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DIE
PATHOLOGIE UND THERAPIE
DEB
GEISTESKMMHEITEN
AUF
ANATOMISCH-PHYSIOLOGISCHER GRUNDLAGE.
VON
J. L. C. SCHROEDER VAN DER KOLK,
Professor der Physiologic an tier Umvereitat Utrecht.
BRAUNSCHWEIG,
DRUCK UND VERLAG VON FRIEDRICH VIEWEG UND SOHN.
18 6 3.
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Hie Herausgabe einer Uebersetznng in franzOsischer und englischer Sprache,
sowie in anderen modernen Sprachen wird vorbehalten.
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V 0 E R E D E.
er in den ersten Tagen des Mai im Jahre 1862 verstor-
bene Utrechter Professor J. L. C. Schroeder van der
Kolk, der Restaurator des holliindischen Irrenwesens, war
schon lange mit dem Plane umgegangen, seine physiologischen
Studien und praktischen Erfahrungen liber die Geisteskrank-
heiten zusammenzustellen, um sie dann der Oeffentlichkeit zu
iibergeben. Wie es aber so hiiufig im Leben geschieht, so
bedurfte es auch hier noch einer besonderen Veranlassung, um
zum Werke zu schreiten, und diese Veranlassung fand sich im
Herbste 1861, als zwei Medicin Studirende in Utrecht, Herr
P. Templeman van der Hoeven und der Unterzeichnete,
vom Mangel einer psychiatrischen Klinik an unseren Hoch-
schulen betroffen, sich an Schroeder van der Kolk mit
der Bitte wandten, unter seiner Leitung in das Gebiet der Geistes-
krankheiten eingefiihrt zu werden. Gem ging derselbe auf
unsere Bitte ein und traf alsbald die Bestimmung, wir sollten
zweimal in der Woche auf sein Studirzimmer kommen, da
wollte er uns vorlesen, was er an seinem Buche ausgearbei-
tet hatte, und dariiber mit uns sprechen.
Wir haben so das Buch entstehen gesehen, den Zweck
desselben erkannt, und wir wissen, welchen Werth der Ver-
fasser demselben beilegte und was er an Zeit und Miihe
darauf verwendet hat. Mit unnachlassigem Eifer fiihrte er
das Unternehmen durch, gleichsam als fiihlte er, dass seine
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VI                                       V o r r e d e.
Laufbahn dem Ende zueilte, und dass er sich beeilen miisste,
das seine literarische Wirksamkeit kronende Werk der Voll-
endung zuzufiihren. Wirklich ereilte ihn der Tod bei dieser
Arbeit, er sprach aber noch vorher seinen Wunsch aus, dass
das Werk veroffentlicht werden mochte. Mir ward dann die
Auszeichnung zu Theil, dass mein Freund Dr. H. W. Schroe-
der van der Kolk mich damit betraute, den Wunsch seines
Vaters in Erfiillung zu bringen.
Das vorgefundene Material bedurfte schon wegen der
Eile, womit die Zusammenstellung hatte bewirkt werden miis-
sen, mehrfach der Aenderung, nicht nur einzelner Ausdriicke,
sondern bisweilen ganzer Satze,' wobei iibrigens der Eigen-
thiimlichkeit Schroeder van der Koik's moglichst wenig
Abbruch geschehen ist. Das Werk war aber auch noch nicht
ganz vollendet (beim Paragraphen iiber das kleine Gehirn
fanden sich z. B. ein Paar leere Blattseiten, und es wollte
der Autor offenbar noch einiges hinzufligen), sein therapeu-
tischer Theil war noch gar nicht in Angriff genommen. Die-
sem letzteren Mangel konnte durch zwei Abhandlungen Schroe-
der van der Kolk's abgeholfen werden, deren eine in der
Tydschr. der Nederl. Maatschappy van Geneeskunde (1852) ver-
offentlicht wordcn war, die andere aber unter den Papieren
des Verstorbenen vorgefunden wurde.
Das ist der Ursprung dieses Werkes, worin durch That-
sachen die materielle Basis unserer geistigen Thatigkeiten nach-
gewiesen, gleichzeitig aber auch dem Glauben an ein Fort-
bestehen desMenschen nach dem Zerfalle des Leibes sein entschie-
denes Recht gewahrt wird. Es liefert den fur Viele durch-
aus nicht iiberflussigen Beweis, dass keinerlei anatomisch-phy-
siologische Untersuchungen die aus der sittlichen Weltord-
nung entnommenen Data umzustossen vermogen, und dass
keine Gefahr damit verkniipft ist, wenn dem herkommlicher
Weise geschmahten Materialismus seine Berechtigung zuge-
standen wird.
Utrecht, April 1863.
Dr. F. A. Hartsen.
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13ei Uebertragung dieses Opus posthumum habe ich mir,
ganz unbeschadet des Sachlichen, mehrfach kleinere und auch
einige erheblichere forraelle Aenderungen und Kiirzungen er-
laubt, die der Herausgeber zum guten Theile wohl aus Pie-
tiit im Originate unterlassen hatte, die mir aber vom Genius
der deutschen Spraclie und Wissenschaft gefordert zu werden
schienen. Diesen Kiirzungen gegeniiber will ich wenigstens
an dieser Stelle auch eine Vervollstandigung hinzufligen, die
ich einem Briefe vom 21. November 1861 entnehme, dem
letzten, den ich vom trefflichen Schroeder van der Kolk
empfangen habe. Er theilte mir mit, dass er an der Physio-
logie und Pathologie des Gehirns schreibe, und in meiner
Abhandlung liber Microcephalie eine weitere Bestatigung sei-
ner Ansicht iiber das Verhaltniss zwischen Lobus anterior und
posterior cerebri, die durch den Gyrus centralis von einander ge-
trennt werden, gefunden habe. Jene Ansicht basirte namlich
theilweise auch auf Messungen, die er an den von Rud. Wag-
ner (Abhandlung iiber die typischen Verschiedenheiten der Win-
dungen der Hemisphdren)
gegebenen Abbildungen ausgeflihrt
hatte. „Ich nahm (schreibt er) feines Postpapier, worauf Qua-
drate eingetragen waren, zeichnete die Abbildungen hindurch,
zahlte dann, wie viele Quadrate der Lobus anterior vor dem
Gyrus centralis A A und wie viele Quadrate der Lobus posterior
hinter diesem Gyrus hatte, und bekam folgende Resultate:
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VIII                                      Vorrede.
Lob. ant. Lob. post.
Gauss, Taf. V, Fig. 1......   154    :    174 = 88,5 : 100
Dirichlet, Taf. V, Fig. 2.....   203    :    203 =   100 : 100
Philolog Hermann, Taf. V, Fig. 3     152    :    202 =     75 : 100
Handarbeiter Krebs, Taf. V, Fig. 4     142    :    206 =     69 : 100
JungerOrang-Utung, Taf.V, Fig. 5     138    :    224=     57:100
Idiot, Taf. VI, Fig. 2......   260    :    504 =     53 : 100
Ibr Microcephalia.......     92    :    191 —     48 : 100
„Es versteht sich, dieses giebt nur einen relativen Werth
und eine relative Genauigkeit, denn ich messe die ebene Ober-
flache und nicht die gewolbte; aber das findet doch bei alien
gemessenen Gehirnen in ziemlich gleicher Weise statt. Ich
bin uberzeugt, es wird zu guten Resultaten fiihren, wenn auf
diese Art Vergleichungen zwischen den Gehirnen von Leuten
von Talent und von geringeren Geistesfahigkeiten angestellt
werden."
Weimar, 18. Mai 1863.
Dr. Theile. -
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*
i
IFHALTSVERZEICHFISS.
Seile
Einleifung............................ 1
Erstes Hauptstiick.
Physiologische Anatomie des Gehirns.
§. 1. Allgemeine Uebersicht......................      7
§. 2. Entwickclung des Gehirns beim Embryo, vergliohen mit seinen vcr-
scbiedenen Form en im Tbierreich.................      9
§. 3. AnatomiFcher Zusammenhang zwischen den primaren Gehirntheilen
an der Basis und den Grosshirnhemispharen . •.........     12
§. 4. Verschiedene Arten von Ganglienzellen im Gehirn und Riickenmark
im Allgemeinen.........................     15
§. 5. Wirkungsweise und Zusammonhang der centralen und peripherischen
Nerven- und Gehirnzellen.....................     17
§. 6. Zellen der Rindensubstanz....................    23
§. 7. Wirkungsweise der Zellen in der Rindensubstanz.........     23
§. 8. Verschiedene Kriifte in verschiedenen Hemispharentheilen.....     33
§. 9. Vivisectionen..........................    38
§. 10. Das kleine Gehirn........................     45
§. 11. Die Circulation im Gehirne....................     46
§. 12. Zusammenhang und Wechselwirkung zwischen Leib und Seele ...     58
§. 13. Einfluss des Leibes auf die Seele.................     72
§. 14. Allgemeine Pathologie des Gehirns................     84
§. 15. Entziindung der dura mater...................     97
§. 16. Pathologische Anatomie des Gehirns...............   127
Zweites Hauptstiick.
Pathologie und Therapie des Irrseins.
A. Jdiopathischcs Irraein.
§.   1.   Einleitung............................   131
§.   2.   Verschiedene Formen und Eintheilung des Irrseins........   132
§.   3.   Erscheinungen des idiopathischen Irrsinns im Allgemeinen.....   133
§.   4.   Erscheinungen des sympathischen Irrsinns im Allgemeineu.....   137
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X                                Inhaltsverzeichniss.
Selte
§. 5.    Mania idiopathica acuta ....................   138
§. 6.    Mania idiopathica chronica...................   147
§. 7.   Hallucinationen........................   156
§. 8.   Ohrblutgeschwulst........................   159
§. 9.   Zeitpunkt der Besserung.....................   160
§. 10.    Stumpfsinnigkeit.......<..................   164
§. 11.   Blodsinn und Idiotismus.....................   164
B. Sympathisches Irrsein.                        «.
§. 1.   Einleitung.............-...............   165
§. 2.   Physiologisclie Erkliirung der sympathischen Manie........   166
§. 3.   Fathologische Anatomie der Mania sympathica.........   170
§. 4.   Erscheinungen der Mania sympathica, die vom Colon ausgeht . . .   177
S. 5.   Therapie der vom Colon ausgehenden Mania sympathica.....   185
§. 6.   Die vom Geschlechtsapparate ausgehende Melancholie.......   191
§. 7.    Die vom Harnapparate ausgehende Manie.............   204
§. 8.   Manie und Brustleiden......................   205
§. 9.   Mania erethica sensilis.....................   209
§. 10.   Mania intermittens.......................   210
§.11.   Wirkung der Nervina und Narcotica...............   213
§. 12.    Aeusserliche Mittel........................   216
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EINL E I T U N G.
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Die Lehre vom Irrsein ist wohl ilerjenige Theil der Heilkunde,
woriiber man die verschiedenartigsten Urtheile vernehmen kann,
und der noch auf der unsichersten Grundlage rnht. Das kann nicht
Wunder nehmen. Dieser Abschnitt der Pathologie hat es rait den
Seelenstorungen zu thun, wo die wichtigsten pathologischen Er-
seheinungen sich fast allein in der veranderten Wirkungsweise der
Geistesvermogen kund geben, wahrend das kbrperliche Befinden oft-
mals anscheinend gar nicht leidet. Fragt man nach dem verkniipfen-
den Bande zwischen Korper und Seele, so mochte man schier die Hoff-
nung aufgeben, dass jeroals eine befriedigende Losung der hier sich
bergenden Rathsel gelingen werde. Die Schwierigkeiten, welche sich
derAufhellung der verborgenen Aeusserungen des Ich entgegenstellen,
werden noch dadurch gesteigert, dass wir iiber die Verrichtungen der
verschiedenen Gehirntheile so unvollkommen unterrichtet sind. Denn
wenn auch das Gehirn von den Anatomen aufs Genaueste untersucht
und bis in seine kleinsten Kinzelnheiten beschrieben worden ist, so be-
hielt doch in Betreff dieser letztern lange Zeit der Ausspruch Riche-
rand's Giiltigkeit, dass der Anatom sich hier in dem namlichen Falle
befinde, wie der Pariser Lasttriiger, der zwar alle Strassen und Gass-
chen bis ins Einzelnste kennt, aber nicht weiss, was in den Hausern
vorgeht.
Da man von den Verrichtungen der verschiedenen Gehirntheile
so wenig wusste, so war man bemuht, durch Sectionen Geisteskranker
zum Verstandniss der pathologischen Erscheinungen zu gelangen.
Sehroeder v. J. Kolk, Irrsein.                                                                   1
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2                  Erforschung der Geisteskrankheiten.
Aber selten gliickte es, die bei Lebzeiten wahrgenommenen Erschei-
nungen mit den oftmals nur unbedeutenden Veranderungen, welche
die Section nachweist, in Zusammenbang zu bringen und eins ans dem
andern zu erklaren. Eine deutlichere Einsicht in dieses dunkele Ge-
biet schien sich ja geradezu zu versebliessen, als man zu wiederholten
Malen die Beobachtung machte, dass im Gehirne sehr bedeutende
Storungen, wie Eiteransammlungen, Verlust eines mehr oder weniger
grossen Theils u. s. w. vorkommen konnen, obne dass den geistigen
Kraften des betreffenden Individuums dadurch Abbruch geschieht.
Eben so unklar, wie iiber den Zusammenbang zwischen Seele und
Gehirn, war man auch iiber die Bcziehungen zwischen dem iibrigen
Korper und der Seele. Die oberflachlichste Beobachtung der Tenipe-
ramente, der Lebensalter und mancher psychischer Affecte spricht
zwar deutlich genug fur eine solche Beziehung, aber immer blieb es
riithselhaft, in welcher Weise der Korper auf unsere Seele einzuwirken
im Stande ist. Nahm man auch bei Geisteskranken manoherlei Ab-
weichungen vom gesunden Zustande wahr, die mit der Krankheit in
einem gewissen Zusammenhange zu stehen schienen, z. B. Verstopfung
oder verhaltenen Stuhl, Menstruationsstorungen, so liess sich doch.
nicht immer leicht entscheiden, was Ursache oder Wirkung der Krank-
heit war; die unbestiindigcn pathologiscben Befunde aber, denen man
sonst im Korper Geisteskranker begegnet, konnte man noch weniger
mit den Storungen der Geistesthatigkeit in einen ursachlichen Zu-
sammenhang bringen.
Da sich in den Leichen Geisteskranker mancherlei pathologische
Veriinderungen in den Brust- und Bauchorganen zu linden pflegen, so
entstand die schwierige Frage, welche von diesen Veranderungen sind
nur zufallig oder secundiir zugegen, welche anderen stehen mehr in
directem causalen Zusammenhange mit der GeisteskrankheitV Auf die
somatischen Storungen wird aber bei Lebzeiten im Ganzcn um so
weniger geachtet,weil die meisten Irrsinnigen sich selbstiur ganz gcsund
halten, oder ihre krankhaften Walirnehmiiugen mit ihren verwirrtcn
Vorstellungen dergestalt in Verbindung und Zusammenbang zu bringep
])flegen, dass der Arzt, der ihre Art und Weise sich auszudriickcn
nicht niiher kennt, oftmals nur wenig Aufkliirung zu erhalten vermag.
War man so iiber das Wesen der Geisteskrankheiten im Unklaren,
so fehlte natiirlich auch die feste Grundlage fur die therapeutische
Behandlung und man beschrankte sich darauf, die besonders ins Auge
fallenden Erscheinuugen zu bekiimpfen.
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Erforsehung dor Goisteskrankheiten.                      3
Die constantesten und auffalligsten Erscheinungen sind nun Stb-
rungen der geistigen Thlitigkeit und des Denkvermogens: womit sich
nur unbedeutende krankhafte Symptome im iibrigen Korper verbinden,
die audi wohl scheinbar ganz fehlen. Deshalb konnte es geschelien,
dass viele Aerzte, an dem psychischen Momente festhaltend, in dem
Irresein eher ein Leiden der Seele erkennen wollten, als eine somati-
sche Affection, die storend auf das Gehirn und dadurch auf die geistige
Thiitigkcit einwirkte. Bei dieser Auffassung musste sich dann die
Tlierapie auf psychische Einwirkungen beschranken, indem man auf das
Gemiith und auf den Verstand des Irren wirkte und dessen verkehrten
Vorstellungen durch Ableitung oder Ueberzeugung eine bessere Rich-
tung zu geben suchte, zu Heilmitteln aber nur dann griff, wenn zufallig
ein korperlicb.es Unwohlsein hinzukam oder ein dringendes Symptom
auftrat.
Andere Aerzte fanden diese Anscliauung freilich zu einscitig; sie
meinten, der Irrsinn babe, gleich anderen Krankheiten, seinenUrsprung
im leiblicben Organismus und in dessen pathologiscben Affectioncn,
und es gcwann diese Ansicbt noch festerenBoden durch die in neuerer
<Eeit geforderte Kenntniss der Verrichtungen des Gehirns, sowie be-
sonders auch durch bessere Deutung der darin vorkommenden patho-
logiscben Veranderungen. Damit musste denn auch eine mehr pbar-
makodynamische Behandlung der Irren Platz greifen, zumal als man
anting, sie nicht mehr in dunkle Winkel und gleich Missethatern in
Ketteii und Fesseln zu stecken, sie vielmehr in zweckmassig einge-
richteten Anstalten der Beobachtung zugiinglich machte und ihnen
mit Achtsamkeit und Menschenliebe begegnete. Da indessen die An-
sichten iiber das Wesen des Irrsoins so sehr auseinander gingen und
zur Erkliirung der Erscheinungen so verschiedenartige Gesichtspunkte
festgehalten wurden, so musste wohl die somatische Behandlung mehr
empirisch als rationell ausfallen. Es fehlte fur die Tlierapie der Gei-
steskrankheiten die feste Basis, und zumal der angehende Arzt konnte
in diesein Widerstreit der Ansichten keinen Anhalt fur ein sicheres
Handeln finden.
Dem glaube ich es hauptsachlich beimessen zu sollen, dass selbst
gegcnwartig die psychische Theorie und die psychische Therapie auf
dem Felde der Geisteskrankheiten noch ein zjemliches Uebergewicht
haben. Man vergleiche nur die verschiedenen Handbiicher iiber Gei-
steskrankheiten, auch die neuesten nicht ausgeschlossen, die in
Deutschland nicht nur, sondern auch in Frankreich und England
l*
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4                     Erforschuns; der Geisteskrankheiten,
erschienen sind, und man wird finden, dass sehr dickleibige Abschnitte
mit ausfiihrlichen theoretischen Betrachtungen iiber die mannichfalti-
gen Affectionen und Abweichungen der Geistesvermogen angefullt sind,
wobei es nicht an vielerlei Unterabtheilungen f'ehlt, wahrend dem
praktisch Therapeutischen gewobnlich nur ein Paar Blatter gewidmet
sind, auf denen man sich meistens auf allgemein therapeutische Regeln
beschrankt. Der Anfanger weiss nun im concreten Falle nicht, welche
Symptome er zumeist beacbten soil, und auf welchem Wege er am
sichersten die Herstellung des Patienten erreichen kann. Ein Missgriff
kann aber hier leicht dahin fiihren, dass ein Irrsinniger, der unter der
Behandlung eines von sicherer Basis aus operirenden Arztes, zumal
beim Beginn dorErkrankung, noch zu rotten gewesen ware, fiir immer
verloren ist und im ungliicklichsten Zustande der menschlichen Ge-
sellschaft zur Last fiillt.
Der Vorwurf der Einseitigkeit ware indessen ein vollkommen be-
griindeter, wenn der Ai*zt bei Geisteskranken der psychischen Behand-
lung, wohin z.B. dieBeseitigungder friiheren nachtheilig einwirkenden
Verhiiltnisse, die Hinleitung auf einen richtigen Gedankengang, saufte
Zusprache, sowie Zerstreuung durch Arbeit undBewegung desKorpers*
zu rechnen sind, sich ganz entschlagen wollte. Der Arzt ist hier inso-
fern in einer besseren Lage als bei vielen anderen Krankheiten, als
ihm zwei machtige Factoren und Mittel zur Herstellung zu Gebote
stehen. Da das Irrsein in seinen verscbiedenen Formen sich vorzugs-
weise durch Verwirrung oder Storung des regelrechten Gedanken-
ganges .aussert, so vermag er durch Zerstreuung, durch passende Zu-
sprache und kraftigesHandeln dieSeele den schadlichen Einwirkungen
zu entriicken und ihr in Folge besserer Einsicht zur verlorenen Herr-
schaft iiber den Korper und zur Bewaltigung der Leidenschaften wieder
zu verhelfen. Das wird ihm am besten dann geliugen, wenn er vorher
durch sorgsam berechnete iirztliche Behandlung jene storenden Ein-
fliisse und pathologischen Zustande beseitigt oder wenigstens gemil-
dert hat. Der Tobsijchtigp hat die Herrschaft iiber seine Begierden
verloren, der Melancholiker vermag seine triiben Vorstellungen nicht
mehr im Zaume zu halten, und beide sind Sklaven ihrer psychischen
Affection. Beiderlei Behandlungsweisen sollen neben einander Platz
greifen, doch muss die pharmakodynamische meistens den Reigen
eroffnen und den Kranken erst fiir die psychische Einwirkung vor-
bereiten.
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Erfbrschung der Geisteskrankheiten.                     5
Wollte man bei einem Tobsiichtigen die Gehirnreizung, statt
durch entsprechende Heilmittel, durch verniinftigen Widerspruch,
durch Zwangsmittel und gewaltsames Festhalten zu beruhigen suchen,
welche andere Folgen konnte dies haben, als eine starkere Aufreizung
und eine Steigerung der Wuth? 1st doch der Irrsinnige, zumal der
Melancholiker, von der Wahrheit seiner Wahnvorstellungen fest iiber-
zeugt, so dass alles Zu- uud Einreden, wodurch er von seinem Irr-
thum iiberzeugt werden soil, nur dazu beitragt, seine Widerspanstig-
keit und sein Misstrauen zu versttirken und wohl gar die Vorstellung
in ibm zu erwecken, er sei uberall von Widersachern und geheimen
Feinden umringt, die nur auf die Gelegenheit passen, ibn zu ver-
derben. Fest iiberzeugt von der Wahrheit seiner Wahnvorstellungen,
erachtet er sich leicht verkannt, audi von Seiten jener, denen er als
lieben Verwandten und Freunden sein Vertrauen zu schenken pflegte.
Darf man sich daim wundern, wenn der Arzt durch ein solches un-
zeitiges Zusprechen des Vertrauens des Kranken verlustig geht? Wir
miissen uns nur in denZustand uud in die Denkweise des Kranken selbst
versetzen und uns vergegenwartigen, was wir selbst, fest iiberzeugt
von der Wahrheit unserer Vorstellungen, tbun wiirden, wenn alle
Freunde plotzlich mit einem nachhaltigen Widerspruch uns entgegen
traten. Wir wiirden an unerklarliche Verschworungen, an geheime
Zwecke glauben und von der Opposition befreit zu werden wiinschen;
gar willig wiirden wir unser Ohr einem Fremden offnen, der iiber
ganz andere Dinge mit uns sprache und unsere Gedanken von jener
Entdeckuug ablenkte.
Es kommt also auf die Menschenkenntniss und auf das Urtheil
des Arztes an, der die psychische Behandlung je nach den verschiede-
nen Zustanden des Kranken zu modificiren wissen muss.
Dabei muss der Arzt recht vertraut sein mit den organischen
Vorgangen. die audi im pathologisch verauderten Gehirne vorkom-
men konnen, was eine genaue Kenntniss des Nervensystems und
der Gehirnorgauisation voraussetzt, und nicht minder das Verstand-
niss des Einflusses, dem das Gehirn von Seiten des iibrigen Orga-
nismus unterliegt. Wie aber die iibrigen Zweige der Heilkunde auf
genauer Keuntniss der Organisation und der Verrichtungen des ge-
sunden Organismus basirt siud, so gilt dies auch von den verschie-
denen Formen des Irrseins, wobei sowohl den Functionen dea Gehirns.
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6                  Erforschung der Geisteskrankheiten.
als dem Einrlusse des Organismus auf das Gehirn eine so grosse
Rolle zufallt.
Ich erachte es deshalb nothig. die Betrachtung des Gehirns und
Nervensystems der Pathologie der Geisteskrankheiten vorauszu-
schickcu, wobei ich a"er die grobern anatomischeo Verhiiltnisse als
bekannt voraussetze und auf deren Beschreibung nicht weiter ein-
gehen werde.
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Erstes Hanptstiick.
Physiologische Anatomie des Gehirns.
Allgemeine Uebersicht.
Unzweifelhaft gehort es zu den schwierigsten Aufgaben der Phy-
siologie, eine Erklarung der Gehirnfunctionen zu geben. Zu alien
Zeiten haben auch die scharfsinnigston Gelehrten mit Fleiss diesen
Gegenstand zu erforscben gesucht, sie wurden aber mehr oder weniger
durch den dicbten Schleier gehemmt, womit die Natur hier ihre Ge-
beinmisse umhiillt.
Verschiedene Wege hat man zur Aufhellung dieses dunkeln Ge-
bietes betretcn. Ganz willkiirlich nahm man ein Sensarium commune
an, worin die Seele ihren Thron aufgeschlagen hatte, wohin alle Ein-
driicke fortgeleitet, und von wo aus alle Befehle ertheilt wiirden.
Den Sitz desselben verlegte Descartes in die Zirbeldriise, Vieussens
in das nach ihm benannte Centrum semicirculare, selbst Sommerring
noch in eine der Gehirnhohlen. Spatere Physiologen erstrebten die
Losung des Problems durch Vivisectionen, und Flourens (Recherches
experimentales sur les proprictes du systeme nerveux.
Paris 1824) so
wie (lessen Nachfolger glaubton wenigstens soviel erschliessen zu
diirfen, dass dem grossen Gehirne vorzugsweise die eigentlichen seeli-
schen Verrichtungen zugewiesen sind. Ein tieferes Eindringen in die
verborgene Werkstiitte der Natur wurde jedoch hierbei durch den
Umstand erschwert, dass unser Urtheil iiber die Empfindungen der
Thiere ein unzuverliissiges ist und somit die bei Vers+iimmelung
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8                                    Die Gehirnfunctionen.
verschiedener Gehirntheile auftretenden Erscheinungen nur unklare
und unvollstandige Antworten sind. Man gewann Vermuthungen iiber
den Nutzen der verschiedenen Gehimtheile und brachte es zu Hypo-
thesen.
Andere suchten durch vergleichende Untersuchung des Gehirns
bei verschiedenen Thieren und durch Vergleichung der an die ver-
schiedenen Gehirnorganisationen gebundenen Lebensausserungen der
Losung jener Frage naher zu kommen. Da una aber die Wahrnehmun-
gen, die seelischen oder Verstandesthatigkeiten der Thiere ganz unbe-
kannt sind, so konnte auch auf diesem Wege der umhiillende Schleier
nicht geliiftet werden.
Man suchte ferner durch Vergleichung der klinischen Beobach-
tung mit den genau erforschten anatomischen Storungen des Gehirns
Aufschluss zu gewinnen, aber ebenfalls ohne Erfolg. Trifft man doch
die verschiedenartigsten pathologischen Veranderungen im Gehirne
an, das eine Mai, wo die schwersten und bedenklichsten Krankheits-
erscheinungen dem Tode vorangingen, ein anderes Mai aber auch,
wenn wahrend des Lebens fast keinerlei krankhatte Symptome aufge-
treten waren. In der That braucht man nur die lange Heihe von
Fallen zu vergleichen, welche Burdach (Ban und Leben des Gehirns.
Dritter Theil) zusammeugestellt hat, um die Ueberzeugung zu gewinnen,
dass diese klinisch-anatomischen Untersuchungen, die meistens auch
nicht auf grosse Genauigkeit Anspruch mac-hen konnten, eher dazu
angethan waren, Unklarheit und Verwirrung herbeizufiihren, als die
Einsicht in die Gehirnthatigkeit aufzuhellen.
Dasjenige benutzend, was auf diesem oder jenem der vorerwahn-
ten Wege als zuverlassig oder doch als wahrscheinlich erkannt wor-
den ist, und zugleich die mikroskopischen Aufklarungen iiber den
feineren Bau des RUckenmarks und Gehirns und den Zusammenhang
ihrer Elemente herbeiziehend, habe ich einen andern Weg betreten
und mbglichst einfache Fragen an die Natur zu stellen versucht.
Hinter dem ganz Einfachen verbirgt ja die Natur oftmals ihre Ge-
heimnisse, und das Suchen nach Complicirtem kann wohl dazu bei-
tragen, uns zu verwirren und auf falsche Spur zu leiten.
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Embryonale Entwickelung des Gehirns.                   9
§•2-
Entwickelung des Gehirns beim Embryo, verglichen mit
seinen verschiedenen Formen im Thierreich.
Es ist bekannt. dass das embryonale Gehirn aus den namlichen
einfachen Formen hervorgeht, die wir bei niedrigeren Thieren peren-
nirend antreffen, und hierauf im Besondern stiitzt sich der Satz, dass
dem Wirbelthierreiche ein fester Typus zu Grunde liegt, dessen Ent-
wickelung von den Fischen bis zum Menschen mehr und mehr fort-
schreitend sich vervollkommnet, so dass die verschiedenen Thiergat-
tungen gleichsam nur Glieder eiuer grossen Kette sind.
Wir fragen daher, welche Theile bilden die erste Anlage des Ge-
hirns beim Embryo und bei den niedrigsten Wirbelthieren, oder welche
Theile des Gehirns sind als primiire, unbedingt nothwendige zu be-
trachten, und welche Gehirntheile treten erst spater auf als secun-
dare, die aber deshalb nicht mit minder wichtigen Functionen be-
traut sind?
Nehmen wir die trefflichen Abbildungen des embryonalen Men-
schengehirns von Tiedemann (Anatomic und Sildungsgeschichte des
Gehirns.
Niimberg 1816) zur Hand, so sehen wir das Ruckenmark
unter einem Winkel in die Medidla oblongata sich umbiegen, und vorder-
halb der ersten Anlage des Cerebellum zeigen sich die Vierhiigel, so wie
noch waiter nach vorn die Selihiigel, die jetzt nur erst von Andeutungen
der Hemispharen bedeckt werden. Die namliche Grundform finden
wir auch bei den Fischen: nur sind Medulla oblongata und Cerebellum
noch sehr unvollkommen, die hierauf folgenden Vierhiigel sind sehr
gross, und eine vor diesen liegende Anschwellung gibt nicht nur die
Wurzel der Riechnerven ab, sondern bedeckt auch die Corpora striata
und Thalamic so dass sie als Anlage der Hemispharen zu deuten ist.
Ueber die Bedeutuug und die Functionen dieser verschiedenen
Theile kann man nicht in Zweifel sein. Wir sehen beim Fisclie aus
der Medidla oblongata den Trigeminus, den Acusticus, den Vagus, der
zugleich dem Grlossopharyngeus entspricht, entspringen, mit einem
Worte die Nerven fur Empfindung, Gehor und Geschmack. In der
Medulla oblongata und moglicher Weise noch etwas weiter nacli vorn,
falls ein Zusammenhang mit dem Thalamus besteht, muss demnach
der Sitz der Perception fur die Empfindung, das Gehor und den Ge-
schmack enthalten sein: es gibt beim Fische keiiie anderen Theile,
denen diese Functionen zuerkannt werden konnteu.
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10                   Primare unci socundare Gehirntheile.
Weiter nach vorn sehen wir die Schnerven aus den Corpora qua-
drigemina
abgehen. Sie miissen also beim Fische Sitz der Gesichts-
perception sein, da sich kerne andern Gehirnthede vorfiuden, die diesen
Zweck erfiillen konnten.
Noch weiter nach vorn, an der Wurzel der Riechnerven, muss
dann die Perception der Geruchseindrucke vor sich gehen.
Nun hleiben noch die Corpora striata iibrig, die mit den Pyraniiden
und den die Bewegung vermittelnden vordern Nervenwurzeln in so
enger Verbindung stehen: es sind Bewegungsorgane, auf welche der
Wille wirkt, und durch die wir die Herrschaft iiber die Bewegungen
unseres Korpers ausiiben.
Wir entnehmen hieraus, dass die erste Anlage des Gehirns mit
Theilen beginnt, durch die wir mit der Aussenwelt in Beziehung ge-
gebracht werden, niimlich mit den sensuellen Apparaten, die an ver-
schiedenen Punkten des Gehirns die von aussen empfangenen Ein-
driicke zur Perception bringcn. Spater erst treten jene Apparate auf,
die uns die Herrschaft iiber den eigenen Korper und die willkiirlichen
Bewegungen sichcrn. Die erstgenannten siud also primare Theile,
oder gleichsam die Grundlagen, auf denen das ubrigc Gebiiude mehr
und mehr zur Vollendung gebracht und complicirter hergestellt wird.
Schi'eiten wir in der Wirbelthierreihe vorwarts, so sehen wir, dass
die primarcn Grundlagen bci den Amphibien, bei den VSgeln, bei den
verschiedenen Saugethieren sich erhalten. Die Nerven entspringen
beim Fische wie beim Menschen aus den niimlichenThcilcn: der Opti-
cus
kommt bei alien aus den vorderen Vierhugelii, der Trigeminus aus
der Medulla oblongata u. s. w., und bei den niedrigeren Thieron so
gut wie beim Menschen haben Verletzungen jener Vierhiigel vollkom-
mene Erblindung zur Folge. Wir kommen so zu dem Schlusse, dass
die Functionen dieser primarcn Gehirntheile in der ganzen Thierreihe
identisch sind. Bei den hbheren Thieren treten aber neue, immer
mehr zusammengesetzte Theile hinzu, namentlich die Hemispharen,
die eben so beim fortschreitenden Wachsthume des Embryo wie auf
den hoheren Stufen des Thierreichs immer weiter nach hinten wachsen
und iiber die an der Gehirnbasis gelegenen Theile sich herlegen. Bei
den Fischen sind die Hemispharen sehr klein und lassen die Vierhiigel
noch ganz frei liegen; bei den Amphibien haben sie bereits an Grosse
zugenommen; bei den Vbgeln sind die Vierhiigel durch das Wachs-
thum der Hemispharen zur Seite verschoben, was bei den Vogel-
embryonen noch nicht so gefunden wird; bei den Saugethieren fangen
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Primare unci secundare Gehirntheile.                   11
die Hemispharen an, die Vierhligel zu iiberbrucken und beim starkeren
Wachsthume nach binten sicli iiber das Cerebellum herzulegen; beim
Menscben endlicb wachsen sie ganzlich iiber letzteres binweg.
Wir diirfen daher in die Hemispharen nicht den Sitz der sensuel-
len Perceptionen verlegen, und eben so wenig den Sitz der motori-
schenWillensenergie; denn beiderleiFuncticmen gewahren wir schon bei
den Fisehen in vollkommener Ausfiihrung, wo docb nur die erste An-
lage der Hemispharen gegeben ist. In gewisser Beziehung kann man
deshalb die Hemispharen als secundare Gehirntheile bezeichnen, die
zu den primaren hinzutreten und mit den. Organen fiir die Perception
und fiir die Willensausserung in Beziehung stehen, nicht aber selbst
diese Organe darstellen.
Allgemein ist es auch anerkannt, dass die Hemispharen unempfind-
lich und Verletzungen derselben nicht mit Schmerzenswahrnehmung
verbunden Bind. Gefiihlseindrucke kommen in ihnen nicht zurPerception.
Fragen wir nach der Bedeutung und nach den Functionen dieser
secundaren Gehirntheile, also namentlich der Hemispharen des grossen
Gehirns, so erscheint wohl die Annahme nicht zu kiihn, dass die in
den tiefer liegenden primaren Theilen bewirktenEindrucke bier weiter
verarbeitet und zu bestimmten Vorstellungen uragewandelt werden.
Auch ist es jetzt allgemein anerkannt, dass die Grosshirnhemispharen
die Organe der hoheren Verstandeskrafte sind, und dafiir liefert, wie
sich weiterhin zeigen wird, die pathologische Anatomie ganz bestimmte
Heweise.
Die verschiedene Wirkungsweise der primaren percipirenden Ge-
hirntheile und der Grosshirnhemispharen tritt recht deutlich hervor,
wenn wir auf die Vorgange beim Sehen achten. Erblicke icb z. B.
eineu Gegenstand, so erfolgt dessen Perception in den vorderen Vier-
hiigeln, und es wird diese Perception, abgesehen von der Eigenthiini-
lichkeit ties Auges, beim Fiscbe und beim Menschen die namliche sein.
Sage ich dagegen, jener Gegenstand sei ein Mensch, oder er sei ein
Freund, den ich erkenne, so haben wir es nicht mehr mit einer Wir-
kung der Vierhugel zu thun, sondern mit einer solchen der Gross-
hirnhemispharen, denen der durch die Vierhugel empfangene Eindruck
zu weiterer Auspriigung iiberliefert wurde. Dieses Wahrnehmen, Er-
kennen, Beurtheilen ist eine hohere Function, die beim Menschen und
beim Fiscbe eine sehr verschiedene Stufe eiunimmt. Verschwindet
jetzt jener Gegenstand und liort die Perception in den Vierhugeln
auf, so sehe ich zwar meinen Freund nicht mehr, es ist aber damit die
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12                     Graue Substanz und Alarksubstanz.
Secundarwirkung in den Hemispharen noch nicht ausgefallen: es kann
der Eindruck, der hier in eine Vorstellung umgewandelt wurde, zuriick-
gerufen werden, und ich kann das Bild des Freundes mit alien Eigen-
thumlichkeiten, die sich an ihm zeigten, meinem Geiste wiederum ver-
gegenwartigen.
Bevor ich eine nahere Erklarung dieser Wirkungsweise unter-
nehme, woftir spater noch mehrereBeweise beigebracht werden sollen,
ist es vor Allem aus erforderlich, den Nachweis vorzufiihren, dass
zwischen den tiefer liegenden primaren percipirenden Gehirntheilen
und den Grosshirnhemispharen wirklich ein anatomischer Zusammen-
hang vorhanden ist. Mit anderen Worten, es sind die Wege, d. h. die
Fasern nachzuweisen, wodurch die Primareindriicke den Hemispharen
zugefiihrt werden.
§.3.
Anatomischer Zusamme ii hang zwischen den primaren
Gehirntheilen an der Basis und den Grosshirn-
hemispharen.
Das centrale Nervensystem besteht aus zweierlei Substanzen, aus
der grauen und aus der weissen oder Marksubstanz. Es bedarf aber
gegenwartig kaum mebr eines ausfuhrlichen Beweises, dass die wahren
Quellen oder die Centren der Gehirnthatigkeit in der grauen Sub-
stanz und deren Zellen zu suchen sind, die Nerveufasern oder Nerven-
rohren dagegen im Allgemeinen nur Leiter darstellen. Bekannt ist
es ferner, dass alle Nerven aus Zellen der grauen Substanz entstehen,
welche Zellen durch Fasern unter einander und mit anderen Zellen-
gruppen in Verbindung stehen. In gewisser Beziehung diirfen wir
daher diese Nervenfasern mit unsern Telegraphendrahten vergleiehen,
und die Ganglienzellengruppen mit den Telegraphenbiireaus, wo eine
Wirkung erregt und durch Nervenfasern nach anderen Theilen hinge-
fuhrt wird*).
*) Freilich diirfen wir die Nervenfasern nicht durchaus' ale einfache Con-
duotoren ansehen, deren Wirksamkeit lediglich von der grauen Substanz aus-
ginge, denn den Nervenfasern selbst wohnt audi noch einige Selbstwirkung inne.
Nach neueren Untersuchlingen Pfliiger's contrahirt sich ein Muskel starker,
wenn der Reiz nicht zu nahe dem Muskel einwirkt, sondern durch eine langere
Nervenbahn verlauft. Ein durchschnittener Nerv kann die Fahigkeit verlieren,
anf Reizung durch Muskelcontraction zu antworten, durch Assruhen jene Fahig-
keit aber wieder erlangen, obgleich er von seinem Ursprunge abgetrennt ist.
