutung.

{

I-.

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736

Pommerscbe Kunstgeschichte.

Die Mari enkirche vonRügenwalde scheint der späteren Zeit des
vierzehnten Jahrhunderts anzugehören. Bögen und Wandnischen über den
Pfeilern des Innern sind hier ausschliesslich nur durch geradlinige Ein-
schnitte gegliedert. Eigenthümlich ist auch hier eine verschiedene Ein-
richtung beider Oberwände des Mittelschiffes, indem nämlich auf der Süd-
seite, im Grunde jener Ilachen Nischen, kleinere Nischenreihen angeordnet
sind, über denen dann die niedrigen Oberfenster (nur durch die Linien
eines Spitzbogens, aber nicht zugleich durch senkrechte Fortsetzung des-
selben eingeschlossen) ein wenig genügendes Licht hereinfallen lassen (139.).

Auf der Nordseite dagegen ist die Einrichtung ein-
fach und von gewöhnlicher Art. Die Seitenschiffe
sind auch hier in späterer Zeit neben dem Thurm-
bau vorgeführt und mit dessen Halle in Verbindung
gesetzt. Die Gliederungen am Aeussern der Thü-
ren (140.) und Fenster (141. und 142.) sind zumeist

■w^ohlgebildet. —
Merkwürdig ist die
Einrichtung der ne-
ben dieser Kirche
befindlichen Sakri-
stei; sie ist nämlich
von vier nicht ho-
hen Kreuzgewölben
überspannt, deren Gurte (in
der Form des Rundstabes) in
der Mitte durch einen Rund-
pfeiler gestützt werden und an
diesem niederlaufen.

In einem verwandten Verhältniss zu den zuletzt benannten Kirchen
steht die Moritzkirche zu Pyritz, die etwa aus der Mitte des vier-
zehnten Jahrhunderts herrühren dürfte. Ihre ursprüngliche Anlage stimmt
im Wesentlichen mit jenen Kirchen (die von Stolp ausgenommen) überein,
und es ist nur der sonderbare Unterschied zu bemerken, dass an den Ober-

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Kirchliche Architektur. 4. Gothischflr Styl des 15. Jahrhunderts. 737

wänden des Mittelschilfes keine Fenster, sondern nur Reijien kleiner Fenster-
blenden vorhanden sind (143.), und dass somit das Mittelschiff ein mehr
gedrücktes Verhältniss hat. Dann ist auch die Eigenthümlichkeit anzu-
führen , dass die Schwibbögen über den Pfeilern in beträchtlich hohem
Spitzbogen gebildet und ganz ungegliedert sind, während die Wandnischen
über ihnen eine reichgegliederte und gut profilirte Einfassung (144.) haben.

Die in den Seitenschiffen angeordneten Gurtträger sind aus je drei durch
Einkehlungen getrennten Halbsäulen gebildet (145.); die im Chor haben

eine freiere Gestalt und treten aus Wand-
pfeilern (den Rückseiten der ursprünglichen
Strebepfeiler) hervor, deren Ecken wieder
auf saubere Weise profilirt sind (146.). Die
Sterngewölbe des Chores setzen aber auf die-
sen Gurtträgern Ziemlich unharmonisch auf
und sind somit gewiss nicht der ursprüng-
„ ^ ,, ^^ V. liehen Anlage an-

c-yMmMMmm/M^. ,uC 'gehörig. (Auch

das Mittelschiff
hat SterngewÖl-
- be; in den Seiten-
schiffen sieht man
Kreuzgewölbe.)
—In späterer Zeit
und zwar im fünf-
zehnten Jahrhun-
dert, ist mit dieser Kirche eine bedeutende Umänderung vorgenommen.
Nicht blos sind westwärts die Seitenschiffe wiederum neben dem Thurme
vorgeführt und mit dessen Halle verbunden-, auch auf der Ostseite der
Kirche sind sie, als Umgang um den Chor, fortgesetzt. Bei dieser Um-
änderung der ursprünglichen Anlage sind die alten Strebepfeiler des Chores
stehen geblieben, seine Fenster oberwärts vermauert und die Oeffnungen
derselben unterwärts bis auf den Boden hinab'geführt, wobei man aber auf
harmonische oder nur handwerksmässig reine Anordnung wenig Rücksicht
genommen hat. Sehr seltsam ist es dabei, dass das mittelste (hinterste)
Kreuzgewölbe des Chor-Umganges bedeutend höher emporgeführt ist als

Kugler, Kleine Schriflön I. 47

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738

Pommersche Kunstgeschichte,

die übrigen Theile desselben, dass das Fenster unter demselben ebenso
höher und breiter angelegt ist und dass sich darüber ein eigner viereckiger
Thurm erhebt, dessen Grundriss aber, dem des bezüglichen Kreuzgewölbes
angemessen, ein unregelmässiges Viereck bildet. Dies giebt natürlich dem

Aeusseren des Chorschlusses ein
^ ziemlich wunderliches Ansehen. Die
^ Strebepfeiler desChorumgangessind
an ihrer äusseren Fläche mit wohl-
gebildeten Blenden geschmückt; die
Anordnung, besonders aber die Glie-
derung dieser Blenden entspricht
den an den Stargarder Architek-
turen des fünfzehnten Jahrhunderts
vorkommenden Dekorationen jund darf somit als
charakteristisch für die späte Erbauungszeit des
Chorumganges betrachtet werden. Die Portale der
Kirche (147.148.), an den älteren wie an den spä-

teren Theilen , haben zum Theil reiche Gliederungen, denen indess ein
frischer Organismus fehlt. Die Einfassungen der Fenster sind ziemlich
schmucklos

Eine Inschrift in der nördlichen Nebeiihalle des Hanptthurmes berichtet
mit folgenden Worten von allerlei Brandunglück, das die Stadt und zum Theil
auch die Kirche betroffen:
„Und ist die Stadt Pyritz
Anno 1496 den 19 Mart gantz ausgebrandt
„ 1596 den 19 Mart ist Sie ausgebrandt mit der Kirchenhalle
„ 1634 den 29 Mart ist das Mönche Virtel abgebrandt

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Kirchliche Architektur. 4. Gothischflr Styl des 15. Jahrhunderts. 739

C. Besondre Banformen.

Verschiedene Kirchen und Kapellen von kleinerer Dimension,.die in
einfacher Anlage, ohne Seitenschiffe, erbaut sind, reihen sich den bisher
besprochenen Gebäuden des vierzehnten Jahrhunderts an. Dahin gehört
u. a. die Johannis-Kloster-Kirche zu Stralsund, die in angeneh-
men , leichten und freien Verhältnissen, wenn auch ohne feinere Ausfüh-
rung des Details, erbaut ist. Merkwürdig ist die Kirche durch den Vor-
hof, der sich, als das einzige Beispiel solcher Art, das in Pommern
erhalten ist, in der Breite der Kirche und in ziemlich bedeutender Tiefe
vor ihr ausdehnt. Er ist rings mit einer Halle umgeben, die in der Breite
durch je vier, in der Länge durch je neun achteckige Pfeiler gebildet wird;
die Pfeiler sind durch gedrückte breite Spitzbögen verbunden; die Gewölbe
der Halle haben theils eine wohlgebildete Kreuzform, theils sind es zier-
liche Sterngewölbe. Das Ganze des Vorhofes ist von sehr woKlthuendem
Eindrucke. Ob die erste Anlage des Klosters im J. 12541) schon auf einen
solchen Vorhof berechnet war, weiss ich nicht zu sagen. Der Kreuzgang
dieses Klosters und die sonstigen Klosterräume sind gegenwärtig sehr ver-
baut , doch ist vielerlei von kreuzgewölbten Räumen erhalten. — Die
Klosterkirche in der Altstadt Pyritz ist ein sehr einfaches Gebäude;
eine Thür auf der Nordseite zeichnet sich durch ihre edle, einfach schöne

Ferner muss hieher,
wie es scheint, dieKirche
von Ilsedom gezählt
werden. Dem breiteren
und längeren Schiflfe,
über dessen Westseite
sich der Thurm erhebt,
fügt sich als eigner Bau-
theil der kleiiiere drei-
seitig geschlossene Chor
an. Letzterer erscheint
von sehr roher Arbeit.
Im Inneren des Schiffes aber springen zwi-
schen den Fenstern wohlgebildete Wand-
pfeiler vor (die Rückseiten der näch aussen
hinaustretenden Streben), mit Halbsäulchen
in den Ecken. Die Kirche ist ohne Gewölbe,
und scheintauch kein solches gehabt zu haben,
da sie zu breit ist, als dass diese Einrich-
tung ohne freie Pfeilerstellungen im Innern,

Anno 1634 den 1 April ist die gantze Stadt, Kirche v Schule blin (?) drey
buhden, abgebrandt
,, 1652 den 19 April ist das .... Viertel abgebrandt, ander ertl men

brandschaden zu geschweigen."
Indess geht, wie bereits im Obigen angedeutet ist, aus dem Baustyl der
Kirche hervor, dass sie wenigstens in ihren Haupttheilen aus diesen Ereignissen
unbeschädigt hervorgegangen ist.' Nur etwa die rohen oberen Theile des Haupt-
thurmes dürften als Restauration, nftch einem oder dem andern Brande erfolgt,
zu betrachten sein, ^

Berckmanns Strals. Chronik etc. S. 161.

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740 Pommerscbe Kunstgeschichte.

von denen man aber keine Spur sieht, wohl ausführbar gewesen wäre. Docli
ist an der Kirche so Vieles verdorben und geflickt, dass es schwer sein
dürfte, über ihre ursprüngliche Anlage ein ganz bestimmtes Resultat zu
gewinnen.

Ein zwar sehr einfaches, doch zugleich eigenthümlich anmuthiges Ge-
bäude ist die Gertruds-Kapelle bei Treptow a. d. R. (vor dem
Greiffenberger Thore). Der Altarraum ist dreiseitig geschlossen; vor der
Mitte des Giebels steigt, fast einem starken Strebepfeiler vergleichbar, ein
schmales Glockenthürmchen in die Höhe, in dessen Ecken Halbsäulchen
eingelassen sind. Die Gewölbe im Inneren sind ausgebrochen und die
Kapelle dient nur zur Aufbewahrung von Geräthen. Die beiden andern
Kapellen von Treptow, die heil. Geist-Kapelle in der Stadt und die
Georgs-Kapelle
vor dem Colberger Thore sind minder bedeutend. Beide
sind verbaut. — Die heil. Geist-Kapelle zu Garz an der Oder hat
eine ähnliche Anlage wie die Gertruds-Kapelle zu Treptow a. d. R.; auch
sie indess ist im Inneren verbaut.

Sodann sind einige Kapellen anzuführen, deren Anlage sich, abweichend
von der bei den kirchlichen Bauten des Mittelalters vorherrschenden Haupt-
form , als Polygon gestaltet. Besondre rituelle Bedürfnisse werden diese
abweichende Form hervorgerufen haben. Zwei von ihnen, die bedeuten-
deren und die sich zugleich den schönsten pommerschen Bauten aus der
Zeit des vierzehnten Jahrhunderts anreihen, sind auf Kirchhöfen belegen
und dürften als dem Gräberdienste gewidmet zu betrachten sein. Beides
sind Gebäude der Art, welche die Engländer als „Heilige Grab-Kirchen"
benennen und die man gewöhnlich als Nachahmungen der Kirche des
heiligen Grabes in Jerusalem betrachtet; namentlich die eine von ihnen
ist dieser Form sehr nahe entsprechend. Doch führen beide den Namen
der heil. Gertrud, der indess nicht minder die Bestimmung des Gräber-
dienstes anzudeuten scheint.')

Die eine von ihnen ist die Gertruds-Kirche bei Wolgast. Sie
ist von zwölfeckiger Gestalt (150.). In der Mitte steht ein starker Rund-
pfeiler, über dessen einfachem Deckgesims 24 Gewölbgurten ansetzen, aus
denen sich ein sehr zierliches Sterngewölbe entwickelt. In den Eclien der
Kirchenwände sind feine Gurtträger, Halbsäulchen in der Hauptform, ange-
bracht; die Gewölbgurte haben ein wohlgebildetes Profil, Fenster und Thü-
len sind ebenfalls, zwar einfach, doch in edler Weise profilirt. Das ganze
Innere gewährt den wohlthuendsten Eindruck, der leider nur durch die
hineingesetzten hölzernen Emporen sehr beeinträchtigt wird. (Ueber die
Malereien an diesen Emporen s. unten.) — Es wird behauptet, die Kirche
sei von Herzog Bogislav X. nach seiner Rückkehr aus dem gelobten Lande,

Es wird nämlich mit der genannten Heiligen die h. Gertrud von Nivelle,
die Tochter Pipins, des Major Domus unter Dagobert von Austrasien , gemeint
sein. Von Nivelle aber beisst es in der „Christlichen Kunstsymbolik und Ikono-
graphie" (Frnnkf. a. M. 1839, S. 208.), dass dieser Ort „den Gestorbenen gute
Herberge bereiten solle."^ So erklärt es sich denn , dass auch noch anderweitig
die auf Kirchhöfen belegenen Kapellen den Namen der h. Gertrud führen, wie es
z.B. mit der oben genainnten Kapelle bei Treptow a. di R. der Fall ist.

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Kirchliche Architektur. 4. Gothischflr Styl des 15. Jahrhunderts. 741

somit in den letzten Jahren des fanfzelinten oder im Anfange des sechzehn-
ten Jahrhunderts erbauet worden^"); dieser Annahme scheint aber der ganze
Baustyl sehr entschieden zu widersprechen.

Die Gertrudskirche bei ßügenwalde ist in der äusseren Um-
fassung ebenfalls zwölfeckig und von nicht geringerer Schönheit in der Ent-
wickelung der inneren Architektur. Doch ist ihre Anlage mehr durchge-
bildet, indem sich in der Mitte ein sechseckiger höherer Hauptraum gestaltet,
dem sich die Seitenräume als Umgang anschliessen. (Diese Einrichtung ist
die der in England sogenannten h. Grabkirchen.) Der sechseckige Raum
wird durch sechs achteckige Pfeiler (mit feinen Eckprofilen) gebildet, die
durch einfache Spitzbögen verbunden sind. Ueber diesen Spitzbögen er-
heben sich geschmackvoll gegliederte "Wandnischen (151.), in denen aber

keine Fenster angebracht sind.
Der Mittelraum wird durch ein
zierliches Sterngewölbe be-
deckt, die Seitenräume haben
ebenfalls eine Art von Stern-
gewölben. Die Gewölbgurte
haben hier eine mehr nüch-
terne Bildung, die im Allge-
meinen mehr der Zeit des fünf-
zehnten Jahrhunderts als dem vierzehnten anzugehören scheint, und die
somit auf die Vermuthung leiten könnte, dass die Kirche etwa von König
Erich, nachdem derselbe seinen grossen nordischen Reichen entsagt iind
sich nach Rügenwalde in ein stilles Asyl zurückgezogen hatte, zum Gedächt-
niss seiner Wallfahrt ins gelobte Land erbaut worden sei. Doch scheint

') Heller, Chronik der St. Wolgast,'S. 49, ohne weitereu Nachweis.

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742

Pommei'sobö Kunstgeschichte,

im Uebrigen die Kirche den besten Werken des vierzehnten Jahrhunderts
zu nahe verwandt, als dass man dieser Vermuthung sonderlich Raum geben
darf; auch würde man in solchem Falle König Erich's Grab wohl in die-
ser Kirche suchen müssen, während er doch, wie bekannt, in der Haupt-
kirche der Stadt (der Marienkirche) begraben ist.

Den beiden Gertrudskirchen reihen sich endlich zwei kleine Kapellen
von einfach achteckiger Gestalt an. Die eine von diesen ist die Apol-
1 onienkapelle zu Stralsund, vor der Südseite der dortigen grossen
Marienkirche belegen. Acht starke Pfeiler schliessen hier einfach spitz-
bogige Wandnischen ein, in denen die gleichfalls spitzbogigen Fenster an-
gebracht sind. Ein achtseitiges Kuppelgewölbe, dessen Gurte auf kleinen
Consolen aufsetzen und eine einfach schöne Bildung (doch auch nicht mehr
^ das birnenförmige Profil, — 152) haben, bedeckt den

inneren Raum. Das ganze Innere, so einfach es ist, bringt
einen klaren und wohlthuenden Eindruck hervor; es wäre
sehr wünschenswerth, dasselbe einer würdigeren Bestim-
mung, als der es gegenwärtig dient, zurückgegeben zu
sehen. Die Sage bringt die Kapelle mii einer Heilquelle
in Verbindung, und der Name der heil. Apollonia, der Schutzpatronin gegen
das Zahnweh, könnte dafür sprechen; sonst möchte man die Kapelle wohl
für eine Taufkapelle halten, wie solche, zumeist zwar in der früheren Zeit
des Mittelalters, in achteckiger Gestalt neben den Hauptkirchen errichtet
wurden; auch mit einer solchen Bestimmung könnte sich die Sage von jener
Heilquelle verbinden lassen. Die Bauweise scheint der besseren Zeit des
vierzehnten Jahrhunderts zu entsprechen. Nach chronikalischer Nachricht
soll die Kirche jedoch im Anfange des fünfzehnten Jahrhunderts erbaut
sein Ist dies wirklich der Fall, so würde man hier auf das Auftreten
eines Baumeisters schliessen müssen, dessen reiner Formensinn von dem der-
jenigen Meister, welche die Jakobikirche und die Marienkirche zu Stral-
sund aufgeführt, nicht unwesentlich abwich.

Das zweite achteckige Gebäude ist die Kapelle des Georgen-
Hospitals zu Stolp, vor der Stadt belegen. Auch bei ihr bilden sich
acht ähnliche Nischen. Die Fenster in diesen haben aber nicht die gewöhn-
liche spitzbogige Form, sondern sind kreisrund; ihre Einrahmung ist ein-
fach, aber fein profilirt. An den Pfeilern zwischen jenen Nischen treten
einfach gegliederte Gurtträger heraus; die Gewölbe aber fehlen, vermuthlich
seit dem Brande vom J. 1681, von welchem eine in der Kapelle vorhan-
dene Tafel Kunde giebt. Im Aeusseren laufen vor den Ecken des Gebäu-
des Lissenen, durch Bün-
delchen von je drei Halb-
^ säulchen eingefasst (153),
empor und werden unter
dem jetzigen Dache durch
einfache Friesbänder be-
grenzt. Diese besondere
Ausbildung der äusseren Architektur (die drei vorgenanilten Kapellen sind
im Aeusseren ziemlich einfach) dürfte auch hier vielleicht schon auf die
Zeit des fünfzehnten Jahrhunderts schliessen lassen.

i

') Berckmauii, a. a. 0., S, 7.

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Kirchliche Architektur. 3. Gothischer Styl des 14. Jahrhunderts. 743

4. Gothischer Styl des fünfzehnten Jahrhunderts.

Das fünfzehnte Jahrhundert bezeichnet die höchste Krafteiitwickelung
der pommerschen Städte. Fast unabhängig von landesherrlicher Gewalt
standen die bedeutenderen unter ihnen da, den Unternehmungen der Für-
sten oft mit siegreichem Nachdrucke trotzend. Fürstliche Macht war in
den Händen der Oberhäupter der Städte, fürstlicher Reichthum in dent Häu-
sern der betriebsamen Handelsherren. Aber die ungebändigte Frexheitslust
steigerte sich zu kecker Willkür, die Freude am Besitz zu freventlichem
Uebermuthe, und die rächende Nemesis blieb nicht aus.

Die bedeutenderen Architekturen dieser Zeit stimmen mit solcher Sin-
nesrichtung wiederum entschieden überein. Der klare, harmonische Orga-
nismus, der von innen heraus Form aus Formen entstehen lässt und das
Ganze mit innerer Nothwendigkeit zu einem Vollendeten — einem völlig
Geendeten — macht, war schon in der späteren Zeit des vierzehnten Jahr-
hunderts immer mehr verschwunden und die nüchterne Schulregel an des-
sen Stelle getreten: entschiedene Wirkung hatte man mehr in der Colossa-
lität der Dimensionen als in lebenvoiler Gliederung der Theile gesucht.
Noch mehr strebte man jetzt, durch die Wirkung' der Masse zu imponiren,
selbst dadurch, dass man vorhandene, zum Theil schon an sich nicht un-
bedeutende Bauanlagen mächtig vergrösserte. Die Erweiterungen der Ma-
rienkirche zu Colberg und die der Jakobildrche zu Stettin, die in die spä-
tere Zeit des vierzehnten und in das fünfzehnte Jahrhundert gehören,,geben
dafür besonders charakteristische Beispiele. Doch blieb man bei dieser
blossen Ausdehnung der Masse nicht stehen. War das Gefahl für den
lebendigeren Organismus des Inneren, somit der eigentliche architektonische
Kunstsinn erloschen, so war doch immer noch genug allgemeine künst-
lerische Laune übrig geblieben, die durch roh emporgethürmte Steinmassen
nicht eben befriedigt werden konnte. Sie wandte sich jetzt dem Aeusseren
der Gebäude zu und suchte dasselbe theils durch malerische Gruppirung
der Theile, theils durch die Anwendung reicheren Schmuckes lebendig und
heiter zu gestalten, Man kann wohl sagen, dass die Architektur dieser
Zeit in ihrem Wesen zu einer Architektur des Aeusseren wird; ihr vor-
nehmlich gehört die mannigfache Benutzung jener phantastisch gebildeten
glasirten Formsteine an, die unsern Kirchen zuweilen ein so zierliches
Gepräge giebt. Aber es ist zugleich auch, was ihr eigentliches Wesen an-
betrifft, eine äusserliche Architektur; bei der Bildung und Zusammen-
setzung jener Dekoration verräth sich insgemein mehr ein spielender Sinn,
als ein solcher, welcher den Ernst der Kunst in seiner ganzen Bedeutung
zu fassen vermögend gewesen wäre. — Im Vorigen sind bereits mancherlei
Bautheile besprochen worden, die für das eben Gesagte Belege geben.
Namentlich die Thürme der Jakobikirche zu Stralsund und der Nikolai-
kirche zu Greifswald gehören hieher, sowie, unter dqn Werken kleineren
Maassstabes, die Giebel über dem südlichen Seitenschiffe des Domes von
Cammin, Bedeutendere Beispiele werden im Folgenden gegeben werden.

') Ich sage dies, weil es sich hier um gothiscbe Architektur handelt. Bei
der griechischen, die an sich eine Architektur des Aeusseren ist, würde ein sol-
cher Ausdruck freilich nicht passen.

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744 Poiamersche Kuustgeschichte.

Die Marienkirche zu Stralsund ') ist eine der merkwürdigsten
pommerschen Kirchen, die dem fünfzehnten Jahrhundert angehören, zugleich
eine, die ein vorzüglich charakteristisches Beispiel für den architektoiiischen
Sinn dieser Zeit giebt. Gewöhnlich zwar ist man der Meinung, dass das
eigentliche Kirchengebäude aus dem vierzehnten Jahrhundert (und zwar
aus dessen früherer Zeit) herrühre und dass nur der Bau des Thurmes in
das folgende Jahrhundert falle. Diese Meinung gründet sich, soviel ich
weiss, darauf, dass in verschiedenen chronikalischen Berichten aus der
Mitte des sechzehnten Jahrhunderts von grossen Beschädigungen gesprochen
wird, die ein im vierzehnten Jahrhundert vorhanden gewesenes Gebäude
der Marienkirche in der späteren Zeit dieses Jahrliunderts erlitten habe
und dass hier und dort auf diejenigen Bautheile, die erhalten geblieben,
hingedeutet wird; sodann darauf, dass man im fünfzehnten Jahrhundert
ausdrücklich nur den Thurmbau erwähnt findet. Eine genauere Verglei-
chung dieser Berichte (soviel mir deren vorliegen) untereinander und mit
dem an dem ganzen Gebäude hervortretenden Style ergiebt indess ein an-
deres Resultat, Es ist für diesen Zweck nöthig, die bezüglichen Stellen
wörtlich hieher zu setzen.

a) „Anno 1382 dess mandages vor pingestenn, do vell vnser leuen
fruwenn kercken, dat parth dar dat chor jss." (Berckmanns Strals. Chron.
S. 5.)

b) „Im jähr 1382 des mandages vor pingsten fiel der thurm tho vnser
leuen fruwen nieder, vnd schlog dat chor in, beth vp de ersten söss pyler,
de bleuen stan; darup hernamals dat chor wedder gebuwet vnd mit iserhen
bendern vorsehen ward, wie den noch ogenschinlick is." (Storch'sche Chro-
nik bei Berckmann, S. 164.)

c) „Anno xiijc Ixxxiiij (1384) des mandages vor pinxsten done feil
vnser leüen frowen karcke vnd chür nedder. . . . dat dat chur is ock ned-
der gefallen, kanme noch wohl sehen, wo de vj pyler geschöreth vnd to-
reten gewesen vnd mith isernen vorbünden, alseme noch sehen mach.''
(Wessel'sche Bibel, hsgb. von Zober, S. 4.)

d) „Anno 1382 ist S. Marien Kirchenchor eingestürzt. Anno 1389 ist
die Thurmspitze eingefallen und hat im Gewölbe grossen Schaden gethan."
(Mspt, unter d. Charisianis der Rathsbibl. Sundine, 1835, Nr. 92, S, 367.)

e) „Anno xiiijc vnd xj (1411): done wordt de seyger (das Uhrwerk)
to Marien gehengeth," (Wessel'sche Bibel, S. 4. — Aehnlich bei Berckm.,
S,175: „Anno 1411 do wardt de seyer tho vnser leuen fruwen vpgehenget,")

f) „Anno 1416 do wortt dat fundamente gegrauenn tho vnser leuen
fruwenn torne." etc. (Berckm., S. 9, und ebendaselbst, S. 177.)

g) „Anno xiiijc vnd xvij (1417), don wordt dat fundamente to Marien
thorne gelecht." "Wessel a. a, 0. üebereinstimmend damit das Mspt. unt.
d. Charisianis.)

h) „Anno xiiijc vnd Ix (1460): vp Michaelis setteden ee dat scherwerck
vpp vnser fruwen klocktorue, vnd hingen dar de klocken yn.) (Wessel,
a. a. 0,)

i) „Anno xiiijc vnd Ixxiij (1473),! vp Michaelis is dat murwerck to
Marien thorne fullenbracht." (Wessel, S. 5. Üebereinstimmend damit das
Mspt. unter den Charisianis.)

') Vgl. Zober, die S. Marienkirche zu Stralsund. Sundine, 1836, Nro,. 55,
S. 129 iT. - >

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Kirchliche Architektur. 4. Gothischflr Styl des 15. Jahrhunderts. 745

k) „Anno xiiijc vnd Ixxviij (1478) wordt de thorne effte scherwerck
gerichtet;" (Wessel, a. a. 0. üebereinstimmend damit das Mspt. unter den
Charisianis. — Berckmann, S. 9, giebt dagegen an, die Spitze sei im Jahre
1482 gerichtet worden.)

Die Beschädigungen, welche die Kirche in den achtziger Jahren des
vierzehnten Jahrhunderts erlitten, müssen sehr bedeutend gewesen sein.
Spricht Nachricht a) einfach vom Einsturz des Chores, so nennt die, min-
destens eben so glaubwürdige Nachricht c), deren abweichende Jahreszahl
ohne weiteres Gewicht zu sein scheint, Kirche und Chor zusammen, und
Nachricht b) erwähnt ausdrücklich des Einsturzes des Thurmes, freilich in
der (wenn man sie wörtlich fasst) sehr komischen Anschauung, als ob der
Thurm über die Kirche weggeflogen sei und den Chor allein eingeschlagen
habe. Nachricht d) scheint die Abweichungen, die sich unter den vorge-
nannten Traditionen finden, auf bestimmte und sichere Weise zu erklären;
es würde aber, falls diese Nachricht die vollständig richtige ist, ein zwei-
maliger Einsturz das Gebäude unbedenklich in solchem Maasse beschädigt
haben, dass eine blosse Restauration gewiss kein Werk, welches eine Reihe
von Jahrhunderten zu überdauern vermögend war, geliefert haben könnte.
Diese Nachricht giebt somit wenigstens sehr erhebliche Zweifel an die Hand,
ob das vorhandene Gebäude in seinen Haupttheilen das aus jenen Verwü-
stungen gerettete sei. Indess muss man doch für die nächsten Jahrzehnte
das eingestürzte Gebäude oder einen Theil desselben nothdürftig wieder-
hergestellt haben, nicht weil sich in der That einige mit eisernen Bändern
umgebene Chorpfeiler vorfinden und weil Nachricht b) und c) auf dieselben,
hindeuten (denn es ist wohl zu bemerken, dass sich beide Nachrichten zur
Bestätigung des Factums auf diese Pfeiler berufen, sich somit geradehin
als blosse Traditionen zu erkennen geben), sondern Aveil man, laut Nach-
richt e), im J. 1411 ein Uhrwerk in der Kirche aufhing, die Kirche also
im Gebrauch sein musste. Dann beginnt, im J. 1416, die Arbeit für die
Fundamente des neuen Thurmes, dessen Mauerwerk, zufolge Nachricht i),
im J. 1473 vollendet wurde. Sieben und fünfzig Jahre hätte demnach eine
Stadt, im blühendsten Zustande ihrer Macht, gebraucht, um einen einzigen
Thurm zu bauen! Von Unterbrechungen oder Verzögerungen des Baues
wird Nichts gemeldet, die politischen Verhältnisse in diesem Zeiträume
waren im Allgemeinen so günstig, dass die öffentlichen Unternehmungen
wohl nur in einzelnen Fällen für die kürzeste Frist stocken konnten; nicht
aber ist es denkbar, dass man so äusserst langsam an dem der Ehre der
Stadt gewidmeten Werke vorgeschritten sei, wäre dasselbe nicht von un-
gleich grösserer Ausdehnung gewesen, hätte es nicht eben mehr als den
blossen Thurmbau betroffen. In der That können wir uns die lange Frist
von 57 Jahren nicht füglich anders erklären, als indem wir annehmen,
dass man gleichzeitig auch die morschen Reste der Kirche, die aus jenen
Verwüstungen etwa gerettet sein mochten, durch ein neues, mit der kolos-
salen Thurmanlage übereinstimmendes Gebäude ersetzte. Dass in den obi-
gen Nachrichten ausdrücklich nur des Thurmbaues gedacht wird, wider-
spricht dem auf keine Weise; es sind eben nur die Notizen über den An-
fang und über das Ende des Gesammtwerkes; mit dem Fundamente des
Thurmes wird man begonnen haben und mit dem Bau des oberen Thurm-
iheiles musste man natürlich schliessen. Auch findet sich eine andere
Notiz, die ausdrücklich vom Bau der Kirche, als jener Zeit angehörig,
spricht. Stüblinger, ein Zeitgenoss von Berckmann und Wessel, hat nem-

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746 Pommersche Kunstgeschichte.

lieh den Nachrichten der Wessel'schen Bibel (S. 10), wo die Kostenberech-
nung des ganzen Gebäudes mitgetheilt wird, die Bemerkung zugefügt: „Item
men hefft van olden murelüdeu gehorett, dat tho der tidt, done de kerke
js angehauen tho murende, hebben daran gearbeydet by verdehaltfhunderl
muermeysters ane de thopleger." (Dass er und seine Berichterstatter hie-
bet wirklich die ganze Kirche im Sinne gehabt, ergiebt die grosse Anzahl
der Maurermeister, die für den blossen Thurmbau auf keine Weise passen
könnte.) Hiebei ist endlich auch noch die obige Nachricht h) in Erwägung
zu ziehen. Auf den Hauptthurm kann sie nicht gedeutet werden, da man
sonst den Berichterstatter mit sich selbst in Widerspruch setzen würde;
auch benennt Wessel den Hauptthurm an allen Stellen kurz, während er
hier ausdrücklich vom Glockenthurme spricht, dem das Sparrwerk aufge-
setzt worden sei. Unter diesem wird man sich wohl keinen andern als
den kleinen Thurm über der Mitte des Kirchendaches (in seiner ursprüng-
lichen Gestalt) denken können, und dürfte somit das Jahr 1460 als das-
jenige bezeichnen, in welchem das Kirchengebäude im Wesentlichen seine
Vollendung empfangen hatte. — Alles bisher Angeführte erhält aber seine
volle Bestätigung durch die Betrachtung des Gebäudes selbst, das mit dem
Thurmbau eine einzige, auf die gegenseitige Wirkung berechnete Gesammt-
anlage bildet, und dessen architektonischer Styl mit dem des Thurmes
ebenso übereinstimmt, wie derselbe von dem Styl der besseren Werke des
vierzehnten Jahrhunderts (namentlich der Nikolaikirche zii Stralsund) ent-
schieden abweicht und vielmehr bereits das Gepräge einer bedeutenden
Ausartung in sich trägt. Ob einzelne geringe Reste des älteren Kirchen-
gebäudes bei dem Neubau benutzt sind, ob namentlich jene mit eisernen
Bändern versehenen Chorpfeiler, von denen die Nachrichten b) und c) spre-
chen, dahin gehören, wage ich für jetzt nicht zu entscheiden. Doch schei-
nen mir gerade die beiden Nachrichten hiefür von keinem sonderlichen
Gewichte, wie ich dies schon oben angedeutet habe; es ist leicht möglich,
dass auch diese Pfeiler dem Neubau angehören und, durch irgend einen
beliebigen Umstand Furcht einflössend, vielleicht schon während des Baues
oder bald nach dessen Vollendung jene starken Bande nöthig machten.
Jedenfalls muss man annehmen, dass, wenn auch alte Stücke beibehalten
sein sollten, diese doch so umgewandelt und dem Neuen angepasst sind,
dass das Ganze nichtsdestoweniger durchaus als Ein Guss zu betrachten ist.

Die Marienkirche ist durchaus in kolossalen Massen erbaut, und die
Absicht, hiedurch eine grandiose Wirkung zu erreichen, herrscht entschie-
den vor. Aber das reine künstlerische Gefühl ist nicht mehr vorhanden,
und so hebt dessen Mangel, wenigstens für das Innere, einen grossen Theil
der Wirkung auf. Die Marienkirche hat, gleich den beiden andern Haupt-
kirchen Stralsunds, niedrigere Seitenschiife neben einem höheren Mittel-
schilf. Letzteres ist zu riesiger Höhe emporgeführt und die Seitenschiffe
streben ihm, wenn sie auch die untergeordneten Theile des Baues bleiben,
doch in einer Weise nach, dass nicht bloss, fast wie in der Jakobikirche,
das Verhältniss der Entwickelung des einen Theiles aus dem andern we-
sentlich beeinträchtigt wird, dass vielmehr die Höhenverhältnisse überhaupt
in einer Weise überwiegend werden, welche den Eindruck harmonischer
Ruhe geradehin vernichtet. Die Massenwirkung noch Aveiter zu erhöhen
ist sodann die, seit der ersten Hälfte des dreizehnten Jahrhunderts nicht
mehr beobachtete Einrichtung des Querschifl'es wieder zur Anwendung ge-
Koramen, und zwar so, dass auch zu dessen Seiten die niedrigeren Räume

/V

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ÜH

Kirchliche Architektur. 4. Gothischer Styl des 15. Jahrhunderts. 747

% s.

der Seitenschiffe sich erstrecken. Ferner ist die Thurmhalle in der Weise
kolossal eingerichtet worden, dass ihre Seitenräume, über die Seiten-
schiffe sich erhebend, gleiche Höhe mit dem Mittelraume erhalten haben,
wodurch sich (wie in der Marienkirche von Stolp) ein zweites, westlich
belegenes Querschiff bildet. — Zu jeder Seite des Hauptschiffes stehen, mit
Einschluss der beiden Pfeiler des Chorschlusses, um den die Seitenschiffe
als Umgang herumgeführt sind, zehn Pfeiler; vier andere in den Flügeln
des östlichen Querschiffes reihen sich diesen an. Die Form sämmitlicher
Pfeiler ist einfach achteckig; die Schwibbogen über ihnen sind an.ihren
schrägen Seitenfläclien auf ziemlich nüchterne Weise gegliedert. Die Fen-
ster in den oberen Wänden des Mittel-
schiffes haben die unschöne, höchst
nüchterne Form eines eckigen Bruches
als Uebergang der vertikalen Seite in
den Bogen (154.), wie diese bereits oben
bei der Jakobikirche von Stralsund nä-
her erörtert ist. Hier zeigt sich diese
Form, sowohl im Innern, wie im Aeus-
seren, vollständig und frei entwickelt.

Die Gewölbe setzen überall ohne Gurt-
träger an und bestehen aus einfach dünnen Kreuzgewölben, deren Erschei-
nung ebenfalls ziemlich nüchtern ist. An den Seitenschiffen treten die

Strebepfeiler nach dem Inneren herein und bilden
somit kleine Kapellen; diese sind mit flachen Kreuz-
gewölben überspannt und auch die Fenster haben
in ihrer Ueberwölbung den flachen Bogen (155.);
beides ist wiederum ein Beleg für die späte Zeit.
Gänzlicher Mangel an künstlerischem Sinn jedoch
zeigt sich in der Anordnung der Fenster des Chor-
Umganges. Der Chor ist dreiseitig geschlossen,
und der Umgang befolgt dieselbe Form. Dadurch
werden aber die drei Seiten, die den
Schluss des Chorumganges bilden, sehr
breit und die Anordnung Eines Fen-
sters für sie ist nicht mehr hinreichend.
Man hat sich so geholfen (156.)> dass
man zwischen die starken Pfeiler, die
in den Ecken hereintreten, jedesmal
zwei schwächere setzte, so dass drei
Fenster entstanden, welche, da das
Gewölbe hier spitzbogig ist, die ge-
brochene Form der Fenster an den
Oberwänden des Mittelschiffes wieder-^
holen; aber nur das Fenster in der Mitte einer jeden Seite wurde als ein
ganzes ausgeführt: die beiden daneben sind nur halb so breit und, um die
Nüchternheit vollständig zu machen, auch nur mit der Hälfte des Spitz-
bogens überwölbt (157.)! Dazu kommt endlich,' dass die Gewölbe, welche
über dieser Fenster-Architektur ausgehen, zugleich höchst unharmonisch
gegen den stärkeren Eckpfeiler anstossen.

Bietet solcher Gestalt das gesammte Innere dem an edlere Formen ge-
wöhnten Auge wenig Erfreuliches dar. erfüllt es den Sinn des Beschauers

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748 Poiamersche Kuustgeschichte.

nur mit dem dumpfen Ein-
drucke der, aller Anmutli
/ ^ // \\ entbehrenden Grösse, so ist

dagegen dem Aeusseren des
Gebäudes seine eigenthüm-
liche Bedeutung auf keine
Weise abzusprechen. Zwar
treten auch hier die wider-
wärtigen Formen der
Oberfenster am Mittelschifl"
und der Fenster des Chor-
Umganges dem forschenden
Auge befremdlich entgegen,
zwar ist feinerer Schmuck (zu dem hier die gothischen Blumenfriese unter den
Hauptdächern gehören) nur sehr sparsam angewandt, ist überhaupt auf'die
feinere Gliederung der Masse wenig Rücksicht genommen; wohl aber stehen
hier die Haupttheile der Masse, und namentlich die der zumeist vorherrschen-
den Thurm-Anlage, in trefflichem Verhältniss zu einander; sie bauen sich
leicht, kühn und sicher über einander empor und bilden somit ein Ganzes, in
dem sich eine mächtig emporstrebende Kraft glücklich ausdrückt und das, je
nach den verschiedenen Standpunkten des Beschauers, stets die grossartigste
malerische Wirkung hervorbringt. Ich möchte sagen, das Gebäude sei
vorzugsweise aufgeführt, um der äusseren Erscheinung der ganzen Stadt in
solcher Art den Stempel der Kraft und Grösse aufzudrücken; man habe
vorzugsweise diese äussere, malerische Wirkung, die auf entferntere Stand-
punkte des Beschauers berechnet ist, beabsichtigt, so dass theils eine feinere
Gliederung der Tlieile niclit nöthig war, vielleicht selbst unvortheilhaft
gewesen wäre, und dass die oben berührten unschönen Formen sich in der
Masse verlieren mussten. Jedenfalls ist es der Thurmbau der Marienkirche,
der Stralsund das eigenthümliche heroische Gepräge bewahrt, wodurch die
Stadt ausgezeichnet ist, während z. B. die Thürme der im Inneren so un-
endlich schöneren Nikolaikirche gar unbehülflich, selbst plump erscheinen.

Der eigentliche Hauptthurm der Marienkirche steigt auf der Mitte der
Westseite, in der Breite des Mittelschiffes, in viereckiger Masse empor bis
etwas über das Dach des Mittelschiffes. Auf den vier Ecken wird dieser
Unterbau durch achteckige Treppenthürmchen eingefasst, die in freien
Spitzen endigen; zwei von ihnen zeigen sich vollständig an der westlichen
Fa(jade, die beiden andern erheben sich aus den Dächern der Seitenschiffe.
Zwischen den Treppenthürmchen verjüngt sich die Masse des Thurmes
und nimmt eine achteckige Gestalt an, in zwei Geschossen auf jeder Seite
mit schmalen Fensterblenden geschmückt. Darüber lagert jetzt eine schwere
kuppeiförmige Spitze, welche aus dem Anfange des vorigen Jahrhunderts
herrührt; die im Jahr 1478 aufgeführte Spitze war von achteckig pyrami-
daler Form und mindestens eben so hoch wie der Thurm selbst, was frei-
lich die Kühnheit der ganzen Anlage gewaltig erhöhen musste. (Sie brannte
im J, 1647 ab.) Für den Eindruck der Kraft und Festigkeit, der dem Thurm-
bau eigen ist, sind sodann jene Seitenflügel wesentlich wirksam, welche
die Seitenräume der grossen Thurmhalle bilden und zu beiden Sei-
ten des viereckigen Unterbaues, etwas niedriger als dieser, vorspringen;
auf ihren Giebelecken sind auch sie von Treppenthürmchen eingefasst, die
aber, wie es ihre Stellung bedingt, ein untergeordnetes Verhältniss zu den

f .1

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Kirchliche Architektur, 4. Gothischer Styl des 15. Jahrhunderts. 749

Treppenthürmchea des Haupttliurmes haben. So gipfelt sich die ganze
Masse in wolilüberlegtem Wechsel der Theile, einer den andern stützend
und tragend, empor, und ist dem Gepräge der Kühnheit das einer sicheren
Kraft auf glückliche Weise zugesellt (158.)- — Die äussere Gestaltung des

1

Querschiffes möchte ich gewissermaassen als eine Vorbereitung für den Ein-
druck, den die Thurmanlage gewährt, bezeichnen. Indem die niedrigeren
Halbgiebel der Seitenräume sich an dasselbe anlehnen, die Ecken des Haupt-
theiles wiederum durch Treppenthürmchen und Streben eingefasst sind
und der eigne Giebel durch eine Thurmspitze bekrönt wird, steigt auch
dieser Bau allmählig wachsend in die Höhe. Seine, freilich nur unterge-
ordnete Vollendung erhält er sodann durch den kleinen Thurm, der sich
in der Mitte, wo sich.das Dach des Querschiflfes mit dem des Hauptschiffes
durchschneidet, erhebt. — Sämmtliche grosse Wandflächen am Querschiff

und an dem Unterbau der Westseite sind
mit colossalen Fenstern durchbrochen.
Ihre Einfassung ist sehr schlicht, und nur
das Fenster in der Mitte der Westseite,
über dem Hauptportale, hat eine reichere
Gliederung, die übrigens, was hervorzu-
lieben ist, auf ziemlich lebendige Weise
zusammengesetzt ist. Diese Gliedening
(159.) läuft zu den Seiten'des, auf ganz gleiche
Weise geschmückten Portales nieder, so dass das
' \ . , letztere gewissermaassen einen in die Fenster-Anlage

Siebenmal wiederholt. ®

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Pommersche Kunstgeschichte.

eingeschobenen Bautheil ausmacht, — eine Einrichtung, die sich auch schon
an der Jakobikirche zu Stralsund zeigt. Das Hauptportal ist, wie das
Fenster, im guten Spitzbogen gebildet; andre Portale der Kirche sind schon
im Flachbogen überwölbt.

Vor der nördlichen Giebelseite des QuerschifFes findet sich ein kleiner
kapellenartiger Vorbau, dessen Portal oberwärts mit einer scliönen Stabver-
zierung geschmückt und dessen Einfassung auf treffliche Weise gegliedert
isf. Ob dieser kleine Vorbau vielleicht — was im üebrigen freilich sehr
auffallend sein'dürfte — älter ist als die Kirche, muss ich hier dahinge-
stellt sein lassen.

Die Marienkirche zu Stargard ist ein Gebäude von ähnlicher Colossali-
tät in der Anlage (wie diese gegenwärtig erscheint) und ebenfalls auf eine
reiche Ausbildung der äussern Architektur berechnet. Doch ist hier das
Aeussere nicht so malerisch gruppirt, wie an der im Vorigen besprochenen
Kirche; dagegen ist auf eine edlere Durchbildung des Details Rücksicht
genommen, und auch das Innere erscheint in schöneren Formen und Ver-
hältnissen. Ehe wir uns indess zu einer näheren Betrachtung dieser Kirche
wenden, ist zuvor die Johannis kirche von Stargard zu besprechen,
indem diese, zum Theil mit den Formen der Marienkirche übereinstimmend,
für die Zeitbestimmung der letzteren einen wichtigen Beitrag giebt.

In der Johanniskirche sind Mittel- und Seitenschiffe gleich hoch und
die letzteren als Umgang um den dreiseitig geschlossenen Chor herumge-
führt. Der Thurm erhebt sich in der Mitte der Westseite, nach dem Mittel-
schiff wiederum eine grosse Halle öffnend, mit Seitenräumen, welche die
Fortsetzung der Seitenschiffe bis zur westlichen Fa^ade bilden. In der
Thurmhalle findet sich die Inschrift:

Die Mönche legten mir
Den allerersten Stein 1408.
Ueber soviel Jahren
Fiel ich wieder ein 1696.

Die Inschrift ist zwar nur mit Farbe geschrieben, nicht in einen Stein
gemeisselt; doch ist, so viel ich zu urtheilen im Stande bin, kein Grund
vorhanden, um ihre Aechtheit zu bezweifeln und der Annahme, dass man
zur Nennung des Jahres 1408 durch eine sichre Tradition bewogen worden
sei, zu widersprechen. Dass aber der Einsturz im Jahr 1696 nicht die
Hauptmasse des Gebäudes (oder vielmehr des ßautheiles, an welchem die
Inschrift sich befindet) betroffen haben könne, ergiebt sich einfach daraus,
dass sämmtliche Haupttheile ein entschieden mittelalterliches Gepräge tra-
gen. Vermuthlich fiel in diesem Jahre nur die Spitze und der oberste
Theil des Thurmes (der gegenwärtig sehr roh ergänzt erscheint) und be-
schädigte etwa die zunächst anstossenden Gewölbe, wie denn noch gegen-
wärtig die Gewölbe der gesammten Thurmhalle fehlen, obgleich ihre An-
sätze sich erhalten haben. Hiedurch aber scheint zugleich von selbst her-
vorzugehen, dass die Inschrift — somit auch das Jahr der Gründung —
— sich vorzugsweise auf den Thurmbau (etwa mit Einschluss der zunächst
angrenzenden Theile der Kirche) bezieht, während gewisse Theile der Kirche
ein höheres Alter zu verrathen scheinen. Es haben nämlich nur die beiden

750

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Kirchliche Architektur. 4. Gothischflr Styl des 15. Jahrhunderts. 767

Pfeilerpaare , die im Inneren der Kirche zunächst der Thurmhalle stehen,
die gewöhnliche einfach achteckige Form und die Schwibbogen "(Iber ihnen
die in der späteren Zeit gewöhnliche Bildung (indem ihre Seitenfläclien nur
durch geradlinige Einschnitte gegliedert sind). Die darauf folgenden Pfei-
ler aber sind viereckig, mit abgefalxten Ecken, und beträchtlich breit; diese
möchte ich als einem früheren Bau angehörig betrachten. Dafür scheinen
auch noch andre Umstände zu sprechen. Sämmtliche Räume der Kirche
nämlich sind mit Sterngewölben bedeckt, die auf Consolen, welche ver-
schiedengestaltete menschliche Köpfe bilden, aufsetzen; mit den viereckigen
Pfeilern aber stehen diese Consolen nicht in recht harmonischer Verbin-
dung (namentlich nicht mit den Pfeilern zu den Seiten des Altares, an denen
besondre Gurtträger heraustreten), während sie dagegen zu den achteckigen
Pfeilern sehr wohl stimmen. So dürfte man wohl annehmen, dass die Ge-
wölbe dem im J. 1408 begonnenen Neubau angehören. Sodann haben die
Fensler, welche den breiteren Pfeilern entsprechen, eine geschmackvolle
Gliederung, welche der besseren Zeit des vierzehnten Jahrhunderts ver-
wandt ist, während die Fenster an den westlichen Theilen sehr einfach
erscheinen. Doch gestehe ich, dass es mir zweifelhaft ist, ob nicht mit
den älteren Theilen der Kirche noch manch); anderweitige Veränderungen
vorgenommen sind. Die an ihnen heraustretenden Strebepfeiler, welche
eine eigenthümliche Gliederung (denen am Chor der Stargarder Marien-
kirche ähnlich) zeigen, scheinen eher in das fünfzehnte
Jahrhundert als in eine frühere Zeit zu gehören ; aber es
sind die freieren dekorirenden Theile, welche sie ur-
sprünglich hatten, nicht mehr vorhanden, so dass es
schwer hält, zu einer bestimmten Entscheidung zu gelan-
gen. — Das Haupt-Interesse,welches die Johanniskirche
der kunsthistorischen Forschung darbietet, beruht in der
äusseren Dekoration ihres Thurmes, die man unbezwei-
felt dem Anfange des fünfzehnten Jahrhunderts zuschrei-
ben muss. Der Thurm steigt einfach in viereckiger Masse
empor. Somit fehlt ihm allerdings eine lebendige Ent-
wickelung ; indem er aber ein schlankes Verhältniss hat
und ursprünglich ohne Zweifel mit einer pyramidalen
Spitze von entsprechender Höhe gekrönt war, kann man
diese Anlage nicht gerade als eine unschöne bezeichnen.
Sodann ist auf seinen Wandflächen eine reiche Deko-
ration angeordnet, die zur Belebung der Masse günstig
wirkt. Jede Seite nämlich hat drei hohe, sehr schlanke
Fcnsterblenden (160.), denen zwar der anderweitig vor-
kommende Rosettenschmuck fehlt, die aber durch so
wohlgeordnetes und so "schön und klar gegliedertes
'Stabwerk ausgefüllt werden, dass sie nur einen sehr
wohlthuenden Eindruck hervorbringen. Doch ist zu be-
merken, dass bei diesen Fensterblenden nur die Haupt-
Umfassung spitzbogig gebildet ist, während zur Ver-
bindung der einzelnen Stäbe bereits Halbkreisbögen,
selbst flache Bögen — beide Formen aber nicht im
Widerspruch gegen den Organismus des Ganzen — an-
gewandt sind. Leider fehlt dem Thurme gegenwärtig
nicht nur die Spitze, sonderndes ist an ihm auch, wie

/ei».

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Pommersche Kunstgescbicbte.

bemerkt, der obere Theil des Mauerwerkes beschädigt und so widerwärtig
(durch rohes Fachwerk) ergänzt und "mit einem so entstellenden Dache ver-
sehen, dass diese barbarische Restauration in der That zur Verunzierung
der ganzen Stadt dient. —

Die Marienkirche zu Stargard hat ein hohes Mittelschiff mit nie-
drigeren Seitenschiffen, die sich als Umgang um den dreiseitig geschlossenen
Chor herumziehen; zwei Thürme steigen auf der Westseite vor den beiden
Seitenschiffen empor. Die Maasse des Gebäudes sind, wie bereits angedeutet,
wiederum sehr colossal; aber die inneren Verhältnisse stehen hier in treit-
lichem Einklänge zu einander. Das Mittelschiff, das kühn und frei empor-
steigt, wird durch die Seitenschiffe, die an sich zwar ebenfalls hoch, aber
jenem auf angemessene Weise untergeordnet sind, harmonisch begrenzt und
getragen, so dass der Geist des Beschauers, der mit diesen Räumen empor-
steigt , sich von aller Beklemmung frei fühlt und den Eindruck ruhiger
Majestät in sich aufnehmen kann. Erhöht ,wirä dieser Eindruck freilich
durch die in neuerer Zeit erfolgte Restauration der Kirche, wobei Alles,
was von störenden Einbauten etwa vorhanden sein mochte, hinweggethan
ist. Jene Harmonie der Verhältnisse ist um so mehr zu bewundern, als
das Gebäude keinesweges in Einem Gusse emporgeführt ist, sondern wesent-
liche Theile desselben einer älteren Anlage aus der Zeit des vierzehnten
Jahrhunderts angehören. Die Räume des Schiffes scheiden sich nämlich
von denen des Chores durch ein starkes Pfeilerpaar; der Chor besteht dann
aus acht Pfeilern (^mit Einschluss der an den Seiten des Chorschlusses);
im Schiff sind auf jeder Seite drei Pfeiler angeordnet. Diese Pfeilerstellungen
des Schiffes nun müssen als die Reste eines älteren Baues betrachtet wer-
den.' Die Pfeiler haben hier eine einfach achteckige Gestalt, aber mit Gurt-
trägern auf ihren vier Hauptseiten, die (wie oben, S. 710, No. 85.) aus
einem Bündel von je drei Halbsäulen bestehen. Oberwärts über den Pfei-
lern sind diese Gurtträger nicht fortgesetzt. (Dass sie gegenwärtig überall
nur noch am oberen Drittel der Pfeiler gefunden und von modernen Con-
solen getragen werden, ist ohne Zweifel ein Ergebriiss der neueren Restau-
ration.) Die Schwibbogen über den Pfeilern des Schilfes (in ihrer gegen-
wärtigen Erscheinung fast gar nicht gegliedert) treten gegen die oberen
Wände des Mittelraumes etwas vor, und bilden dort einen Falz, dessen
Bestimmung lediglich nur die sein konnte, den Kappen eines Gewölbes zur
Unterlage zu dienen, wie es in der That noch gegen die Seitenschiffe hin
der Fall ist. Dies und das Vorhandensein jener nicht weiter emporgeführ-
ten Gurtträger deutet aber bestimmt darauf hin, dass das Mittelschiff' in
diesem Theile des Gebäudes ursprünglich gleiche Höhe mit den Seiten-
schiffen hatte und dass die oberen Wände des Mittelschiffes erst in späterer
Zeit emporgeführt sind. Die Form der Fenster in diesen Oberwänden,
welche wiederum (wie in der Marienkirche zu Stralsund) den unschönen
eckigen Uebergang aus der Vertikal-Linie in den Bogen haben, ist als einer
der Beweise zu betrachten, dass die Vergrösserung und Erweiterung der in
Rede stehenden Kirche dem fünfzehnten Jahrhundert ailgehört. Die Seiten-
schiffe, soweit sie den ebengenannten Pfeilerstellungen correspondiren, schei-
nen übrigens auch noch einen Theil der alten Bauanlage zu bilden; wenig-
stens finden sich an ihnen Gurtträger, die den an den Pfeilern vorkommenden
gleich sind. An ihren Wänden treten zwischen den Strebepfeilern, doch
nur in deren halber Höhe, kleine Kapellen hinaus. — Die Anlage des Chores,
der in der späteren Höhe'des Mittelschiffes fortgeführt ist, muss ganz als

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Kirchliche Architektur. 4. Gothischer Styl des 15. Jahrhunderts. 753

ein neuer Bau, und zwar als gleichzeitig mit der Erhöhung des Mittel-
schifles betrachtet werden. Hier ist von vornherein auf das leichtere Em-
porsteigen und auf eine, dem entsprechende feinere Ausbildung Rücksicht
genommen. Die schlanken achteckigen Pfeiler sind mit, in die Ecken ein-
gelassenen Halbsäulchen versehen; unter ihrem Kämpfergesims ist auf jeder
der acht Pfeilerseiten eine schmale, durch einen zierlich gothischen Spitz-
giebel geschlossene Nische, . offenbar zur Aufnahme von Heiligenbildern
bestimmt, angebracht, — eine Einrichtung, die mir sonst nur an den Pfei-
lern des Mittelschiffes im Mailänder Dome bekannt ist (die dort aber, trotz
ihrer ungleich reicheren Ausbildung, zu der Gliederung der Pfeiler nicht

in sonderlich harmonischem Verhältnisse
steht). An den Pfeilern selbst sind keine
Gurtträger vorhanden, doch setzen solche, in
feiner Gliederung, über den Kämpfern auf
und steigen sodtinn zum Gewölbe empor.
Die Schwibbogen über den Pfeilern sind in
stark überhöhtem Spitzbogen gebildet, was
aber keinen unschönen Eindruck hervorbringt
und vielmehr zu dem durchgehenden Prin-
cipe des kühnen Enipörstrebens wohl passt;
die schrägen Seiten der Schwibbogen sind
glatt "und nur mit je drei vorspringenden
Rundstäbchen, versehen: dies dürfte, falls es
nicht etwa der neueren Restauration ange-
hören sollte, wiederum als charakteristisch
für das fünfzehnte Jahrhundert gelten kön-
nen, Ueber den Bögen läuft, nur durch die
Gurtträger iinterbrochen, ein überaus reicher,
wie ein Gitterwerk gestalteter, Rosettenfries
hin. Dann folgt eiij schmaler Umgang, der
durch kleine leichte Bogenstellungen ge-
bildet wird, und endlich die Oberfenster, die
hier aber in
reiner Bildung erscheinen (161.).
Im eigentlichen Chor-Umgange springen die
Strebepfeiler ganz nach innen herein, nach
der Aussenseite des Gebäudes nur als flache
Wandpfeiler erscheinend. Chor und Haupt-
schiff sind mit Sterngewölben bedeckt, auch
die Gewölbe des Chor-Umganges haben eine
sternartige Form. Indess sind hier, und zwar
in den Haupträumen, die Gewölbgurte zum
Theil schon"" in seltsam barocker Weise ver-
schlungen. Es scheint, dass man diese Ein-
richtungen einer im siebzehnten Jahrhundert
erfolgten Restauration, nachdem die Kirche
im J.
1635 durch einen grossen Brand be-
schädigt war, zuschreiben müsse Endlich ist, was den grossartigen Ein-
') Eine Inschrift am Gewölbe der Kirche giebt von diesem Brande Nachricht und
erwähnt ausdrücklich der Beschädigung und Wiederherstellung der Gewölbe. Brügge-
mann (Beschreibung von Pommern II, S. 172) stellt die Sache so dar, als ob die
Kirche nach jenem Brande ganz neugebaut worden sei, was aber der Augenschein
zur Genüge widerlegt.

Kiigler, Kleine Schriften. I 48

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754 Poiamersche Kuustgeschichte.

druck des Inneren vollendet, auch die Halle auf der Westseite der Kirche
in. Uebereinstimmung mit ihrer gegenwärtigen Anlage (also gleichzeitig mit
dem Neubau des fünfzehnten Jahrhunderts) aufgeführt. Der mittlere Raum
der Halle bildet die Fortsetzung des hohen Mittelschiffs, die Seitenräume
schliessen sich jenem in 'dem untergeordneten Verhältniss der Seiten-
schiffe an.

Was nunmehr das Aeussero der Marienkirche anbetrifft, so entfaltet
sich, während die Theile des Mittelschiffes einfach gehalten sind, an dem
Thurmbau und am Chore eine zierlich reiche Dekoration. Es sind, wie be-
reits angedeutet, zwei Thürme vorhanden; verbunden werden sie durch
den schmalen Zwischenbau, der den mittleren Raum der Vorhalle ein-
schliesst. Die Seitenhallen öffnen sich auf der Westseite (162.) durch

n

grosse Fenster; bis zu ihrer Höhe-ist der Bau ziemlich einfach gehalten.
■Dann aber sind die Seitenflächen der Thürme mit hohen schlanken Fenster-
blenden geschmückt, die denen am Thurm der Johanniskirche in der

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Kirchliche Architektur. 4. Gotliischer Styl des 15. Jahrhunderts. 755

Composition und namentlich in den Profilen der Gliederung ganz nahe
entsprechen , so dass man sie unbedenklich als derselben Periode (der
früheren Zeit des fünfzehnten Jahrhunderts) angehörig betrachten muss. An
dem südlichen Thurme erscheinen diese Blenden jedoch nicht ganz vollen-
det; es fehlt ihre obere spitzbogige Einwölbung und der Thurm schliesst
an dieser Stelle mit einem einfachen Giebel, der vermuthlich erst nach
dem Brande vom J. 1635 seine gegenwärtige Gestalt erhalten hat. Eben-
so brechen auch an dem Mittelbau die dort befindlichen Fensterblenden
ab und es erhebt sich dort ein gleich schmuckloser Giebel. (Das wirkliche
Fenster des Mittelbaues, das zwischen den Blenden hoch empor.^teigt, ist
vermauert, auch wohl erst nach dem Brande.) An dem nördlichen Thurrae
dagegen haben die Fensterblenden ihre vollkommene Gestalt. Ueber ihnen
läuft ein reicher Rosettenfries von schwarzglasirten Steinen hin. Dann
springen über den Ecken kleine achteckige Thürmchen frei empor, und
zwischen diesen erhebt sich, in verjüngtem Durchmesser, ein achtseitiges
Obergeschoss des Baues, das mit einer neueren, nicht sonderlich kräftigen
kuppelartigen Bekrönung versehen ist. Früher hatte dies Obergeschoss
ohne Zweifel eine pyramidale Spitze von angemessener Höhe, und denken
wir uns beide Thürme in solcher Weise vollendet, so muss das Ganze einen
sehr stattlichen Eindruck gewährt haben. Gleichwohl will es mir scheinen,
als ob, jenes achtseitige Obergeschoss doch etwas zu stark verjüngt sei, und
als ob demnach die Bekrönung des Thurmbaues (auch mit der dazu ge-
hörigen Spitze) etwas mager im Verhältniss zu den sehr mächtigen unteren
Theilen ausgefallen sein müsse. Aber es liegt auch die Vernauthung nahe,
dass, als man bis zur Ausführung jenes Obergeschosses gediehen war, wohl
nicht mehr der ursprüngliche Meister des Baues der Leitung desselben vor-
stand, und dass dessen Plan mit den Verhältnissen des Ganzen mehr
in Harmonie gestanden haben dürfte. Eine gewisse Bestätigung erhält diese
Vermuthung durch die Form der Fensterblenden an dem achtseiligen Bau,
die bereits, abgesehen von ihrer einfacheren Gliederung, ganz im Halbkreis-
bogen überwölbt sind, während die unteren Fensterblenden wenigstens in
ihrer äusseren Umfassung noch den reinen Spitzbogen haben. Auch finden
sich noch manche andre Spuren, dass man bei der Anlage der Thürme
nicht nach einem gleichmässigen Princip gearbeitet habe, dass somit schon
während des Unterbaues Veränderungen in der Bauführung eingetreten sein
müssen. Denn, wenn auch im Ganzen übereinstimmend, so 'zeigen sich
doch die Verzierungen des südlichen Thurmes und die des Zwischenbaues
einfacher gehalten als die des nördlichen Thurmes.. Namentlich an der
Gliederung der Fenster ist dies Verhältniss auffallend. — Unter den eben-
genannten Thurmfenstern läuft ein Gesims hin, welches sich um den Bogen
des, in der Mitte der WeStfagade befindlichen einfachen Portales (das seine
Gliederung, vermutlilich im siebzehnten Jahrhundert,-mit glatten Flächen
vertauscht hat) als rechtwinkliger Einschluss umherzieht. Es scheint, dass
man diese Weise der Thürumfassung (die besonders an einigen Kirchen
der Altmark Brandenburg zu zierlicher Dekoration Veranlassung gegeben
hat) wiederum als charakteristisch für die späteste Entwickelungszeit des
Backsteinbaues betrachten muss. Auf ähnliche Weise ist ein Portal an der
Südseite des südlichen Thurmes umfasst. ' Hier sind noch einige Rosetten
als besondere Verzierung zugefügt, und zu den Seiten des Portales ein
Paar kleine spitzbogige Nischen (wohl zur Aufnahme von Heiligenbildern)
angebracht, deren Bogen, das blosse Spiel" mit bunter Form bezeichnend.

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772 Poiamersche Kuustgeschichte.

75G

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1!

durch im Zickzack geführte Halbsänlchen getragen wird. Noch ungleicli
bunter, doch nicht ganz ohne malerischen Reiz, gestaltet sich dies Formen-
spiel auf der Nordseite des nördlichen Thurmes, wo, nahe an der Mauer-
ecke und durch ebendasselbe Gesims umfasst, ein Spitzbogen (vermuthlich

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Kirchliche Arcliitektur. 4. Gothischer Styl des 15. Jahrhunderts. 757

t

einer grösseren Bildeniisclie angehörig) mit einer phantastisch reichen
Thurm-Architektur belirönt wird.

Die äussere Architektur des Chores (oder vielmehr des Chor-Umganges)
entfaltet sich in reicher Pracht; sie bildet das glänzendste Beispiel der dem
Schmucke des Aeusseren vorzugsweise zugewandten späteren Entwickelung
des pommerschen Baustyles. Die Streben treten hier, wie bereits bemerkt,
nur als flache Wandpfeiler vor (163, 164.); aber sie sind, und zwar in drei

Geschossen, von denen jedes obere eine grössere Höhe hat, ganz zu Fen-
sterblenden umgestaltet. Jede dieser Blenden zerfällt in zwei kleine, reich-
verzierte Spitzbögen; über diesen ruht eine -grosse bunte Rosette, die von
einem, mit zierlichem Blattwerk geschmückten Giebel gekrönt wird. Zu
den Seiten werden die Blenden durch geschmackvoll gegliederte Vorsprünge
des Pfeilers eingefasst, in denen sich oberhalb kleine Bildernischen befin-
den; auch letztere sind mit reichgeformt^n Giebelchen gekrönt. Alle Glie-
derungen des Stabwerkes haben hier wiederum dasselbe Profil, welches an
den Fensterblenden der Thürme (übereinstimmend mit denen am Thurme
der Johanniskirche) durchgeht. Au ihnen wechseln rothe und schwarze
Steinlagen, das wirkliche Ornament besteht dagegen durchweg aus schwarz-
glasirtem Stein. Die gesetzmässige Wiederholung dieser prächtigen und
feingeformten Dekoration giebt dem Ganzen in der That ein wundersames
Gepräge, dessen Totaleindruck, bei allem Wechsel, der einer harmonischen
Ruhe ist. Gl-eichwohl. fehlt auch hier, wenn man in das Detail eingeht,
das feinere Lebensgefühl, der innere Puls, der allein das Gebilde der Ar-
chitektur zu einem wahrhaft künstlerischen Werke macht. Die Zusammen-
setzung des Ornanjentcs erscheint nicht durchweg als eine Folge klarer,
organischer Entwickelung, ja, an einzelnen Stellen sind die Formen sogar
auf ziemlich rohe Weise zusammengesetzt. (Erhöht wird dieser, Eindruck
freilich auch noch durch die dicken und nicht eben fein verputzten Mör-
telfugen, die man hier, wie es überall in der späteren Zeit des Backstein-
baues der Fall zu sein scheint, zwischen den einzelnen Steinen und Form-
stücken wahrnimmt.) — "Von den Figuren, die etwa in den genannten Bil-
dernischen vorhanden oder für deren Aufnahme dieselben bestimmt waren,
ist "nichts erhalten '), wie denn auch sonst in den Nischen, die am Inneren

') Vielleicht diirftö iil (tiiier dieser kleinen Nischen eine aus Thon gebrannte
Figur einer weiblichen Heiligen gehören', die ich früher auf einem Hofe in Star-
gard fand und die gegenwärtig in der Sammlung der Gesellschaft für Pomm.
Gesch. u. Alterthnmsk. zu Stettin aufbewahrt wird. Ihr Maass und der an ihr

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Püinmersche KuiistgescbicLte.

oder Aeusseieii der Marienkirche sich zeigen, keine Sculptur gefunden
wird. Die aus Holz geschnitzte Figur eines Eccehomo, in der Blende eines
der Pfeiler au der Hinterseite des Chores angebracht, und das bronzene
Crucifix in der Rosette über dieser Blende, sind, wie sich dies aus der
betreffenden Einrichtung ergiebt, erst nach Vollendung des Baues an ihre

Stelle gesetzt, obgleich ihre
Formen an sich ein ziemlich
hohes Alter verrathen. — Die
Fenster des Chores sind ein-
fach, aber in guten Formen
profilirt. Eine Thür auf sei-
ner Südseite ist mit reich zu-
sammengesetzten Gliederun-
gen versehen (165.) und be-
steht aus wechselnden Lagen
viederiioit. schwarzer und braunglasirter

Steine.

Auf der Nordseite des
Chores ist, wahrscheinlich
gleichzeitig mit dessen Anlage, eine aclitseitige Kapelle angebaut, die mit
dem Inneren der Kirche durch eine breite OefTnung in Verbindung steht
und durch ein schönes Sterngewölbe überdeckt ist. Ausserhalb treten an

ihr sehr zierliche Strebepfeiler vor; diese sind
aus vier Seiten eines Sechsecks gebildet, auf
ihren Ecken laufen Bündelchen von je drei
Halbsäulen empor (166.). Die Strebepfeiler
bestehen hier in ihrer ganzen Masse aus
schwarzglasirtem Stein. Die Fenster sind ein-
fach profilirt, aber die äussere Eingangsseite
ist mit sehr reichen Gliederungen, in denen
schwarze und rothe Steine wechseln, ge-
schmückt. — .

758

Den beiden Stargarder Kirchen reiht sich zunächst die Marienkirche
des unfern belegenen Freienwalde an.' Die Kirche selbst ist von sehr
einfacher Anlage. Mittel- und Seitenschiffe sind gleich hoch und auf jeder
Seite durch drei einfach achteckige Pfeiler, deren Schwibbögen eine ein-
fache Gliederung haben, gesondert. Der dreiseitig geschlossene Chor schliesst
sich, ohne Umgang, der Breite des Mittelschiffes an. Mittelschiff^ und Chor
sind mit Sterngewölben bedeckt, die nicht recht harmonisch über den Käm-
pfergesimsen der Pfeiler aufsetzen. Die nach aussen frei vortretenden Strebe-
pfeiler bestehen aus drei Absätzen, deren jeder mit kleinen Blenden, die
eine überaus zierliche und geschmackvolle Giebelkrönung von schwarzgla-

hervortretende bildnerische Styl entsprechen wenigstens dieser Yermuthung.
Uebrigens ist diese Figur, obgleich von ziemlich roher Behandlung, ihrer Selten-
heit wegen merkwürdig; es ist die einzige Arbeit solcher Art, die mir in ganz
Pommern zu Gesicht gekommen ist. (Vgl. den siebenten Jahresbericht der Ge-
sellsch., iu den Baltischen Studien, IH, Heft II, S. 118. — Statt der dortigen
Angabe des vierzehnten Jahrhunderts scheint es mir aber, nach meinen jetzigen
Erfahrungen, sicherer, den Anfang des fünfzehnten Jaiirhunderts als die Zeit zu
nennen, der die Figur angehören dürfte.)

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Kirchliche Architektur. 4. Gothischflr Styl des 15. Jahrhunderts. 775

sirtem Steine tragen, versehen ist. Doch schliessen die obersten Absätze,
deren Bekrönung ursprünglich ohne Zweifel frei stand, gegenwärtig überall
auf eine rohe Weise ab. — Das Haupt-Interesse gewährt hier wiederum die
Gestaltung des Thurmes, der vor das Mittelschiff in viereckiger Gestalt
frei vortritt, dessen Halle aber mit dem Mittelschiff nur durch eine Thür
in Verbindung steht. Diese Halle hat eine ganz eigenthümliche Anlage.
Während an ihrer Westseite kein Eingang befindlich ist, führen auf der

Nord- und Südseite grosse, im Spitzbogen
überwölbte Oeffnungen (ohne Thüren) in's
Freie. Diese Oeffnungen sind mit reich zu-
sammengesetzter, doch, dem Princip nach,
einfach gebildeter Gliederung (167.) ver-
sehen; über ihren Spitzbögen läuft ausser-
halb ein breites flaches Band umher, aus
dem, wie bei der gothischen Giebelarchitek-
tur, freie (jetzt zumeist verlorene) Blumen
vorspringen. Die vier Thurmpfeiler, welche
die Halle einschliessen, haben auf
ihren inneren Ecken ebenfalls eine
reiche Gliederung (168). Ober-
wärts sind die äusseren Wände
des Thurmes mit Fensterblenden
versehen, welche denen an den
Thürmen der Stargarder Kirchen
in der Composition und in den
Profilen der Glieder sehr nahe ver-
wandt und nur in gewissen Ein-
zelheiten noch feiner und reiner
gebildet sind. Dann schliesst ein Rosettenfries den
Hauptbau des Thurmes ab. Auf diesen folgt, in ver-
jüngtem Verhältniss, ein kurzer, ebenfalls viereckiger
Obörbau, den gegenwärtig ein stumpfes Dach bedeckt.
— Zu bemerken ist, dass die Thür, welche aus der
Halle in die Kirche führt,'noch ans mittelalterlicher Zeit herrührt und mit
trefflichem gothischem Schnitzwerk versehen ist. Ich sah die Kirche, wie
ich oben in der Einleitung bereits bemerkt habe, als man gerade mit ihrer
Renovation beschäftigt war. Hoffentlich wird man dabei diese Thür erhal-
ten und sie nicht, wie sämmtliches Bildwerk des Inneren, einer sinnlosen
Erneuerungslust geopfert haben.

Es gehört ferner hieher die Stephanskirche zu Garz an der
Oder. Mittel- und Seitenschiffe sind hier gleich hoch; der Chor, fünfsei-
tig geschlossen, bildet die Fortsetzung des Mittelschiffes. Im Schiff stehen
auf jeder Seite drei achteckige Pfeiler, deren Schwibbögen nur durch gerad-
linige Einschnitte gegliedert sind. Eigenthümlich, und nicht unwirksam
für ein angenehmes Gesammtverhältniss, ist die räumliche Einrichtung der
Pfeilerstellung, deren Zwischenweiten der Breite des Mittelschiffes gleich
sind, während sie anderweitig in der Regel enger (etwa in halber Breite des
Mittelschiffes) zu stehen pflegen. Auffallend aber ist es, dass das südliche
Seitenschiff breiter ist als das nördliche, und dass sich zunächst am Chor
eine Art Querschiff bildet, indem hier die Seitenmauern der Kirche weiter
hinausgerückt sind; das Letztere scheint durch die Reste einer älteren An-

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Poinmersche Kunstgeschichte.

läge (die man iiameutlich am Unterbau des vorspringenden Theiles auf der
Nordseite noch deutlich erkennt) veranlasst zu sein. Die Strebepfeiler tre-
ten nach dem Inneren der Kirche vor. In den Seitenschiffen haben sie die

auffallende und ziemlich nüch-
terne Form eines halben Acht-
ecks. Im Chor, wo sich ziem-
lich tiefe Nischen zwischen
ihnen bilden, sind sie eigen-
thümlich und nicht unschön
gegliedert (169.)-, hier sprin-
gen auch an ihnen starke
Gurtträger, Bündelphen von
je fünf Halbsäulen bildend,
vor. Mittelschiff und Chor
sind mit Sterngewölben über-
spannt, deren Gurte eine zu-
sammengesetzte, wulstartige
Form haben; im Chor setzen aber die Gurte nicht harmonisch auf und das
ganze Gewölbe ist hier sehr roh gearbeitet. — Ausserhalb am Chor bilden
die Streben flache Wandpfeiler, die auf reiche Weise, in der Anordnung
denen am Chore der Marienkirche zu Stargard ganz ähnlich, verziert
sind (170.). Auch hier werden sie in drei Geschossen durch Fensterblen-

760

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den ausgefüllt, die durch gegliederte Vorsprünge der Wandpfeiler einge-
fasst sind. Aber was au Rosetten und Giebeln in diesen Blenden etwa
vorhanden war, fehlt gegenwärtig, und ihre Gliederungen sind nicht nach
dem edleren Systeme, das an dem Stargarder Bau herrscht, geformt. Unter
den Thüren der Kirche ist besonders diejenige zu bemerken, die sich an
dem Vorsprunge des südlichen Seitenschiffes befindet. Sie hat eine ein-
fache, aber mehrmals wiederholte Gliederung und ist mit einem geschweif-
ten Spitzbogen (der hier aber zu dem eigentlichen Bogen der Thür in kei-
nem guten Verhältnisse steht) bekrönt; dann ist wiederum eine rechtwink-
lige Umfassung um diesen Bogen gezogen, und der Raum zwischen beiden
durch buntes llosettenwerk ausgefüllt.

Auch die Petrikirche zu Stettin ist, ihrer äusseren Architektur
zufolge, den Bauwerken des fünfzehnten Jahrhunderts zuzuzählen. Es ist
ein Gebäude von ganz einfacher Anlage, ohne Seitenschiffe und ohne selb-
ständigen Thurmbäu; der Altarraum ist fünfseitig geschlossen. Das Haupt-
gewölbe des Inneren fehlt und ist durch eine Bretterdecke ersetzt. Die
Strebepfeiler treten in das Innere der Kirche hinein; ausserhalb wird ihre

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Kirchlicbe Architektur. 4. Gothischor Styl des 15. Jahrhunderts. 761

Stelle durch flache Doppelblendcn angedeutet, deren jede durch einen drei-
fachen Rundstab eingefasst ist. In diesen Blenden sind schmale, mit Spitz-
giebeln gekrönte-Nischen angiebracht. Was in den letzteren an Sculpturen
vorhanden war, ist nicht mehr da; doch finden sich am Fuss der Nischen
noch die Consolen, auf denen dieselben ruhten. Diese Consolen haben die
' Form menschlicher Köpfe verschiedener Art, bärtige, knebelbärtige, belockte,
beschleierte u. s. w.; sie sind sämmtlich in Thon gebrannt und ziemlich
gross. An der Westseite der Kirche ist ein grosses Portal, mit reichen
Gliederungen versehen, die aber nur aus einfachen Wulstformen zusammen-
gesetzt sind. An der Nordseite der Kirche ist ein Anbau, in welchem sich
die Sakristei befindet; die letztere hat ein Sterngewölbe, dessen Gurte auf
Consolen aufsetzen, die, wie an jenen Nischen, Aviederum die Gestalt
menschlicher Köpfe haben. Am Aeusseren dieses Anbaues sind zwei Re-
liefbilder aus grauem Kalkstein (sog. schwedischem Stein), die Heiligen
Petrus und Paulus (die Patronen der Kirche) darstellend, eingemauert.
Die Arbeit an diesen Reliefs ist sehr roh; ihrem Style nach möchte ich
sie der Zeit des vierzehnten Jahrhunderts zuschreiben. Es scheint, dass
man diese Steine bei dem im fünfzehnten Jahrhundert vorgekommeneu
Neubau der Kirche bereits vorgefunden und ihnen absichtlich eine Art
Ehrenplatz, wie der ist, den sie gegenwärtig einnehmen, gegeben hat; Die
Weise, wie die Stellen der Strebepfeiler im Aeusseren verziert sind, ist,
nach meiner Ansicht, entscheidend für die in Anspruch genommene Bau-
zeit cler Kirche, deren Gründung bekanntlich dem ersten Jahre der Grün-
dung des Christenthums in Pommern (1124) angehört. So wenig aber, wie
dem zwölften (oder etwa dem dreizehnten) Jahrhundert, kann sie der mo-
dernen Zeit zugeschrieben werden, da sie' in ihren Haupttheilen eben noch
das rein mittelalterliche Gepräge hat. Wenn daher die Matrikel der Kirche
berichtet, dass sie bei der Verheerung Stettins im J. 1677 völlig zu Grunde
gegangen sei '), so wird dies nicht gerade wörtlich zu fassen sein; nur
der später aufgeführte einfache Giebel auf der Westseite und der Mangel
des Gewölbes sind es vornehmlich, was an die Leiden jenes Jahres erin-
nert. — Zu bemerken ist, dass aii den modernen Vorbauten vor dem nörd-
lichen und südlichen Portale dieser Kirche je vier achteckige Säulen aus
grauem Kalkstein eingemauert sind und dass unter dem Ürgelchor im Inne-
ren der Kirche zwei ähnliche Säulen stehen. Diese entsprechen ganz den
Säulen, welche anderweitig in Sälen oder Hallen des vierzehnten oder
fünfzehnten Jahrhunderts (z. B. in den Sälen des Katharinenklosfers zu
Stralsund) voi'kommen. Woher sie entnommen sein dürften, wüsste ich
jedoch nicht zu sagen

') Die Belagerungen Stettin's, S, 44.

2) Ich muss hier die Meinung, die ich früher (Balt. Studien, 11^ Heft I.,
S. ilO.) ausgesprochen, als ob die genannten Säulen von der durch Bischof Otto
von Bamberg im J. 1124 erbauten Petrikirche Stettin's herrühren möchten, gänz-
lich zurücknehmen. Auch bemerke ich, dass der Vergleich, den ich an jener
Stelle zwischen den Säulen der Petrikirche uüd den entsprechenden Bantheilen
des Bamberger Domes aufgestellt, um so weniger etwas nützen kann, als ich
gegenwärtig die üeberzeugung gewonnen habe,, dass der Bamberger Dom, wenig-
stens in den wesentlichen Theilen seiner Anlage, jünger ist als Bischof Otto.
Dies näher auszuführen, ist hier indess nicht der Ort.

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762

Pommersche Kunstgeschichte.

Keihen wir den bisher besprochenen Gebäuden noch die schönen Klo-
stergebäude des Katharinenklosters zu Stralsund an, die, wie ich
oben bemerkt habe, vermuthlich ebenfalls dem fünfzehnten Jahrhundert
angehören, so liegt uns eine Uebersicht der merkwürdigsten, für religiöse
Zwecke errichteten Bauten aus der letzten Entwickelungszeit der Architek-
tur des pommersehen Mittelalters vor. Doch noch eine bedeutende Anzahl
kirchlicher Gebäude ist vorhanden, die mit Wahrscheinlichkeit eben dieser
Periode zuzuschreiben sind, bei denen aber der geringe Grad künstlerischer
Ausbildung und Eigenthüralichkeit es unentschieden lassen muss, ob nicht
einzelne von ihnen der späteren Zeit der vorigen Periode oder vielleicht
auch dem Anfange des sechzehnten Jahrhunderts zuzuschreiben sein dürf-
ten. Eben dieser Umstand aber giebt ihnen auch ein zur Geschichte der
architektonischen Kunst ziemlich gleichgültiges Verhältniss, und so mag
hier eine kurze Erwähnung dieser Bauwerke genügen.

Ein Theil dieser Gebäude ist dreischiffig, wobei entweder ein gerader
Abschluss der Altarseite stattfindet oder ein besonderer Chorbau in der
Breite des MittelschilFes angeordnet ist. Der Thurm auf der Westseite steht
mit der Kirche nur selten durch eine hohe Vorhalle in unmittelbarer Ver-
bindung. Niedrige Seitenschiffe neben einem höheren Mittelschiffe hat
allein die Marienkirche zu Naugardt. Die übrigen sind von gleicher
Höhe der Schiffe. Dahin gehören: Die Kirche des heil. Geist-Klosters
zu Stralsund; die Kirche zu Trib s ees; die Marienkirche zu Damm;
die Kirche zu Gollnow; die Nicolaikirche zu Wollin, deren ur-
sprüngliche Anlage aber im höchsten Grade verdorben ist, so dass sich
derselben gegenwärtig eine Menge verschiedenartiger Theile beimischt.
(Die besser erhaltene Georgenkirche zu Wollin ist nur einschiffig.)
Ferner; die Kirche zu Regenwalde; die zu Daber; die zu Massow-,
die zu Falkenburg u. s. w. Die Kirche zu Dramburg, ebenfalls hie-
her gehörig, hat einige besondere Eigenthümlichkeiten, die zum Theil für
die Entartung der Baukunst charakteristisch sind. Sie ist eine der geräu-
migsten unter den in Rede stehenden Gebäuden, indem das Mittelschiff von
den Seitenschiffen durch Reihen von fünf Pifeilern auf jeder Seite geschie-
den wird und sich demselben ein fünfseitig geschlossener Chor anreiht.
Die Gliederung der Schwibbogen über den Pfeilern wird hier nur, auf rohe
Weise, durch gewöhnliche, eckig übereinander vorstehende Mauersteine

hervorgebracht. Das Hauptportal auf der
Westseile hat eine bunte, sehr mauierirte
Gliederung (171.); zu seinen Seiten sind
Streben in der Form von halben Acktecken
angebracht, an deren Ecken dreigedoppelte
Halbsäulchen emporlaufen. Die beiden Por-
tale auf der Nord- und Südseite sind ein-
facher profilirt und haben besondere Ver-
zierungen; breite Fliesen von gebranntem
Stein, auf denen rohe, phantastische Dra-
chenfiguren reliefartig gebildet sind, unter-
brechen bei ihnen als Kämpfergesimse die
Gliederungen; ähnliche Fliesen mit rohen Blättergewinden
laufen um ihre
äusseren Spitzbögen umher- Der nördlichen Thür aber ist noch ein ganz
eigener Schmuck zugefügt; zu den Seiten ihres Spitzbogens sind nemlich
grosse, gleichfalls in Thon gebrannte Basreliefs eingelassen, auf deren jedem

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Kirchliche Architektur. 4. Gothischflr Styl des 15. Jahrhunderts. 763

man eine fratzenhafte menschliche Figur, vermuthlich Adam und Eva (letz-
tere als die abgeschmackteste Karikatur einer medicel'schen Venus), dar-
gestellt sieht. — Die Jacobikirche von Lauen bürg hat Schwibbogen
über den Pfeilern des Inneren, deren Form der an den Schwibbögen
der Dramburger Kirche nahe zu kommen scheint;, doch ist das Innere
(obgleich noch im Gebrauch und der katholischen Gemeinde der Stadt
dienend) auf so -wüste Weise entstellt, dass sich wenig Bestimmtes über
dessen Formen sagen lässt. Merkwüi'dig und auffallend ist am Aeus-
seren dieser Kirche, über den Seitenfenstern, eine Art Dachgeschoss,
das aus einer Reihe kleiner spitzbogiger Fensterblenden (deren Gliederun-
gen einfach, aber gut gebildet sind) und kleinerer Oefl'nungen innerhalb
dieser Blenden gebildet wird.

Dreischilfig sind ferner die Kirchen von Richtenberg und Gingst
(auf Rügen). Die Fenster an diesen Kirchen haben die entschieden späte
Form des eckig gebrochenen Spitzbogens, wie am Mittelschiif der Marien-
kirche von Stralsund; der vierseitige Altarraum der Kirche von Richten-
berg scheint aber noch der ersten Entwickelungszeit des Spitzbogens an-
zugehören. Jene späte Fensterform bemerkte ich auch an der Kirche
des Dorfes Flemendorf, in der Nähe von Barth. — DreischifFig ist end-
lich auch die kleine Michaeliskirche zu Cörlin. Sie soll im J. 1510
erbaut sein Doch hat sie nicht eben bedeutende ^Eigenthümlichkeiten,
falls man dahin nicht etwa die geringe Höhe der inneren Räume und die
Ueberspannung derselben durch breite Sterngewölbe rechnen will (wodurch
ein gewisses harmonisches Verhältniss hervorgebracht wird). Auch dürfte
allenfalls der Thurm zu bemerken sein, der nach Art der Thorthürme ge-
staltet und mit Giebeln auf der West- und Ostseite versehen ist.

Die Schlosskirche (Johanniskirche) zu Stolp ist ein ganz ein-
faches, einschiffiges Gebäude mit gerader Altarwand und mit rohen Stern-
gewölben überdeckt. — Die Nikolai - Klosterkirch e zu Stolp ist
gegenwärtig, als Armenschule dienend, verbaut, Sie ist von nicht bedeu-
tehder Dimension und nur durch die Anlage des kleinen Thurmes eigen-
thümlich, der sich vor der Mitte der Westseite erhebt und durch Streben,
die auf seinen Ecken schräg heraustreten, gestützt wird. Eine ähnliche
Thurmanlage hat ,die kleine heil. Geistkirche zu Grei ffenli agen
(doch ist hier der Thurm bereits fast ganz abgebrochen) und die, eben-
falls kleine und rohe Bergkirche bei Cammin.

Die Kirche von Pölitz ist ebenfalls klein und einfach aus vier Wän-
den mit einer Bretterdecke bestehend. Bemerkenswerth ist das an meh-
reren Fenstern erhaltene und einfach ausgebildete Stabwerk, dessen Profi-
lirungen indess, ebenso wie die der Thür-Gliederungen, wiederum auf die
letzte Periode der gothischen Baukunst deuten. — Die Kirche des in der
Nähe von Pölitz belegenen ehemaligen Klosters Jasenitz hat gegenwärtig
nur die Gestalt einer einfachen Kapelle; die Gurte der Kreuzgewölbe,
welche dieselbe bedecken, liaben die der späteren Zeit angehörige Form.
Die flache Altarnische ist neu angebaut. An den äusseren Ecken derselben
springen Theile eines abgebrochenen Mauerwerkes vor, welches älter ist
als die Kapelle (es scheint aus dem vierzehnten Jahrhundert herzurühren)
und welches diem eigentlichen Kirchengebäude angehört^ das sich ursprüng-
lich in beträchtlicher Ausdehnung ostwärts erstreckte. An der äusseren

') Iküggemaiiii, Beschreibung vou Pommern II, S. 519.

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704 Pommersche Kunstgeschichte,

Westwaiid der Kapelle laufen Verzahnungen in die Höhe, die vermiithlich
bestimmt waren, den Anbau eines Thurmes aufzunehmen. —

Unter den aus mittelalterlicher Zeit herstammenden Dürfkirchen ist
mir im Allgemeinen, und mit Ausnahme der einzelnen Dorfkirchen, die
in den vorstehenden Abschnitten genannt sind, nicht sonderlich Bedeuten-
des aufgefallen. Sie wiederholen die einfachsten Motive der Anlage und
der Formenbildung, wie diese bisher besprochen sind. Ihren Charakter
tragen u. A. die Kirchen von Garz und von Wieck auf Rügen; letztere
ist als ein nicht ganz unansehnliches Grebäude aus der späteren Zeit des
Mittelalters za bezeichnen. Ein höheres Alter scheinen im Allgemeinen
diejenigen Kirchen zu haben, die aus Feldsteinen erbaut sind, wie ich
solche besonders in den westlichen Gegenden von Vorpommern bemerkte.
Bei mehreren Gebäuden macht sich die Anlage des Thurms recht malerisch,
indem derselbe, in fast pyramidaler Neigung der Seitenflächen, aus Holz
gebaut und mit Brettern in vertikalen Lagen bedeckt ist; dabei erscheint
der Glockenstuhl oft ziemlich frei hängend. Gewiss gründet sich diese
Einrichtung, die ich besonders in deni nördlichen Gegenden Neu-Vorpom-
merns, doch zum Theil auch in Hinterpommern, bemerkte und die der
Thurmaulage altnorwegischer Kirchen verwandt ist, auf eine sehr alter-
thümliche Sitte, während bei den Dorfkirchen neuester Zeit^ und so auch
bei ihren Thürmen, ein nüchterner und ganz reizloser Fachwerksbau vor-
herrscht.

5. Moderner Baustyl.

Mit dem Zeitalter der Reformation schliesst die Geschichte des Kir-
^ .1 chenbaues in Pommern fast gänzlich ab. Durch die vorhandenen Bauwerke

war für das kirchliche Bedürfniss hinreichend gesorgt; man hatte fortan
mit ihrer Unterhaltung und etwanigen Ausbesserung genug zu thun. Die
wenigen Kirchen, die nach dieser Epoche aufgeführt wurden, unterscheiden
sich von den früheren durch ihre grosse Einfachheit und zugleich auch
durch den nunmehr eintretenden Einfluss antiker Bildungsweise, wie letz-
tere von Italien aus sich über ganz Deutschland verbreitete. Auch ist das
charakteristisch für die veränderten Zeitverhältnisse, für den Aufschwung
der fürstlichen Macht über die städtische, dass die beiden Hauptkirchen
der nächstfolgenden Periode Theile von fürstlichen Schlössern ausmachen.
Die eine von diesen ist die Schlosskirche zu Stettin, die den im
J. 1577 aufgeführten Schlossgebäuden angehört. Im Aeusseren von der
Architektur der letzteren auf keine Weise unterschieden, bildet sie in
ihrem Inneren einen einfach viereckigen, oblongen Raum, dessen Decke
ein sogenanntes Spiegelgewölbe bildet und an dessen AVänden zwei Reihen
tlachunterwölbte? Emporen umherlaufen. Ganz ähnlich ist die zweite, die
Kirche von Franzburg, aus derselben Zeit herrührend. Letztere bildet
übrigens den einzigen noch erhaltenen Theil des Franzburger Schlosses;
an der einen ihrer äusseren Seitenwände/ sieht man, unterwärts, einige
vermauerte Spitzbögen, Reste des Klosters Neuen-Campe, au dessen
Stelle Herzog Bogislav XIIl. das dortige Schloss erbaute. — Ihnen reiht
sich die Gertrudskirche auf der Lastadie zu Stettin an, deren gegen-

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I

Kirchliche Architektur. 5. Moderner Baustyl.

wärtige Anlage in die Mitte des siebzehnten Jahrhunderts fällt '). Auch
dies ist ein einfach viereckiges, ziemlich geräumiges Gebäude, doch von
geringer Höhe. Die flache, sauber getäfelte Decke wird , mitten durch die
Kirche hin,, von einer Bogenstellung getragen, die aus drei freistehenden
und zwei halben Säulen, mit einer Art componirt römischen Kapitals,
und flachen Bögen gebildet ist. Das Aeussere der Kirche ist unansehn-
lich. -- Die rohen Kirchen dieser Perlode, die sich in den südlichen Ge-
genden von Hinterpommern, in Biitow, Rummelsburg, Bublitz (mit
der Jahrzahl 1631 am Giebel), Neustettin u. s. w, vorfinden, verdienen
hier keine Erwähnung.