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Gehirnfasern.                                         13
Bekanntlich koniraen in jenen an der Gehirnbasis gelegenenThei-
len, die ich so eben als primare bezeichnete, mehrfache Kerne grauer
Substanz vor, so z. B. am Ursprunge aller sensuellen Nerven, im ver-
langerten Marke, in den Vierhiigeln und Sehhiigeln; auch die Corpora
striata,
die uns als Centren der motorischen Willensausserung erschie-
nen, bestehen zum grosseren Theil aus grauer Substanz. Die Gross-
hirnhemispharen werden von der grauen sogenannten Rindenschicht
bedeckt. Zwischen diesen beiden Gebilden befinden sich Massen
weisser Markfasern. Man darf daber schon a priori vermuthen, dass
diese weissen Hirnfasern Conductoren dai-stellen, wodurch eine Wir-
kung von einem Theile zum andern iibergefiibrt wird und wodurch
sich auch der Zusammenhang zwischen den verschiedenen Gruppen
grauer Substanz herstellt. Den Verlauf und die Richtung dieser
Hirnfasern. gleichwie deren Zusammenhang mit der grauen Substanz,
wird man daher bei Erforschung der Gehirnfunctionen nothwendig in
Betrachtung ziehen miissen.
Vieussens, Vicq d'Azyr, Gall, besondei-s aber Reil (Reil's
Archiv,
Bd. 8. 9. 11) baben in friiherer Zeit den Verlauf der Gehirn-
fasern genauer untersucbt und beschrieben, und aus neuererZeit sind
Arnold (Icones cerebri), Foville (Anatomie du systbme nerveuxcerebro-
spinal.
1844) und Gratiolet (Leuret et Gratiolet, Anatomie comparee
du systime nerveux.
Par. 1857) besonders zu erwahnen.
Nach Foville's Untersuchungen hat man zwei besondere Faser-
systeme zu unterscheiden, wolrhe die an der Gehirnbasis gelegenen
Theile mit der Corticalschicht in Verbindung setzen. Das erste System,
welches schon den fruheren Anatomen mehr oder weniger bekannt
war, begreift jene Faserung, die von der Vorderflache der Medulla
oblongata
aus als Pyramiden durch die Briicke und die Hirnschenkel
zu den Corpora striata sich hinzieht, oder richtiger ausgedriickt, jene
Fasern, welche als Trager oder Leiter unseres Willens in den Corpora
striata
entsteben und durch die genannten Theile hindurch zur Me-
Durcli die Untersuchungen von Philip eaux und Vulpian wurde sogar er.
mittelt, dass ein durchschnittener und nach einer gewissen Zeit degenerirter
Nerv, nachdem ein langerer Zeitraum voriiber ist, wiederum zum norraalen Zustande
zuriickkehren kann, so dass er bei eintretender Reizung wieder Muskelcontrac-
tionen hervorruft, ungeachtet es nicht zur Wiedervereinigung mit dem Stamme
gekommen ist (Comptes rendus. 3. Sept. 1860. p. 363). Diese Fahigkeit empiangt
die Nervenf'aser in solchem Falle nicht von den Ganglienzellen. Die Ganglien-
zellen konnen aber als Reiz auf die in den Nervenrohren sohlumuiernde Energie
wirken, deren Eigenthumlichkeit uns freilich noch ganz unbekannt ist.
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14                                         Gehirnfasern.
dulla oblongata und zu den vorderen Markstriingen des Rtickenmarks
verlaufen. Andererseits gehen aber auch von den Corpora striata
radienformig eine Menge Fasern aus, die vertical zu den Gehirnwin-
dungen aufsteigen und in deren Rindensubstanz endigen, indem sie,
fiicherformig auseinanderfahrend, im vorderen, mittleren und hinteren
Hirnlappen bis zum unteren bin sich ausbreiten, fast iiberall parallel
mit der Fissnra magna zwischen beiden Hemisphiiren verlaufend und
ungefahr 2 Centimeter von dieser Fissur entfernt. Foville rechnet
hierzu seine Gyri vierter Ordnung. Durch diese fiicherformig aus
den Corpora striata aufsteigenden Fasern steben die Centren unseres
motorischen Willens in genauem Zusammenhange mit der grauen
Rinde des Gehirns.
Das zweite Fasersystem, welches die Centren der Perception mit
dem grossen Gehirn in Verbindung setzt, hat einen ganz andern Ver-
lauf. Von der Hinterseite der Medulla oblongata aus verlaufen die
Fasern liings der Innenseite des Thalamus und an den Wiinden des
dritten Ventrikels zur vorderen Siebplatte (Substantia perforata antica),
welche vor dem um den Hirnschenkel sich herumschlagenden
Tractus opticus und zur Seite des Chiasmi gelegen ist. Mit dieser
Stelle stebt die Wurzel des Olfactoritis in directer Verbindung, und
der Opticus liangt durch seine Commissura mollis damit zusammen.
Von da aus verliiuft diese Fasermasse bogenformig von vorn nach
hinten liber den Balken weg, und schlagt sich hinter dessen hinterem
Rande herab zum unteren Gehirnlappen: sie ist mit grauer Substanz
belegt, und es gehen immer P'asern von ihr ab, die gegen den oberen
Rand der grossen Ilirnspalte gerichtet sind. Diese Windung (bei
Foville Ourlet genannt), deren Fasern von vorn nach hinten, jcdoch
nicht fiicherformig verlaufen, scheint besonders dazu bestimmt, die
Centren der Perception mit der Rindensubstanz zu verbinden. Zu dic-
sem zweiten Systeme gehort wohl auch die von Gratiolet (Anat. com-
parrc.
PI. XXVI. Fig. ±mmmm) beschriebene Schicht von Fasern,
welche vom Tractus opticus, da wo dieser sich von hinten her gegen
die Vierhiigel und den Thalamus umbiegt, nach hinten und oben aus-
strahlen.
Ein drittcs System von Gehirnfasern bildon die Commissuren,
wodurch die beiden Halbkugeln des Gehirns unter einander in Ver-
bindung kommen.
Aus dieser kurzen Uebersicht erhellet, dass die Centren des mo-
torischen Wollens und der sensuellen Perception mit dem Grosshirn
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Centrale Ganglienzellen.                                 15
durch ein doppeltes System von Fasern verbunden sind: das eine
breitet sich von den Corpora striata aus facherformig nach oben aus;
das andere verliiuft, hufeisenformig gebogen, oberhalb des Balkens
von vorn nach hinten. Es wird deshalb noting sein, in eine niihere
Untersuchung der diese Theile znsammensetzenden Elemente einzu-
gehen und nachzusehen, ob nicht dadurch das Dunkel, welches die Ge-
himfunctionen umschleiert, einigermassen aufgehellt werden kann.
§•4.
Verschiedene Arten von Ganglienzellen im Gehirn und
Riickenmark im Allgemeinen.
Als man in den letzten Jabren die feinere Structur des Central-
nervensystems einer genaueren mikroskopischen Untersuchung zu
unterwerfen begann, stellte es sich aufs Bestimmteste heraus, dass
die Zellen, die in der grauen Nervensubstanz in so grosser Menge an-
getroffen werden, die wichtigsten Gebilde des Nervensystems sind, von
denen alle Thatigkeit ausgeht. Dabei fand man auch, dass diese
Ganglienzellen an verschiedenen Stellen der Grosse und Form nach
sich von einander unterschoiden. Die Zellen in den vorderen Hornern
des Kiickenmarks, von denen die Bewegungsnerven entspringen, zeich-
neu sich nicht nur durch bedcutendere Grosse aus, sondern sie be-
sitzen auch eine grossere Menge sogenannter Auslaufer, wodurch
sie theils unter einander, theils mit den aus ihnen entspringenden
Nerven zusammenhangen. Die Zellen in den hintern Ruckenmarks-
hornern, welche mit den sensibeln Nerven in niiherer Beziehung zu
•stehcn scheinen, sind im Allgemeinen kleiner und mehr langlieh, und
haben weniger Auslaufer. Es kommen aber auch noch kleinere Zellen
im Riickenmarke vor. Jacubowitsch (Ueber die feinere Structur
des Gchirns und Rilckenmarks.
Breslau 1857) glaubte deshalb dreierlei
Zellen untersclieiden zu sollen, namlich grosse motorische, kleine
seusil)elc, kleiuste synipathische.
Ich habe es bereits anderwarts (Bau und Functional der Me-
dulla spinalis und oblongata
u. s. w. S. 129) ausgesprochen, dass diese
Eintheilung nicht duichfiihrbar ist, da die Zellen, aus denen der Audi-
torius
entspringt, noch grosser sind, als jene motorischen in den vor-
deren Hornern des Iluckenmarks. Auch kommen im Gehirn selbst
noch viel grossere Verschiedenheiten vor. Im Cerebellum findet man
sehr grosse Zellen mit eigenthumlicher Gestaltung und Verastelung
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16                               Central^ Ganglien zellen.
und daneben wieder sehr kleine; in der Varolsbriicke sind die Zellen
kleiner, in der Substantia nigra der Grosshirnschenkel wieder grosser,
sehr klein dagegen in den Corpora striata, jedoch mit einzelnen gros-
seren untermengt; auch in der Rindensubstanz der Hemispharen trifft
man, zumal nach der Oberflache zu, Schichten feinster Zellen an, zu
deren deutlicher Wahrnehmung schon sehr starke Vergrosserungen
erforderlich sind.
Es diirfte sich wohl eher der in meiner genannten Schrift (S. 128)
ausgesprochene Satz als allgemeine Regel hinstellen lassen, dass dort,
wo den Nervenfasern oder der grauen Substanz eine eigenthiimliche
Function zugewiesen ist, specifische Zellen auftreteu, die sieh eben so
durch ihre Form und Structur wie durch den Zusammenhang mit an-
deren Zellen auszeichnen.
Durch und in diesen Zellen beginnt die eigene Wirkuugsweise,
die sich den Nervenfasern mittheilt. So finden wir bei den centripetal
wirkenden Nerven, beim Olfartorius, beim Opticus, beim Auditorius.
beim Geschmacksnerven an den peripherischen Enden Ganglienzellen,
wodurch die Thatigkeit in diesen Nerven erregt wird. Sehr wahr-
scheinlich haben wir bei den Gefuhlsnerven den namlichen Vorgang
in den Tastkorperehen, wodurch es erklarlich werden diirfte, warum
ein die Haut treffender Reiz eine andere Empfindung hervorruft, als
wenn derselbe den Nervenstamm unmittelbar trifft. Durch die schonen
Versuche von E. H. Weber wissen wir, dass die Haut zwar warme und
kalte Gegenstande unterscheidet, dass aber nur eine schmerzhafte
Empfindung zu Stande kommt, wenn ein Nervenstamm durch warme
oder kalte Gegenstande gereizt wird. Das namliche Verhalten diirfen
wir im Centralnervensysteme voraussetzen. Ueberall. wo sich Zellen
finden. geht von diesen die Wirkung aus, und wo der Effect ein ver-
schiedenartiger ist, da wird auch die Structur und die Zusammen-
setzung der Zellen sich durch Besonderheiten auszeichnen. Die mi-
kroskopische Untersuchung hat dies auch aufs Vollstandigste be-
statigt.
Bevor ich diese Verschiedenartigkeit der Zellen naher auseinander
setze, will ich erst von ihrer Wirkungsweise und von der Wirkung der
Theile, worin sie vorkommen, handeln, soweit wir dariiber Rechen-
schaft zu geben im Stande sind. Sonst wiirde die blosse Aufzahlung
jener Verschiedenheiten nur ein trockenes Verzeichniss kleiner Eigen-
thiimlichkeiten sein, worin man nicht leicht einen geregelten Zusam-
menhang wiirde herausfinden konnen.
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Nervenzellen der Sinnesorgane.                         17
§•5.
Wirkungsweise und Zusammenhang der centralen und
peripherischen Nerven- und Gehirnzellen.
Um die Wirkungsweise der Gehirnzellen zu erkennen, miissen wir
der Function unserer Sinnesorgane nachforschen, in denen die ver-
schiedenen Zellen eine so grosse Rolle spielen.
Wie sonderbar es auch auf den ersten Blick erscheinen mag, man
ist zu dem Ausspruche berechtigt, dass im strengen Sinne des Wortes
beim Sehen nicht das Licht selbst, beim Horen nicht der Schall selbst
wahrgenommen wird. Eine kurze Auseinandersetzung soil diesdeutlich
machen.
Bekanntlich liegt hinter der Netzhaut des Auges die sogenannte
Stabchenschieht, deren Stabchen so gestellt sind, dass ihre Axen mit den
ins Auge eindringenden Strahlen zusammenfallen, d. h. dass die Rich-
tung der Strahlen der Verliingerung der Stabchen folgt. Im einzelnen
Stabchen wird durch das Licht eine specifische Wirkung hervorgerufen
und durch eine hochst feine Faser auf eine Nervenzelle (Ecker,
Icones physiolog. Tab. XX, Fig. 12 b, c, g, f, m) iibertragen; dieser die
Nervenzelle treffende Reiz aber bringt jene Netzhautfaser, womit sie
in Verbindung steht, in Thatigkeit. Die Nervenfaser selbst, d. h. die
Netzhaut ist, wie wir jetzt sehr gut wissen, fur das Licht selbst un-
empfindlich, und ein Lichtkegel, der durch ein Brennglas zur Eintritts-
stelle des Opticus hingeleitet wird, wo alle Fasern der Netzhaut zu-
sammenkommen, wird nicht wahrgenommen. Es werden diese Fasern
durch die Nervenzellen erregt, die von den Stabchen her den Reiz in
Empfang nehmen. Die Fasern der Netzhaut und des Opticus leiten
dann die Wirkung nach den Corpora quadrigemina hin, wo sie wieder
in eigenthumlichen Zellen endigen, und erst hier findet die Licht-
perception statt. Alle Verletzungen der vorderen Vierhiigel haben
daher unmittelbar Blindheit zur Folge. Wenn wir uns im Dunkeln
ans Auge stossen mit der Empfindung, als sprange Licht oder Feuer
heraus, so ist das natiirlich kein Licht, sondern durch das mechanische
Moment wurde die Netzhaut gereizt, und sie pflanzte jenen Reiz nach
dem Centrum fort, wo wir ihn als Licht percipiren. Somit empfinden
wir nicht das Licht selbst, sondern eine eigenthiimliche Wirkungsweise
in den Zellen der Netzhaut und der Vierhiigel. Wir miissen aber an-
Schroeder v. d. Kolk, Geisteskrankheiten.                                                         2
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18                        Nervenzellen der Sinnesorgane.
nehmen, dass die Zellen in den Vierhiigeln mit dem Ich in einer
naheren Verbindung stehen, so dass man sie fiiglich als centrale
Zellen oder noch besser als Perceptionszellen bezeicbnen darf.
Ihre specifische Function in diesem Falle ist es, das Bewusstsein von
der Wahrnehmung des Lichtes in Kenntniss zu setzen.
Aebnlich verhalt es sich mit dem Horen. In der Scbnecke sind wahr-
scbeinlicbdieCorti'scbenZellen*) dazu bestimmt, die Schalleindriicke
den Zellen des Gehornerven mitzutbeilen, und es scheinen die Schall-
schwingungen eben so wenig im Gehornerven eine Wirkung hei-vor-
zurufen, als die Lichtstrahlen in der Netzbaut. .Sonst konnte man
sich schwer erklaren, wie wir die verschiedenen Tone eines Concert-
stiickes zu unterscbeiden im Stande sind, wenn alle Tone gleichzeitig
durcb dieselbe Nervenfaser fortgeleitet wiirden. Die Eimvirkung
wird nun einer Gehor nervenfaser iiberantwortet, die wabrscbeinlich
dem specifischen Tone entspricbt, und diese Faser leitet zu den
Centralzellen fort, aus denen der Gehornerv entspringt. Die Wirk-
samkeit dieser Centralzellen nun empfinden wir als Schall, und nicht
etwa als Licht oder alsSchmerz; wir nehmen also die specifische Wir-
kung dieser Zellen wahr, unci nicht die Luftschwingungen selbst. Des-
balb konnen aber auch Hallucinationen desGehbrs zu Stande kommen,
ohne dass ein wirklicher Schall einwirkt. Dass jene centralen Zellen
oder Perceptionszellen nicht unmittelbar durcb Scballscbwingungen
afficirt werden, ist daraus zu entnehmen, dass die Zerstorung des
inneren Gehororganes Taubbeit zurFolge hat; denn Schallscbwingungen
pflanzen sich ja durch alle Fliissigkeiten und festen Kcirper, somit
auch durcb den Schadel und durchs Gehirn fort und miissen somit
die Perceptionszellen erreichen.
Die gleicbe Eimiehtung finden wir im Riechapparate. Im oberen
Theile der Nasenbohle licgen eigentbiimlicbe Epithelialzellen, die
durch eine feine Faser mit Ganglienzellen zusammenzuhiingen
scheinen, worin Olfactoriusfasern endigen**). Sicherlich wirken
*) Vergl. Ecker's Icones phys. Tab. XVI, Fig. 2, f, g, h, k. Den Zusammen-
hang der Corti'schen Zellen mit dem Gehornerven hat man spater wieder
geleugnet, und namentlich der Bau der Vogel scheint zu widerspreuhen, wo
das dickere Ende der Corti'schen Zelle der Nervenfaser zugekehrt ist, Hier
scheinen sich die Nerven nur in der Haut oder im Knorpel der akustischen
Membranen zu verbreiten, gleichwie auch nach manchen Angaben bei den
Saugethieren der Nerv unter der Lamina perforata verblejbt.
'*) Der unmittelbare Zusammenhang dieser Theile (Ecker, Icones phys.
Tab. XVIII, Fig 2, 3, 5) ist zwar noch nicht ganz sicher erwiesen, aber doch
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Nervenzellen der Sinnesorgane.                         19
die Riechstoffe nicht direct auf die Nervenfasern, da sie wohl
kaum so schnell durch die verhaltnissmassig dicken Epithelialzellen
wiirden dringen konnen, sie scheinen vielmehr in den Epithelialzellen
eine specifisclie Wirkung zu Stande zu bringen, die mittelst der Gan-
glienzellen auf die Olfactoriusfasern iibertragen wird. Sobald diese
Epithelialzellen in ihrer Wirksamkeit eine Beeintraehtigung erfahren,
geht der Geruch verloren. Es werden auch nur fliichtige Stoffe
gerochen, jedoch nicht durch Fliissigkeiten hindurch, wenn diese auch
noch so sehr mit Riechstoffen geschwiingert sind; denn Fliissigkeiten
scheinen durch die Imbibition und Anschwellung der Epithelialzellen
eine abnorme Wirkung derselben zu veranlassen. Bei reichlicher
Schleimabsonderung im Schnupfen verlieren wir den Geruch. Der
Schleim und das Wasser konnen aber doch nur schwer bis zu dem
Nerven selbst durchdringen; sie wirken vielmehr auf die Epithelial-
zellen, die fur den Olfactorius die gleiche Bedeutung zu haben scheinen,
als die Stabchenschicht fiir die Netzhaut, oder die Cortischen Zellen
fiir den Gehornerven.
I)er Geschmacksnerv scheint in gleicher Weise zu endigen, obwohl
der anatomische Beweis dafiir noch nicht beigebracht ist. Soviel
scheint ausgemacht, dass die Glossopharyngeusfasern mit kleinen
Nervenzellen endigen (Remak in Miiller''s Archiv 1852, S. 52), und
dergleichen scheinen auch an den feinsten Fasern des Lingualis vor-
zukommen. Die Geschmackswarzchen aber scheinen auch wieder mit
Cortischen Zellen bedeckt zu sein, die in eine lange feine Faser aus-
gehen und mit Geschmacksnervenfasern zusammenhangen (Fixsen,
De linguae raninae textura. Dorp. 1857, Fig. 4, 5, 6). Ein Zusammen-
hang zwischen den Epithelialzellen und den Nervenfasern, wie er sich
zwischen der Netzhaut und deren Stabchenschicht und in den anderen
Sinnesorganen findet, ist demnach wenigstens sehr wahrscheinlich.
Soviel steht dann fest, dass Veranderungen der Epithelialzellen bei
belegter Zunge von entschiedenem Einflusse auf das Schmecken sind.
Wir konnen auch nicht fiiglich annehmen, dass die geschmackerregen-
den Stoffe in die Nerven selbst eindringen und diese direct afficiren;
denn waren die letzteren der Einwirkung der Aussendinge so ganz
hochst wahrscheinlich. Die Abbildung in der Dissertation von Erichsen
(Be textura vera Olfactorii ejusque ramorum. Dorp. 1857), welche den Zu-
sammenhang zwischen Nervenfasern und Epithelialzellen erlautert, darf wohl
Misstrauen erwecken, und es ist auch die Richtigkeit der Sache von Andern
bezweifelt worden.
2*
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20                        Nervenzellen der Sinnesorgane.
blossgestellt, so rnochten sie durch Salze und stark roizende Substanzen
wohl rascher eine Beeintrachtigung erleiden. Man kann sich ferner
nicht gut denken, dass diese Substanzen so rasch durch die Schleim-
haut dringen und mit den Nerven selbst in Beriihrung kommen soil-
ten; die Sauren wenigstens wiirden wohl durch den Speichel neutra-
lisirt werden und somit nicht mehr auf die Nerven wirken konnen.
Jedenfalls sind wir zu der Annahme berechtigt, dass die Schmeckstoffe
nicht direct empfunden werden, und durch dieselben nur eine eigen-
thiimliche Wirkung in den Geschmacksnerven zu Stande kommt, die
zu den centralen Zellen im Gehirn fortgeleitet und hier percipirt wird,
d. h. mit andern Worten, die Wirksamkeit dieser centralen Zellen
nehmen wir als Geschmack wahr. Ungewiss ist es aber, ob sich hier
verschiedenartige Zellen finden, die bei stattfindender Reizung die
Empfindung des Sauren, des Sussen oder des Bittern erwecken.
Endlich scheint es auch mit dem Hautgefuhle die namliche Be-
wandtniss zu haben. Die Endigungsweise der Gefiihlsnerven kennen
wir allerdings auch noch nicht ganz vollstandig; sie scheinen in die
Tastkorperchen auszugehen, worin auch Zellen mit korniger Masse
erfiillt vorkommen, die also vielleicht Nervenzellen entsprechen.
Freilich kennt man diese zuerst von Wagner undMeissnerbeschrie-
benen Tastkorperchen fast nur an den Fingern und Zehen, und die
Endigungsweise der iibrigen sensibeln Nerven ist noch nicht enthiillt.
Die Fortpflanzung der diellaut treffendenEindriicke erfolgt auf einem
complicirteren Wege. Die sensibeln Nerven scheinen namlich im
Riickenmarke in eigenthiimlichen Ganglienzellen zu endigen, von
denen Fasern nach der andern Seite verlaufen und von hier zur
Gehirnbasis aufsteigen, wo an oder neben dem Thalamus nervi optici
-die eigentliche Perception erfolgt*).
*) Denken wir uns die vordern Horner des Riickenmarkes, die mit den Be-
wegungsnerven zusammenhangen, und die hinleren Horner, worin die sen-
sibeln Nervenf'asern endigen, nach oben ins Gehirn verlangert, so werden
hier die vorderen Horner durch die Corpora striata reprasentirt, deren
motorische Beziehungen keinem Zweil'el unterliegen, die hinteren Horner
aber durch die Thalami, welohe wahrscheinlich die Perception des Uefuhls
vermitteln. Auch will Tiirck gefunden haben, dass bei Verlust der Gefiihls-
empfindung alleraal eine Verletzung der Thalami sich herausstellt. Damit
stimrat ganz gut eine Beobachtung von Waters (Brit. Med. Joum. 4. May
1861; Schmidt's Jahrbilcher 1861, Nr. 9, S. 294). Ein Mann, der eine Zeit
lang an Schwache des linken Armes gelitten hatte, wurde hemiplegisch; die
Sprache und das Denkvermogen waren nicht beeintrachtigt, dieZunge war
etwas nach links, der Mund nach rechta verzogen, das rechte Auge offnete sich
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Nervenzellen der Sinnesorgane.                        21
Bedeutsam ist in dieser Beziehung das bereits erwahnte Experi-
ment von E. H. Weber, wonach wir wohl verschiedene Temperatur-
grade mittelst der Haut zum Bewusstsein bringen, nicht aber dadurch,
dass wir einen erwarmten oder einen kalten Korper mit dem Nerven-
stamme in Beriihrung setzen. Im letzteren Falle kommt es nur zu
einer Schmerzempfindung. Wir diirfen hieraus den Schluss (ziehen,
dass in der Haut, und zwar wahrscheinlich durch die Nervenzellen,
die sich ja iiberall als Erreger der Nervenwirkung kund geben, eine
specifische Erregung und Wirkungsweise der sensibeln Nervenfasern
zu Stande kommt, dieser Reiz aber im Centrum des Nervensystems
als Kalte oder als Warme wahrgenominen wird. So geschieht es, dass
die Sinnesnerven, wenn der namliche Reiz, z. B. der elektrische oder
galvanische, auf sie einwirkt, doch immer durch ihre specifischen
Empfmdungen antworten: es bewirkt die galvanische Reizung Licht-
erscheinungen im Auge, Schallempfmdungen im Ohre, Geschmacks-
wahrnehmung an derZunge, Schmerz oder ein Gefuhl von Erwarmung
in der Haut. Der einwirkende Reiz ist ein und derselbe, die Wirkung
in den centralen Zellen dagegen ist verschiedenartig und .bringt uns
die den verschiedenen Sinnesorganen entsprechenden Wahrnehmungen.
Das ist der Grund, warum die Durchschneidung des Opticus nicht
schmerzt, sondern mir von Lichterscheinungen begleitet ist.
Aus dem Vorstehenden folgt, dass wir eigentlich nicht die uns
umgebende Natur selbst wahrnehmen, sondern nur die eigenthumliche
Wirkung der Gehirnzellen, welche durch Eindriicke von aussen her-
vorgerufen wird. Was hier keine Wirkung hervorruft, das wird von
uns nicht wahrgenommen. So konnen denn wohl noch mancherlei
Dinge in der Natur vorhanden sein, von denen wir keine Kenntniss
haben. Diese Zellen, die wir nach ihrer Wirkungsweise als Per-
ceptionszellen bezeichnen diirfen, stehen mit unserm Ich oder mit
unserer Seele in naherem Zusammenhange, d. h. die in ihnen wirken-
den Krafte theilen sich unmittelbar unserer Seele mit. Sie liegen
aber insgesammt in Theilen, die an der Basis des Gehirns befindlich
sind, die beim Embryo zuerst entstehen, und die bei den Fischen fast
das Gesammtgehirn constituiren.
Diese Zellen unterscheiden sich nach Grosse, Configuration und
nicht vollstandig, das Gefuhl schien nirgends beeintrachtigt zu sein. Bei der
Section fand sich das rechte Corpus striatum vollig erweicht, der gleich-
namige Thalamus ganz normal beschaffen. Waters zieht hieraus die Fol-
gerung, dass das Corpus striatum zur Bewegung in Beziehung stent.
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22                        Nervenzellen der Sinnesorgane.
Reichthum der Verbindungsfasern gar sehr von jenen Nervenzellen, die
im Riickenmarke vorkommen, und aus denen die Bewegungsnerven
entspringen, gleichwie auch Gefiilils- und Reflexnerven darin endigen,
und von deren Wirkung wir keine directe Wahrnelimung bekommen*).
Wir haben aber gesehen, dass neben diesen primaren Theilen an
der Gehirnbasis sich in der aufsteigenden Thierreihe sowobl wie im
Embryo immer mehr das grosse Gehirn entwickelt, nacb hinten wachst
und jene Grundtheile iiberdeckt. Parallel dieserZunabme des grossen
Gehirns wachsen auch die geistigen Krafte. Es wurde dann auch
nachgewiesen, dass die Rindenschicht des Grosshirns durch besondere
Hirnfasern mit den primaren Theilen an der Basis oder mit den
Organ en der Perception und des Will ens genau zusammenhangt. Die
Beschaffenheit und die Wirkungsweise dieser Zellen der grauen Sub-
stanz kennen zu lernen, wird deshalb eine wichtige, aber auch schwie-
rige Aufgabe sein.
*) Pfltiger's Ansioht, welche Lewis in seiner neueren Physiologie so sehr in
Schwung gebracht hat, will ich nicht umstandlioher auseinander setzen. Eine
bewusstlose Empfindung, die Lewis noeh von der Perception unterscheiden
will, ist fur mioh em Unding. Die Untersuchungen iiber die sensorischen
Functionen des Riickenmarks von A. Mayer in Mainz (Prager Vierteljahrs-
schrift
1861, 1. Bd., S. 44 bis 65; Schmidt's Jahrbilcher 1861, Bd. Ill,
S. 278) sind in Betreff dieses Punktes von besonderem Interesse. Nach Mayer
hat sich Piliiger insofern geirrt, als die Medulla oblongata beim Frosche
sich viel weiter nach unten erstreckt, niimlich bis zu den Sehulterblattern,
und somit beim Decapitiren des Frosches noch mit dem Riickenmarke in
Verbindung bleibt. In ihr wurzeln aber Qefiihl und Bewegung, wio aus der
Entwickelungsgeschichte der Thiere und am Gehirne der Fische zu ersehen
ist. Jene Erscheinungen, welche die Existenz der Empfindung und will-
kiirlichen Bewegung beurkunden, horen bei den Froschen auf, sobald auch
die Medulla oblongata weggenommen wird. Darin liegt ein neuer Beweis
dafiir, dass der Sitz der willkiirlichen Bewegung in den Corpora striata und
am Ende der Medulla oblongata zu suchen ist. Ist das eigentliche Riicken-
mark noch allein vorhanden, so fehlt die willkiirliche Bewegung, und es
kommt nur noch zu Reflexbewegungen; die Thiere fuhren nicht mehr co-
ordinate Bewegungen aus, und sie verrathen keine Empfindlichkeit. Die
Beweise, welche man aus den Bewegungen des Schwanzes bei Aalen, Sala-
mandern, ja selbst jungen Katzen hergenommen hat, sind nicht iiberzeugend.
Die Bewegungen des Katzenschwanzes variiren je nach der Verschiedenheit
der gereizten Punkte. So land Schiff, dass der Schwanz bei Reizung der
Schwanzspitze sich allerdings von dem Reize abwandte, bei Reizung der
Schwanzwurzel dagegen sich der Flamme naherte.
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Zellen der Rindensubstanz.                            23
§• 6.
Zellen der Rindensubstanz.
Klinische Untersuchungen, Vivisectioneu und die vergleichende
Anatomie fuhren zu der jetzt wohl allgemein anerkannten Annahme,
dass die Rindenschieht der Grosshirnhemispharen mit den geistigen
Thatigkeiten in engerer Beziehung stelit. Untersucht man aber diese
Rindenschieht mikroskopisch, z. B. auf vertikalen Schnitten, so sieht
man, dass die Fasern der Marksubstanz facherformig in sie eindringen,
sich wiederum zu Biindeln vereinigen, durch querlaufende Fasern
gekreuzt werden, zwischen den Biindeln aber zahlreiche Ganglien-
zellen liegen. Diese Zellen haben eine mannigfaltige Grosse, wenn-
gleich sie alle zu den sehr kleinen gehoren; sie haben mehrere sehr
feine Auslaufer, meistens 3 bis 4*). Daneben kommen noch ganz feine
Zellen vor, die meistens an einem ausserst diinnen Fadchen sitzen und
durch dasselbe mit einer Nervenfaser oder mit einer grbsseren Zelle
in Verbindung stehen.
§.7.
Wirkungsweise der Zellen in der Rindensubstanz.
Es liegen in der Rindensubstanz verschiedene Zellenarten in
mehreren Reihen iiber einander, in denen die vertikal eindringenden
Markfasern zu endigen scheinen, und ausserdem scheinen diese Zellen
auch noch unter einander durch Fasern in Verbindung gesetzt zu sein.
Die verschiedenartige Grosse und Configuration dieser Zellen recht-
fertigt wohl die Annahme, dass sie auch verschiedene Functionen
haben.
Wir haben aber gesehen, dass die eigentlichen Sinneseindriicke
den in deri primaren Gehirntheilen liegenden Perceptionszellen zu-
gefiihrt werden, welche Zellen durch eigenthiimliche Fasern mit der
*) Den Faserverlauf, wie ihn Berlin (Beitrag zxw Structurlehre der Gross-
hirnwindungen.
Erlangen, 1858) abbildet, finde ich ganz gut. Die Ganglien-
zellen dagegen finde ich dort zu gross und auch zu sparsam angegeben;
denn sie sind in zahlloser Menge vorhanden.
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24                            Zellen der Rindensubstanz.
Gehirnrinde zusammenhangen. Hierhin mogen also wohl jene Ein-
driicke weiter geleitet und hier mogen sie verarbeitet werden, etwa
in folgender Weise.
Wenn wir zu Bett gehen und uns z. B. auf die eine Seite legen,
60 schweben unserm Geiste eine Menge verwirrter Bilder vor. Sind
wir etwas erregt durch eine vorausgegangene lebhafte Gesellschaft
oder durch irgend eine andere Ursache, dann werden diese Bilder
so lebhaft, dass sie den Schlaf verhindern. Unwillkiirlicli legen wir
uns dann auf die andere Seite und die Bilder verschwindeii, werden .
jedoch bald durch andere ersetzt. Wir legen uns nach einiger Zeit
wiederum auf die andere Seite, um von den lastigen Bildern befreit
zu werden, was sich wohl noch mehrmals wiederholt, bis wir endlich
einschlafen. Dieser Vorgang lasst folgende Erklarung zu. Wie das
Blut auf das gesammte Nervensystem einen erregenden Einfluss iibt, so
besonders aueh auf die an Capillaren so ungemein reiche Rindensubstanz.
Die Gehirngefasse haben bekanntlich diinnere Wandungen, da ihnen
die Muskelfaserschicht fast ganz abgeht, weshalb sie auch nur einen
schwiicheren Druck auf das Blut ausiiben konnen. Das Blut, dem
Gesetze der Schwere folgend, wird sich in den tiefer gelegenen Par-
tien der graueu Substanz anhiiufen, und in Folge des starkereu An-
drangs und der starkeren Transsudation starker auf die^Zellen ein-
wirken, wodurch deren natiirliche Function in Wirksamkeit tritt. Es
erwecken aber diese Zellen nicht etwa die Vorstellung des Lichts oder
des Schalls oder des Schrnerzes, vielmehr werden die durch die Sinnes-
organe empfangenen Eindriicke zu ihnen geleitet, zu Vorstellungen
und Bildern vereinigt und durch erneuerte Beizung reprodueirt.
Wendeii wir uns daher unter den angegebenen Verhaltnissen auf die
andere Seite, dann hort jene unwillkiirliche Thatigkeit auf, das Blut
senkt sich aber in der andern Hemisphere und es beginnt hier das
namliche Spiel.
Damit erklart sich das unwillkiirliche Auftreten und die Unregel-
massigkeit dieser Bilder und Vorstellungen. Und nicht bloss bei
Nachtzeit, sondern auch unter Tage, wenn wir im Gesprache sind,
gehen wohl solche unfreiwillige Bilder an unserm Geiste voriiber. Eine
recht gute Schilderung derselben finden wir in Gaubius' trefflicher
Abhandlung „de regimine mentis, quod medicorum est",- wo es heisst:
quam incommodum saepe est rem uliquam eogitanti, sopitis etiam sen-
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Zellen der Rindensubstanz.                            25
sibus ezternis, tot tamque alienas ex corpore suggeri imagines; quam
difficile, cum prosiliunt, reprimere, cavere ne continue intcrveniant
*).
Fiihrt denn aber, kann man fragen, diese Theorie nicht zum
grobsten Materialismus, und wird nicht unsere Seele dadurch zur Stufe
eines blossen Zellenlebens herabgedriickt? Mit Nicliten. Bei jener
Auffassung, wobei ich dem Gange der Natur nioglichst getreu gefolgt
bin, bleibt nach meinem Dafiirhalten die Selbststandigkeit des Ich5
der Seele, auf das Bestimmteste gewahrt. Denn sobald wir in dem
Zeitraum, wahrend dessen jene Bilder so verwirrt und kraus vor
unserm Geiste voriiberziehen, es nur wollen, halten wir eins von jenen
Bildern fest, um es ganz nach unserm Gutdiinken weiter auszu-
schmiicken. Das beweist doch, dass nocli ein; hoheres Vermogen in
uns wirksam ist, welches jene Eindriicke aufzunehmen und wahrzu-
nehmen vermag, zugleich aber auch selbststandig einzugreifen und die
ordnungslose Masse zu beherrschen im Stande ist/ Wir haben ein
Telegraphenbiireau, zugleich aber auch cineu Telegraphisten, der mit
Willkiir und Selbststandigkeit eingreift. Die unwillkiirliche Vorstellung
jener Bilder ist eine organische Gehirnwirkung: wir fiiblen es, dass
die Bilder uns vorgestellt werden, dass sie nicht das eigne Ich sind,
und sie existiren als Objecte ausser uns. Unser Wille dagegen gehort
zum Ich, er ist nicht Product des Korpers, sondern der Seele, er ist
Subject. Der Materialist will uns zu einem Telegraphenbiireau ohne
Telegraphisten machen, zu einem Automaten, der nur blind wirkt, ohne
Ordnung, ohne Willen, ohne Verstand und Urtheil, zu einem ununter-
brochenen Traumer, der seine eigenen Traume nicht wahrnehmen kann.
Die Willkiir gehort dem hoheren Ich an, sie ist ein seelischesVermogen.
Mit diesen unwillkiirlichen Bildern stimmen auch jene uberein,
die als Zeichen von Gehirnreizung in unsern verwirrten Traumen vor-
*J Es kann noch die Frage aufgeworfen werden, ob die unwillkiirlichen und
verwirrten Bilder, die uns umgaukeln, wirklich Producte der Hirnrinde sind,
oder ob sie etwa in der Netzhaut entstehen und uns von hier aus entgegen-
gefiihrt werden. Dieser letzteren Annahme widerstreitet folgender leicht zu
wiederholender Versuch, den ich mehrmals angestellt habe. Hat man im
Dunkeln ein solches Bild vor sich, so bewege man die Augen nach rechts
oder nach links, und man iiberzeugt sich davon, dass jenes Bild den Bewe-
gungen der Augen nicht folgt, vielmehr unverriickt nach vorn stehen bleibt.
Achtet man dann genau auf die Stelle, welche das fragliche Bild einnimmt,
und fiihrt man den Finger dahin, so gewahrt man, dass diese Stelle ober-
halb der Augen gelegen ist, etwa vorn an der Stirn, d. h. in der Gegend
der Lobi anteriorcs cerebri.
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26                            Zellen der Rindensubstanz.
kommen. Der korperliche Gesundheitszustand ist deshalb vom ent-
schiedensten Einflusse auf die Traume. Nach einer stiirkeren Abend-
mahlzeit, wobei es zu vermehrter Congestion nach demGehimekommt,
traumen wir gewobnlich, und zwar wohl in Folge von Reizung der
Zellen in der Rindenschicht, in denen friihere Eindriicke und Vor-
stellungen wieder erweckt werden, und wozu der Impuls jetzt nicht
von der Seele, sondern vom Korper ausgeht.
Die Verbindung dieser Zellen unter einander scheint den Zweck
zu haben, die durch die Sinnesorgane empfangenen Eindriicke zu ver-
kniipfen, zu Vorstellungen und Bildern fiir unsere Seele urnzugestalten,
wie denn audi umgckehrt unsere Seele jene Eindriicke wieder wach
rufen kann. Es sind diese Zellen die physischen Elenicnte des Er-
innerungsvermogens, und bei Verletzungen der Gehirnrinde im Blod-
sinn oder im hoheren Alter geht das Gedachtniss schnell verloren,
d. h. es konnen dann in diesen Zellen die friiheren Eindriicke nicht
mit gleicher Leichtigkeit reproducirt werden.
Trifft die Hirnrinde ein fremdartiger Eindruck, wird sie durch
beschleunigte Circulation, durch das mehr oder weniger pathologisch
veranderte Blut im Nervenfieber starker gereizt, dann erlangen jene
Vorstellungen und Bilder solche Starke, dass wir sie nicht mehr von
den durch die Sinnesorgane oder eigentlich durch die Perceptionszellen
zuStande gebrachten zu unterscheiden vermogen: es entsteht Delirium.