Das siebzehnte Jahrhundert, nach dem kurzen Glanz, den kunst-
liebende Fürsten im Anfange desselben um sich verbreiteten, führte die
furchtbaren Verheerungen über Pommern herauf, denen die Kraft des
Volkes endlich erliegen musste. Rauchende Trümmer, zerschmetterte Kir-
chen, verödete Städte begegnen uns in dieser Zeit überall. Da konnte von
Denkmalen, welche das aufstrebende Leben eines glücklichen Volkes be-
kunden sollten, keine Rede mehr sein; da konnte selbst an eine würdige
Wi(3derherstellung des Zerstörten kaum mehr gedacht werden. Nur Eine
grossartige Ausnahme, die dem Schlüsse dieser traurigen Zeit angehört,
wüsste ich hier anzuführen; ich meine die Wiederherstellüng der Jaköbi-
kirche zu Stettin, am Ende des siebzehnten und am Anfange des fol-
genden Jahrhunderts, deren neue Pracht, einen ungebrochenen Geraeinsinn
auch nach den furchtbarsten Leiden bekundend, wesentlich nur aus Ge-
schenken der Bürger erstand.

765

Das achtzehnte Jahrhundert erscheint zunächst als die Zeit einer
dumpfen Ruhe, — einer Ruhe, die freilich auch mehrfach durch wilde,
vom Osten hereinbrechende Stürme unterbrochen ward. Aber, wie unter
der winterlichen Schneedecke die neue Saat keimt und Wurzeln schlägt,
so wurden auch hier die Keime gelegt zur Entwickelung eines neuen Le-
bens, das heute wiederum in fröhlicher Blüthe emporspriesst. Von den
höchsten Denkmalen des Öffentlichen Lebens, von Kirchenbauten gegen-
wärtiger Zeit, ist zwar nicht eben viel zu vermelden, — doch ist das nicht
in Pommern allein der Fall. Eine der neugebauten Kirchen unseres Va-
terlandes, die von Tempelburg, muss hier indess als ein aclitungswer-
thes Beispiel desjenigen Baustyles, der die höheren Bedürfiiisse des heu-
tigen Tages am Würdigsten auszusprechen scheint, — ich meine den
Baustyl, in welchem die ruhig feierliche Form des Halbkreisbogens vor-
herrscht, — genannt werden. Dann ist aber auch für eine würdige Re-
stauration der mächtigen Kirchen , die uhsre Vorfahren uns hinterlassen
haben, wenigstens in einzelnen Fällen sehr Bedeutendes geschehen; die
Marienkirche zu Stargard und die Nikolaikirche zu Greifswald
stehen als schöne und edle Beispiele einer lebenvollen Erneuung des
Ueberlieferten, die Gegenwart wiederum an jene grossartige Vergangenheit
anknüpfend, da. _ •

') Böhmer, in den Neu?in Pomm. Prov. Blättern I, S, 209.

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II

AUSSERKIRCHLICHE ARCHITEKTUR.

Den Kirchenbauten, an welchen Nvir den Entwickelungsgang der Ar-
chitektur in Pommern betrachtet haben, reihen sich allerlei andre Bauwerke
an, die für minder ideale Zwecke errichtet sind, die aber, indem gleich-
wohl die Formen eines edeln Handwerkes, sowie die einer künstlerischen
Dekoration an ihnen zu beobachten sind, ergänzende Beispiele für jenen
Entwickelungsgang darbieten und die im Allgemeinen als Zeugnisse der
vaterländischen Geschichte mannigfaches Interesse haben. Dies sind die-
jenigen Bauwerke, welche in Städten, Schlössern und Burgen für die Be-
dürfnisse und für den Schmuck des werkeltäglichen Veikehres, zum Schutz
desselben und als kriegerische Zierden errichtet sind.

Mancherlei Ritterburgen finden sich durch die pommerschen Lande ver-
streut; doch sind hier, wie überall, wohl nur äusserst wenige aus eigentlich
mittelalterlicher Zeil erhalten. Die bedeutenderen Bauwerke solcher Art
tragen, soviel ich weiss, schon mehr das Gepräge einer italienisch modernen
Kunst. Was älter ist, dient jetzt im Allgemeinen nur, als malerisch ver-
fallene und von lebendigem Grün überwachsene Ruine, dem Schmucke der
Landschaft. Aber auch so noch, im landschaftlichen Bezüge, sind sie
charakteristisch für unser zumeist flaches Niederland. Nicht auf steilen
Bergesspitzen oder am jähen Felshange, wie in südlicheren Gegenden, er-
heben sich diese alten Mauern und Thürme; auf wenig erhöhtem Werder,
zwischen Wiesen, Sümpfen und Seen, steigen sie in der Regel empor, die
Weise der heimischen Natur mit kluger Umsicht zum Schutz gegen feind-
lichen Anfall benutzend. Aeusserst malerisch erscheint in solcher Lage
die Ruine des alten Schlosses Draheim, das, unfern der Stadt Tempel-
burg belegen, im dreizehnten Jahrhundert von Tempelherren gegründet
wurde; zwei grosse, mit Wald umkränzte Seen breiten sich zu den Seiten
der Ruine aus, deren mächtige Mauern zum Theil noch stolz emporragen
und deren rothe Farbe den reizendsten Contrast gegen das Grün der Ge-
büsche und Schlingpflanzen, die ihr ganzes Innere überwuchern, bildet.
Nicht minder malerisch ist die Ruine des Schlosses Landskron, in Vor-
pommern, ein Paar Meilen nordöstlich von Treptow a. d. T.; hier stehen
noch mehrere von den Thürmcn, sowie ein grosser Theil der Umfassungs-
mauern, denen sich ein heiteres Gebüsch anschliesst. Die Burg bei Lök-
nitz, von der sich ein Thurm und andres Gemäuer erhalten hat, giebt
dem sonst uninteressanten Orte ebenfalls ein malerisches Gepräge. Von
der Burg zu Gülzow ist ein siehr zierlicher runder Thurm, mit Zinnen
und kegelförmiger Spitze bekrönt, erhalten; er ragt aus einem Kranze
üppig grünen Gebüsches hervor, 'das die neueren Gehöfte der ehemaligen
Burg verdeckt, und zu den Seiten breiten sich wiederum Wiesen und Seen
hin. U. s. w. — An andern Orten sieht man einzelne Warten und Thürme,
die als einsame Denkzeichen einer vergangenen Zeit auf das frische Leben
der Gegenwart herabschauen. — Von manchen, zum Theil einst sehr mäch-
tigen Anlagen sind nur noch geringe Spuren vorhanden. So steht von der
Burg Demmin (nahe bei der gleichnamigen Stadt) hur noch Aveniges Ge-

't

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Ausserkirchliche Architektur. 767

mäuer. Das ehemalige Schloss zu Usedom wird nur durcli den „Schloss-
berg'' bezeichnet, ein kleines kegelartiges Plateau, an dessen oberem,
etwas erhöhtem Rande man die einstigen Umfassungsmauern erkennt; von
dort erfreut man sich jetzt einer weiten Aussicht über die wasserreiche
Landschaft. Auch das stolze Schloss zu Wolgast, das sich auf einer,
von der Peene umflossenen Insel zur Seile der Stadt erhob, ist zu einer
unregelmässigen Hügelmasse niedergesunken; nur einige Keller des Schlosses
werden noch gegenwärtig, als Waarenlager zu kaufmännischen Zwecken
dienend, benutzt. Hier »und da Hegen die Fundamente der Mauern frei
und ragen einzelne isolirte Pfeilermassen empor, in scharfem Roth sich
gegen die Grasflächeri und den breiten Spiegel des Stromes absetzend ').
Von der Oderburg bei Stettin liegen nur noch sehr geringe Funda-
mentreste zu Tage; das Uebrige ist mit Erde bedeckt und der Pflüger
treibt seine Rosse darüber hin. — '

Ungleich bedeutender sind im Allgemeinen die mittelaltorlichen Bau-
reste solcher Art in den Städten. Vieles ist zwar auch hier durch die
Kriege vernichtet. Vieles hat den Bedürfnissen der neueren Zeiten Platz
machen müssen, doch ist auch noch Vieles erhallen. Die Mehrzahl der
pommerschen Städte hat noch die alten Umfassungsmauern, einen Theil der ,

Vertheidigungs-Thürme, welche in zahh'eicher Menge über den Mauern
hervortreten, und der wohlbefestigten Thore, deren Schmuck darauf be-
rechnet war, dem Fremden schon vor seinem-Eintritt in die Stadt von dem
rüstigen Wohlstände der Bürger Kunde zu geben. Doch ist es schwer , im
Einzelnen die Zeit zu bestimmen, welcher diese Anlagen augehören, da die
architektonische Dekoration an ihnen insgemein in einfacherer Weise, als
z. B. an den Kirchen, ausgeführt ist. Im Allgemeinen kann man wohl
annehmen, dass diese Befestigungsbauten derjenigen Zeit, in welcher die
Macht der Städte sich höher auszubreiten begann, dem vierzehnten Jahr- i'

hundert, zuzuschreiben sind. Mehrere Werke aber scheinen, ihrer stolzeren !

Anlage gemäss, dem fünfzehnten Jahrhundert anzugehören; einige auch
finden sich, die das entschiedene Gepräge des sechzehnten tragen.

Von vorzüglicher Schönheit, obgleich von einfacher Form, sind ins-
gemein die runden Mauerthürme, die sich häufig vorfinden, und die, wo
sie ganz erhalten sind, einen Zinnenkranz und eine kegelförmige Spitze
haben. Sie tragen überall das Gepräge der Kraft, Kühnheit und Leich-
tigkeit. Zu Barth, Pasewalk, Greiffenberg, Treptow a. d. R.,
Massow, Pyritz, Stargard u. a. 0.. sieht man solche Thürme. Beson-
ders die äussere Umfassung Stargards gewinnt durch seine Mauerthürme

') Vielleicht gehören zu deip ehemaligen Schlosse von Wolgast einige grosse
Säulenstücke, die ich an verschiedenen Orten der Stadt, als Prellpfähle einge-
graben , bemerkte : zwei auf den Ecken der Fa^ade des Rathhauses, zwei andre
zu den Seiten des Thores, welches nach dem Wasser hinabführt,_ ein fünftes an
der Ecke eines Hauses vor dem Greifswalder Thore. Sie haben sämmtlich etwa
zwei Fuss im Durchmesser, und bestehen aus grauem Kalkstein (sog schwedi-
schem Stein). Auch bemerkte ich in Wolgast rohe, ganz unbearbeitete Prell-
pfähle von demselben Material.. Da dies in Pommern nicht hoimisch ist (der
gewöhnliche Name scheint anzudeuten, dass es aus Schweden herübergebracht
wurde), so dürfte man aus dem letzterwähnten Umstände wohl schliessen können,
dass es roh eingeführt und erst hier zu den besonderen architektonischen Zwecken
verarbeitet wurde, was für den Handel und den Handwerksbetrieb jener Zeit keine
ganz gleichgültige Bemerkung zu sein scheint.

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768

Pommersche Kunstgeschichte,

ein sehr malerisches Aussehen: der schönste unter diesen hat auf seiner
cylinderförmigen Fläche Streifen schwarzglasirter Steine, die sich jauten-
förmig durchschneiden; er führt den Namen des „rothen Meeres" (angeb-
lich von einem blutigen Kampfe, der in seiner Nähe vorgefallen). Nicht
minder malerisch erscheinen die Thürme von Lauenburgj die jetzt zum
Theil verfallen und mit Epheij überwachsen sind. Auch Gollnow hat
Thürme derselben Art. Der eine von diesen, zum Schutz einer Wasser-
pforte dienend, erhebt sich in achteckiger Gestalt über zwei Strebepfeilern,
die zu beiden Seiten der Mauer vortreten.

Ueber den, in schwerem Spitzbogen geöflneten Stadtthoven pflegen sich
hohe viereckige Thürme zu erheben, an denen sich in der Tiegel eine
mannigfaltigere architektonische Durchbildung zeigt. Nur in seltneren Fäl-
len steht der Thorthurm zur Seite des eigentlichen Durchganges. Ein-
fachere Thorthürme sieht man zu Damm, wo eine pyramidale Spitze die
schwere viereckige Masse bekrönt, und zu Greiffenhagen, wo der Ober-
bau cylinderförmig gehalten ist. — Das Bauthor zu Cammin hat einen
nicht hohen Oberbau mit Fensterblenden und zur Seite einen schönen
Thurm, in der Art der Mauerthürme. Auch zu Pyritz (dessen äussere
Umfassung, ebenso wie die von Stargard, sehr malerisch erscheint) stehen
die Thürme zur Seite der einfachen Thore; indess bemerkte ich am Unter-
bau der ersteren grosse vermauerte Spitzbögen, so dass doch vielleicht an-
zunehmen ist, der Durchgang habe ursprünglich durch die Thürme selbst
geführt. Der Thurm des Bahner Thores zu Pyritz ist unterwärts vier-
eckig,. oberwärts achteckig, an beiden Theilen mit Fensterblenden ver-
sehen, und wiederum mit pyramidaler Spitze gekrönt. Aehnlich ist der
Thurm des Stettiner Thores zu Pyritz gestaltet; doch springen hier zu
den Seiten des achteckigen Oberbaues noch kleine halbrunde Thürmchen
vor, die dem Ganzen ein eigenthümlich festes, burgartiges Gepräge geben.
Dies Thor hat zugleich noch einen Aussenbau, ein zweites Thor, mit dem
'ersten durch Seitenmauern verbunden, und durch starke, aber nicht hohe
Rundthürme eingefasst.,.— Ganz eigenthümlich ist das Mühlenthor zu
Stargard, ein Wasserthor, aus einem breiten, über die Ihna gewölbten
(gegenwärtig durch Fachwerk ausgefüllten) Spitzbogen bestehend, der einen
kleinen Oberbau trägt und zu dessen Seiten zwei schlanke achteckige
Thürme mit sehr geschmackvollem Zinnenkranze emporspringen. — Einige
Thorthürme in vorpommerschen Städten zeichnen sich durch mehr oder
weniger zierliche, treppenartig emporsteigende und mit kleinen Spitzen
geschmückte Giebel aus, während die Wandflächen mit Reihen kleiner
Fensterblenden geschmückt sind. Das schönste Beispiel solcher Art findet
sich zu Demmin (über dem Thore, welches auf die Strasse nach Loitz
führt). Aehnlich ist das Mühlenthor, zu Trib sees (auch das S tein-
thor, ebendaselbst, hat eine ähnliche-«Form, der sich, aber schon die Ele-
mente einer mehr modernen Behandlung beimischen). Dann gehört hierher
das Steinthor zu Anclam, sowie eins der alten Thore zu Grimme
und das Brandenburger Thor zu Treptow a. d. T., die beiden letz-
teren jedoch von roherer Form. — Andre Thorthürme, zumeist hinter-
pommerschen Städten angehörig, sind mit hohen Fensterblenden, die sich
fast den Formen kirchlicher Architektur Annähern, versehen; -dahin gehö-
ren die alten Thore von Schlawe, Stolp, Gollnow, von Garz u. a. —
An dem Thurme desAnclamer Thores zu Usedom haben die Fenster-
blenden zumeist schon eine rundbogige Form; auch wölbt sich an dessen

IS";

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Ausserkirchliehe Architektur, 769

äusserer Seite eine hohe, im Halbkreisbogen geführte Nische über dem
Thore hin, was -wiederum auf eine ziemlich späte Zeit schliessen lässt.
Bei vielen Thoren, wie z. B. bei denen von Wolgast, sind endlich die
Thürme in ihrer Dekoration modernisirt worden.

Mancherlei ist sodann über die künstlerische Dekoration der Fa^aden
an Rathhäusem und Wohngebäuden in Städten und Schlössern zu berich-
ten. Das Bemerkenswerthe indess, was an Bauwerken dieser Art noch ein
mittelalterliches Gepräge trägt, gehört der spätesten Zeit des Mittelalters,
dem fünfzehnten und sechzehnten Jahrhundert, an; es'ist nicht ganz un-
wahrscheinlich (obgleich die verhältnissmässig geringe Anzahl des Vorhan-
denen die Entscheidung unmöglich macht) , dass man sich bis dahin im
Allgemeinen mit einfacheren Formen für die Gebäude des werkeltäglichen
Verkehres begnügt hatte, und dass erst mit der höchsten Blüthe der städti-
schen Macht auch diese Weise des Luxus mehr hervortrat.

An den Häusern ist die Einrichtung des hohen, der Strasse zugewand-
ten Giebels charakteristisch. Schmale und nicht sehr vorspringende Stre-
ben , gewöhnlicli mehrfach gegliedert, laufen in der Regel zwischen den
Fenstern empor und erheben sich als freie Thürmchen über der Dach-
schräge; letztere erscheint aber insgemein nicht in ihrer einfaclien Linie,
sondern entweder steigen, zwischen den Thürmchen, kleinere Giebel über-
einander frei empor oder es bilden sich statt deren gerade Absätze, so
dass das Ganze stufenförmig emporsteigt. In solcher Weise, mit kleineren
Giebeln geschmückt, erscheint z. B. die Fa^ade des Rathhauses zu Grimme;
hier sind die Streb'ethürmchen aus Rundstäben zusamraengesezt. Aehnlich
auch die Fagade des Rathhauses zu Anclam. Bei der des Rathhauses zu
Lauenburg sind zu den Seiten stärkere achteckige Strebethürmchen an-
geordnet , die Absätze erhel)en sich stufenförmig und die Fenster haben
hier zum Theil die Form des späten geschweiften Spitzbogens, In dieser
Art sieht man auch viele Wohnhäuser, zu Anclam, Stralsund, Greifswald,
u. a. a, 0. Als die zierlichsten Beispiele mittelalterlicher Hausfagaden
sind besonders drei Häuser zu nennen, welche an der Ostseite des-grossen
Marktes zu Greifswald nebeneinander stehen. Das erste von diesen, zur
Linken, hat eine besonders reiche Dekoration. Der Giebel steigt >hier
stufenförmig empor; die Strebethürmchen sind mit buntRi Nischeh und
Rosettenwerk geschmückt; die Fenster haben mannigfach durchbrochene
Bogenzierden, und aus den Spitzbögen, die ihre üeberwölbung umfassen,
springen gereihte Blätter hervor; die ganze Behandlung ebenso, wie die
Ausbildung des Details entspricht hier vollständig der Verzierungsweise,
die wir an den, dem fünfzehnten Jahrhundert angehörigen kirchlichen
Bauten wahrgenommen haben. Das zweite Haus ist einfacher; die Giebel-
schräge ist hier nicht beobachtet, sondern die Fagade in gerader Masse
emporgeführt und mit einer horizontalen Zinnenreihe gekrönt; hohe Fenster-
blenden, die durch die Bodengeschosse emporlaufen und die kleinen Fenster--
Oeffnungen in sich einschliessen, geben dem Ganzen einen ernsteren Cha-
rakter. Bei dem dritten Hause zeigt sich am Giebel die gerade Linie des
Daches, die nur durch die Strebethürmchen unterbrochen wird, doch scheint
diese Einrichtung hier nicht ursprünglich; die Fenster sind dreitheilig, in-
dem je drei kleine gebrochene Spitzbögen, von zwei Säulchen gestützt,
durch grössere Spitzbögen umfasst werden. Die Form der gebrochenen
Spitzbögen dürfte aber auch hier wiederum auf das fünfzehnte Jahrhun-
dert deuten.

Kugler, Kleine Schriften I. 49

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770 Poramersche Kunstgeschichte,

Sehr eigenthümlich ist die Facade des Rathhauses von Stralsund.
Sieben schlanke Strehethörmchen, mit hohen Spitzen versehen, steigen zu
gleicher Höhe empor und schliessen eine Reihe von sechs, ebenfalls in
gleicher Höhe liegenden Giebeln zwischen einander ein. Unterwärts öffnet
sich, durch sechs starke Bögen , eine geräumige Halle , deren gothisches
Gewölbe im Innern theils von achteckigen Pfeilern, theils von schlanken
achteckigen Säulen getragen wird. Die Reihe der eben genannten sechs
Bögen ist aber im Aeusseren, ebenso wie das darüber befindliche erste
Stockwerk, modernisirtj eine alte Bauzeichnung stellt die Bögen als ein-
fache Spitzbögen, die Fenster des ersten Stockwerkes dagegen bereits als
mit gothischen Flachbögen überwölbt dar. Darüber folgen sodann, je zwei
nebeneinander, hohe Fensterblenden, die im Halbkreisbogen überwölbt
sind; die kleinen gedoppelten Bodenfenster innerhalb dieser Blenden haben
gebrochene Bögen. In den Giebeln endlich sind grosse kreisrunde Oeff-
nungen, die gegenwärtig leer erscheinen, die sich aber in jener alten Zeich-
nung als mit kleineren Rundscheiben und umherlaufenden Sternen ausge-
füllt zeigen. Die besonderen Formen, welche die ursprüngliche Anlage der
Facade enthält, deuten, nach meiner Ansicht, wiederum ziemlich bestimmt
auf die Bauperiode des fünfzehnten Jahrhunderts; ich kann somit derjeni-
gen Ansicht nicht beipflichten, welche auch in dieser Facade einen Theil
des bald nach dem J. 1316 erbauten Rathhauses erkennt. Andre unter den
vorhandenen älteren Bautheilen dürften aber sehr wohl aus jener früheren
Zeit herrühren. — Eine ähnliche Architektur scheint auch das Rathhaus
von Stettin gehabt zu haben. Die oben erwähnte alte Ansicht Stettin's
lässt in seiner Darstellung Reihen gleich hoher Strebethürmchen erkennen.
Hainhofer (Reisetagebuch vom J. 1617, S. 46) schildert das Rathhaus: „so
von geferbten branten Steinen gar auf alte Art mit hohen durchbrochenen
Mauern oder Schiessen erbawet, und der gescheggeten abgesetzten Farben
halber auch schier an die Thurmkürchen zu Siena oder an St. Johann's
Thurm zn Florenz mahnet; allein dass hier nur gebrannte Stain, Jenes aber
rothe, schwarze und weisse Marmelstein sein." Ebenso sagt eine andre
alte Beschreibung, welche der Zeit vor den Verwüstungen des Jahres 1677
gilt, von Stettin: „Es hat diese schöne Stadt viel wohlgebaute Häuser. Das
Rathhaus am Äarkt in der Stadt ist auch sehenswürdig, hat hinten und
vornen grosse Giebel, durchsichtig ausgearbeitet, dass sich zu verwundern
An der hintern Facade des, gegenwärtig in neueren Formen erscheinenden
Rathhauses ist eine sehr zierlich ausgebildete spitzbogige Mauernische
theilweise erhalten.

ti

Die Formen des gothischen Baustyles haben, sich in Pommern übri-
gens bis tief in das sechzehnte Jahrhundert hinein erhalten und sie zeigen
an den Fagaden einiger Prachtgebäude dieser Zeit noch eine schöne und
eigenthümliche Nachblüthe. Dahin gehört zunächst der eine erhaltene

Mitgetheilt in Brandenburgs Geschichte des Magistrates der Stadt Stral-
sund. Vergl. im Uebrigen den Aufsatz von Zober: das Stralsunder Rathhaus,
Sundine, 1835, Nr. 63, S. 251, ff. — Poinmerscher Kriegs-Postillion. Erstes
Heft, 1678

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C-K..

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Ausserkirciiliclie Architektur. 771

Flügel des herzoglichen Schlosses zu Ueckermünde, der, zufolge einer
daran befindlichen Inschrift, im J. 1546 erbaut ist. Er besteht gegenwärtig
aus dem Erdgeschoss und einem Obergeschoss, von 7 Fenstern Breite. Am
Obergeschoss laufen zu den Seiten der Fenster feingebildete Wandstreifen
empor, die sich in gebrochenen Halbkreisen durchschneiden: die Fenster
sind geradlinig, geschlossen, doch im Halbkreisbogen überwölbt und die
Bogenfüllung wieder mit sich durchschneidenden Kreisstücken verziert.
Zur Seite springt ein Treppenthurm vor, dessen Eingangsthür im Halbkreise
überwölbt ist; die Gliederungen, welche die Thür einfassen, befolgen die-
selbe Linie des Halbkreises < werden aber zugleich durch vertikale und
horizontale Streifen in einer Weise durchschnitten, dass dadurch ein sehr
anmuthiges und reiches Linienspiel entsteht, üeber der Thür befindet sich
ein schönes Relief, das Bildniss des Herzogs Philipp 1, Wappen und In-
schrift enthaltend. Auf diese Arbeit werde ich weiter unten zurückkom-
men. Der Treppenthurm bricht übrigens gegenwärtig in der Höhe des
Obergeschosses ab. Daneben steht ein alter runder Mauerthurm mit mäch-
tig starken Mauern, aus früherer mittelalterlicher Zeit lierrührend. — Eine
vollständige Copie dieses Schlossflügels von Ueckermünde ist ein altes Haus
zu Stettin, auf dem dortigen Schweizerhofe belegen und die obere Seite
desselben schliessend. Offenbar rühren beide Gebäude von einem und dem-
selben Baumeister her. Nur das Relief über der Thür des Treppentliurmes
fehlt. Es ist gegenwärtig von geringerer Breite als jener Schlossflügel, hat
aber noch ein zweites Geschoss von ganz ähnlicher Dekoration und auch
den ganzen Obertheil des Treppenthurmes, dessen oberer Rand mit sehr
schön verschlungenen gothischen Rosetten verziert ist. — Eine verwandte
Weise der Dekoration sieht man ferner an der sehr schönen und malerir
sehen Ruine des Schlosses von Daber, und zwar an demjenigen Theile
dieses Schlosses, der, nach der Stadt zu belegen, als der grössere und jüngere
erscheint. Doch kommen hier auch spitzbogige Fenster, gleichwohl in
ähnlicher Durchbildung, vor. Das ganze Schloss, das erst die Theilnahm-
losigkeit der jüngsten Zeit hat verfallen lassen, muss in seiner Integrität
einen bewunderungswürdig schönen Anblick gewährt haben.

Ein verwandtes Princip der Formenbildung, wiederum jedoch zu einer
ganz eigenthümlichen Weise der Dekoration angewandt, zeigen die Fa^aden
dreier Prachtgebäude zu Stargard, die des Rathhauses (172.) und zweier
Häuser in der Nähe desselben, die jetzt als bürgerliche Wohngebäude die-
nen, die aber angeblich und wahrscheinlich ebenfalls zu öffentlichen städti-
schen Zwecken erbaut sind. Die unteren Geschosse sind hier ziemlich
einfach gehalten ; aber die eigentlichen Giebeigeschosse, in denen sich zum
Theil die kleinen Oeffnungen für die Bodenräume befinden und an deren
Ecken die Dachschräge durch vortretende Viertelkreise maskirt wird, sind
mit sehr mannigfach gebildeten, aufs Reichste durch einander geschlungenen
gothischen Rosetten geschmückt. (Die Bildung der Rosetten ist hier überall
nicht mehr die frühere, welche eigentlich ein durchbrochenes und auf die
Fläche nur aufgelegtes Ornament vorstellt, sondern es ist eine Art ge-
schwungener, einfach gegliederter Stäbe, die aus der Mauer in starkem
Relief hervortreten.) Die späte Zeit dieser Dekorationsweise giebt sich
hier, abgesehen von andern Umständen, besonders dadurch zu erkennen,
dass die Gesimse, welche die einzelnen Abtheilungen trennen, bereits ein
antikes Profil haben, ja, dass selbst die antiken Zahnschnitte an ihnen
vorkommen. Sie gehören also der Uebergangszeit aus der gothischen in

; 1

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772 Pommersche Kunstgeschichte.

die moderne Bildungsweise, etwa der Zeit um die Mitte des sechzehnten
Jahrhunderts an. Noch ist zu bemerken, dass auf dem grossen Flur de»

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Rathhauses von Stargard, das Gebäude der Länge nach durchschneidend,
vier Rundsäulen von beträchtlicher Stärke zur Unterstützung der Decke an-
gebracht sind; die Säulen haben gewundene CanelHrungen, die hölzernen
Deckenbalken sind sauber ausgekehlt. Auch befindet sich im Untergeschoss
desselben Gebäudes ein grosser Kamin, dessen Obertheil wiederum gothi-
sche Rosettenverzierungen hat, während im Uebrigen auch er mit antik
geformten Gesimsen versehen ist. '— Eine ähnliche Weise der. Verzierung
zeigt der Giebel eines Gebäudes auf dem Domplatze zu Camrain (vermuth-
lich eine der ehemaligen Curien): doch erscheint hier die Anlage noch

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Auss'erkirchliche Arcbitel^tar. 773

moderner, indem den gothischen Rosetten schon zum Theil eine Anordnung
im Style der italienischen Kunst gegeben, ihnen auch italienisches Pilaster-
•werk beigemischt ist. Das Innere dieses Gebäudes hat eine modern barocke
Prachttreppe, die aber, wie es scheint, mit dem Gebäude gleich alt ist.
Aehnlich ist auch der Giebel des llathhauses zu Cammin verziert, das im
üebrigen reiner mittelalterliche Formen zeigt.

Auffallend war es mir, in ganz Pommern fast gar keine älteren Wohn-
gebäude , an denen sich die vorherrschende Form des Holzbaues gezeigt
hätte, — wie solche z. B. in zierlichster Durchbildung in den auf der Nord-
seite des Harzes belegenen Städten häufig vorkommen, — zu finden. An
festem und dauerhaftem Material für solche Zwecke ist, wenigstens in vielen
Gegenden von Pommern, kein* Mangel und war es früher gewiss noch
weniger. Auch würde sich , da aus den Verwüstungen der späteren Jahr-
hunderte doch so zahlreiche Steinhäuser gerettet sind, gewiss zugleich
manch ein Holzgebäude erhalten haben, wären dergleichen in grösserer
Anzahl vorhanden gewesen. Vielleicht ist die Fabrikation des Ziegelsteines
so allgemein verbreitet und dadurch so wohlfeil gewesen, dass dies Ma-
terial den scheinbar wohlfeileren Holzbau ganz verdrängte; vielleicht auch
fand der kräftige, stolze Geist des pommerschen Bürgerthums selbst den
Schein eines festeren Materials an der Stirn des häuslichen Eigenthums für
angemessener. Ich wüsste nur ein Paar sehr geringe Beispiele eines einiger-
maassen ausgebildeten Holzbaues zu nennen. Dahin gehört ein kleines
Gebäude, in der kleinen Papenstrasse zu Stettin, an dessen Obergeschoss
die freiliegenden Balken einige rohe spätgothische Zierden tragen. Dann
entsinne ich mich eines Hauses der Art in Pyritz, das aber schon dem
siebzehnten Jahrhundert angehören dürfte, und eines andern — falls ich
nicht irre — in'An dam.

Während der gothische Baustyl sich, wie wir am Schloss zu Uecker-
münde ein sicheres Beispiel haben, bis gegen die Mitte des sechzehnten
Jahrhunderts, vielleicht auch noch länger, in Pommern erhielt, tritt uns
an einem andern Schlossbau — dem von Stettin — ein nicht minder
sicheres Zeugniss entgegen, dass gleichzeitig, schon in der ersten Hälfte
des sechzehnten Jahrhunderts, der italienische Baustyl in reiner Aus-
bildung zur Anwendung gekommen sei. Dies Verhältniss darf jedoch
nicht weiter befremden, da es sich hier nicht um die organische Entwicke-
lung eines Baustyles aus dem andern^ handelt, da es vielmehr natürlich
ist, dass der aus der Fremde eingeführte Baustyl nicht mit einem Schlage-
die heimischen Schulen umwandeln, das Band der üeb.erlieferung nicht
plötzlich zerreissen konnte. Doch bewahrt das Stettiüer Schloss auch noch
höchst interessante Theile, welche der letzten Entwickelungszeit der
heimischen Bauweise angehören und dieselbe wiederum in neuer Eigen-
thümlichkeit zeigen. Herzog Bogislav X. hatte nämlich, nachdem er im
J, 1503 die Bürgerschaft Stettins gezwungen, ihm die Hälfte des Altböter-
berges abzutreten, an dieser, der südlichen Seite des Schlosfees einen pracht-
vollen Flügel erbaut'), den man auf alten Abbildungen mit einer Reihe

<

Kantzow, herausgegeben von Böhmer, S. 152. Pomerania, herausgegeben
von Kosegarteu, II, .8, 283. Micfäl, III,
S. 496. Friedeborn, I, S, 137.

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bunter Giebel, fast etwa den Giebeln jener Stargarder Gebäude vergleich-
bar, geschmückt siehtGegenwärtigerscheint das Aeussere dieses Flügels
in den Formen neuerer Zeit, und auch sein Inneres ist grösseren Theils
umgewandelt; doch blicken mehrfach, besonders in dem Treppenthurme,
der an diesem Flügel vorspringt, die älteren Bautheile durch, und nament-
lich ist das gesammte Innere des Erdgeschosses in seiner ursprünglichen
Anlage erhalten. Hier sieht man zuvörderst, im westlichen Theile des
lyügels, einige mit flachem Sterngewölbe überspannte Räume. Dann folgt,
den grösseren Theil des ganzen Gebäudes ausfüllend, ein grosser langer
Saal, dessen Decke durch fünf hölzerne Säulen, welche durch die Mitte
des Saales hinlaufen, getragen wird. Die Säulen sind einfach und auch
nur mit schlichten KapitUlen versehen, aber das Balkenwerk der Decke ist
aufs Reichste und Geschmackvollste im spät mittelalterlichen Style ausge-
schnitzt und giebt das zierlichste Beispiel jenes ausgebildeten Holzbaues,
den wir am Aeusseren der 'Häuser fast gänzlich vermissten. Ein mächtiger,
mannigfach ausgekehlter und geschnitzter Uuterzugbalken läuft über den
Säulen hin und in ihn setzen die in ähnlicher Weise gebildeten Querbalken,
ihrer dreissig an der Zahl, ein; wo die Balken über den Säulen zusammen-
stossen, bildet sich ein brillantes Consolenwerk. Die südliche "Wand des
Saales hat sechs grosse, im Flachbogen überwölbte Fenster, die nördliche
Wand meist ähnlich geformte Nischen. Die Höhe des Saales ist verhältniss-
mässig nicht bedeutend, was aber ganz dem Charakter jener Zeit, die höhere
Räume nur in den Kirchen liebt, gemäss ist. Der prächtige Eindruck, den
die Decke des Saales hervorbringt, lässt übrigens mit Bestimmtheit anneh-
men, dass derselbe eine besonders ausgezeichnete Bestimmung hatte ; ohne
Zweifel bewegten sich hier die glänzenden Hoffeste, welche das Leben des
glänzendsten fürstlichen Helden, den die pommersche Geschichte kennt,
schmückten. Leider dient gegenwärtig der Saal, an welchen sich für Pom-
mern so theure Erinnerungen knüpfen, zur Aufbewahrung von Kanonen'^).

m

Pommersche Kunstgeschiclite.

Nur um wenige Jahrzehnte jünger ist der, an den vorigen anstossende
östliche Flügel des Schlosses. An ihm befindet sich ein grosses Steinrelief,
das pommersche Wappen von zwei wilden Männern gehalten darstellend,
mit der Unterschrift: „Barnim D. G. eius nois X. Boguslai X. filius. Stettin.
Po. Gas. Wan. Dux. Rugeo. Prin. Com. Gusco. 1538." Dies nun ist eben
der Theil des Schlosses, von dem oben, als das frühe Auftreten des italie-
nischen Baustyles bezeugend, gesprochen wurde; denn seine äussere Archi-

M

') So auf einem Kupfersticli in der „Beschreibung der Stadt und Festuiig
Alten Stettin in Pommern, Danzig 1678." Üebrigens ist es in Frage zu stel-
len, ob die Giebelarchitekturen auf dieser Ansicht (an denen man eben nur das
Allgemeine der Anordnung erkennen kann) wirklich von dem durch Bogislav X.
aufgeführten Bau hergerührt haben. Wenigstens berichtet Friedebc|rn, II, S. 109,
dass derselbe im J. 1557 abgebrannt sei. Diese Nachricht scheint aber nur auf
die oberen Theile, etwa das Dachwerk u. dergl., bezogen werden zu müssen, da'
sich theils mehrfach, wie im Obigen
Aveiter angedeutet ist, in dem Gebäude die
Spuren gothischer Bauformen zeigen, theils das gesammte Innere des Erdgeschos-
ses noch das Gepräge der früheren Zeit des sechzehnten Jahrhunderts trägt
und sich vollkommen von den Formen der im italienischen Style aufgeführten
Schlosstheile unterscheidet. — (Nachträglich bemerke ich, dass der obenge-
nannte Saal mit seinem brillanten Balkenwerk doch vielleicht der zweiten Hälfte
des sechzehnten Jahrhunderts angehört. Es ist darin, neben den mittelalterlichen
Reminiscejizen, doch bereits ein entschieden modernes Element.)

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Aussertirchlichü Architektur.

tektur ist ganz in dessen Formen aufgeführt, und die Inschrift kann eben
nur die Absicht haben , den Erbauer und die Bauzeit namhaft zu macheu.
Auch hat er die frühere, strengere und edlere Form des italienischen Styles,
während dieTheile des Schlosses, die in der zweiten Hälfte des sechzehnten
Jahrhunderts erbaut sind, nicht mehr eine gleiche Schönheit der architek-
tonischen Behandlung zeigen. Vornehmlich die Anordnung, dass au dem
Östlichen Flügel je zwei Fenster gekuppelt und durch ein gemeinsames
Gesims überdeckt sind, ist es, was seiner Erscheinung jenes bedeutsamere
und ernstere Gepräge giebt. Die schwere Attika, die sich gegenwärtig über
der Fa^ade des genannten Flügels erhebt und den Attiken der folgenden
Bautheile entspricht, dürfte wohl erst bei deren Erbauung hinzugefügt sein.
Im Inneren ist die Einrichtung dieses Flügels neu. — Im Jahre 1575 wur-
den die übrigen, älteren Theile des Schlosses abgebrochen und an ihrer
Stelle ein neues Gebäude, der nördliche und westliche Flügel, aufgeführt,
und zwar durch „einen wälschen Maurer, A nton ius Wilhe Im." Ein
Brand störte die Arbeit im folgenden Jahre, doch wurde sie bereits im
J. 1577 beendetDas Datum des letztgenannten Jahres findet sich an
den Fenstergesimsen beider Flügel. Auch hier ist es der einfach italienische
Styl, der dem Beschauer an den einzelnen Bauformen entgegentritt; doch
ist derselbe, wie bemerkt, minder kräftig, als an dem östlichen Flügel, da
die Fenster isolirt stehen und sonst keine Dekoration angebracht ist, welche
dem Auge den Eindruck grösserer Massen gewähren könnte. Im Inneren
sind die Räume hier durchweg flachbogig nach moderner italienischer Art
(d. h. ohne Anwendung von Gurten) überwölbt.

Wiederum jünger, vom J. 1619, ist das Nebengebäude des Schlosses,
welches durch den Münzhof von letzterem getrennt wird. Ein grosses, an
demselben befindliches Relief mit Wappen und Bildnissen hat die Inschrift:
j,A. D. MDCXIX illustriss. D. D. Philippus II. et Franciscus I. fratres —
hierauf die Titel — hoc aediflcium suis sumptibus exstructum musarum et
aytium voluerunt esse conditoriu." Nicht bloss Jahrzahl xind Erbauer macht
also diese Inschrift namhaft, sondern auch den Zweck des Gebäudes, das
zur Bibliothek und Kunstkammer bestimmt war^), was dem lebendigen
Interesse, welches Herzog Philipp II. für Kunst und Wissenschaft hegte,
nur angemessen erscheint. Gegenwärtig hat dies Gebäude selir einfache
Formen; auf der oben genannten Ansicht vom J. 1678 sieht man es mit
Erker-Giebeln geschmückt. Von den erwähnten Bildnissen wird weiter
unten die Rede sein.

Auch ein zweites Nebengebäude des Schlosses, von dem ebengenannten
durch die kleine Ritterstrasse getrennt, muss hier erwähnt werden. Dies
ist der Reitstall, au dessen Vorderseite sich ein kleines zugemauertes Por-
tal im barock italienischen Style zeigt. Es ist mit sauber ausgearbeiteten
Verzierungen versehen und oberwärts mit mehreren ornamentistischen Reliefs
gekrönt. Diese bestehen aus zwei grossen Wappenschilden, aus einem Paar
kleiner, zierlich nackter Figuren und aus einem Greif, welcher ein Schwert
und ein Buch in den Klauen trägt; Das Ganze ist in feinem Sandstein
vortrefflich gearbeitet. Die über den Wappenschilden befindliche Jahrzahl
1626 bezeichnet die Zeit, der das Portal angehört.

Der jüngste Theil des Schlosses endlich ist der bereits besprochene

») Vergl. Friedeboru, II, S. 1Ö8, 109, 115. — So sagt Hainhofer, Reise-
Tagebucb vom J. 1617, S. 97, ausdrücklieb.

775

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776 Poiamersche Kuustgeschichte.

tüdliche Flügel iu seiner gegenwärtigen Gestalt und mit Ausnahme der
älteren Theile. Sein Umbau fällt in die frühere Zeit des vorigen Jahr-
hunderts, und sein Aeusseres ist auf eine nüchterne Weise, welche dieser
Zeit entspricht, dekorirt. Am Aeusseren des Treppenthurmes befindet sich
eine wunderliche Uhr, die eins der "Wahrzeichen Stettins für die Hand-
werlisburschen ausmacht. Sie besteht aus einem grossen abenteuerlichen
Gesichte, dessen Augenbewegung den Perpendikelschlag augiebt und dessen
Mund die Zifl"er des täglichen Datums enthält; eine kleine, zur Hälfte her-
vorragende männliche Figur schlägt auf zwei Glocken die Stunde. Daneben
ist die Jahrzahl 1736 angebracht, die Regierungszeit König Friedrich Wil-
helm's I. von Preussen andeutend, der sich die Sorge für Stettin, den Haupt-
erwerb seines Lebens, sehr angelegen sein liess , und auf dessen Befehl
somit auch diese Erneuung und absonderliche Dekoration des herzoglichen
Schlosses ausgeführt zu sein scheint.

Als eine besondre Merkwürdigkeit des Stettiner Schlosses ist endlich
noch ein Kamin zu erwähnen, der sich in einem der Zimmer des nörd-
lichen Flügels (dem jetzigen Archive des Oberlandesgerichts) vorfindet. Er
ist mit einigen barocken Ornamenten und mit zwei Reliefs von Alabaster,,
mythologische Scenen vorstellend, versehen. Die letzteren, welche eine
leidlich mittelmässige Arbeit im Style des siebzehnten Jahrhunderts zei-
gen, sollen von der Hand des letzten der pommerschen Herzoge (somit
ßogislav's XIV.) herrühren. Ich weiss nicht, worauf diese Sage sich gründet.
Von Herzog Barnim (gest. 1573), der viele Bildnerarbeiten nachgelassen
hatte '), dürften sie schwerlich gefertigt sein. —

Neben dem Schloss von Stettin sind noch verschiedene Schlösser, au
denen die Formen des italienischen Baustyles hervortreten, zu nennen.
Zunächst das Schloss Pansin in der Nähe von Stargard. Doch hat dies
wiederum einige ältere Theile. Es besteht aus zwei Hauptgebätiden, die,
durch Mauern verbunden, einen inneren Schlosshof bilden. Das eine dieser
Gebäude, zwar mannigfach erneut, lässt doch noch mit Bestimmtheit die
einfachen Formen eines spätgothischen Styles, im Charakter des sechzehn-
ten Jahrhunderts, erkennen; das andre ist in italienischer Weise, ebenfalls
dem sechzehnten Jahrhundert angehörig, erbaut und an seinen äusseren
Seiten mit Giebeln und Jlohen, eine Kronen-artige Verzierung tragenden
Schornsteinen geschmückt. An dies Gebäude stösst ein alter, mächtig
starker Thurm, dessen Obertheil aber nicht mehr vorhanden ist. Unter
den Gebäuden des Vorhofes sind auch noch mehrere im italienischen Style
der genannten Zeit. Uebrigens ist dies Schloss, das zum Theil von hohen
Bäumen umgeben ist, unter allen erhaltenen Schlössern Pommerns, soviel
mir wenigstens bekanntgeworden, dasjenige, dessen äussere Ansicht die
schönste malerische Wirkung hervorbringt. — Das Schloss Pudagla auf
der Insel Usedom ist im Jahr 1574 erbaut. Es ist ein sehr einfaches Ge-
bäude von ziemlich langer Dimension, auf der Ecke ein hervorspringender
runder Erker. Ueber der Thür ist ein grosses Relief, das pommersche
Wappen, von zierlich italienischer Barock-Architektur umgeben, vorstel-
lend; im Friese sieht man saubere Armaturen, in einer Attika Musik-
Instrumente ausgemeisselt. Eine Unterschrift sagt; „Wer Godt vertrawet
hat wol gebavet. V. G. G. I^nst Ludwig Hertzog zu Stettin Pommern, hat
dis haus J. F. G. freundliche lieben fraw^ mutter fraw Marien geborn zu.

1) Vgl. Haiohofers Reise-Tagebuch, S. 53, 85, 89.

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Ausserkirchliche Architektur. 777

Sachsen Hertzogiu zu Stettin Pommern Wittwe" zum Leibgedinge Godt gebe
zum Geluck erbawet. Anno MDLXXIIII." Im Inneren ist von der alten
Einrichtung fast nichts erhalten. Von dem Klosterbau, der früher an dieser
Slelle stand, sieht man an einem Nebengebäude nur noch einige rohe Spitz-
bögen erhalten. — Nur um Weniges jünger ist das Schloss Meli entin,
ebenfalls auf der Insel Usedom. Auch dies ist ein einfach viereckiges
Gebäude, doch an seiner Vorderseite durch drei vorspringende, starke
viereckige Erker, über denen sich früher vermuthlich Thurmspitzen erho-
ben, ausgezeichnet. Die inneren Räume haben noch die alten Ueberwöl-
bungen, die auf dem Flur durch eine in der Mitte stehende Säule getragen
werden. Ein Saal ist durch die Stuccaturen der Gewölbe und durch den
barocken Kamin ausgezeichnet. Eine Steintafel am Aeusseren des Gebäu-
des enthält die Darstellung eines "Wappens mit der Jahrzahl 1596 und mit
der Unterschrift: „Anno 1575 hat der Etle vnt er: Rodiger v. Nugkirchen
(Neuenkirchen) dises haus ghefundert vnt Ao. 80 vorfertiget zhu der ghe-
dechnus hat ihm sein shou Christo, v, Nug. dise Nachrichtung se, la."
Ein Paar kleine Flügelgebäude rühren, ihrer übereinstimmenden Form ge-
mäss, aus derselben Zeit her. Auf dem Hofe finden sich einige Fragmente
architektonischer Dekoration, unter denen sich ein zierlich componirtes
Kapital mit Figuren auf den Ecken auszeichnet. — Pas Schloss von Plate
erhebt sich stattlich und malerisch, im Style ungefähr dem Stettiner Schlosse
vergleichbar, über dem Ufer der Rega; doch ist ein Theil desselben be-
reits abgerissen und auch das Uebrige, das jetzt als Schulgebäude dient,
nicht sonderlich Avohl gehalten. Im Inneren sieht man mancherlei flach-
gewölbte Räume, unter denen sich besonders ein Saal, dessen Gewölbe in
der Mitte von einer Säule mit Löwenköpfen getragen werden, auszeichnet.
(Gegenwärtig sind aus diesem Saale zwei Gemächer gebildet.) — Andre
pommersche Schlösser dieser Zeit haben mehr von ihrer Eigenthümlichkeit
und ihren architektonischen Zierden verloren. Dahin gehören die von
Rügenwalde, Stolp und Lauenburg, in denen man zugleich noch
einzelne ältere gothische Bauformen wahrnimmt. Auch das weiland mäch-
tige Stammhaus der Schwerine, Spantikow, ist zu diesen zu zählen.
Üeber dem Thore des letzteren sieht man in barocker Umrahmung, mit
Wappen und Inschriften umgeben, die Steinbilder Ulrich's von Schwerin,
der das Schloss im sechzehnten Jahrhundert erbaute, und seiner Gemah-
lin '), — Das grosse Schloss zu Bütow gehört, wenigstens seinen Haupt-
theilen nach, in die Zeit des Jahres 1623, wie dies eine, an dem einen
der Flügel dieses Schlosses befindliche Inschrifttafel bezeugt. Sie laufet:
^Ao. MDCXXIII. lllust.mus Dux Pomeraniae Bugislaus XIV. extrui man-
davit sub Petro Glasenap Capitan Martino Maesen Quaestore." Nur das,
zum Theil abgebrochene Schlossthor erscheint älter und noch in gothischer
Form; das Uebrige ist, der angegebeneu Eibauungszeit gemäss, modern,
doch ist auch hier wenig Bemerkenswerthes, erhalten. Letzteres gilt aber
nur von den, nach dem inneren Hofe zugekehrten Fagaden der einzelnen
noch vorhandenen Bautheile; sehr interessant dagegen ist die äussere Um-
gebung, die durch eine, im regelmässigen Viereck aufgeführte.mächtige
Mauer und starke Rundthürme, welche auf den Ecken hervorspringen,
gebildet wird. Einer der Thürme ist in neuerer Zeit abgebrochen. Der

') Neue Poium. Prov. Blätter, III, S. 284. Ebendaselbst auch Nachrichten
über die andern Burgen des Anclam'schen Kreises.

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778 Poiamersche Kuustgeschichte.

Hauptsache nach besteht diese starke Befestigung aus Feldsteinen; die
Mauern zwischen den Thürmen haben auf ihrer Höhe einen bedeckten
Gang mit Schiessscharten. Das Schloss, das sich auf einer Anhöhe über
der gleichnamigen Stadt erhebt, giebt durch seine imposante Erscheinung
der ganzen Gegend einen eignen malerischen Reiz. — Noch jünger, aus
der Zeit um das Jahr 1650 herrührend, ist das kleine Schloss Spyker auf
Rügen, welches von dem schwedischen Feldmarschall Wrangel erbaut
wurde. Es ist sehr einfach gehalten und nur durch geschweifte Giebel und
durch Rundthürme auf den Ecken ausgezeichnet. Aehnlich dürfte das
Schloss Putbus auf Rügen beschalfeh gewesen sein, ehe dasselbe seine
gegenwärtigen, in einer Art griechischen Baustyles ausgeführten Säulen-
hallen und andre Erweiterungen erhielt. — Was sonst etwa noch von in-
teressanten Schlössern in Pommern vorhanden ist, habe ich nicht gesehen.

Es dürfte wiederum für die Verhältnisse der pommerschen Geschichte
charakteristisch sein, dass in dem letzten Jahrhundert der selbständigen
Blüthe des Landes, welche äusserlich durch das Hervortreten des modern
italienischen Baustyles bezeichnet wird, so mancherlei von fürstlichen oder
ritterlichen Schlossbauten und so gar wenig von bedeutenderen städtischen
Gebäuden zu berichten ist. Denn ich wüsste von bürgerlicher Architektur
aus dieser Zeit nichts Bemerkenswerthes zu nennen, als zwei in sauberer
Arbeit ausgeführte Hausportale. Das eine derselben findet sich zu Stral-
sund, in der Battinmacher-Strasse, und ist von einer etwas schweren,
barock italienischen Architektur umfasst, in deren Fries sich die Jahrzahl
1568 zeigt. Merkwürdiger, wie durch sein Portal, ist dies Haus jedoch
durch die über letztcrem befindlichen Portraitreliefs, von den weiter unten
näher zu sprechen sein wird. — Das zweite Portal ist das eines Hauses
zu Stettin (grosse Oderstrasse No. 72.)- Zwei Hermen stehen hier zu
beiden Seiten der Thür, die eine männlich, in einer Art römischen Ko-
stüms, einen Kelch in der Hand tragend, die zweite weiblich, mit einem
Schwerte in der Rechten. Auf ihnen ruht das Gebälk. In den Zwickeln
zwischen dem Gebälk und dem Thürbogen sieht man Genien mit Sieges-
kränzen. Im Fries ist ein Medaillon mit dem Kopfe eines Ritters, daneben
ungemein schöne Blättergewinde. In einem besondern Aufsatze ruht auf-
gestüzt eine nackte weibliche Figur, Genien zu ihren Seiten. Das Ganze
ist sehr sorgfältig und mit Geschmack behandelt imd zeigt den Styl italie-
nischer Dekorationsweise, wie dieser in der zweiten Hälfte des sechzehnten
Jahrhunderts vorherrschend war', in vorzüglich schöner Ausbildung.

Manche Bürgerhäuser, namentlich zu Stettin und zu Cölberg,
zeigen den Rococo-Geschmack vom Anfange des vorigen Jahrhunderts in
mehr oder weniger reicher Ausbildung und deuten hierin auf einen neu
begonnenen Aufschwung des Lebens hin. In Stettin finden sich auch
einige Häusfa§aden jener Zeit, die an die grossartig edeln Formen eines
Schlüter erinnern. Für die Aufnahme Stettins bewies sich, wie bereits
bemerkt, König Friedrich "Wilhelm I. von Preussen sehr thätig; er legte
die grossen umfassenden Befestigungen dieser Stadt an und Hess die beiden
prächtigen Thore, das Berliner und das Anklamer Thor, bauen, deren

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Bildende Kunst. Mittelalter. 1. Kirchl. Prachtgerätbe,

reiche Dekoration zu den schönsten Zierden der Stadt gehört, wie ihnen
denn auch nur wenig Festungsthore, selbst nicht die sehr berühmten von
Verona, an Schönheit voranstehen dürften.

Endlich hat das heitere Leben der Gegenwart im Fache der bürger-
lichen Baukunst wiederum tüchtige und erfreuliche Bauwerke erstehen ma-
chen. Das Rathhaus zu Colberg, das Packhofs - Gebäude und die Börse
zu Stettin, sowie mancherlei andre Bauanlagen bezeugen es, dass maii
aufs Neue, dem Sinn der Vorfahren gleich, das Bedürfüiss einer würdigen
Gesta,ltung des öifentlichen Lebens empfunden hat.

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ZWEITER HAUPTABSCHMTT.

BILDENDE KüNST.

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WERKE MITTELALTERLICHER ZEIT.

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In der bildenden Kunst von Pommern finden wir im Allgemeinen, wie
dies bereits in der Einleitung angedeutet wurde, das Element der Sculptur
vorherrschend.. Das Element der Malerei erscheint als ein untergeordnetes,
indem es zumeist nur zur grösseren Belebung oder zum anderweitigen
Schmucke bildnerischer Werke in Anwendung kommt. Von sfelbständigen
"Werken der Malerei ist nicht sonderlich Vieles namhaft zu machen. Es
scheint somit am zweckmässigsten, den gegenseitigen Bezug, der hier zwi^
sehen beiden Gattungen der Kunst obwaltet, nicht aufzulösen, den Ent-
wickelungsgang beider Gattungen nicht gesondert zu betrachten. Ebenso-
wenig ist es vortheilhaft, die Arbeiten der ornamentalen Kunst als eine be-
sondere Gattung hinzustellen, indem grossen Theils figürliche Darstellun-
gen mit ihnen verwebt sind und indem umgekehrt die bildnerischen Werke
in der Regel einen bedeutenden Reichthum ornamentaler Zierden enthalten.
Die nöthige Uebersicht zu erleichtern, werden sich die Arbeiten, von denen
jetzt Bericht zu erstatten ist, je nach ihrer Bestimmung, nach ihrem Mate-
rial, nach ihrer sonstigen Beschaffenheit, in einzelne Gruppen zusammen-
stellen und in deren Folge die allgemeinen Verhältnisse des Entwlckelungs-
ganges nachweisen lassen.

1.. Kirchliche Pmchtgeräthe. >

Ich beginne diese Uebersicht mit Betrachtung derjenigen kirchliclien
Prachtgeräthe, die sich im Dome zu Cammin, als Erinnerungszeichen
an den ehemaligen Glrnz des bischöflichen Sitzes, erhalten haben. Sie sind
zum Theil beträchtlich alt, einer Zeit angehörig, in welcher in Pommern
noch nicht die künstlerischen Werkstätten, die zu ihrer Beschaffung nöthig
waren, vorhanden sein konnten. Sie dürfen somit zum Theil nicht als

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780 Poiamersche Kuustgeschichte.

Belege für eine pommersche Kunstgeschichte gelten; doch bezeichnen sie
wenigstens das früh vorhandene Bedürfniss nach künstlerischer Form und
bieten überhaupt so mannigfach interessante Eigenthümlichkeiten dar, dass
eine nähere Schilderung auf keine Weise zu vernachlässigen ist.

• Der grösste Theil dieser Geräthe wird im Archive des Domes aufbe-
wahrt; die Mehrzahl diente als Behälter für Reliquien. Die ältesten Stücke
sind nach meiner Ansicht vier Holzplatten, je zwei und zwei von gleicher
Grösse; vermuthlich bildeten sie die Seiten eines Reliquienkastens. Sie sind
mit kleinen Elfenbeinplättchen besetzt, die mit Kreisen, Kreuzen und ähn-
lichen Figuren gravirt oder durchbrochen sind. Die Art und Weise, in der
diese ziemlich rohen Verzierungen gearbeitet und zusammengesetzt sind,
scheint mir den ähnlichen Arbeiten der karolingischen und nächstfolgenden
Periode zu entsprechen, so dass sie nicht füglich in eine spätere Zeit als
in die des zehnten Jahrhunderts zu setzen sein dürften.

Sodann sind einige kupferne Geräthe, zumeist der Zeit des zwölften
Jahrhunderts angehörig, zu nennen. Unter diesen zeichnen sich besonders
mehrere Platten aus, welche die Reste zweier kleinen Reliquienkasten, —
beide ursprünglich aus sechs Platten in kapellenartiger Form zusammen-
gesetzt, — bilden. Die Platten sind mit vergoldeten figürlichen Darstel-
lungen, deren Umrisslinien gravirt und deren Köpfe reliefartig erhöht sind,
geschmückt; der Grund neben diesen Darstellungen ist mit blauer, grüner
und weisser Emailfarbe bedeckt. Der Styl der Zeichnung ist der des zwölf-
ten Jahrhunderts, sehr streng, aber auch sehr tüchtig, in einzelnen Motiven
sich einer schönen und edeln Linienführung bereits glücklich annähernd;
dies ist namentlich der Fall bei den Apostelfiguren, welche auf den Gie-
belseiten des am besten erhaltenen Kastens dargestellt sind. — Gleichzeitig
ist sodann der kupferne Fuss irgend eines Geräthes (etwa einer Monstranz),
der mit ähnlich vergoldeten und emaillirten, doch minder tüchtigen Dar-
stellungen geschmückt ist. — Ebenso ein kupfernes Räuchergefäss, aus einer
Schale und Handhabe bestehend, ähnlich verziert, aber ebenfalls von etwas
roherer Arbeit. Gefässe, wie dies, dürften übrigens selten sein; mir we-
nigstens ist bis jetzt kein zweites der Art vorgekommen —■ Aus vergol-
detem Kupfer ist ferner gebildet die Christusfigur eines Cruciflxes (an der
nur der eine Arm und die Plattfüsse fehlen). Sie ist sehr streng und selt-
sam stylisirt, ich möchte sagen, wie ein Götzenbild einer barbarischen
Nation, ohne lebendigen Kunstsinn. Scheinbar gehört auch sie noch dem
früheren Mittelalter an; doch haben die feingravirten Ornamente, welche
den Schurz der Figur schmücken, bereits Aehnlichkeit mit den gemalten
Bücherzierden des vierzehnten Jahrhunderts. — Aus Kupfer besteht end-
lich noch eine Platte in sechsblättriger Rosettenform, wahrscheinlich ein
Monile, ein priesterlicher Halsschmuck, der zum Festhalten des Messgewan-
des dieute. Sie war ursprünglich ganz vergoldet und enthält die gravirte
Darstellung einer Madonna mit dem Kinde. Diese Darstellung ist von
mittlerem Kunstwerthe; sie hat den Charakter der Holzschnitte aus der
Zeit um das Jahr 1500.

*) Vgl. über die Kupfergeräthe mit vergoldeten und emaillirten Zierden jener
frühen Zeit meine „Beschreibung der in der König!. Kunstkammer zu Berlin
befindlichen Kunstsammlung," S. 15, ff. — Die oben genannten Reste der beiden
Reliquienkasten sind übrigens von schönerer Arbeit, als die, ihnen entsprechen-
den Geräthe in der Berliner Kunstkammer,

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Bildende Kunst. Mittelalter, 1. Kirchl. Prachtgeräthe. 781

Drei andere Geräthe haben eine gewisse monstranzartige Form und
dienten vermuthlich alle drei wiederum zur Aufbewahrung von Reliquien.
Das eine derselben besteht aus einer Kokosnuss mit einer Fassung von ver-
goldetem Silber und gleichem Fusse, die Silberarbeit sauber, im Style der
Zeit um das Jahr 1300. — Das zweite ist eine Art kleiner Obelisk mit
zierlichem Fusse ähnlichen Styles, von vergoldetem Silber. — Das dritte,
ebenfalls der genannten Periode angehörig, ist ein silbernes, zum Theil ver-
goldetes Kreuz,™dessen Arme in Lilienform gebildet sind. Die Mitte des- ;>],
selben besteht aus einer flachen Kapsel, auf deren Rückseite ein Crucifix
und eine Inschrift gravirt sind; letztere macht die in der Kapsel enthalte-
nen Reliquien namhaft. Auf der Vorderseite der Kapsel ist, als besonderer
Zierrath, eine höchst merkwürdige antike Onyx-Camee von Zoll Höhe
und 1% Zoll Breite befestigt. Die Camee enthält die stehende Gestalt
eines männlichen Heros, das Haupt von einem Strahlendiadem umgeben,
von dem auf der einen Seite ein Band niederfällt; Brust und Leib sind,
nach Art eines Sagums, mit einer grossen Aegis, auf der man vorn das
Medusenhaupt erkennt, umhüllt. In der Rechten hält der Heros ein Scep-
ter oder eine Lanze, in der Linken trägt er ein alterthümliches Pallasbild.
(Das Pallasbild ist als Pallas Promachos dargestellt, mit erhobener Lanze,
in der Linken den Schild, die Beine in einer fast hermenartigen Bildung.)
Die Füsse des Heros sind bis auf die Waden mit Sandalenstiefeln beklei-
det. Die Arbeit der ganzen Camee zeigt den Geist der antiken Kunst mehr
in der allgemeinen schönen und würdigen Fassung und Anlage; namentlich
das Statuarische in der Bewegung der Figur ist glücklich festgehalten. Die
Ausführung ist, Avie zwar zumeist bei den Cameen, etwas roh, die Behand-
lung der Detailform nicht fein genug, die Verhältnisse sind kurz und sehr
gedrungen. Vermuthlich ist es die. heroisirte Figur eines römischen Kai-
sers; doch wüsste ich für jetzt nicht mit Bestimmtheit zu sagen, welcher
Kaiser darin zu erkennen sei. Uebrigens darf es nicht befremden, einen
solcheü gänzlich unpassenden Schmuck zur Verzierung eines christlichen
Heiligthumes angewandt zu sehen; ähnliche Fälle kommen auch sonst gar
häufig vor, und bezeugen freilich einen allzu naiven Sinn, dem es mehr um 1
einen seltenen Schmuck überhaupt als um dessen Bedeutung zu thun war.

Ein leider etwas beschädigter Bischofstab von Elfenbein mit vergolde-
ten Silberbeschlägen, die letzteren im Style des vierzehnten Jahrhunderts
gearbeitet, gewährt wiederum ein eigenthümliches Interesse. — Dazu gehört
eine alte Bischofmütze mit Stickerei von Perlen, Gold und Seide. Diese f

Stickerei stellt auf der einen Seite die Verkündigung Maria, auf der andern |

Christus und Maria in der Herrlichkeit dar; die Figuren sind mit leidlich |

künstlerischem Sinne, ebenfalls im Style des vierzehnten Jahrhunderts, |

ausgeführt

Auf einer Alabagterplatte, reliefartig gearbeitet, sieht man das Haupt
Johannis des Täufers, mit vier kleinen Engelflguren zu den Seiten, in Ein-
zelheiten vergoldet und bemalt; der Styl ist etwas manierirt alterthümlich, |
im Charakter des vierzehnten Jahrhunderts. |

Aus röthlichem Bernstein endlich ist die Statuette einer Madonna mit j

1) Vermuthlich sind die beiden genannten Stücke dieselben, von denen /

Hainhofer (Reise-Tagebucb vom J. 1617, S. 74) berichtet, dass man ihnd in der
Sakristei des Domes gezeigt habe: „ainen helfenbaininen Bischoffstab und ain
Rischoffshuet, den die BischofF aufsetzen, wan mans creyrt."

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782 Poramersche Kunstgeschichte,

dem Kinde gefertigt, leider etwas beschädigt, gegenwärtig 4V2 Zoll hoch.
Die Arbeit ist tüchtig, wenn auch ohne eigentlich tieferes Kunstgefühl, im
Styl der Holzschnitte aus dem Anfange des sechzehnten Jahrhunderts.
Rücksichtlich der seltenen Anwendung des ßernsteins in dieser Periode für
bildnerische Zwecke, dürfte die kleine Figur besondere Beachtung ver-
dienen.

Einige der Gegenstände, die im Archive des Camminer Domes be-
wahrt werden, haben ein geringeres Interesse für die Geschichte der Kunst,
wenn sie auch, in anderer Beziehung, als nicht uninteressante Denkmale
der mittelalterlichen Kultur zu betrachten sind. Dies sind mancherlei einst
hochverehrte Reliquien: das (gegen sechs Fuss hohe) Hemde, das Hand-
tuch, das Sticktuch und ein Pantolftl der Jungfrau Maria, die Peitsche, die
Christus bei seinem Einzüge in Jerusalem führte, die Trommel, mit welcher
die Juden durch das rothe Meer zogen, u. s. w. Doch sind manche dieser
Stücke auch für das Handwerk früherer Zeit nicht ganz unwichtig. So ist
z. B. das angebliche Handtuch der Jungfrau Maria mit roher damastartiger
Stickerei, Wappenadler, Greifen, andere Thiere, auch menschliche Figuren
darstellend, versehen, deren Styl etwa dem zwölften Jahrhundert angehört;
so ist der Pantoffel aus einem gewirkten Teppichstücke von vorzüglich
schönem Muster, der späteren Zeit des Mittelalters angehörig, geschnitten. —

Nicht minder interessantes Kirchengeräth findet sich an einigen an-
deren Stellen des Camminer Domes. Im Chore desselben wird ein be-
trächtlich grosser, höchst merkwürdiger Reliquienkasten aufbewahrt. Er ist
in der Hauptform oval, 1 Fuss 9 Zoll lang, 13 Zoll breit und gegen 11 Zoll
hoch, zusammengesetzt aus 22 grösseren und kleineren Elfenbeinplatten, die
durch vergoldete kupferne Beschläge zusammengehalten werden. Auf den
Elfenbeinplatten sieht man allerhand phantastische Thiergestalten und Ran-
kenwindungen, mit mehr oder minder vertieften Umrissen eingeschnitten,
in einem seltsam herben und bizarren Style, der indess überall mit grosser
Consequenz durchgebildet ist '). Auf den Beschlägen sind gravirte Zier-
raten enthalten; überall, wo die Beschläge oberwärts zusammenstossen,
springen aus ihnen Thier- und Vogelköpfe frei hervor; die letzteren sind
wiederum sehr streng, aber auch sehr tüchtig gearbeitet. Die Zeit (und
noch mehr das Lokal), der diese sonderbare Arbeit angehören dürfte, ist
sehr schwer zu bestimmen; man dürfte auf das elfte oder zwölfte Jahrhun-
dert rathen können, doch ist mir das letztere, gewisser Eigenthümlichkeiten
wegen, wahrscheinlicher.

In einem Schrank, des Chores finden sich ferner einige goldstoffene
Messgewänder, die in vortrefflich leichten Mustern, im Style des späteren
Mittelalters, gewirkt sind. — Auch werden im Chor ein Paar messingene
Taufbecken aufbewahrt, von denen das eine die Darstellung der
Verkün-
digung Maria, das andre die des Sündenfalls, in getriebener oder geprägter
Arbeit, enthält. Es sind dies jedoch nur ganz rohe Handwerksarbeiten,
etwa des sechzehnten Jahrhunderts, wie sie,häufig (auch in Pommern) ge-
funden werden.

Endlich sind noch die in der Sakristei aufbewahrten silbernen und
zum Theil vergoldeten Altargeräthe zu nennen, die noch für die heutigen

Der Styl ist fast ähnlich, doch noch bizarrer, wie an den Zierden eines
Reliquienkastens und eines Jagdhornes in der Berliner Kunstkamraer, die ich
in meiner Beschreibung, S. 12 u. 13 (no, 11, a. n. b.) näher charakterlsirt habe.

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Bildende Kunst. Mittelalter. 6. Gewölbaialereien, 783

gottesdienstlichen Bedürfnisse benutzt werden. Von ihnen gehören aber
nur einige der mittelalterlichen Zeit an. Dies sind drei Kelche, unter
den&n der grössere im Style des vierzehnten Jahrhunderts reich dekorirt,
auch mit einigen erhabenen gothischen Medaillons und mit aufgesetzten
Tohen Edelsteinen versehen ist. Der kleinste, einfach gothische Kelch hat
am Fusse eine Umschrift, in der die Jahrzahl 1359 enthalten zu s'ein scheint.
— Ein vierter Kelch, von bedeutender Dimension, ist in dem brillanten
und nicht geschmacklosen Barockstyle der früheren Zeit des siebzehnten
Jahrhunderts gefertigtEine Inschrift, am Fusse dieses Kelches, welche
sich auf(^ Ernst Bögislav, Herzog von Croy, den letzten Bischof Cammins
und den letzten Sprössling des herzoglich pommerschen Geschlechtes be-
zieht und die Jahrzahl 1682 enthält, ist später hinzugefügt und deutet wohl
nur auf das Jahr, jn welchem der Kelch dem Dome geschenkt worden.
Dieselbe Bezeichnung »haben auch ein Paar grosse Leuchter, die aber dem
manierirten Style jener späteren Zeit entsprechen. — Endlich ist noch eine
Kanne, ebenfalls in zierlich barockem Style, zu nennen, auf deren Deckel
sich ein Knopf mit dem pommerschen Wappen und mit der Umschrift:
„V. G. G. Ulrich. H. Z. S. P. F. B. Z. C. Anno 1622" befindet.

Die sämmtlichen, vorstehend genannten Gegenstände geben Beispiele
für die Behandlung des kirchlichen Prachtgeräthes in den verschiedenen
Jahrhunderten des Mittelalters und auch in der folgenden Zeit. Was sich
an andern Orten an Arbeiten ähnlicher Art (namentlich an gothischen Altar-
kelchen) vorfindet, bietet keine besonderen Eigenthümlichkeiten weiter dar,
und so mag der grössere Reichthum der Camminer Domschätze hier zur
Vertretung des anderweitig Vorhandenen genügen.

2. Taufsteine.

Als noth-rt'endige kirchliche Inventarienstücke in mittelalterlicher Zeit
sind ferner die Taufsteine zu nennen. Mehrere Fuss hoch, in der Gestalt
eines kolossalen Bechers, ziemlich roh gebildet, schmucklos oder mit ein-
fachen Zierden versehen, finden sich solche Taufsteine in vielen pommer-
schen Kirchen vor. Die Zeit, welcher die einzelnen Arbeiten angehören
dürften, ist hier indess sehr schwer zu bestimmen, indem es in der Regel
an näher charakteristischen Kennzeichen fehlt. Doch scheint die Mehrzahl
von ihnen, ihrer einfachen Form gemäss, einer früheren Zeit, etwa der des
dreizehnten Jahrhunderts, anzugehören. Einen einfach colossalen Taufstein
solcher Art sah ich in der Jacobikirche zu Greifswald; einen andern,
an dem die untere Wölbung der Schale mit einem massenhaften Flecht-
werk verziert war, zu Garz auf Rügen, vor der Kirchenthür liegend; einen
dritten, mit vier menschlichen Köpfen geschmückt, in der Kirche von
Altenkirchen. Ein Taufstein in der Nikolai kirch e zu Stralsund
(halb in einen der Pfeiler des Schiffes eingemauert, um als Weihwasser-
becken zu dienen) hat an seinem oberen Theile einfach eingemeisselte

Er hat dieselben Silberstempel, die sich an eiuem grossen Werke dersel-
ben Zeit auf der Berliner Kunstkammer vorfinden. Vgl, raeine Beschreibung,
S. 215, no. 317.

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Blätter und Thierflguren, nach gothischer Art. Ebendort befindet sich, an
einem der Chorpfeiler zu gleichem Behuf eingemauert, eine grosse Schale
von rothem Marmor, einfach, aber sehr geschmackvoll gebildet. Ganz in
der alten Form erscheint dagegen wiederum ein Taufstein in der Jak obi-
kirche zu Stralsund. Aehnliche in den Kirchen von Uollnow,
G r elffenb erg, Stolp, Freienwalde, Kloster Colbatz u. s. w. In
der Thurmhalle der Johanniskirche zuStargard findet sich ein Tauf-
stein , dessen Haupttheil ringsumher mit einer flach erhabenefl gothischen
Bogenstellung geschmückt ist und der schon einer etwas späteren Zeit an-
zugehören scheint. Ein ähnlicher Taufstein wird in der südlichen Vorhalle
des Domes zu Cam min aufbewahrt. An letzterem Orte ist auch noch
ein zweiter Stein vorhanden, der nur erst aus dem Rohen gehauen und
unvollendet gelassen ist. Die meisten Arbeiten dieser Art sind aus Kalk-
stein gebildet.

3. Bronzen.

Mit grösserer Pracht und in reicherer künstlerischer Ausbildung sind
ein Paar Inventarienstücke der Marie nkirche zu Co Iberg gearbeitet.
Da sie das Datum ihrer Entstehung tragen, so dienen sie zugleich der wei-
teren kunsthistorischen Forschung als willkommene feste Ausgangspunkte.
Es sind zwei grosse, in Bronze gegossene Werke, das eine ebenfalls ein
Taufbecken, das andere ein colossaler siebenarmiger Leuchter, eine Nach-
bildung des bekannten Leuchters im Tempel von Jerusalem, wie dieser
an dem Triumphbogen des Titus zu Rom erscheint, und wie sich ähnliche
Nachbildungen auch in andern Domkirchen (z. ß. in denen von Magdeburg
und Halberstadt) finden. Der Leuchter ist von beiden das ältere Werk;
er hat an seinem Fusse eine doppelte Inschrift; die obere macht den Ver-
fertiger namhaft; sie lautet: „De dessen luchtcr ghemaket hat. Johes
Apenghetere. God gheve zyner zele raat. Amen." Die untere Inschrift
heisst: „Dessen luchter gaf her godeke de dekene. dorch god. dat mach
men vor war spreken. Anno dni. M. CCC. XXVIL" Der Leuchter besteht
aus einer starken, zwölf Fuss hohen Säule, die das mittelste Licht aufzu-
nehmen bestimmt ist und an der auf jeder Seite drei grosse Arme befestigt
sind. (Zwei dieser Arme sind eine neuere Ergänzung von Holz.) An dem
unteren Rande des Stammes springen drei Hundsköpfe vor; diese, und mit
ihnen die ganze Last, ruhen auf drei kleinen, streng stylisirten Löwen.
Oberwärts sind am Stamme des Leuchters die Reliefbilder der Apostel
angebracht, die für die Entwickelungsgeschichte der deutschen Plastik ein
sehr interessantes Beispiel geben. In Bezug auf die nackten Körpertheile
und auf das Naturverhältniss sind diese Figuren zwar ziemlich roh gear-
beitet; aber ihre Gewandung ist in durchaus gediegner, schöner und reicher
Weise angelegt, in jenem edeln Style, der an den deutschen Sculpturen des
vierzehnten Jahrhunderts vorherrscht und der von dem dürftigen, eckigen,
geknickten Wesen, das man unverständiger Weise als Grundzug der deutschen
Kunst zu betrachten liebt, himmelweit verschieden ist. Vor solchen Arbeiten
versteht man es, wie die deutsche Kunst des I^rzgussee nachmals einen so

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785

Bildende Kunst. Miltelalter. 3. Bronzpn.

hohen Meister, wie Peter Vischer, liervorbririgen konnte. — Die Arbeiten
des Taufbeckens theilen nicht die Vorzüge .des ebengenannten Werkes.
Eine Inschrift bezeichnet dasselbe als im Jahre 1355 gefertigt. Es hat die
Gestalt eines grossen Kessels, der von vier Löwen getragen wird. An der
Aussenfläche laufen zwei Reihen gothischer Giebel, dreizehn in jeder Reihe,
umher; jeder Giebel schliesst eine in flachem Relief gebildete Darstellung
ein. Diese^ Darstellungen enthalten, in fortschreitender Folge, die Leidens-
geschichte Christi, geben aber, wie bereits angedeutet, den Styl des vier-
zehnten Jahrhunderts nur in einer ziemlicli rohen Weise wieder.

Neben diesen beiden Werken mögen hier zunächst noch ein Paar andre
alterthümliche Bronzearbeiten» von kleinerer Dimension genannt werden.
Das eine 'ist ein kleines Crucifix, welches an der Aussenseite eines der
Strebepfeiler des Chores der Marie n k i rc h e zu S targ ard angebracht
ist und den Styl des vierzehnten Jahrhunderts in ziemlicher Strenge zeigt.
(VergJ. oben S. 758.) Die unterhalb dieses Crucifixes angebrachte, in Holz
geschnitzte Figur eines Eccehomo hat ebenfalls noch viel alterthümliche
Strenge, wenn sie auch, was schwer zu entscheiden ist, jünger sein sollte.
— Die zweite Bronzearbeit, ebenfalls wohl noch dem vierzehnten Jahr-
hundert (spätestens etwa dem Anfange des folgenden) angehörig, ist ein
Thürklöpfel, der gegenwärtig die moderne südliche Thür der Schloss-
kirche zu Stettin schmückt. Es ist ein grosser Greifenkopf, dessen
Schnabel den Thürring trägt. Uihher ^ielit sich ein Gewinde von Wein-
ranken, vier Kreise bildend, in denen figürliche Darstellungen, die Ilaupt-
iiguren der Abstammung der Maria vorstellend, enthalten sind. Unterwärts
sieht man Isai, den Stammvater, in gestreckter Lage und aus seiner Brust
den Stahimbaum emporwachsend, ganz in der Weise, wie diese Darstellung
sehr häufig auf mittelalterlichen Bildwerken gefunden wird. In den beiden
Seitenringen sind männliche Halbfiguren mit (unleserlichen) Spruchbändern
angebracht; oberwärts Maria mit dem Kinde, auf einem breiten Throne
sitzend. Die Arbeit ist derb, doch mit ziemlich gutem Stylgefühl, im Cha-
rakter der angegebenen Zeit, ausgeführt.

Unter den Glocken pommerscher Kirchen, die ich zu untersuchen Ge-
legenheit hatte, wüsste ich nur Eine zu nennen, die ein künstlerisches
Interesse gewährt. Doch gehört diese bereits dem Ende des Mittelalters an.
Sie findet sich auf dem Thurm der Marienkirche zu Treptow a. d. R.,
ist mit der Jahrzahl,1515 bezeichnet und zunächst durch ihr Gewicht
(angeblich von 75 Centnern) und prachtvollen Klang ausgezeichnet. Ihren
Schmuck bilden, ausser einigen Inschriften, mehrere Kränze zierlich gothi-
schen Ornamentes, sowie die Reliefbilder Christi auf der einen und der
Maria auf der andern Seite. Beide Reliefs geben den Styl der genannten
Zeit in einer leidlich handwerksmässigen Weise wieder, üebrigens stammt
diese Glocke, gleich den kleineren, die auf demselben Thurme hängen, aus
dem Kloster Belbuck, welches in der Nähe von Treptow belegen war.

50

Kiit'lcr, Kleine Srliriftiii. I.

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786 Pommersche Kunstgeschichte.

4.' Steinsculptur.

II

An diese Bronze-Arbelten lässt sich das Wenige anreihen, was sich
in Pommern an mittelalterlicher Steinsculptur vorfindet. Dass die eigent-
liche Bildhauerkunst im pommerschen Mittelalter überhaupt gar wenig zur
Anwendung gekommen, beruht, wie es scheint, auf dem Systeme der Archi-
tektur, welches, so reichen Schmuck es auch in späterer Zeit annimmt,
doch der höheren, bildnerischen Zierde fast gar keine Stelle einräumt.
Gleichwohl ist es auffallend, dass die so tlberaus reiclie und mannigfache
Ausbildung des gebrannten Steines nicht wenigstens (wie'dies z. B. in
j Italien im späteren Mittelalter der Fall ist) eine, ^von der Architektur un-

abhängige Bildnerei in diesem Material zur Folge gehabt hat. Nur die
I Holzsculptur, von der weiter unten die Rede sein wird, ist auf eigen-

' <• , tliümliche und sehr ausgebreitete Weise in Anwendung gebracht worden.

f Einiger weniger Steinsculpturen, die mit der Architektur in Verbindung

^ gebracht sind, ist bereits früher gedacht worden. Dahin gehören die Fi-

' guren im südlichen Giebel des Domes von Gammln, die den Uebergang

aus dem byzantinisclien in den sogenannten germanischen Styl zu bezeich-
nen scheinen. (Ihr Material kann ich, da sie dem Auge so beträchtlich
I entfernt stehen, nicht nennen.) Sodannsdie kleinen Figuren in gebranntem

Stein, welche sich in der Sakristei desselben Domes vorfinden, und die
dengermanischen Styl in strenger Reinheit zeigen. Beide gehören der früheren
f- Zeit des dreizehnten Jahrhunderts an. Dem Schlüsse des dreizehnten Jahr-

■ hunderts scheinen die ziemlich schwergebildeten Sculpturen jenes m6rkwür-

dlgen Säulenkapitäles in Colbatz anzugehören. Sehr wenig bedeutend
L sind sodann die rohen und schwerfälligen Reliefs der Heiligen Petrus und

Paulus an der Petrikirche zu Stettin, die ich, wie oben bemerkt, dem
vierzehnten Jahrhundert zuzuschreiben geneigt bin. Noch weniger künst-
lerischen Werth hat die kleine, in Thon gebrannte Heiligenfigur, die ich
in Stargard fand. Ausserdem wüsste ich nur noch eine Figur, die für
architektonische Zwecke bestimmt zu sein scheint, nennen; dies ist die am
r Thurme der Schlosskirche zu Stettin eingemauerte Sandsteinstatue eines

Bischofes, in der man, nicht ohne Grund, das Bild des Schutzpatrones dieser
t Kirche, des heiligen Pommernbekehrers, Otto von Bapiberg, erkennen darf.

Leider ist diese Figur, und namentlich das ganze Gesicht, beschädigt; an
der Gewandung aber sieht man noch eine sehr treffliche und saubre Durch-
p bildung jener Weise des germanischen Styles, welche das vierzehnte Jahr-

c hundert charakterisirt. Der consolenartige Sockel, auf dem die Statue

• ruht, ist mit kleinen figürlichen Darstellungen geschmückt, die aber auch

( sehr beschädigt sind.

Dann findet sich , als ebenfalls noch hierher zu zählen, eine kolossale
aus Stucco gearbeitete Gruppe in der Ni k oi ai kirche zu Stralsund,
in derjenigen Kapelle auf der Nordseite der Kirche, welche gegenwärtig
als Taufkapelle dient. Sie stellt die heilige Anna, die M^utter der Maria,
vor, welche die Maria auf dem Schoosse liält. sowie diese, in gleicher
Stellung, das Christkind auf ihrem Schoosse trägt (eine Darstellungsweise,
die im Mittelalter liäufig vorkommt). Die Haltung der Figuren ist noch
steif, die Verhältnisse nicht ganz naturgemäss, aber in der Anordnung der
Gewandung zeigt sich auch hier ein edler Sinn und in den etwas breiten

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Bildende Kunst. Mittelalter. 6. Gewölbaialereien, 787

Gesichtern der Ausdruck einer eigenthümlichen Milde. Auch dies Werk,
das leider etwas beschädigt ist, scheint noch dem vierzehnten Jahrhundert
anzugehören. — Ein z\veites Werk in Stucco, ein-Altarrelief. reiht sich,
seiner Behandlung nach, den Holzsculpluren an, und wird besser bei die-
sen zu besprechen sein.

Hiebei erwähne ich noch einer Steinplatte mit ornamentistischerSculptur,
die, früher im Schloss zu Wolgast befindlich, gegenwärtig an einem
Pfeiler der dortigenPetrikirche eingemauert ist. In ziemlich schwerem
und rohem Relief enthält sie ein Wappenschild mit der Figur eines Greifs
und darüber einen Helm mit Pfauenfedern und mit gothischem Ranken-
werk. Interessant ist die Platte nur durch die Unterschrift, derzufolge
sie sich auf Herzog Bogislav X. bezieht. Diese lautet: „Bugslaff van gods
gnade hertoghe to
Stettin 1496."

5. Grabplatten mit gravirten Darstellungen.

Die BeschalTenheit des Gesammtvorrathes der Werke bildender Kunst,
über den hier zu berichten ist, macht es wünschenswerth, ehe wir uns dem
grossen Kreise der Schnitzwerke in Holz zuwenden, vorerst noch einige
andre Werke der in Rede stehenden Periode, für die sich später kein gleich
günstiger Platz finden dürfte, zu besprechen. Zugleich köuneji auch diese
Werke, da die Zeit ihrer Ausführung grösstentheils mit ziemlicher Sicher-
heit zu bestimmen ist, für die Zeitbestimmung des Uebrigen weitere An-
knüpfungspunkte geben.

Es gehören hieher zunächst einige Grabplatten mit bildlichen Darstel-
lungen, die aber nicht, wie es anderweitig in der Regel der Fall ist, erha-
ben gearbeitet sind, sondern die nur, in einfacher Weise, durch eingegra-
bene Umrisslinien bezeichnet werden. Gleichwohl ist die eine von ihnen
als ein höchst vorzügliches Meisterwerk zu bezeichnen.- Dies ist eine grosse,
Bronzeplatte, die sich in einer Kapelle auf der Südseite der Nikolaikirche
zu Stralsund befindet und vermuthlich noch in den fünfziger Jahren
des vierzehnten Jahrhunderts gefertigt ist. ') Sie hat nämlich die Um-
schrift: „Anno domini millesimo tricentesimo quinquagesimo septimo in
vigilia annunciacionis sancte märie uirginis obiit dominus albertus houener
proconsul zondensis cuius anima requiescat in pace amen." In der Mitte
sieht man das lebensgrosse Bild des Verstorbenen, dargestellt, von
vorn, die Hände vor der Brust gefaltet, in reichem Kostüm. Der Styl hat
ganz die Strenge, welche man in den deutschen Miniaturmalereien jener
Zeit wahrnimmt, aber die Linien sind durchaus edel und geschmackvoll,
in ebenso grossartig einfachen Zügen, wie mit feinem Gefühle bei jeder
Bewegung geführt. Hinter der Figur ist ein saubrer Teppichgrund (173.)
gravirt. Zwei Engel halten ein Kissen unter dem Haupte des Ruhenden.
Umher läuft eine architektonische Einrahmung, deren Formen das schönste

') Die vollständige Abbildung dieser Grabplattefund ihrer Darstellungen
s. auf dem anliegende Blatte. '

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Gepräge des gothischen Baustyles tragen. In den Nischen dieser Archi-
tektur ist eine Menge kleiner Heiligen- und Engelflguren (174,) gravirt, an
denen sich der Styl des vierzehnten Jahrhunderts in einer höchst anmu-
thigen Weichheit ausspricht. Auf dem unteren Streifen, der das Ganze
beschliesst, sieht man einige Scenen des Lebens, unter denen sich beson-
ders die launige Darstellung einer Jagd auszeichnet. Unter Voraussetzung
der conventionellen Bedingnisse, welche der Styl jener Zeit mit sich führt,
kann man sich in der That nichts Gediegeneres denken, als diese Arbeit,
Leider habe ich nach dem Namen oder Zeichen des Verfertigers vergeblich
gesucht und muss es somit unentschieden lassen, ob das Werk im Vater-
lande oder auswärts sei gearbeitet worden. Es liegt auf dem Boden der
Kapelle, vor den Beschädigungen der Fusstritte Gedankenloser, nicht aber vor
Verstaubung, die sich endlich doch zum Verderbniss der Arbeit in den
feineren Linien festsetzt, durch eine Bretterdecke geschützt. Es wäre vpohl
zu wünschen, dass diesem Werke, welches sehr geeignet ist, eine der vor-
züglichsten Zierden der Stadt zu bilden, eine würdigere Stelle zu Theil
w^erden möge.

Aehnlich gearbeitete Grabplatten von Stein kommen öfter vor; doch
habe ich keine von ähnlicher Schönheit der Ausführung gesehen. Die be-
merkenswertheren, über die ich mir Notizen aufgezeichnet, sind die Fol-
genden. — Eine Steinplatte in der Schlosskirche zu Stettin, vor dem
Altare eingelassen, Sie gehört den siebziger Jahren jiesselben Jahrhun-
derts an. Die Umschrift heisst: „Hic jacet dns hennighus, de rebergh
miles qui obiit sub anno dni m°ccc°lxx° sabbato post festü ascensionis."

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Bildende Kunst. Mittelalter, ö. Grabplatten.

\789

Sie enthält die Darstellung
eines jungen Ritters, ebenfalls
in dem einfachen Style der
Miniaturen jener Zeit. Zu den
Seiten sieht man " auch hier
eiüe architektonische Dekora-
tion mit Engeln und Heiligen-
figuren. —Ebenso einfach und
streng, doch minder edel, ist
die Darstellung eines Steines,
welcher sich in den Ruinen
der Klosterkirche zu Eldena
befindet. Er gehört dem Schlüs-
se des Jahrhunderts (und viel-
leicht einem Vorfahren des
grossen Baumeisters unsrer Ta-
ge) an; seine Umschrift lautet:
„Anno domini M.CCCXCVII.
XI kalendas maii obiit alber-
tus Schinkel cuius anima per
piam misericordiam dei re-
quiescat in pace perpetua
amen." Dort liegen auch noch
mehrere andere Grabsteine mit
eingegrabenen Umrisszeich-
nungen; sie sind aber sämmt-
lich zerbrochen. Man hat die
Steine neuerdings im Kreuz
der ehemaligen Kirche auf dem
Boden zusammengelegt und
Thränenweiden zu ihren Sei-
ten gepflanzt. Diese romanti-
sche Idee verfehlt gewiss ihren
Eindruck auf poetische Gemü-
ther nicht; nur ist zu bedau-
ern, dass zwischen den Fugen
der gebrochenen Steine das
Gras schon jetzt so dick her-
vorwächst, dass man die Ueber-
sicht der einzelnen-Darstel-
lungen verliert, und dass, da
der Regen von den Platten
nicht ablaufen kann, sich mit
der Zeit über ihnen eineMoos-
decke bilden dürfte. Einige
dieser Steine scheinen aus dem
fünfzehnten Jahrhundert her-
zurühren. — Ein merkwürdi-
ger, der zweiten Hälfte des
fünfzehnten Jahrhunderts an-
gehöriger Stein, dessen Dar-
stellungebenfalls aus gravirten

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790 Poiamersche Kuustgeschichte.

Umrissen besteht, wobei aber der Grund bereits um ein. geringes vertieft ist,
findet sich in der Marienkirche zu Greifswald, an der Wand des
nördlichen Seitenschifl'es eingemauert. Der Stein enthält die Darstellung
des gekreuzigten Heilandes, auf dessen einer Seite man Maria, ohnmächtig
in Johannis Armen, sieht, während auf der andern ein betender Mann kniet.
Dies ist der, in Greifswald's Geschichte mannigfach berühmte Heinrich
Rubenow, der Gründer der dortigen Universität, und der Stein ist dem
Gedächtniss seines tragischen Endes gesetzt, wie dies seine Unterschrift
erkennen lässt. Sie lautet: „Uppe nye iares anede des leste daghes des
iars der bord xpi Mcdlxii. wart slaghe her hinrik rubenow doctor in beide
regte vd borghmeister ,. hyr" .... Der Styl der Zeichnung ist .hier aber
bereits wesentlich abweichend von dem der vorgenannten Arbeiten. "Wäh-
rend dort noch ein feierlicher gerader Fluss der Linien vorherrscht, so
tritt hier bereits entschieden jenes eckige, scharfe Wesen ein, welches u. a.
namentlich die gleichzeitigen Holzschnitte charakterisirt. Wir dürfen so-
mit, wie es scheint, annehmen, dass auch in Pommern (ähnlich wie in
andern Theilen Deutschlands) etwa um die Mitte des fünfzehnten Jahr-
hunderts, oder doch bald darauf, jene Umwandlung des bildnerischen Sty-
les erfolgt sei.