Oder nach reicblichem Genusse von Spirituosis gehen die Bilder
rascher und unter starkerem Eindrucke an unserem Geiste voriiber,
so dass wir ihnen nicht mehr genau folgen konnen: die Gedanken
gehen uns durch und wir reden irre.
Einen recht instructiven Fall fiir die Bedeutung der Hirnrinde-
zellen beobachtete ich an einem Handelsmanne, der in Begleitung
seines Sohnes zu mir kam, um sich iiber seinen Zustand Raths zu er-
holen. Vor etwa einem halben Jahre, erzahlte mir der Sohn, hatte
der Vater einen Schlaganfall von nur kurzer Dauer gehabt, der keine
Lahmungserscheinungen hinterliess; dagegen war das Namens- oder
Wortgediichtniss grossentheils verschwunden, so dass er die Gegen-
stande mit falschen Namen belegte, und z. B. das Wort Stuhl ge-
brauchte, wenn er einen Tisch meinte. Er wusste nun recht gut, dass
das Wort Stuhl nicht das richtige war und brachte ein anderes
Wort hervor, bis er zuletzt auf Tisch kam, welches Wort er dann mit
voller Befriedigung iiber das Auffinden des Richtigen aussprach. Der
Fehler lag in diesem Falle nicht in den Corpora striata, sondern in
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Zellen dei' Rindensubstanz.                            27
der Rindenschicht, denn es zeigten sich keinerlei Lahmungserschei-
nungen, weder an den Gliedmaassen noch an der Zuuge.
Etwas Aehnlichcs ist mir wiederholt vorgekommen. Es zeigte sich
aber bei diesem Kranken noch ein anderes merkwiirdiges Verhalten,
dergleichen ich noch nicht beobachtet hatte. Der Sohn theilte mir
namlich weiterhin mit, dass sein Vater nicht mehr zu lesen im Stande
ware, obwohl das Sehvermogen nicht beeintrachtigt war. Ich legte
dem Manne ein grossgedrucktes Buch vor; er unterschied darin ganz
gut die Buchstaben, und buchstabirte z. B. das Wort h i n z u, er
vermochte aber nicht, diese Buchstaben zu einem Worte zu combiniren.
Die Perception der Buchstaben durch die Zellen der Corpora
quadrigemina
erfolgte also ungeschmalert, es war aber das Vermogen
verloren gegangen, diese Zeichen zu verarbeiten, sie zu einer Vor-
stellung, zu einem Worte zu verbinden. Dieser Process scheint eben
in der Gehirnrinde vor sich zu gehen.
Der Mann hatte auch die Fahigkeit des Schreibens verloren, so
dass er seinen Namen nicht mehr aufzeichnen konnte. In seinen
Fingern war keine Spur von Lahmung zu bemerken, und gleichwohl
brachte er Figuren aufs Papier, die einem umgekehrten Buchstaben
glichen, oder fast ganz unkenntlich waren. Er hatte mithin nicht
bloss die Fahigkeit verloren, Zeichen oder Buchstaben zu combiniren,
sondern auch die deutliche Vorstellung oder Riickerinnerung dieser
Zeichen war ihm abhanden gekommen, und darauf beruhte wohl seine
Schreibunfahigkeit. Denn wenn diese Vorstellungen in der Rinden-
schicht fehlten, so konnte der Mann nicht mehr dergestalt durch seinen
Willen auf die Corpora striata einwirken und seine Bewegungen der-
gestalt beherrschen, dass die Buchstaben oder Worter richtig aufs
Papier gebracht vurden. In diesem Falle ist der Zusammenhang
zwischen der Rindenschicht und den Corpora striata, den Organen der
willkurlichen Bewegung, durch die verbindenden Hirnfasern ersichtlich.
So ist in der Phantasie des Malers eine deutliche Vorstellung
des von ihm Gemalten vorhanden. Diese Vorstellung entsteht ihm
nicht in den Corpora striata, sondern in der Rindenschicht, wo die
Eindriicke sich zu einem Bilde zu vereinigen scheinen, oder wohin
sich die Eindriicke wenigstens fortpflanzen, die sein Wille repro-
duciren und auch aufs Papier bringen kann.
Das Auffallendste bei meinem Kaufmanne war aber, dass derselbe
nach Versicherung des Sohnes sein Handelsbuch noch fiihren und
nach wie vor rechnen konnte. Leider vergass ich, mir durch
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28                            Zellen der Riridensubstanz.
eigene Versuche iiber diesen Punkt Gewissheit zu verschaffen. Es
konnte dies daran erinnern, dass es sogenannte hervorragende
Talente giebt, z. B. ausgezeichnete Rechner, die aber von andern
Diugen nieht viel oder sogar sehr wenig verstehen. Bestimmter aber
fiihrt es darauf, dass vorschiedene Theile der Rindenschicht auch mit
verschiedenen Functionen betraut sind, wofiir weiterhin noch andere
Beweise beigebracbt werden sollen.
Ganz ahnliche Beobachtungen finden sich in einer interessanten
Abhandlung des Dr. Marce (Memoire sur quelques observations de
physiologic pathologique, tendant a demontrer I 'existence d'un principe
coordinateur de Vecriture et de ses rapports avec le principe coordinateur
de la parole. Extrait de la Gaz. mid. de Paris,
1856). Marce fiihrt
darin 12 Falle auf, die er theilsselbstbeobachtet, theils gesammelt hat.
Ein Mann hatte die Sprache verloren, konnte aber noch schreiben.
Sollte er das vorgesprochene Wort tambour nachsagen, so sprach er
frontage, er schrieb aber das Wort ganz richtig. Die Worter feuille
medicate
schrieb er ganz richtig ab, als er sie aber aussprechen sollte,
sagte er fcquicale, fenicale, fcdicale.
In drei von den zusammengestellten Fallen war auch die Fahig-
keit zu schreiben verloren gegangen. Bei einem dieser drei Falle
fehlte das Wortgedachtniss. Man gab dein Kranken ein Taschentuch
und er wusste nicht den Namen dafiir, wahrend er hinschrieb, er habe
das Wort vergessen. Das Wort Taschentuch schrieb er richtig ab; er
brachte aucb ein Taschentuch zum Vorschein, als der Name genannt
wurde, und er konnte es auch schreiben. Allein nach ein Paar Minuten
hatte er wieder den Namen vergessen, und er konnte ihn auch nicht
mehr schreiben.
Die eilfte Beobachtung stimmt darin mit der meinigen, dass der
Kranke die einzelnen Buchstaben fur sich ganz gut unterschied, aber
nicht mehr im Stande war, sie zu einem Worte zusammenzustellen.
Er schrieb ein Wort ganz richtig ab, konnte es aber nicht schreiben,
wenn es ihm dictirt wurde. Auch dieser Kranke konnte dabei, gleich
meinem Handelsmanne, recht gut Zahlen schreiben.
Der Kranke der siebenten Beobachtung wurde hergestellt. Als er
seinen Namen noch nicht aus dem Gedachtniss aufschreiben konnte,
schrieb er nicht nur Zahlen, sondern er loste auch complicirtere arith-
metische Aufgaben und setzte die Zahlen iiberall an die richtige Stelle.
Spater erst ting er auch an, Worter zu schreiben.
Auch in der sechsten und achten Beobachtung konnten die
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Zellen der Rindensubstanz.                            29
Kranken keine Buchstaben schreiben und brachten nur unverstand-
liche Charactere aufs Papier.
Die verschiedenen geistigen Thatigkeiten gingen also nicht immer
gleichzeitig verloren: einzelnenKranken fehlte die Wortfiigung, andere
konnten nicht aus dem Gedachtniss Buchstaben formen, und dabei war
bei Einigen das Zahlengedachtniss vollkommen erhalten. Das verstan-
dige Denken war bei Allen ungestort. So muss man wohl mit Marce
annehmen, dass diese geistigen Thatigkeiten nicht an der namlichen
Stelle des Gehirns in Wirksamkeit kommen. Daraus erklart es sich
dann auch wohl, warum manche Personen, z. B. ich selbst, ein weit
besseres Zahlen- als Namengedachtniss haben.
Die Zellen in der Rindenschicht durfen wir also als die Apparate
fur das Gedachtniss und fur die Phantasie ansehen. Damit steht es
im Einklange, dass bei Gehirnkrankheiten, namentlich wenn die Rinden-
schicht leidet, das Gedachtniss so leicht verloren geht, und ebenso im
hoheren Alter, wenn die Zellen nicht mehr so reizbar sind und zum Theil
atrophieren oder sich doch wenigstens veriindern. Denn in der Medulla
spinalis
und Medulla oblongata wenigstens sind die Zellen im hoheren
Alter dunkler gefarbt und pigmentreicher. Wenn sie dann auf stattfin-
dende Einwirkung nicht mehr antworten und die verlangte Vorstellung
des Bildes uns nicht mehr verschaffen, dann fehlt uns die Erinnerung.
Eine merkwiirdige Beobachtung der Art machte ich bei einem
Manne, der durch eine von einem Falle ausgegangene Hirnerschiitterung
das Gedachtniss fur die meisten Worter und Sachen verloren hatte.
Er kam in die Utrechter Anstalt, und konnte weder seinen Namen,
noch sein Alter, noch seinen Geburtsort angeben; auch konnte er beim
Sprechen oftmals die "Worter nicht finden. Als er eine Katze zu Ge-
sicht bekam, war er sehr verwundert liber das merkwiirdige Thier,
dergleichen er noch nicht gesehen hatte, und er fing an die Katze
mit einem Stocke auf den Sand zu zeichnen. Bald darauf begegnete
ihm das Namliche mit einem bliihenden Kastanienbaume. Die Schon-
heit der Bliithen, die er noch nie zuvor gesehn haben wollte, fand er
so auffallend, dass er auf den Baum stieg, sich einen Bluthenzweig
pfliickte und diesen mit Bleistift abzuzeichnen begann. Er wunderte
sich dariiber, dass ihm dies so gut gelang, da er der Meinung war, er
habe niemals Zeichnen gelernt, und er glaubte deshalb, alle Menschen
waxen geborene Zeichner. Er wollte nun alle Kranke, mit dencn er
inBeriihrung kam, zeichnen lassen, da sie dies ja nach seiner Meinung
gleich gut mussten ausfiihren konnen. Da seine Schuler zum Theil
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30                            Zellen tier Rindensubstanz.
unwillig und ungelolirig waren, so gab er sich grosse Miihe, sie davon
zu iiberzeugen, dass sie, falls sie nuv wollten, gleich gut wie er selbst
zeichnen konnten. Nach einiger Zeit fing sein Gedachtniss an sicli zu
bessern, unci mehrfache Erinnerungen aus seinem friiheren Leben
kehrten ibm zuriick. Er erzahlte meisteris beiin Krankenbesuche, was
er in der vorhergehenden Nacht getraumt hatte', und er erkannte des
Morgens in diesen Triiumen Theile seiner friiheren Lebensgeschichte. Es
wurden ilim die Namen mehrerer Dorfer Frieslands genannt, aus welcher
Provinz er gebiirtig war, darunter auch der Name seines Geburtsdorfes.
Er erkannte darin zwar seinen friiheren Wohnort noch nicht, aber der
Name machte doch einen besondern Eindruck auf ihn: es war ilnn
ein recht hiibscher und merkwiirdiger Name, ohne zu wissen warum.
In der nachsten Nacht kam ihm im Traume das Bild seines Dorfes
zuriick, und nun erzahlte er, dass er in diesem Dorfe gewohnt hatte.
Es war ihm, „als ware etwas aus seinem Gehirne weggeschoben", und
er wurde wiederum in Stand gesetzt, sich neue Sachen vorzustellen.
Dies wiederholte sich zumal in seinen Traumen mit mehreren Dingen,
und es hatte den Anschein, als ob durch den wahrend des Schlafs ver-
mehrten Blutandrang und durch die bessere Ernahrung die Zellen zu
ihrer Wirksamkeit zuriickkehrten. Nach ein Paar Wochen war er
ganz hergestellt, ohne dass eine Spur des Gehirnleidens oder des Ge-
dachtnissmangels zuriick blieb, und er verweilte noch langere Zeit im
dienenden Verhiiltniss in der Anstalt. Wir sehen also, dass in diesem
Falle die Wirksamkeit jener Organe, worin sich unsere Vorstellungen
und Bilder reproduciren, durch die Gehirnerschutterung gehemmt
worden war: mit ihrer Wiederherstellung kehrte das Gedachtniss zuriick.
Die Hemmung der Wirksamkeit dieser Zellen scheint iibrigens
leicht einzutreten. Selbst im ruhigen traumlosen Schlaf scheint dies
der Fall zu sein, und der Ausfall ihres Wirkens und aller Vorstellun-
gen scheint mit dem Fehlen des Bewusstseins in genauem Zusammen-
hange zu stehen.
Wir konnen diese Zellen, durch welche uns Bilder reproducirt
werden, als Vorstellungszellen bezeichnen. Es fehlt nicht an Bei-
spielen, dass ihre Wirkung merkwiirdiger Weise in mehr oder weniger
starkem Maasse gehemmt wurde. Eine junge Dame erlitt beim Durch-
gehen eines Pferdes einen heftigen Stoss mit dem Kopfe gegen einen
in der Niihe befindlichen Baum und wurde dadurch bewusstlos. Sie
kam zwar wieder zu sich, behielt aber dann noclj drei Wochen hin-
durch etwas Kindisches; dabei erkannte sie mich iibrigens ganz gut,
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Zellen der Rindensubstanz.                            31
und erinnerte sich aufs Bestc meines Besuclis am vorhergehenden
Tage. Eines Morgens erwachte sie nun wie aus einem Traume und
war vollkommen bei sich, nur hatte sie alles vergessen, wasseitjenem
Anschlagen an den Baum mit ihr vorgegangen war. Sie wusste, dass
sie im Wagen gesessen hatte, dass das Pferd durchgegangen war, dass
sie mit demKopfe angestossen war; die hierauf folgenden drei Wochen
dagegen waren ganz aus ihrem Lehen gestrichen.
Noch sonderharer sind die Falle, wo ein periodisches Nachlassen
oder Schwindeu des Gedachtnisses aufzutreten scheint. Vor mehreren
Jahren wurde ich wegen eines zwanzigjahrigen Madchens consultht,
die vor sieben Jahren eine langwierige Krankheit iiberstanden hatte,
aus der endlich der nun bereits vier Jahre bestehende Zustand her-
vorgegangen war. Am Morgen nach dem Erwachen stellte sich zu
einer bestimmten Stunde eine Art Chorea ein, wobei sie mit den
Handen tactmassig nach rechts und links schlug; das dauerte eine
halbe Stunde, dann kam sie zwar zu sich, benahm sich aber ganz und
gar wie ein Kind. Am folgenden Tage wiederholten sich die Zuckun-
gen. Nach deren Beendigung aber verhielt sie sich wie ein recht
gescheidtes Madchen; sie sprach gut Franzosisch und Deutsch und
zeigte sich recht belesen. Dabei wusste sie aber nichts vom unmittel-
bar vorhergegangenen Tage, sondern ihr Gedachtniss correspondirte
nur mit dem zweitvorhergegangenen Tage oder mit dem sogenannten
hellen Tage. Dies ging so weit, dass sie an dem lappischen oder
kindischen Tage wieder Franzosisch zu lernen angefangen, aber nur
massige Fortschritte gemacht hatte, wahrend sie doch am folgenden
Tage ganz fliessend sprach. Ich hatte sie vierzehn Tage hindurch
stets am sogenannten kindischen Tage besucht, wo sie mich allemal
erkannte. Dann kam ich zum ersten Male an einem guten Tage zu
ihr, und da war ich ihr ganz fremd; sie konnte sich nicht entsinnen,
mich gesehen zu haben. Dieser Wechsel trat bereits seit vier Jahren
ununterbrochen und mit solcher Regelmassigkeit ein, dass man die
Uhr darnach hatte stellen konnen; denn dieStosse oder Schlage kehr-
ten immer um die namliche Zeit wieder und wiederholten sich auch
in der namlichen Anzahl. — Sie wurde einmal von einem Tertianfieber
befallen, dessen Paroxysmen keinen Einfluss auf die Krankheit ausserten.
In Erwartung einer gunstigen Riickwirkung wollte man das Fieber
nicht sogleich stopfen; es postponirte und fiel auf den bosen Tag. Da
wusste das Madchen nicht, was ihr fehlte, und benahm sich so, als
hatte sie nichts von dem Fieber gehort. — Wiilu-eiid des Sommers zog
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32                            Zellen der Rindensubstanz.
sie mit den Eltern gewbhnlich auf ein Landhaus, und man wahlte den
schlimnien Tag zum Umzuge. Wenn sie dann am nachsten Tage er-
wachte, war sie sehr erstaunt iiber die Wohnungsanderung und wusste
nicht, wie sie an den jetzigen Ort gekommen War.
In der Abhandlung iiber dunkle Gehirnkrankheiten von Forbes
Win slow (Edinbg. Review 1860) wird ein ahnlicher Fall mitgetheilt,
nur dass hier eine vierwbchentliche Periode hervortrat.
Diese Falle beweisen wobl zur Geniige, dass das Gedachtniss an
die Organisation gekniipft ist und an deren Krankheiten Theil nimmt.
Nur konnen wir nocb nicht angeben, welche Veranderungen in den Zellen
der Rindensubstanz vor sich gehen miissen, wenn bestimmte Erschei-
nungen auftreten sollen.
In den oben mitgetheilten Fallen von Gediichtnissmangel haben
die hoheren Geistesvermbgen keine Stbrung erlitten, und die Urtheils-
kraft ist nicht geschwiicht, nur stiitzt sich das Urtheil oftmals auf
falsche Priimissen. Giebt man die Pramissen zu, dann hat der
daraus gezogene Schluss voile Berechtigung, und wir selbst wiirden
nicht anders schlussfolgern, wenn wir mit jenen einverstanden waren.
Die hoheren Geistesvermbgen sind also nicht an diese Zellen und
deren Wirkung gebunden, sie sind Aeusserungen der Seele selbst,
und dadurch ist die logische Ordnung und Regelmassigkeit bedingt,
gegeniiber den verwirrten organischen Vorstellungen.
Bemerkenswerth ist es, dass nicht alle Sinnesorgane indemnamli-
chen genauenZusammenhange mit den hoheren Geistesvermbgen stehen.
Den vornehmsten Sinn haben wir zuverliissig im Sehorgane, wodurch
uns die Vorstellungen von Farbe und Form zugefuhrt werden; die
durch dasselbe erhaltenen Eindriicke werden auch zumeist reproducirt,
und wir reden von Denkbildern. Auch steht der Gesichtsnerv in
anatomischem Zusammenhange mit den gesammten Hemispharen, vorn
namlich durch die Commissura mollis, seitlich durch den um den
Grosshirnschenkel sich herumschlagenden Tractus opticus, hinten durch
die vonGratiolet entdeckten Ausstrahlungen; die Fasern der vordern
Vierhugel aber strahlen liings der Thalami nach der Lamina perforata
antica
aus, und verbreiten sich von hier durch Foville's Ourlet weiter
in die grossen Hemispharen. Eine so vielfache Verbindung des Nerven
mit dem grossen Gehirne findet sich bei keinem andern Sinnesorgane.
Wir sprechen aber auch nicht von Denkkliingen und Denkge-
schmacken, sondern nur von Vorstellungen und Denkbildern.
Sicherlich steht auch der Gehbrnerv mit dem grossen Gehirne in
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Zellen der Rindensubstanz.                             33
genauer Verbindung, und namentlieh wohl mit dem obern und hintern
Theile der Hemispharen. Deshalb wirkt aber der Gehornerv mehr
auf das Gefiihl und das Gemiitb, denen diese Gehirntheile, wie ich
spater ausfuhren werde, im Besonderen dienen, wahrend das Gesicht
mit dem Verstande in engerer Beziehung steht.
Wie die Gesichtsvorstellungen, so werden auch die Gehbrsvor-
stellungen in der Rindenschicht reproducirt. Der Componist schreibt
sein Musikstiick fiir das voile Orchester, ohne ein Instrument zu Hiilfe zu
nehmen, und in seiner Einbildung hort er das ganze Concert in solcher
Weise, dass er den Wohllaut und die Harmonie des Ganzen zu em-
pfinden und auf die regelmassigste und beste Weise die den verschie-
densten Instrumenten gleichzeitig entstammenden Tone zu combiniren
im Stande ist. Bekanntlich konnte der grosse Beethoven wegen
Taubheit seine eigenen Compositionen nicht horen. Als ihn einstmals
nach Vollendung einer Composition ein Freund besuchte, dem er sein
neues ihn selbst erfreuendes Werk vorfuhren wollte, setzte er sich
ans Pianoforte und spielte; der Freund aber horte nur verwirrteTone,
weil der taube Beethoven nicht wusste, dass an dem schon an und
fiir sich verstimmten Instrumente auch noch viele Saiten gesprungen
waren, so dass er nur Misstone hervorbringen konnte.
Pathologische Veranderungen und Reizungen der Zellen in der
Gehirnrinde, welche mit dem Gehornerven in Verbindung stehen,
haben die bisweilen auftretenden Gehorshallucinationen zur Folge.
Wir sind iibrigens noch weit davon entfernt, in der Gehirnrinde
die Stellen zu kennen, wo die Vorstellungs- oder Erinuerungszellen
jedes einzelnen Sinnesorganes gelegen sind.
§.8.
Verschiedene Krafte in verschiedenen Hemispharentheilen.
Dass nicht alien Partieen der Gehirnwindungen ganz gleiche
Functionen zugewiesen sind, ist schon langst vermuthet worden. Dass
ferner eine schon gewolbte Stirn in der Regel auf hohere Geistes-
gaben hindeutet, war bereits den Griechen nicht unbekannt, wie wir
aus ihren Darstellungen eines Zeus, Apollo u. s. w. entnehmen kon-
nen. Die stark vorragende Stirn als Vorzug des Menschen fiel indessen
bestimmter in die Augen, als Camper den nach ihm benannten Ge-
sichtswinkel aufstellte, und dessen Verschiedenheiten bei Azteken,
Schroeder v. d. Kolk, Geisteskrankheiten.                                                    3
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34            Functionen verschiedener Heraispharentheile.
Negern und Europaern, desgleichen bei Kindern und bei Erwachsenen
hervorhob.
Gall verfuhr zwar hochst willkiirlich in der Localisirung seiner
Organe, doch verlegte er wenigstens die wichtigsten Organe der hohe-
ren Geistesvermogen hinter die Stirn.
Car us (Grundzuge einer Cranioscopie, Stuttgart 1841. Ueber ivissen-
schaftliche Cranioscopie
in Muller's Archiv, 1843, S. 149) unterscbied drei
Abtheilungen des Gehirns, die den drei Schadelwirbeln entsprachen, und
die sich bei alien Wirbelthieren wiederfinden sollten. Die vorderste
Abtheilung oder die Hemispharen, die im Wesentlichen unter dem
Stirnbeine liegen, ist ibrn wesentlich Sitz des Verstandes, namlich des
Vorstellens, des Erkennens und derEinbildungskraft; in der mittleren
Abtheilung unter den Scheitelbeinen, wozu audi die Vierhugel gebo-
ren, hat vorziiglich das Gefiihl und das Gernuth seinen Sitz; an die
hintere Abtheilung im Hinterhauptwirbel ist der Wille, das Begehrungs-
vermogen, die Reproduction der Gattung gekniipft. Zwar kann ich
nicht ganz mitCarus iibereinstimmen; seinen Angaben iiber diebeiden
ersten Abtheilungen sind aber spater manche Bestatigungen zu Theil
geworden, und meine weiterhin mitzutheilenden Beobachtungen stehen
auch damit im Einklange. Car us macht geltend, dass die vordere
Abtheilung des Gehirns, die regio intellectus, um so besser entwickelt
ist, und zwar beim Menschen sowohl wie bei Thieren, je mehr die Ver-
standeskriifte hervortreten: er fand die Stirn bei vielen Gelehrten und
ausgezeichneten Mannern, wie Kant, Ehrenberg, Purkinje, Re-
tzius, Raumer, Thorwaldsen, Schiller, G6the sowohl hoher als
auch breiter. Er hebt ferner hervor, dass beim Weibe der mittlere
Schadelabschnitt verhaltnissmassig mehr entwickelt ist als der vordere,
wahrend es sich beim Manne umgekehrt verhalt; er stiitzt sich dabei
auf Hamilton, der den vorderen Abschnitt des miinnlichen Gehirns
grosser fand, und beruft sich auch auf die geringe Entwickelung der
Stirn bei Negern und uucultivirten Volkern.
Bestimmtere Messungen iiber die geschlechtlichen Differenzen der
Hemispharenoberflache verdanken wir Huschke (ScMdel, Him und
Seele,
Jena 1854). An normalen Gehirnen erhielt er fur den Abstand
des oberen Endes der Centralfurche vom vorderen und vom hinteren
Ende des Gehirns
beim Weibe 59 und 130 Millimeter = 31,3 : 68,7
beim Manne 88 und 113 Millimeter == 43,9 : 56,1.
Er fand ferner, wenn das Gehirn vor dem Balken vertikal durch-
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Functionen verschiedener Hemispharentheile.            35
schnitten wurde, dass der vordere Abschnitt beim Manne, der hintere
beim Weibe verhaltnissmassig mehr entwickelt ist. Die Oberflache
des mannlichen Stirnbeins betrug im Mittel (fiir 32 Schadel) 15000
Quadratmillimeter, jene des weiblichen Stirnbeins nur 13000 Quadrat-
millimeter. Da iibrigens der weibliche Schadel absolut kleiner ist,
so verglich er das Areal des Stirnbeins mit jenem des ubrigen Schadel-
daches, soweit die Hemispharen dadurch bedeckt werden, und diese
beiden Werthe stellten sich im Mittel fiir 14 Weiberschadel = 26,5 :
73,5 Proc, im Mittel fiir 16 Mannerschadel = 28,3 : 71,7 Proc. —
Ferner macht sich nach Huschke's Messungen bei den hoher ste-
henden Menschenrassen entschiedener ein Unterschied der Schadel-
capacitat beim mannlichen und weiblichen Geschlechte geltend, als
bei den niedrigerenRassen: es tritt dieser Unterschied beim Europaer
in starkerem Maasse hervor als beim Neger. Desgleichen zeigt auch
die germanische Rasse eine starkere Entwickelung des Stirnbeins im
Verhaltniss zum ubrigen Schadeldache im Vergleich mit niedrigeren
Rassen, deren Geistesentwickelung zuriicksteht. Auch stellte sich bei
Huschke's Messungen das merkwiirdige Resultat heraus, dass die
Sch'adelknochen bis zum vierten Jahre die doppelte Grosse erreicht
haben, das Stirnbein aber dariiber hinaus wachst und beim Erwachse-
nen manchmal die dreifache Grosse erreicht.
Retzius {Beurtheilung der Phrenologie vom Standpunlde der Ana-
tomie
in Milller's Archiv, 1848, S. 243) verglich die Entwickelung des
menschlichen Gehirns mit der Entwickelung dieses Organes in der
Thierreihe, fand, dass der hintere Gehirnlappen beim Embryo sich am
-spatesten entwickelt und eigentlich dem Menschen allein zukommt,
und kam dadurch zu dem Schlusse, dass die vorderen Gehirnlappen
am niedrigsten, die hinteren Gehirnlappen am hochsten zu stellen
seien. Wenn wir indessen aus anderen Griinden annehmen miissen,
dass der obere und hintere Theil der Hemispharen mehr fiir das
Gefiihls- und Gemiithsleben bestimmt ist, worin doch der Mensch, im
Vergleich mit den Thieren, selbst noch hoher steht, als in seiner Ver-
standesentwickelung, so steht jene Thatsache nicht in Widerspruch
mit unserer Annahme, dass der vordere, unter demStirnbeine gelegene
Abschnitt der Hemispharen mehr fiir das Verstandesleben bestimmt
ist, der obere und hintere Abschnitt der Hemispharen eher im Dienste
des Gefiihlslebens steht.
Mein verehrter Freund R. Wagner (Gottinger gelehrte Ans. 1860,
Februar und Mai, und TJeber die typischen Verschiedenheiten der Win-
3*
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36            Functionen verschiedener Hemispharentheile.
dungen der Hemispharen und iiber die Lehre vom Himgetvicht u. s. tv.,
Gottingen 1860) hat uns mit Tabellen des Hirngewichts von Per-
sonen ungleicher Intelligenzgrade und beiderlei Geschlechts beschenkt.
Obenan stehen durch Maxima des Hirngewichts beriihmte Manner;
doch steht auch ein funfzehnjahriger Knabe sehr hoch oben iiber meh-
reren Gelehrten, und auch Frauen kommen iiber die letzteren zu
stehen. Wagner zieht deshalb aus jenen Wagungen den Schluss,
dass das ^ittlere Hirngewicht bei sehr intelligenten und bei weniger
intelligenten Individuen nicht differirt.
Diesem Resultate von Wagner kann ich wohl beistimmen, nur
scheint mir der zur Vergleichung angelegte Maassstab kein richtiger
zu sein. Es kommt bei den Wagungen die Verschiedenartigkeit der
Todesursachen mit inBetracht. Bei einem an Typhus Verstorbenen ist
sicherlich in Folge der Congestion viel Transsudat im Gehirne, wo-
durch dessen Gewicht erhoht wird. Da ferner, wie Huschke nach-
gewiesen hat, bei Mannern die Stirnlappen, bei Weibern die Hinter-
lappen grosser sind, so kann ungeachtet der Ungleichheit bestimmter
Gehirntheile das Gesammtgewicht des Gehirns bei zwei Individuen
gleich sein, oder das weibliche Gehirn kann selbst noch schwerer
wiegen. Wagner wiirde wohl zu besseren Resultaten gelangt sein,
wenn er den von Huschke eingeschlagenen Weg weiter verfolgt hatte.
Dass die vorderen Gehirnlappen der Gelehrten am windungs-
reichsten waren, steht mit meinen Beobachtungen und mit meiner
Anschauung imEinklange. Auffallender Weise fand Wagner an denGe-
hirnen zweier recht intelligenter Individuen doch nur wenige Windungen.
Leider ist aber dabei nicht angegeben, ob deren vordere Lappen doch
nicht vielleicht mehr entwickelt waren.
Eine Vergleichung des Gewichts des grossen Gehirns mit dem
Cerebellum, dessen Function uns doch noch ziemlich verschlossen ist,
wurde wie von Anderen, so auch von Wagner unternommen. Ein
besonderes Resultat stellte sich dabei nicht heraus, ausgenommen
dieses, dass bei Weibern das grosse Gehirn relativ zum kleinen ein
grosseres Gewicht hat.
Gegenwartig kommen die meisten Autoren in der Ansicht zu-
sammen, dass in der vorderen Abtheilung des grossen Gehirns der
Sitz der hoheren Geistesvermogen angenommen werden muss. Der
Beweise dafur sind so viele, dass ich diesen Satz als einen der zuver-
lassigsten in der Physiologie des Gehirns ansehe.
Es. ist eine bekannte Sache, die wir bei Idioten bestatigt sehen,
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Functionen verschiedener Hemispharentheile.           37
dass mit einer nicht gewolbten Stirn Schwache der Geisteskrafte ver-
bunden zu sein pflegt. Man stosst zwar auch auf Cretins und Idioten
mit grossen Kopfen; dann aber liegt meistens Wasseransammlung zu
Grunde. Bei gesunder intellectueller Thatigkeit sind Schadelformen
ausgeschlossen, wo die Stirn stark nach hinten geneigt ist, so dass die
vorderen Gehirnlappen nur klein sein konnen*).
Die Gehirnformen der Thiere liefern auch Bestatigungen. Dahin
zahlt die starkere Entwickelung der vorderen Gehirnlappen beim
Orang-Utang, der in dieser Beziehung dem Menschen zunachst steht,
aber auch die starkste intellectuelle Entwickelung unter den Thieren
wahrnehmen lasst.
Es war mir vergonnt, das Gehirn eines beriihmten Mathematikers
und Physikers, der sich durch hervorragende Intelligenz und durch
Scharfsinn auszeichnete, zu untersuchen, und ich war verwundert iiber
die Menge von Windungen an diesem Gehirne, die allerdings an und
fiir sich nicht gross waren. Die namliche Formation sah ich spater
bei R. Wagner in Gottingen am Gehirne des beriihmten Gauss, und
Aehnliches fand ich dort auch an Gehirnen anderer ausgezeichneter
Gelehrten.
Gerade das Umgekehrte finde ich am Gehirne eines Idioten in
meiner Sammlung. Alle Windungen an den vorderen Gehirnlappen
bis zur vordern Centralwindung sind nur wenig entwickelt und in ge-
ringer Anzahl vorhanden, wahrend die hinter jener Centralwindung
gelegenen Gyri gross und sonst normal sind.
Die iiberzeugendsten Beweise finde ich aber in pathologischen
Verhaltnissen. Als Resultat meiner vieljahrigen und genauen Unter-
suchungen, wovon ich weiterhin noch Manches beibringen werde, kann
ich es aussprechen, dass bei eigentlicher Verstandesverwirrung auch
allemal die Rindenschicht unter dem Stirnbeine dunkler gefarbt er-
schien, fester mit der pia mater zusammenhing oder erweicht war.
Bei Melancholie dagegen, wo angstliche Aufregung, ein Gefiihl von
Hitze und Beklemmung auftreten, und wo mehr das Gemiith als der
Verstand leidet, findet man eher pathologischeVerandei-ungen an den
Windungen der oberen und hinteren Lappen.
*) Selbstveratandlich kann bei den kiinstlich zu Stande gebrachten Schadel-
formen der sogenannten Flachkbpfe in Amerika nicht von einem Defecte
die Rede sein, sondern nur von einer Verschiebung; sie konnen demnach
nicht als Gegenbeweis hingestellt werden.
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38            Functionen verschiedener Hemispharentheile.
So kommen wir denn zu dem Schlusse, dass die Zellen in der
Rindenschicht der oberen und hinteren Lappen anders wirken als jene
in der Rindenschicht der vorderen Lappen: jene bringen Gemuths-
stimmungen zu Stande. Ob es vielleicht noch verschiedene Classen
oder Abtheilungen dieser Zellen giebt, das lasst sich bis jetzt noch
nicht entscheiden.
Vergleicht man nun die Abbildungen der Rindenschicht im Vorder-
hirne und Oberhirne bei Berlin (Beitrage zur Structurlehre der Gross-
himwindungen,
1858) und Stephany (Beitrage zurHistologie derHirn-
rinde)
mit der Structur des Cornu Ammonis, worin wir doch nur eine
Windung des unteren Hirnlappens anzunehmen haben, bei Kupffer
(Be cornu Ammonis textura. Dorpati 1860), so gewahrt man eine solche
Verschiedenheit in der Anordnung der Rindensubstanz, dass man
schon allein hieraus auf eine verschiedenartige Thatigkeit schliessen
muss. Dafiir liefern auch pathologische Beobachtungen bestatigende
Beweise.
Auch bei Thieren zeigt sich eine verschiedene Textur der grauen
Substanz im vorderen und hinteren Gehirnlappen, wie ich beim Hunde
und beim Kaninchen gefunden habe. Beim Kaninchen sieht man im
vorderen Lappen Faserbundel mit zwischengelagerten Zellen, die meist
tripolar sind; im hinteren Lappen, da wo sich die Wurzel des Riech-
nerven herumschlagt, zeigt sich eine Textur, die mit jener des mensch-
lichen Cornu Ammonis iibereinstimmt, namlich eine regelmassige
Reihe gestielter Zellen, die wie Orgelpfeifen dicht an einander stehen.
Im vorderen Lappen messen die Zellen 0,166 bis 0,168mm, die Kerne
aber 0,102mm; im hinteren Lappen giebt es einzelne grossere Zellen
von 0,216mm mit Kernen von 0,140 bis 0,152mm, die Stabchenzellen
aber sind kleiner und haben nur 0,126 bis 0,140mm Durchmesser.
§.9.
Vivisection en.
Meine im vorigen Paragraphen niedergelegten Untersuchungs-
ergebnisse linden in den Vivisectionen eine Bestatigung. Ich will
nicht in eine ausfiihrlichere Darstellung dessen eingehen, was die ver-
schiedenen Autoren aus ihren Vivisectionen gefolgert haben, beschranke
mich vielmehr auf dasjenige, was Schiff (Lehrbuch der Physiologie,
1. Theil) als Resultate seiner Untersuchungen mittheilt, obwohl ich
nicht alien seinen Folgerungen beitreten kann.
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Ergebnisse der Vivisectionen.                          39
Durch Wegnahme des grossen Gehirns verfallen Thiere nach dem
einstimmigen Zeugnisse aller Autoren in einen schlafsiichtigen oder
lieber passiven Zustand. Sie bemerken noch empfangene Eindriicke,
es fehlt aber das eigentlich active Auswirken oder die Verarbeitung
derselben. Die Pupille verengt sich bei Lichteinwirkung, und bei hel-
lerem Lichte schliessen die Thiere auch die Augen, ja in einzelnen
Fallen folgte dem Hin- und Herbewegen einer Flamme selbst ein Be-
wegen des Kopfes. Auch das Schmecken ist nicht ganz aufgehoben,
denn wenn Koloquintensolution an die Zunge gebracht wird, so bewe-
gen die Thiere dieselbe, sie verziehen die Lippen, sie offnen und schlies-
sen den Schnabel. Ueber das Riechen liisst sich zwar nichts ermit-
teln; doch zeigt sich die Nasenschleimhaut noch empfindlich gegen
Ammoniakdiinste. Das Gehbr anlangend, so machen zwar plotzliche
Detonationen keinen Eindruck auf die Thiere, ebenso wenig das Ge-
schrei der Raubvbgel, wodurch sie fruher so sehr in Schrecken ver-
setzt wurden, und selbst ein Anlegen und Aufrichten der Ohren findet
nicht mehr Statt. Das riihrt jedoch nach Schiff davon her, dass alle
(lurch Gchorsemptindung hervorgerufenen Reflexe mehr oder weniger
durch andere Vorstellungen, durch ein sogenanntes Urtheil bestimmt
werden. Denn dass die Thiere noch horen, glaubt Schiff deshalb an-
nehmen zu diirfen, weil die Operation den Gehbrnerven gar nicht
beeintrachtigt, und die Thiere ja doch noch sehen, obwohl der Seh-
nerv weit leichter bei der Operation zu Schaden kommt. Mancherlei
spricht auf bestimmte Weise fur das Vorhandensein des Hautgefiihls.
So putzen Vogel ihre Federn, wenn sie durch Ungeziefer geplagt wer-
den. Man vermisst aber die ausseren Zeichen grosser Unlust und
peinlicher Schmerzen, sobald man nur das Schreien der Thiere und
die Reflexbewegungen nicht damit verwechselt. Die Eindriicke werden
passiv aufgenommen, ohne bleibende Vorstellungen oder Erinnerungen
zu veranlassen, und ohne die Reflexion oder das Urtheil zu beein-
flussen.
Aus alle dem erhellet zur Geniige, dass der eigentliche Sitz der
Perception nicht in den Grosshirnhemispharen zu suchen ist, sondern
in Theilen an der Gehirnbasis, wo die Nervencentren befindlich sind.
Ueber das Ausschneiden der Grosshirnhemispharen theilt Schiff
auch noch Folgendes mit. Ein Murmelthier, eine Katze suchen zu
entweichen, wenn man ihnen Koloquinten auf die Zunge gebracht hat,
und sie wehren sich dagegen, wenn man den Versuch wiederholen will.