6. Altertliümliche Gewölbmalereieu.

Indem die Darstellungen der vorgenannten Grabplatten eigentlich mehr
dem Bereiche der Malerei als dem der Sculptur angehören, findet sich
hier Gelegenheit, zugleich auch ein wirkliches, und zwar sehr grossräu-
miges Werk der Malerei zu betracliten. Dies sind die Malereien am Ge-
wölbe der Marienkirche zu Colberg; sie füllen das ganze geräumige
Mittelschiff (mit Ausnahme des letzten Kreuzgewölbes vor dem Chore) aus:
früher sollen auch die Gewölbe des Chores und die der beiden älteren
Seitenschiffe auf gleiche Weise ausgemalt gewesen sein, diese aber in
Kriegszeiten zu sehr gelitten haben, worauf man sie übertüncht habe.
Die vorhandenen Darstellungen tragen entschieden das Gepräge des vier-
zehnten Jahrhunderts; ihre Einrichtung ist ganz die, welche man an gleich-
zeitigen italienischen Gewölbmalereien wahrnimmt. Die Kreuzgurte (wie
dies bereits oben bemerkt wurde) und breitere Streifen neben ihnen sind
mit einfachen gothischen Ornamenten versehen; jedes Dreieckfeld des ein-
zelnen Kreuzgewölbes zerfällt in zwei unregelmässig viereckige Hauptfel-
der, denen sich in den Ecken Ideine dreieckige Nebenfelder anreihen. So
umfasst das Yorhandene 32 Hauptdarstellungen und 40 Nebendarstellungen.
Jene enthalten eine Art Biblia pauperum, eine Zusammenstellung von
Scenen des alten und des neuen Testamentes, in denen, nach der im
Mittelalter gebräuchlichen Symbolik, die Begebenheiten des alten Testa-
ments als prophetisclie Vordeutungen auf die des neuen betrachtet wer-
den. So linden sich immer entsprechende Scenen aus beiden nebeneinander
aestellt: Moses vor dem feurigen Busch und die Verkündigung Maria, die
Erschaffung der Eva und die Geburt Christi, der Sündenfall und Christi
Leichnam im Sclioosse der Maria, u. dergl. m. Die kleineren dreieckigen

,)

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Bildende Kunst. Mittelalter. 6. Gewölbaialereien, 791

Ne^enfelder scheiden sich, rücksichtlich ihrer Darstellungen, in zwei ver-
schiedene Gattungen. In denen, welche^au die Durchschneidung der Kreuz-
gurte in der Mitte der Gewölbe anstossen, sind überall musicirende und
singende Engel angebracht; in den übrigen «aber, die sich in den äusseren
Winkeln der Felder befinden , sieht man einzelne Figuren, die, wie es
scheint, keine besondre historische oder kirchlich symbolische Bedeutung
haben. Wenn ich diese Figuren richtig verstehe, «so ist ihr Zweck ein
mehr dekorativer, aber nicht der einer müssigen Raumausfüllung;'vielmehr
scheinen sife mir angewandt, um das architektonische Gerüst des Gewölbes
zu beleben, die Kräfte, die dasselbe halten und tragen, körperlich zu ver-
sinnlichen. Bei einigen Figuren -wenigstens tritt diese Anschauungsweise
ganz entschieden hervor, und ich wüsste sie, was ihre Idee anbetrilft, nur
mit den wundersamen Nebenfiguren in der von Miche-langelo gemglten
Decke der sixtinischen Kapelle zu Rom zu vergleiclien. " Ein solches Auftre-
ten selbstschöpferischer, von äusserlicher Mystik freier, rein künstlerischer
Gedanken fordert aber alle Anerkennung, zumal in'Rücksicht aufweine Z.eit,
da die grösseren Werke der bildenden Kunst insgemein noch den Satzun-
gen der Kirche zu folgen hatten. Darum zeigt sich aber auch in der
Zeichnung und Komposition der in Rede stehenden Figuren ein freierer,
lebendigerer Sinn; unter ihnen findet man einzelnes recht Treffliche, wäh-
rend die übrigen Gemälde, besonders die Hauptdarstellungen, die herge-
brachten Typen des vierzehnten Jahrhunderts nur in mittelmässiger Weise
wiederholen. Die Begebenlieiten sind in diesen Bildern nur ganz trocken,
ohne individuell poetische Auffassung, nacherzählt; in .den Gestalten ist
wenig kräftiges Lebensgefühl, in den Bewegungen wenig grossartiger Sinn;
das Nackte ersclieint,ziemlich unförmlich, und nur die weite Gewandung
hält sich auch hier zumeist in der Würde, die von dem Style des vier-
zehnten Jahrhunderts fast unzertrennlich scheint. Die Malerei besteht,
in der Weise jener Zeit,, nur in einfacher Colorirung. Merkwürdig jiber
ist es, dass die Farben sich,' wo die Bilder nicht etwa gewaltsam verletzt
worden, licht und rein erhalten haben, wie es selten bei so alten Wand-
gemälden der Fall ist. Sehr merkwürdig ist überhaupt das Vorhandensein
dieser grossen Bildermasse, wie in Detifschland wohl kein zweites Beispiel
ähnlicli ausgedehnter Gewölbmalereien aus iriittelalterlicher Zeit zu finden
sein dürfte. Ich glaube, dass dergleichen überliaupt in Deutschland nur
selten vorgekommen ist, da die Bemalung der Gewölbkappen mit schweren
figurenreichen Scenen dem leicht emporstrebenden Charakter der gothischen
Bauweise widerspricht; dass solche Bemalung sich in Italien so häufig
findet, beruht, neben andern Gründen, wohl mit auf dem Umstände, dass
sich dort überhaupt nur ein. ziemlich untergeordnetes Verstaildniss des
gothischen Baustyles zu erkennen giebt. So wirken denn auch in der
Marienkirche zu Colberg diese Gewölbmalereien nicht eigentlich vortheil-
haft für den architektonischen Gesammteindruck; sie bilden mehr nur ein
denkwürdiges Zeugniss für die frühe Opulenz der Stadt und des Stiftes,
die nach möglichst reicher Dekoration ihres erhabensten öffentlichen Ge-
bäudes verlangen mochte. (Dafür zeugen ebenso auch die beiden gleicli
alten Prachtwerke, der oben besprochene Taufkessel und der siebenarmige
Leuchter.) Gegenwärtig wird übrigens der schwere Eindruck jener Ma-
lereien durch die grell ^abstechende weisse Uebertünchung der übrigen
inneren Bautlieile ansehnlicTi und unzweckmässig verstärkt.

Sonst habe ich von allen Wandmalereien nur nocli in der Marien-

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792 Pomiuersclie KunstgescbicLte.

kirche des benaclibarteii Treptow a. d. R. einen Rest entdeckt. Der
posse Schwibbogen nämlich, der den Chor vom Schiff der Kirche sondert,
ist (wie dies bereits oben bemerkt wurde) mit ßankengewinden und ein-
zelnen menschlichen Gestalten bemalt. Die Ausführung ist hier ähnlich
einfach wie bei den vorgenannten Werken, der Styl der Zeichnung verräth
einen tüchtigen Sinn für das dekorative Element

7. Schnitzwerke in Holz.

Ei iie eigentliche und sehr bedeutsame Blüthe der bildenden Kunst des
Mittelalters zeigt sich in Pommern an den Schnitzwerken in Holz. Aus
diesem Material besteht die hei weitem grösste Mehrzahl derjenigen Werke,
welche zum Schmucke der Kirchen, besonders zum Schmuck ihrer Altäre
angewandt sind. An und mit ihnen, namentlich an den Altarwerken, ent-
faltet sich eine eigene kleine Kunstwelt, welche die Leistungen sämmt-
licher Künste in ihren Bereich zieht und durch sie ein reiches Ganze von
harmonischer Zusammenwirkung der Theile hervorbringt. Die Altarwerke
bestehen durchweg aus Schreinen, die mit mehr oder weniger erhabenen,
zum Theil freistehenden figürlichen Darstellungen ausgefüllt sind; reiche,
heitere Architekturen fassen diese Darstellungen ein und bilden ihre Be-
krönung. Seitens'chreine von ähnlicher Beschaffenheit bilden in der Regel
die Flügel des Hauptschreines; wenn sie geschlossen sind, so sieht man
auf ihren Rückseiten Gemälde, denen sich häufig auch noch ein zweites,
auf beiden Seiten wiederum bemaltes Flügelpaar anreiht. Die bunten Far-
ben dieser Gemälde bedingen es aber, dass auch das Uebrige in bunter
Farbe erscheint. Die figürlichen Schnitzwerke haben somit nirgend die
Naturfarbe des Holzes oder eine anderweitig beliebige eintönige Bemalung;,
vielmehr ist letztere, je nach dem Charakter der einzelnen Gegenstände,
stets in einer Weise ausgeführt, dass durch sie die Naturfarbe des Darzu-
stellenden mehr oder weniger bestimmt angedeutet wird.

Es vereinen sich also an diesen Schnitzwerken die Bedingnisse der
Sculptur und der Malerei, eine Verbindung, welche die hergebrachten
ästhetischen Regeln der neueren Zeit als unzulässig und als unschön dar-
zustellen belieben. Aber es hat eine solche Behandlungsweise wolü ihre
Rechtfertigung in sich. Einmal ist die Forderung, dass die Sculptur durch-
aus and unter allen Umständen der in verschiedenen Tonen gehaltenen
F'ärbung entbehren solle, eben nirgend als nur in neueren Sculpturwerken
und in den Lehren der neueren Aesthetik zu finden; bei den Meistern der-

») Im Jahrgang VII, Heft 2 der Baltisclißti Studien (der später erschien als
meine Poairaersche Kiinstgc.schichtö im Jahrg. VII'I.), S. 101 ff. hat G. 0, F.
Lisch die Kirche zu Verdien bei Demmin , die von mir nicht besucht war,
besprochen. Er bemerkt, dass au den Wänden des Schiffes dieser kleinen Kirche
ausühnliche Roste verwitterter Wandmalereien belindlich sind, dass sie einen
Altarschrein mit Sclmitzwerk und Gemälden besitzt, besonders aber durch die in
drei Fenstern erhaltenen Glasmalereien ausgezeichnet ist. Glasuuilereieu
hatte ich anderweit in Pommern niciit gefunden.

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Bildende Kunst. Mittelalter. 7. Schuitzwerke, 793

jenigeu Kunst, auf welcher unsere heutige Bildung zu fussen pflegt, bei
den Griechen wenigstens nicht. Je mehr sich die kritische Forschung die-
sem Punkte der antiken Kunst zugewandt hat, um so weiter erscheint
der Kreis derjenigen Verhältnisse, in welchem diö griechischen Künstler
die Bildwerke mit farbigem Schmucke versahen Und wenn die pla-
stische Ruhe, das hohe stille Genügen der griechischen Kunst schon dieses
farbigen Reichthums nicht entbehren konnte, so stellt sich die Betrachtungs-
weise für andere Entwickelungsperioden der Kunst, namentlich für die deii
christlichen Mittelalters, noch wesentlich anders. Welch eine Vielgestal-
tigkeit, welch ein rastloses Emporstreben in der Architektur des Mittel-
alters ; welch ein durchgreifender Zug der Sehnsucht (sei es eine Sehnsucht
des Gedankens oder des Gefühles) in ihren bildnerischen und poetischen
Werken! Hier liegt die Ruhe nicht in dem Kunstwerke selbst, sie liegt
darüber hinaus, in einem fernen Jenseits, und das Kunstwerk hat die Be-
stimmung, das Gemüth des Beschauers dahin hinüberzuführen. Darum
genügt die blosse Form noch weniger als in der griechischen Kunst, darum
muss ein anderes Element hinzutreten, welches sie reicher macht und sie
zu dem Ganzen, dem sie angehört, in Uebereinstimmung bringt. Darum
müssen namentlich die Gesichter der Bildwerke jenen farbigen Hauch er-
halten, der von dem Inneren heraus die Seele auf die Oberfläche des Kör-
pers treten lässt, und den ganzen Ausdruck des Auges und des Blickes,
ohne den kein wahrhaft mittelalterliches Gebilde denkbar ist. Freilich
finden wir viele Werke mittelalterlicher Sculptur, die ungefärbt zu sein
scheinen; aber wo Regen und Wetter nicht hingedrungen sind, wo Tünche
oder sonstiger Anstrich sich ohne Beschädigung hinwegthun lässt, da zei-
gen sich Spuren der Färbe genug, die das allgemein durchgehende System
der Bemalung fast überall erkennen lassen Bei alledem aber ist es, so
viel reicher auch die Polychromie des Mittelalters sein mag als die grie-
chische, keineswegs auf rohe Hlusion, auf eine nüchterne Naturnachahmung
abgesehen. Die Gewänder erscheinen in der Regel (ähnlich denen der
griechischen Akrolithen) vergoldet, und nur ihr Unterfutter, wo dies sicht-
bar wird, auf diese oder jene Weise gefärbt. Dies erhebt somit schon an
sich die dargestellten Figuren wesentlich über den Krßis des Gewöhnlichen.
Mehr Naturnachahmung sieht man an den nackten Körpertheilen; hier wer-
den alle Haupttöne der Farbe, alle charakteristischen Uebergäuge der natür-
lichen Erscheinung wiedergegeben; und doch ist auch hier eine Weise der
Behandlung vorherrschend, die — ich habe kein Wort, um das Wie zu
bezeichnen — allen Gedanken an ein erstarrtes Scheinleben verschwinden
macht, die das Kunstwerk eben nur als ein Kuüstwerk, als ein von dem
gewöhnlichen Leben Unterschiedenes erscheinen lässt. Bei der Anordnung
zusammengesetzter Werke, wie die obengenannten Altarschreine, ist natür-

Den Resultaten, welche meine Schrift „über die Polychromie der grie-
chischen Architektiir und Sculptur und ihre Grenzen" nach sicheren Zeugnissen
aufgestellt hat, sind im Laufe der letzten fünf Jahre so mannigfach neue Ent-
deckungen gefolgt, dass man mir nur zu grosse Massigkeit in der Annahme der
farbigen Dekoration für die genannten Kunstfäcüer vorwerfen kann. — Es wäre
wüuschenswei th, auch über die mittelalterliche-Polychromie genauere Forschungen
angestellt zu sehen. Von Seiten des Instituts der britischen Architekten ist-vor
einiger Zeit eine Preisfrage über -diesen Gegenstand aufgestellt worden, doch
weiss ich nicht, ob es zu einer genügenden Lösung gekommen ist.

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794 Pommersche Kunstgeschiclite.

■M'

lieh diese ganze Darstellungsweise nur um so mehr begründet. Hiezu
kommt auch noch der Umstand, dass — wenigstens sehr häufig — die der
Sculptur angehörigen Compositionen schon an sich in einer gewissen ma-
lerischen Weise, in einer zumeist reicheren Ausfüllung des Raumes, gehal-
ten sind, ein Umstand, der wiederum das Hinzutreten der farbigen Unter-
scheidungen rechtfertigt, wie er seine eigene Rechtfertigung in der Ueber-
einstimmung mit dem Ganzen findet. Dass, beiläufig bemerkt, nicht alle
Werke solcher Art auf einen höheren künstlerischen Eindruck hinarbeiten,
dass bei manchen von ihnen die Färbung und Vergoldung zur Spielerei
wird, dass vollendete Meisterwerke nur selten sind, liegt in der Natur der
Sache und ist in andern Kunstgattungen ebenso der Fall — Die in
Rede stehenden Schnitzwerke Pommerns gehören grösseren Theils dem
fünfzehnten Jahrhundert an; nicht viele scheinen im vierzehnten, auch wohl
nur wenige im sechzehnten Jahrhundert gefertigt zu sein. Die kirchliche
Reformation bezeichnet für sie, sofern sie für den Schmuck der Altäre an-
gewandt sind, den Schluss. Die bei weitem interessanteren und vollende-
teren Theile an diesen Altarwerken sind übrigens durchweg die eigentlichen
Schnitzarbeiten; die selbständigen Malereien (auf den Flügeln) stehen zu
den letzteren zumeist in einem sehr untergeordneten Verhältniss, so dass
man hier nicht etwa, wie es in andern Gegenden der Fall gewesen zu sein
scheint, die Bildschnitzer als Gehülfen oder Gesellen der Maler, sondern
umgekehrt, sie als die eigentlichen Werkmeister und die Maler als abhän-
gig von ihnen betrachten muss.

A, G e sch n itz t e s Ki r ch engerät Ii.

Ehe wir uns nunmehr zu den figürlichen Darstellungen und zu deji
grösseren Compositionen dieses Kunstzweiges wenden, sind vorerst diejeni-
gen Arbeiten zu betrachten, die für minder freie Kunstzwecke gefertigt
sind und an denen das Ornamentistische überwiegend ist, — Gestühle,
Gitterwerk u. dgl. Die Gegenstände dieser Art sind mehr oder weniger
reich, in strengeren architektonischen Formen oder in solchen, die dem
freien Spiele der Phantasie angehören, gebildet, zum Theil auch mit ge-
messenen figürlichen Darstellungen • (doch ohne erheblichen Kunstwerth)
geschmückt. Dahin gehört zunächst das Gitterwerk, welches den Chor der
Nikolaikircke zu Stralsund von dem umherlaufenden Umgange trennt.
Dies ist oberwärts mit einem Relieffriese und mit frei emporstehenden Blu-
men eines reichen spätgothischen Styles geschmückt. In dem Friese sieht
man mannigfache kleine Darstellungen, deren ziemlich rohe Arbeit den
Styl des vierzehnten Jahrhunderts trägt: zunächst, auf der Südseite sind
es allerlei Scenen der Liebe und des Streites, mit Teufelsgestalten zu den
Seiten der einzelnen Gruppen; dann folgt die Passionsgeschichte Christi,
auf diese die Geschichte der Maria bis zur Darstellung im Tempel; auf

') Ueber die, im Allgemeinen noch wenig gewürdigte Kunst der deutschen
Bildschnitzerei ist besondors zu vergleichen: Schorn, „Zur Geschichte der Bild-
Bchuitzerei in Deutschland," Kunstblatt, 183(5, No. 1 ff.; Derselbe, Uebor alt-
deutsche Sculptur mit besondrer Rücksicht auf die in Erfurt vorhandenen Bild-
werke,"' (S. 16); — und Wach, „Bemerkungen über Holz-Sculptur mit farbiger
Anmaluug," Kunstblatt^ 1833, No. 2, f.

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U

Bildende Kanst. Mittelalter. 7. Schnitzwerke. 795

der Nordseite ist mehr Ornamentistisches angebracht, Wappen, und eine
Reihe von Brustbildern, in dönen etwa Propheten dargestellt sein dürften.
— Ausserdem finden sich in der Nikolaikirche, als dem Kreise der in Rede
stehenden Gegenstände angehörig, einige Brüstungen alter Chorstühle, die
zu neuerem Gestühl verwandt und mit reichem gothisch architektonischem
Schnitzwerk, sowie mit figürlichen Darstellungen, Reliefbildern heiliger
Personen, versehen sind. ' |

Sehr merkwürdig sind sodann einige Holzarbeiten in der Jakobi-
kirche zu Stralsund, namentlich in und an derjenigen Kapelle au/ der
Nordseite, die jetzt als Sakristei dient. Ein eigenes Gitterwerk trennt diese
Kapelle von dem freien Räume der Kirche. Der Fries über demselben hat
auch hier kleine figürliche Reliefs, in denen, sonderbarer Weise, zwei
Kampfscenen, ein Schwertkampf und ein Lanzenkampf, vorgestellt sind.
Die Wände im Inneren der Sakristei sind mit Täfelungen von unbemaltem
Eichenholz bedeckt, die durchbrochen gearbeitet sind und hinter denen ver-
schieden gefärbte Bretter stehen. Diese durchbrochenen Arbelten sind mit mei-
sterhafter Feinheit und mit grösstera Geschmacke ausgeführt; sie enthalten
den grössten Reichthum von Verzierungsmustern des gothisch architektoni-
schen Ornamentes. Ich wüsste keinen Ort zu nennen, wo man dasselbe
in gleich erschöpfender Mannichfaltigkeit und in gleich gediegener Arbeit
finden könnte; ich möchte diese Täfelungen ein wahres Musterbuch für
gothische Ornamentik (soweit sich dieselbe auf die strengere architektonische
Form bezieht) nennen.' Ohne^ Zweifel gehören sie dem fünfzehnten Jahr-
hundert an. — Eine zweite Kapelle in derselben Kirche, zur Seite der
Sakristei, ist auf ähnliche Weise, wie jene, vom Räume der Kirche abge-
sondert, Gothische Säulen, die einen ausgeschnitzten Fries tragen, werden
hier durch Füllungen durchbrochenen Ornamentes verbunden.

Dann finden sich hier und dort mehr oder weniger reich gebildete .
Chorstähle. Einige von einfacherer Art sah ich in der Kirche von Grimme,
andere im Chor des Domes von Gamm in. — Auch die im Chore der
Marienkirche zu Colberg sind ziemlich einfach gehalten; ihre Seiten-
lehnen aber sind als Di-achenfiguren ausgeschnitzt, deren Schwänze in
Blumenranken ausgehen; einige dieser Drachen tragen Menschenköpfe.
Aehnliche sah ich in einem Seitenschift' derselben Kirche. An dem Raths-
gestühl finden sich hier ebenfalls noch alte Lehnen vor, die zum Theil mit
figürlichen Schnitzwerken in der strengen Weise des vierzehnten Jahrhun-
derts versehen sind, — Die Chorstühle in der Marienkirche zu Cös-
lin haben ausgeschnitzte Seitenlehnen, die zum Theil denen im Chore
der ebengenannten Kirche ähnlich sind. Merkwürdig schienen mir. die
(leider sehr beschädigten) Papiertapeten, welche auf die Rückwände dieser
Chorstühle aufgeklebt sind; sie gehören- etwa der Mitte des sechzehnten
Jahrhunderts an, sind mit Holzschnitten gedi-uckt und stellen eine Art sich
durchschneidenden Stabwerkes, als dessen Füllungen Rosetten, Blumen und
Löwenköpfe erscheinen, vor. —^Andere Chorstühle, in deren Schnitzwer-
ken einzelne Scenen der Passion, derb, aber nicht ohne Gefühl gearbeitet^
enthalten sind, finden sich in der Marienkirche zu Anclam. Auch
diese haben noch alterthümlichen Charakter. Ungleich roher sind die in
der Nikolaikirche derselben Stadt, die, zufolge der, an einer der Sei-
tenlehnen, vorhandenen Inschrift, aus der späten Zeit des Jahres 1498 her-
rühren.' Auch sie übrigens haben figürliche Darstellungen; wunderlich
macht sich unter diesen, an der durchbrochenen Rücklehne des einen Stuh-

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796 Pommersche Kunstgeschiclite.

les, ein Wasserweib, dessen Körper in einem Fischschwanze endigt und das
von einem wilden Manne umfasst wird.

B. Geschnitzte Altäre und ähnliche Gegenstände.

Wir betrachten nunmehr diejenigen Werke der freien bildenden Kunst,
welche der in Rede stehenden Gattung angehören und die, ausser den Dar-
stellungen einiger einzelnen Figuren, wie Cruciflxen und ähnlichen Gestal-
ten, vorzugsweise aus Altären der oben beschriebenen Art bestehen. Ihrem
künstlerischen Style nach scheiden sie sich in zwei Hauptclassen. Die
eine Classe wird aus denjenigen Werken gebildet, welche jenen mehr ide-
alen, sogenannt germanischen Styl tragen, der sich durch die langen, weich-
geschwungenen und weichgebrochenen Linien der Gewandung und durch
eine grössere Zartheit im Ausdrucke des Gefühles auszeichnet. Dies ist
der Styl des vierzehnten Jahrhunderts, der aber, wie es scheint, bis in die
spätere Zeit des folgenden beibehalten wurde, so dass es zumeist sehr
schwer ist, eine nähere Zeitbestimmung der einzelnen Werke zu geben.')
Die zweite Classe begreift die Werke eines späteren Styles in sich, der
etwa um die Mitte des fünfzehnten Jahrhunderts beginnt und bis in das
sechzehnte Jahrhundert, bis zum Erlöschen der heimischen Kunstweise
und zum Auftreten der italienischen, anhält. In diesen Werken spricht
sich eine weniger ideale Richtung aus, aber es tritt statt dessen mehr In-
dividualität, eine schärfere Beweglichkeit, der Ausdruck mehr leidenschaft-
licher Momente hervor. Die Formen sind hier zumeist derber, die Ge-
wandung ist in einer, ich möchte sagen: hastigeren Weise, schärfer ge-
brochen, zuweilen selbst geknittert, obgleich es im Einzelnen auch hier
nicht an grossartiger Anlage fehlt. In der zweiten Classe lassen sich
wiederum besondere Styl-Unterschiede bemerklich machen. Da aber diese
feineren Unterscheidungen ihre grossen Schwierigkeiten liaben, so möge es
im Folgenden genügen, den reichen Vorrath nur nach den hervorstechend-
sten Eigenthümlichkeiten des Einzelnen in einige Haupt-Gruppen zu son-
dern und dabei vorzugsweise die allgemeineren Verhältnisse des Entwicke-
lungsganges zu beobachten. Zugleich will ich mich , um eine möglichst
bequeme Uebersicht zu geben, bemühen, das an den einzelnen Lokalen
Vorhandene, soviel es irgend angeht, nebeneinander zu stellen.

Unter den Werken der ersten Classe, die, wie angedeutet, im Allge-
meinen als die älteren zu betrachten sind, nenne ich zunächst das Relief
eines Altarschreines von verhältnissmässig kleiner Dimension, das zwar
nicht, wie alle übrigen, aus Holz, sondern aus Stucco gearbeitet ist, das
sich aber im Wesentlichen den Bedingnissen des in Rede stehenden Kunst-
zweiges anreiht und das, als das Alterthümlichste in Bezug auf den Styl,
einen zweckmässigen Ausgangspunkt darzubieten scheint. Es befindet sich
in der Marienkirche zu Anclam, in einer kleinen Seitenkapelle auf
der Mitte der Südseite der Kirche, und stellt, in ziemlich figurenreicher
Composition, die Kreuzigung Christi dar. Der Styl beobachtet in ziem-

Es ist dies um so schwerer, als für kein einziges der in Rede stehenden
Werke ein sichres Datum vorhanden ist, so dass lediglich die Eigenthümlich-
ketten des Styles iiher die Zeitfolge entscheiden iriüsseu.

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Bildende Kunst. Mittelalter. 7, .Schnitzwerke. 797

lieber Strenge die Formen des vierzelmten Jahrhunderts, in einer etwas
edleren Durchbildung, als er uns an den Apostelflguren jenes Bronzeleuch-
ters zu Colberg vom J. 1327 erschienen war; an den Gewändern zeigt sich
eine ansprechend reiche Linienführung und auch in andrer Beziehung ist
das Kostüm reich gebildet. Die Körperverhältnisse der Figuren sind im
Ganzen etwas derb, dabei fehlt es aber keinesweges an Gefühl; einige Köpfe,
besonders weibliche, sind von grosser Anmuth ; einige männliche sind in
glücklicher Charakteristik durchgeführt. Einen auffallenden Unterschied
dieser Arbeit von den folgenden, der wohl ebenfalls als eine Eigenthüm-
lichkeit früherer Zeit zu. betrachten sein dürfte, bildet der" Umstand, dass
nicht bloss die nackten Körpertheile, sondern auch die Gewänder mit bun-
ter Farbe, ohne vorherrschende Vergoldung, bemalt sind; doch ist die Be-
malung , «besonders in den Köpfen, zart gehalten. Auf den Flügeln des
kleinen Schreines sieht man werthlose Gemälde späterer Zeit.

Als den ersten der eigentlichen Schnitzaltäre nenne ich das grosse
Altarwerk in der Kirche von Tribsees, das gegenwärtig an der Wand des
nördlichen Seitenschiffes befestigt ist. Ich vermuthe, dass auch dies Werk
noch dem Ende des vierzehnten Jahrhunderts, wenn nicht etwa dem An-
fange des folgenden, angehört. Ich zähle es somit zu den altertliümlichsten
der in Rede stehenden Gattung; gleichwohl halte ich es für das anziehendste
und merkwürdigste des ganzen Kreises, —ja, für das schönste und anmuth-
vollste" der sämmtlichen Kunstwerke, die sich in Pommern vorfinden, und
für eine der Hauptzierden der gesammten deutschen Kunst. Doch hat die
Darstellung des Altares, die sich im Kreise der mittelalterlichen Symbolik
bewegt, für uns zunächst etwas Befremdlichem, und es ist nöthig, sich vor-
erst über ihre Bedeutung und über den Grundgedanken, der in ihr waltet,
zu verständigen. Der Grundgedanke ist derselbe, der so häufig durch die
reicher zusammengesetzten Altarwerke des christlichen Mittelalters hingeht:
der der Erlösung des Menschen durch den Opfertod Christi; aber er be-
zieht sich hier nicht allein auf das historische Factum der Kreuzigung,
sondern auf die stete Erneuung der Erlösung durch die Einsetzung des
heiligen Abendmahls, auf die stete körperliche Gegenwart des Erlösers im
Abendmahle. Der Zweck des A'itares'ist, die Bedeutung des Abendmahles
— nach den Lehren der Kirche — in einer umfassenden Bilderschrift aus-
zudrücken '). So enthält der Mittelschrein eine Reihe figürlicher Darstel-
lungen, als deren Schlussmomente die Hosüe und das Abendmahl selbst
erscheinen, während auf den Seitenschreinen das historische Factum, auf
welches beide zurückdeuten, die Leidensgeschichte Christi, dargestellt ist.

Der Mittelschrein zerfällt in neun einzelne Scenen, von denen je drei
und drei sowohl in horizontaler, wie in vertikaler Richtung in näherem
Zusammenhange stehen. In der Mitte sieht man oberwärts den Schöpfer
der Welt, Gott-Vater mit Engeln, Sonne und Mond zu seinen Seiten.
Darunter stehen vier Gestalten, dieselben, die nach der Vision des Pro-
pheten den Donnerthron Jehovah's trugen und die eine alte Tradition zu-
gleich zu den Dienern des menschgewordenen Wortes, zu den Genien der
Evangelisten, gemacht hat: vier geflügelte, engelartige Wesen, von denen
der eine ein menschliches Haupt trägt, der zweite das eines Adlers, der

dritte (äas eines Stieres, der vierte das eines Löwen, Sie stehen hier als

' i

t

Auf ähnliche, mehrfach vorkommende Darstellungen der Transsubstantia-
tionslehre hat C. Griineisen, im „Nikiaus Manuel", S. 74, hingedeutet..

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798 Pommersche Kunstgeschiclite.

die Hüter und Pfleger der evangelischen Lehre, welche die Verheissung
einer fortdauernden Erlösung enthält: das Evangelium ruht in ihren Hän-
den, und das Wort Gottes, welches den unsichtbaren Inhalt des Evangeliums
ausmacht, erhält in der Hostie wiederum ein körperliches, für den mensch-
lichen Sinn fassbares Dasein. Dieser mystische Gedanke wird aber auf
eine sehr naive, kindlich spielende Weise verbildlicht, die indess ganz mit
der Weise, wie überhaupt das Mittelalter die Wunder der religiösen Lehre
durch handgreifliche Gleichnisse klar zu machen sucht, übereinstimmt. Jene
Engel-Gestalten tragen nämlich Säcke in den^Händen, aus denen sie die
Evangelien (durch Spruchbänder bezeichnet) in einen Mühlentrichter schüt-
ten; aus diesem läuft der Inhalt (wiederum als Spruchband) in ein zweites
Gefäss, das ich für einen Backtrog halte (denn es handelt sich um die Zu-
bereitung des Brodes für die Hostie), und aus letzterem geht der Inhalt in
der Gestalt des Christkindes hervor, das über einem Kelche schwebt, in
derselben Anordnung, wie gewöhnlich Kelch und Hostie zur Bezeichnung
der Abendmahlsfeier dargestellt werden. Zu den Seiten des Kelches, als
die unterste Darstellung des mittleren Theiles , stehen anbetend die vier
Kirchenlehrer, Augustinus, Gregorius, Hieronymus und Ambrosius. Letztere
dürften als die Repräsentanten der Kirche zu fassen sein, welche das himm-
lische Gnadengeschenk verehrungsvoll aufnimmt und den Träger der Gnade
bildet. Die weitere Entwickelung des Gedankens ist auf den Seitendar-
stellungen enthalten. Zu den Seiten Gott-Vaters sieht man links Adam
und Eva im Fegefeuer, rechts die Verkündigung Mariä, die Verdammniss
lind die Verheissung der Erlösung ausdrückend., so dass die ganze obere
Reihe gewissermaassen die Hauptmomente des alten Bundes enthält. Zu
den Seiten der Genien der Evangelisten stehen die Apostel, sechs zur Lin-
ken und sechs zur Rechten, als die Verbreiter der Lehre des neuen Bun-
des ; dies letztere Verhältniss ist, wiederum in spielend symbolischer Weise,
so ausgedrückt, dass je drei von ihnen eine Schleuse aufheben , . aus der
jedesmal drei Wasserquellen hervorströmen. Zu den Seiten der Kirchen-
lehrer, die den Kelch und den neugebornen Christus empfangen , finden
sich wirkliche Darstellungen des Abendmahles, den fortdauernden Bezug
des neuen Bundes auf das Leben der Gegenwart auszudrücken, Zur Lin-
ken sieht man das Abendmahl der Geistlichen: ein junger Geistlicher, dem
der Kelch gereicht wird, und mehrere andre hinter ihm. Zur Rechten das
Abendmahl der Laien: ein knieender König, dem ein Geistlicher das hei-
lige Brod reicht; hinter dem Könige Personen seines Hofstaates, von denen
Einer die Krone, die der irdische Herrscher in der Gegenwart des himm-
lischen von sich gethan, in seinen Händen hält. Das folgende Schema möge
dazu dienen, den Gesammt-Inhalt des ganzen Werkes in seinen gegenseitigen
Bezügen noch einmal übersichtlich vorzuführen:

Gott-Vater.

Genien der Evangelisten.
Kelch.

Kirchenlehrer.

Verkündigung.
Apostel.

Fegefeuer,
Apostel.

Abendmahl der
Laien. '

Abendmahl der
Geistlichen,

Wenn in solcher Art sich ein Ganzes von eigenthümlich geistreicher
Durchbildung des Gedankens gestaltet, wenn dasselbe ein sehr charakterist-

SÄ'

'S,

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Bildende Kunst. Mittelalter. 7. Schuitzwerke, 799

isches Zeugniss für die Anschauungsweise des Mittelalters giebt, so ist da-
mit freilich noch Nichts über den künstlerischen "Werth des Werkes ausge-
sprochen. Alle diese Dinge könnten in rohen Formen und mangelhaften
Linien dargestellt sein, tind die^llgemeine Entwickelung des Gedankens
würde doch dieselbe bleiben. Von höherem und wahrhaftem Kunstwerthe
kann nur dann die Rede sein, wenn der Gedanke auch jede einzelne Ge-
stalt durchdringt, wenn sie, persönlich belebt, in den Formen ihrer ganzen
körperlichen Erscheinung der Bedeutung entspricht, die in ihr enthalten sein
soll, wenn in'ihr die abstracte Idee ein gefühlvolles und auf das Gefühl
wirkendes Dasein erhält. Dies nun ist eben hier im höchsten Maasse der
Fall, und darum hat das Altarwerk seinen hohen, unvergleichlichen Werth,
nicht jener abstracten Ideen wegen, vielmehr trotz dieser Ideen. Denn
nicht eben alle darin enthaltenen Motive sind für eine künstlerische Be-
handlung sonderlich günstig; die Engelgcstalten mit den Thierköpfen, die
ganze Procedur mit den Säcken, Mühltrichter und Backtrog wirkt auf das
Auge des Unbefangenen eher anstössig, und es ist, um diesen Anstoss zu
beseitigen, vorerst nöthig, sich ganz in den kindlich naiven Sinn des Mittel-
alters hinein zu versetzen. Hat man sich aber einmal in diese Symbolik'
gefunden, ^o wirkt auch die Schönheit der Form, die in allen Theilen
dieses Werkes durchgeht, ■ um so mächtiger auf den Sinn des Beschauers-,
durchweg ist das feinste Gefühl in der Bewegung, der lauterste und zu-
gleich würdigste Fluss in den Linien der Gewandung, die zarteste Bildung
in den nackten Körpertheilen, der edelste Ausdruck in den Gesichtern. Es
ist noch ganz der Styl des vierzehnten Jahrhunderts, auch mit seinen con-
ventioneilen Elementen, zugleich aber ein innerliches Lebensgefühl darin,
das sich bereits zu einer gediegenen Charakteristik erhebt; die feierliche
Würde der Apostelgestalten bildet einen treflenden Gegensatz zu den, dem
Leben des Tages entnommenen Abendmahlsscenen; und ebenso ist in die-
sen die bewusste Haltung der Geistlichen auf's Glücklichste der frischen
Naivetät der Laien entgegeiigesetzt;-und wiederum anders und vielleicht als
der schönste Theil des Werkes erscheint die stille, demuthvolle Hoheit der
vier Kirchenlehrer. Die Zartheit der Arbeit erstreckt sich bis auf das
kleinste Detail; so ist selbst der Kopf des kleinen Christkindes (der über-
dies sehr gelitten hat) von einer wahrhaft bewunderungswürdigen Schönheit.
Eipen wesentlichen Theil an all diesen verschiedenartigen Vorzügen hat
übrigens die Bemalung, besonders die der nackten Körpertheile, die, je
nach dem besonderen Charakter der einzelnen Figuren, verschiedenartig
abgestuft und für die Harmonie des Ganzen ^ehr wirksam ist; dem Auge
ist dabei ein Leben, eine Innigkeit, eine Milde des Blickes gegeben, die
auf keine Weise durch irgend ein, der blossen Plastik zu Gebote stehen-
des Mittel ersetzt oder ergänzt ,werdjen könnte. Die Vergoldung der Ge-
wänder erscheint hier bereits ausgebildet; doch kommt neben dem Golde
auch silberner Stoff vor, und mannigfach ist der Glanz der Gewänder
durch verschiedenartig schöne^ darauf gemalte Teppichmuster gebrochen,
was für den harmonischen Einklang des Ganzen wiederum nicht unwesent-
lich mitwirkt.

'Vergebens aber ist es, durch Worte die Schönheit des Werkes schildern
zu wollen. Besser vielleicht gebe ich einen Begriff davon, wenn ich an die
vorzüglichsten Meisterwerke eines Fiesole und Gentile da Fabriano erin-.
nere , mit denen es in mehr als einer Beziehung übereinstimmt. Doch i«t.
kein Grund vorhanden , desshalb etwa eine italienische Meisterhand in

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Poramersche Kunstgeschichte.

diesem Werke zu vermuthen ; ist ja doch die ganze Kunst der bemalten Holz-
schnitzwerke eben eine rein deutsche! Vielmehr scheint mir die Arbeit
nicht minder, und vielleicht noch mehr als jenen Italienern, den Werken
eines deutschen Malers nahe zu stehen, 4esjenigen nämlich, der den hoch-
gerühmten (gegenwärtig zerstreuten) Hauptaltar der Klosterkirche Liesborn,
bei Münster in Westphäleri, malte. Was in der Beschreibung der erhalte-
nen Stücke dieses Altares, die ich leider nicht aus eigner Anschauung kenne,
gesagt wird, stimmt im Wesentlichen mit den Schnitzwerken des Altares
von Tribsees überein '). Der Liesborner Altar gehört aber bereits, einer
alten Nachricht zufolge, der Mitte des fünfzehnten Jahrhunderts an. Doch
ist die Geschichte der niederdeutschen Kunst, — die bedeutend reicher
gewesen sein dürfte, als die hergebrachten Annahmen vermuthen lassen, —
noch keinesweges klar genugum aus einer einzelnen Angabe solcher Art
auf entscheidende Weise weiter schliessen zu können. Für den in Rede
stehenden Altar habe ich verschiedene Gründe, ein frtiheres Alter in An-
spruch zu nehmen. Dafür scheint mir der ganze Styl, der trotz dei^ zarten
Vollendung darin herrscht, zu sprechen; ebenso auch der, zwar äusserliche
Umstand, dass die Darstellungen durchweg noch in einfachem, wirklichem
Relief gehalten sind, Am entscheidendsten aber ist die Beschaft'enheit der
Darstellungen in den Seitenschreinen, die, wie bemerkt, die Passionsge-
schichte Christi (und zwar in je vier Abtheilungen übereinander) enthalten.
Diese sind von geringerem Werthe als die Darstellungen des Mittelschrei-
nes und offenbar, wie dies auch anderweitig so häufig gefunden wird, nur
von einem Gesellen des Meisters gearbeitet. Alle Elemente einer zarteren
innigeren Belebung, die dort hervortreten, fehlen hier, und statt dessen
herrscht, in handwerksmässiger Weise, der Styl des vierzehnten Jahrhun-
derts noch in seiner ganzen conventionellen Beschaffenheit vor. Für die
etwanige Annahme, dass die Flügel älter seien, wie der Hauptschrein, ist
aber auch kein Grund vorhanden; im Gegentheil sind ihre einzelnen Ab-
theilungen , denen des Mittelschreines entsprechend, mit gothischen Bal-
dachinen bekrönt, und über dem oberen Rande des Gesammtwerkes laufen
zwölf ganz gleichgearbeitete Baldachine mit Brustbildern, wahrscheinlich
die Propheten darstellend, hin. (Die Bilder auf den Rückseiten der Seiten-
schreine konnte ich nicht sehen, da diese mit Klammern an der Wand be-
festigt waren.)

^yohl wäre diesem wundersamen Werke, das für den heutigen kirch
liehen Bedarf nicht mehr passend und für das Volk unverständlich ist,
das sich in einem abgelegenen Städtchen und dort in einem wenig gün-
stigen Winkel der Kirche befindet, eine Aufstellung zu wünschen, die
seiner Bedeutung angemessen und in der es den Freunden der Kunst und
der vaterländischen Vorzeit leichter zugänglich wäre. Im Wesentlichen,
und einzelne Beschädigungen abgerechnet, ist es wohl erhalten; vornehm-
lich ist zu bedauern, dass hier und da der feine Kreidegrund, der der
Farbe zur Unterlage dient, abgesprungen ist. Möge ein gütiges Geschick
über diesem Meisterwerke wachen und es vor dem schlimmsten Verderben
— dem einer Restauration — gnädig bewahren ! —

Vgl. Passavant, Kunstreise durch England und Belgien, S. 400. — Ich sah
vor etlichen Jahren in Berlin einen grossen geschnitzten Altar öffentlich ausge-
stellt, den man (es war ebenfalls ein mittelalterliches Werk) sorgfältig wiederher-
gestellt und an dem maii alle Figuren mit schöner blanker Oelfarbe neu bemalt hatte!

800

;C»S

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Bildende Kunst. Mittelalter. 7. Schuitzwerke, 817

Ueber das Alter und den Meister des Altares .von Tribsees liegt keine
Bestimmung vor; ebenso wenig über die Schule oder über die Gegend,
aus welcher derselbe herstammen dtirfte. Es kann somit in Frage gestellt
werden, ob das AVerk in Pommern oder ausserhalb des Landes gefertigt
sei, und da Tribsees auf der Grenze liegt, so hat die letztere Annahme an
sich wenigstens nichts Unwahrscheinliches. Gleichwohl finden sich, und
zwar in verschiedenen Gegenden Pommerns, noch manche andre Werke,
die theils in den allgemeineren Styl-Verhältnissen, theils in deren zarter
und geläuterter Ausbildung jenem vorzüglichsten Meisterstücke so nahe
stehen, dass wir in ihnen eine gleichzeitige Schule über das ganze Land
verbreitet sehen, welche sehr wohl befähigt sein konnte, auch das Vollen-
detste hervorzubringen.

Unter diesen gleichzeitigen "Werken nenne ich zunächst einige, die
sich in der Marienkirche zu Treptow a. d. R. befinden. Hier ist der
alte Hochaltar (hinter dem neu||en Hauptaltare von brillanter Rococo-
Architektur) mit einem grossen Altarschrcine , der . eine Menge Relieffiguren
von kleiner Dimension enthält, versehen. In der Mitte des Mittelschreines
sieht man unterwärts die Geburt Christi, oberwärts die Verklärung der
Maria dargestellt, zu den Seiten mehrere Reihen einzelner Figuren, ver-
muthlich Propheten. Auf jedem Seitenflügel sind zwölf Figuren von Hei-
ligen enthalten. In all diesen Figuren spricht sich wiederum ziemlich
entschieden der Styl des vierzehnten Jahrhunderts, mit dem manierirt .Con-
ventionellen, aber auch mit dem Trefflichen, was ihm zu eigen sein pflegt,
aus. Einige Figuren sind in Haltung und Gewandung ausgezeichnet, zum
Theil auch von grosser Anmuth, Die Baldachine, die über den einzelnen
Gruppen und Figurenreihen angeordnet sind, zeigen eine geschmackvolle
und reine Ausbildung der gothischen Architektur. Von den Gemälden auf
den Rückseiten der Flügel ist fast nichts mehr erhalten.

Hinter,diesem Altare finden sich mehrere grössere Holzfiguren, die an
Dimension, Styl und künstlerischem Werthe verschieden sind. Einige sind
schlecht und roh, andre tüchtig. Höchst ausgezeichnet aber ist unter die-
sen die Stalue einer weiblichen Figur, die, etwa S'/a Fuss hoch, in ma-
tronenartiger Kleidung erscheint und, wie in einer Trauergeberde, den
Schleier ihres Hauptes fasst. Auch sie ist ganz in dem Style des vier-
zehnten Jahrhunderts gehalten, ohne dass jedoch dessen Strenge auf unf
vortheilhafte Weise hervorträte; nur das etwas schmale Körper-Verhältniss
deutet auf die minder günstigen Elemente dieses Styles. Die Linien der
Gewandung haben einen mit feinem Gefühle bewegten Fluss, Gesicht und
Hände sind überaus zart gebildet. Diese Figur, die leider mit weisser
Tünche überstrichen ist, dürfte dem Altar von Tribsees als ein zunächst
verwandtes Werk anzureihen sein. -— In ähnlicher Art, doch nicht von
gleichem Werth, ist die Figur eines Engels, der auf einem Drachen steht,
in der Geberde, als ob er diesen niederstossen wolle. Gegenwärtig fehlen
ihm die Hände. — Sonst ist an dieser Stelle auch noch die Gruppe einer
Mater dolorosa mit dem Christusleichnam zu bemerken.

Eine spätere Arbeit findet sich im nördlichen Seitenschiff derselben
Kirche, am Eckpfeiler des Chores. Es^ist ein kleiner Altarschrein, der die
geschnitzten Figuren einer Madonna und mehrerer Heiligen enthält. Der
Styl ist etwas schwerfällig, die Falten der Gewandung wulstig gezogen
und gebrochen. Aussen sieht man rohe Malerei, welche oberwärts die

Kugter, Kleine Schririen. I. 5X

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802 Pommersche Kunstgeschiclite.

Gestalten von vier Heiligen, unterwärts Scenen aus der Legende des heil.
Eligius, des Schutzpatrones der Schmiede, enthält. (Der Altar ist von
denn Schmiedegewerk gestiftet, das ihn auch noch unter Verscliluss hält.)
Sculptur und Malerei deuten hier auf die Mitte des fünfzehnten Jahrhun-
derts, auf den Uebergang in den Styl der späteren Zeit.

Der grosse Hochaltar in der Petrikirche zu Treptow a. d. T. hat
wiederum den Styl des vierzehnten Jahrhunderts, doch erscheint hier die
Arbeit ziemlich roh, und es treten an ihr nur die in allgemeiner Beziehung
bedeutsameren Motive dieses Styles hervor. Der Mittelschrein ist beträcht-
lich breit. In seiner Mitte sieht man oberwärts Christus und Maria in der
Herrlichkeit, beide mit colossalen Kronen geschmückt; unterwärts Christus
als Weltenrichter, Maria und Johannes zu seinen Seiten, Daneben sind
auf jeder Seite acht Heiligenfiguren, in besonderen Tabernakeln stehend,
angebracht. Ein jeder der Seitenschreine enthält zwölf ähnliche Heiligen-
figuren. Auf deu Rückflächen der S^enschreine und auf den Flächen
eines zweiten Flügelpaares sieht man s^r rohe Gemälde, Scenen des alten
und des neuen Testamentes darstellend, deren Styl etwa auf die Mitte des
fünfzehnten Jahrhunderts deutet. (Auf der Darstellung der Kreuzigung
findet sich hier ein biblischer Spruch und die Jahrzahl 1567; beides aber
erkennt man auf den ersten Blick als durch spätere Uebermalung zu-
gefügt.)

In der Schlosskirche zu Franzburg, und zwar in dem Winkel einer
der Emporen, ist eine treffliche Madonnenfigur aufbehalten, deren sehr
ausgezeichnete Arbeit wiederum ein gewisses, näheres Verhältniss zu dem
Altar von Tribsees zu verrathen scheint.

Drei, gleichfalls vortreffliche Holzstatuen finden sich an der Marien-
kirche zu Stralsund, an der kleinen Kapelle, welche auf deren Nord-
seite vortritt, in gesonderten Nischen über und zu den Sfeiten des Fortales.
Sie stellen eine Madonna mit dem Kinde und die beiden Heiligen Petrus
und Paulus vor. Auch sie tragen das Gepräge des germanischen Styles;
die Gewandung ist im schönsten, weichsten Flusse der Linien geführt,
doch in einer gewissen freieren Weise, welche mich hier auf eine spätere
Zeit des fünfzehnten Jahrhunderts schliessen lässt. Zugleich haben die
Figuren ein etwas kurzes Körper-Verhältniss. Gegenwärtig sind sie mit
grauer Farbe überstrichen.

Den grössten Reichthum mittelalterlicher Schnitzwerke findet man in
der Nikolaikirche zu Stralsund. Unter diesen nenne ich zuerst die
Colossalstatue eines Crucifixes, in der jetzigen Taufkapelle befindlich, die
mit einer gewissen Grossartigkeit, aber nicht mit feinerem Gefühle ausge-
führt ist. — Bedeutender ist die Colossalstatue eines Ecciehomo, die im
Chor-Umgange, an einem der Pfeiler des Chores, steht; sie hejbt die
rechte Hand empor. Eine grossartige Anlage vereinigt sich hier mit dem
Ausdrucke eines edeln, stillen, zurückgehaltenen Gefühles. Der Styl der
Arbeit ist noch der des vierzehnten Jahrhunderts.

BedeutenU sind ferner die Gestalten dreier sitzenden Heiligen in Ta-
bernakeln, die den Aufsatz des grossen Schreines über dem Hochaltar bil-
den. Der in der Mitte scheint den Schutzpatron der Kirche, den heil.

E'"

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Bildende Kunst. Mittelalter. 7. Schuitzwerke, 803

Nikolaus, vorzustellen. Ihre Gewandung ist in trefflicher Weise, dem
Style des vierzehnten Jahrhunderts gemäss, ausgeführt, und ich glaube
auch, dass sie dieser Zeit noch angehören. Die Tabernakel sind mit durch-
brochenen Thürmen, in reicher, aber sehr edler und klarer Ausbildung des
güthischen Architekturstyles, gekrönt. Der mittlere von diesen Thürmen
hat eine bedeutende Höhe; an ihm i&t ein altes Cruciflx eingefügt, das
aber zu der Architektur des Thurmes nicht passt und eine spätere Hinzu-
fügung zu sein scheint, obgleich es an sich den Anschein eines grösseren
Alters hat. Das eigentliche Altarwerk, über dem diese Figuren und Ta-
bernakel angebracht sind, gehört einer etwas späteren Zeit an; ich komme
weiter unten auf dasselbe zurück.

Gleichfalls, wie es scheint, noch dem vierzehnten Jahrhundert (oder
etwa den ersten Jahren des folgenden) angehörig, ist ein Altarschrein, der
im Umgange des Chores'steht. Er enthält eine Madonna mit dein Kinde,
zu deren Seiten vier Engel befindlich waren; von den letzteren fehlen
gegenwärtig zwei, ebenso die Figuren der Seitenschreine. Die ganze Ge-
stalt der Madonna ist sehr edel gebildet; ihr Gewand hat eine weisse
Färbung, mit goldnen Säumen. Ueber den Figuren sind sehr schöne go-
thische Baldachine angebracht.

An einem Pfeiler des Chores, auf der Nordseite, findet sich ein Altar,
der aus'einem einfachen, aber vortrefflich gearbeiteten Tabernakel besteht.
Darin ist die einzelne Statue eines männlichen Heiligen, der einfach, im
germanischen Style, aber nicht ohne lebendigen Sinn, gearbeitet ist. Ge-
malte Doppelflügel dienen, das Tabernakel zu umschliessen. (Ein Stück
von ihnen fehlt.) Innen ist auf diesen die Geschichte desselben Heiligen,
in ziemlich handwerksmässiger Weise dargestellt; aussen die Gestalten an-
derer Heiligen, in denen wenigstens der Ausdruck eines anziehend milden
Gefühles anklingt.

Zur Seite des Hochaltares, ebenfalls auf der Nordseite, findet sich ein
kleiner Altarschrein, der in der Mitte zwei gesonderte Darstellungen ent-
hält. Oberwärts Gottvater mit dem Christusleichnaift auf dem Schoosse,
unterwärts Maria mit dem Kinde. Auf den Seitenschreinen waren zwölf
einzelne Figuren, von denen aber nur noch eine vorhanden ist. Die Arbeit
ist alterthümlich und etwas roh, die Madonna jedoch nicht ohne Anmuth.
Ein Untersatzbild ist mit, ebenfalls zieüilich roher Malerei versehen.

Ein Altarschrein, der sich am nördlichen Thurmpfeiler der Kirche be-
findet, enthält in der Mitte ein Crucifix und Heilige neben demselben, auf
jedem der Seiteiischreine die Gestalten von vier sitzenden Heiligen. Auch
diese Arbeiten sind noch im germanischen Style behandelt und nicht ohne
Würde. Auf den Rückfiächen der Seitenschreine sieht man Gemälde "aus
der Geschichte Christi, die wiederum den Uebergang aus dem germanischen
Style in den späteren, somit etwa die Zeit um die Mitte des fünfzehnten
Jahrhunderts andeuten. Dies sind die ersten Malereien, die einen gewissen
künstlerischen Werth haben; ich möchte sie etwa dem älteren Holbein ver-
gleichen, nur erscheinen sie noch alterthümlicher, auch ist das Nackte hier
ebenfalls noch ziemlich roh behandelt. VortrelVlich sind namentlich die
Gewandungen angelegt. In der Darstellung der Bergpredigt sind die Grup-
pen der Zuhörenden wohl geordnet. In einer Darstellung, wo Christus
dem Volke, das ihn steinigen will, entschwindet, ist seine Gestalt ganz
golden gehalten, mit schraffirten Schatten; doch ist gerade diese Figur in
eigenthümlicher Grossartigkeit gezeichnet. Ein zweites Paar Flügel ist mit

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804 Pommersche Kuustgeschichte.

einzelnen Heiligenfiguren ähnlichen Styles bemalt. Die Malerei des Unter-
satzbildes ist in späterer Zeit erneut.

Dann findet sich im Chor-Umgange noch Einiges, was dem in Rede
stehenden germanischen Style zuzuzählen ist. So die Figur einer Madonna
mit dem Kinde (der Mitte eines Altarschreins angehörig) von guter Arbeit.
So ein Altarschrein mit rohem Schnitzwerk, Scenen aus dem Leben der
Maria vorstellend, denen es gleichwohl nicht an gemüthlichem Ausdrucke
fehlt. (Davon ist aber schon mancherlei verloren.) Auf den Aussenseiten
der DoppelMgel dieses Altarschreines sind Malereien, ebenfalls von roher
Arbeit, aber auch sie nicht ohne gemüthlichen, selbst nicht ohne charakte-
ristischen Ausdruck.

Endlich sah ich, während der Reparatur der Kirche in einer verschlos-
senen Kapelle zurückgestellt, die Statue eines kreuztragenden Christus, die,
wenn das Körperverhältniss auch nicht ganz richtig war, sich doch durch
schönen, klaren Fluss in den Linien der Gewandung auszeichnete. Der
Charakter der Arbeit schien mir den Uebergang aus dem germanischen in
den späteren Styl zu bezeichnen. Zu der Figur gehört ein Tabernakel mit
hohem durchbrochenem Thurme, in sehr eleganter und geschmackvoller
Weise ausgeführt. In neuerer Zeit hat Beides, Statue und Tabernakel,
einen grau-violetten Anstrich erhalten. —

Die übrigen Schnitzwerke der Nikolaikirche zu Stralsund tragen
das Gepräge des späteren Styles; mit ihnen beginne ich die Uebersicht
derjenigen Werke, welche die zweite Classe dieser Holzsculpturen bilden.
Das bedeutendste unter ihnen ist der Hochaltar der Kirche (mit Ausnahme
des oben besprochenen älteren Aufsatzes). Der Mittelschrein, der eine be-
trächtliche Dimension hat, wird durch eine einzige grosse Darstellung, die
in sich jedoch nach mittelalterlicher Sitte in mehrere Scenen zerfällt, aus-
gefüllt; es ist die Kreuzigung Christi. Auf den Seitenschreinen sind je
drei kleinere Darstellungen übereinander, welche die der Kreuzigung vor-
angehenden Momente der Passionsgeschichte vergegenwärtigen. Ein unter
der Mitte befindlicher Untersatzschrein enthält die Verkündigung Mariä,
die Geburt Christi und die Darstellung im Tempel. Alle diese Darstellun-
gen sind sehr 'figurenreich, das Mittelbild sogar überladen, doch ist überall
viel Naivetät in Bewegung und Geberde. Ueber den einzelnen Darstellun-
gen sind zierliche Baldachine von spätgothischer Form angebracht. Rück-
sichtlich des Styles möchte ich die Arbeiten mit den Gemälden des west-
phälischen Malers Jarenus, die sich im Berliner Museum befinden , ver-
gleichen; nur tritt in ihnen das übertrieben Hastige und Scharfe des Jare-
nus minder hervor. Dies Verhältniss, und da neben den neuen Motiven
doch auch noch manche Erinnerungen an den germanischen Styl anklingen,
lässt mich vermuthen, dass das Werk nicht gar spät nach der Mitte des
fünfzehnten Jahrhunderts entstanden sein dürfte. Die Rückflächen der
Seitenschreine sind mit roher Malerei versehen, ebenso die beiden Seiten
eines zweiten Flügelpaares. — Zwischen den älteren Tabernakeln des Auf-
satzes sind Gemälde angebracht, mit etwas roh gemalten grossen Figuren,
etwa Propheten vorstellend. Ihr Styl gehört dem Anfange des sechzehn-
ten Jahrhunderts an. Dann findet sich auf der Rückseite des Altares, nach
dem Chor-Umgange, eine grosse Uhr mit gothischen Ziffern; in den Ecken

Vgl. über dieselben meine Beschreibung der Gemcälde-Gallerie des K. Mu-
seums zu Berlin.
S. 172.

1

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Bildende Kunst. Mittelalter. 7. Schuitzwerke, 805

neben dem Uhrkreise sieht man^ hier vier grosse Figuren mit vergoldeten
Gewändern gemalt; sie sind hglzschnittartig behandelt und vielleicht mit
den ebengenannten Gemälden gleichzeitig.

Jünger wiederum als der Hochaltar und etwa dem Anfange des sech-
zehnten Jahrhunderts angehorig, sind die lirei letzten Altäre der Nikolai-
kirche. Der eine von diesen befindet sich in einer Kapelle auf der Süd-
seite (in der des Rathsstuhles). Der Mittelschrein enthält hier eine Dar-
stellung der Abnahme vom Kreuz, in einer nicht überladenen Composition,
etwas handwerksmässig gfearljeitet, zugleich aber mit Sinn für Würde und
mit vortrefflich feinem Gefühl, wo es sich um die Stille des Ausdrucks
handelt. Auf jedem Seitenschreine sind zwei legendarische Scenen: St.
Georg und das Marterthum der heil. Katharina; S. Martinus und das Mar-
tyrium einer zweiten weiblichen Heiligen. Auf den Rückflächen der Seiten-
schreine und auf einem zweiten Flügelpaave sind Scenen aus der Geschichte
der Maria gemalt. Diese Malereien sind in einer'leidlich naiven Weise
ausgeführt, doch ist in ihnen das handwerksmässige Element empfindlicher
als in den Schnitzvverken; in mancKen Beziehungen könnte man sie wie-
derum, was die Auffassungsweise anbetrifft, den Werken des Jarenus ver-
gleichen, doch sind sie minder geistreich.

Ein Altarschrein, der sich an einem der südlichen Pfeiler des SchitTos
befindet, enthält in der Mitte die Kreuzigung Christi, auf den Seitenschrci-
nen vier vorangehende Momente der Passion. Die Behandlung ist hier
noch mehr handwerksmässig als an dem vorgenannten Werke; doch macht
sich auch hier die Naivetät der Auffassung auf nicht unerfreuliche Weise
bemerklich.

Endlich ist noch ein Schrein an dem südlichen Thurmpfeiler vorhan-
den. Dieser enthält die Figur des Täufers Johannes mit zwei andern Hei-
ligen zu seinen Seiten/ Die Gewandung ist schwerfällig und dickwulstig
gebildet. Sßitenschreine sind nicht vorhanden, vielmehr sind die Flügel
aussen und innen mit Gemälden geschmückt; doch haben diese bereits
mannigfach gelitten. Auf den inneren Seiten der Flügel sind Scenen aus
der Geschichte des Täufers enthalten, unter denen die Darstellung der Ta-
fel des Herodes, auf die das Haupt des Johannes aufgetragen wird, mit
ihren Spielleuten und Schenken nicht ohne Humor behandelt ist. Es ist
darin etwas von der genre-artigen Auffassungsweise des Lukas Cranach,
ohne dass jedoch die eigene Leichtigkeit in den Werken dieses Meisters
erreicht wäre; manches Einzelne, besonders in den Gesichtsbildungen, hat
indess auch hier wieder Verwandtschaft mit der westphälischen Schule.

Charakteristisch für den Styl der Bildnerei um den Schluss des fünf-
zehnten Jahrhunderts und wiederum eine eigenthümliche Richtung dersel-
ben bezeichnend, ist ein Altarschrein, der sich in der Marienkirche zu
Greifswald, gegenwärtig im nördlichen Seitenschiff der Kirche, befindet.
Er enthält eine Darstellung der Grablegung Christi. Die, ziemlich figuren-
reiche Composition und der Styl des Werkes erinnern an den kräftigen und
ernsten Styl des nürnbergischen Bildhauers Adam Kraft, doch ist hier das
Scharfe des Faltenbruches, was bei letzterem vorzuherrschen pflegt, auf er-

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806 Pommersche KunstgescbiclitP.

freuliche Weise in Etwas gemässigt. In den Formen spricht sich ein (Se-
fflhl für Wörde aus, und der Ausdruck ist voller Leben. Die Seitenschreine
des Werkes, das den besseren-Schnitzarbeiten zuzuzählen ist, sind nicht
mehr vorhanden.

Verwandter Richtung gehört eine Reihe von elf Reliefs nebst einem
grossen Crueifix und einer Statue des Apostels Petrus an, die in der Ein-
gangshalle der (modernen) Kirche von Ueckermünde .aufgestellt sind
und ohne Zweifel ursprünglich einen grossen Altar zierten. Die Reliefs
enthalten Scenen der Passion Christi und zerfallen, je nach ihrer Grösse,
in zwei Folgen, von denen die eine dem Mittelschreine, die andre den
Seitenschreinen angehört haben dürfte. Auch in ihnen zeigt sich eine
ziemlich nahe Verwandtschaft mit der Richtung des Adam Kraft (nament-
lich etwa mit den Reliefs der Stationen, die von Nürnberg nach dem dor-
tigen Johanniskirchhofe führen); aber in den grösseren Stücken ist dieser
Styl zu einer ungemeinen Schönheit und Würde durchgebildet, so dass
diese unbedenklich mit unter den trefflichsten Schnitzarbeiten in Pommern
genannt werden müssen. — Es ist nicht ganz unerfreulich, zu sehen, wie
man hier auf gewisse Weise den Werth dieser Gegenstände ahnte und sie,
bei dem Neubau der Kirche, nicht nur nicht als Feuerungsmaterial ver-
wandt hat, sondern sie auch der erbaulichen Betrachtung zu erhalten ge-
dachte. Leider nur ist dies auf eine gar unpraktische Weise geschehen;
die Reliefplatten sind so gestellt, dass sie eine schmale, niedrige Gasse für
die Kirchgänger bilden, dass sie somit von muthwilligen Händen möglichst
bequem erreicht werden konnten. So darf es denn auch nicht befremden,
wenn vielleicht kein einziger Kopf erhalten ist, an dem nicht die Nase auf
freventliche Weise verstümmelt wäre.

ffit

Ein Paar Schnitzaltäre, die sich in den Kirchen von Usedom und
von Dammgarten befinden, mögen hier, da ihre Arbeit handwerksmässig
roh erscheint, nur kurz berührt werden. Beide gehören der Zeit um den
Schluss des fünfzehnten Jahrhunderts an und enthalten die Figur der Ma-
donna und Reihen kleiner Heiligen zu deren Seiten. Zu bemerken ist,
dass an dem Altare von Dammgarten sich nur bunte Bemalung und fast
gar keine Vergoldung zeigt, und dass andern von Usedom besondere Eigen-
thümlichkeiten der Darstellung vorkommen. Zu den Seiten und unterhalb
der Madonna nemlich, die in einer Strahlenglorie steht und von einem
grossen weissen Rosenkranze umgeben ist, sind fünf Engelfigiiren ange-
bracht, welche die Instrumente der Passion Christi und ausser diesen fünf
wappenförmige Schilde tragen, auf denen, gleich Wappen, die fünf Kör-
pertheile Christi, welche die Wundenmale enthalten, dargestellt sind. Man
kann aber nicht sagen, dass diese Erfindung einen sonderlich künstlerischen
Geschmack verrathe. ,

Äs

In der J oh annis k i rch e zu Stargard ist der Altar mit einem
grossen Schnitzwerke geschmückt, das wiederum besondre Eigenthümlich-
keiten hat. Ich halte dasselbe für etwas älter als die Reihe der zuletzt
besprochenen Werke. In dem Mittelschrein sieht man, oberwärts in der
Mitte, Christus und Maria thronend dargestellt; zu ihren Seiten je vier
Heilige von kleinerer Dimension, unterwärts vier Scenen aus der Geschichte

V« ■

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Bildende Kunst. Mittelalter. 7. Schuitzwerke, 807

des Täufers Johannes. Auf jedem Seitenschreine sind zwölf Heiligenfiguren
enthalten. Die Arbeit ist, ohne sich gerade in das höhere Gebiet der. Kunst
zu erheben, doch in einer handwerklich tüchtigen Weise ausgeführt; sie
hat noch viel von den Motiven des germanischen Styles, etwa in der Weise
der Bronzegiesser aus der späteren Zeit des fünfzehnten Jahrhunderts.
Manches->in der Anordnung der Figuren erinnert direkt an Darstellungen
des Bronzegusses jener Zeit; ja, die Figur des Evangelisten Johannes, in
der Reihenfolge der Heiligen, ist in Geberde und Gewandung sogar dem
Johannes des Peter Vischer am Sebaldusgrabe zu Nürnberg entschieden
ähnlich. (Daraus folgt aber nicht, dass er eine Nachahmung dieser Figur,
und dass das ganze Werk mithin jünger sei; im Gegentheil ist mit Be-
stimmtheit anzunehmen, dass Peter Vischer in seinen berühmten Apostel-
figuren ältere Vorbilder, wie sie sich so häufig in deutschen Kirchen finden,
vor Augen gehabt und, indem er sie zwar vollendeter hinstellte, doch zu--
gleich durch die Beibehaltung älterer Motive gerade eine der Hauptschön-
heiten seines Werkes erreichte. So dürfte auch die Johannesfigur des in
Rede stehenden Altares nach einem anderweitig vorhandenen Vorbilde ge-
fertigt worden sein.) Die Verhältnisse der Figuren sind kurz, die Gewan-
dungen, wie sich dies bereits aus dem Vorstehenden ergiebt, zuweilen auf
würdige Weise angeordnet. Die Gesichter sind meist etwas breit, i doch
nicht ohne liebenswürdigen Sinn gebildet; ihre Bemälung ist durchweg
sehr zart gehalten. Der Kopf der Madonna namentlich ist von grosser An-
muth. — Die Aussenflächen der Seitenschreine und die inneren Seiten eines
zweiten Flügelpaares sind mit Gemälden versehen, welche, in vielen Fel-
dern, theils die Geschichte der Maria, theils die Passionsgeschichte Christi
enthalten. Die Behandlung ist ziemlich roh, im Charakter der Holzschnitte
vom Ende des fünfzehnten Jahrhunderts. Auf den Aussenseiten des zwei-
ten Flügelpaares sieht man grosse gemalte Darstellungen: zur Linken den
Erlöser, nackt, mit einem Schurze bekleidet, im Begriffe sich der Taufe
hinzugeben; hinter ihm einen Engel, der sein Gewand trägt. Zur Rechten
den Täufer Johannes in der Geberde des Taufeus, und hinter ihm einen
Engel mit einem Salbengefäss. Es geht durch diese, zum Theil auch durch
die anderir Malereien, noch ein gewisser Zug des germanischen Styles; die
grösseren Figuren zeichnen sich, fast an die Kölner Älalerschule erinnernd,
durch einen weichen Ausdruck der Gesichter aus; im Uebrigen sind aber
auch sie nur mittelmässig ausgeführt. — Ueber dem Altarwerke endlich
erhebt sich ein Crucifix, zu dessen Seiten Maria und Johannes stehen. Die
Figuren sind lebensgross. Die Arbeit ist jedoch jünger als die des Altares,
sie gehört bereits entschieden dem sechzehnten Jahrhundert an und erin-
nert, in leidlich tüchtiger Ausführung, an ,die Werke des nürnbergischen
Bildschnitzers Veit Stoss, auf die weiter unten noch mehr hingedeutet wer-
den wird.

In Styl und Kunstwerth dem ebengenannten Altarwerke verwandt, er-
scheint sodann die Gruppe der heiligen Anna und Maria mit dem Christ-
kinde, die sich in der katholischen Kirche zu Bütow vorfindet. —

Wiederum besondre Eigenthümlichkeiten zeigt ferner das Schnitzwjerk
über dem alten Hochaltare der Marienkirche zuCöslin. Der Mittelschrein
wird,durch fünf lebensgrosse Statuen, eine Madonna mit dem Kinde, die
beiden Johannes und zwei heilige Bischöfe ausgefüllt. In jedem der beiden
Seitenschreine sind acht kleinere Figuren männlicher Heiligen, in einem
Untersatzschreine die Halbfiguren weiblicher Heiligen (in deren Mitte noch

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808 Pommersche Kunstgeschiclite.

einmal die Madonna erscheint) enthalten. Die Arbeit hat auch hier einen
etwas handwerksmässigen Charakter. Im Styl ist das eckige Wesen der
Zeit um den Schluss des fünfzehnten Jahrhunderts vorherrschend, doch sind
einzelne Gewandpartieen, namentlich das Gewand der Madonna, in schöner
freier Würde angeordnet. Die Körperverhältnisse sind kurz, die nackten
Körpertheile (bei dem Täufer Johannes und dem Christkinde) mangelhaft
dargestellt Das Haar ist meist ziemlich conventioneil behandelt. Höchst
merkwürdig aber ist die ebenso zarte, wie grossartig plastische, ich möchte
sagen: classische Bildung der Gesichter; es drückt sich darin ein eigen-
thümlich hoher Adel, mit milder Schönheit verbunden, sehr glücklich aus.
Die Baldachine über den Figuren, und was sonst an architektonischem
Schnitzwerk vorhanden ist, zeigen zierliche spätgothische Formen. Die
Malereien, die ohne Zweifel auf den Aussenflächen der Seitenschreine und
auf einem zweiten Flügelpaare befindlich sind, konnte ich nicht sehen, da
die Seitenschreine keine Bewegung gestatteten. — Im Chore der Kirche
von~Cöslin finden sich ausserdem noch zwei Crucifixe aus spätmittelalter-
licher Zeit, ein grösseres und ein kleineres, von denen das letztere recht
tüchtig gearbeitet ist.

Ungefähr gleichzeitig mit dem Altarschreine von Cöslin dürfte der des
Hochaltares im Dome zu Ca mm in sein. Dieser enthält auf dem Mittel-
schrein eine Darstellung der Himmelfahrt der Maria, auf jedem der Seiten-
sohreine vier legendarische Scenen. Doch sind diese Arbeiten ziemlich
roh behandelt und ohne ein sonderlich sprechendes Gefühl. Auf den Aussen-
flächen der Seitenschreine sieht man verdorbene moderne Landschaften. —
In dem südlichen Räume des Querschiifes derselben Kirche sind sodann
zwei einzelne grosse Figuren, die beiden Johannes vorstellend, zu bemerken;
beides sind leidlich rohe Arbeiten vom Ende des fünfzehnten Jahrhunderts.
— An einem Pfeiler hängt ein grosses altes Crucifix, welches noch dem
vierzehnten Jahrhundert angehören dürfte.

Sk'i

Die Jakobikirche zu Stralsund bewahrt drei Schnitzaltäre, welche
bereits dem sechzehnten Jahrhundert zugeschrieben werden müssen. Ihre
Behandlungsweise nähert sich der des nürnbergischen Bildschnitzers Veit
Stoss, sowohl in dem Ausdrucke einer anmuthig spielenden Naivetät, als
in der mehr oder weniger manierirten Gewandung (besonders in der ge-
knitterten Weise des Faltenbruches). Der beste von diesen Altären und
der zugleich am Entschiedensten an Veit Stoss erinnert, befindet sich in
einer Kapelle auf der Nordseite der Kirche. Er enthält im Mittelschrein
eine Darstellung der heil. Sippschaft, in den Seitenschreinen Scenen aus
der Geschichte der Maria und in einem Untersatzschreine die Auferstehung
Christi. Hier machen sich manche schöne Motive bemerklich, und nament-
lich ist die Begegnung der Maria mit der Elisabeth, auf einem der Seiten-
schreine , als eine sehr edle Composition hervorzuheben. — Die beiden
andern Altäre finden sich in Kapellen auf der Südseite der Kirche. In
dem Mittelschrein des einen sieht man Gott-Vater mit dem Christusleichnam
auf dem Schoosse (eine steife Darstellung), auf den Seitenschreinen Scenen
aus der Kindheit Jesu , die manchen ansprechend naiven Zug enthalten.

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Bildende Kunst. Mittelalter. 7. Schuitzwerke, 809

Aussen sind doppelte Flügelgemälde vorhanden, Darstellungen aus der
Geschichte der Anna und Maria, von roh handwerksmässiger Arbeit. —
In dem dritten Altar ist die Kreuzabnahme und auf den Seitenschreinen
vier Scenen aus der Passionsgeschichte enthalten. Der Werth dieser Schnitz-
werke ist denen des ebengenannten Altares gleich. Die, ebenfalls doppel-
ten Flügelgemäide enthalten wiederuni Scenen aus der Geschichte der Maria;
auch diese sind handwerksmässig und ohne höhere künstlerische Bedeu-
tung; doch in den Compositionen und einzelnen Motiven, in Geberde und
Kostümen verräth sich hier gleichwohl die Nachwirkung eines edleren Sin-
nes, und zwar, was zu beachten sein dürfte, eine direkte Erinnerung an die
Eigenthümlichkeiten der altflandrischen (Eyck'schen) Schule.

Das grosse Schnitzwerk über dem Hochaltar der Nikolaikirche
zu A n c 1 a m dürfte, in den allgemeinen Verhältnissen des Styles, ebenfalls
mit Yeit Stoss zu vergleichen sein. Der Mittelschrein stellt in einer sehr
grossen, äusserst figurenreichen und in viele einzelne Gruppen zerfallenden
Composition die Kreuzigung Christi dar. (Die drei, Cruciflxe fehlen gegen-
wärtig; das Kreuz mit dem Erlöser, welches diesem Schnitzwerke angehört,
steht neuangestrichen auf dem Altartische.) Auf jedem der Seitenschreine
sind sechs vorangehende Scenen der Passionsgeschichte enthalten; auch
von diesen umfasst eine jede eine bedeutende Anzahl von Figuren. Die
Behandlung des Ganzen ist hier äusserst naiv und kindlich spielend, die
Figuren sind wie Püppchen zusammengestellt, in grosser und kleiner Di-
mension, je nachdem ihre Bedeutung oder der vorhandene Raum dazu die
Veranlassung gab. Und dennoch, wie wenig künstlerisch auch das Einzelne
gestaltet ist, geht überall ein sehr lebendiges Gefühl durch das "Werk; es
ist — ähnlich wie in den bekannten Passions- und Fastnachtsspielen jener
Zeit — ein eigen bänkelsängerischer , volksthümlicher Humor darin , der
die Sache, soweit sie nicht die Tiefe des Geisteslebens berührt, ganz frisch
und kräftig zu vergegenwärtigen weiss. Die Aussenseiten der Flügel sind
roh bemalt.

Hieher gehören sodann auch zwei, in der Marienkirche zu An-
clam befindliche Altäre. Der interessantere von diesen findet sich, zu-
rückgestellt, in einer Kapelle auf der Südseite der Kirche. Der Mittel-
schröin enthält eine Darstellung der heiligen Sippschaft. Auf einem Unter-
satzschreine ist der Anfang des Stammbaumes der Maria, der sich, als
Umrahmung des Mittelschrein^s, auf dessen beiden Seiten in die Hohe
fortsetzt. Auf jedem der Seitenflügel sind zwei Heiligenfiguren dargestellt.
Die ganze Arbeit zeigt eine sehr bemerkenswerthe Eigenthümlichkeit. In
den Figuren ist viel lebendiger Sinn,' Manches ist sehr trefflich empfunden.
Andres aber auch phantastisch gespreizt und manierirt Der Faltenwurf
ist in Stossischer Weise geknittert, doch nicht kleinlich behandelt. Die
weiblichen Köpfe sind durchweg vortrefflich, von etwas voller Bildung,
sehr zart bemalt und überall von einem eigen milden Ausdrucke. In
schöner Würde zeigt sich namentlich die Gestalt der heiligen Anna, welche
die Mitte des Mittelschreines einnimmt und zu deren Füssen die heilige
Jungfrau mit dem Kinde sitzt.' Die heiligen Vorfahren, welche der Stamm-
baum enthält, werden nicht, wie gewöhnlich bei solchen Darstellungen,
von consolenartigen Blumen getragen; sie' sitzen arabeskenhaft in den
Zweigen des Baumes und reiten und klettern darin ungemein lustig und
kühn umher. Die architektonischen Baldachine sind durchaus schon und
edel behandelt; besonders reich sind sie über.den Flügeln gestaltet.. Ich

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810 Poramersohe Kunstgeschichte,

halte das ganze Werk wiederum für eins der merkwürdigsten in seiner
Art und namentlich für ein charakteristisches Denkmal eben jenes Volks-
humores (der hier freilich bedeutend edler .erscheint, als bei dem vorge-
nannten Schnitzwerk). Die Aussenseiten der Flügel sind schlecht gemalt.

Der Hochaltar der Marienkirche zu Anclam enthält ein Schnitzwerk
von bedeutender Dimension, dessen Styl dem der heil. Sippschaft ver-
wandt, der aber weder in den. Köpfen der einzelnen Figuren so anziehend,
noch in den Gewändern so edel erscheint. In dem Mittelschrein sieht
man eine grosse Gestalt der Madonna mit- dem Kinde, zu deren Seiten
unterwärts die Verkündigung und das Verlöbniss der Maria, oberwärts
ihren Tod und ihre Himmelfahrt. Auf den Seitenschreinen sind Scenen
aus der Kindheit Jesu dargestellt; auf einem üntersatzschreine Scenen aus
dem Leben einiger besondrer Heiligen. Das architektonische Ornament ist
übrigens auch hier vortreflflich und ganz den Ornamenten des vorigen
Altares ähnlich. Die Gemälde auf den Aussenseiten sind leider ganz ver-
dorben. Nur von dem einen ist noch der Inhalt, Christus, als Knabe im
Tempel lehrend, zu erkennen. Hier zeigt sich die Malerei, wenn auch in
etwas derber Behandlung, doch so schön , würdig und charaktervoll, wie
ich mich nicht entsinne, sie an den Flügeln eines andern der pommerschen
Schnitzaltäre gesehen zu haben. —

Mancherlei Schnitzarbeiten, die der Mehrzahl nach ebenfalls an den
Styl des Veit Stoss erinnern, finden sich sodann in der Marienkirche
zu Colberg. Unter den Altarwerken dürfte hier dasjenige als das be-
deutendste zu bezeichnen sein, welches an einem der Pfeiler des nördlichen
Seitenschiffes befestigt ist, und dessen Mittelschrein eine Darstellung der
Anbetung der Könige enthält, während in den Seitenschreinen sich ein-
zelne kleine Heiligenfiguren befinden. Leider ist der Farbenüberzug dieses
Werkes vielfach beschädigt. Auf einem Untersatzbilde sieht man die Ge-
burt und die Taufe Christi in handwerksmässiger Weise gemalt. — Im
südlichen Seitenschiff, zur Seite des Lettners, ist ein Altarschrein mit drei
grösseren und acht kleineren Heiligenfiguren aufgehängt, dessen Arbeit
jedoch ziemlich starr erscheint. — Ebenfalls von handwerksmässiger Be-
schaffenheit ist ein Altar aa der Südwand der Kirche, der in der Mitte
das Abendmahl und auf jedem Flügel vier kleinere Heiligen enthäM. —
Neben diesem Altare steht die colossale Figur des heil. Jacobus major, in
seinem bekannten Pilgercöstüm, welche den alterthümlich germanischen
Styl in ziemlich roher Behandlung zeigt. — Endlich ist noch ein Altar zu
nennen, der sich in dem einen der nördlichen Seitenschiffe, an dem Pfeiler
der Sakristei befindet. Nur die drei Heiligenfiguren, welche den Mittel-
schrein ausfüllen, sind hier noch vorhanden. Die mittelste von diesen,
die Gestalt einer weiblichen Heiligen, zeigt ebenfalls noch den germani-
schen Styl, aber in sehr treiflicher Behandlung; die beiden andern rühren,
wie es scheint, aus späterer Zeit her. Ein Untersatzbild hat sehr ver-
staubte, scheinbar unbedeutende Gemälde.

Die Krone aber unter den Schnitzwerken, welche die Marienkirche zu
Colberg enthält, und wiederum ein Kunstwerk von ganz eigenthümlicher
Art und Bedeutung ist ein grosser Kronenleuchter, der im MittelschiiTe
hängt und der im J. 1523 von der Familie der Schlieffen geschenkt ward,
wie dies die an ihm vorhandene Umschrift besagt: „Disse Krone ewych
to holden hebben koft by Marien Kerken de Sleve unde nyghe laten ma-
ken Anno MCCCCCXXlfl.". Das ganze Werk besieht aus einer reichen

k

1?"

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Bildende Kunst. Mittelalter. 7. Schnitzwerke.

Tabernakel-Architektur im zierlichen spätgothisclien Style. Die Hauptform
dieser Architektur bildet sich durch zwei, einander entgegengesetzte Oeff-
nungen, in denen, auf der einen Seite, die Madonna mit dem Kinde steht,
auf der andern der Täufer Johannes. Beide Figuren sind in einer durch-
aus trefflichen und würdigen Weise gearbeitet, in der sich (um den Ver-
gleich mit den mehrfach berührten Meistern beizubehalten) der strengere
Styl des Adam Kraft mit dem zierlicheren des Veit Stoss zum schönsten
Einklänge verschmilzt. Ueber den Pfeilern, die die OelFnungen einschliessen,
erhebt sich dann, in mehreren Absätzen, ein reich gebildeter Baldachin,
der mit mannigfach zierlichen freien Rankengeflechten geschmückt ist, wäh-
rend an den Pfeilern, obervvärts> und unterwärts, eine Menge kleiner FigUr
ren vortritt, ich entsinne mich nicht, irgend anderswo ein ähnliches Werk,
geschweige denn eins von ähnlicher Schönheit, gesehen zu haben. Doppelt
wichtig aber wird die Arbeit durch' die an ihr enthaltene Jahrzahl, die
natürlich auch für die ganze Reihe der Werke ähnlichen Styles, mehr oder
weniger genau, als zeitbestimmend gelten muss. Leider ist nur von den
ornamentistischen Zierden des Leuchters schon Manches verloren gegangen,
und leider ist derselbe in neuerer Zeit restaurirt und dabei auf barbarische
Weise mit einem neuen Anstrich übersudelt worden.

Auch die heilige Geistkirche zu Colberg (ein Gebäude, das nur
noch geringe mittelalterliche Theile enthält), bewahrt einen alten Schnitz-
altar. Der Mittelschrein enthält eine Madonna mit dem Kinde, umgeben
von einer Strahlenglorie und einem grossen Rosenkranze; in jedem der
Seitenflügel sind sechs Heiligenfiguren. Die Arbeit ist handwerklich tüchtig
und gehört der Zeit um den Anfang des sechzehnten Jahrhunderts an. —

In der Marienkirche zu Damm befindet sich ein grosses Altar-
schnitzwerk, das in der Mitte, in sehr figurenreicher Composition, die
Kreuzigung Christi, zu den Seiten die früheren und späteren Scenen der
Passion, mit Einschluss der Auferstehung Christi und der Krönung der
Maria, enthält. Die einzelnen Reliefs haben aber nicht mehr die ur-
sprüngliche Folge. Der Styl auch dieses Werkes hat ungefähr den Cha-
rakter des Veit Stoss, die Arbeit jedoch ist sehr entschieden handwerks-
mässig. Der Mangel eigner künstlerischer Kraft zeigt sich nicht blos in
der Anordnung der figurenreichen Scenen, sondern überhaupt bei der Dar-
stellung aller bewegten, leidenschaftlichen Momente. Gleichwohl finden
sich auch hier noch einzelne schöne und würdevolle Motive; so ist na-
mentlich die Krönung der Maria ganz trefflich behandelt. Die Gemälde
auf den Rückseiten der Flügel sind zum Theil verdorben, ausserdem aber
über und über mit Maurertünche besprengt; soviel ich von ihnen erkennen
konnte, scheinen sie nicht zu den schlechteren Arbeiten dieser Art zu
gehören.

In Stettin ist nur Weniges von mittelalterlichem Schnitzwerk er-
halten. Das Meiste findet sich in der Gertrudskirche auf der Lastadie.
Hier sieht man einen schmalen Altarschrein, in dessen Mitte sich aber nur
noch eine weibliche Figur von mittlerer Grösse findet. Doch ist diese
Figur nicht ohne bedeutenden Werth. Sie ist zart und mit feinem, edelm
Gefühle gebildet, die Gewandung ist grossartig, in der Weise des Adam
Kraft, angelegt. Auf den Flügeln des Schreines sind alterthümliche, leid-
lich rohe Gemälde enthalten, die auf die spätere Zeit des fünfzehnten Jahr-
hunderts deuten. — Neben diesem Schreine befindet sich ein andrer aus
jüngerer Zeit, welcher' eine Darstellung der Verkündigung Mariä enthält;

811

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Pommersche Kunstgeschichte.

er ist in Stossischem Style und handwerklich tüchtig gearbeitet. — Von
ähnlicher Art sind vier einzelne mittelgrosse Relieffiguren, drei weibliche
und einen männlichen Heiligen darstellend, die in einer Kammer dersel-
ben Kirche bewahrt werden.

In der P etrikirche zu Stettin steht der ältere Altarschrfein hinter
dem jetzigen Altare. Er enthält in der Mitte die Figuren der Maria und
der Heiligen Petrus und Paulus, auf den Seiten Reliefs aus der Legende
dieser beiden Heiligen. Die Arbeit ist handwerksmässig, ebenfalls im
Charakter des Veit Stoss. — Im Betsale des Johannisklosters findet
sich ein grosses Holzrelief, Christus am Oelberge vorstellend, das in Farbe
und Vergoldung zwar noch der mittelalterlichen Weise folgt, in der For-
menbehandlung aber schon den Einfluss italienischen Styles verräth, somit
einer späteren Zeit des sechzehnten Jahrhunderts angehört. Uebrigens ist
auch diese Arbeit ohne einen sonderlich künstlerischen Werth.

Endlich sind noch einige grosse Statuen anzuführen, Crucifixe und
dazu gehörige Figuren vorstellend, wie solche auch schon im Vorigen an
einigen Stellen erwähnt sind. Dahin gehört ein grosses Crucifix, nebst
den Statuen von Maria und Johannes, die sich, zurückgesetzt, in einer
Kapelle auf der Südseite der Marienkirche von Rügenwalde befinden.
Das Crucifix ist ziemlich roh, die beiden andern Figuren aber zeichnen
sich durch ihre grossartig angelegte Gewandung aus; sie gehören der spä-
teren Zeit des fünfzehnten Jahrhunderts an. — Aehnlich erscheinen drei
Figuren derselben Art in der Marienkirche zu Schlawe, die sich
noch an ihrer ursprünglichen Stelle, auf einem grossen Balken über dem
Eingange zum Chore, befinden. — Drei andre Figuren derselben Art, denen
sich noch drei Engel zugesellen, in der Marienkirche zu Stolp, sind
dagegen später und erinnern wiederum, zwar in etwas manierirter Weise,
an den Styl des Veit Stoss.

8. Gemälde des späteren Mittelalters.

Unter den Malereien, welche die Rückseiten der im Vorigen bespro-
chenen Altarwerke schmüclien, war — so bedeutend auch die Anzahl
dieser Altarwerke ist, und so reich ausgedehnt auch der Gemäldeschmuck
bei vielen von ihnen erscheint — doch nur sehr Weniges, das einen,
künstlerischen Werth gezeigt hätte, anzuführen gewesen. Hier nur Ein-
zelnes, das an die Motive der altkölnischen Schule, dort Einzelnes, das
an die westphälische Schule zur Zeit des Jarenus, an die altflandrische
Schule, an den älteren Holbein, an Lucas Cranach mehr oder weniger
fern erinnerte. Aus der geringen Bedeutung dieser Gemälde und aus dem
Umherschwanken in dem Style derjenigen, die nicht ganz roh ersclieinen,
können wir aber mit ziemlicher Sicherheit schliessen, dass die Kunst der
Malerei in Pommern zur mittelalterlichen Zeit, auch wenn sie vielleicht
selbständiger auftrat, sich doch keiner sonderlichen Blüthe zu erfreuen

812

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Bildende Kunst. 8. Gemälde des späteren Mittelalters. 81B

hatte. Dies bestätigt sehr entschieden der Umstand, dass an selbständigen
"Werken der Malerei aus dieser Periode nur äusserst wenig gefunden wird,
und dass auch dies Wenige nicht eben auf der Höhe der Kunst steht.

Ausser dem Bilde eines heiligen Bischofes in der Gertrudskirche
zu Stettin, das dem Anfange des sechzehnten Jahrhunderts angehört und
die Art, etwa eines Hans Baidung Grien in handwerksmässiger Weise be-
folgt»- sind nur einige, in der Marienkirche zu Oelberg befindliche
Gemälde zu nennen. Es scheint fast, da diese Kirche auch durch jene
alten Gewölb-Malereien ausgezeichnet ist, als ob gerade in Colberg, aus-
schliesslich , die Malerzunft zu einiger Bedeutung sich erhoben habe.
Unter diesen Bildern ist zunächst ein, von Andern schon mehrfach bespro-
chenes, ziemlich grosses Gemälde anzuführen, welches in der Thurmhalle
hängt'). Es stellt drei Mönche des Franciscanerordens vor, in der Mitte
den heiligen Frauciscus', der die Wundenmale empfängt/, auf der einen
Seite den schlafenden Gefährten des Heiligen, wie ein solcher stets bei
den Darstellungen der Stigmatisation als gegenwärtig erscheint; auf der
andern Seite einen dritten Mönch, der eine flammende Sonne mit den be-
kannten Buchstaben I, H. S.
(Irjaovg) trägt, ein Symbol, welches mehrere
Heilige führen, das hier aber, dem Franciscaner-Costüm zufolge, wohl
nur dem heil. Bernhardin von Siena, einen der vorzüglichsten Prediger
des Ordens, bezeichnen kann Eine solche Deutung der Gestalten be-
darf für den, der nur einigermaassen mit den herkömmlichen Typen der
mittelalterlichen Kunst vertraut ist, keines weiteren Beweises, und es zer-
fällt somit die Volkssage, derzufolge hier die drei Mönche dargestellt seien,
die das Geld zum Bau der Kirche in weiten Landen gesammelt, ebenso
in Nichts, wie die Gründe, die man neuerdings zu ihrer Bestätigung auf-
gesucht hat^). Auffallend war mir nur das Eine Moment dieser Vorstel-
lung, dass nämlich die Strahlen, welche dem heil. Franciscus die Wun-
denmale bringen, hier nicht, der Legende gemäss, von einem geflügelten
Cruciflxe, sondern von der Jesus-Sonne des heil. Bernhardin ausgehen;
man könnte dies etwa dadurch erklären, dass der Maler oder der Besteller
des Bildes ein ganz besondrer Verehrer des letztgenannten Heiligen gewe-
sen sei. Uebrigen's scheint das Bild, soviel sich nach der Renovation, die
damit vorgenommen ist, sagen lässt, eine leidlich tüchtige Arbeit aus der
Zeit um den Schluss des fünfzehnten Jahrhunderts zu sein.