Nach Ausschneidung der Hemispharen jedoch suchen sie nicht mehr
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40                          Ergebnisse der Vivisectionen.
zu entweichen, und einer Wiederholung des Versuchs setzen sie kei-
nen grbssern Widerstand entgegen. Schiff will dies aus der gehin-
derten Reflexbewegung erklaren. Der eigentliche Grund dieses ver-
schiedenartigen Verhaltens ist indesseii einfach darin zu suchen, dass
dem Thiere das Gedachtniss abhanden gekommen ist. Wir sehen dar-
aus, dass die Eindriicke auf die eigentlichen Perceptionszellen, d. h. auf
die Centra der sensuellen Nerven, keine bleibenden sind, weil j a sonst
auch eine Verwirrung unter den auf einander folgenden Eindrucken
oder ein Verscbmelzen der Eindriicke entstehen miisste. Es iiber-
dauern jene Eindriicke nicht die Erregung, welche von den Sinnes-
organen her die Perceptionszellen trifft. In jenen Zellen des Gross-
hirns dagegen, wo die Eindriicke zu Vorstellungen und Bildern com-
binirt werden, sind die Eindriicke verharrend und konnen auch leicht
wieder hervorgerufen werden, das heisst also, diese Zellen sind die
materielle Basis des Gediichtnisses.
Die der grossen Hemispharen beraubten Thiere sehen audi noch,
wie man aus ihren Bewegungen bei starkerer Erhellung entnehmen
kann; nichtsdestoweniger stossen sie aber, wie blinde Thiere, wieder-
holt gegen mechanische Hindernisse an, ohne dass sie diesen auswei-
chen konnen. Den Eindruck vergessend, sind sie nicht mehr im Stande,
ihre Korperbewegungen nach bestimmten Vorstellungen zu modifici-
ren; die Fahigkeit, das Hinderniss zu erkennen, und die nothige Com-
bination, um dasselbe zu vermeiden, ist ihnen mit dem Vorstellungs-
vermogen benommen. Sie nehmen passiv wahr, ohne zu reagiren; sie
verstehen und begreifen nichts mehr. So kann sich ein Thier mit
Futterstoffen im Munde oder Schnabel todt hungern, weil es nicht
schluckt, bis die Speise in den Baches kommt, wo dann der unwill-
kiirliche Reflex die Schluckbewegung hervorruft.
Werden die Hemispharen schichtenweise abgetragen, so werden
die durch die Sinneseindrucke hervorgerufenen Bewegungen dem Grade
nach immer schwacher, je tiefer der Schnitt kommt und je mehr Ge-
hirnmasse weggenommen wird. Aber schon bei Flourens (Recherches
experimentales
etc., Par. 1824, p. 98) findet sich die richtige Bemer-
kung, dass diese Abnahme nicht von einem einzelnen Sinnesorgane
ausgeht, vielmehr alle Sinnesorgane in gleichem Grade eine Abstum-
pfung erleiden, oder mit anderen Worten, die Thatigkeit in den hohe-
ren Organen oder der Vorstellungskreis schwindet.
Der Blutverlust bei der Operation und die gestb'rte Circulation
konnen zuerst auch die noch unverletzten Theile beeintrachtigen.
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Ergebnisse dcr Vivisectionen.                         41
1st der operative Eingriff kein zu intensiver gewesen, dann kbnnen die
sensuellen Functionen allmalig immer mehr zuriickkehren.
Bei Exstirpation nur Einer Hemisphere sah Schiff keine Veran-
derung oder Schwachung der thierischen Bewegungen eintreten. Wurde
die Operation mit Vorsicht ausgefiihrt, so benahmen sich die Thiere
gleich anderen Thieren, die einen starken Blutverlust erlitten haben.
Wir diirfen aber hieraus schliessen, dass der "Willc noch seinen Ein-
fluss iibt auf die Corpora striata, die ich weiter oben als den Sitz der
motorischen Willensausserungen hingestellt habe, und dass auch das
Gedachtniss nicht verloren gegangen ist. Auch sind ja Falle bekannt,
wo bei Menschen die eine Hemisphere ganz zerstort angetroffen wurde,
ohne dass die Verstandeskrafte verloren gegangen waren.
Sehr merkwiirdig sind jene die Corpora striata betreffenden Ver-
suche. Schiff nimmt bei einem Kaninchen die Hemispharen weg, so
dass die Corpora striata blossliegeu, und dann entfernt er audi die
letzteren mit grosser Vorsicht, ohne sensible Fasern zu beriihren oder
Schmerzen zu erregen. Das Tbier bleibt jetzt ganz ruhig sitzen, als
wenn es gar nichts litte, und zeigt keinen Trieb fortzulaufen. Es sitzt
aber in seiner bekannten Stellung da, zumBeweise, dass es sein Gleich-
gewicht zu erhalten im Stande ist. Fasst man jetzt vorsichtig eine
Hinterpfote und streckt sie, so lasst das Thier diese Gliedmaasse lie-
gen und zieht sie nicht wieder vor. Streckt man jetzt auch die an-
dere Hinterpfote nach hinten, so dass der Bauch des Thieres auf den
Boden zu liegen kommt, so verharrt das Tbier in dieser Stellung, als
ware es gelahmt. Man kann auch die Vorderpfoten nach der Seite
verstellen, so dass das Thier mit dem Thorax aufliegt, und dabei ist
es einerlei, ob die Pfoten eine symmetrische Stellung haben oder nicht.
Jetzt kann man die Pfoten wieder in ihre natiirliche Stellung zuriick-
bringen, und sie stiitzen neuerdings den Hinterleib. Ein Thier mit
gelahmten Pfoten miisste aber jetzt umfallen. Das Kaninchen ist
gleichsam kataleptisch geworden. Bringt man nun an der einen oder
der andernStelle einen starkeren Druck an, dann erhebt sich das Thier
plbtzlich, reckt Kopf und Ohren in die Hohe und fiihrt zuerst langsam
regelmassige Spriinge aus. Es waren bei dem scheinbar erschopften
Thiere gewiss nur schwachere Bewegungen zu erwarten; aber mit je-
dem Sprunge scheint die Kraft zuzunehmen, die Bewegungen werden
immer schneller, und ist nur Platz da, so stiirzt sich das Thier in blin-
der Hast unauflialtsam vorwarts, bis es endlich auf ein Hinderniss
stosst und plotzlich stehen bleibt. Statt aber die sitzende Stellung
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42                          Ergebnisse der Vivisectionen.
mit angezogenen Pfoten einzunehmen, bleibt es unbeweglich in jener
Haltung, in welche es durch den Anstoss versetzt wurde, namlich die
Hinterpfote gestreckt oder halb gehoben und die Nase gegen das Hin-
derniss gestenmit. Es ist wunderbar, welche grosse Strecken ein Thier
mit stets zunehmender Geschwindigkeit durchmessen kann, falls es auf
kein Hinderniss stosst. Ist es einmal im Springen, dann geht es so
schnell, dass kein Mensch nachkommen kann.
Eine Erklarung der merkwurdigen Erscheinung fallt nicht schwer.
Bei alien diesen Bewegungen ist der eigentliche Wille ausgeschlossen:
sie erfolgen passiv wie bei einer ledernen Puppe, sobald der Bewe-
gungsapparat nur einmal in Gang gekommen ist. Fangt das Thier
einmal an zu springen, so vermag es nicht mehr durch Willenseinfluss
die Bewegungen zum Stillstand zu bringen, sondern es verhalt sich
wie ein ablaufendes Uhrwerk.
Schiff wirft nun die wichtige, aber schwierige Frage auf, wo denn
jene Kraft sitzt oder wirkt? Wenn er andere, weiter nach hinten ge-
legene Hirntheile wegnahm, dann traten die genannten Erseheinungen
nicht hervor. Indessen bedarf es auch nicht unerliisslich hierzu einer
Wegnahme der Corpora striata, denn das namlich e Resultat stellte
sich auch heraus, wenn die Fasern durchschnitten wurden, welche vom
vorderen und iiusseren Rande der Corpora striata aus radienformig in
die Hemispharen ausstrahlen, das heisst also der sogenannte Strahlen-
kranz, wodurch der Zusammenhang zwischen den Hemispharen und
den Corpora striata vermittelt wird. Aus diesem Grunde will Schifi
die Corpora striata als den Anfang der Hemispharen gelten lassen.
Nach dieser Erklarung wurden die Corpora striata nicht Apparate
fur die Bewegung sein, und Schiff stellt auch geradezu die Behaup-
tung auf, dass sie bei den Bewegungen nicht wirken. Soviel steht fest,
dass, wenn nach ihrer Wegnahme noch so rasche Bewegungen zu
Stande kommen konnen, das eigentliche Centrum motorium hinter den
Corpora striata liegen muss, da wo die Hirnschenkel in die Thalami
eintreten *).
Ich war bis jetzt immer der Meinung, unser Wille wirke direct auf
die Corpora striata, und nicht bloss von den Hemispharen aus. Dieser
*) R. Wagner (Gott. gel. Am. Febr. I860, S. 58) sucht das Centrum moto-
rium
in der Substantia nigra der Hirnschenkel; indessen habe ich Bedenken
gegen diese Annahme. Verletzungen des Corpus striatum haben doch bestimmt
Lahmung zur Folge, und findet eine Erweichung der Substantia nigra Statt,
dann leiden auch zugleich die von den Corpora striata kommenden Fasern.
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Ergebnisse der Vivisectionen.                          43
Annahme liegt hauptsachlich die Erwagung zu Grunde, dass, wie ich
selbst zu beobachten Gelegenhejt hatte, Tuberkeln, apoplektische Er-
giisse und Zerstorungsprocesse zwischen den Corpora striata und der
Rindenschicht nicht immer Lahmungen zur Folge haben, die dagegen
bei Ergiissen in die Corpora striata niemals auszubleiben scheinen.
Wie iibrigens der Wille auch von den Hemispharen aus auf die Cor-
pora striata
zu wirken vermag, habe ich schon weiter oben entwickelt
und auf das Beispiel des Malers verwiesen, der ein in seiner Phanta-
sie entworfenes Bild auf s Papier bringt.
Ich habe mir dabei niemals verbergen konnen, dass es Schwierig-
keiten hat anzunehmen, unser Wille wirke gleichzeitig auf zwei ver-
schiedenen Punkten, namlich in der Rindenschicht und in den Corpora
striata.
Ich darf aber wohl darauf hinweisen, dass die Wahrnehmung
des Lichts sicherlich in den Corpora quadrigemina erfolgt, insofern die
Wegnahme der Hemispharen kein vollstandiges Erblinden nach sich
zu ziehen scheint, wahrend der Geschmack wenigstens durch jene
Operation gewiss verloren geht.
Unmoglich konnen wir annehmen, dass den Corpora striata, die
bei den Embryonen aller Wirbelthiere doch zuerst mit auftreten und
nirgends fehlen, keine Function zugewiesen sei, wie es in dem Schiff-
schen Satze ausgesprochen ist, welcher dahin lautet, es besassen diese
Gehirntheile keine besonderen Eigenschaften und in physiologischer
Beziehung diirften sie nicht von den Hemispharen getrennt werden.
Wirkte der Wille von den Hemispharen aus auf die Corpora striata,
so ware es schwer begreiflich, warum die Wegnahme Einer Hemisphare
nicht Lahmung der entgegengesetzten Korperseite zur Folge hat.
Flourens (Becherches exper. p. 29) nahm nach dieser Operation bis-
weilen eine Abschwachung wahr, die sich indessen bald wieder verlor.
Schiff schreibt dies aber nur zufalligen Ursachen zu, die wahrend
eines gewissen Zeitraums storend einwirken konnen; denn wenn bei
Kaninchen, Hunden, Katzen, Murmelthieren die Exstirpation nur Einer
Hemisphare mit Vorsicht ausgefuhrt wird, dann tritt nur eine derar-
tige Schwache ein, wie sie allgemein nach Blutverlusten beobachtet
wird, und sehr bald verliert sie sich wieder. Eine Taube, der beide
Hemispharen exstirpirt worden sind, fliegt, wenn sie in die Luft ge-
worfen wird, sie bewahrt im Laufen das Gleichgewicht, und wird sie
auf den Riicken gelegt, so steht sie auf. Daraus ersieht man, dass
der Wille nicht giinzlich verloren gegangen ist, sondern noch in den
Corpora striata wirkt.
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44                         Ergebnisse der Vivisectionen.
Im Berichte der fur die Flour en s'schen Experimente ernannten
Commission wurde schon hervorgehoben, der ganzliche Verlust der
Perception in Folge der Hemispharenexstirpation sei durch Flour ens
noch keineswegs erwiesen, wenngleich jene sich nicht kund giebt und
das Gedachtniss fehlt. Das bestatigen auch die Versuche, welche
Longet (Traite de physiologie, 1850, T. 2, p. 240) in Betreff dieses
Punktes unternahm. Derselbe brachte eine Taube mit exstirpirten
Hemispharen ins Dunkle. Naherte er sich rasch mit einem hellen
Lichte, dann contrahirte sich die Iris und selbst die Augenbffnung
wurde kleiner, ja als er eine brennende Kerze im Kreise herum be-
wegte, und zwar in solcher Entfernung vom Thiere, dass die Warme
davon nicht einwirken konnte, so machte es mit dem Kopfe entspre-
chende Drehbewegungen. Hatte das Thier die Augen geschlossen, wie
es meistens der Fall war, und es wurde eine Pistole abgeschossen,
dann offnete es die Augen, erhob den Kopf und streckte den Hals,
worauf es neuerdings in Schlaf verfiel. Auch sah er, dass junge Ka-
tzen, denen die Hemispharen weggenommen waren, nach Einbringen
von Koloquinten Bewegungen mit den Kiefern und mit der Zunge vor-
nahmen, gleich anderen Thieren, die einen widerlichen Geschmack
von sich abwehren wollen.
Die eben genannte Flourens'sche Commission bezeichnete auch
schon die Grosshirnhemispharen als das Receptaculum, worin die Per-
ceptionen ihre Vollendung erreichen (consommes), wo die sinnlichen
Empfindungen bestimmte Form annehmen, Eindriicke hinterlassen und
damit das stoffliche Material fur das Urtheil liefern: eine Auffassung,
die ganz mit der meinigen ubereinstimmt.
Ich darf somit annehmen. dass die Vivisectionen vollkommen jene
Satze bestatigen, zu deren Aufstellung ich durch ganz andere Griinde
gefiihrt worden bin: die Grosshirnhemispharen sind nicht die prima-
ren Organe fur die Perceptionen, vielmehr werden in ihnen die sinn-
lichen Eindriicke zu Vorstellungen und zu Bildern gesammelt. Damit
stimmt es auch iiberein, dass nach belangreicher Zerstorung der Rin-
denschicht durch Entziindung oder durch Atrophie die Erscheinungen
der Stumpfheit und des Blodsinns auftreten, obne dass die Wahrneh-
mung sinnlicher Eindriicke verloren geht, sofern nur nicht deren Cen-
tra Schaden erlitten haben.
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Kleines Gehirn.                                      45
§• 10
Das kleine Gehirn.
Unter alien Gehirntheilen setzt meines Erachtens das kleine Ge-
hirn die grossten Schwierigkeiten entgegen, wenn es sich um Ermitte-
lung der Functionen handelt.
Flourens, Hertwig und Andere haben die Beobachtung ge-
macht, dass Verletzungen der Kleinhirnhemispharen oder gar Weg-
nabme derselben den erheblichsten Einfluss auf die Korperbewegun-
gen aussern, die zwar nicht unterdruckt sind, deren voile Beherrschung
aber zu fehlen scheint. Man wies deshalb dem Cerebellum die Coor-
dination der Bewegungen zu. Hiergegen spricht aber, dass ein Frosch,
dem das grosse und kleine Gehirn weggenommen worden sind, noch
springt und regelmassige Bewegungen vollbringt, wenn auf eine seiner
Pfoten ein Reiz einwirkt.
R. Wagner (Gott. gel. Ariz. 1860, Nr. 4, S. 36) kommt durch seine
Untersuchungen zu dem Schlusse, dass das kleine Gehirn ein rein mo-
torischer Hirnapparat ist, welcher bei der Perception der Sinnesein-
driicke, bei der Bildung der Vorstellungen gar nicht, bei den organi-
schen Functionen ebenfalls nicht oder nur sehr entfernt betheiligt ist.
Das kleine Gehirn scheint ihm allerdings auf die Regulirung der sym-
metrischen Korperbewegungen, insbesondere der Gangbewegungen, zu
influiren, ohne dass es aber deshalb geradezu als Regulator der Kor-
perbewegungen zu betrachten ist. Menschen wie Thiere konnen nach
bedeutenden Beschadigungen des kleinen Gehirns die einzelnen Glied-
maassen noch bewegen, den Rumpf aber und die hinteren Gliedmaassen
haben sie nicht recbt in ihrer Gewalt.
Nach Schiff folgen der Verletzung des kleinen Gehirns die glei-
chen Erscheinungen, die wir bei Verletzung der von ihm ausstrahlen-
den Fasern, z. B. des Pons Varolii, wahrnehmen. Findet die Verle-
tzung nicht symmetrisch auf beiden Seiten Statt, so kommt es zu ei-
ner ungleichen Haltung der Wirbelsaule, und dadurch entstehen unregel-
massige Bewegungen. Schliesslich spricht er sich indessen dahin aus,
dass die Functionen des kleinen Gehirns noch ganzlich unbekannt
sind.
Dass das kleine Gehirn vorzugsweise dazu bestimmt sei, das Gleich-
gewicht zwischen beiden Seiten des Korpers zu sichern oder die letz-
teren wenigstens in eine nahere Verbindung zu bringen, hat man wohl
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46                               Circulation im Gehirne.
aus dem Faserverlaufe zu schliessen. Mit den Pyramiden, die doch
ausschliesslich der Bewegung der Gliedmaassen zu dienen scheinen,
steht der Pons Varolii in engster Verbindung. Hinter oder uber den
Pyramiden liegen die verschiedenen Centren sensibler und motorischer
Nerven, und daneben die Hiilfsganglien der Oliven, sowie die Corpora
restiformia,
die ein anderes System aus dem Cerebellum ausstrahlen-
der Fasern darstellen. Diese gehen in die Fibrae arciformes uber,
welche die hinter der Briicke gelegenen Theile wechselseitig verbin-
den. Ein dritter paariger Faserzug, die Crura cerebelli ad Corpora
quadriyemina,
verlauft seitlich langs der sogenannten Haube, und diese
Fasern kreuzen sicb nach Stilling in den Hirnschenkeln. Mogen nun
diese Fasern, wie Wagner (G-ott. gel.Anz. 1860, Jan., S. 35) meint, dazu
dienen, Eindriicke vom grossen Gebirn nach dem Cerebellum zu leiten, oder
inogen auch an alien Crura centripetale und centrifugale Fasern vor-
kommen, das Wahrscheinlichste ist fiir mich, dass die bilateralen Be-
wegungen vom Cerebellum beherrscht werden, und zwar auf reflekto-
ri8chem Wege.
§• 11.
Die Circulation im Gehirne.
Um die bei Geisteskrankheiten auftretenden Gehirnstorungen ge-
horig begreifen zu konnen, ist es nothig, die Beziehung der Circula-
tion zum Gehirnleben ins Auge zu fassen. Denn es ist wohl klar ge-
nug, dass ein ungleich starker Blutandrang, die mehr arterielle oder
venose Beschaffenheit des Blutes, sowie andere Modificationen dessel-
ben nicht ohne erheblichen Einnuss auf das Gehirn bleiben konnen.
Die tagliche Erfahrung belehrt uns, dass ein heftiger Andrang
des Blutes die Gehirnfunctionen zu storen und rasch ein todtliches
Ende herbeizufiihren im Stande ist. Sehen wir uns nun nach den
Mitteln und Vorkehrungen um, wodurch ein starker Blutandrang ge-
massigt oder verhiitet werden kann. Wird das Blut durch erhohte
Herzthatigkeit kraftvoller und unter gesteigertem Drucke in die Aorta
getrieben, dann fliesst es zumeist und am schnellsten durch jene Ge-
fasse ab, in denen ein geringerer Wiclerstand und Gegendruck zu iiber-
winden sind. Blicken wir aber auf die Verastelungen der grosseren
Gefasse, dann ist es gewiss recht auffallend, dass gerade neben der
Vertebralis die Thyreoidea inferior entspringt, und an der Theilung
der Carotis communis in Carotis interna et externa die Thyreoidea su-
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Circulation im Gehirne.                               47
perior abgeht. Die constante Verdoppelung der Thyreoidea auf jeder
Seite weist darauf hin, dass damit ein bestimmter Zweck erfiillt wer-
den soil, und es nicht blossauf eine ausreicheudeBlutzufuhr zurSchild-
driise abgesehen sein kann, da ja letztere sehr einfach zu erreichen ge-
wesen ware, wenn eine der beiden Thyreoideae ein grosseres Lumen
erhalten hatte. Die Schilddriise kann aber viel Blut aufnehmen und
sie scheint sich selbst stark ausdehnen zu konnen, indem Forneris
durch Messungen ermittelt haben will, dass der Hals in Folge dieser
Ausdehnung oder Anschwellung wahrend des Schlafs und beim Er-
wachen dicker ist, als wahrend des Tages. Auch wechselt die Grosse,
die Weichheit, der Blutreichtlium dieser Druse in den Leichen in auf-
fallender Weise. So kann man recht gut begreifen, dass das einge-
triebene Blut in den beiden dehnbaren Thyreoideae einen geringeren
Widerstand findet, als in der Vertebralis und in der Carotis interna,
die sich vermoge ihres Verlaufs in Knochenkanalen in die Quere nur
wenig und in die Lange gar nicht ausdehnen konnen, und deshalb in
grossererMenge nach der Schilddriise abfliesst. Somit mag die Schid-
driise, unbeschadet anderer Verrichtungen, die ihr noch etwa anver-
traut sind, als ein Divertikel oder Behalter gelten, wodurch der zu
starke Blutandrang vom Gehirne abgeleitet wird. Der in die Nahe
der Vertebralis und Carotis interna geriickte Ursprung der Tliyreoideae
gewinnt ubrigens auch noch dadurch an Bedeutsamkeit, dass diese An-
ordnung sich nicht auf die Saugethiere beschrankt. Denn nach J. Si-
mon {On the comparative Anatomy of the thyroid gland, in Fhil. Trans-
act.
1844, p. 295) entspringen die Thyreoideae der Vogel gerade gegen-
iiber der Stelle, wo die Carotis und Vertebralis abgehen, und selbst bei
den Amphibien und Fischen stehen diese Gefasse mit den Hirngefassen
in Beziehung.
Dadurch wird es nicht unwahrscheinlich, dass das Vorhandensein
eines Kropfs, der viel Blut aufnimmt und zu stark vom Gehirne ablei-
ten kann, bei Cretins eine schwachere Entwickelung des Gehirns oder
wenigstens eine geschwachte Energie desselben herbeifiihrt, wenngleich
der Cretinismus nicht als Product des Kropfes anzusehen ist, sondern
nur haufig damit gepaart erscheint. Ebenso mochte es sich hieraus
erklaren, dass Individuen, die mit Kropf behaftet sind, meistens nicht
recht aufgeweckt und lebendig, sondern mehr phlegmatisch sich dar-
stellen.
Vielleicht steht es auchhiermitinZusammenhang, dass ich manch-
mal bei Meningitis chronica und Mania idiopathica eine kleine, verhiir-
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48                               Circulation im Gehirne.
tete, gelblich gefarbte Schilddriise gefunden habe, weil durch diese Be-
schaffenhe.it die Ableitung des Blutstroms vom Gehirne gehindert wer-
den konnte, was dann zu wiederholten Congestionen und zur Ent-
wickelung der Meningitis beitrug. Ich mochte wenigstens diesen
Punkt bei ferneren Untersuchungen beachtet wiinschen.
Auch die Ausbreitung der Gefasse im Gesichte tragt zur Ablei-
tung vom Gehirne bei. Es giebt nicht viele andere Arterien, die sich
so leicht mit Blut fiillten und ausdehnten, als die Gesichtsarterien;
dieselben sind iiberall von einem weichen Fette umgehen, und die Ge-
fasshaute haben deshalb nach aussen keine kraftige Stiitze. Daher
kommt es, dass die Wangen, ja das ganze Gesicht so leicht eine er-
hohte Farbung annehmen, z. B. bei starken und raschen Bewegungen,
zumal bei hohen Temperaturgraden. Konnten die Hirngefasse sich
gleich leicht fullen, dann hatten wir bei jeder starkeren Anstrengung
eine Apoplexie zu fiirchten. So aber leitet die Carotis externa den
starkeren Blutandrang nach aussen ab, weil die Carotis cerebralis in
der geschlossenen Schadelhohle sich nicht gleich gut ausdehnen kann
und deshalb dem andrangenden Blute einen kraftigen Widerstand ent-
gegensetzt. Man darf daher aus'diffuser Gesichtsrothe nicht immer
auf Gehirncongestion schliessen, wenngleich die letztere sich haufig
mit jener vergesellschaftet. *)
Aehnliche Verhaltnisse kommen bei den Vertebrales vor. Diese
entspringen aus den Subclaviae, und bei starkerem Blutandrange kann
das Blut von der Vertebralis nach dem Arme abgeleitet werden. Aus
diesem Grunde konnen Handbader, kann das Anlegen einer Binde um
den Arm oder selbst nur um den Finger das Nasenbluten stillen, was
ich mehrmals mit bestem Erfolge versucht habe und in friiheren Jah-
ren auch an mir selbst zu erproben pflegte.
Der Widerstand gegen einen starkeren Blutandrang wird noch da-
durch vermehrt, weil Gehirn und Rttckenmark in eine Knochenhbhle
*) Damit stimmen die Untersuchungen von Sucquet (Schmidt's Jahrb.
1362, Nr. 1, S. 20) zusammen, der ausser den eigentlichen Capillaren auch noch
grossere Verbindungsaste zwischen Arterien und Venen nachgewiesen hat, und
zwar in der Hand und am Ellenbuge, am Fusse und am Knie, sodann im Ge-
sichte an der Haut der Lippen, der Nase, der Augenlider, der Augenbrauen, der
Ohren, an der Schleimhaut der Nasenmuscheln und der Nasenscheidewand.
Diesen grosseren Anastomosen vindicirt er mit Recht einen derivativen Zweck,
da das Blut bei starkerem arteriellen Andrange durch dieselben rasoher nach
den Venen abgeleitet wird. Im Alter sollen diese Communicationsaste an Zahl
und an Grosse zunehmen.
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Circulation im Gehirne.                                 49
eingeschlossen sind, die keiner Ausdehnung fahig ist und unter ge-
wohnlichen Umstiinden immer die gleiche Menge festen oder fliissigen
Inhalts fiihren muss, da nichts Elastisches darin vorkommt. Hieraus
hat man wold schliessen wollen, es konne iiberhaupt keine grossere
Blutmenge ins Gehirn gelangen, da dasselbe einer Compression niclit
iahig ist. Allein bei Apoplektischen findet man oftmals grosse Men-
gen ausgetretenen Blutes *). Der Liquor cerebrospinalis kann dann
noch Raum fiir eine grossere Blutmenge schaffen, indem er aus der
Schadelhohle in den schlafferen und beweglicheren Sack der dura
mater spinalis
entweicht, der im natiirlichen Zustande niclit besonders
gefiillt und gespannt zu sein scheint. Denn offnet man mit Vorsicht
den Wirbelkanal, so dass die dura mater darin nicht gequetscht wird,
so kann man jenen Sack grosser aufblasen. Ist nun auch die Schadel-
hohle nicht durchaus unveranderlich, so hahen doch die Blutgefasse
an ihr eine starkere Stiitze und sie leistet einer zu grossen Blutanfiil-
lung einen starkeren Widerstand. Ein gewisser Spielraum war aber
unerlasslich, da jede Kraftausserung, also auch die Gehirnthatigkeit,
eine kraftigere Circulation und vermehrten Stoffwechsel erheischt,
weshalb dann auch eine starke und anhaltende geistige Anspannung
Congestionserscheinungen veranlasst und endlich das Gefiihl von
Schwere, Stumpfsinnigkeit und Ermiidung hervorruft.
Vor langerer Zeit haben Kellie (JJeber den Tod durch Kdlte und
iiber Congestionen des Gehirns
in: Fr. Nasse, Sammlung zur Kennt-
niss der Gehirn- und BiicJcenmarlcsJcrankheiten:
1. Heft 1837) so wie
Dieckenhoff (De remediorum quorumdam vi sanguinem cerebro et
meningibus contentum diminuendi.
Bonn.) sich experimentell mit diesem
Gegenstande beschaftigt. Kellie wollte gefunden haben, wegen Ge-
schlossensein des Schadels werde bei Blutverlust das Blut in der
Schadelhohle zuriickgehalten, und deshalb erscheine das Gehirn nach
einer todtlichen Hamorrhagie nicht so blutleer wie andere Korper-
theile. Wenn er dagegen durch vorgangige Trepanation den Eintritt
von Luft in die Schadelhohle ermoglichte, dann fand er auch das
Gehirn starker blutleer. Dieckenhoff "indessen konnte diese An-
*) Ich besitze ein Praparat, yro das Blut zwischen der dura mater und dem
den Schadel bekleidenden Perioste in so grosser Menge ausgetreten ist, dass die
geronnene Blutmasse beim Oeffnen des Schadels melir denn f'austgross war und
die Heniisphare ganz platt gedriickt hatte. Das Blut war frisch geronnen, sein
Austritt hatte also erst vor Kurzem stattgefunden und mit grosser Raschheit, so
dass unmittelbar der Tod eintreten musste.
Schroeder v. d. Kolk, Geiateskrankheiten.                                                     ^
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50                               Circulation im Gehirne.
gaben nicht bestatigen, und ich selbst habe bei rasch todtlichen
Hamorrhagieen das Gehirn ganz blass und blutleer angetroffen. Nicbts
desto weniger seheint mir Kellie's Annahme nicht ganz verwerfiicli.
Meistens findet man das Gehirn geschlachteter Schafe nicht ganz
blutleer. Sollen aber die Hirngefasse bei Hamorrhagieen sich ent-
leeren, dann muss der Raum durch etwas anderes erfiillt werden, und
das geschieht nach Kellie durch serose Exsudation. Wir diirfen aber
annehmen, dass bei einer rasch todtlichen Hamorrhagie die serose
Fliissigkeit aus clem Riickgratskanale in die Schadelhohle abfliesst und
die Stelle des abgeleiteten Blutes ersetzt, Der im Riickgratskanale
sich bildende Raum muss dann durch Fiillung und Anschwellung der
weiten Venae spinales ausgeglichen werden, welche Venen rait den
Venae cephalicae commuuiciren und in Wechselbeziehung stehen.
Indessen wird das Blut, wenn auch nicht in toto, im Gehirne lin-
ger als in andern Organen zuriickgehalten werden *).
Bei vermindertem Blutdrucke nach einem starken Blutverluste
wird leicht ein starkeres Ausschwitzen von Serum eintreten, und das
kann wohl die bekannte Wahrnebmung erlautern, dass Blutentziehun-
gen bei Irrsinnigen, namentlich bei Melancliolischen, so nachtheilig
einwirken. 1st einmal Serum ausgeschwitzt, so wird dasselbe einer
kraftigeren Circulation Widerstand leisten, das Gehirn bleibt daher
langer anamisch, und durch das ausgeschwitzte Serum kann Gehirn-
erweichung und Blodsinn hervorgerufen werden. Das kommt aber
in solchen Fallen nach Venasectionen haufig genug vor.
Haben sich die Hirngefasse in Folge eines starkeren Blutandran-
ges gefiillt, wie es zum Oeftern bei chronischem Irresein der Fall ist, so
giebt es noch andere Wege zum Abfuhren des iiberniissigen Bluts.
Steht das Blut in der Schadelhohle unter einem hoheren Drucke, als
im Gesichte, so V:'::::::"t :: ^.-rch die Art. ophthalmica einen Abfluss:
*) Bei Seotionen muss man das Angesaugtwerden des Bluts im Auge behal-
ten, wenn das Bestelien einer Hirnoongestion in Frage kommt. Das Gehirn so-
wohl wie die Gehiriifliissigkeit ziehen sich beim Erkalten des Korpers zusammen,
und das Blut in den Venen, welches noch mehrere Stunden naeh dem Tode
fliissig verbleibt, wird theilweise zum Gehirn zuriickfliessen, um den durchs Zu-
sammensehrumpfen sich bildenden Raum zu erfullen. Das hat bereits Nasse
(Untersuchtmgen zur Phys. u. Pathol. Bd. I., S. 387) hervorgehoben. Daher
mag es auch kommen, dass das Blut in den Hirnvenen meist nicht geronnen ist,
weil das Fibrin zuriickbleibt und nur das flixssige Blut in die Schadelhohle
zuriickkehrt. Somit giebt die Erfullung der Hirngefasse bei Sectionen noch kei-
nen richtigen Maassstab fur das Verhalten wahrend des Lebens.
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Circulation im Gehirne.                               51
(lurch die Frontalis bekommt die Oberaugenhohlengegend, bekommt
die Nase ein starker gerothetes Colorit. Hat die Congestion mehr
einen chronischen Verlauf, wie bei vielen Tobsiichtigen, dann ist nur
die Nasenspitze starker gefarbt, bis ins Blauliche. Dergleichen kommt
aber auch wohl bei Melancholischen vor. Deshalb beobachten wir
auch bei Gewohnbeitstrinkern, wo mehr eine habituelle Hirnconge-
stion besteht, so allgemein eine rothe oder blauliche geschwollene
Nase. Da die OphtJialmica durch die Ethmoidals anterior langs des
Septum narium bis zur Nasenspitze sicli ausbreitet, und die Nasenhaut
ausserlich ebenfalls mit Zweigen der Ophthalmica und Angularis in
Verbindung steht, so begreift man wohl, wie die Ophthalmica diagno-
stisch so bedeutend werden kann, wenn das Bint einem starkeren
Drucke in der Schadelhohle unterliegt und zum Theil durch die Oph-
thalmica
abfliesst.
Dagegen haben wir in der Parbung der Sclerotica ein ganz unzu-
verlassiges Zeichen. Hire Gefasse scheinen sich bei Hirnreizungen
unter dem Einflusse der Nervi ciliares bisweilen zu contrahiren; we-
nigstens habe ich selbst bei sehr intensiven, mehrere Tage andauern-
den Hirncongestionen und Apoplexieen die Sclerotica noch weiss an-
getroffen.
Man begreift somit, dass Nasenbluten bei Hirncongestionen ein
giinstiges Ereigniss ist. Wo dasselbe nicht von selbst eintritt, da
applicirt man auch wohl einen Blutegel in die Nase, wovon ich mehr-
mals den besten Erfolg gesehen habe *).
Die Vertebrates goben, bevor sie in die Schadelhohle eintreten,
Muskelaste ab, welche mit den Auriculares posteriores communiciren.
Dem schreibe ich es zu, dass Kinder, wie ich mehrfach beobachtet
habe, kurz vor einem Krampfanfalle ganz rothe Ohren bekommen, ja
dass schon bei grosser Neigung zu Krampfen diese Erscheinung auf-
treten kann. Bei einem Theile der Tobsiichtigen ist die Nase gefarbt,
bei einem anderen Theile sind es die Ohren, und das erklare ich mir
so, dass die Congestion bei den ersteren mehr in den vorderen Ge-
hirntheilen, bei den letzteren mehr in den hinteren Gehirntheilen statt-
findet. Hieraus erklart es sich wohl auch, dass bei Congestionen
wiederholte blutige Schropfkopfe im Nacken vortheilhaft wirken, wofiir
*) Zur Aui'klarung dieses Verhaltnisses habe icli mehrmals die Ophthalmica
von der Schadelhohle aus isolirt injicirt. Es farbten sich dabei die Stira, die
Nasenspitze und die Backe.
4*
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52                               Circulation im Gehirne.
ich, zumal bei frischen Fallen von Epilepsie, sehr gliickliche Erfolge
aufzuweisen habe.
1st der Abfluss des liluts durch die Venen behindert, z. B, bei
Astbma, dann fiillen sich die Sinus der Schadelhohle, so dass sich die
Vena ophthalmica nicht frei in diese zu entleeren vermag. Aeussere
Venen miissen ihr Blut aufnehmen, und es stellt sicb eine Erweiterung
der Venen der Sclerotica ein, auf welche die Ciliarnerven einen
schwacheren Einfluss iiben, wodurch dann die Sclerotica, wohl ein
briiunliches Aussehen bekommt; auch die Augenlider, zumal das untere,
zeigen eine violette Farbung, gleicb wie die Nasenspitze. Neben den
anderen diagnostiscben Zeichen venoser Gehirncongestion, wie sie z. B.
in den klimakteriscben Jahren oder auch sympathiscb bei Gebar-
mutterleiden auftritt, fallt daher auch die stiirkere Farbung der unte-
ren Augenlider entschieden ins Gewicht.
Bei oberflachlicher Betrachtung konnte es den Anschein haben,
als musse der Festigkeit der Hirngefasse dadurch Abbruc.li geschehen,
dass ihre Wandungen diinner sind; doch scheinen die Gefasswande
eher deshalb verdiinnt zu sein, urn Rupturen der Capillaren vorzu-
beugen. Namlich nur die mittlere Tunica niuscularis fehlt fast ganz,
durch deren Contraction das Blut einen starkeren Druck erfahrt und
in die kleineren Gefasse getrieben wird; der inneren und der ausseren
Gefasshaut dagegen verdanken die Gefasse ihre eigentlicbe Festigkeit
und Widerstandsfabigkeit. Beim Mangel der Muskelhaut geben die
Gefasswande dem Blutstrome leichter nach, sie bieten demselben einen
geringeren Widerstand und treiben auch das Blut mit schwacherer
Kraft durch die Capillaren, die im Gehirn so zart sind und von aussen
her so geringe Stiitze erhalten. Die Folge hiervon ist eine mehr
gleichmassige, nicht pulsatorische Blutstromung in den Hirncapillaren.
Denn da die grosseren Aeste, die unter vielfacher Bildung von Anasto-
mosen eine Strecke weit in der pia mater verlaufen, wegen ihrer
leichten Ausdehnbarkeit jedem Pulsschlage durch Aufnahme der ein-
stromenden Blutwelle Geniige leisten konnen, so pflanzt sich von ihnen
keinerlei Pulsation zu den kleineren Hirngefassen fort. Hierin ist
wohl auch die Bedeutung der Wundernetze zu suchen, die bei vielen
Saugethieren, namentlich beim Rinde, Schaafe, Hirsche in der Scha-
delhohle vorkommen.
Die Natur hat aber selbst noch weitere Vorkchr getroffen. Be-
kanntlich bedeckt die pia mater die Hirnwindungen und aus ihrer
Unterflache dringen sehr feine Capillaren in die graue Substanz, wo
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Circulation im Gehirne.                               53
sie sich mannichfach verasteln und dann in feinere Venen iibergehen,
die wieder naeh der pia mater zuriickkehren und hier zu grosseren
Aestchen sich vereinigen. Miisste nun das Blut in den Gefassen der
pia mater, um in Venen iiberzutreten, insgesammt durch die Rinden-
schicht der Windungen gehen, so wiirde jeder starkere Blutandrang,
z. B. schon bei einer starkeren Bewegung, alsbald in der so leicht er-
regbaren Rindenschicht sich kund geben. Das ist aber nicht der
Fall, und zwar deshalb, weil in der pia mater selbst ein freier Ueber-
gang zwischen Arterien und Venen stattfindet, wovon ich mich durch
Injectionen iiberzeugt habe*). So geht bei einem starkeren Andrange
das Blut nieistens iiber der Rindenschicht weg in die Venen iiber, ohne
auf jene einzuwirken; der Sturm streicht gleichsam iiber uns weg,
ohne dass wir es nierken.
Gleichwohl giebt sich die Wirkung eines solchen Andranges immer
kund. Es mag etwa ein guter Freund im vollen Laufe, keuchend und
erhitzt, herankommen. Wiirde demselben eine verwickelte Frage, ein
schweres Rechenexempel vorgelegt, so wiirde er zur Antwort geben,
er miisse erst einigermaassen zur Ruhe kommen, da er im Augenblicke
nicht gefasst genug sei, um iiber eine so wichtige Frage nachzu-
dcnken. Die Zellen in der Rindensubstanz befinden sich augenblick-
lich im Zustande zu starker Reizung, die Vorstellungen und Bilder
jagen einander, und es kommt nicht zu deren Beherrschung; das tie-
fere Nachdenken verlangt vorher eine Beruhigung der Circulation.
Nimmt die Circulation noch mehr an Raschheit und Starke zu, wie
etwa im Fieber, dann kann es bis zum Delirium kommen: die unwill-
kurlieheu Vorstellungen und Bilder gewinnen dergestalt an Starke,
dass sie von wirklichen Eindriicken nicht mehr zu unterscheiden sind.
Beriicksichtigung verdienen ferner die Sinus durae matris, die
keiner Ausdehnung fahig sind. "Wird bei erschwertem Athmen der
*) Das Gehirn wird dergestalt aus dera Schadel herausgenommen, dass we-
nigstens der obere Their der dura mater nebst den Sinus daran sitzen bleibt.
Dann wird in die abgeschnittene Carotis oder Vertebralis ein Rohrchen einge-
setzt und um die andern Arterien werden Ligaturen gelegt; desgleiohen wird in
den Sinus longitudinalis, da wo derselbe in den Sinus transversus iibergeht,
eine Kaniile eingesetzt. Treibt man jetzt abwechselnd rothe Masse in die Arte-
rien und blaue Masse in die Venen, so kann man deutlich sehen, wie die rothe
Masse direct in Venen iibergeht, und wie naeh Einspritzung der Venen die rothe
Masse wiederum in Arterien zuriickgedriingt wird. Das spricht doch wohl fur
eine frcio Communication. Selbstverstandlich muss das Gehirn rait moglichster
Vorsicht herausgenommen werden, um jede Quetschung zu vermeiden.
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Abfluss des Blutes aus den Jugulares uach der Brust behindert, so
tritt der Blutanhaufung im Schadel dennoch ein Widerstand entgegen,
einerseits durch das Geschlossensein des Schadels selbst, andererseits
dadurch, dass die Sinus sich nicht ausdehnen konnen: vermittelst der
mannichfaltigen Anastomosen zwischen den Venae swindles und der
Azygos kann das Blut sich dann mehr im Unterleibe sammeln *).
Auch will ich erwahnen, dass das Gehirn im Liquor cerebrosjaina-
lis
fast wie in einem Bade herumschwimmt, so dass es nach den Unter-
suchungen von Toltz (PrayerVierteljahrsschr. 1855. IV. S. 99) nur mit
V50 seines Gewichts auf die Schadelbasis driickt. Dabei ist es be-
achtenswerth, dass die Arterien, welche vermoge Hirer Spannung einen
grosseren Druck aushalten konnen, alle an der Schadelbasis liegen,
die so leicht gedriickten Venen dagegen an der Oberflache der Hemi-
spharen sich sammeln undmeistens in den Furchen zwischen denHirn-
windungen ihre Lage haben, so dass sie bei Anschwellung des Gehirns
nicht gedriickt werden, weshalb denn der Blutabfluss vom Gehirne
moglichst frei bleibt. Ueberdies finden sich zwischen den Aesten der
Arterien sowohl als zwischen den Venen liberall zahlreiche Anasto-
mosen, und bei vermehrtem Blutzufiusse kann es doch zu keinern
starkereu Audrange zum Gehirne kommen, weil der Druck sich gleich-
miissig auf alle Arterien und Venen vertheilt. Ohne diese Einrich-
tung wiirde eine starkere Blutzufuhr durch eine der Gehirnschlag-
adern alsbald eine starkere Congestion nach einem einzelnen Gehirn-
abschnitte zur Folge haben, wodurch leicht gefahrliche Blutextrava-
sate entstehen konnten. Auch kann jetzt, wenn der Zufluss durch
irgend eine Veranlassung an einer Stelle abgeschnitten ist, das Blut
durch Seitenaste zustromen, so dass die Circulation im Gauge bleibt.
Uessen ungeachtet sehen wir beim Embolismus der Hirngefasse, dass
*) Treibt man blaue Injectionsmasse durch die Jugulares nach oben, so
sieht man dieselbe leicht von der untern Hohlvene aus ins Herz ubertreten,
weil die weiten Plexus venosi spinales mit den Venae lumbales anastomosiren
und dadurch mit der unteren Hohlvene in Verbindung stehen. Ein interessanter
Versuch von Toltsi (Gaz. med. de Paris, 1853. Nr. 10 u. Prager Vierteljahrs-
schrift
1855. IV. S. 99) liefert ferner einen Beweis dafiir, dass das Blut, wenn
ein starkerer Druck in der Schadelhohle wirksam ist, sich leicht nach aussen
Bahn bricht. Er unterband die Jugulares internae et externae, legte dann den
Sack der dura mater am Ende des Riickenmarkes bloss, und setzte eine Kaniile
ein, durch welche er Wasser in den .Aiachnoidealsack einspritzte. Dadurch
bekam das fruher leichenblasse Gesicht augenblicklich eine" blauliche Farbung,
und die Venen fullten sich oberhalb der Ligatur.
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Circulation im Gehirne.
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eine solche Verstopfung sehr naclitheilig werden kann, sobald sie nur
iiber einen grosseren Bereich sich erstreckt.
Durch alle diese harmonisch zusammenwirkenden Ursachen wird
es moglich, dass das Gehirn mit seinen Gefassen, uiigeachtet des
zarten Baues der letztern, einen bedeutenden Druck auszuhalten im
Stande ist. Wir sehen dies bei schweren Geburten, beim Asthma,
beim Keuchhusten, bei Epilepsie, wo die Gefasschen in dem lockern
Gewebe der Augenlider, welche von der aus der Schadelhohle heraus-
tretenden Ophthalmic® abstammen, in Folge des starken Blutandranges
bersten, ohne dass im Gehirne selbst Blut ausgetreten ist.
Von grosser Bedeutung sind audi die Untersuchungen iiber die
Circulation im Schlafe, welche wir Arthur H. Durham {Schmidt's
Jahrbb.
1861. Nr. 4. S. 13) verdanken. Man war allgemein der An-
sicht, im Schlafe sei eine grossere Blutmenge im Gehirne angehauft,
und die starkere venose Congestion bedinge gerade den Eintritt des
Schlafes: die zunehmende Schlafrigkeit bei grosser Vollblutigkeit
schien dafiir zu sprechen, desgleichen die Blutanhaufung im Gehirne
bei Coma,, der Eintritt des Schlafes nach einem epileptischen Anfalle,
wo doch offenbar Congestion vorhanden ist, und nicht minder der
Zustand von Bewusstlosigkeit bei apoplektischem Exsudate oder bei
capillarer Injection der Hirngefasse. Aus Durham's Untersuchun-
gen scheint aber soviel zu folgen, dass wir den ruhigen Schlaf vom
Coma und vom Sopor bestimmt unterscheiden miissen. Einem Hunde
wurde ein Stuck des Schadeldachs mit der Trephine weggenommen,
und es wurde dann die darunter liegende Dura ausgeschnitten: der
blossgelegte Gehirntheil schien sich in die Oeffnung eindrangen zu
wollen, die grossenVenen auf der Oberflache waren etwas ausgedehnt,
die kleineren Gefasse der Pia schienen voll dunkelnBluts zu sein, und
ein deutlicher Unterschied in der Farbe zwischen Arterien und Venen
konnte nicht wahrgenommen werden. So war namentlich das Aus-
sehen und Verhalten wahrend der Chloroformwirkung. Nachdem die
Chloroformwirkung aufgehort hatte, verfiel das Thier in einen relativ
naturlichen und gesunden Schlaf; dabei wurde die Oberflache des Ge-
hirns blass und sank etwas unter das Niveau des Knochens, die Venen
waren nicht mehr ausgedehnt, kleinere Gefasse mit arterieller Farbung
waren zu unterscheiden, und viele, die vorher mit dunklem Blute
strotzten, waren nicht mehr zu erkennen. Als das Thier nach einiger
Zeit geweckt wurde, schien sich eine schwache Rothe iiber die Ober-
flache des Gehirns zu verbreiten, und letzteres drang wieder in die
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Knochenoffnung. Je munterer das Thier ward, desto mehr injicirte
sich die Pia, und um so turgider wurde das gerothete Gehirn; allent-
lialbon zeigten sich Gefasse, die wahrend des Schlafs nicht sichtbar ge-
wesen waxen, and Arterien undVenen waren bestimmt durcb ihre ver-
schiedene Farbung zu erkennen. Das Thier wurde nun gefiittert und ver-
sank dann wieder in ruhigen Schlaf: die Blutgefasse wurden wieder enger
und die Gehirnoberflache wurde blass, wie zuvor. Die Verschieden-
heit dieser Erseheinungen wurde um so sicherer festgestellt, als gleich-
zeitig zwei Thiere unter entgegengesetzten Verhaltnissen beobachtet
wurden. Der Zustand der Gefasse wurde iibrigens niit stark vergros-
sernden Lupen, ja unter schwacher mikroskopischer Vergrosserung
untersucht. Die Versuche wurden mehrmals mit ganz gleichem Er-
folge wiederholt. Hunde eigneten sich aber besser dazu als Ka-
ninchen.
Ein verschiedener atruospharischer Druck konnte bei diesen Ver-
suchen nicht in Betracht kommen, denn dieser blieb sich ja iin Schlal'e
und im wachenden Zustande gleich, auch anderten sich die Ersehei-
nungen nicht, als genau eingepasste Glasplatten in die Schadeloffuung
eingesetzt wurden. Den Grund der Erscheinung findet Durham
darin, dass wahrend des Schlafs die Gefassaction und die Congestion
zum Gehirne auf schwacherer Stufe stehen. Im wachen Zustande und
wenn das Gehirn in Thatigkeit ist, stromt mehr Blut dahin, dasselbe
bewegt sich auch rascher durch die Gefasse, und die Gehirnsubstanz
wird starker oxydirt; denn das Functioniren des Gehirns verlangt
eine starkere Sauerstoffconsumtion, und diese vis a fronte veranlasst
einen reichlicheren Zufluss arteriellen Blutes, Erweiterung der Capil-
laren und Verstarkung des Stoffwechsels.
Die vennehrte Schuelligkeit der Circulation bedingt eine gestei-
gerte Zufuhr von Sauerstoff und wahrscheinlich auch eine stiirkerc
Auftiahme der Umsatzproducte ins Blut. Denn wenn man nach Dur-
ham's Versuchen Fliissigkeiten durch einen Kaninchendarm stromen
liisst, der in einer umgebenden Fliissigkeit liegt, so ti-anssudirt um
so weniger durch die Darmwand nach aussen, je rascher der Strom
ist. Wahrend des Schlafs nun nimmt die Vis a fronte ab, die Gefasse
contrahiren sich starker vermoge ihrer Elasticitat und die nutritive
Circulation tritt mehr hervor: es circuliren weniger Blutzellen und
die Langsamkeit, mit welcher.das Blut fliesst, begiinstigt den Austritt
nutritiven Plasmas.
Die niichste Ursache der temporaren Suspension der Hirnthatig-
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Circulation im Gehirne.                               57
keit kann nicht darin liegen, dass es an wirksamem Material felilt
oder dass dieses durch Oxydation erschopft ist; denn das schon er-
miidete Gehirn kann durch passende Reize zu erneuter Thatigkeit ge-
bracht werden. Durham findet diese Ursache in den Umsatzproduc-
ten und beruft sich auf die Beobachtung, dass die Hirnsubstanz eines
eben getodteten Thieres neutral oder selbst schwach alkalisch reagirt,
nach kurzer Einwirkung der Atmosphare dagegen sauer. Heynsius
hatte ubrigens schon vor Durham gefunden, dass die ganz frische
Hirnsubstanz vom Schafe oder vom Rinde eher sauer als alkalisch
reagirt, was dann Funke bestatigte, der zugleich nachwies, dass bei
gesteigerter Hirnthatigkeit saure Reaction, bei Unthiitigkeit des Ge-
hirns alkalische Reaction sich einstellt. Heynsius (Nederl. Tydschr.
v. Geneesh.
1859. p. 651) hat im Weiteren dargethan, dass die Diffu-
sion oder Exosmose des Albumen durch Saure gehindert, durch Alkali
befordert wird. Hat sich also nach langerer Thatigkeit in Folge der
Oxydation Saure im Gehirne angehauft, dann transsudirt weniger Al-
bumen aus den Blutgefassen, der Stoffwechsel oder vielmehr die Zu-
fuhr ist geringer, und erst wahrend der Ruhe kann die saure Fliissig-
keit aufgenommen und weggefiihrt werden, wodurch dann das Organ
zu erneuter Thatigkeit geschickt ist. Diese Saurebildung wiirde aber
ein Correctiv der Ueberreizung oder iibermassigen Thatigkeitsausse-
rung sein. Nach Durham verhindert die Saure die Oxydation, nach
Heynsius beschrankt sie die Transsudation des Albumen. Nach
Durham ist die Nutrition wahrend des Schlafs vermehrt; Heynsius
nirnmt wahrend desselben verstarkte Absorption und geminderte Ei-
weissabsetzung an, also eine geschwachte Nutrition.
Mir will es wahrscheinlicher vorkommen, dass wahrend des Wa-
chens der Stoffwechsel gesteigert ist, womit sich vermehrte Zufuhr von
Sauerstoff sOwohl als von Eiweiss verbinden muss, im Schlafe aber
der Ansatz und die Ernahrung starker sind, wobei zugleich die gebil-
deten Siiuren fortgeschafft werden.
Man bedenke nur, dass der Schlaf nicht sowohl vom verminderten
Zuflusse arteriellen Blutes, als vom verminderten Stoffwechsel aus-
geht, also von Abnahme in der Zufuhr und in der Apposition neuer
Substanz. Verminderte Zufuhr und schwiichere Oxydation konnen
auch eintreten, wenn die Gefasse bei Circulationsstorung durch das
Blut stark ausgedehnt werden, und wenn die Circulation durch star-
keren Widerstand sich verlangsamt; die Erneuerung des Blutes in
den Capillaren erfolgt dann zu langsam und es steigert sich seine
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58                    Leib und Seele in Wechselwirkung.
Venositiit, Coma und Schlafrigkeit brauchen also nicht immer die
Folge von Congestion und trager Circulation zu sein; auch Contrac-
tion der Cefiisse kann sie hervorrufen, gleicliwie eine Minderung der
Oxydation und Nutrition durch vorausgegangene Anstrengung und
durch Saurebildung, welche der Nutrition hinderlich ist. Die eigent-
liclie Ursache liegt in beiderlei Fallen in einer Minderung der Oxyda-
tion. So scheint audi der Fotus vor dem Beginne der Respiration,
so lange sein Blut nur schwach arteriell ist und die Oxydation fehlt,
sich in einem lethargiscben Zustande zu befinden: erst nach dem
Beginne der Respiration erwacht er aus diesem Zustande, und er giebt
dies durch halbwillkurliche Bewegungen kund.
§.12.
Zusararaenhang und Wechselwirkung zwischen Leib und
Seele.
■ Zu alien Zeiten wurde iiber den Zusammenhang zwischen Seele
und Leib gestritten, und es sind die verschiedensten Hypothesen iiber
diesen Gegenstand aufgestellt worden. Die psychische Schule liess
deu Einfluss des Korpers auf die Seele unbeachtet und wollte alle
Irrsinnserscheinungen nur als abnorme Seelenthatigkeiten auffassen.
Auf der andern Seite wurde die Existenz einer Seele verkannt, alle
Geistesthatigkeiten wurden zu Aeusserungen des Gehirnlebens ge-
stempelt oder in ein Labyrinth unbegreiflicher durch einander gewirr-
ter Reflexerscheinungen zusammengedrangt, und bei dieser Auffassung
machte man eine blosse Maschine oder einen Automaten aus dem
Menschen.
Nach meiner Ueberzeugung hat man die Gehirnfunctionen, die
je nach den verschiedenen Zwecken und nach der Beschaffenheit der
wirksamen Zellen verschieden ausfallen, genau zu trennen von einem
hoheren Principe, namlich einer selbststandig wirksamen Seele, die
zwar, wie weiter oben ausgefiihrt wurde, mit jenen Zellen aufs engste
verkniipft ist und durch dieselben Eindriicke emphingt, aber auch
wiederum selbststandig auf sie einwirken kann, und durch dieses
willkiirliche Wirken von alien andern Naturkraften sich unterscheidet.
Diese Willkiir wirkt nirgends anders als im Gehirne; nur in die-
sem wurzelt unser Bewusstsein. Pfliiger und einige sich ihm An-
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Leib und Seele in Wechselwirkung.                   59
schliessende reden zwar von einem unbewussten Willen iin Riicken-
marke; allein schon die Vorstellung eines unbewussten Willens ent-
halt einen Widerspruch. Wird ein Nerv, oder wird das Rtickenmark
durchschnitten, so konnen in dem abgetrennten Theile wohl automa-
tische oderReflexbewegungen vorkommen, niemals aber spontane oder
willkiirliche. Wir fiihlen es, dass nur im Kopfe der Sitz unseres Be-
wusstseins ist und der Rumpf eigentlich ausserhalb des Ich sich be-
tindet, dass wir auf letzteren wirken, gleichwie auf einen Apparat,
worin unsere Seele nicht wobnt.
Die Zellen im Gehirne entwickeln eine Thatigkeit, die sich der
Seele mittheilt, sci es als Wahrnehmung eines sinnlichen Eindrucks,
sei es (und das ist die Hauptsache) als Vorstellung oder Bild, als Re-
production einer friiheren Wahrnehmung. So stehen wir im engsten
Verbande mit jener Zellenthatigkeit. Denn wie sie unserer Seele
sich mitzutheilen vermag, so kann auch umgekehrt unsere Seele auf
die Zellen in der Hirnrinde einwirken: wir sind im Stande, die Zellen
in Thatigkeit zu versetzen unci uns ein schlummerndes Bild zu ver-
gegeuwartigen. Die den Zellen zukommenden Functionen diirf'en
jedoch nicht mit dem Ich verwechselt werden; die darin wirkende
organische Kraft befindet sich in Abhangigkeit von ihrer Zusammen-
setzung, und neben unserem Willen sind sie auch anderen Reizen zu-
gangig. Werden die Zellen auf entzuudliche Weise, wie beim Irrsein,
oder durch abnorme Blutbeschaffenheit, wie im Nervenfieber, gereizt,
dann erscheinen die Bilder unwillkiirlich und wir deliriren.
Konnte wohl jemand behaupten, dass die heftigen Krampfe in
einem epileptischen Anfalle abnorme Wirkungen der Seele darstellen ?
Die organische Thatigkeit wirkt hier fiir sich selbst, also nicht will-
kiirlich: sie ist nicht identisch mit unserem hoheren Princip, vielmehr
demselben unterthan. Werden durch einen apoplektischen Anfall die
Werkzeuge betroffen, auf welche unser Wille wirkt, dann entsteht
Lahmung, d. h. die Fahigkeit zu Bewegungen ist verloren, nicht aber
der Wille zu ihrer Ausfiihrung, woraus doch deutlich entnommen
werden kann, dass die Gehirnthiitigkeit nicht das Namliche ist, wie
die Seele oder das hohere Princip. Man wird doch nicht behaupten,
dass mittelst der Flores Arnicae oder des Galvanismus, wodurch die
Anasthesie oder die Parese beseitigt wurden, der Seele die verlorene
Perceptionsthatigkeit oder der verlorene Wille wieder zugefiihrt wurde?
nur die Werkzeuge, mit denen unsere Seele wirkt, sind' zur Norm
zuriickgekehrt. In dieser Beziehung zwischen dem hoheren Ich und
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60                   Leib und Seele in Wechselwirkung.
den Hirnfunctionen haben wir den Zusammenhang zwischen Seele und
Leib, vermoge dessen beide wechselseitig auf einander wirken. Der
Zusammenhang ist aber ein so inniger, dass jede Steigerung der Ge-
hirnenergie, jede Veranderung oder Erschopfung derselben alsbald
auf die Seele zuriickwirkt, dort erhebend und spannend, bier nieder-
driickend und abstumpfend.
Diese unwillkiirliche Einwirkung des Leibes im Allgemeiuen und
des Gehirns im Besondern offenbart sicb unter besondereu Umstandun
auf eine mehr oder weniger entschiedene Weise, ja sie giebt sicb auch
in den Eigentbiimliebkeiten, in den Anlagen und im Charakter ver-
scbiedener Individuen kund; sie ist der Grund, warum bei unserem
Handeln so vielmal etwas Unwillkiirliches, ein gewisser blinder Trieb
mit im Spiele ist.
Gerade das Vorkommen des Willkiirlichen und des Unwillkiir-
lichen bei unseren Handlungen ist eins der schwierigsten Probleme.
Die meiste Aufklarung verscbafft uus die genaue Untersuchung krank-
hafter Zustande, wo die hervortretenden Thiitigkeiten zu den unwill-
kihliehen gehoren, und nach dem verschiedenen Grade ihrer Aeusse-
rung nocb am ehesten unterschieden werden konnen.
Es ist weiter oben aus einander gesetzt worden, dass die Gehirn-
zellen, namentlich aber jene in den vorderen Hemispharen, nicht nur
Bilder zu Stande bringen, sondern audi friiber empfangene Eiudriicke
wieder in die Erscheinung rufen konnen, welcbe Eindriicke sicb bald
unwillkurlich unserem Geiste mittheilen, bald wieder durch unseren
Geist an Lebendigkeit und Intensitat gewinnen. Die Einbildungskraft
gehort daber auch zu jenen Geistesvermogen, welcbe in engster Ver-
kniipfung mit den Gehirnfunctionen steht. Sind jene Zellen in Wirk-
samkeit, so hangt es ganz von dem Erregungsgrade ab, ob das Un-
willkiirliche die Oberhand hat, wie im Delirium, oder ob die Seele
die Bilder beherrscht und nach Willkiir und durch ruhiges Walten
kuhnc Schopfungen der Phantasie producirt, dergleichen wir in den
plastischen Werken eines Michel Angelo, im befreiten Jerusalem eines
Tasso, in Beethoven's meisterhaften Compositionen bewundern. Jene
Zellen der Hirnrinde vermitteln also den Zusammenhang zwischen
Seele und Leib. Wenn einerseits durch diese Zellen unwillkiirliche
Bilder zu Stande kommen, wie beim Einschlafen und im Traume, so
sind wir andererseits im Stande, auf dieselben einzuwirken und sie
in Thatigkeit zu versetzen, so dass uns dies oder jenes Bibl entstebt,
welches in friiherer Zeit durch sensuelle Eindriicke daselbst nieder-
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Leib und Seele in Wechsehvirkung.                    (il
gelegt wurde. Daher der alte Satz! nihil est in intellectu, quod non
ante fuerit in sensu.
Die Rindenzellen erhalten zuerst durch die Per-
ceptionszellen der Sinnesapparate die Eindriicke, und wahrend der
Eindruck in den Perceptionszellen alsbald verschwindet, erhalt er sich
gleichsam schluramernd in den Rindenzellen. Diese letzteren sind die
Bewahrplatze oder Magazine fiir die Schatze unserer Erinnerung: wenn
sie einmal auf einen Eindruck reagirten und in Thatigkeit versetzt
wurden, dann scheinen sie den Eindruck zu bewahren, um bei einer
spateren seelischen Reizung in derselben Weise zu wirken, \vie bei der
friiheren sensuellen Reizung.
Diese Wirkung sensueller Eindriicke auf die Gehirnrinde hat man
von den Eindriicken selbst genau zu unterscheidcn. Denken wir uns
einen Blinden, der ein Dreieck betastet. Er findet zunachst den einen
Winkel und durch Verschieben der Finger auf dem Objecte findet er
auch die beiden anderen Winkel. Diese Eindriicke werden zu den Ge-
fiihlsperceptionszellen fortgeleitet und von hier den Hirnrindenzellen
iiberantwortet, wo die verschiedenen Eindriicke durch die Seele zu
einem Ganzen verbunden werden, so dass das Dreieck erkannt wird.
Solches wird nur dadurch ermoglicht, dass der Eindruck hier nicht so
rasch verwischt wird, als in den Perceptionszellen. Verharrte der Ein-
druck einige Zeit in den letzteren, so wurde die Wahrnehmung des
ersten Winkels mit jener des zweiten und dritten zusammenfallen, und
die Perception der drei verschiedenen Winkel und deren Vereinigung
in der Hirnrinde zu Einem Korper, zum Dreieck namlich, ware unmog-
lich. Hier erst vereinigen sich die isolirten Eindriicke, hier erkennen
wir auch, ob die gleichzeitigen verschiedenen Eindriicke durch meh-
rere Sinnesorgane von Einem Objecte oder von mehreren Objecten aus-
gehen. Das alles ist hohere Wirkung des 'Geistes, und dabei verhal-
ten sich die Zellen, welche die Eindriicke als Bilder und Vorstellungen
festhalten und verarbeiten, als unumgangliche Hiilfsmittel. Die Ab-
hiingigkeit des Gedachtnisses vom Zustande der Hirnrinde erkennen
wir daraus, dass, wenn letztere im Alter zu atrophiren beginnt, auch
das Gedachtniss abnimmt, und dass bei Irren, wo die Hirnrinde durch
Entziindung pathologisch entartet, auch das Gedachtniss schwindet.
Somit ist das Gedachtniss keine blosse Function des Gehirns, sondern
zu seiner Wirksamkeit wird die Beihiilfe und Mitbetheiligung des
Kbrpers erfordert.
Wie nun aber diese Zellenthatigkeit in der Form von Bildern und
Vorstellungen an die Seele herantritt, so vermag umgekehrt auch die
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'
62                    Leib und Seele in Wechselwirkung.
Seeleauf dieZellen zu wirken undBilder dariti hervorzurufen, und aus-
serdeni ist die letztere auch im Stande, die unwillkiirlich aufgetretenen
Bilder zu ordnen, zu regeln und zu einem Ganzen zu verkniipfen. Die in
der Schlaftrunkenheit unwillkiirlich und ordnungslos an uns vorbei-
streifenden Bilder konnen wir einfach anstarren, wir konnen aber auch
eines jener Bilder festhalten, andere damit in Verbindung bringen und
auf diese Weise einen Roman, eine Geschichte zusammensetzen. Die-
ses geistige Vermogen nennen wir die Einbildungskraft, die Phantasie;
durch sie bringt der mit schopferiseher Vernunft ausgestattete Dichter
seine unsterblichen Werke zu Stande.
Hierzu ist nun aber eine grosse Empfanglichkeit der Zellen erfor-
derlich; sie miissen leicht und beweglich auf den durch unsere Seele,
durch unsern Willen gegebenen Anstoss antworten. Ist ihr Wirken
abgestumpft durch somatische Ursachen, z. B. durch Congestion und
Blutuberfiillung, wodurch sie einen gewissen Druck zu erleiden schei-
nen, oder aber durch Erschopfung und Erraattung, dann ftihlen wir
uns schwach und stumpfsinnig und die Arbeit des Geistes will nicht
riicken; wir konnen keine Bilder, vielleicht nicht einmal Worte finden,
unser Geist ist ganz eingenommen, ja es macht uns wohl Miihe, nur
einen einfachen Brief zu schreiben. Gleichwie das Gedachtniss, so ist
also auch die Phantasie in Abhangigkeit vom Korper. Die Psycho-
logie weiss hiervon nichts und vermag keine Erklarung von diesen ver-
schiedenen geistigen Zustiinden zu geben.
Mit den Hirnrindezellen scheint somit unsere Seele in einem in-
nigeren Verbande zu stehen und in mehr anhaltender Wechselwirkung,
als mit den iibrigen Hirnzellen. Jene Zellen, welche die sensuellen
Eindriicke aufnehmen, theilen uns zwar ihr Wirken mit, umgekehrt
aber vermag unsere Seele nicht auf sie einzuwirken. Wir sehen ein
Bild vermoge des in unser Auge fallenden Lichts, aber wir sind nicht
im Stande, im Dunkel vermoge unseres Willens die namliche Erschei-
nung herzorzurufen; wir erinnern uns dann wohl des gesehenen Bil-
des, aber nicht mit jener Klarheit und Helligkeit, in welcher es wirk-
lich auf unser Auge fiel. Ware so etwas moglich, so wiirden wir die
Producte unserer Einbildungskraft und die realen Erseheinungen nicht
von einander unterscheiden konnen, und dadurch miisste eine unauf-
horliche Verwirrung entstehen.
, Eine Eigenschaft der Perceptionszellen scheint es zu sein, dass
sie nur durch die von den Sinnesorganen kommenden Nervenfasern in
Thatigkeit versetzt werden, und nicht durch linsern Willen. Dadurch
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Leib and Seele in Wechselwirkung.                    63
wird es ermoglicht, dass die sensuellen Eindriicke sich rein und un-
vermischt erhalten. Konnte der Wille eingreifen und vermochte er
z. B. willkiirlich ein Lichtbild hervorzurufen, dann wiirde ein wirk-
liches gesehenes Bild durch ein innerlich hervorgerufenes oft genug
so verandert und umgestaltet werden, wie die Bilder unserer Phanta-
sie, und wir wiirden uns niemals mit Zuverliissigkeit iiber unsere Ge-
siehtswahrnehmungen aussprechen konnen, da es immer zweifelhaft
sein miisste, ob nicbt unser Geist unwillkiirlich die eine oder die an-
dere Veranderung daran hervorgebracht hatte. Der Eindruck darf
nur ein augenblicklicher sein und er darf keine Spuren hinterlassen;
sonst bliebe ja das gesehene Bild auch nach dem Verschwinden des
Objects zuriick, was zur Verwirrung fiihren miisste.
So stellt es sich als eine Nothwendigkeit beraus, dass ein Apparat
vorhanden ist, der uns die Bilder wirklicber Objecte rein und unver-
andert zufiihrt, aber sie audi nicbt langer bewahrt, als der vom Ob-
jecte ausgehende Eindruck andauert; daneben aber noch ein zweiter
Apparat, worin jene Eindriicke nur in solcher Starke, dass sie vom
Itealen unterschieden werden konnen, gesammelt und aufgehauft wer-
den, und aus dem wir sie wieder in die Erscheinung rufen konnen,
um sie mit anderen zu verkniipfen und Veranderungen mit ihnen vor-
zunehmen.
Dabei ist noch der Umstand beachtenswerth, dass die eigentlichen
Perceptionszellen, die uns die sensuellen Eindriicke iibermitteln, zeit-
weise aus dem Verbande mit der Seele scheinen heraustreten zu kon-
nen, so dass die 'Eindriicke nicht mehr wahrgenommen werden, z. B.
im Schlafe. Ist ein Korpertheil wahrend des Schlafens einer anhalten-
den Kalteeinwirkung ausgesetzt, oder iibt etwa ein eng anliegendes
Halstuch einen Druck aus, so kommt es nicht zu einer eigentlichen
Wahrnehmung dieser Einwirkungen, es werden aber in der Hirnrinde
Eindriicke bewirkt, wodurch analogeVorstellungen und Bilder auftau-
chen, wie jene, die auf keiner directen sensuellen Perception beruhen.
Im Schlafe theilen also die Perceptionszellen ihre Eindriicke der Seele
nicht mit. Im Traume hingegen ist der Verband zwischen Hirnrin-
dezellen und Seele nicht gelost. Wird die Imagination beim Triiu-
men noch lebhafter, so haben wir den Somnambulismus, wobei das In-
dividuum sich so benimmt, wie sonst im wachen Zustande. Die Seele
wirkt so energisch auf die Einbildungszellen, dass von diesen Befehle
nach den Bewegungscentren gelangen, obwohl der Verband zwischen
den Perceptionszellen und der Seele noch unterbrochen ist.
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G4                    Leib und Seele in Wechselwirkung.
Wenn unsere Seele durch den Willen auf die Zellen der Corpora
striata
wirkt, so kann man im Zweifel dariiber sein, ob das eine di-
recte Wirkung der Seele ist, oder ob sie erst von der Hirnrinde aus
zu Stande kommt. Manche Griinde sclieinen mir dafiir zu sprechen,
*C^dass die Seele direct auf die Corpora striata wirkt. Die Exstirpation
der Grosshirnhemispharen, wie friiher bemerkt, scheint doch die Tbiere
nocb keineswegs aller Willkiir verlustig zu machen. Auch finde ich
es nur bei Annahme einer directen Einwirkung erklarlich, dass unser
Korper, ohne dass die Seele daran denkt, mit solcher Leichtigkeit seine
Bewegungen ausfiihrt. Gehen wir z. B. mit einem Freunde in ernstem
Gesprache spazieren, so wird docb unsere Seele von den durch das
Gespriich hervorgerufenen Bildern vollstandig erfiillt, und wir konnen
uns nicht gut denken, dass von den gleichen Zellen auch noch die auf
das Wandeln bezuglichen motorischen Befehle ausgehen sollten. Da-
fiir scheint eine besondere Einrichtung zu bestehen, die auf eine nicht
naher zu erklarende Weise die Leichtigkeit eines Uhrwerks besitzt, so
dass nur ein Anstoss gegeben oder eine Sperrung gehoben zu werden
braucht, und die Bewegungen setzen sich dann von selhst fort.
An einem anderen Orte (Bau und Functionen der Medulla spina-
lis und oblongata
u. s. w. S. 57 fig.) habe ich den Beweis geliefert, dass
das Zusammenwirken der Muskeln beim Gehen, die sogenannte Coor-
dination, durch die Bewegungszellen des Riickenmarks zu Stande
kommt. Unser Wille influirt aber auf diese Zellen von einer holier
oben befindlichen Zellengruppe aus, die in den Corpora striata zu lagern
scheint, deren kiinstliche Anordnung und Verkniipfung indessen wohl
niemals wird ganz deutlich erkannt werden; auf diese Zellen scheint
die Seele direct einzuwirken. Die Leichtigkeit, womit wir uns fast un-
bewusst bewegen, haben wir aber grossentheils aufRechnung der viel-
fach wiederholten Bewegungen zu setzen, wodurch diese fast den Cha-
rakter des Spontanen bekommen. Der Musiker spielt ein schweres
Musikstiiek, worin cine unendliche Anzahl mit Precision auszufiihren-
der Bewegungen vorkommt, aus dem Gedachtniss: er weiss, dass er
dabei die Noten wiedergiebt; er ist sich aber nicht im Einzelnen be-
wusst, welche Fingerbewegungen er dabei ausfiihrt. Wir ersehen hier-
aus, dass die Seele gleichzeitig denken und Befehle zu dieser oder je-
ner Bewegung geben kann. Aehnliches sahen wir schon bei dem mit
dem Freunde Wandelnden, und es findet sich noch in vielen anderen
Fallen. Es kann mir Jemand das Eine oder das Andere dictiren; ich
schreibe ganz genau das Gehorte wieder, denke aber gleichzeitig an
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Leib und Seele in Wechselwirkung.                   65
ganz andere Dinge, und weiss dann schliesslich nichts von dem, was
niedergeschrieben worden ist. Wir haben aucb bier wieder einen Be-
weis dafiir, dass die dem Denken dienenden Zellen andere sind als
jene, denen die Seele Befehle zu Bewegungen ertheilt, und dass bei-
derlei Zellen unabhangig von einander wirken.
Ob die in Grosse und Gestalt variirenden Zellen der Hirnrinde
fur diese simultanen differenten Thatigkeiten bestimmt sind, oder ob
dabei einzelne Windungen eine Rolle spielen, die in besonderer Ver-
bindung mit den Corpora striata stehen, wie Fovilie's vierte Ord-
nung, muss dahin gestellt bleiben.
Wie empfanglich nun aber auch die Zellen der Corpora striata
fur den Eindruck des Willens sind, sie scheinen doch nicht in gleich
enger Verbindung mit unserer Seele zu stehen, als die Zellen der Hirn-
rinde, die mit Recht als der Apparat fur die hoheren Geistesvermogen
gelten. Die Zellen der Corpora striata empfangen zwar den Impuls
unseres Willens, unser Ich aber erhalt von ihnen keinerlei Anstoss.
Wir fiihlen es auch nicht, wohin der Willensimpuls wirkt, und haben
keinerlei Kenntniss vom Bestehen der Corpora striata. Wir erkennen
allerdings die nach unserem Willen ausgefuhrten Bewegungen, aber
auf anderem Wege, namlicli durch die sensibeln Nerven, und die hier-
bei in Wirksamkeit tretenden Zellen sind sicherlich von jenen ver-
schieden, welche die Bewegung reguliren.
Die Hirnrindezellen sind uns somit die wichtigsten und edelsten,
die mit dem Ich, mit der Seele in genauer Yerbindung und Wechsel-
wirkung stehen; sie sind die stoffliche Unterlage des Gedachtnisses,
die eigentliche Werkstatte der Seele. Die Seele entnimmt aus ihnen
Bilder, die sie nach Willkiir zusammenstellt und ordnet, die sie kraft
ibrer hoheren Vermogen der vernunftigen Beurtheilung unterwirft,
und aus denen sie die Begriffe entwickelt. Bir Wirken ist aber ein
desto lehendigeres, je leichter, je rascher, je regelmassiger die Mate-
rialien zum Denken ihr zugefuhrt werden.
Bei dieser Wechselwirkung sind nun zwei verschiedene Thatigkei-
ten im Spiele. Einmal haben wir das Walten der Zellen, wodurch uns
Bilder, Vorstellungen, Materialien fur's Denken zugefuhrt werden; das
ist eine organische unwillkiirliche TMtigkeit, die vom Stande der Le-
benskrafte, von dem Erregungs- oder Reizungsgrade der Zellen ab-
hangig ist, wobei dann die Qualitat und Quantitat des zu den Zellen
gelangenden arteriellen Blutes und die Verschiedenartigkeit der durch
die Sinnesorgane auf indirectem Wege ihnen zugefiihrten Eindriicke
Schroeder t. d. Kolk, Qeisteakrankhelten.                                                         5
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66                    Leib und Seek- in Wechselwirkung.
in Betracht kommt. Zweitens haben wir das Wirken der Seele, welche
jene Eindriicke und Vorstellungen aufnimmt, so dass sie zumBewusst-
sein gelangen, mit ihnen arbeitet, sie willkurlich belierrscht und dem
hoheren verniinftigen Urtheile unterwirft. Ausserdem ist aber die
Seele auch noch vermogend, diese Bilder aus ihren Schatzkammern
hervorzuliolen, sie nach Willkiir und Bediirfniss vorzufiihren und so-
mit die organischen Krafte der Hirnrindezellen anzuspannen, wodurch
Bilder, Vorstellungen, Gefiihle, Neigungen zu Tage treten, alles im
Verhaltniss zu den differenten Eindriicken und zur Natur der afficir-
ten Zellen.
Was die verschiedenartige Wirkung der Gehirnrindezellen anbe-
langt, so wurde oben entwickelt, dass die unter dem Stirnbeine oder
yorderhalb der Centralfurcbe gelegenen Windungen mehr den hoheren
Geistesvermogen, demVerstande, der Begriffsbildung bestimmt sind*);
in den dahinter gelegenen Windungen dagegen bat mehr das Gemiith
seinen Sitz und das sittliche Gefuhl, welches auch im Somatischen
wurzelt und verhaltuissmassig bei Frauen mehr hervortritt. Auch ha-
ben die Zellen in den hinteren Hemispharen, wenigstens an einzelnen
Stellen, eine andere Textur und sie scheinen uns keine Bilder und Vor-
stellungen zuzufiihren, sondern nur in einer eigenthiimlichen Wahr-
nehmung, in einem Gefiihle ihre Wirksamkeit zu aussern, und der
Seele einen Anstoss, eine Neigung zu ertheilen, denen aber alles Be-
stimmte abgeht. Fast moehte ich sagen, obwohl noch der anatomische
Nachweis fehlt, durch die vorderen Hirnlappen werden mehr die pla-
stischen Gesichtseindriicke aufgenommen, durch die hinteren Hirn-
lappen mehr die Gehors- und Gefuhlswahrnehmungen. Durch die
hinteren Zellen empfangt die Seele eine eigenthiimliche Wahrnehmung
und Stimmung, unci durch ihr Vorstellungsvermogen giebt sie dieser
Wahrnehmung Gestalt und Korper, und zwar mit Hiilfe der vorderen
Gehirnlappen. Mit anderen Worten: die vorderen Gehirnlappen ver-
halton sich plastisch, verschaffen uns Stoff und Bilder zum Denken,
die oberen und hinteren Lappen enthalten Gefuhlszellen und vermit-
*) Ich liabe schon weiter ofeen angefuhrt, dass am Gehirne eine? Idioten in
meiner Samralung alle Windungen vorderhalb jener Centralfurche auffallend
klein, die dahinter gelegenen aber von gewolmlicher Grosse sind. Bei einem
anderen Individuum, das nicht hatte lesen lernen konnen, nur den Sehmiede-
hammer fuhren konnte, aber niclit einmal das Feilen und sonstige Arbeit ver-
stand, und end'ich in die Utrechter Irrenanstalt kam, fand ich die vorderen Hirn-
lappen nouh starker atrophirt.