Am ersten Pfeiler des südlichen Seitenschiffes, dem Thurmpfeiler
gegenüber, findet sich sodann ein, ebenfalls ziemlich-grosses Gemälde,
welches die Anbetung der Könige vorstellt. Es ist von mittelmässigcr
Arbeit, doch sind einige Köpfe darauf bemerkenswerth; der Styl, in dem
es gemalt ist, zeigt einen gewissen Einfluss der altflandrischen Schule.
Interessant ist es durch seine Unterschrift, derzufolge es um das Ende
des fünfzehnten Jahrhunderts gemalt sein muss; diese lautet: „Anno Dni.
Millesimo quadringentesimo septuagesimo quinto die veroXVIImen. Septbris
Dorothea , et Anno nonagesimo quinto tcia edem mensis Katherina uxores
Simonis Adebar persolverunt debitum naturae etc. 4)." Die in dieser Un-

') Vgl Wachs, Gesch. d. Altst. Colberg, etc., S. 84; und Maass, Geschichte
II. Beschrbg. der St. Marien-Domkirche zu Colberg, S. 69. — Christliche
Kunstsymbolik und Ikonographie, S. 172. — Dabei soll aber der Werth
dieser Volkssage, als einer solchen, als "eines Zeugnisses für das Fortleben des
poetischen Geistes im Volke, auf keine Weise geläugnet werden. — Zu be-

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814 Pommersche Kunstgeschiclite.

terschrift genannten Personen sind unterwärts in kleinen Figuren knieend
dargestellt, links Herr Simon Adebar, rechts seine beiden Frauen.

An einem Pfeiler des südlichen Seitenschiffes hängt ein Gemälde,
ebenfalls vom Ende des fünfzehnten Jahrhunderts, das zwar roh gemalt,
aber durch seinen Gegenstand von eigenthümlichem Interesse ist. Es ge-
hört zum Kreise der Todtentänze. Es stellt einen Kirchhof vor und darin
eine Grabkapelle; ein ganz geharnischter Ritter kniet mitten auf dem
Kirchhofe vor der Kapelle, während aus den Gräbern und aus den Thüren
der Kapelle allerlei Todtengerippe mit Waffen und anderm Geräth hervor-
dringen und sich bereit machen, gegen eiiie herannahende Ritterschaar
anzukämpfen. — Diesem Bilde gegenüber hängt ein andres, welches eine
„weisse Frau", mit einem Schloss vor dem Munde, Schlüsseln vor den
Ohren und mit allen möglichen andern Attributen vorstellt. Reichliche
Inschriften, über und zu den Seiten der Figurerklären ihre Bedeutung.
Unterwärts steht „Ivan von Cortenbach i. J. d. H. 1494, erneuert
1741." Soviel man, nach der Erneuerung des Bildes, noch urtheilen kann,
entspricht es dem Charakter der Nürnberger Schule.

An einem Pfeiler des nördlichen Seitenschiffes hängt ein Gemälde,
welches die drei Gekreuzigten, Maria und Johannes, und die kleine Figur
des knieenden Donators darstellt. Es hat etwas Verwandtes mit dem jün-
geren Cranach, namentlich eine Milde und Zartheit in den Köpfen, wie
man solche auf den Bildern dieses liebenswürdigen Meisters findet; doch
ist eines Theils die Zeichnung der Figuren minder bedeutend, anderen
Theils mischt sich der Erinnerung an Cranach zugleich etwas von dem
Style des Hans Balduug Grien bei. Leider hat das Gemälde gelitten; sein
"Werth macht eine verständige Restauration wünschenswerth.

Endlich sind in der Marienkirche zu Colberg, an zwei Pfeilern des
Mittelschiffes, noch die Brustbilder Luthers und Melanchthons von der
Hand des älteren Cranach (des berühmteren) vorhanden. Ich halte sie für
Originale, oder vielmehr: ich glaube, dass es solche gewesen sind, da
sich namentlich an dem Kopfe Melanchthons noch die Spuren einer gross-
artig meisterlichen Behandlungsweise, im Charakter dieses Künstlers, zei-
gen. Beide sind aber in neuerer Zeit (nach einer Inschrift auf dem Bilde
Melanchthons, im J. 1741) so schmachvoll übersudelt, dass sich das Auge
des Kunstfreundes mit Unwillen und Schmerz von ihnen abwendet. Es
würde der Kirche schwerlich zur Unehre gereichen, wenn man beide Ge-
mälde den Händen eines geschickten Restaurators übergäbe, der die Su-
delei wieder fortnähme und den Schaden der Originale, der darunter viel-
leicht verdeckt liegen mag, mit bescheidener Hand ergänzte.

In der. Marienkirche zu Rügenwalde, zu den Seiten der Kanzel,
finden sich ebenfalls die Portraits von Luther und Melanchthon, die gleich
jenen aus Sachsen herzustammen scheinen. Beide sind klein und von
verschiedener Dimension. Das Portrait Luthers ist das grössere und mit
dem bekannten Cranach'schen Monogramm, der Schlange, versehen; es ist

merken ist, dass in dieser Unterschrift das M stets durch das Zeichen |-|-| , das
n aber stets als ein solches geschrieben wird. Dies dürfte, in Rücksicht auf
die bekannte Streitfrage^ ob man den Namen jenes bekannten Malers der altflan-
drischen Schule als ,,Hemling" oder „Memling" zu lesen habe, die AuuaLme der
letzteren Lesart bestätigen.

Abgedruckt bei Maass, a. a. 0., S. 85.

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Bildende Kuust. Mittelalter. 8. Gemälde des späteren Mittelalters. 815

ein gutes Bild, nicht ohne feines Gefühl in den Gesichtsformen, doch halte
ich es für eine Arbeit des jüngeren Cranach. Das Portrait Melanchthons,
ohne die Schlange, aber mit der Jahrzahl 1557, ist weder von dem einen,
noch von dem andern Cranach gemalt; es ist härter in der Behandlung,
gleichwohl nicht ganz ohne Werth. — Ein andres kleines Portrait Luthers,
ein gutes Bild von der Hand des jüngeren Cranach, findet sich unter den
Kunstsachen und Raritäten, die auf dem Löwenschen Saale des Rathhauses
zu S tralSUnd-bewahrt werden. — Was mir sonst, in pommerschen Kir-
chen , von sogenannten Cranach'sehen Portraits der beiden Reformatoren
gezeigt wurde, waren Copien aus späterer Zeit. —

Diesen Gemälden schliesse ich hier eine Reihe von Malereien an, die
zwar in späterer Zeit, etwa im siebzehnien Jahrhundert, und beträchtlich
roh ausgeführt sind, deren Erfindung aber in die in Rede stehende Periode
gehört. Sie befinden sich an den Brüstungen der liölzernen Emporen,
welche die Gertrudsicirche bei Wolgast ausfüllen, und stellen Scenen
des Todtentanzes, nach den bekannten Holzschnitten von Hans Holbein,
vor. Doch ist die Nachahmung Holbeins ziemlich frei; die einzelnen Scenen
enthalten zumeist mehr Figuren als die Originale, zuweilen auch sind ein
Paar Scenen zu einem einzigen Bilde zusammengesetzt. So unbehülflich
aber auch diese Darstellungen ausgeführt sind, so hat sich der Maler doch
— und dies giebt ihnen einen eigenthümlichen Werth — mit Glück in den
kühnen Humor des grossen Meisters zu finden und in seinem Sinne Neues
zu erfinden gewusst. Ganz launig z, B. ist der Einfall, dass auf dem Bilde,
wo der Tod zum Arzte kommt, ein kleines Todtengerippe eifrig mit dem
Stossen eines Mörsers zur Bereitung der Arzneien beschäftigt erscheint.
Auf einem andern -Bilde sitzen Jüngling und Jungfrau im Grase zusam-
men; der Tod kniet scherzend vor ihnen und hält sich eine Maske vor.
Ueber den Bildern stehen deutsche Verse, die aber keinen sonderlichen
Werth haben. Heller (in der Chronik von Wolgast, S. 49) benennt den
Maler, der den Todtentanz ausgeführt, Bentschneider; über die Zeit
sagt er Nichts. Sollten die Emporen einmal, was für den architektoni-
schen Eindruck des Kirchleins höchst wünschenswerth erscheint, hinaus-
geschafft werden, so würde gleichwohl für die Erhaltung dieser Malereien
Sorge zu tragen sein. —

Endlich mag hier noch eines Teppichstückes gedacht werden, das,
zwar verschossen und auch etwas beschädigt, doch nicht ganz ohne künst-
lerischen Werth ist. Es befindet sich.in der Schlosskirche zu Stolp,
und dient zur Bekleidung der Altarbrüstung, Grosse, wohlgearbeitete
Blumenpartieen sind darauf in gewirkter Arbeit vorgestellt und zwischen
diesen auf einem Wappenschilde der pommersche Greif; daneben die Jahr-
zahl 1556. Der Wappenschild ist von einem Kranze umfasst, den ein
Herr und eine Dame halten; beide sind wohlgezeichnet.

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816 Pommersche Kunstgeschichte.

n.

WERKE MODERNER ZEIT.

1. Bildniss-Sciilptur.

Im Verlauf des sechzehnten Jahrhunderts und vornehmlich von der
Mitte dieses Jahrhunderts ab, verschwinden, wie in der Architektur, so
auch in der bildenden Kunst, die mittelalterlichen Typen, und es macht
sich statt deren auch hier die Auffassungs- und die Behandlungsweise der
italienischen Kunst geltend. Doch erhält sich im Fache der Portrait-Dar-
stellungen geraume Zeit hindurch, wenn auch mehr oder weniger modifl-
cirt, die heimische Richtung der Kunst; wir finden einzelne Werke dieser
Art, welche durch die Verbindung deutscher Naivetät und italienischer
Lebensfülle den erfreulichsten Eindruck hervorbringen. Vornehmlich wich-
tig sind in diesem Bezüge die sculptirten Portraitdarstellungen, die sich
an Grabmonumenten oder an Gedächtnisssteinen andrer Art vorfinden. Da
sich bei ihnen zugleich die Zeit der Anfertigung im Allgemeinen ziemlich
sicher bestimmen lässt, so haben sie für die Betrachtung des künstleri-
schen Entwickelungsganges einen doppelten Werth.

Unter diesen Werken nenne ich zunächst eine Art Epitaphium, wel-
ches sich in der Schlosskirche zu Stettin befindet und den Herzog
Bogislav X. nebst seiner Familie darstellt. Die äussere Behandlung ist
hier noch dieselbe, wie an den obenbesprochenen Altar-Schnitzwerken.
Die Arbeit ist aus Holz geschnitzt und mit Bemalung und Vergoldung
versehen. Eine brillante Pilaster-Architektur italienisch barocken Styles
bildet die Einrahmung des ganzen Werkes; oberwärts ist ein durchbro-
chener Aufsatz mit einem männlichen Brustbilde. Die Darstellung besteht
aus einem Crucifixe, zu dessen einer Seite Herzog Bogislav init seinen
drei Söhnen Barnim, Georg und Casimir kniet, während sich auf der an-
dern Seite seine zweite Gemahlin Anna, Tochter des Königs Casimir von
Polen, mit ihren drei Töchtern Anna, Elisa und Sophia befindet. Die
Figuren, unter Lebensgrösse und hautreliefartig gegen den Grund lehnend,
haben nicht eben ausgezeichneten Kunstwerth und sind in Haltung und
Geberde sehr starr; indess haben die Köpfe ein entschieden individuelles
Gepräge, und somit ist dem Ganzen, in allgemein historischer Beziehung,
ein sehr bedeutender Werth keinesweges abzusprechen. Eine grosse Unter-
schrift in lateinischen Hexametern benennt die Dargestellten und berichtet,
dass das Werk von dem, der die andern überlebt, von Herzog Barnim IX.
— somit etwa gegen die Mitte des sechzehnten Jahrhunderts — gestif-
tet sei

An derFa^ade des jetzigen Arsen als (des ehemaligen St. Marien-Nonuen-
klosters) zu Stettin findet sich ein grosser Gedächtnissstein mit dem Reliefbildn
Herzog Barnim's des Grossen (gest. 1368), von dem das Karthäuser Kloster Got-
tes Gnade bei Stettin gegründet wurde. Zufolge der auf dem Steine befindlichen
Unterschrift hat Herzog Barnim IX. denselben seinem grossen Vorfahren im Jahr
1543 setzen lassen, und zwar ursprünglich an dessen Begräbnissstätte, in der
Kapelle des genannten Klosters, nachdem Barnim IX. das letztere zu seiner

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Bildende Kunst. Werke moderner Zeit. 1. Bilduiss-Sculptur. 817

Etwas später, wie es sdieint, sind üie lebensgrosseii Figur,e» dei'
gräflich Eberstein'sclien Familie, die sich in einer Seitenkapelle der Ma-
rienkirche zu Naugardt vorfinden. Auch sie sind aus Holz'geschnitzt
und bemalt {das Holz ist zum Theil mit Leinwand überzogen und darauf
erst der Gypsgrund für die.Farbe aufgelegt); doch erscheint die Arbeit au
ihnen ungleich besser und lebenvoller. Leider aber haben sie sehr gelit-
ten; das Holz ist äusserst wurmstichig, hier und da hängt die Leinwand
des Ueberzuges in Fetzen herab und einzelne Körpertheile fehlen bereits
gänzlich. Es sind vier Figuren, zwei männliche und zwei weibliche. Die
beiden ersteren erscheinen in versilberten Harnischen; der eine von diesen
steht aufrecht in einer Art Feldherrnstellung; an seinem Fussgestell liest
man die beschädigte Inschrift: „Ludovicus comes ab Eberstein (D)ominns

in N(augarjtten et Mas(sow) XXV die Maii (Ann)o' Christi..... (ae)tatis

suae 6.. (su)sceptae adniinistrationis 37.'' Dem ebengenannten entspricht
eine aufrecht stehende Dame, deren Haltung zwar wiederum ziemlich starr
ist, deren Kopf aber (der einzig wohl erhaltene) eine recht tüchtige Arbeit
erkennen lässt. Der zweite Ritter und die zweite Dame sind knieend und
mit gefalteten Händen vorgestellt; beiden fehlen die Köpfe. Vor jeder
von diesen knieenden Figuren liegt gegenwärtig ein Helm mit Handschu-
hen, Ton denen der eine aber natürlicli dem stellenden (und barhäuptigen)
Ritter angehört. Die Volkssage nimmt indess , naiver Weise, die Helme
als die Köpfe der beiden Knieenden und deutet dies auf eine Strafe der
Enthauptung, ebenso wie die Kette, mit welcher mau die Statue des ste-
henden Ritters, um sie vor dem Umsturz zu sichern, an die Wand be-
festigt hat, als das Sinnbild einer Gefängnissstrafe gedeutet wird. — Ein
grosser barocker Altar, der sich in derselljen Kapelle befindet,- scheint mit
den Statuen gleichzeitig zu sein; er hat eine Menge figürlicher Darstellun-
gen , davon aber schon Vieles abgebrochen und unter den xillartisch ge-
worfen ist. Unter demselben Altartische ruht ausserdem auch eine Anzahl
mittelalterlicher Heiligen, aus der Zeit um das Jahr 1500 und handwerk-
lich tüchtig gearbeitet. Natürlich sind sie zumeist verdorben. —

Ein Zweig der deutschen Kunst, der sich in der ersten Hälfte des
sechzehnten Jahrhunderts zur gediegensten Vollendung erhob, besteht in
den Portrait - Medaillons, die gewöhnlich in kleiner Dimension ausgeführt,
in Holz und Speckstein geschnitzt und in edelu Metallen abgegossen wur-
den'). Werke dieser Art, wenigstens Metallabgüsse, kommen häufig vor;
selten aber dürften ähnliche und ähnlich werlhvolle Arbeiten in grosser

Residenz umgestaltet und ihm den Namen der „Oderbnrg" gMobeu hatte. Unter
den Schutthaufen der Oderburg ward der Stein-im J. 1680 nervorgeholt und an
seine jetzige Stelle gebracht. ,Der Styl der Sculptur gehört dem Beginn der mo-
dernen Zeit an, doch sind die Nebensachen, besonders das Wappen, an welches
die Figur des Herzogs sich lehnt, mit mehr Glück gearbeitet als die Hauptsachen.
Interessant ist es, aus der Errichtung dieses Denkmals und des oben besproche-
nen Epitaphiums den monumentalen Sinn des Herzogs Barnim's IX., — über-
einstimmend mit den gleichzeitigen Bestrebungen im Fache der historischen
Wissenschaft, — zu erkennen ; dass Barnim zugleich selbst als Bildhauer aiifge-,
treten war und mancherlei Sculpturen nachgelassen hatte , ist bereits bemerkt
worden.

*) Vgl. darüber meine Beschreibung der in der Königl, Kunstkauuner zu
Berlin vorhandenen Kunstsammlung, S. 72, ff.

♦. - V

Kugler, Kl. Scliriflcii. I. 52

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818 Pommersche Kunstgeschiclite.

Dimension sein, wie deren ein Paar in Pommern erhalten sind. Das
eine von diesen ist ein Steinrelief, welches sich an dem alten Fitigel -des
Schlosses von Ueckermünde, über der Thür des Treppenthurmes,
findet. Es hat die Unterschrift: „V. G. G. Philippus I zu Stettin Pomme.
(dann der weitere Titel) MCCCCCXLVI," und stellt die Halhfigur des ge-
nannten Herzogs, reich geharnischt, das Haupt mit einem Barette bedeckt,
vor. Die Arbeit ist durchaus trelflich und steht in der klaren Gemessen-
heit des Styles und der edeln Ausführung dem Vorzüglichsten dieser Gat-
tung wenigstens sehr nahe. Leider ist nur der Schnurrbart des Herzogs
etwas beschädigt. Das Bild ist übrigens noch mit weiteren Zierden um-
geben. Es wird durch eine barocke Umrahmung eingefasst, über der sich,
in kleiner Dimension, das herzogliche Wappen befindet; zwei wilde Män-
ner, in geschweifter Körperstellung und auf gewundenen Hörnern blasend,
stehen zu den Seiten des Wappens; neben diesen, auf den Ecken des
Rahmens sieht man galoppirende Pferdchen, auf denen kleine Satyrn
reiten und auf Hörnern blasen; andre Satyrn endlich stehen zu den Seiten
des Rahmens und stossen ebenfalls in Hörner. AJles dies, wenn auch
phantastisch in der Composition, ist doch sehr sauber ausgeführt.

Nicht minder trefllich, wie das ebengenannte herzogliche Bildniss,
sind sodann zwei grosse Portraitmedaillons, die sich in Stralsund f über
dem Portal des obengenannten Hauses in der Battinmacher-Strasse vom
J. 1568, befinden. Sie stellen einen Mann und eine Frau vor, gegenein-
ander gewandt, und jedes Brustbild von einem kreisrunden Kranze um-
geben. Auch in ihnen tritt ganz die schöne Behandlungsweise der bekann-
teren kleinen Portraitmedaillons der deutschen Kunst hervor. Zwischen
beiden ist ein drittes Relief eingelassen, welches die Anbetung der Könige
vorstellt. Der Styl dieser Arbeit gehört aber der Weise der italienischen
Kunst an; die Motive der Schule Raphaels erscheinen in ihr, und zwar auf
sehr tüchtige und erfreuliche Weise, nachgebildet, üeber dem Thorwege
desselben Hauses sieht man sodann noch zwei Medaillons mit Köpfen;
dies sind jedoch keine Bildnisse, auch stehen sie den ebengenannten, so-
wohl in der Auffassung wie in der Behandlung, bedeutend nach. Sie
erinnern an den Styl des Goltzius.

Hiebei sind sodann auch die Relief-Portraits, gleichfalls grosse Brust-
bilder in Medaillonform, anzuführen, die sich an dem von Herzog Phi-
lipp II. erbauten Nebenflügel des Stettiner Schlosses, über der oben-
genannten Inschrift, befinden. Sie stellen Philipp II. und seinen Bruder,
den Herzog Franz, vor, beide von vorn gesehen, geharnischt, mit blossem
Kopfe und von einer gemeinschaftlichen barocken Umrahmung umfasst.
Auch hier ist die Arbeit noch ganz tüchtig und namentlich das Indivi-
duelle gut hervorgehoben; doch stehen sie, in minder gemessener Haltung
und in geringerem Adel der Ausführung, den vorgenannten Meisterwerken
nach. Die Inschrift hat, wie oben bemerkt, die Jahrzahl 1619. —

Eine bronzene Grabplatte ist diesen Werken zunächst anzureihen. Sie
befindet sich in der Marienkirche zu Anclam, und zwar auf dem
Boden liegend, ungeschützt vor den Fusstritten der darüber Wandelnden.
Ihre Inschrift lautet: Reimer vom Wolde Hoptmann der Empter Klem-
penaw u. Treptaw, gest. Anno 59. 1559. Man sieht darauf, in ganzer
Figur und nicht sonderlich erhabenem Relief, einen ganz geharnischten
Ritter und seine matronenmässig kostümirte Gemahlin dargestellt; die Ar-

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Bildende Kunst. Werke moderner Zeit. 1. Bildniss-Sculptur. 819

beit ist von einfacher Tüchtigkeit. In den Ecken sind die Symbole der
Evangelisten angebracht.

Hier ist denn auch der schicklichste Platz, um eines merkwürdigen,
gleichzeitigen Grabmonumentes von Bronze zu gedenken, obgleich dasselbe
keine Bildnissdarstellung enthält und obgleich es sich entschieden als das
Werk eines nicht-pommerschen Künstlers zu erkennen giebt. Dies ist das
Epitaphium des Herzogs Philipp I. in der Petrikirche zu Wolgast.
Es besteht, der Hauptsache nach, aus mehreren grösseren und kleineren
Inschriften, die durch eine brillante architektonische Umrahmung italieni-
schen Styles, mit zwei Aufsätzen und einem Untersatzstücke, eingefasst
werden; Auf dem Giebel des obersten Aufsatzes steht, als freie Statuette,
ein Christusknabe, auf den Ecken des unteren Aufsatzes zwei Engelsta-
tuetten. Alle der architektonischen Umrahmung angehörigen Flächen und
Füllstücke sind mit reichen Relief-Ornamenten versehen, mit Laubzügen,
Genien, Satyrmasken u. dergl., die ganz in dem mutliwillig genialen Style
der Renaissance und zwar höchst trefflich ausgeführt sind; nur da, wo
sich menschliche Körper von grösserer Dimension zeigen, sieht man eine
mehr handwerksmässige Behandlung. Ausserdem sind noch, das Ornamen-
tistische unterbrechend, die sieben pommerschen Wappenschilde angebracht.
Die Inschrift in den Aufsätzen enthält Namen und Titel des verstorbenen
Herzogs; die im Hauptfelde eine lateinische Elegie auf seinen Tod , in
16 Distichen, von denen das erste lautet:

Et tua te lugens Pomerania moesta requirit
Virtutis studio tuta Philippe tuae.
Auf dem Untersatzbilde liest man: „Decessit Wolgasti anno a natali Christi
M.D.L.X. die Februarii XHII. aetatis suae XLV, Joannes Fridericus Bogis-
laus Ernestus Ludovicus Barnimus Casimirus fratres Pomeraniae duces
fllii patri dilectissimo f. c." Endlich ist unterwärts noch ein Medaillon
angebracht, das den Namen und das Wappen des Verfertigers enthält. Es
hat nämlich die Umschrift: „Wollf Hilger czu Freibergk gos mich," und
die Darstellung eines Wappens mit einem Wolfe, und ebenso einen Wolf
auf dem mit reicher Helmzierde geschmückten Wappenhelme. —

An Grabsteinen mit den Relieffiguren der Verstorbenen, gewöhnlich
Mann und Frau neben einander darstellend, kommt mancherlei vor. Es
scheint, dass auch bei diesen Arbeiten noch in der Regel, bis tief-in das
siebzehnte Jahrhundert hinein, eine naturgemässe Bemalung angewandt
worden sei. Doch sind nicht eben viele von ihnen als künstlerische Werke
zu nennen. Die besten, die ich gesehen, sind die Folgenden, — Zwei
grosse Steine in der Kirche von Grimme, in der Thurmhalle eingemauert,
der eine von ihnen mit der Jahrzahl 1G03. (Die Inschriften sind im Ueb-
rigen nicht mehr ganz leserlich.) Beide sind durch, einander gleichende
architektonische Umrahmungen in vortrefflichem italienischem Style ein-
gefasst; auf dem einen ist das Bild eines ritterlichen Herrn, auf dem an-
dern das einer Dame enthalten. Die Arbeit dieser Figuren ist recht tüch-
tig. Die Umrahmungen sind leider durch die darüber gebaute Orgel-Empore
zum Theil beschädigt; auch sind beide Steine, gleich den Wänden der
Kirche, weiss übertüncht. — Dann findet sich in der Schlosskirche zu
Franzburg ein ziemlich ansehnliches Epitaphium, und zwar des „Andreas
Berglasen s. pommerschen Landrentmeisters auf Wolgast, zu Teschevjtz
erbgesessen," der zu Franzburg im Jahre 1615 gestorben war und dem dies
Denkmal durch seine Gemahlin ,,Clara Rotermundes" gesetzt wurde. Auf

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820 Pommersche Kunstgeschiclite.

w

dem Hauptfelde, in einer barocken Umrahmung, sieht man hier die beiden
Eheleute, lebensgross und naturgemäss bemalt. Beide stehen einfach, aber
ungemein lebenvoll nebeneinander; es ist dem Künstler gelungen, frische
Naivetät mit gemessener Würde (besonders in der männlichen Gestalt) aufs
Glücklichste zu verschmelzen; die Farbe erscheint auch hier'wiederum als
eine, den Totaleindruck wesentlich fördernde Zuthat. Ich möchte das Werk,
das icb für eins der tüchtigsten in seiner Art halte, etwa mit den Porträt-
bildern eines Pourbus vergleichen. In einem Oberfelde ist die, weniger
genügende Darstellung der Auferstehung Christi enthalten.

Mehrere Denkmale ähnlicher Art, reicher durchgebildet, doch von min-
der edler Behandlung, finden sich in der Kirche des Dorfes Vilmnitz auf
Rügen; sie beziehen sich auf Vorfahren des fürstlich Putbus'schen Hauses.
Auf dem einen dieser Monumente ist Ludwig, Baron zu Putbus, gest. 1594,
in Lebensgrösse und voller Rüstung dargestellt; er steht etwas steif, frei
ausgearbeitet in der Mitte: umher ist eine reiche architektonische Umrah-
mung barocken Styles angeordnet, die mit vier kleineren, ziemlich manie-
rirten Kriegerfiguren und mit andern figürlichen Ornamenten geschmückt
ist. Diesem Monumente gegenüber ist das der Getnahlin des Baron Lud-
wig, der Anna Maria, Gräfin von Hohenstein, gest. 1595; dasselbe ist von
ganz ähnlicher Einrichtung, nur sind dabei, statt jener vier Krieger, vier
weibliche allegorische Figuren angebracht. ~ Zwei andre Monumente be-
ziehen sich auf Erdmanu, Dynasten von Putbus, gest. 1602, und dessen
Gemahlin, Sabina Hedwig, Gräfin von Eberstein, gest. 1631. In diesen ist
der Styl der vorgenannten so sorgfältig nachgeahmt, dass man sie, dem
blossen Augenscheine folgend, als derselben Periode angeliörig beurtheilen
würde; doch besagt ihre Unterschrift, dass sie erst im Jahre 1727 durch
Moritz Ulrich, Dynasten von Putbus, errichtet worden sind, — gewiss ein
höchst seltenes Beispiel, da so täuschende Nachahmungen im Allgemeinen
erst der Kunstgelehrsamkeit unserer Ta^e (wie den kunstgelehrten letzten
Jahrhunderten der antiken Zeit) eigenthümlich sind. Die sämmtlichen
Monumente sind in neuerer Zeit grau überstrichen. — Der Altar der Kirche,
der in gleicher Art, in ähnlich barocker Architektur und mit einigen figür-
lichen Darstellungen ähnlichen Styles ausgeführt ist, bewahrt noch seine
ursprüngliche Farbe und Vergoldung. Er hat die Jahrzahl 1603, durch
die es zugleich bezeugt wird, dass nicht etwa auch die ersten beiden Mo-
numente aus späterer Zeit herrühren. (Uebrigens ist der Altar keinesweges,
wie man in Reisebeschreibungen von Rügen liest, aus Einem Sandsteine
gemeisselt, was als eine überflüssige Caprice erscheinen würde, sondern
aus mehreren Steinen zusammengesetzt.) — Ausserdem befinden sich in
der Kirche noch ein Paar mächtige Sarkophage, die, ^etwa der Mitte des
vorigen Jahrhunderts augehörig, auch das Gepräge dieser späteren Zeit
tragen. \

Endlich ist noch ein Grabstein vom J. 16ä4 anzuführen, der sich in
der Nikolaikirche zu Stralsund, und zwar in einer Kapelle auf der
Südseite der Kirche, befindet. Auf ihm ist, in der gewöhnlichen Relief-
manier, der „General-Commandeur der königlich schwedischen Armee in
Schlesien, Jacob Mack Duwal," und seine Gemahlin, Anna von Berg, dar-
gestellt; beide Figuren in guter Charakteristik, doch ohne einen höheren
künstlerischen Werth. An der Wand über dem Grabsteine sieht man das
Epitaphium der genannten Eheleute, eine reich barocke Architektur mit
verschiedenen bildlichen Darstellungen, zum Theil in Alabaster; recht

iHibi.

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Bildende Kunst. Werke moderner Zeit, 2. Gemälde. 821

lebendig erscheint unter die&en die nochmalige Darstellung der beiden
Eheleute, mit ihren Kindern, sämmtliclie Figuren knieend. Dies Epitaphium
gehört indess bereits einem Kreise eigenthümlicher Kunstwerke an, welche
die Zeit des siebzehnten Jahrhunderts charakterisiren, und von denen wei-
ter unten die Rede sein wird.

2. G e m cä 1 d e.

Den, im Vorigen besprochenen plastischen Bildnissdarstellungen reihen
sich sodann die gemalten Portraits dieser Zeit an. Es ist von solchen wohl
Mancherlei vorhanden, doch wüsste ich nicht eben Vieles von eigentlich
künstlerischer Bedeutung namhaft zu machen, so wichtig natürlich auch in
anderer Beziehung die Bildnisse historischer Personen sind. Die merkwür-
digsten unter diesen Portraitgemälden sind ohne Zweifel die Reihenfolgen
von Bildnissen pommerscher Herzoge, von denen eine grössere Reihe sich
im Rathhause zu Stralsund, eine kleinere im Rathhause zu Au-
el am vorfindet. Die ersteren scheinen mir nur den Wertli etwas handfer-
tiger, doch keineswegs charakterloser Copien zu haben;'so auch ein Theil
der zweiten Folge, unter denen sich indess mehrere durch eine lebendigere,
selbst edle Auffassung vortheilhaft auszeichnen. . Beiden Reihenfolgen
schliessen sich sodann noch einzelne Bildnisse von Personen des herzog-
lichen Hauses an. So finden sich in der Schlosskirche zu Stettin drei
Darstellungen herzoglicher Leichen auf dem Paradebette, die eine lebens-
gross und in ganzer Figur (vermuthlich Philipp II.), eine andere lebens-
gross und in halber Figur, eine dritte klein und in ganzer Figur (Georg III),
die beiden letzteren gut gemalt. So ist ferner in der Kirche zu Barth ein
leidlich gemaltes Brustbild Herzog Bogislav.'s XIll. vor])anden. Daliin ge-
hören ferner die Bildnisse des Herzogs Johann Friedrich und seiner Ge-
mahlin Erdmuth auf dem, mit der Jahrzahl 1602 bezeichneten Altar der
Schlosskirche zu Stolp, bei denen freilich wiederum der historische
Werth den Kunstwerth überwiegt. Auch noch ein anderes Portrait einer
fürstlichen Dame findet sich in derselben Kirche. — Wie interessant und
wie fördersam für die Theilnalime an der Geschichte des Vaterlandes
müsste es sein, wenn man aus diesen Gegenständen Eine historische Gallerie
bilden und damit vielleicht auch Abgüsse der bezüglichen plastischeji
Bildnisse verejnigen könnte ! — '

Von anderweitigen Werken der Malerei ist wiederum auch für diese
Zeit nicht gar viel zu berichten; doch finden sich wenigstens einige Ar-
beiten vor, die immerhin einer nähereu Beachtung würdig sind. Unter
diesen nenne ich zunächst das Altarblatt in der Nikolaikirchc zu
Greiffenhagen, das ein, aus mehreren Abtheilungen zusammengesetztes
Werk bildet. Auf dem grossen und ziemlich figurenreichen Mittelbilde
sieht man die Kreuzigung Christi dargestellt; auf einem oberen Aufsätze
die Gestalt' eines Gott-Vater, dessen Arme (im Style des Michelangelo
und Raphael) von Genien getragen werden und den noch andre Genien
umgeben; auf einem Untersatzbilde ist das Abendmahl enthalten. Die
Flügel haben ein jeder drei Vorstellungen, von denen die einander gegen-
überstehenden sich auf einander beziehen; es .sind: die Verkündigung und

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Pommersche Kuustgeschichte.

822

die Anbetung der Hirten, die Auferstehung und die Himmelfahrt Christi,
die Taufe CJiristi und eine andere Taufe als Vorgang aus dem gewöhn-
lichen Leben. Der Maler hat sich selbst genannt, in einer Inschrift, die
sich auf dem Mittelbilde, am Fusse des Kreuzesstammes befindet; sie lau-
tet: „Anno 1580 Den 27. April ist dis werck Vollendet durch Dauid Red-
tel Maler." (Durch Friedeborn *) wissen wir, dass dieser Meiker in Stet-
tin ansässig war und daselbst im Jahre 1591 starb.) Redtel erscheint als
ein Künstler, der ungefähr mit seinen deutschen Zeit- und Kunstgenossen
auf gleicher Stufe steht; als ein Nachahmer der römischen und florentini-
scheh Schule, der sich, wenn auch ohne eigne bedeutendere Tiefe, doch
in den Formen jener Schuleii mehrfach mit Glück bewegt. Das Interes-
santeste an dem ganzen Werke ist unstreitig die zuletzt genannte Taufe,
in welcher der Künstler unmittelbar auf die Formen der Natur hingewiesen
war und in welcher er einen erfreulichen, kräftig lebendigen Sinn für die
Erscheinungen des Lebens ausspricht. Diese Scene ist ganz portraitmässig
behandelt. Die Leute stehen ehrbar und tüchtig da; ein Prediger hält den
eingewindelten Täufling über dem Taufsteine, zwei Männer und eine züch-
tige Frau stehen hinter demselben; im Hintergrunde sieht man noch ein
Paar Zuschauer. " '

Sodann sind mehrere Gemälde in der Schlosskirche zu Stettin
anzuführen. Die scheinbar ältesten unter diesen sind die kleinen Gemälde,
mit denen die Kanzelbriistung verziert ist. Die Kanzel selbst gehört der
Zeit um den Anfang des vorigen Jahrhunderts an, die Bilder aber sind
offenbar älter und dürften vielleicht der Mitte des sechzehnten Jahrhun-
derts zuzuschreiben sein. Sie stellen biblische Scenen dar; einige von
ihnen verrathen eine Nachahmung Granach's, andre eine Nachahmung Ra-
phaels. Die,letzteren bewegen sich mit grossem Glück in den Formen und
Motiven, welche die Schule dieses grossen Meisters charakterisiren; sie
würden ohne Zweifel ein sehr lebendiges Interesse in Anspruch nehmen,
Avären sie nicht leider sämmtlich stark übermalt.

Das Altarblatt der Schlosskirche ist wiederum ein grosses "Werk; es
besteht aus einem grossen Hauptbilde, dem sich zwiefache Flügelbilder an-
schliessen. Das Hauptbild enthält in einer figurenreichen Composition eine
Anbetung der Könige; auf den inneren Seiten des ersten Flügelpaares ist
die Kreuzigung und Auferstehung Christi dargestellt. Diese drei Gemälde
sind aber ebenfalls so stark und in so wenig günstiger Weise übermalt,
dass sich nichts Sonderliches über ihren ursprünglichen Kunstwerth sagen
lässt; einer der Könige im Mittelbilde dürfte als das Portrait eines pom-
merschen Herzoges zu betrachten sein. Schliesst man die Flügelbilder, so
sieht man auf ihren Aussenseiten den verkündigenden Engel und die hei-
lige Jungfrau dargestellt und auf einem zweiten Flügelpaare die Geburt
Christi und den Besuch der Maria bei der Elisabeth. Die Reihe dieser
äusseren Gemälde ist zwar mehrfach beschädigt, doch glückliclier Weise
von der verschlimmbessernden Hand des neueren Restaurators befreit geblie-
ben. Als Meisterwerke ersten Ranges möchte ich sie zwar keineswegs be-
zeichnen , doch haben sie viel Treffliches, in der AVeise jener weicheren,
farbenreichen Meister, die gegen das Ende
des sechzehnten Jahrhunderts
zu Rom auftraten; einige zarte Köpfe, namentlich den sehr anmuthigen der
Madonna in der Verkündigung, möchte ich einem Baroccio nahe stellen.

Hist. Beschreibung etc. III, Anhang: „1591, 7. Nov. Dauid Rettel, ein
Mahler cum conjuge et fllia innerhalb !2 Stauden gestorben," .

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Bildende Kunst. Werke rooderner Zeit. 3, Altäre, Kanzeln etc. 823

An der rechten Seitenwand des Altares hängt eine Darstellung des
Abendmahles in lebensgrossen Halbfiguren; es ist ein sehr tüchtiges und
wohlgruppirtes Bild im Charakter des G. Honfhorst; auch ist es (was bei
Honthorst wenigstens selten der Fall ist) edel durchgehalten. Leider hängt
das Bild zu hoch, als dass sich Näheres darüber sagen liesse. — Diesem
Bilde gegenüber hängt ein kleines längliches Bild von namhaftem Kunst-
werth und von nicht geringerem Interesse hinsichtlich des Gegenstandes.
Es stellt den Empfang Herzog Bogislav's X. in Venedig, nach seiner Rück-
kehr aus dem gelobten Lande, dar. Violett gekleidet, von einem Kardi-
nal und dem Dogen geführt, ist der Herzog eben im Begriff, die prächtige
Gondel, die ihn an's Ufer geführt, zu verlassen und die Brücke, welche die
Gondel mit dem Ufer verbindet, zu besteigen, während sich ihm der
Patriarch, von Geistlichen umgeben, nähert. Am Ufer sieht man Triumph-
pforten und andere Gebäude. Dabei ist viel zuschauendes Volk, von dem
ein Theil knieet. Im Vorgrunde sind Gondeln, eine mit Musikern an-
gefüllt. Das Bild ist eine sehr tüchtige, leicht und geistreich gemalte
Skizze von der Hand eines Venetianers aus der späteren Zeit des sech-
zehnten Jahrhunderts, vielleicht von Tintoretto (ohne Zweifel auf Jgestel-
lung eines der Nachkommen Bogislav's X. gefertigt). Leider hängt aber
auch dies doppelt merkwürdige Werk im höchsten Grade ungünstig; es
hat eine so hohe Stellung und dabei ein so mannigfach spiegelndes Licht
dass man von unten aus Nichts davon erkennt; und auch wenn man sich
ein besonderes Gerüst zu diesem Behufe aufbaut, sieht man das Bild nur
mangelhaft.

"Was sich sonst von Malereien in pommerschen Kirchen vorfindet (wie
z. B. in der Marienkirche zu Rügenwalde und in der Nikolai-
kirche zu Greifswald Mehreres aus dieser Zeit vorhanden ist) hat
wenig selbständigen Werth. Einige bemerkenswerthe Malereien, die an
zusammengesetzten Werken vorkommen, werden im Folgenden augeführt
werden.

3, Altäre, Kanzeln, Epitaphien.

Ich wende mich nunmehr zu einem, in seiner Art ganz eigenthümlichen
und wiederum in mehrfacher Beziehung merkwürdigen Werke aus dem
Anfange des siebzehnten Jahrhunderts. Dies ist der Altar in der Marien-
kirche zu Rügenwalde, der aus der dortigen Schlosskirche herstammt.
Er besteht aus einer sehr sauber und sehr tüchtig gearbeiteten Barock-
Architektur von Ebenholz, die mit einer bedeutenden Anzahl kleiner, in
Silber getriebener Reliefs geschmückt ist. Die grosste dieser Silberplatten
befindet sich in dem pyramidalen Aufsatze des Altares; sie misst 11 Ya Zoll
in der Höhe und 8 Zoll in der Breite, und stellt den König David dar,
zur Harfe singend, umgeben von einem Reigen tanzender Engelkriaben:
oberwärts, in der Luft, di'e heilige Cäcilie mit singenden und musicirenden
Engeln. "Der Haupttheil des Altares, zwischen den Säulen, die seine Ar-
chitektur bilden, wird durch eine grosse Gruppe silberner Platten ausge-
füllt. In der Mitte, OVa Zoll hoch und 7 Zoll'breit , ist die Anbetung der
Könige, in einer sehr flgurenreichen Composition, enthalten; dies Stück

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Pommerscbe Kiinstgescbichte.

824

hat seinen besonderen silbernen Rahmen , auf dem man Engel mit den
Marter-Instrumenten, Seraphköpfe, und in den Ecken Medaillons mit der
Halbfigur des leidenden Erlösers (in verschiedenen Momenten aufgefasst)
dargestellt sieht. Um dies Mittelfeld sind zwölf kleinere Platten, jede von
7-74 Zoll Höhe und b^j^ Zoll Breite, welche die Passionsgeschichte Christi
enthalten, angeordnet. Eine andere Reihenfolge silberner Reliefs ist am
Basament der Altar-Architektur enthalten. In der Mitte, 6V4 Zoll hoch
und 7V4 Zoll breit, sieht man hier die Taufe Christi, eine Composition, die
sich durch reiche landschaftliche Umgebung auszeichnet. Auf jeder ihrer
Seiten sind sechs kleine Platten, 4 Zoll hoch und 2V2 Zoll breit, welche
die Bilder der Apostel enthalten, angebracht. Auch an dem Postament
einer jeden der beiden Säulen des Altares sieht man ein kleines Relief)
diese mit allegorischen Figuren. Endlich finden sich auf den hölzernen
Rahmstücken zwischen den verschiedenen Silberplatten noch allerlei kleine
silberne, zum Theil vergoldete Zierden, Knöpfchen, Engelsköpfchen u. dgl. m.
— Die blosse Aufzählung dieser mannigfachen Darstellungen in Bezug auf
ihre gegenseitige Stellung ergiebt zuvörderst freilich, dass hier von einer
grösseren Tiefe des Gedankens, von einer innerlich belebten, organisch
entwickelten Composition nicht die Rede ist, wie solche in den besseren
Altarwerken des Mittelalters (ich will gar nicht einmal an den Altar von
Tribsees erinnern) stets gefunden wird; die dargestellten Gegenstände ge-
hören zwar sämmtlich in den Bereich der christlichen Anschauungen, aber
sie sind im Ganzen, was den Gedanken anbetrifft, nur ziemlich willktlhrlich
durcheinander gewürfelt. Dasselbe zeigt sich in Rücksicht auf den künst-
lerischen Styl dieser Darstellungen; auch in ihnen spricht sich eine ver-
schiedenartig charakteristische, nicht übereinstimmende Auffassungsweise
aus. Sie sind augenscheinlich nach Compositionen verschiedener Meister
gearbeitet. Die zwölf Platten mit der Passionsgeschichte Christi sind nach
den von Goltzius erfundenen und gestochenen Blättern der Passion (in
denen sich dieser Meister bekanntlich der Weise der altdeutschen Künstler
mit Glück annähert) gefertigt; auch bei andern mögen Goltzius'sche Vor-
bilder ~ doch solche, in denen er italienische Manieren befolgt, — vor-
gelegen haben; andre aber sind ganz abweichend und das Hauptstück, die
Anbetung der Könige, kann man nur als eine mittelmässige Composition
modernen Styles bezeichnen. Dennoch aber tritt bei alledem ein Ele-
ment hervor, welches dem ganzen Werke wiederum seine eigenthümliche
künstlerische Bedeutung giebt. Ich möchte dieses Element als das deko-
rative benennen. Die Eleganz, die Sauberkeit, die Solidität des Handwer-
kes, das seine Formen zwar von der ausgebildeten Kunst — je nachdem
es ihm eben passend scheint — borgt, das diese Formen an sich aber mit
Sinn und Verständniss meisterhaft auszuführen weiss, dies ist es, was den
Altar von Rügenwalde eigenthümlich interessant macht, und was für die
gesammte Kunst um den Anfang des siebzehnten Jahrhunderts so mannig-
fach charakteristisch erscheint. Die soliden Prachtstofl'e des Ebenholzes
und des Silbers; die vorzügliche Behandlung des ersteren, das noch heute
wie neu erscheint; die höchste Feinheit und Zartheit, sowie der durchge-
bildete Geschmack, mit welchem die getriebene Arbeit an den einzelnen
Silberplatten ausgeführt ist, alles dies ist schon einer näheren Beachtung
Werth.

Der Silberarbeiter, dei» die Platten des Altares, wenigstens die der
Passion, gefertigt, hat auf den letzteren die Andeutung seines Namens hin-

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Bildende Kunst. Werke rooderner Zeit. 3, Altäre, Kanzeln etc. 825

terlassen. Auf mehreren nemlich finden sich die Buchstaben: J K F, auf
einigen auch die nähere Bezeichnung: J. Kor. F. Dies ist Johannes
Körver, (das F heisst, wie gewöhnlich, fecit), von dem Friedeborn (im
Anhange) berichtet, dass er im December 1607 zu Stettin gestorben sei,
und über den er die folgende Notiz giebt: „Johannes Körver, filius Herrn
Francisci Körvers, Bürgermeisters zu Braunschweig, ein Aussbündiger
Goldtschmidt, welchen vnser Gnädigster Fürst vnd Herr Hertzog Philipss
(IL) zu dem ende verschrieben, das er Historiam Passionis Christi aufF
getriebene Art verfertigen sollen." Brüggemann ') bestätigt es, dass dieser
Künstler die Silberarbeiten für dem Rügeriwalder Altar und zwar „nach den
ihm vom Herzöge Philipp IL vorgelegten Kupferstichen," verfertigt liabe
und über der Arbeit gestorben sei. Auch Hainhofer scheint von diesen
Arbeiten zu sprechen, indem er erzählt, dass man ihm am Hofe zu Stettin
„des Huberti Goltzii edirte zwölf Passions-Stücklen in Silber getrieben"
vorgezeigt habe. Dass man auf der ersten Platte der Passionsgeschichte,
auf der Darstellung des Abendmahles, ausser den genannten drei Buch-
staben auch die Jahrzahl 1616 findet, ist kein Widerspruch gegen den
Namen des, im J. 1607 gestorbenen Körver; denn jene Buchstaben sind
erhöht gearbeitet, die Jahrzahl dagegen ist vertieft eingravirt, so dass sie
füglich später liinzugesetzt sein kann. Auf einer Platte finden sich ausser-
dem auch die etwas roher gehaltenen Buchstaben Z. L. F., die vielleicht
auf den Vollender der Arbeiten zu deuten sind. Wann aber die Platten
zu dem Altare zusammengesetzt sind (spät kann dies nicht geschehen sein,
da die Holzarbeit zu trefflich ist), wann und unter welchen Verhältnissen
der AKar nach Rügenwalde gekommen, dies weiss ich nicht zu sagen.