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Leib und Seele in Wechselwirkung. .           67
teln eigenthiimliche Eindriieke, die mehr das Gemiith beriihren und zu
den Trieben gehoren.
Von dieser verscbiedenartigen Wirkungsweise der verschiedenen
Gehirnlappen babe ich bei einer ziemlichen Anzahl Sectionen mich zu
iiberzeugen Gelegenbeit gehabt, wofiir ich noch weiterkin beweisende
Falle beibringen werde. Hier geniige die Angabe, dass ich beim
eigentlichen Irrsein, in Fallen von Begriffsverwirrung und von Hooh-
mutbswahnsinn immer die vorderen Hirnlappen leidend fand, bei Me-
lancholischen dagegen und solchen, die sich selbst verdammten, mit
oder obne religiose Beimiscbung, die Scheitellappen und die hinteren
Lappen erkrankt antraf, und dass im letzteren Falle der Verstand oft-
mals keine Spur von Stoning zeigte, insofern die Individuen richtig
geurtheilt und scharfsinnig disputirt batten. Die patbologiscbe Af-
fection beschrankt sich dann auf die oberen und hinteren Lappen, und
an den vorderen zeigt sich nichts Abnormes in Betreff der Farbung,
der Festigkeit und des Zusammenhangs mit der pia mater. Bei sol-
chen,'die mit finalem Blodsinn geendigt hatten, traf ich die vorderen
Lappen niemals intact an; immer waren sie stark mit der pia mater
venvachsen, und es liess sich diese nicht ohne Verletzung der grauen
Rinde abziehen. Man findet aber auch Atrophie und Entfarbung der
Rindenschicht, und dabei ist die pia mater in so lockerem Zusammen-
hange mit der Hirnrinde, dass sie dem schwachsten Zuge nachgiebt.
Auch fand ich wohl eine Lockerung friiherer Adhasionen und Atrophie
der Windungen, welche Veranderungen auch wohl iiber die gesamm-
ten Hemispharen ausgebreitet waren.
Ohne Zweifel machen sich aber auch noch andere Unterschiede
in den Hirnrindezellen geltend, woraus sich die ungleichen Anlagen
erklaren, insofern sich der eine durch seinen Zahlensinn, ein anderer
durch seine plastischen Auffassungen auszeichnet. Ich habe bereits
oben interessante Falle mitgetheilt, wo diese oder jene Fiihigkeit ver-
loren ging oder intact blieb. Wenn ich auch der Phrenelogie in der
Form, wie sie von Gall aufgestellt wurde, nicht beistimmen kann, so
glaube ich doch, dass wir den Grund der ungleichen geistigen Thatig-
keit in einer ungleichen Korperconstitution zu suchen haben, namlich
in Verschiedenheiten der Hirnrinde und ihrer Zellen, die mehr oder
weniger entwickelt sind und mit Raschheit oder mehr trage reagiren.
Es kommen in dieser Beziehung Verschiedenheiten vor, die sich nicht
wohl auf andere Weise erklaren lassen. Ich selbst bewahre mitLeich-
tigkeit Zahlen im Gedachtniss, und bei einer Riickerinnerung sehe ich
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68                    Leib unci Seele in Wechselwirkung.
die Zahl so vor mir, wie ich sie friiher gedruckt oder geschrieben vor
mir gehabt habe; Personennamen dagegen, selbstwohl die Namen von
Freunden, entschwinden jeden Augenblick meinem Gedachtniss, und
selbst bei Wiedererinnerung muss ich sie rait Anstrengung festhalten,
da ich sie sonst schon nach wenigen Augenblicken wieder vergessen
baben konnte. Der Grund hiervon kann nur in der Hirnorganisation,
in einer Verschiedenartigkcit der Zellen liegen, mit deren Hiilfe uns
die hierzu nothigen Eindriicke, Vorstellungen und Bilder erweckt wer-
den. Der Apparat fur die geistige Thiitigkeit ist nicbt immer gleich
vollkommen in alien seinen Theilen entwickelt, und demgemass varii-
ren auch die Anlagen.
Wir wissen, dass uns ere Seele die Eindriicke von der Aussenwelt
nicht direct aufniinmt, dass das Licht, derSchall und die anderen Ein-
driicke nur auf die Sinnesorgane wirken, welche die empfangenen Ein-
driicke den Perceptionszellen libergeben, namlich den Centren, wo die
Sinnesnerven entspringon oder endigen, der Seele aber nur dasjenige
kundbar wird, was jene Perceptionszellen gemiiss ihrer Verschfeden-
artigkeit ihr mittheilen. Die Eindriicke werden durch jene Zellen
auch nach der Hirnrinde fortgepflanzt, wo sie zu Bildern und Vorstel-
lungen verbunden werden, oder wo sie eine unbestimmte Wahrneh-
mung, ein Gefiihl oder einen Trieb hervorrufen. Wir miissen somit
zu der Annahme kommen, dass die Verschiedenartigkeit unsererWahr-
nehmungen durch die verschiedene Qualitat der Eindriicke bedingt ist,
welche durch die Zellen je nach ihrem specifischen Verhalten iiber-
mittelt werden. Wie jedes Sinnesorgan seine eigenthiimlichen Per-
ceptionszellen hat, durch die uns die Wahrnehmung des Lichts, des
Schalls u. s. w. zu Theil wird, so miissen auch die Zellen der Hirnrinde,
mit denen die Perceptionszellen iiberall durch Markfasern zusammen-
zuhangen scheinen, mit ungleichartiger Energie ausgestattet sein. Sie
bringen uns ein Gefiihl, eine Wahrnehmung, wodurch unser Geist in
eine freudige oder angstliche Stimmung versetzt werden kann, ein Bild
aber verschaffen sie uns nicht, Der Geist kann indessen diese Wahr-
nehmung mit Bildern verkniipfen, die er aus der -Phantasie schopft.
So bekommen wir durch den Gesicbts- und Tastsinn die Vorstel-
lungen der Form und der Raumerfixllung : bei beiden werden die wahr-
genommenen Punkte in der Gehirnrinde zu einem Ganzen vereinigt
und in ein Bild verwandelt. Durch das Gehor bekommen wir nicht
plastische Vorstellungen, wie durch's Gesicht, sondern nur bildlose
Wahrnehmungen; allein die einzelnen Tone miissen in der Gehirnrinde
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Leib und Seele in Wechselwirkung.                   69
wieder zu einem harmonischen Ganzen vereinigt werden, und das ist
mehr ein Gefiihlsprocess, der wohl im oberen und hinteren Theile der
Hemisphiire stattfinden diirfte. Beim Geruche und Geschmacke fiih-
len wir nur das Angenehme und das Nichtangenehme. Hierzu bedarf
es nur niederer Sinnesorgane, die mit der hoheren Intelligenz in einer
weniger directen Verkniipfung sich befinden. Durch sie lernen wir
nicbt die Qualitat der umgebenden Korper kennen, sondern nur die
Art und Weise, wie die letzteren auf unsern Korper einwirken und Ge-
fiihle erwecken. Sie erzeugen nach Gratiolet Sentiments, im Gegen-
satze zu den Sensations. So werden audi die Zellen, durcb deren Er-
regung uns die Wahrnehmung von Hunger und Durst zu Theil wird,
nicbt gleichartig mit jenen sein, durch welche wir die Temperatur-
unterschiede erkennen; denn die Temperaturwabrnebmungen werden
uns nicht einmal durcb die Eingeweidenerven zu Theil, die doch beim
Hunger eine so grosse Rolle spielen. Statuiren wir nun Zellen mit
der specibschen Eigenthiimlichkeit, die Eindriicke von Hunger und
Durst hervorzubringen, so entstehen uns durch diese Zellen keine Bil-
der, sondern nur dunkle Gefuhle, wie durch die Zellen der hinteren
Hemisphareu. Sie rufen einen Trieb, eine Neigung, eine Wahrneh-
mung bervor, wodurcb die Seele auf specifische Weise afficirt und zum
Wirken angetrieben wird.
Hierin liegt meines Eracbtens der Schllissel zur Erklarung dessen,
was wir Instinct zu nennen pflegen. Es giebt sich bei den Thieren
ein bestimmter, bei alien Individuen der namlichen Species iibeinstim-
mender Trieb kund, vermoge dessen sie einzelne ftir ibr eigenes Be-
stehen oder fur die Nachkommenschaft nothige Handlungen ausfiihren,
wobei wir das Kunstmassige und die Zweckmassigkeit, urn nicht zu
sagen den Verstand und das Genie, bewundern mussen. Da aber diese
Handlungen auf unbewusste Weise und stets auf eine fast iibereinstim-
inende Art ausgefiibrt werden, so konnen wir sie nicbt auf Recbnung
des Verstandes oder einer Beurtheilung setzen, und wir nennen sie
angeborene Neigungen.
Diese Thiere befinden sich in Abhangigkeit von ihrem Korper,
von ihrem Nervensysteme, d. h. sie besitzen specifiscb wirkende Zel-
len, welche ihrem psychischen Principe einen bestimmten Eindruck
ertheilen, vermoge dessen das Tbier zu dieser oder jener Handlung
angespornt wird. Wir haben ja ebenfalls verschiedene Triebe, nicht
nur den Hunger und den Durst, sondern auch den Geschlechtstrieb
und andere Neigungen, deren Quelle zuverlassig im Korper selbst
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70                    Leib und Seele in Weehselwirkung.
liegt. Verlieren Eunuchen den Geschlechtstrieb, danii werden die Zellen,
wodurch jenerTrieb zur Perception der Seele gelangt,nicht mehrwirksam
sein; unentschieden lasse ich es aber, ob sie ganz und gar verloren ge-
hen, oder doch noch andere Eindriicke aufzunehmen im Stande sind.
Auch konnen bei Thiereu Nervenzellen vorkommen, die mit Wir-
kungsweisen ausgestattet sind, deren Analogon in unserem Korper sich
niclit findet. So beobachten wir bei vielen Thiereu, z. B. bei Zug-
vogeln, die ihren Weg obue Compass kinwarts und herwarts zuriick-
legen, Eigenschaften, von denen wir uns keine Vorstellung machen
konnen. In soldier Weise haben wir es uns auch zu erklaren, dass
die Spinne ihr Gewebe aufzieht, die Biene ihre Honigwabe, der Vogel
sein Nest baut.
Es erhellt aus der vorstehenden Entwickelung, dass bei unseren
geistigen Thatigkeiten ein unwillkiirliches Wirken des Korpers (die
organische Function der Gehirnzellen mit inbegriffen) und das willkiir-
liche Wirken der Seele zusammeutreffen, in und auf einander wirken,
wodurch Tollstandige Gedanken und Begriffe zu Stande gebracht wer-
den. Die Seele ist der Telegraphist, der Leib das Telegraphenbiireau.
Wenn der Leib sich starker vernehmen liisst, d. h. wenn die Zellen der
Seele sehr lebhafte Eindriicke zuschicken, dann bekommt das Unwill-
kiirliche leicht die Oberhand: so in der Trunkenheit, im Delirium, im
Wabnsinn. Bleibt die Seele Meister, so regelt sie vermbge ihres Ur-
theils die Verkniipfung der verschiedenen Eindriicke: die Bilder und
Vorstellungen, die sie beherrscht, werden zu Begriffen umgewandelt,
und durch das Vorstellungsvermogen kann sie etwa einBildwerk, durch
das erweckte Gefiihl ein Adagio oder eine Elegie zu Stande bringen.
Je nach der Stinimung des Instruments iiberlassen wir uns mehr Ver-
standesoperationen oder Gefiihlsschwellungen. Wenn aber diese Weeh-
selwirkung zwischen Leib und Seele sich schon beim ruhigeu Walten
des Verstandes und Gemuthes kund giebt, so tritt sie noch weit ent-
schiedener in den Leidenschaften zu Tage.
Erfahrt Jeman'd durch ein krankendes Wort oder durch irgend
eine Handlung eines Dritten eine Beleidigung, so vermag er die Fol-
gen dieses Insults im ersten Augenblicke noch durch festen Willen zu
unterdriicken, zumal wenn er friih sich an Selbstbeherrschung gewohnte:
er fuhlt den Insult, sein Nervensystem wird afficirt. er bleibt aber ru-
hig und beherrscht sich selbst, wenngleich nur mit einer gewissen An-
strengung. Trifft ihn dagegen die Sache ganz unversehens und un-
vorbereitet, so reagirt seine heftig beriihrte Seele energisch auf das
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Leib und Seele in Wechselwirkung.                    71
Gehirn und dadurch auf das ganze Nervensystem, und wegen des di-
recten Zusammenhanges des letztern mit der Circulation und mit den
iibrigen Verrichtungen des organischen und animalen Lebens, wird der
Gesammtorganismus in eine aufriihrerische Bewegung versetzt, als de-
ren nachste Folgen starkes Herzklopfen und Congestion nach dem
Kopfe auftreten.
Auf die letztgenannten Wirkungen, die unter dem Einflusse des
Sympathicus stehen, iibt unser Wille keine Macht; ist der Sturm ein-
mal losgebrochen, so ist es fast unmoglich, ihn durch die Kraft des
Willens zu berubigen. Die Gehirnzellen, welcbe schon durch den
ersten Insult und durch die seelische Reaction auf das Gehirn erregt
waren, werden jetzt durch die secundare Steigerung der Circulation
noch mehr gereizt, die Bilder und Vorstellungen jagen an der Seele
voriiber, und der in Wuth Versetzte kann nicht schnell genug dem
empfangenen Eindrucke durch heftigeWorte einen Ausdruck verleihen.
Die durch solchen Sturm und durch die beschleunigte Circulation ge-
spannten Krafte des Gehirns wirken wiederum unwillkiirlich auf die
Seele und drangen sie zu unbedacfiten Handlungen. Schwache Ein-
drucke finden keinen Eingang mehr, der Wiithende hort und sieht
beinahe Nichts, ausser dem Gegenstande seiner Wuth, ein ruhiges
Nackdenken ist ihm jetzt unmoglich. Durch die Heftigkeit derLeiden-
scbaft fortgerissen, vermag er diese in der unbandigen Wuth nicht
mehr zu bemeistern. Die Folgen des ersten Insults, die Erregung des
Nerven- und Gefasssystems horen nach Beseitigung der veranlassen-
den Ursache keineswegs auf, gleichwie auch die Wogen der stiirmi-
schen See mit dem Auf horen des Sturms noch nicht zur Ruhe kommen.
Die gesteigerte Thatigkeit des Gehirns reagirt wieder auf den
Gesammtorganismus, und dadurch giebt sich die enge Verkniipfung
zwischen Leib und Seele auf entscbiedene Weise kund. Der das Ge-
hirn treffende Insult wirkt zunachst niachtig auf das Riickenmark ein,
und von hier aus nicht allein auf das der Willensherrschaft entzogene
Nervensystem, so dass Herzklopfen eutsteht, sondern auch auf die
willkiirlichen Muskeln, die fur gewohnlich unter der Herrschaft von
Gehirn und Riickenmark stehen. So kommt es zu nachhaltigen hef-
tigen Bewegungen des Korpers. Der Wiithende kann nicht stillstehen,
er schlagt mit den Handen, selbst gegen schuldlose Gegenstande, und
stampft mit den Fiissen; seine Gesichtsmuskeln befinden sich in einer
krampfhaften Contraction, das Auge glanzt und starrt zuerst fast un-
beweglich unter den stark gerunzelten Augenbrauen. Diese heftigen
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72                   Leib und Seele in Wechselwirkung.
Muskelwirkungen oder Korperbewegungen steigern ihrerseits die Fre-
quenz und Energie des Pulses, und das wirkt secundar wieder auf
die schon erhohte Energie der Gebimthatigkeit. Ein Nachlass kann
erst dann wieder eintreten, weim die unwillkiirlichen Reaetionen des
Organismus zum Schweigeu gebracbt worden sind. Darauf griindet
sicb der Rath, man solle dem Zornigen einen Stuhl anbieten und ihn
zum Sitzen nothigen. Gelingt dies, so mindern sich die Raschheit und
Energie der Circulation, welche durch die Korperbewegungen unter-
balten wurden, der Korper wird ruhig, das ungestiime Walten des
Gehirns lasst nacb, in der Seele kehrt die verniinftige und ruhige
Stimmung zuriick und sie beherrscht wieder ibr Reich.
Hieraus ergiebt sich von selbst, wie viel darauf ankommt, dass •
man einem wiithenden Tobsiichtigen nicht voile Freiheit der Bewe-
gung gestattet, wie es viele Aerzte verlangen, namentlich die Verthei-
diger des No-restraint-Systems. Ein solcher Ungliicklicher muss sich
nach ihrer Ansicht gleichsam austoben, man soil desbalb seine Bewe-
gungen nicht beschranken, sondern dieselben nur moglichst unschad-
lich machen, was nothigenfalls durch den Verschluss in einer sichern-
den Zelle erreicht werden soil. Icb babe mich dieser Ansicht nicht
anschliessen konueu. Immer habe ich guten Erfolg davon geseben,
wenn ein Tobsiichtiger in einen zweckmassigen Zwangsstuhl gebracht
wird. Einen solchen habe ich in alien niederlandischen Anstalten
eingefiihrt; er ist bequem fiir den Kranken, entzieht ihm alle Stiitz-
punkte und erspart die Miihe, ihn durch feste Binden zuruckzuhalten
und in eine Zelle zu bringen. Da der Korper in bequemer Lage in
Ruhe verharrt, so beruhigt sich die Circulation, die inneren Mittel
zur Massigung der Hirnreizung wirken rascher und kraftiger, und der
Anfall wird erheblich abgekiirzt. Daher begegnet man auch in der
Utrechter Anstalt nur selten einem Tobsiichtigen, weil es durch dieses
Mittel fast immer gelingt, den Sturm zu beschwichtigen.
§• 13.
Einfluss des Leibes auf die Seele.
Nachdem die eigenthiimlichen und specifischen Functionen der
verschiedenen Ganglienzellen, namentlich auch in der Hirnrinde, so
wie ihr Zusammenhang und die Wechselwirkung mit der Seele be-
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Einfluss des Leibes auf die Seele.                  73
sprochen worden sind, muss es wiinschenswerth erscheinen, den so-
matischen Drsachen nachzuforschen, wodurch diese Zellen erregt und
in erhohte Thatigkeit versetzt werden konnen, und die hierdurcli einen
so gewiclitigen Einfluss auf unsere Geisteskrafte iiben.
Unter diesen ursachlicken Momenten muss dem Blute jedenfalls
die erste Stelle eingeriiumt werden. Seine mehr oder weniger aus-
gesprochene arterielle Beschaffenheit, die etwaige Beimischung frem-
der Gemengtheile, die Raschheit seiner Bewegung, die Anfullung der
Hirngefasse, — das sind eben so viele bedeutsame Punkte.
Kein Theil unseres Leibes vermag seine Wirksamkeit zu aussern,
wenn nieht arterielles Blut zu ihm gelangt, und man darf dieses daher
wohl als eine Lebensfliissigkeit bezeichnen. Bekanntlicb ist aber
auch kein anderer Theil so empfindlich for die geringstenModificatio-
nen der Blutbesehaffenbeit, als das Nervensystem, besonders aber das
Gehirn. In den Lungen, in der Leber flndet sich normal das venose
Blut in grosser Menge, und es kann sich auch sonst ohne Nachtheil
reichlich darin anhaufen; die Anwesenheit venosen Blutes in den Ge-
hirnarterien kann aber schon binnen wenigen Minuten einen todtlichen
Stickfluss herbeifuhren, was auf unwiderlegbare Weise aus den Expe-
rimenten von Bichat (Sur la vie et la mort. 4. Ed. Par. 1822. p. 360)
zu entnehmen ist, die stets 'als Muster physiologischer Versuche gel-
ten werden. Daftir spricht auch die eigenthumlicbe Einrichtung des
fotalen Kreislaufs, wo das mehr arterielle Blut vorzugsweise zu Ge-
hirn und Riickenmark stromt, und erst nach Beginn der Lungenath-
mung der Gesammtkorper rein arterielles Blut erhalt.
Damit steht es wieder im Zusammenhange, dass die graue Sub-
stanz des Gehirns im Allgemeinen, besonders aber die Hirnrinde so
reich an Capillaren ist. namentlich wenn man den Capillarreichthum
derMarksubstanz damit vergleicht (E. H. Ekker, Onderzoelcingen over
het haarvatenstelsel van hersencn en ruggemerg
in: Nederl. Lane. 1852.
p. 329).
Wir diirfen aus dieser reichen Zufuhr arteriellen Blutes zur Hirn-
rinde den Schluss ziehen. dass die Rindezellen in lebhafter Wechsel-
wirkung mit demselben stehen miissen, wobei ausserdem auch noch in
Betracht kommt, dass die aus der pia mater in die graue Schicht ein-
tretenden Arterien einen sehr kurzen Verlauf haben und meistens
nicht bis zur tieferen Marksubstanz reichen, was ebenfalls eine rasche
Erneuerung des Bluts zur Folge haben muss. Es sind diese Gehirn-
theile aber auch sehr empfindlich, wenn dem Blute nur irgend etwas
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74                      Einfluss des Leibes auf die Seele.
Fremdartiges beigemengt ist. In einem menschenerfiillten Raume, in
dessen Luft der Chemiker kaum Differenzen der proportionalen Zu-
sammensetzung auf fin den konnte, und deren grosserer Kohlensaure-
gehalt bei sonstiger Reinheit noch keinen Schaden bringen wiirde,
sehen wir, zumal bei sensibeln Frauen, Ohnmachten, Krampfe und an-
dere Erscheinungen auftreten, und zwar deshalb, weil in der exspirir-
ten Luft thierische, dem Organismus nachtheilige Stoffe enthalten
sind, die von Neuem eingeatlimet werden und sich deni Blute beimen-
gen. Ich will ferner nur an die Wirkungen geringer Mengen Chloro-
formdunstes erinnern, oder an die rasch tbdtlichen Folgen der Ein-
athmung concentrirter Blausaure, oder auch an die schadlichen Diifte
vieler Blumen, die leiclit Kopfschmer,zen und andere Gehirnerschei-
nungen hervorrufen. Welche geringe Mengen sind hierbei im Spiele,
die dann noch erst init dem grosseren Theile des Bluts gemengt wer-
den und in solcher Verdiinnung auf das Gehirn wirken.
Da die Lebensausserungen der Hirnrinde an die Einwirkung ar-
teriellen Blutes gekniipft sind, so erkliirt es sich auch, warum durch
stjirkere Blutzufulir eine allgemeine Erregung und Steigerung der
dort wirkenden Hirnkrafte hervorgerufen wird. Es handelt sich nicht
urn besondere Eindriicke oder Perceptionen, sondern durch den ver-
mehrten Stoffwechsel und die Erregung der Hirnrindezellen werden
die Vorstellungen und Bilder, welche der Seele entgegentreten, leben-
diger, und die Antworten auf die von der Seele gestellten Fragen er-
folgeu rascher, das heisst die Sprache ist eine raschere, die Gedankeu
entwickeln sich leicht und schnell, und man braucht nicht erst lange
nach einem Worte oder Bilde fiir seine Rede zu suchen. Bei solcher
Erregung der Hirnrinde nimmt alles einen raschen Verlauf, der ganze
Korper betheiligt sich daran und der Sprechende findet kein Ende.
Schon durch eine kurzdauernde raschere Zufuhr arteriellen Bluts
wird die Hirnrinde afficirt. Ich sprach schon weiter oben davon, dass
Jemand, der schnell gelaufen ist und mit keuchendem Athem ankomnrt,
nicht auf der Stelle tiefgehende Fragen, welche ein ruhiges Nachden-
ken erfordern, zu beantworten vermag. Aehnliches beobachten wir,
wenn die Circulation durch andere Reize, z. B. durch Wein, erregt
wird, wo dann noch die directe Reizung durch den Alkohol hinzu-
kommt. Rasch wird der Geist erweckt, die Phantasie wird lebendi-
ger, grosse und erhabene Bilder treten hervor und die Verse fliessen
dem Dichter. Nimmt es aber zu, dann bekommt auch bald das Un-
willkiirliche im Walten des Geistes die Oberhand, die Bilder und Vor-
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Einfluss des Leibes auf die Seele.                     75
stellungen folgen einander rascher und ohne Ordnung, so dass der
Verstand sie nicht fassen, die Seele sie nicht beherrschen kann, die
Sprache und der Gedaukengang verlieren den Zusammenhang und
das Regelrechte, und durch die geringste Veranlassung konnen die
heftigsten Leidenschaften zum Ausbruche kommen.
Aehnliches beobachten wir im Fieber. Zuerst, wenn der Puis
schneller wird, zeigt der Kranke sich unruhig, so dass er nicht still
liegen kann. Nimmt dann die Reizung des Gebirns zu, so werden die
Bilder und Vorstellungeri so lebhaft, dass er sie von realen Bildern
nicht mehr zu unterscheiden vermag, und er delirirt. Auch hier ha-
ben wir es nur mit einer erhbhten Wirkung der Hirnrindezellen
zu thun.
Aus dem eigenthiimlichen Verlaufe der Arterien im Gehirne wird
die beschleunigte Circulation, namentlich in der Hirnrinde, begreiflich.
Die Carotis cerebralis zerfallt nach dem Eintritte in die Schiidelhohle
alsbald in mehrere grossere Aeste. Als Fortsetzung des Stammes
haben wir die Art. fossae Sylvii, die sich in der pia mater auf den
Hirnwindungen und namentlich auf jenen des vorderen Hirnlappens
ausbreitet; von ihr empfangt die Hirnrinde den ersten Impuls. Die
tieferen Gefiisse, z. B. fiir die Corpora striata, kommen nicht von den
Gefassstammen selbst, sondern es sind kleinere Aeste aus dem Ra-
mus communicans Willisii.
Da nun der Hauptast nach vielfacher
Theilung in der pia mater in der Hirnrinde sich verbreitet, so wirkt
auch eiii stitrkerer Blutandrang zunachst auf diese. Deshalb sind
Personen, die an activer Hypertrophic des Herzens rait Erweiterung
der Carotiden leiden, und bei denen mehr Blut nach dem Gehirne
stromt, meistens sehr reizbar, und kommen leicht in Aufwallung. Auch
erwahnt Friedreich eine Beobachtung Parry's, der durch Druck
auf die Carotiden eines Tobsiichtigen den Wuthanfall zu besanftigen
und zuriickzuhalten im Stande war.
Hierher gehort auch die Beobachtung, dass rhachitische Kinder
meistens einen grossen Kopf haben und rasches Auffassungsvermogen
besitzen, da bei ihnen nach dem Zeugniss von Haller (Elementa phys.
IV. p. 402) die Blutgefasse fiir den Kopf durch grosseren Umfang
sich auszeichnen.
Eine bckannte Sache ist es, dass schiefe, bucklige Individuen, bei
denen das Blut rascher und kraftiger zum Gehirne stromt, durch
Lebhaftigkeit des Geistes sich hervorzuthun pflegen. Personen mit
langem Halse sind meistens ruhiger und langsamer, solche mit kurzem
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76                     Einfluss des Leibes auf die Seele.
Halse lebendiger, unruhiger und mehr leidenschaftlioh, was aber auch
wieder seine Ausnahmen hat.
Hierher gehort auch der Einfluss von Luft und Klima auf das
Hirnleben. Bergbewohner, die eine reinere Luft athmen, sind lebhaf-
ter, rascher und muthiger, und bei den in feuchter nebliger Luft
Wohnenden begegnet man weit mehr einer Tragheit und einem nicht
aufgeweckten Wesen. Diese verschiedene Einwirkung auf den Geist
erfahren wir auch wohl an uns selbst.
Damit stimmt auch die Beobachtung, dass Selbstmord so haufig
in die nebelige Jahreszeit fallt, weil dann der gedriickte Zustand des
Geistes nur noch mehr zunimmt. Villeneuve berichtet, dass von
den zehn Selbstmorden, die in einem Pariser Stadtviertel innerhalb
zweier Jahre vorkamen, neun auf regnerisches und nebeliges Wetter
Helen.
Umgekehrt wirkt ein nicbt hinreichend arterialisirtes Blut depri-
mirend und betjiubend, es entsteht davon Abspannung und Schlafrig-
keit. Asthmatische sind in der Kegel furchtsam und kleinmiithig;
einer breiten, geraumigen Brust dagegen entspricht Kraft des Leibes
und der Seele. Skorbutische und Chlorotische, die ein wasseriges
Blut haben, sind auch meistens verdiiesslich und kleinmiithig (Bur-
dach, Baa des Gehirns. III. S. 115), und mit der Gelbsucht, wo das
Blut mit fremden Beimengungen erfiillt ist, verbindet sich immer gei-
stige Abspannung, Verdriesslichkeit, Missmuth. Wenn venose Con-
gestion vorhanden ist, das Blut trage bewegt wird und sich langer im
Kopfe anhauft, wie so haufig bei Plethora abdominalis, wo die venose
Congestion zum Kopfe durch Reflex zu Stande kommt, so beobachtet
man meistens eine gedriickte Stiinmung, Neigung zu Melancholie und
Angstgefiihle. Erfahrt der Riickfluss des Blutes aus demGehirne eine
Stoning, z. B. bei Pericarditis, wo auch die Zufuhr des Blutes ge-
sehwacht ist, dann erreicht das Angstgefiihl manchmal einen unbe-
schreiblich hohen Grad. Eine gedriickte Stiinmung und ein Angst-
gefiihl nach Korperbewegungen gewahren wir auch bei Jenen, die in
Folge eines Herzfehlers an Morbus coenileus leiden. Da die Rinden-
substanz mit ihren Zellen der unausgesetzten Durchrieselung eines
arteriellen Blutes bedarf, bei gestortem Abflusse und venoser Con-
gestion aber das Blut langsamer durchstromt, auch in Folge der
schwachen Erregung durch arterielles Blut der Stoffwechsel darnieder
liegt, so erkltirt sich wohl das eigenthiimliche Angstgefiihl, das auch
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Einfluss des Leibes auf die Seele.                     77
beim Asthma vorkommt und bei vielen Melancholikern eine bedeutende
Rolle spielt.
In alien dieson Fallen hat man den Grand der wechselnden Seelen-
stimmung in eiuer ungleichen Erregung der Hirnrindezellen zu su-
chen, worein diese durch verschiedenartige Blutreize versetzt werden.
Dei- Einfluss des Leibes auf die Seele beschrankt sich indessen
nicht auf die directe Einwirkung des Brutes auf die Hirnrindezellen;
auch entferntere Theile und namentlich der Sympathicus greifen dabei
mit ein. Bekanntlich begleitet der Sympathicus die Gefasse der Scha-
delhbhle, und sein Einfluss auf diese Gefasse hat sich deutlich bei
Versuchen herausgestellt, die auf meinen Wunsch von Professor Bon-
ders und von Br. Callenfels (Over den invloed der vaatzenuwen op
den bloedsomloop
etc. Utrecht, 1855. p. 67) ausgefuhrt worden sind.
Ich habe es selbst bei diesen Versuchen beobachtet, dass auf Reizung
des Sympathicus und seines Ganglion cervicale zunachst eine Ver-
engerung der Gefasse in der pia mater eintrat, der aber alsbald eine
entschiedene Erweiterung folgte, so dass die Gefasse zwei- bis drei-
mal dicker waren, als wahrend der vorausgehenden Reizung, aber nur
auf jener der Reizung entsprechenden Seite. Nachdem das Ganglion
ausgeschnitten worden war, wurde ein Reiz am Sympathicus der ande-
ren Seite applicirt, und nun trat auch in der anderen Hemisphare zu-
erst Verengerung ein, der dann Erweiterung nachfolgte.
Schon friiher hatte Brachet (Bccherches experimentales sur le
systeme ganglionaire.
Par. 1830. p. 368) gefunden, als er einem Hunde
das Ganglion cervicale superius durchschnitten hatte, dass das Gehirn
auf der operirten Seite starker injicirt war und dass Somnolenz ein-
trat. Callenfels, der an Kaninchen experimentirte, konnte diese
Angaben nicht bestatigen. Man hat aber zu bedenken, dass beim
Hunde der Sympathicus und Vagus genau mit einander vereinigt sind
und also wohl auch der Vagus mit durchschnitten wurde, wo dann
das Athmen gestort sein musste, und dass hierdurch ein soporoser
Zustand entstehen konnte.
Eine analoge Beobachtung finde ich aus der Erfahrung von Roux
{Schmidt's Jahrbb. 1856. No. 7. S. 19) verzeichnet. Roux operirte
bei einem Kutscher eine grosse carcinomatose Geschwulst am Halse,
wobei die Carotis dextra zweimal unterbunden werden musste, und
der Vagus nebst dem Halstheile des Sympathicus durchschnitten wur-
den (!!). Bie Stimme wurde heiser und es stellten sich Hustenanfalle
ein. Bei der Section zeigte sich die Convexitat der rechten Hemi-
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78                     Einfluss des Leibes auf die Seele.
sphare, also der operirten Seite, blutreicher, als die der linken. Das
steht aber aucb ganz im Einklange mit unserem Wissen iiber die va-
somotorischen Nerven. Sind diese geliilimt, so erweitern sich die be-
treffenden Gefasse, und die Hirngefiisse konnten wohl hierin keine
Ausnahme machen.
Schwieriger fallt es festzustellen, wie entferntere Organe, z. B.
die Baucheingeweide, mittelst des Sympathicus auf das Gebirn wirken
konnen. Wir gewahren aber diesen Einfluss recht lebhaft nach jeder
Indigestion. Schon nach jeder Mahlzeit sind wir zu geistiger Arbeit
weniger aufgelegt. 1st die Verdauung wirklich gestort, feblt es an
Appetit, dann fiihlen wir uns trage, abgespannt und gedriickt; in noch
hoherem Grade tritt dies aber bei tragem Stuhle und sogenannter
Verstopfung ein, wobei, wie ich spater zeigen werde, Stricturen des
Dickdarms zu Grunde liegen. Der Geist ist dann ganz niedergeschla-
gen und es tritt ein mehr oder weniger heftiges Angstgefiihl auf, von
dem die Kranken sicb keine Bechenschaft zu geben vermogen, und
wodurch sie in der Begel zu allerlei Anklagen gegen sicb selbst ver-
anlasst werden.
Zur Aufkliirung dieses Verhaltnisses will ich vorerst den umge-
kehrten Weg einschlagen und zu ermitteln suchen, wie eine gedriickte
Gemiithsstimmung auf den Korper wirken kann.
Bekanntlicb haben wir bei Traurigkeit und Seelenschmerz ein
Gefiihl von Mattigkeit und Gedriicktheit, die Bewegungen erfolgen
mit Tragbeit und miihsam, wir haben eine Schwere in den Gliedern,
die Digestion leidet, der Puis ist verlangsamt, zwischendurch aber su-
cben wir uns durch Seufzen und tiefes Einathmen einige Erleichterung
zu verschaffen. Das Blut stromt weniger leicht durch die Lungen.
Dazu gesellt sich ein eigenes druckendes Gefiihl in der Herzgrube,
das zumal bei Gewissensbissen stark hervortritt und sich zur Angst
steigert. Das Blut wird bei der triigen Circulation nicht gehorig im
Gehirne erneuert, das Gehirn aber wird bei dem tragen Ersatze des
arteriellen Blutes nicht in der erforderlichen "Weise gereizt, wie dies
bereits von Nasse (Untersuchungen zur Physiologie und Patliologie. I.
S. 348) angegeben worden ist.
Stellen sich nun aus anderen Ursachen, die auf die Unterleibs-
nerven wirken, dergleichen Anfalle eines driickenden Gefiihls in den
Pracordien ein, etwa bei krampfhafter Zusammenschniirung des Ma-
gens oder noch mehr des Colon, womit sich allgemeine secundare
Storungen der Circulation verkniipfen, so dass Hiinde und Fiisse kalt
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Einfluss des Leibes auf die Seele.                       79
sind, tier Kopf aber unci namentlich der Scheitel heiss erscheinen,
dann stellt sich ebenfalls einGefiihl von Angst und Gedriicktheit ein,
wie bei Betriibniss, Schmerz und Gewissensbissen. Nur fehlt in einem
solchen Falle die iiussere Veranlassung. Ein soldier Patient wird
dann, je nach seiner Gemiithsstirnmung, die Sache auf verschiedene
Weise zu erklaren sucben, meistens aber verfallt er auf Eingriffe in
sein gemiithliches Leben und auf Selbstanklagen. Dabei besteht in-
dess der sehr wesentliche Unterschied, dass Jemand, der durch einen
Unfall odor durch andere iiussere Ursachen niedergedriickt ist, sicb
wohl Trost und Muth zusprechen lasst, dass aber diese Mittel hier
nicht anschlagen, da ja die materiellen Ursachen, welche die qualende
Angst und Unrulie herbeifiihren, durch Vernunftgriinde sich nicht fort-
schaffen lassen: ein Umstand, auf den man meistens zu wenig achtet.
Wie also Traurigkeit und Schmerz auf die Eingeweide einwirken
und in diesen eigenthiimliche Storungen hervorrufen, so erzeugen hin-
wieder analoge Affectionen der Eingeweide und des Sympathicus re-
flectorisch ein diisteres, unhestimmt niederdriickendes Gefiihl im Ge-
birne, Niedergescblagenheit des Geistes, Melancholic
Indessen fiihrt die pathologische Affection des Sympathicus nicht
immer zur Melancholie; es konnen auch lebhafte Eindriicke, Phan-
tasmen und Hallucinationen aus dieser Quelle hervorgehen. Einen
interessanten Beleg dafiir verdanken wir dem berlihmten Larrey.
Ein Soldat war in den Unterleib geschossen worden und hatte rech-
terseits eine Fisteloffniing behalten, die zwei Finger breit vom hervor-
ragendsten Punkte der falschen Rippen anfing und schief nach innen
und links verlief. Eine Sonde nahm in der Fistel die Richtung gegen
den Quergrimmdarm und die vordere Magenfliiche, und die Beriih-
rung dieser tieferen Theilc durch die Sonde rief auf der Stelle ganz
ungewohnliche Nervenzufiille hervor. Zunachst entstand ein Gefiihl
von Kalte und von driickendem Schmerze; dann folgte eine krampf-
liafte Contraction des ganzen Unterleibes und ein Reckon der Glied-
maassen; hierauf verfiel der Mann in ein verwirrtes Geschwatz, in
eine Art Somnambulismus, und dieses Stadium konnte man nach Will-
kiir verlangern, wenn man an sein Rasonnement ankniipfte; nach 25
bis 30 Minuten horten diese Zufalle endlicb auf, und der Kranke be-
kam wieder eine Art Heimweh und eine hypochondrische Gemiiths-
stimmung, die seit der Verwundung sich seiner ohne Nachlass be-
machtigt hatten. Die Kugel, meint Larrey, hatte wahrscheinlich, in
ein Stiick des Hemdes eingehiillt, an den Bauchwandungen einen star-
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80                       Einfluss des Leibes auf die Seele.
ken Widerstand gefunden, war dann durch die diinnen Blatter des
Netzes vorgedrungen und hatte den darunter gelegenen Quergrimm-
darro mit Heftigkeit getroffen, so dass dessen innere Gefasshaut zer-
riss; denn alsbald nach dem Auftreten der ersten Entziindungszufalle
hatte sich eine starke Darmblutung eingestellt. Ausserdem hatte die
Kugel eine Erschiitterung des Ganglion cocliacum veranlasst, von des-
sen Hyperiisthesie Larrey mit Recht die Hypochondrie und die an-
deren Nervenerscheinungen herleitet. Der directe Einfluss des Sym-
pathies
auf den Eintritt der Gehirnerscheinungen ist in diesem Falle
wohl deutlich genug.
Die Wirkung des Sympathicus vom Colon aus, welches, wie ich
weiterhin zeigen werde, zur reflectorischen Wirkung aufs Gehirn be-
sondere Disposition zeigt, habe ich einmal an mir selbst wahrzuneh-
men Gelegenheit gehabt. In Folge starker geistiger Anspannung und
angestrengten Arbeitens, wozu noch eine Erkaltung kam, wurde ich
von einer Febris continua remittens befallen, nachdem ich, ganz gegen
meine Gewohnheit, einige Tage hindurch an tragem Stuhle mit dem
Gefiihle eines Vollseins des Unterleibes gelitten hatte. Mein Arzt
befiirchtete die Entwickelung einer Febris nervosa, und widersetzte
sich deshalb der Anwendung von leichten Abfiihrmitteln und Klysti-
ren, die ich zu erhalten wiinschte. Nach einer zweitagigen Andauer
des Fiebers stellten sich Hallucinationen und Phantasmen bei mir ein:
bei geschlossenen Augen sah ich immer eine Menge Leute um mich,
und dabei hatte ich doch voiles Bewusstsein, da ich uberzeugt war,
es seien nur Hallucinationen. Drei Tage und drei Nachte hielten
diese Erscheinungen mit fortschreitender Steigerung an. Im Schlafe
triiumte ich fortwahrend, und nach dem Erwachen brauchte ich nur
die Augen zu schliessen, so sah ich diePersonen, die immerfort wech-
selten. Endlich erhielt ich ein Klystir, wodurch eine grosse Masse
bochst fotider Stoffe entleert wurde, und im Augenblick verschwanden
alle Erscheinungen, so dass ich mich hergestellt fiihlte. Am anderen
Morgen wiederholte sich zwar die Scene, wenn audi in einem leichte-
ren Grade; nach einer zweiten Entleerung gleich bescbaffener Massen
verschwanden aber auch wieder augenblicklich alle Erscheinungen,
ich fiihlte mich ganz wohl und blieb es auch*).
*) Merkwiirdig war hierbei noch Folgendes. Wegen der Fieberhitze machte
ich kalte Ueberschlage auf den Kopf, und diese hatten alsbald die Wirkung,
dass die mich umgebenden Personen und ihre Kleider erblassten, ihre Be-
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Einfluss des Leibes auf die Seele.                     81
Die Veranderung trat so plotzlich und so vollstandig ein, dass
ich in vollem Rechte zu sein glaube, wenn ich eine directeEinwirkung
der schadlichen Massen auf die gereizten Nerven des Colon und von
hier aus auf das Gehirn annehme, welches in Folge der vorausgegan-
genen Anstrengung und unter dem Einflusse des Fiebers sich in star-
kerer Erregung befand. Da ich alsogleich nach der Entfernung der
Kothmasscn das Gefiihl der Genesung hatte und mich als ganz ande-
rer Mensch fiihlte, auch nicht wohl anzunehmen ist, dass eine durch
erhohte Temperatur erzeugte Gehirncongestion so im Nu aufhort, so
diirfte es wohl gerechtfertigt erscheinen, wenn ich dem SympatJiicus
neben seiner Einwirkung auf die Circulation im Gehirne auch noch
einen directen Einfluss aufs Gehirn durch Reflex zuschreibe.
Ich will diesen wichtigen Gegenstand durch einige andere Falle
noch mehr zu erlautern versuchen. Wenn bei mir die Gehirnreizung,
die wahrscheinlich hauptsachlich die vorderen Gehirnlappen traf,
sich in der Form der Hallucinationen kundgab, so kann die namliche
sympathische Wirkung bei einem anderen Naturell sich in der Form
der Melancholie aussern, sobald mehr die oberen und hinteren Gehirn-
lappen ergriffen sind. Mehr denn einmal habe ich beobachtet, dass
nach der Entleerung harter in Verderbniss iibergegangener oder auch
breiartiger stinkender Massen rasch eine vollstandige Hebung der Me-
lancholie eintrat. Ich wahle folgende Falle.
Ein wissenschaftlich gebildeter Mann hatte sich nach einem schwe-
ren Nervenfieber zu bald mit anstrengender Arbeit ubernommen, und
bei seiner sitzenden Lebensweise verfiel er in eine schwere Melan-
cholie, welche der zwei Jahre lang fortgesetzten arztlichenBehandlung
Trotz bot. Er war nicht im Stande, seine Gedanken auf andere Ge-
wegungen aber langsamer wurden; denn es umgaukelte mich dasBild einerLand-
sehaft, mit einer Menge Menschen erfiillt, und zuletzt glaubte ich nur noch
mattgraue und weisse Standbilder um mich zu sehen. Da ich vollkommenes
Bewuestsein hatte, wiederholte ich diese Beobachtung mehrmals mit dem nam-
lichen Erfolge. Mit dem Aussetzen der kalten Ueberschlage kehrten die Bewe-
gungen und Farben der Bilder wieder. Ich anderte auch den Versuch ein Paar
Male dahin ab, dass ich die Ueberschlage nur auf der rechten oder auf der lin-
ken Kopfhalfte applicirte: es erblassten dann die Personen auf der den Fomenta-
tionen entsprechenden Seite, und die andere Hiilfte der Bildergruppe behielt die
friihere Lebhaftigkeit. Noch nach vielen Jahren ist mir die Sache lebhaft in
der Eriiuieiung, denn der Merkwurdigkeit halber hatte ich sie alsbald nach
meiner Herstellung mit vielen Einzelnheitcn niedergeschrieben.
Schrooder v. d. Kolk, Geisteskraiikbeiten.                                                          '>
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82                     Einfluss des Leibes auf die Seele.
genstande zu richten und katte das Gedachtniss verloren; sein Arzt
hielt daher das Leiden fur ein unheilbares. Da der Mann iiber alle
anderen Dinge noch ganz verniinftig sprach, so hatte ich noch einige
Hoflhung, es moge sich doch nur urn ein sympathisches Hirnleiden
ohne bereits eingetretene Degenerationen handeln. Er ging nacb
Pyrmont, trank dort das Wasser einer stark salzhaltigen, damals nocb
wenig bekannten Quelle und genas in kurzer Zeit vollkommen. Nach
seiner Zuriickkunft erzahlte er mir, er habe, nachdem er das Wasser
ein Paar Tage getrunken und dabei taglich zu Pferde gesessen hatte,
einen heftigen Schmerz in der linken Seite mit Drange zum Stuhle
bekommen, der Stubl aber sei so schmerzhaft gewesen, dass er hatte
aufschreien miissen. Dabei entleerte er sehr verhartete Massen. Auf
der Stelle aber war seine Melancholie ganz und gar verschwunden;
er fiihlte sich als ein ganz anderer Mensch und wurde wieder ganz
belebt und theilnehmend. Spater wieder insLehramt eintretend, ver-
sah er dasselbe ganz unbeschwert und ohne Kopfleiden, ja selbst
noch leichter als friiherhin. Sein Geist hatte durch diese mehr denn
zweijahrige Depression der Denkthatigkeit nicht gelitten. Seitdem
sind acht Jahre verflossen, und er erfreute sich fortwiikrend einer un-
gestorten Gesundheit; nur ist er vielleicht zwischendurch zu lebhaft
und aufgeregt.
Wie die Nerven voin Uterus aus wirken konnen, das sehen wir
ganz deutlich bei Hysterischen. Unter anderen ist mir ein recht ent-
schiedener Fall der Art bei einer zarten sensibeln Frau vorgekomraen,
die ich vor ihrer Verheirathung schon einmal an Melancholie mit Er-
folg behandelt hatte. Ein Paar Jahre nach der Verheirathung verfiel
sie von Neuem in einen melancholischeu Zustand, verbunden mit
dem Gefiihle grosser Schwere im Becken, wogegen Blutegel an die
Schamlippen, Resolventia und andere Mittel vergeblich angewendet
wurden. Beim Eintritte der Menstruation und wahrend derselben
trat, wie es ja haufig vorkommt. die melancholische Stimmung immer
entschiedener hervor. Bei vorgenommener Untersuchung fand sich
Prolapsus uteri, eine Hypertrophic des Uterus selbst mit grosser Em-
pfindlichkeit des Muttermundes; dabei klagte die Frau iiber ein be-
klemmendes Gefiihl, welches von unteu nach oben aufstieg und ihr
unbeschreibliche Angst verursachte. Die Reposition des Uterus war
etwas schwierig; so wie sie aber eintrat, war auch augenblicklich die
Melancholie verschwunden. Der Prolapsus trat weiterhin noch einige
Male ein, wobei sich allemal das Angstgefiihl und die melancholische
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Einfluss des Leibes auf die Seele.                     83
Stimmung einstellten, so dass die Frau den Anblick des Mannes, mit
dem sie ganz gliicklich lebte, nicht ertragen konnte, und jedesmal
verschwanden diese Erscheinungen nach erfolgter Reposition augen-
blicklich. Nach vollstandiger Hebung des Prolapsus blieb die Frau
ganz gesund, und so habe ich sie noch mebrere Jahre gekannt.
Aus derartigen Fallen erkennt man deutlich, dass entfernte Theile
einen sympathischen Einfluss auf's Gehirn iiben konnen, und man muss
wohl annehmen, dass der Sympathicus direct durch Reflex auf das
Gehirn einwirkt, wodurch meistens eigenthiimliche diistereEmpiindungen
erweckt werden. Da sich keine plastischen Vorstellungen dazu ge-
sellen, so wird dieser Reflex in den meisten Fallen sich mebr in den
oberen und hinteren Hirnlappen kundgeben, worin ich auch immer bei
solchen melancholischen Stimmungen starkere Hyperamie der Hirn-
rinde und starkere Verwachsung dieser mit der pia mater angetroffen
habe. Diese Reflexwirkung fiihrt nun wohl meistens eine in derRegel
mehr passive Congestion herbei. War indessen noch keine organische
Degeneration im Gehirne eingetreten, so erfolgt der Uebergang in
solchen Fallen so rasch, die melancholischen und sonstigen Reflexer-
scheinungen im Gehirne treten so plotzlich zuriick, dass ich mir nicht
gut vorstellen kann, eine passive Congestion mit ihren Folgen werde
so rasch voriibergehen. Zwar will ich nicht behaupten, dass in der-
gleichen Fallen keine passive Congestion als Product abnormer Wir-
kung des Sympathicus stattfand, allein die Congestion allein erweckt
noch nicht so starke melancholische Stimmungen. Die directe Ein-
wirkung des Sympathicus auf einzelne Gehirntheile erscheint desshalb
sehr wahrscheinlich.
Es verbindet sich damit eine mehr oder weniger gesteigerte Em-
pfindlichkeit der Medulla oblongata, die sich als sogenannte Spinal-
irritation aussert: der Druck auf den ersten und zweiten Halswirbel
wird nicht vertragen, denn er verursacht ein eigenes unangenehmes
Gefiihl im Kopfe, zumal in der Scheitelgegend. In der Regel sind
auch die Pupillen bei solcher Reflexwirkung des Sympathicus erweitert.
Die passiven Congestionen, die meistens plotzlich in den oberen
und hinteren Hirnlappen auftreten, scheinen mir eher Folge der sym-
pathischen Reflexwirkung als primare Ursache der Melancholie zu
sein. Ohne Zweifel konnen sie aber selbst wieder die Krankheit ver-
schlimmern und selbst unheilbar machen.
Sind diese Congestionen mehr liber das gauze Gehirn verbreitet,
dann treten auch noch andere Erscheinungen auf, Verwirrung des
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84                      Einfluss des Leibes auf die Seele.
Gedankenganges, Funkeu vor den Augen u. s. w. Bei reiner Melan-
cholie kommt dies jedoch selten vor, sondern fast ausschliesslich nur
bei passiver chronischer Affection.
Solche sympathische Hirnaffectionen gehen am haufigsten vom
Colon aus, namentlicb vom linksseitigen, aber aucb vom Uterus, des-
gleicben beim Manne von den Geschlecbtstheilen. Ein Paar Male sind
sie mir bei Mannern vorgekommen, die an starkem Catarrhus vesicae
litten. Aucb mit Lungenaffectionen konnen sie im Zusammenhange
steben. Von der Leber gebt diese Einwirkung aufs Gehirn seltener
aus, als man vermuthen sollte.
Bei diesem Reflex vom Sympathicus aufs Gehirn hat man festzu-
halten, dass der im Gehirn erzeugte Eindruck sich durchaus von jenen
Eindriicken unterscheidet, die wir durch die Sinnesorgane empfangen.
Durch die Sinne erhalten wir bestimmte Eindriicke und Vorstellungen,
so dass wir auf der Stelle iiber die iiussere veranlassende Ursache im
Klaren sind. Hingegen durch die Reflexwirkung vom Sympathicus
erhalten wir nicht directe Vorstellungen, sondern es kommt nur zu
einer fremdartigen, unangenehmen Wahrnehmung, iiber deren Quelle
der Geist im Dunkeln bleibt, und da meistens kein Schmerz damit ver-
bunden ist, so sucht der Kranke den Grund seines Leidens ausserhalb
des Korpers. Durch die Ungewissheit hinsichtlich der Art und Ent-
stehung jener unangenehmen Wahrnehmungen wird dem Kranken
Angst und Furcht eingejagt, diese wirken aber selbst wieder auf das
Gehirn zuriick, erwecken bier allerlei fremde Gedanken und konnen
zur Verzweiflung fiihren.
§.14.
Allgemeine Pathologie des Gehirns.
Bevor ich mich zum Therapeutischen wende, balte ich es fiir an-
gemessen, einige allgemeine Bemerkungen iiber die Natur des Gehirns
und seine pathologischen Veranderungen vorauszuschicken.
Die verschiedenen Korpertbeile unterscheiden sich in der Textur
und in den Verrichtungen von einander, Und diese DifFerenzen machen
sich auch bei Kranken geltend, so dass sie der Arzt nicht unberiick-
sichtigt lassen darf. Manche Korpertheile sind nicht blose durch ihren
Gefassreichthum ausgezeichnet, sondern auch durch eine hochgestei-
gerte Reizbarkeit, so dass schon schwache Einwirkungen eine heftige
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Pathologie des Gehirns.                               85
Entziindung hervorrufen konnen; das ist z. B. der Fall mit den Lun-
gen. Der Magen ist zwar auch sehr gefass- und nervenreich, er ver-
tragt aber ohne Nachtheil starkere Einwirkungen, die an anderen Thei-
len alsbald eine heftige Entziindung erregen wiirden, und die hitzigen
Gewiirze und andere Substanzen lassen ihn unberiihrt. DasBaucbfell
liinwiederum, obwolil es nur sparsam mit Geiassen und Nerven ausge-
stattet ist, kann schon durch den Reiz der Atmosphare sich rasch
entziinden.
Das Gehirn bei aller seiner Bedeutsamkeit stebt in dieser Bezie-
hung nicht gerade auf einer hohen Stufe; denn wenn auch schon
schwache Reize auf dasselbe einzuwirken im Stande sind, so wird es
doch nicht gar rasch in den entziindlichen Zustand ubergefiihrt. Es
kommen freilich heftige acute Gehirnentzundungen vor, zu denen der
reizbarere Organismus des Kindes besonders disponirt ist, und im rei-
fen Lebensalter hat das mannliche Geschlecht vor dem weiblichen
hierzu eine grossere Anlage, weshalb auch Gehirnreizung bei Maun era
im Allgemeinen eher zu Degeuerationen fiihrt. Auffallend ist es a»er
oftmals, wie das Gehirn, zumal bei Weibern, erregt und gereizt werden
kann, ohne dass es zur Entziindung kommt; tritt sie dann ja ein, so
ergreift sie meistens zuerst die Hirnhaute und nimmt gem einen chro-
nischen Verlauf. In der Gehirnsubstanz selbst tritt seltener eine pri-
mare Entziindung auf und dann auch meistens nur local. Auch bei
Geisteskranken findet man haufiger Affectionen der Hirnhaute mit
Verauderungen der Rindensubstanz, als solche der Hirnsubstanz selbst,
wo sich die Folgen meistens erst nach langerem Verlaufe als Erwei-
chung oder als Verhartung kundgeben. Daher ist es gekommen, dass
man durch die Leichenoffnungen sich nicht befriedigt fiihlte, und da
man sich nicht denken konnte, dass durch solche geringe Abweichun-
gen so bedeutende Erscheinungen bedingt sein sollten, so verfiel man
darauf, das Irresein als ein rein psychisches Leiden anzusehen.
Noch mehr kam man durch die pathologische Anatomie des Ge-
hirns in Verlegenheit, insofern man bisweilen in den Leicben bedeu-
tenden Degenerationen des Gehirns und Eiteransammlungen begegnet,
die sich wain-end des Lebens durch keinerlei Erscheinung verrathen
hatten. Da die Entziindung der Gehirnsubstanz meist local beschrankt
bleibt, so entstehen davon keine Irrsinnserscheinungen, sie miisste
denn auf die pia mater iibergehen, oder von ihrem Ausgangspunkte
aus zu den vorderen und oberen Hirnlappen fortschreiten. Auch kon-
nen Gehirnpartieen verloren gehen und der Betroffene tritt mit voll-
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8fi                               Pathologie des Gehirns
standiger Krhaltung der Verstandeskrafte in die Genesung, wenn nur
die Verwundung keine Meningitis nach sich zog, die sich iiber das Ge-
hirn ausbreitete, und wenn nur die Rindenschicht der vorderen und
oberen Partie des Gebirns gesund und functionsfjihig blieb.
Zur Erlauterung und Begriindung dessen will ich einige Beobach-
tungen mittheilen.
Einem Zimmermaim fiel ein schwerer Balken auf den Kopf, so
dass er obne Besinnung niederstihzte, und bei der Untersuclmng fand
sich eine bedeutende Fissur und eine Depression oben am Schadel.
Die Erscheinungen von Hirndruck nbthigten nach einiger Zeit zur
Vornahme der Trepanation, wobei sich eine ziemliche Menge Eiter aus
der Schadelhohle entleerte. Hiernach war der Mann ganz frei im
Kopfe und bei vollem Bewusstsein. Delirien waren gar nicht dage-
wesen, wohl aber Eingenommenbeit und Coma vor der Operation.
Wie der Mann spator erzahlte, hatte er wahrend der Operation einen
gewaltigen Liirni gehort. Er befand sich jetzt ganz wohl und ging
taglich auf die Arbeit, ohne iiber irgend etwas zu klagen. Da fiel er,
ein Vierteljahr nach der Operation, bei der Arbeit auf einmal todt
nieder. Bei der Section fand sich unter der rechten Kranznaht ein
Eitersack von etwa 2 Centimeter Tiefe und 2 '/2 Centimeter Breite, der
bis zum rechten Seiteuventrikel reichte, ohne aber direct mit demsel-
ben zu communieiren. Die Wandungen des Sackes batten etwa 5 Mil-
limeter Dicke und bestanden aus langen Zellen und jungem Binde-
gewebe. Auf der Innenflache des Ventrikels war das Ependyma ent-
ziindet, wahrscheinlich in Folge der Vergrosserung und des Weiter-
riickens des Eitersackes, und es war zur Eiterung gekonnnen, so dass
ein ziemlich diinner, friehr seroser Eiter durch den dritten Ventrikel
hindurch bis zum vierten gelangt war, woselbst er wahrscheinlich
durch plotzlich eintretenden Druck die Katastrophe herbeigefiihrt
hatte. An der Oberflache des Gehirns zeigte sich keine Spur von Ent-
ziindung, die Rindenschicht war ganz gesund, auch waren die Gehirn-
haute frei von Entziindung. So erkliirte es sich, dass der Mann un-
geachtet der bedeutenden eiterigen Zerstbrung bis zum Augenblicke
des Todes im vollen Besitze seiner Verstandeskrafte geblieben war.
Eine andere interessante Beobachtung hatte ich schon friiher bei
einem zweiundsiebenzigjahrigen Greisc machen kbnneu. Bisher im-
mer ganz gesund, soviel er sich erinnern konnte, bekam dieser ohne
bekannte Veranlassung ein unangenehmes Gefiihl von Kribbeln und
Ameisenkriechen, verbunden mit Taubheit, in Hand und Fuss der lin-
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Pathologie des Gehirns.                               87
ken Seite, und daraus bildete sich rasch eine vollkommene Lahmung
des linken Armes und Beines, so dass nach 14 Tagen die Gliedmaassen
nicht mehr bewegt werden konnten. Jetzt stellten sich Contractionen
in den Flexoren der. gelahmten Seite ein, die durch Ersehiitterungen
und unwillkttrliche Bewegungen unterbrochen wurden. Nach vier
Wochen konnte der Mann audi den Hals nicht mehr bewegen und den
Kopf nicht drehen. Dabei behielten aber die Gesichtsmuskeln ihre
Beweglichkeit und die Pupillen waren nicht erweitert. Das Gefiihl
hatte sich in den Gliedmaassen erhalten. Sechszehn Tage nach dem
Anfange der Krankheit ging die Beherrschung der Stuhl- und Harn-
entleerung verloren, wenngleich ganz regelmassig taglich Stuhlgang
sich einstellte. Der Appetit erhielt sich immer gut. Der Puis war
immer etwas beschleunigt, dabei voll und manchmal fast hart. Es
kam bald zu Decubitus, namentlich auf der gelahmten Seite. In den
letzten Tagen stellte sich Geschwulst und Schmerz des linken Armes
ein, sowie Excoriationen am Ellenbuge, und der ganzeArm bekam ein
blauliches Aussehn, obwohl der Puis noch unverandert war. Ablei-
tende Mittel im Nacken und Flores Arnicae brachten keine Besserung
zu Wege. Dabei behielt der Kranke bis zum letzten Athemzuge sein
helles klares Bewusstsein, er hatte keine Spur von Kopfschmerz, keine
Eingenommenheit,-keine Schwere des Kopfes, oder sonst ein fremdartiges
Gefiihl in demselben. Er versicherte wiederholt und namentlich auch,
als ich ihn ein Paar Stunden vor seinem Tode, sechs Wochen nach
dem Ausbruch der Krankheit, ausdriicklich daruber befragte, er habe
vor seiner Krankheit nie an Kopfschmerzen gelitten, und auch wah-
rend der ganzen Krankheit hatte er niemals Kopfschmerz oder auch
nur Ohrensausen gehabt. Wer den Greis mit den etwas gefarbten
Wangen sah, wie er so ganz verstandig redete, hatte ihn wohl kaum
flir krank gehalten; denn er klagte nur iiber Schmerzen im linken
Arme und iiber Unbeweglichkeit und Lahmung der linken Seite.
Die Section ergab zunachst, dass die diinnen Gedarme sich auf
eine sonderbare Weise um das Colon descendens herumgedreht hatten;
die Flexura sigmoidea war verengt, der daruber befindliche Theil des
Colon aber durch Luft ausgedehnt, und dabei hatte sich das Colon
zwischen Leber und Zwerchfell gedrangt, so dass die Leberoberflache
Vertiefungen fur den ausgedehnten Darm zeigte. Daraus ist zu er-
sehen, dass diese Erweiterung schon seit langerer Zeit bestanden ha-
ben musste, und gleichwohl hatte der Mann, wenigstens wahrend der
sechswochentlichen Krankheit, nicht an Tragheit des Stuhles gelitten.
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8H                               Pathologie des Gehtrns.
Ilerz unci Lungen waren gesund. Nun wurde der Wirbelkanal, wie ich
immer zu thun pflege, von vorn her geoffnet; dabei zeigte sich, dass
idle Wirbel unter einander durch Knochenmasse verwachsen waren.
Der Sack der dura mater war gespannt ausgedeiint und mit einem
rothlichen Serum erfiillt. Der Halstheil des Riickenmarks zeigte eine
grossere Festigkeit, namentlich vorn in der Gegend des vierten Hals-
wirbels; die pia muter hatte hier eine grauliche Farbung und die
Arachnoidea hing durch Pseudomembranen mit der pia mater zusam-
men. Ausserdem kamen an mehreren Stellen in der Arachnoidea knor-
pelige, ja selbst knocherne Lamellen vor.
Die dura mater des Gehirns war so fest mit dem Schadeldache
verwachsen, dass letzteres sich nicht abnehmen liess, und es musste
die dura mater kreisformig durehschnitten werden. An der rechten
Hemisphare zeigten sich Spuren einer abgelaufenen Arachnoideitis.
Am vorderen Hirnlappen der rechten Seite, ungefahr V/2 Centimeter
von der Hirnsichel entfernt, da wo sich Foville's Windungen der
vierten Ordnung befinden, bestand eine ausgesprochene Gehirnerwei-
chung mit scharf umschriebener Begrenzung. Diese Erweichung,
welche die graue Substanz und die Marksubstanz in gleichem Maasse
betraf, fing vorn oberhalb des Augendaches an, erstreckte sich bis zum
Gyrus parietalis anterior, und weiter nach der Sichel hin auch bis
zum Gyrus parietalis medianus; dabei reichte sie wohl drei Centime-
ter in die Tiefe bis zum Corpus striatum hin. Ihre grosste Breite uu-
ter dem Stirnbeine betrug 21j2 Centimeter. In dieser ganzen Ausdeh-
nung war die pia mater mit dem Gehirne fest verwachsen und liess
sich ohne Zerreissung nicht abziehen; ja am Vorderlappen blieb die
erweichte Hirnmasse bis zum Corpus striatum hin an der pia mater
hangen, wie man noch an dem Praparate in meiner Sammlung sehen
kann. Sonst iiberall zeigte sich nichts Abnormes, weder am Gehirne
noch an der pia mater, und letztere liess sich allenthalben leicht ab-
ziehen. Die linke Hemisphare war ganz normal. In den Ventrikeln
land sich die gewohnliche geringe Menge Serum. An den Corpora
striata,
an den Thalami, am Balken, an der Briicke und am kleinen
Gehirne kam nichts Abnormes vor; nur die Medulla oblongata schien
etwas dichter zu sein. Die pathologisch veranderte Stelle abgerech-
net, hatte die graue Substanz nirgends anders eine starkere Farbung-
auch war keine Hypcramie im Gehirne und Riickenmarke vorhanden.
Es handelte sich demnach um eine local umschriebene Erweichung
und Degeneration, die aus der Tiefe und von der Seite des Corpus
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Pathologie des Gehirns.                               89
striatum, vom sogenannten Strahlenkranze ausgegangen zu sein schien
und sich bis zur Oberflache ausbreitete, wo es zu einer ebenfalls local
beschrankten Meningitis gekommen war.
War nun auch in diesem Falle der grosste Theil des vorderen
Hirnlappens, den ich doch als das Organ der hoheren Geistesvermo-
gen ansehe, auf der rechten Seite degenerirt und zerstbrt, so hatte
der Mann gleichwohl nicht an Geistesstorung gelitten, ja er hatte iiber
keine abnormen Empfindungen im Kopfe zu klagen gehabt. Das muss
auf den ersten Blick befremden, steht aber mit dem, was frfiher iiber
die Functionen der verschiedenen Hirntheile beigebracht worden ist,
ganz im Einklange. Man wusste ja langst, dass die Hemispharen des
grossen Gehirns nicht empfindlich sind, und dass man Stiicke davon
wegnehmen kann, ohne dass der Patient, auch wenn er bei vollem Be-
wusstsein ist, etwas davon merkt. Diese Unempfindlichkeit riihrt da-
von her, dass die verschiedenen Wahrnehmungen und Eindriicke, die
wir erhalten, von Zellen mit verschiedener sensueller Energie ausge-
hen, deren Thatigkeit durch aussere Eindriicke erregt und dann von
uns wahrgenommen wird. Wenn demnach die Zellen in den Hemi-
spharen und in der Hirnrinde nicht vermogend sind, uns Empfindun-
gen oder Schmerzen zu erwecken, wozu die an der Gehirnbasis be-
findlichen Perceptionszellen bestimmt sind, so konnen Affectionen der
Hemispharen selbst auch keine Schmerzen verursachen, d. h. die He-
mispharen sind unempfindlich. Die Hirnrindezellen reagiren aller-
dings auf Reize, die hierdurch bewirkten Wahrnehmungen iiussern sich
aber nicht als Schmerzempfindung, sondern in der Form von Vorstel-
lungen oder Bildern, von Trieben, von Neigungen, von Stimmungen, je
nach der verschiedenen Localitat jener Zellen.
Besteht nun eine bloss locale Affection, wie in den mitgetheilten
beiden Fallen, wo Degenerationen eingetreten waren, dann konnen die
degenerirten Theile allerdings nicht mehr wirken und uns keine Wahr-
nehmungen verschaffen, die sich doch nur in starkerer Intensitat der
Vorstellungen, der Bilder, der Traume aussern konnte. Von der fibri-
gen Gehirnmasse konnten aber auch keine pathologischen Erschei-
nungen ausgehen, da sie ja nicht afficirt war, die Meningitis aber sich
nicht weiter fiber das Gehirn ausbreitete.
Immerhin erkennen wir aus diesen Fallen, dass das Gehirn nur
geringe Irritabilitat besitzt, da so bedeutende ortliche Degenerationen
vorhanden sein konnen, ohne dass die umgebenden Theile mit ergriffen
werden. So etwas kommt aber nur bei Erwachsenen vor. Bei einem
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90                               Pathologie des Gehirns.
Kinde hatte eine solche Destruction sich nicht so ganz local gehalten,
bestimmt ware hier eine allgemeine Meningitis aufgetreten.
Das locale Leiden muss sich aber im zweiten Falle aus der Tiefe
der Gehirnmasse nach den Windungen bin ausgebreitet haben, so dass
zuletzt auch die pia mater ergriffen und in einen entziindlichen Zu-
stand versetzt wurde, aber ebenfalls ganz local. Anders gestaltet
sich die Sache, wenn die Krankheit, z. B. in Fallen von Manie, von der
Oberflache der Hirnrinde und von der pia mater selbst ausgeht. Dann
verbreitet sie sich mehr oder weniger rasch iiber die gauze Oberflache
oder wenigstens iiber den grossten Theil der Hemispharen. Die pia
mater
und Arachnoidea theilen mit den serosen Hauten die Eigen-
schaft, dass eine darin auftretende Entziindung sich iiber die ganze
Flache ausbreitet. Ob aber dabei Geistesstorung auftritt oder nicht,
das hangt davon ab, ob die unterliegende Hirnrinde in den Entziin-
dungsprocess mit hineingezogen wird oder nicht. Dieses Verhalten
wird von den Aerzten nicht geniigend beachtet.
Ein schwach congestiver Zustand oder eine beginnende Entziin-
dung der pia mater kann sich auf ihr ausseres Blatt nebst der Arach-
noidea
beschranken; es hildet sich dann ein plastisches Exsudat unter
der Arachnoidea, welches oftmals in der Form einer mehr oder weni-
ger undurchsichtigen Speckhaut das ganze Gehirn iiberdeckt. Das
kommt haufig bei Irrsinnigen vor, und ich vermeinte friiher hierin ein
charakteristisches UnterschCidungszeichen zu finden zwischen dem Ge-
hirne eines Irrsinnigen und eines Andern, der bei ungestorten Geistes-
kraften an einer andern Krankheit gestorben ist. Bei genauerer Nach-
forschung iiberzeugte ich mich aber bald, dass diese sogenannte Speck-
haut, dieses weissliche Exsudat zwischen pia mater und Arachnoidea
ebensogut in den Leichen von Nichtirren und von solchen, die iiber
keinen Kopfschmerz geklagt hatten, gefunden wird. Das wird auch
von Nasse bestatigt, der sich auf einen interessanten Fall bezieht, wo
eine Verengerung der Diinndarme und zugleich eine iiber das ganze
Gehirn ausgebreitete starke Speckhaut gefunden wurde, dennoch aber
bis zum Verschwinden des Pulses und dem Kaltwerden der Gliedmaassen
hiu keine Spur von Delirium, von Irrsinn oder von mangelhaftem Be-
wusstsein aufgetreten war. Deshalb verwirft auch Nasse die geist-
reiche, immerhin aber einseitige Theorie Bayle's, der das Irrsein
iiberall von einer Meningitis herleiten wollte.
Schon vor langer denn 30 Jahren habe ich (Observationes anato-
mico-pathologicae,
1826, p. 28) dargethan, dass Partes contiguae, die
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Pafchologie des Gehirns.                               SI
verschiedene Gewebe besitzen, nicht leicht in glcicher Starke von Ent-
ziindung ergriffen werden. So bleiben z. B. die Zwischenrippenmus-
keln bei PJeuritis costalis fast immer ganz frei, und bei Peritonitis ist
die Muskulatur der Eingeweide audi nur selten ergriffen. In gleicher
Weise verhalt es sich mit der pia mater. Congestion, Eutziindung,
Ausschwitzung konnen sich auf deren aussere Flache beschranken
und das Gehirn freilassen, so dass man im Leichname ein Exsudat
zwischen Arachnoidea und pia mater eingeschlossen findet, wahrend im
Leben auch nicht die geringsten pathologischen Hirnerscheinungen
beobachtet wurden.
Ich muss hierbei an dasjenige erinnern, was ich oben iiber die
Gefasse der pia mater angefiihrt babe, dass nainlich in der pia mater
selbst ein directer Uebergang arteriellen Blutes in Venen stattfindet,
wodurch ein starkeres Zustromen von Blut, ja selbst eine Congestion
und eine leichte Entziindung zu Stande kommen kann, ohne dass die
in die Hirnrinde sich erstreckenden Gefasse daran Theil nehmen:
man kann sagen, der Sturm fahrt iiber uns hin, ohne dass wir es nur
bemerken. Bei der geringen Irritabilitat des Gehirns pflanzt sich eine
Entziindung nur langsam auf dasselbe fort und nimmt dann auch
meistens einen chronischen Verlauf. Wenn daher die Herzmuskulatur,
trotz der heftigen Pericarditis und der Exsudation in den lierzbeutel,
gesund bleiben kann, so wircl man auch wohl zu der Annahme be-
rechtigt sein, dass bei Entziindung und Exsudatbildung anderAussen-
fliiche der pia mater der Process nicht his zur Hirnrinde vorzudringen
braucht. Da nun die Hemispharen unempfindlich sind, eine Reizung
der Hirnrinde aber wohl zu^Erregung und Leidenschaftlichkeit Ver-
anlassung geben kann, nicht aber zum Auftreten von Kopfschmerzen,
so haben leichtere Affectionen keine besonderen pathologischen Er-
scheinungen in ihrem Gefolge, so lange dieSeele noch dieZiigel fiihi't.
Verliert diese ihre Herrschaft, dann ist die Hirnrinde bereits starker
ergriffen.
Ohne Grund haben Nasse und andere zur psychologischen An-
schauung sich Bekennende die Meningitis als ursachliches Moment des
Irrseins und seiner Folgen streichen wollen, undzwaraus dem Grunde,
weil Meningitis mit Exsudation auch ohne Gehirnerscheinungen auf-
treten kann. Es kommt hierbei Alles auf die Ausbreitung der Ent-
ziindung an, ob diese namlich auf die Aussenseite der pia mater sich
beschrankt, odcr ob auch die Kindenschicht in den Process mit hinein-
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92                               Pathologie des Geh lrns.
gezogen ist; denn in beiden Fallen ist dasExsudat zwischen pia mater
und Arachnoid/a ganz das namliche.
Locale Zerstbrungen kommen aber nicht bloss in der Stirn- und
Scheitelgegend vor, sondern auch am untern oder Schlafelappen.
Mehrmals sind mir an der Spitze dieses Lappens Eiteransammlungen
vorgekommen, ohne dass Gehirnerscheinungen oder Schmerzen dabei
aufgetreten waren. Schmerz, aber dann auch sehr heftiger Schmerz,
tritt erst auf, wenn die dura mater an der Entziindung Theil nimmt.
Ist die Entziindung der Hirnsubstanz ganz local, wenn sie z. B.
durch Stase auftritt, oder wenn sie sich, wie das wabrscheinlich bei
dem erwiilinten 72jahrigen Greise der Fall war, aus der Tiefe heraus
entwickelt, dann fehlen die Frscheinungen einer Gehirnaffection. Be-
schrankt sich der entziindlicbe Process auf die Aussenseite der pia
mater,
dann kann sichErregtheit und Schlaflosigkeit einstellen, manch-
mal auch ein Gefiihl yon Leichtsein oder aber von Schwere und An-
fiillung; oder es scheint sich auch wohl ein fremder Korper im Schadel
hin und her zu bewegen, was wahrscheinlich von einem ausgedehnten
Blutgefiisse herriihrt, oder davon, dass die Fliissigkeit zwischen pia
mater
und Arachnoidea in Bewegung kommt. Wird die Hirnrinde
starker gereizt, dann entsteht im acute'n Falle Delirium, im chro-
nisclien Falle dagegen Manie oder Melancholie mit deren Folgen. Bei
Irrsein, namentlich wenn es idiopathisch ist, hort man nur selten iiber
Kopfschmerz klagen.
Besitzen nun auch die Hemispharen nur eine geringe Irritabilitat,
sind sie gleich unempfmdlich in dem Sinne, dass ihre Affection sich
nicht durch Schmerz kund giebt, so lange dieselbe nicht direct oder
auch secundar auf die tieferen Theile des Gehirns einwirkt oder aber
auf die dura mater sich ausbreitet, so zeichnen sie sich wieder in der
Beziehung durch einen hohen Grad von Empfindlichkeit aus, dass
schon durch einen schwachen Reiz heftige Erscheinungen hervorge-
rufen werden konnen, wenngleich keine oder doch nur sehr geringe
Spuren von Entziindung vorhanden sind. Ein Tuberkel, ein massiger
Blutaustritt kann die heftigsten Convulsionen veranlassen; Reizungen
der Rindensubstanz, starkere Congestionen, wie sie beim Delirium
tremens
vorkommen, erzeugen wohl Wuthanfalle; ein Blutverlust, wobei
doch gewiss nicht von Congestion oder Entziindung die Rede sein kann,
ruft die heftigsten Krampfe hervor, weil das Verhalten des Blutes zu
den Zellen und der Parenchymfhissigkeit eine Abanderung erlitten hat,
wodurch das Gleichgewicht zwischen dem Zelleninhalte und der um-
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Pathologie des Gehirns.                              93
gebenden Fliissigkeit eine Stoning und somit das Wirken der Zellen
eine Aenderung erfuhr. Einer solchen Umiinderuug scheinen die mo-
torischen Zellen in den Corpora striata noch leichter unterworfen zu
sein, da bei todtlichen Hamorrhagieen wohl Convulsionen und Bewusst-
losigkeit auftreten, aber keine Wuthausbriiche. Unbedeutende idio-
pathische oder sympathische Ursachen, z. B. Wiirmer bei Kindern,
oder der Hysterismus bei Madchen, konnen sehr heftige Erscheinungen
hervorrufen, und andererseits konnen sehr bedeutende Storungen,
z. B. locale Eiterungen, lange Zeit besteben, ohne dass man von ihrer
Anwesenheit weiss. Heftige Erscheinungen berechtigen noch durchaus
nicht zur Annahme einer heftigen Entziindung, der man kraftig mit
Aderlassen und mit antiphlogistischen Mitteln entgegen treten miisste.
1st das Gehirn nun auch insoweit empfindlich, als ein schwacher
Reiz heftige Erscheinungen hervorrufen kann, so gehort es doch noch
nicht zu den reizbaren Organen in dem Sinne, dass eine heftige Ent-
ziindung sich in ihm rasch entwickeln konnte. Bei den Krankheits-
processen, von denen ich hier handle, ist die Entziindung weit mehr
zum chronischen Verlaufe geneigt, und aus diesem Grunde vermag
man durch einzelne starke Aderlasse nicht so rasch darauf zu wir-
ken, als es wohl manchmal bei Pleuritis oder bei Pneumonic vor-
kommt.
Die schwache Action des Gefasssystems bei Gehirnkrankheiten ist
auch daraus zu entnehmen, dass, selbst wenn sehr heftige Erscheinungen
auftreten, dennoch kein Fieber sich einstellt. Tritt indessen eine mehr
acute heftige Encephalitis auf, dann giebt sich dies auch wohl am
Fieber und am Pulse zu erkennen, und es kann eine intensivere anti-
phlogistische Behandlung noting werden.