Der Altar steht in festem Verschluss in einem hölzernen schwarzen
Schreine, der mit seiner Beschaffung gleichzeitig ist. Die Flügel des
Schreines sind aussen und innen bemalt, doch so, dass sie zu den Arbei-
ten des Altares in Harmonie stehen. An den inneren Seiten der Flügel
sieht man die heilige Jungfrau Maria und die heilige Elisabeth von Thü-'
ringen dargestellt, mit versilberten Gewändern, das Nackte naturgemäss be-
malt; im Styl sind diese beiden Figuren unbedeutend, doch sind ihre Köpfe
ansprechend, fast porträtartig, behandelt. Die Darstellungen auf den Aus-
senseiten der Flügel sind grau in grau: die Verkündigung und die Geburt
Christi, nebst den Brustbildern der vier Evangelisten. In diesen Malereien
spricht sich eine tüchtige Auffassung des Goltzius'schen Styles aus, nament-
lich sind die genannten Brustbilder recht gut.

Für die pommersche Geschichte, in allgemeinerer Beziehung, hat der
Rügenwalder Altar insofern einen eigenthümlichen Werth, als aus den
mitgetheilten Nachrichten hervorgeht, dass er auf den speziellen Betrieb
Herzog Philipps II. gefertigt ist. Er ist das bedeutendste Denkmal der
Kunstliebe Philipps, welches Pommern verblieben ist, und er giebt einen
sprechenden Beleg für den heitern, anmuthigen, zierlichen, freilich aber
auch spielenden Charakter der Kunstliebe dieses so liebenswerthen Fürsten.
Hier ist denn auch wohl der Ort, an andre Kunstwerke zu erinnern, welche
den Hof Philipp's schmückten. Als erhalten wüsste ich nur Eins zu nen-
nen, ein Werk, das ein sehr vielseitiges Interesse gewährt und das dem
Altar von Rügenwalde ziemlich nahe steht: den sogenannten pommerschen

Beschreibung von Pommern, IL, S. 819. — Reise-Tagebucli vom Jahr
1617, S. 2«.

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826 Pommersche Kunstgeschiclite.

i.i.i n.wp"iiivi

Kunstschrank in der Königlichen Kunstkammer zu Berlin. Auch hier ist
die Hauptarbeit von edlem Holze, auch hier eine Menge silberner Zierden
angewandt, ausserdem aber entfaltet sich daran eine ganze kleine Kunst-
welt, sowohl in den weiteren Ausschmückungen, als in der Gestaltung all
der tausend Dinge, die der Schrank in sich einschliesstEs ist der
reichste und geschmackvollste aller Kunstschränke, welche zu jener Meister-
zeit des Kunsthandwerkes in Deutschland entstanden sind. Philipp Hain-
'' hofer, Patrizier von Augsburg, hatte ihn im Auftrage Philipps, von Augs-

burger Künstlern und Handwerkern fertigen lassen, und überbrachte ihn,
nebst einem zweiten, ähnlich reichen Werke, im J. 1617 nach Stettin. Dies
war ein sogenannter „Meierhof," eip kleines Modell eines Schlosses, mit
allen dazu gehörigen Gebäulichkeiten und Nebenräumen, mit der sämmt-
lichen inneren Eintheilung, mit allem Geräth, das zu den verschiedenen
Lebensbedürfnissen gehört, mit den Figuren sämmtlicher Bewohner und
mit allem Gethier, was dabei erforderlich ist; im Garten des Schlösschens
trieben Wasserkünste ihr Spiel und liessen Vögel ihren Lockruf erschallen.
Dies zierliche Werk ist verschwunden, und man kennt es nur noch aus
der Beschreibung, welche Hainhofer seiner handschriftlichen Erläuterung
des Kunstschrankes beigefügt hat — Das Tagebuch, welches Hainhofer
über diese Reise geführt, giebt uns aber auch noch von vielen andern
Kunstgegenständen, die sich im Schlosse des Herzogs zu Stettin befanden,
Bericht. So erzählt er (S. 96) von der Bibliothek des Herzogs, wo an den
Büchergestellen „und auch an den Wenden herum gemahlte Tafeln von
allerhand gueten Maistern lainen, auf den Tischen klain gemahlte Täfelen
Hauflfenweiss ob ainander ligen, auf den Benkhen und auf der Erden aller-
hand vasa et statue di marmo e di brunzo stehen, in den Daten, an den
Wenden, runde und di basso rilevo possierte, in Holz geschnittene, glä-
serne und andere subtile Sachen lainen und hangen." (Diese Sachen
zweckmässiger zu ordnen, habe der Herzog den oben genannten, zur Kunst-
kammer und Bibliothek bestimmten Nebenflügel des Schlosses aufführen
lassen.) So berichtet Hainhofer ferner von den grossen Reihefolgen fürst-
licher Bildnisse, die in verschiedenen Räumen des Schlosses hingen, von
andern Gemälden (als deren Meister mehrfach L Cranach genannt wird),
von den grossen und mannigfaltigen Sammlungen von Handzeichnungen,
die der Herzog besessen, und von seinem interessanten Stammbuche; von
den Sammlungen der Münzen und Medaillen (antiker und moderner); von
den verschiedenartigen Prachtgeräthen, namentlich silbernen und gläsernen
(die letzteren in Stettin gearbeitet); von der Menge zierlichen Kunstgerä-
thes im Kabinet der Herzogin; von dem kunstvollen Spinnrade, das ihm
die Herzogin zum Geschenk für seine Hausfrau verehrt: „darinnen ein
Glöglen-Werkh, das weil man spünnet, Psalmen nach des Lobwassers Me-
lodey spület, und man es zehn mahl verkheren khan, zu Stettin gemacht,"
(S. 36); von dem
„Castrum doloris Imperatoris Rudolphi glorios: memoriae
von Glasswerkh gemacht, an dem die ganze procession von gläsernen Büld-
len umbgehet; unden im Fuss ein Music-Werkh spület; auf 4 Ecken in den
Thüren das Leben Christi und virtutes spirituales et morales mit Spiegeln
und brinnenden Lichtlen besteckt, darmit alles vilfältig erscheine, zu sehen

Vgl. meine Beschreibung der in der König!. Kunstkammer zu Berlin vorh.
Kunstsamml. , S. 178 — 201; und den Anhang zu Hainhofers Reisetagebuch
(Balt. Stud. II, 2, S. 161.) — Abgedruckt in meiner vorgenannten Beschrei-
bmig, S. 291, ff.

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Bildende Kunst. Werke rooderner Zeit. 3, Altäre, Kanzeln etc. 827

ist," (gearbeitet von einem Mailänder, der sich schon etliche Jahre am
Hofe zu Stettin aufgehalten, — S. 41.) u s. w. — So kindlich heiter, so
fröhlich, so zierlich sah es im J. 1617 am Hofe zu Stettin aus. Und kaum
waren zwanzig Jahre verflossen, so war das Haus verödet, das edle Ge-
schlecht der Greifen zu Grabe getragen, und alles Elend des Krieges lag
auf dem verwaiseten Lande !

Ungefähr gleichzeitig mit dem Altar von Rügenwalde ist sodann noch
eine Reihe andrer Gegenstände, an denen ähnlich wie an diesem Altare,
wie am pommerschen Kunstschranke, au dem Meierhofe, an dem ebenge-
nannten Castrum doloris, das Element einer dekorativ spiielenden Kunst
hervortritt. Dies sind verschiedene Kanzeln, Altäre und Epitaphien, zu-
meist aus Holz gearbeitet, in architektonischen und bildnerischen Formen
ausgeschnitzt, grösstentheils mit bunter Bemalung versehen und*insgemein
so angeordnet, dass plastische oder gemalte Werke als der eigentliche Kern
des reich zusammengesetzten Ganzen erscheinen. Rücksichtlich des Zu-
sammenwirkens der verschiedenen Gattungen der Kunst zum gemeinschaft-
lichen Zwecke könnte man diese Arbeiten etwa mit den Altarschnitzwer-
ken der früheren Zeit vergleichen; und in der That finden sich einige
unter ihnen, die die Compositionsweise jener Schnitzaltäre wiederum auf-
nehmen und sich somit als eine, wenn auch nur untergeordnete Fortsetzung
jener bedeutsamen Werke ankündigen.

Ich nenne zuerst eins der elegantesten Praclitvi^erke dieser Art:* die
Kanzel in der Gertrudskirche bei Rügenwalde, die, gleich dem
vorbesprochenen Altar, aus der dortigen Schlosskirche herstammt. Sie ist
nicht eben gross, besteht aber aus einer äusserst brillanten Barock-
Architektur, die mit einem bunt geordneten Gewühl geschnitzter Ornamente,
mit Schnörkeln, Ranken, Masken, Hermen, Genien und Nymphen umgeben
ist. Alles dies ist mit fröhlichen Farben bemalt und vergoldet. "Von kirch-
lich religiösen Elementen ist hiebei natürlich nicht die Rede; aber die
joviale Laune, die sich darin ausdrückt, ist mit Glück und, in Rücksicht
auf die dekorativen Verhältnisse, nicht ohne feinen Geschmack ausgeführt.
An der Brüstung der Treppe sind die Figuren der Propheten gemalt, in
denen zwar ebenfalls nicht der tiefsinnige Ernst der früheren Zeit, wohl
aber ebenfalls ein glücklicher Sinn für künstlerische Dekoration und für
eine heitere Färbung ausgesprochen ist. Ich möchte diese Werke etwa den
Bildern des Augsburger Malers Anton Mozart parallel stellen.

In der Marienkirche zu Schlawe ist ein grosser Altar vorhanden,
dessen reiche Zierden den der ebengenannten Kanzel ziemlich nahe
stehen, doch in minder feinem Geschmack ausgeführt sind. Sie schliessen
ein Gemälde, das-Abendmahl vorstellend, und als Untersatzbild eine Dar-
stellung der Fusswaschung ein. Diese beiden Bilder sind als Nachtstücke
gehalten und auf ganz energische Weise gemalt. ■— Die alte Taufe, in der-
selben Kirche, ist eine brillante kleine Holzarchitektur ähnlichen Styles,
bestimmt, das Taufbecken einzuschliessen.

Mehrere Werke solcher Art bewahrt die Marienkirche zu Stolp.
Dahin gehört namentlich die Kanzel, die wiederum mit der von Rügen-
walde zu vergleichen sein dürfte, aber ebenso einen minder ausgebildeten

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828 Pommersche Kunstgeschiclite.

Geschmack bekundet. Sie besteht aus einer brillauteu Architektur uiul
namentlich der Deckel ist in solcher Art sehr reich geschmückt; dann hat
sie in den Brüstungsfeldern allerlei geschnitzte Hautreliefs, die aber nur
ganz s[)ielend behandelt sind. An der Kanzel selbst findet sich die Be-
zeichnung des Jahres 1609: auch wird erzählt, sie sei von der Gilde dei'
Bernsteinarbeiter (die früher bekanntlich in Stolp sehr anselmlich war) ge-
stiftet und in Venedig gearbeitet worden. Die letztere Angabe dürfte in-
dess sehr zu bezM'eifeln sein. — In ähnlichem Style, doch roher gearbeitet,
ist der Altar der Kirche. — Dann sind auch verschiedene, zum Theil be-
trächtlich grosse Epitaphien derselben Art vorhanden. Das interessanteste
unter diesen ist ein Epitaphium vom J. 1607, welches sich an der Ostwand
des nördlichen Seitenschiffes befindet und eine grosse Architektur mit aller-
lei geschnitzten und gemalten Darstellungen bildet. In der Mitte, auf
einem Sarkophage, ist die Figur des Begrabenen, eines jungen Ritters, dar-
gestellt. Die Malereien, die zum Theil beschädigt sind, tragen ganz das
Gepräge des, zwar nüchternen, aber auch manierlosen deutschen Styles
jener Zeit (ähnlich etwa, wie die Werke des schon genannten A.Mozart);
besonders charakteristisch ist in dieser Beziehung das Hauptbild des Epi-
taphiums, welches die Geisselung Christi vorstellt.

Hieher gehört auch der Altar in der Schlosskirche zu Stolp.
Doch hat derselbe wenig künstlerisches Interesse. Er besteht aus einer
schweren und nüchternen Barock-Architektur mit der Jahrzahl 1602. Sei-
nen Hauptschmuck bilden zwei Gemälde. Oberwärts eine Auferstehung
Christi, ein schlecht nianieristisches Bild; unterwärts eine Darstellung des
gekreuzigten Heilandes, zu dessen Seiten Herzog Johann Friedrich und seine
Gemahlin Erdmuth knieen. Die beiden letzteren sind, wie dies sclion oben
bemerkt wurde, w^enigstens als Portraitbilder von Bedeutung.

Diesen Dekorationsstücken hinterpommerscher Kirchen sind mehrere
Arbeiten, Kanzeln, Epitaphien u. dgl. verwandt, die sich in Vorpommern,
in der Petrikirche zu Treptow a. d. T. und in der Marienkirche
zu A]iclara, vorfinden. Doch erscheinen die letzteren schon als di(; Er-
zeugnisse einer wilden, ausschweifenden und unschönen Pliantasie. —-

Ein recht tüchtiges Werk dagegen ist die Kanzel in der Nikolai-
kirche zu Greiffenliage n, die mit der Jahrzahl 1605 versehen ist. Sie
besteht, ausnahmsweise, ganz aus Stein (Sandstein), ist einfacher gehalten,
und ihre Hauptzierde bilden die Reliefdarstellungen biblisclier Scenen, die
an der Brüstung und an der Treppe angebracht sind. Unter diesen finden
sich mehrfach die Motive raphaelischer Compositionen: in der Darstellung
des Sündenfalles, der Vertreibung aus dem Paradiese, der Opferung Isaacs,
u. s. w. In der Behandlung spricht sich ein guter Sinn, auch ein frisches
Naturgefühl aus. Der Gewandung fehlt es leider an plastischem Styl. A\icli
hier ist übrigens wiederum eine naturgemässe Färbung angewandt. —

Eigenthümlich brillante Kanzeln, die an künstlerischem Werth der eben-
genannten aber wiederum nicht gleich kommen, finden siqh in Stralsund.
Die bedeutendste unter diesen ist die in der Nikolaikirche. Sie ist in
reich barockem Siyle aufgebaut, ihr Deckel schwerfällig emporgetliürnit.
Viele figürliche Jlarstellungen sind dabei angebracht, unter denen sich be-
sonders die au den Brüstungen der Kanzel auszeichnen. Dies sind sehr
fein gearbeitete Alabaster-Reliefs mit Goldzierden, deren Styl aber einen
stark manieristisclien Charakter hat. — Aehnlich, ebenfalls mit Alabaster-
Reliefs, ist die Kanzel der J ak o b i ki iche. — Aehnlich auch ist die der

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Bildende Kunst. Werke rooderner Zeit. 3, Altäre, Kanzeln etc. 829

lieil. Geistkivche, bei der aber die Reliefs an der Brüstung aus Holz
geschnitzt sind. '

Diesen Kanzeln reihen sich einige Epitaphien an. Eins der Art, von
Stein gearbeitet, findet sich in der Marienkirche zu Greifswald, an
einem Pfeiler des südlichen Seitenschifl'es. Es hat die Jahrzahl 1615 nnd
enthält eine Reliefdarstellung der Auferstehung Christi in einer guten Be-
handlung des dekorativen Styles Jener Zeit. — Ein sehr brillantes Epita-
phium ist in der Nikolaikirche zu Stralsund zu bemerken. Es ist
dem M. Zacharias Rotman (gest. 1673) gesetzt und zeigt in den Formen
der architektonischen Theile schon den üebergang in den Rococostyl, der
zu Ende des siebzehnten Jahrhunderts eintritt. Gleichwohl ist es interes-
sant, in den bildnerischen Darstellungen, die von den Architekturformen
eingeschlossen werden, noch Reminiscenzen an den deutsch mittelalterlichen
Styl wahrzunehmen. Als Hauptdarstellungen sind die Kreuzigung Christi
und die Grablegung zu bemerken; die Figuren sind weiss (aus Stein oder
Stucco) und mit Goldzierden geschmückt. Unterwärts sieht man die in Oel
gemalten und leidlich tüchtig ausgeführten Bildnisse der Familie dos Ver-
storbenen. — Ein Epitaphium in der Thurmhalle der Jakobikirche zu
Stralsund, errichtet im J. 1666, ist durch ein Oelgemälde ausgezeichnet,
welches die Abnahme Christi vom Kreuz, in tüchtiger und geschmack-
voller Behandlung des späteren italienischen Styles, darstellt. —

Der Altar in der Kirche von Barth, eine barocke Architektur mit
mancherlei figürlichen Darstellungen, ist insofern bemerkenswert!!, als seine
Darstellungen sich, in ihrer äusserlicheu Behandlung, den mittelalterlichen
Altarschnitzwerken "anreihen. Doch ist die Anordnung hier eben schon
ganz spielend gehalten, etwa im Charakter der Weihnachtskrippchen, wie
man solche in katholischen Ländern gern aufzubauen pflegt, Die Haupt-
darstellung ist Christus am Oelber^e, darunter das Abendmahl.

Als eine sehr elegante Arbeit des Kunsthandwerkes dieser Zeit ist
endlich die Kanzel der Marienkirche zu Greifswald, die der frühe-
ren Zeit des siebzehnten Jahrhunderts anzugehören scheint, zu nennen.
Sie besteht ganz aus Holz und ist wiederum mit barocken Zierden, wie
die obengenannten ^Kanzeln, mit satyrartigen Hermen und dgl. geschmückt.
Doch haben nur diese Hermen einen farbigen Anstrich; im Uebrigeu ist
das, äusserst zierliche Ornament aus verschiedenfarbigen eingelegten Höl-
zern gearbeitet. Auch die figürlichen (nicht erhabenen) Darstellungen auf
den Brüstungsfeldern sind in derselben "Weise, diese jedoch nicht in gutem
Style, gebildet. Die Thür an der Rückseite der Kanzel ist von geschmack-
vollen Säulen eingeschlossen, deren Ornamente ebenso aus verschiedenfar-
bigem Holze eingelegt sind. Auch ein Brustbild Luthers, über der inneren
Seite dieser Thür, ist in gleicher Weise gearbeitet. — Aehnlich, nur un-
gleich einfacher, ist die Kanzel der Georgenkirche zu Wollin, die
aus braunem Holze, mit allerlei eingelegten Zierrathen von schwarzgebeiz-
tem Holze, besteht. Sie wurde, zufolge einer Inschrift, von den Schiffern
und Fischern der Wolliner Wieck im J. 1659 gestiftet. —

Noch manche Kanzeln, Altäre, Epitaphien u. dgl. finden sich in pom-
merschen Kirchen vor, die in ähnlich reicher Weise, wie die vorgenannten
Arbeiten componirt und jn der letzten Zeit des siebzehnten und im An-
fange des achtzehnten Jahrhunderts ausgefüht sind. Sie haben aber im
Allgemeinen ein zu untergeordnetes Kunst-Interesse, als dass hier eine
nähere Berücksichtigung ihrer Eigenthümlichkeiten nöthig wäre. Charak-

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^lyniyw'W'IUI s" U «IBW-y*—wm^

830 Pommersche Kunstgeschichte.

teristisch ist an ihnen im Allgemeinen ein gewisser stylloser Styl, den mau
neuerlichst mit dem Worte Rococo getauft hat, den die neuere Kunstsprache
auch wohl, je nach der Fülle, Trockenheit oder Fadheit seiner Erscheinung,
als' einen PerrücUen-, Zopf- oder Haarbeutelstyl unterscheidet. Nur die
Sorgfalt des Handw^erkes ist an diesen Arbeiten, besonders an den älteren,
zu beachten. Einen grossen Werth in letzterer Beziehung, — doch auch
in Bezug auf die seltne Erscheinung eines noch gesunden Styles, — haben
die schon obengenannten Gestühle der Jakobikirche zu Stettin, die
der um den Beginn des vorigen Jahrhunderts erfolgten Restauration dieser
Kirche angehören. Es tritt an ihnen eine so kräftige Solidität des Hand-
werkes, eine so gediegene Behandlung, eine so durchaus meisterhafte Si-
cherheit hervor, dass wir auch ihre Erscheinung noch entschieden als eine
Nachwirkung der tüchtigen Institutionen des so oft geschmähten Mittel-
alters betrachten müssen. Trotz aller Kunst- und Gewerkschulen möchte
es der heutigen Zeit sehr schwer werden, ähnliche Handwerksarbeiten zu
liefern, geschweige denn in einer Stadt, die, wie Stettin zu jener Zeit, sich
eben erst nach unsäglichen Leiden aus ihren Ruinen erhob.

Den Beschluss der Kunstdenkmale ans der Vorzeit unsers Vaterlandes
mache ich mit der Betrachtung zweier Monumente, welche sehr wohl ge-
eignet sind, das Ganze auf eine würdige und ernste Weise zu beenden.
Es sind dies die prachtvollen Denkmale, die sich auf die beiden letzten
Sprösslinge des alten Greifengeschlechtes, — auf Anna, die Tochter Herzog
Bogislav's XIII., Herzogin zu Croy und Arschott, gest. 1660, und auf ihren
Sohn, Ernst Boglslav, Herzog zu Croy etc., gest. 1684, — beziehen. Sie
befinden sich in der Schlosskirche zu Stolp und sind beide aus
schwarzem und weissem Marmor (so dass die Massen des Architektonischen
schwarz, das Dekorative und die figürlichen Darstellungen dagegen weiss
erscheinen) gebildet. Ernst Bogislav hat beide Denkmale errichten lassen;
an seinem eignen Denkmale findet sich die Angabe, dass dies Werk, zwei
Jahre vor seinem Tode, im J. 1682, ausgeführt worden sei. Das Monu-
ment der Mutter, an der Wand auf der Nordseite des Altares, besteht aus
einer schweren Barock-Architektur, die von dick gewundenen Säulen mit
korinthischen Kapitalen getragen wird. Zwischen den Säulen ist eine
grosse Inschrifttafel, die von den Lebensverhältnissen und den Tugenden
der Herzogin Kunde giebt. Es heisst darin von ihr: „Pia, prudens, placida,
magnanima, munifica, quae omnium majorum suorum Gryphicae gentis,
qui Pomeraniam quaqua patet ad annos fere DCC regia manu vel ducali
imperio
Semper ut patriae patres moderati snnt, dotes, virtutes, gloriam ut
expressit, aequavit, sie et finiit, domus hujus omnino inclytae eheu!
ultima." Unterhalb sieht mau die Gestalt der Fürstin, in Lebensgrösse,
einfach gerad ausgestreckt, auf dem Lager liegend, die Augen geschlossen,
die Hände über der Brust gefaltet. Diese Arbeit ist schlicht und recht
trefflich, mit gutem Naturgefühl und nicht ohne guten Styl ausgeführt.
Leider nur ist es unpassend und störend, dass jrlie Figur (während das
Denkmal sich an der Höhe der Wand befindet) wie von oben gesehen dar-
gestellt ist, somit eines festen Haltes entbehrt, üeber dem Gebälk des
Monuments ist ein besonderer Aufsatz von barocker Form, an dem meh-

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Bildende Kunst. Werke rooderner Zeit. 3, Altäre, Kanzeln etc. 831

rere Figuren in kleinerem Maassstabe enthalten sind. In der Mitte sieht
man hier die Fürstin noch einmal, wie sie nach beiden Seiten hin/den
Dürftigen spendet. Dieser Theil ist jedoch von minder bedeutender Arbeit.
Zu den Seiten der Säulen ist Eankenwerk angebracht, und darin die in
Oel gemalten Bildnisse der Herzogin und ihres Gemahles. — Auf der Süd-
seite der Kirche, unmittelbar über dem Fussboden, steht das Monument des
Sohnes. Es bildet eine barocke Tabernakel-Architektur, die, statt der
Säulen, von den Statuen zweier wilden Männer mit "Wappenschilden getra-
gen wird. Zwischen ihnen ist, ebenfalls als freie Statue, der Herzog an-
gebracht, vor einem Betpulte mit gefalteten Händen knieend. Im Grunde
des Tabernakels befinden sich mehrere Inschriften. Die Sculptur der bei-
den wilden Männer zeigt eine ziemlich nüchterne Behandlung. Bei der
Figur des Herzogs aber macht sich ein ganz tüchtiges Eingehen auf das
Vorbild der ISatur bemerklich; die Arbeit ist nicht ohne Gefühl und nicht
ohne eine gewisse Würde, nur fehlt es der Gewandung au edlerem Styl.
Vortrefflich ist die reiche und volle Verzierung des Betpultes gearbeitet ').

Ein Denkmal, an welches sich grossartige historische Erinnerungen
knüpfen, das aber zugleich von der Geschmacklosigkeit des vorigen Jahr-
hunderts und von der geringen Ehrfurcht vor den Denkzeichen der Ge-
schichte ein nur zu sprechendes Zeugniss giebt, findet sich in der Dorf-
kirche von Raddatz, unfern von Neu-Stettin. Es ist die Kanzel dieser
Kirche, die aus den Brettern, den Friesen und Leisten eines prachtvollen
Wagens: — des Triumphwagens, in welchem Johann Sobiesky, König
von Polen, seinen Sieg über die Türken gefeiert, zusammengesetzt ist.
Dies bezeugt nicht bloss eine Inschrift an dem Deckel; auch der mehrfach
vorkommende Namenszug des Königes, der weisse Adler, die Darstellung
türkischer Trophäen, alles dies deutet mit Bestimmtheit darauf hin. Alles
ist vergoldet und die grösseren Felder in einer zierlich dekorativen Weise
bemalt. Ausser den ebengenannten Darstellungen sieht man eine Menge
musicirender Knaben, Genien mit Wappen, allegorische Figuren, glänzende
Waffenzierden u. dergl. m. abgebildet. Die Felder sind aber, um sie für
ihren gegenwärtigen Zweck geschickt und passend zu machen, zum Theil
auf eine willkürliche Weise zerschnitten; dann ist ihnen, als Hauptfeld
der Brüstung, ein schlecht gemaltes Wappen zugefügt, mit einer Inschrift,
die sich auf den preussischen Generalfeldmarschall Henning Alexander
von Kleist (den ehemaligen Besitzer von Raddatz) bezieht und das Jahr
1747 enthält. Urkundliches darüber, wie der Triumphwagen in Kleisti-

') Eine ziemlich rohe Abbildung des erstgenannten Monumentes findet sich
im fünften Bande des Pommerschen Archivs (1785); nähere Notizen über beide
ebendas., S. 106 und III. Ueber den Namen des Verfertigers wird aber hier
so wenig Nachricht gegeben, wie derselbe an den Monumenten selbst zu finden
ist. Die schönen Verzierungen des Betpultes erinnerten mich sehr lebhaft an die
Weise des grossen Andreas Schlüter; vielleicht ist die Vermuthung nicht zu
gewagt, dass dies Stück als eine Jugendarbeit von ihm zu betrachten sei, und
dass somit die Hauptarbeit der Monumente von seinem Lehrer, Sapovius, her-
rühre. Die Nähe Danzigs, wo der letztere sich aufhielt, macht es ganz wahr-
scheinlich, dass Ernst Bogislav sich an ihn zur Ausführung der Denkmale ge-
wandt, Leider kenne ich nichts von Sapovius' eignen Arbeiten.

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PoEumersche Kunstgeschichte.

832

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TT-

scheu Besitz gekommen, ist nicht vorhanden. Einer Sage zufolge soll
Kleist ihn in einem schlesischen Kloster (also zur Zeit eines der ersltwi
beiden schlesischen Kriege) erbeutet haben ').

4. Blick auf die Werke der neuesten Zeit.

Von bildnerischen Denkmalen der neuesten Zeit ist nicht gar Vieles
zu melden. Doch bewahrt Pommern zwei Standbilder, welche dem vori-
gen Jahrhundert angehören und die, indem sie sich auf die Segnungen
beziehen, welche ein neues Herrschergeschlecht dem Lande bereitete, als
wichtige Donkzeichen einer neuen historischen Periode betrachtet werden
müssen. Das eine von diesen ist die Statue König Friedrich Wilhelms 1.
auf dem Marktplatze zu Cöslin, im J. 1724 von den pommerscheu Stän-
den errichtet. Der Kunstwerth des Werkes ist indess nur gering. Als
ein merkwürdiges Meisterwerk aber ist die Marmorstatue Friedi'ichs des
Grossen, auf dem Aveissen Paradeplatz zu Stettin, zu nennen, die,
ebenfalls von den Ständen des Landes, im J. 179:5, errichtet wurde. Die
letztere ist von Schadow in Berlin gearbeitet; sie ist das einzige öffent-
liche Denkmal, welches dem grossen Könige bis zu dem Jahre der hun-
dertjährigen Feier seiner Thronbesteigung in den gesammten preussischen
Staaten errichtet war. Wohl mag sich Pommern eines solchen Vorzuges
mit gerechtem Stolze bewusst sein; aber die Errichtung des Denkmales
war auch nur ein gerechter Zoll der Verehrung gegen Friedrich, der in
seinem politischen Testamente seinen Nachfolgern „erklärt und angerathen,
dass sie sich vorzüglich auf die Pommer sehe Nation verlassen, und
dieselbe als die erste Stütze des Preussischen Staats ansehen könnten und
müssten

Beide AVerke sind aber niclit als die Erzeugnisse pommerscher Kunst
zu betrachten. Ebenso auch nicht einzelne Altargemälde, die sich hier
und da von der Hand gerühmter Meister des vorigen Jahrhunderts vor-
finden. Zu diesen gehören zwei Gemälde über dem Hauptaltare der J a-
kobikirche von Stralsund, von J. H. Tischbein im J. 1787 (wenig-
stens hat das eine von ihnen diese Bezeichnung) gemalt. Diese Bilder
erheben sich nicht über den Kreis des Gewöhnlichen; kräftige Natur und
höherer Styl ist in ihnen nicht zu finden. Der Behandlung nach stehen sie
etwa zwischen den Werken von Rode und Dietrich in der Mitte. Ebenso
ist eine Himmelfahrt Christi von B. Rode, in der Kirche von Gingst auf
Rügen, auch nur ein Werk untergeordneten Ranges, nicht geeignet, den
Ruhm, dessen sich dieser schnellfertige Maler bei seinen Lebzeiten erfreute,
auf die Nachwelt zu bringen. — Einige andre in den letzten Jahrzehnten
gemalte Altarblätter sind dagegen von pommerschen Künstlern ausgeführt.
So das trelFliche Altarbild der Abnahme vom Kreuz in der Jakobikirche

■iiii'riilti-i

iriiiiSaSö

') Vgl. Kretzschmer, in den Neuen Pomm. Prov. Blättern, II, S 301. —
Ilertzbergs Rede bei der Einweihung der Statue. S. die „Umständliche
Nachricht von der dem grossen König Friedrich IL zu Alt-Stettin am 10. Octo-
ber 1793 erriciiteten marmornen Bildsäule," S. ß.

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Nachtrag.

zu Stettin, von E. H. Lengerich in Rom gemalt; so ein zweites Altar-
bild desselben Künstlers in der Kirche von Demrain, die Grablegung-
Christi, als vergrösserte Kopie nach Raphael, und zwei Engelgruppen als
Seitenbilder enthaltend; so eine Auferstehung Christi in der Nikolai-
kirche zu Pasewalk, von A. Remy gemalt.

Die Kunst der Gegenwart, die sich seit wenig Jaliren zu einer neuen
glänzenden Höhe emporgeschwungen hat, arbeitet gleichwohl im Allge-
meinen — einzelne grossartige Ausnahmen abgerechnet — wenig auf mo-
numentale Zwecke hin. Die Freude an der Kunst bewegt sich im Allge-
meinen mehr in den engeren Räumen des Wohnhauses. Wenn demnach
in Pommern nur wenig Kunstwerke der neuesten Zeit, welche eine öffent-
liche Bestimmung haben, zu nennen sind, so gilt dies wenigstens ebenso
von den meisten übrigen Theilen des gemeinsamen deutschen Vaterlandes.
Wohl aber dürfen wir uns freuen, dass auch Pommern für den neuen
Aufschwung der Kunst sein Contingent gestellt und dadurch das frische
Fortleben des alten künstlerischen Geistes bezeugt hat. Ausser den Namen
der beiden vorher besprochenen Künstler sind in diesem Betracht vor-
nehmlich anzuführen; W. Brüggemann, durch seine Darstellungen des
heimischen Seestrandes ausgezeichnet; L. Most, dessen fröhliche Genre-
bilder sich in dem Kreise des ächtpommerschen Volkslebens bewegen;
H. Plüddemann und H. Kretzschmer, beide zu den geachtetsten
Künstlern der Düsseldorfer Schule gehörig, und Th. Hildebrandt, der
als einer der ersten Meister dieser Schule, somit als einer der ersten Meister
der heutigen Zeit, genannt werden muss. Die glänzenden Erfolge des
pommerschen Kunstvereines aber haben es bewiesen, dass auch das Volk
sich, so rüstig strebenden Talenten gegenüber, nicht gleichgültig verhält.

V a c h t r a 2;.

(1853.)

Während der erneute Abdruck der Pommerschen Kunstgeschichte be-
reits eingeleitet war, sind mir freundliche Mittheilungen über einzelne
Kunstwerke Pommerns, die in jener Arbeit keine Besprechung gefunden
hatten, gemacht worden; ich entnehme daraus noch die folgenden Notizen.

In der Kirche des Dorfes Nossendorf, eine halbe Meile nordwestlich
von Demmin, befindet sich vor dem Altar eine steinerne Grabplatte mit
gravirter bildlicher Darstellung, der Zeit bald nach der Mitte des drei-
zehnten Jahrhunderts angehörig und den oben erwähnten Grabplatten
von Stein gewiss als eine der tüchtigeren dieser Art anzureihen. Die
Darstellung trägt in grossen entschiedenen Zügen den Charakter der Zeit,
wobei die technische Eigenthümlichkeit zu bemerken, dass der Grund
der Darstellung rauh gekörnt zugehauen ist und sich hiedurch, ohne zwar
vertieft zu sein, bestimmt von dem Uebrigen unterscheidet. Besonders
merkwürdig aber ist der Stein durch den Gegenstand der Darstellung
Kugler, Kleinf Schrirten. I. 53

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i.

834 Pommersche Kunstgeschichte.

Man sieht darauf die grosse Gestalt eines Geistlichen, ganz in der üblichen
Weise, unter einem rundbogig gothischen Baldachin stehend. Neben sei-
nem Haupte erscheint ein, das Weihrauchbecken schwingender Engel; wo
aber, bei reicheren Darstellungen der Art, in den Seitenstücken der archi-
tektonischen Umgebung kleine Heiligenfiguren angebracht zu sein pflegen,
sieht man hier bewaffnete Männer, von denen die beiden oberen, Schwert
und Lanze in den Händen haltend, mit diesen Waffen auf den Geistlichen
eindringen. Die Personen von dreien derselben scheinen durch die, über
ihrem Kopfe enthaltenen Inschriften namentlich bezeichnet zu sein. Also
die bestimmte Hindeutung auf den gewaltsamen Tod, den der Bestattete
erlitten, was auch durch die Umschrift des Steins bestätigt wird. Diese
lautet:
Äimo domini ccc" quarto sahbato ante jacohi apostoli inter-
fectus fuit dominus gherardus de lynden plebanus in woteneke in altari hora
misse, orate dewn ^iro anima ejus.
Nach einer im Dorfe noch lebenden
Sage soll der Geistliche von jenen Männern, Bauern des Dorfes, wegen
unerlaubten Umganges mit der Frau des einen ermordet worden sein. Bei
dem ganz eigenthümlichen Interesse, welches die Darstellung gewährt,
gereicht es mir zur Freude, auf dem beiliegenden Blatte eine Abbildung
derselben, nach einer Zeichnung des Hrn. Medow, Zeichnenlehrers zu
Demmin, vorlegen zu können.

In der Kirche von Treptow an der Tollense befinden sich Chor-
stühle, über ihren Rückseiten mit einem durchbrochenen Holztäfelwerk
geschmückt, welches mit den reizvollen Täfelungen in der Sakristei
der Jakobikirche zu Stralsund in Bezug auf Mannigfaltigkeit wie auf
Schönheit, völlig auf gleicher Stufe zu stehen und die letzteren wenig-
stens insofern noch zu übertreffen scheint, als, bei grösserem Maass-
stabe, die grösseren Zwischenräume des Ornaments noch wieder durch
Unterabtheilungen von lebendig geschwungenem Stabwerk ausgefüllt werden.
Es sind im Ganzen 22 Tafeln, unterwärts mit je drei oder vier kleineren
architektonisch dekorirten Spitzbögen, — oberwärts, in quadratischem Ein-
schluss, Rosetten enthaltend, welche letzteren die mannigfaltigsten und
jedesmal durch neue Combination anziehenden Muster gothisch architek-
tonischer Ornamentik zur Schau stellen. Hr. Medow hat diese Rosetten
abzuformen begonnen, um dadurch zweckmässige Muster für den Kunst-
unterricht der Handwerkerschule zu Demmin zu gewinnen; ein mir freund-
lichst mitgetheiltes Exemplar vergegenwärtigt aufs Genaueste, wie die
Schönheit der Formen, so auch deren energische und wohl verstandene
Behandlung. Die Abgüsse dürften sehr geeignet sein , auch in weiteren
Kreisen für den entsprechenden Kunstunterricht in erfolgreichster Weise
verwandt zu werden.

In Betreff der beiden vortrefflichen Grabsteine, welche sich in der
Thurmhalle der Kirche von Grimme befinden, ist zu bemerken, dass
der mit dem Bilde des ritterlichen Herrn seiner Inschrift zufolge den
„ClaAvs von Swerin Zuem Grellenbergk Erbgesessen" (gest. 1603) vor-
stellt. — Zwei Grabsteine von ähnlicher trefflicher Beschaffenheit befinden
sich in der Kirche von Kirch-Baggendorf (auf der Mitte des Weges
zwischen Grimmen und Tribsees). Noch ausgezeichneter sollen, wie mir
berichtet wird, zwei andre Grabsteine sein, welche sich in derselben Kirche
befinden, in die beiden Pfeiler zwischen Chor und Schiff einander gegen-
überstehend eingemauert. Jeder von ihnen hat eine Umrahmung von rei-
cher, wappengeschmückter Architektur. Auf dem einen ist die Reliefge-

mkm

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Nachtrag. 835

rnrnm""^^

stalt eines geharnischten Ritters mit halbgeöffnetem Visier, aus dem ein
männlich festes Gesicht herausschaut, enthalten. Nach der Inschrift ist
dies von „Jochim Volradt Tribses weilandt Fürst: Haptman auf Loetz zu
Zarrentin erbsessen", geb. 1570, gest. 1625. Auf dem andern Steine ist
die Gestalt einer Dame, die Wittwe des Ebengenannten, „Anna von Jas-
munt", vorgestellt. Sie erscheint in höherem Alter, in ruhig würdiger
Haltung, mit einer eigenthümlichen, fast tyrolerartigen Kopfbedeckung, die
Kleidung oben reich verziert, im Üebrigen einfach und in natürlichen Fal-
ten ruhig herabfliessend. Beide Figuren sind bis ins geringste Detail sauber
ausgeführt. —

Anderweitigen Mittheilungen entnehme ich schliesslich die Notiz, dass
sich zu Coeslin, vor dem hohen Thore, eine kleine Begräbnisskapelle,
aus der späteren Zeit des Mittelalters, befindet, deren Kenntniss mir bei
meinem Besuch im J. 1839 ebenfalls entgangen war. Sie ist von schlichter
Anlage, achteckig, mit Strebepfeilern, die auf den Ecken vorspringen,
ebenmässig in den Verhältnissen , im Inneren mit einem einfach klaren
Sterngewölbe be'deckt, an den Einfassungen der Thür und der Fenster
mit wohlgebildeten Gliederungen versehen. Den im Obigen bespro-
chenen Polygonal-Kapellen scheint sie sich als ein schätzbares Beispiel
anzureihen.

Druck Jer J. G. Spraniiel'sciien Buchdrutkerei in Slullgarl.

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PRÖSPI

CTIIS.

GESCHICHTE DER BAUKUNST

VON

FRANZ KUGLE R.

Dies Werk hat die Aufgabe, von der künstlerischen Bauthätigkeit
der Völker, seit den frühsten nns bekannten Anfängen geschichtlichen
Lebens, eine historisch geordnete Uebersicht zu geben.' Es legt die
AVeise dar, in welcher die Völker je nach ihren Eigenthümlichkeiten

an diesem monumentalen Schaffen Theil genommen, die Sonderzwecke,
welche sie dabei verfolgt, die Ziele, welche sie erreicht haben. Es
begreift somit einen der wesentlichsten Theile der allgemeinen Cultur-
geschichte in sich. Es ist gleichzeitig dazu bestimmt, den Ursprung
und die Entwickelung der baukünstlerischen Formen an sich, ihre
Uebertragungen imd Umbildungen darzulegen, — das Wesen dieser
Formen, wie dieselben im Fortgange der Geschichte nacheinander
gleichsam als naturwüchsige Gebilde hervortreten, zur Erkenntniss zu

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bringen. Es bietet daher auch für einen Haupttheil der kunsttheo-
retisclien Forschung, des praktischen Kunststudiums das erforderliche
Material. Die geschriebene historische Ueberlieferung bildet die eine
der Quellen des Werkes; die andre, Avichtigere Quelle beruht in dem,
was von den bauliehen Monumenten selbst erhalten ist. Jene kann
in der Regel nur zur Kenntniss der allgemeinen Zustände, auf welchen
das monumentale Schaffen beruhte, führen, nur die äussern Anknüpfungs-
j)unkte zur chronologischen Feststellung des Einzelnen gewähren; diese
giebt von der Bedeutung jenes Schaffens, von seinen künstlerischen
Erfolgen eine Anschauung. Der Inhalt des Werkes sondert sich nach
den volksthümlichen und historischen Gruppen in Hauptabschnitte und
Unterabtheilungen; jede Gruppe wird als ein zusammenhängendes
Ganzes von seinen Anfängen bis zu seinen schliesslichen Ausgängen
behandelt; die Aufeinanderfolge der Gruppen bedingt sich durch die

Zeitstellung ihrer anfänglichen Entwlcke-
lungen. Jeder Abschnitt beginnt mit
allgemeiner, den Gesammtcharakter der
Gruppe zusammenfassender Uebersicht;
darauf folgt stets die Bewährung durch
das Einzelne, je nach Maassgabe dessen^
was von den Monumenten erhalten ist, und
nach den historischen Sonderbeziehungen^
welche sich an denselben geltend machen.
Unter dem Text enthaltene Citate führen
auf die Quellenschriften zurück und ma-
chen insbesondere diejenigen Werke nam-
haft, in welchen die bildlichen Original-
Aufnahmen der betreffenden Monumente
befindlich sind. Zur unmittelbaren Er-

läuterung sind bildliche Illustrationen dem

sauionkapitäi des Parthenon Profil des rjp ^^ eingereiht; CS Ist die Absicht, durch
bcluuus und des Saulenluilses. & J J

diese Illustrationen das vorzüglichst Cha-
rakteristische, namentlich in der Gestaltung der architektonischen Ein-
zelformen, zur Anschauung zu bringen.

Das genannte Werk steht im Uebrigen zu dem, in gleichem Ver-
lage erscheinenden Kupferatlas der „Denkmäler der Kunst" und zu
dem „Handbuch der Kunstgeschichte von Franz Kugler" in einem
Wechselverhältniss. Die Tafeln des Atlas, welche der Architektur
gewidmet sind, gewähren, in möglichst zugänglicher und zureichender
AVeise, einen Ueberblick über das nöthigste monumentale Material der
verschiedenen Epochen. Dies wird, als bekannt vorausgesetzt ; die in
den Text der „Geschichte der Baukunst" aufgenommenen Illustrationen
geben, was im Atlas nicht schon enthalten war; indem ihre Auswahl
durch ihren Zweck: bedingt
Avurde, bilden sie zugleich eine Ergänzung
des Atlas. Nur in äusserst wenigen unumgänglichen Fällen bringen
sie, dabei in möglichst reiner Fassung, die Abbildung dort schon ge-
gebener Einzelheiten.

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HANDBUCH DER KUNSTGESCHICHTE

VON

FRANZ KUGLE R.

Das Handbucl) der Kunstgeschichte erscheint in seiner
gegenwärtigen neuen (dritten) Auflage gänzlich umgearbeitet. Abgesehen

von der Fülle von Berichtigungen, Bereicherungen und Vereinfachungen
im Einzelnen ging die Absicht des Verfassers dahin, das Werk in sich
möglichst fest und klar zu gliedern, insbesondre auch den Wechsel-
bezug zwischen der Architektur und den übrigen Künsten je nach den
verschiedenen Epochen möglichst entschieden zu Tage treten zu lassen.
Es reiht überall die Ergebnisse der Bangeschichte einem grösseren
Ganzen, dem umfassenderen Zusammenhange desselben ein. Die Rück-
sicht auf den letzteren hat zugleich die Auswahl der Illustrationen
bedingt, mit denen die neiie Auflage des Handbuches ebenfalls ver-

-ocr page 851-

OK^sfi^z

sehen ist und die sicli zu dem Atlas in derselben Weise verlialten,
wie die Illustrationen der Geschichte der Eaniuinst, Bei den archi-

tektonischen lüustrationen des Handbuches war das Absehen vorzugs-
weise auf die AViedergabe der Eigenthümlichkeiten der malerischen
Erscheinung der Monumente, nach Maassgabe des Erhaltenen, gerichtet.

Vorstehende beide Werke erscheinen gegenwärtig in Liefernngeu und
sind durch alle liuchliandlungen des In- und Auslandes zu beziehen.

Die

DEJ^KMÄLER DER KUNST

zur

Üt'hersichl ilire.s Eiilwickehiiigsganges von de« ersten künstlerischen Versuclion
bis zu den Staiidpiinklen der Gegenwart.

Z u ff 1 e i c Ii

als Bilder-Atlas zum Handbuch der Kunstgeschichte.

!

Queifolio, IG Lieferungen oder 3 Bände, 115 Tafeln in ötalilsticli neb.st
erläuterndem Text (fl. 47. 36 kr. oder Thlr. 29. 14 Ngr.)

sind zur Erleichterung der Anschaffung in Liefei'ungen oder einzelnen Bänden
zu beziehen.

Stuttgart, im November 1854.

e

J'l -U ^JJ!., J.4 4 J m Wt«,

Verlugshandhing von Ebner <& Seubert.

KUMSTHlPTOhlitlH IMüTlTüuV j
DER RIJKSUNiVSf^^tTEITÜTRECv'T \