Da alle pathologischen Erscheinungen von der Natur des afficirten
Theiles abhangig sind, das Gehirn aber ohne Zweifel zu den zusam-
mengesetztesten Organen gehort, welches mit der ihm durchaus eigen-
thiimlichen Function ausgestattet ist, die Verbindung zwischen Leib
und Seele zu vermitteln, und worin die psychischen Thiitigkeiten zu-
nachst sich kund geben, so treten hier auch pathologische Erscheinungen
auf, die zwar allgemein bekannt sind, deren Erklarung aber doch nicht
so leicht fallt. Die erste Stelle in dieser Beziehung gebuhrt wohl
dem Zustande der Bewusstlosigkeit, die auch im gesunden Zustande
vorkommt, aber bei alien gewaltsamenEinwirkungen und bei mancherlei
Affectionen als ein auffallendes Symptom hervortritt.
Im Schlafe sind wir nur zeitweilig bewusstlos, dann namlich, wenn
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94                              Pathologie des Gehirns.
wir nicht traumen; denn beim Triiurnen sind die Hirnrindezellen in
Thatigkeit. Zum Wirken dieser Zellen, dem Erhabensten, was in
der Natur vorkommt, scheint aber eine ganz ungestorte Circulation
und ein nicht zu hoch gesteigerter Druck auf diese Theile erfordert
zu werden. Entsteht ein Druck aufs Gehirn, z. B. bei Blodsinn als
Folge von Gehirnausschwitzung, wo die Windungen abgeflacht er-
scheinen, dann ist das Bewusstsein zwar nicht ganz verschwunden, seine
Wirksamkeit aber fast auf Null reducirt; denn die Blodsinnigen gleichen
fast Wachsbildern, sie sprecheu nicht, bewegen sich nicht und be-
halten die Stellungen, die man ihnen giebt. Die Seele scheint dabei
auch wenige Eindriicke zu empfangen. Entsteht ein starkerer Druck
durch heftigen Blutandrang oder sonst eine Ursache, dann entsteht
Coma, aus dem der Geist nur schwer zu erwecken ist, daher er meistens
nicht bemerkt, was geschieht.
Umgekehrt sehen wir bei hysterischen Madchen durch die ge-
ringsten Drsachen Ohnmachten entstehen. Ist Krampf dabei im
Spiele, dann ist das Gesicht oftmals blass, und es scheint durch den
Sympathicus, der, wie oben entwickelt, die Gefasse verengert und da-
durch so bedeutend auf die Circulation einwirkt, die Circulation be-
schrankt zu werden, so dass der nothige Stoffwechsel indenHirnzellen
ausbleibt und damit auch deren feinere Wirksamkeit in Wegfall kommt.
Die Seele empfangt keine Eindriicke mehr, da alle Vorstellungen und
somit auch das Bewusstsein durch diese Zellen zu Stande kommen.
Sind die Zellen mit Blut iiberladen, wie bei Apoplexie oder Epi-
lepsie, dann tritt Yollkommene Bewusstlosigkeit ein. Diese stellt sich
aber gleicher Weise ein, wenn ihnen durch eine starke Blutentziehung
oder durch Hamorrhagieen zu vieles Blut entzogen wird. Erfahrt die
Circulation vom Nervensysteme aus eine Storurig, so andert dies nichts
im Erfolge. Die Rindezellen erfahren durch die geringsten Ursachen
eine Storung ihres Wirkens, und selbst durch die Eindriicke des all-
taglichen Lebens werden sie so erschopft, dass sie zur Herstellung
ihrer Functionen des Schlafs bediirfen, was doch von den Organen
des Kreislaufes, der Athmung, der Ernahrung und Secretion nicht in
gleicher Weise gesagt werden kann. Hierdurch wird es noch eher
begreiflich, warumbeilocalerEntzundungmitnachfolgenderErweichung
oder Eiterung in der Hirnrinde jene Zellen so rasch ibrer Wirksam-
keit verlustig gehen und keine Symptome mehr hervorrufen, weshalb
dann dasUebel unbemerkt im Gehirn verborgen bleiben kann. Zellen,
die ihre eigenthumliche Kraft, ihre Energie nicht mehr aussern, wirken
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Pathologie des Gehirns.                               95
auch nicht auf die Seele. Denn es steht die Seele nicht mit dem
Stoffe selbst in Verbindung, sondern nur mit den Kraften, die sich
durch das stoffliche Wirken in den Zellen entwickeln*).
Die verschiedenen Zellenarten verhalten sich in diesev Beziehung
nicht gleich. Die Perceptionszellen horen bald auf, der Seele Ein-
driicke zuzufiihren, wie z. B. im Schlafe; aber auch schon bei ander-
weitigen Beschaftigungen der Seele kommt dies vor, wie man denn
ein Uhrwerk, an das man gewohnt ist, nicht mehr schlagen hort. Die
Hirnrindezellen verlieren ihre Wirksamkeit nicht so rasch: Aetheri-
sirte fiihlen ihre Schmerzen nicht mehr, horen aber noch ihr unwill-
kiirliches Geschrei, und sie sehen nicht mehr, wenngleich sie noch
nicht vollkommen bewusstlos sind. Dagegen steigert sich oftmals die
Wirksamkeit der motorischen Zellen in krankhafter Weise, wenn die
Hirnrindezellen ihre Wirksamkeit eingestellt haben. So fehlt das
Bewusstsein bei Epileptischen wahrend der heftigen Krampfe, ja
meistens verbindet sich iiberhaupt bewusstloser Zustand mit Krampfen,
welcher Art diese auch sein mogen. Freilich kommen auch unwill-
kiirliche Bewegungen bei vollem Bewusstsein vor, zumal bei solchen
auf das verlangerte Mark beschrankten Affectionen, z. B. nach Strych-
ninanwendung; das Bewusstsein geht dann nicht verloren, wenigstens
nicht rasch, so lange die Respiration im Gange bleibt. Entstehen Con-
vulsionen durch apoplektischen Erguss in die Corpora striata, dann
tritt Bewusstlosigkeit ein. Bei Epileptischen scheinen die Convulsionen
von der Medulla oblongata auszugeheu und es tritt sogleich Bewusst-
losigkeit ein, weil das Leiden, auf die Verbreitung des Sympathicus in
der Schadelhohle und auf die Circulation des Kopfes einwirkend, das
ganze Gehirn ergreift; keineswegs aber ist Bewusstlosigkeit, wie manche
Autoren meinen, immer das erste Symptom. Noch ganz neuerlich
wurde ich durch einen Epileptiker consultirt, der mir angab, er werde
beim Eintritte eines Anfalles erst schwindelig, dann stiirze er zusam-
men, wobei er manchmal noch den Fall selbst oder seine Stirame
hore, und hierauf erst trete Bewusstlosigkeit ein; ja manchmal sei er
sich auch noch der ersten Zuckungen bewusst, mit denen der Anfall
begann. Es kommt sogar vor, class das Bewusstsein bei den Zuckungen
gar nicht verloren geht.
*) Zum Verstandniss sei hier bemerkt, dass Sehroeder van der Kolk am
Dualismus zwisclien Kraft und Stoff f'esthielt und in dieser Beziehung sich ganz
und gar an Faraday anschloss. (Herausg.)
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96                              Pathologie des Gehirns.
Im Allgemcinen verlieren also die Perceptionszellen zuerst ihre
Wirksamkeit und spater erst tritt das Namliche in den Hirnrinde-
zellen ein. Dabei steigert sich oftmals die Wirksamkeit der motori-
schen Zellen, wodurch sicli ein Gegensatz in ilirer natiirlichen Be-
schaffenheit zu erkennen giebt.
Wir wissen endlich auch, dass Congestion und Entziindung, je
nach der Verschiedenartigkeit der Gewebe in den ergriffenen Organen,
verscliiedene Folgen baben und ungleiche Veranderungen herbeifiihren
konnen. So tritt z.B. im Uuterhautbindegewebe sehr bald Verhartung
und Anschwellung ein, weil in dem ausdehnbaren Gewebe leicht albu-
ninose und fibrinose Fliissigkeit transsudirt und sich anhauft.
Im Gehirne kommt nur weniges Bindegewebe vor, denn was Bidder
bier als Bindegewebe unterschieden bat, das kann ich nicht dafiir
halten. Die Gefasse werden zwar von etwas Bindegewebe umhtillt,
aber an den feinsten Capillaren ist es nicht mehr mit voller Sicherheit
nachzuweisen. Die Nervenrohrchen sind im Gehirne durch lntercel-
lularniissigkeit gleichsam aneinander geleimt, die aber nur in geringer
Menge vorhanden ist und sehr eiweisshaltig zu sein scheint. Daher
riihrt die festere Consistenz der Hirnmasse. Durchs Aufbewahren in
Weingeist oder in Chromsaure nimmt die lntercellularniissigkeit an
Festigkeit zu, sie gerinnt, und deshalb gewinnt das Gehirn in diesen
Fliissigkeiten an Festigkeit. Durch chronische Entziindung oder an-
haltende Congestion erleidet aber diese lntercellularniissigkeit eine
Umanderung, sei es in der Beschaffenheit oder in der Menge.
Bei acuter Entziindung wird das Transsudat meistens starker
plastisch, es gerinnt und dadurch entsteht Verdichtung des Gewebes.
Bei chronischer Entziindung wird die lntercellularniissigkeit mehr
wasserig und sie unterliegt der Aufsaugung, dieFettablagerung nimmt
zu und der Zusammenhang der Theile geht durch die Fetterweichung
verloren, zuletzt werden auch die Nervenrohren selbst zerstort und
es bilden sich Hohlen. Meistens jedoch riihren solche Hohlen davon
her, dass Blut extravasirt war und absorbirt wurde. Bringt man von
einem dergestalt afficirten Gehirne ein Stuck in Weingeist, so erhartet
dasselbe bisweilen sehr rasch und feine Schnitte haben unter dem
Mikroskope ein korniges Aussehen. Ist aber die Intercellularfliissigkeit
weniger eiweisshaltig und bereits heftige Degeneration im Anzuge,
dann stellt sich die Erhartung im Weingeist langsam ein, und erst
nach mehrtagigem Inneliegen hat das Gehirn hinlangliche Festigkeit,
um diinne Schnitte anfertigen zu konnen. Die das ganze Gewebe er-
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Entziindung der dura mater.                          97
fiillenden Fettmassen machen diese feinen Schnitte undurchsichtig.
Auch findet man wohl an denselben eine Menge feiner Kornchen, die
sich in Chlorcalcium losen, und somit wohl keineFettkornchen, sondern
geronnenes Eiweiss sind.
Bei acuter Entziindung bilden sich zwischen denFasern und Zellen
der grauen Substanz, und ebenso in der Markmasse grossere Zellen,
die ganz mit kleinenFettblaschen erfullt sind. Man nannte sie friiher-
hin Entziindungskugeln, weil man sie bei Entziindung mehrfach
antraf, und in der That.kommen sie im Gehirne auch nur bei Ent-
ziindung vor.
Ob die Corpora amylacea, die mir zwischen den sogenannten Ent-
ziindungskugeln in der Marksubstanz vorgekommen sind, erst in der
Leiche entstehen, wie Stilling annimmt, oder schon bei Lebzeiten
vorhanden sind, muss ich unentschieden lassen.
§• 15-
Entziindung der dura mater.
Ueber Entziindung der dura mater findet man nur wenig bei den
Schriftstellern. Die Krankheit soil hochst selten oder gar nicht primiir
vorkommen, sondern nur bei Verletzungen oder bei Caries der Schiidel-
knochen, und sie wird nur nebenbei mit beriihrt.
Andral, der so zahlreicheBeobachtungen von Gehirnkrankheiten
zusammen stellte, hat keinen Fall von aeuter idiopathischer Entziin-
dung der dura mater. Abercrombie erwahnt nur einen Fall, wo
gleichzeitig auch die Arachnoidea, die pia muter und das Gehirn er-
griffen waren, wie das meistens der Fall ist, und diesen scheint er im
Leben nicht erkannt zu haben. Einzelne Falle haben Fizeau,
Hankel, Rumler mitgetheilt, und ein Paar Falle finden sich bei
Schoenlein, bei Copland, bei Bressler (Krankheiten des Kopfes
und der Sinnesorgane,
I. Thl. 1839). Foville (Diet, de Medecine et de
Chir. pratique. Art. Meningite)
sagt, die Symptome der Entziindung
der dura mater {Meningitis parietalis) seien unbekannt. In dem treff-
lichen Werke von Lallemand findet man aber mehrere Beob-
achtungen von Entziindungcn und sonstigen Affectionen der dura mater,
die durch Verletzungen, durch Exostosen, durch Syphilis und andere
Ursachen entstanden waren. Er verzeichnet die charakteristischen
Symptome dieser Krankheit im vollen Einklange mit meinen Beob-
Schroedetv. d. Kolk, GeiBteskrankheiten.                                                        7
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98                          Entziindung der dura mater.
achtungen. Hoppe (Die Entziindung des Gehims und der Gehirn-
Mute.
1847) hat die charakteristischen Symptome dieser Entziindung
nicht gekannt; sie tritt nach ihm nur selten primar oder idiopathisch
auf, sondern meistens soil sie von Caries oder sonstigen Leiden des
Schadels, von Syphilis ausgehen, oder durch aussere Beschadigungen
entstehen. Kurz aber sachgemassfinden wir die wichtigsten Symptome
bei Leubuscher (Pathologie und Therapie der GeMrnkrankheiten.
Berlin 1854. S. 232 und: KranMieiten des Nervensystems. Leipz. 1860.
S. 178) angegeben; er bemerkt aber ebenfalls, dass die spontane oder
primare Entziindung der dura mater, wenigstens die acute Form, sehr
selten vorkommt, und dass er nur Einen Fall bei Abercrombie ge-
funden hat.
Nach meiner Erfahrung kommt die Krankheit keineswegs so gar
selten vor, sie pflegt nur verkannt und meistens als rheumatischer
Kopfschmerz aufgefasst zu werden. Da sich aber die gefahrvolle Krank-
heit durch entschiedene Zeichen zu erkennen giebt und auf dieser
Erkennung die Moglichkeit der Genesung beruht, so erachte ich es
passend, wenn ich einige von mir beobachtete Falle zur Mittheilung
bringe.
Erster Fall.
Eine Frau von ungefahr 40 Jahren kam im aussern Krankenhause
in Amsterdam, wo ich von 1824 bis 1826 thatig war, mit Fieber und
Wassersucht in meine Behandlung; sie verliess die Anstalt genesen,
ohne dass sich nur eine Andeutung irgend eines Hirnleidens gezeigt
hatte. Ein Jahr spater kam sie wiederum in die Anstalt, und zwar
diesmal mit vollstandiger Geistesverwirrung, so dass sie gar keine
Arznei nehmen wollte. Das Gesicht war geschwollen und durch Con-
gestion stark gerothet, die Frau klagte wiederholt iiber heftigen Kopf-
schmerz, wobei sie meistens die Hand links auf den Hinterkopf legte.
Es stellte sich bald ein zunehmender comatoser Zustand ein, so dass
Harn- und Stuhlentleerung unwillkiirlich erfolgten. Blutegel an den
Kopf, dabei kalte Ueberschlage und innerlich eine kiihlende Mixtur,
die aber nicht in gehorigerWeise eingenommen wurde, brachten keine
Erleichterung. Nach ein Paar Tagen trat jedoch Besserung ein und
die geistige Thatigkeit wurde ganz frei; die Frau klagte nur noch iiber
etwas Schwindel, der aber nach zwei Tagen auch ganz voriiber war.
So durfte ich mich wohl dem Glauben an eine ziemlich vollstandige
Herstellung hingeben, da auch der Kopfschmerz geCnz nachgelassen
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• Entziindung der dura mater.                          99
hatte. Vierzehn Tage spater indessen wollte die Frau, ohne eine be-
kannte Veranlassung, neuerdings keine Arznei mehr nehmen, und
sehr rasch stellte sich wieder Stupor und Coma ein. Das dauerte 9
Tage so, dann verschwanden nochmals alle krankhaften Erscheinungen.
In ganz gleicher Weise wiederholten sich diese Anfalle von Sopor
noch einige Male, und nacli 4 bis 5 Tagen besserte sich der Zustand
von selbst. In dieser Zeit nahm die Frau weder Nahrung noch Arznei
zu sich. Der Stuhl war zwischen den Anfallen von naturgemasser Be-
schaffenheit und stellte sich regelmassig ein. Der Puis war nicht
erregt und mehr schwach. Die Behandlung war meistens kiihlend und
antiphlogistisch. Zuletzt jedoch trat eine Diarrhoe ein, wodurch die
Frau wahrend eines solchen comatosen Zustandes sanft entschlief.
Bei der Section fand sich die linke Hemisphere mit der dura mater
test verwachsen, und zwar oberhalb des linken Ohres nahe dem Sichel-
fortsatze, am obern Theile des untern Hirnlappens dicht neben der
Sylvischen Grube; die dura mater war hier durch Entziindung gerothet
und verdickt. Eine Hirnerweichung fand sich nicht an dieser Stelle;
eher erschiendas Gehirn daselbst etwas fester. Sonstfand sich nichts
Ungewohnliches in der Leiche. .
Ich entnahm aus diesem Falle, dass eine chronische Entziindung
der dura mater und des Gehirns mit langen und vollkommenen Inter-
missionen vorkommen kann, wahrend welcher auch nicht das geringste
Krankheitssymptom hervortritt.
Zweiter Fall.
Eine Frau von mehr denn 40 Jahren hatte schon seit langerer
Zeit iiber unertragliche Kopfschmerzen geklagt, deren Heftigkeit sie
endlich nothigte, im ausseren Krankenhause in Amsterdam Hiilfe zu
suchen.
Bei ihrem Eintritte war sie ganz verwirrt und hatte allerlei ver-
riickte Vorstellungen, was nach ein Paar Tagen in stillen Wahnsinn
iiberging. Die Augen hatten einen dummen Blick, und meistens lag
die Frau stumpfsinnig und in halber Betaubung da. Sie pflegte die
Hand gegen die Stirne anzudriicken, was wohl in dem noch vorhan-
denen heftigen Kopfschmerze seinen Grund hatte, iiber den sie aber
in ihrer Bewusstlosigkeit und bei dem halb oder auch ganz comatosen
Zustande nur wenig klagte. An einem localen Hirnleiden war dem-
nach wohl nicht zu zweifeln. Ableitende Mittel, eine antiphlogistische
7*
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100                        Entziindung der dura mater.
Behandlung mit Blutegeln, spiiter auch einige Gaben Kampher, niitzten
nur wenig.
Nach sechs Wochen kehrte das Bewusstsein wieder, der Kopf-
schmerz war verschwunden, keine Spur von Somnolenz melir vor-
handen; die Frau fiihlte sich wohl und hielt sich fiir vollkommen lier-
gestellt, ich selbst fing an dieser Herstellung zu vertrauen, obwohl ich
die traurige Erfabrung des vorber erzahlten Falles vor mir batte.
Alle Functionen waren im normalen Gange, und der Frau schien
nicbts zu feblen.
Obwobl icb die Reconvalescenz sorgsam iiberwachte, kehrte doch
nach acht Wochen ohne eine bekannte Veranlassung der Kopfschmerz
mit erneuerter Heftigkeit zuriick; dazu gesellten sich wieder Delirien
mit allerlei verriickten Vorstellungen, und nach ein Paar Tagen trat
Coma ein. Es stellte sich dann noch eine unwillkiirliche Contractur
aller Flexoren der linkenGliedmaassen ein, die mir mehrmals bei Ge-
hirnerweichung vorgekommen ist, und bald darauf verschied die Frau.
Nach Eroffnung des Schadels fand sich, dass die rechte Hemi-
sphere vorn sehr genau mit der dura mater verwachsen war. Unter
dieser Verwachsung lagen ein Paar harte Tuberkel, die beim Durch-
scbneiden eine fast knorpelartige Harte zeigten, umgeben von einer
erweichten, fast breiartigen Hirnmasse. Im bintern und seitlichen
Theile der rechten Hemisphere zeigten sich ebenfalls Spuren von Ent-
ziindung und kleinere Tuberkel, die von erweichter Hirnmasse um-
geben wurden.
Bei so bedeutender Hirnaffection war also hier doch auch eine
vollstandige Intermission aller krankbaften Erscheinungen aufgetreten.
Dabei will ich noch darauf aufmorksam machen, dass der vordere
Gehirnlappen afficirt war, wobei das Delirium und die Geistesverwir-
rung in starkerem Grade bervortraten, als im erstangefuhrten Falle.
Dritter Fall.
Eine Frau von 36 Jahren, schwachen und stumpfen Geistes, beklagte
sich iiber einen ungemein beftigen Kopfschmerz und suchte dafiir im
ausseren Krankenhause in Amsterdam Hiilf'e. Sie hatte einen ganz
dummen Blick. Nach ein Paar Tagen verfiel sie in einen comatosen
Zustand, der zwischendurch mit vollkommener Geistesverwirrung alter-
nirte. Resolventia innerlich, ein Vesicans in den Nacken und Ein-
reiben Autenrieth'scher Salbe in den Schadel bewirkten keine Ver-
M
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Entziindung der dura mater.                        101
anderung des Zustandes. Nach einiger Zeit versuchte ich auch in
diesem Falle Nitrum mit Kampher, und auch hier waren nach sechs
Wochen alle Erscheinungen so vollstandig gewichen, dass die Frau
ganz genesen zu sein schien. Wenn ich dies auch nicht dem Kampher
zuschreihen durfte, so war doch soviel klar, dass dieses Mittel wenig-
stens nichts geschadet hatte.
Die Frau schien sich in vollkommener Reconvalescenz zu hefinden,
ja genesen zu sein; nur hatte sie noch einen besonderen Blick der
Augen. Auf Grund meiner friiheren Erfahrungen prognosticirte ich
daher ein todtliches Recidiv, und dieses stellte sich denn auch nach
drei Wochen nebst den ubrigen Erscheinungen ein, wie sehr ich auch
bemuht gewesen war, alle schadlichen Einfliisse abzuhalten, die einen
Riickfall herbeifiihren konnten.
Die Kranke wurde sehr rasch vollkommen bewusstlos, bekam
Congestionen und rothe Backen, hatte erschwertes Athmen und leichte
Convulsionen. Ich liess die Ader offnen, wodurch ein Blut mit ent-
ziindlicher Beschaffenheit entleert wurde, und daneben wurden Blut-
egel und kalte Ueberschlage am Kopfe applicirt. Der Stupor minderte
sich aber dabei nicht, die Congestion nach dem Kopfe blieb sich gleich,
und endlich stellten sich heftige Convulsionen ein, die zum Tode
fiihrten.
Auch hier war wahrend der Krankheit, wenn von ihrer ersten Pe-
riode und vom comatosen Zustande abgesehen wird, der Appetit ein
ganz naturlicher, der Stuhl aber trage. Die Iris hatte eine auffallend
blasse Farbung, was ich schon bei mehreren Patienten boobachtet
hatte und was ich weiterhin noch mehrmals gesehen babe.
Bei der Section fand sich in der Leber und in der rechten Lunge
starke Entziindung. Diese Entziindung musste sich aber schon vor
langerer Zeit entwickelt haben, denn die Leber adharirte dem Zwerch-
felle durch ganz feste Pseudomembranen, in denen ich selbst neuent-
standene Lymphgefasse mit Quecksilber zu fallen im Stande war, und
so etwas istdoch nur in alteren Pseudomembranen moglich. Wahrend
des Lebens hatte sich diese Entziindung durch keinerlei Symptome
verrathen.
Nach Eroffnung des Schadels sah ich, dass linkerseits die dura
mater
fest mit der Hemisphiire verwachsen war, und zwar gleich hinter
dem vorderen Aste der Meningea media, oben am unteren Hirnlappen.
Hier war die Hirnmasse dergestalt erweicht und mit gelbem Serum
infiltrirt, dass sich eine grossere Hohle von 2y2 Centimeter Hohe und
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4 Centimeter horizontalem Durchmesser gebildet hatte. In der Hirn-
masse, die wohl etwas weicher als normal war, zeigten sich iiberall
rothe Punkte. Aus den Ventrikeln entleerte sich viel Serum. Das
linke Corpus striatum war nicht so consistent, als das der andern
Seite.
In diesem Falle liatte sich die Entziindung offenbar mehr iiber
das ganze Gehirn verbreitet, sie war bis zu den Ventrikeln vorgedrun-
gen und hatte das Corpus striatum ergriffen, worin wohl die Convul-
sionen ihre Erkliirung finden, die zumal beim letzten Recidiviren auf-
traten. Dor Wiedereintritt der Krankheit mit solcher Heftigkeit,
trotzdem dass alle schiidlichen Einfliisse moglichst abgehalten wurden,
verdient in diesem Falle alle Beachtung.
Wahrscheinlich hatte sich schon beim ersten Anfalle eine ausge-
dehntere Entziindung der pia mater entwickelt, und nach der Verstan-
desverwirrung zu urtheilen, war auch schon die Rindenschicht mit in
den Bereich der Erkrankung gezogen worden.
Vierter Fall.
Eine 57jahrige Frau, die schon seit langerer Zeit iiber heftigen
Kopfschmerz, iiber Eingenommenheit und Klopfen im Kopfe geklagt
hatte, kam 1826 in das aussere Krankenhaus zu Amsterdam. Sie hatte
jetzt, bei belegter Zunge, sich mehrmals erbrochen und klagte iiber
Steifsein der Glieder.
Es wurden auflosende und abfiihrende Mittel verabreicht und
Blutegel an den Kopf gesetzt. Darnach trat Stuhlgang ein, aber Ein-
genommenheit des Kopfes und Schlafrigkeit, eine erschwerte und
stammelnde Sprache erhielten sich; dabei noch enge Pupillen, unreine
Zunge, bitterer Geschmack und starker Durst. Unter dem Fortgebrauche
von Brechweinstein, von auflosenden Mitteln und Klystiren regulirte
sich der Stuhl, dabei aber steigerten sich die Gehirnerscheinungen,
und nach fiinf Tagen verfiel die Frau in einen comatosen Zustand mit
halb geschlossenen Augen und offenem Munde. Sie lag meistens auf
der rechten Seite. Der rechte Arm war immer gebeugt, den linken
Arm aber driickte sie an die linke Seite des Kopfes an, zum Zeichen,
dass sie dort noch einen dumpfen Schmerz fiihlte. Am folgenden
Tage verzog sich der Mund nach links und die Pupillen waren noch
mehr vereugt, namentlich die rechte, dabei war die Sprache ungemein
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Entziindung der dura mater.                        103
erschwert, und bei dem anhaltenden Sopor antwortete die Kranke
nur auf wiederholte Ansprache mit einem einzelnen Worte.
Einige Tage nachher, als der Arm in die gebeugte Stellung ge-
kommen war, trat Parese im rechten Beine em, die alsbald in voll-
standige Lahmung iiberging. — Ein fortwahrendes Wimmern, statt
dessen auch wohl zwischendurch ein Aufschreien, beurkundete den an-
haltenden heftigen Kopfscbmerz.
So hielt der Zustand vom 28. Miirz bis zum 4. April an. Da
trat unter der Anwendung antiphlogistischer und resolvirender Mittel
ein Nachlass in den Erscheinungen ein. Die Augen wurden wieder mehr
geoffnet, die Pupillen waren nicht mehr so stark contrahirt, was nament-
lich an der rechten hervortrat; das linke Auge war durch starker
ausgedehnte Gefasse mehr gerothet; die Verzerrung des Mundes hob
sich und der Sopor schien zu verschwinden; dabei ging aber der Urin
noch unwillkiirlich ab, und die Frau klagte jetzt iiber heftigen Kopf- •
schmerz links und hinten in der Scheitelgegend. Sie delirirte nicht.
Nach ein Paar Tagen kehrten die Krankheitserscheinungen mit
erneuerter Heftigkeit zuriick. Der rechte Arm befand sich steif in
gebeugter Haltung und fiihlte sich kiihl an; mit der Linken konnte
die Frau nichts festhalten, wahrscheinlich in Folge einer sich ent-
wickelndenGefiihllosigkeit; die rechte Pupille war wieder starker con-
trahirt. Da sich nur wenig dunkler Urin entleerte, so liess ich den
Catheter appliciren, wodurch eine grosse Quantitat abging. Beide
Beine wurden auch wieder starker angezogen, Coma und Bewusst-
losigkeit nahmen zu. Am 18. April stellten sich Convulsionen ein,
und unter diesen verschied die Frau.
Bei der Section fanden sich viele verhiirtete Stoffe im Colon. Das
Coecum entziindet und verhartet, an einigen Stellen selbst knorpel-
hart; die Leber entziindet und mit vielen Tuberkeln erfiillt; auf der
Milz eine fast knorpelartige Platte; die Lungen verwachsen und im
Innern hepatisirt. — Linkerseits, oben und hinten in der Scheitel-
gegend, bis auf 1 Centimeter von der Hirnsichel und bis 2 Centimeter
oberhalb des Tentorium, war die dura mater in einer Ausdehnung von
etwa 7 Centimetern mit der Arachnoidea und pia mater verwachsen,
stark entziindet und verdickt. Die Arachnoidea unter dieser verwach-
senen Partie enthielt Eiter, die Gefasse der pia mater waren sehr aus-
gedehnt, die Rindenschicht erschien sehr gerothet und in der Mark-
substanz zeigten sich zahlreiche Blutpunkte, die Sehhiigel, namentlich
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104                        Entziindung der dura mater.
der linke, waren starker gerothet, das Gehirn selbst fiihlte sich etwas
fester an. In der Schadelbasis fand sich purulentes Serum.
Dieser Fall liefert auch wieder einen Eeweis dafiir, dass man iiber
das Fortschafi'en verliarteter Stoffe aus dem Colon sich noch im Irr-
thum befinden kann, wenn auch durch auflosende und abfiihrende
Mittel, so wie durch Klystire langere Zeit fiir tagliche Entleerung ge-
sorgt worden ist. Die Degeneration des Colon war nicht erst frisch
entstanden, die davon ausgehenden Symptome wurden aber durch die
hervortretenden Gehirnerscheinungen verdunkelt. Wahrscheinlich lag
in diesen Obstructionen der ganze Grund der Krankheit, zumal da
der Hinterlappen des Gehirns afficirt war, auf den der vom Colon aus-
gehende Reflex eher zu wirken pflegt, als auf den vordern Theil der
Hemispharen. Die Verhartuug und Verdickung des Colon trug in der
letzten Zeit gewiss viel dazu bei, dass die verharteten Massen schwer
fortbewegt wurden.
Ich will darauf aufmerksam machen, dass zwar der linke Hinter-
lappen. und der linke Sehhiigel afficirt waren, gleichwohl die rechte
Pupille wahrend der Krankheitssteigerung sich starker contrahirt
zeigte, wogegen die Gefasse am linken Auge, also auf der entzundlich
ergriffenen Seite, sich in starkerer Ausdehnung befanden. Die
Anasthesie des linken Arms diirfte mit der Affection der Sehhiigel in
Beziehung gestanden haben.
Es bestand in diesem Falle eine intensive Entziindung im hintern
Abschnitte der Hemisphare, oline dass der Vorderlappen mit ergriffen
war. Dabei fehlte aber auch das Delirium, zum Unterschiede vom
zweiten Falle, wo der Vorderlappen erkraukt war und heftiges Deli-
rium bestand. Bei der Intensitat der Entziindung war die Intermission
nur von kurzer Dauer und nicht ganz vollstaudig.
Es ist dieser Fall auch noch darin belehrend, dass er uns zeigt
dass bei solchen comatosen Zustanden, selbst wenn der Hani fort-
wiihreiid unwillkiirlich abtraufelt, dennoch die Blase ganz gefullt sein
kann.
Fiinfter Fall.
Fan vollbliitiger Mann, zwischen 40und50Jahre alt, hatte andert-
halb Jahre vor seiner letzten Krankheit einen Fall auf die Scheitel-
gegend erlitten und dabei eine Ilippe gebrochen. Bald darauf bekam
er einen apoplektischen Anfall und der Arm der rechten Seite wurde
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Entziindurig der dura mater.                        105
geliihmt, nicht aber das Bein. Nach ciniger Zeit besserte sich der
Zustand, aber der Arm blieb noch geliihmt. Dabei hatte er auch ein
Leiden am Unterkiefer, der ein halb Jahr vor jenem Falle beim gewalt-
samen Ausziehen eines Backenzahns gebrochen war.
Im Sommer 1825 kam er im ausseren Krankenhause von Amster-
dam in meine Behandluug. Er klagte iiber heftigen Kopfschmerz und
Beengung der Brust, und der Arm war noch wie frtiber geliihint. Nach
eiuer nicht gerade langen Behandlung verschwanden jene Krankheits-
eischeinungen, mit Ausnahme der Armlahmung, und scheinbar geheilt
verliess der Mann die Anstalt.
Im Marz des folgenden Jahres wurde er ganz bewusstlos wieder
dahin gebracht. Er hatte starke Congestionen zum Kopfe, einen
harten Puis und lag immer auf der rechten Seite. Ein starker Ader-
lass entleerte ein Blut von sehr entziindlicher Beschaffenheit; der
Sopor minderte sich nicht dadurch, allein auffallend war es, dass der
Kranke den rechten Arm, der bisher gelahmt gewesen war, nach dem
Kopfe fiihrte. Die Bewegung schien zum Theil mit Willkiir ausgefiihrt
zu werden, insofern die linke Seite der Scheitelhohe mit der rechten
Hand gerieben wurde; anderntheils war es aber auch wieder eine
unwillkiirlichc, durch Contraction derBeuger herbeigefiihrte Bewegung,
wodurch der Arm in eine feste Beugung versetzt wurde, so dass er,
wenn man ihn mit Kraft streckte, beim Nachlass von selbst wieder
zum Kopfe zuriickkehrte. Zugleich legte sich der Kranke jetzt auf die
linke Seite, die aber gelahmt zu sein schien, da keine Bewegungen
mehr damit vorgenommen wurden. Dabei war auch noch die rechte
Hiilfte des Gesichts gelahmt, indem die Backenmuskeln undderMund-
winkel herunter hingen. Ham- und Stuhlabgang erfolgten unwill-
kiirlich.
Es wurden blutige Schropfkopfe an den Kopf gesetzt, aber ohne
Besserung zu erzielen. In der folgenden Nacht stellten sich heftige
Convulsionen ein und wahrend derselben verschied der Kranke.
Bei der Section zeigte sich der Schadel sehr verdickt, was man
nicht selten bei chronischer Entziindung der dura mater findet. Beim
Durchsagen desselben entleerte sich viel Blut links und hinten. Die
dura mater war hier, hinten und obeu an der linken Hemisphere, sehr
verdickt und fest mit dem Gehirne verwachsen. Die Oberflache des
Gehirns war trocken, vielleicht in Eolge der Ausdehnung, wodurch
das Serum aussen weggedriickt worden war. Die Gehiruhohlen ent-
hielten viel hellgelbes Serum.
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106                        Entziindung der dura mater.
Die Marksubstanz des Gehirns war unter der mit der dura mater
verwachsenen Strecke bis zum Seitenventrikel hin ganz breiartig er-
weicht, und etwas gelbliches Serum befand sich zwiscben denNervenfasern.
Die Erweichung hatte in einer etwas scbiefen Richtung einen Durch-
messer von nicht weniger als 11 Centimeter. In der Mitte der erweich-
ten Stelle, wo die dura mater am starksten ergriffen und am meisten
verdiekt war, bildete die Gebirnmasse gleichsam einen grossen Tuber-
kel von etwa 31/2 Centimeter Grosse; bis zu einer Tiefe von 2 Centi-
metern war sie ganz hart und roth gefarbt und test mit der dura ma-
ter
verwachsen. Ein Tuberkei war es aber doch nicht, denn die Be-
granzung des verharteten Theils ging in das Erweichte tiber, und die
acut entziindete Partie wurde von erweichter Masse umgeben. Der
Schadel war an der ergriffenen Stelle caribs, und der angefressene
Knochen fiihlte sich rauh an. Wahrscheinlich war das auch die
Stelle, wo friiher die Gewalt des Falles hingewirkt hatte. Durch diese
aussere Gewalt hatte sich wohl eine chronische Entziindung der dura
mater
entwickelt, und beim ersten Aufenthalte des Kranken im Spitale
hatte ich einen jener Accesse gesehen, die bei dergleichen Leiden
von selbst wieder zu verschwinden pflegen.
Beachtenswerth ist die halb willkiirliche, halb unwillkiirliche Be-
wegung des rechten Arms und die Lahmung des linken. Vielleicht
bestand Reizung des linken Corpus striatum oder des linken Thalamus,
und Druck des Serums in der Hirnhohle hatte vielleicht spliter die
linksseitige Lahmung erzeugt.
Die Lahmung des rechten Armes allein bei einein Leiden des
oberen und hinteren Theils der Hemispharen kbnnte man vielleicht
zu Gunsten der Annahme von Pinel Grandchamp deuten wollen,
dass bei Affectionen der hinteren Lappen und der Thalami der
Arm, bei Affectionen der vorderen Lappen und des Corpus striatum
das Bein gelahmt werden soil. Doch habe ich so wenig als Andral
Beweise fur diesen Satz.
Das unwillkiirliche Driicken auf die afficirte Kopfstelle, trotz des
vorhandenen Coma, weist doch auf den heftigen Kopfschmerz hin.
Als etwas Ungewohnliches will ich noch erwahnen, dass der Unter-
kiefer auf der einen Seite bis zum Foramen inframaxittare hin so
diinn wie ein Federkiel war, und dass der hintere und vordere Theil
nur durch Bander mit einander zusammenhingen.
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Entzundung der dura mater.                        107
Sechster Fall.
Dieser Fall ist bereits von G. A. F. Quarin Willemier (Diss, de
Otorrhoea. Traj. ad Bhen.
1835. p. 57) ausfiihrlicher beschrieben wor-
den. Er betrifft einen Maurer, der durch eine umstiirzende Mauer
umgeworfen wurde, umgekehrt zwischen einem Geriiste hangen blieb
und in dieser Lage durch einen schweren Stein auf den rechten Unter-
kieferwinkel getroffen wurde, wodurch die Gelenkgrube eine starke
Beschadigung erlitt. Von da an klagte der Mann zwischendurch iiber
Kopfschmerz auf der rechten Seite. Nach Verlauf von 5 Jahren stei-
gerte sich dieser Kopfschmerz, der sich iiber Stirn und Scheitel aus-
breitete, zu einer solchen Hohe, dass der Mann fast in Verzweifiung
gerieth, Tag und Nacht keine Ruhe hatte und endlich in Irrsinn ver-
fiel, wo dann der Kopfschmerz aufzuhoren schien. Zugleich stellte
sich Taubheit auf dem rechten Ohre ein, sowie Lahmung des linken
Facialis, und dazu gesellte sich spaterhin, sonderbar genug, auch noch
Ptosis und Strabismus extemus des rechten Auges. Andere Lahmungs-
erscheinungen waren nicht da.
Am 12. Januar 1835, d. h. 8 Jahre nach jenemUnfalle, wurde der
Mann als Blodsinniger in die Utrechter Irrenanstalt aufgenommen.
Nach einiger Zeit besserte sich der Zustand noch einmal und der
Mann konnte wieder arbeiten, ohne dass er iiber Schmerzen klagte.
Allein auf einmal, ohne bekannte Veranlassung, steigerte sich der
Schmerz wieder sehr bedeutend, es trat ein apoplektischer Anfall ein,
Sprechen und Schlucken wurden erschwert, und das rechte Auge er-
schien gerothet und geschwollen. Die apoplektischen Anfalle wieder-
holten sich, aber am 2. Marz dieses Jahres war der Mann, wenngleich
sehr schwach, doch wieder vollkommen bei Sinnen. Er war sich des
nahe bevorstehenden Todes bewusst, traf deshalb noch einige Anord-
nungen und starb in der folgenden Nacht.
Die dura mater fand ich oberhalb der Fovea glenoidalis fast knor-
pelhart und gewiss bis zwei Linien dick. Der untere Hirnlappen war
von der Fossa Sylvii an bis zum Rande des Cerebellum hin ganz fest
mit der dura mater verwachsen, und dabei zu einem mit eiterhaltigem
Serum infiltrirten Brei erweicht. An der Schadelbasis war eiterhalti-
ges Serum ausgetreten, eben so an den Crura cerebri, an der Briicke,
an der Medulla oblongata. Die Entzundung der dura mater vorder-
halb des Felsenbeins erstreckte sich bis zu den kleinen Kleinbein-
fliigeln und bis zum Sinus cavernosus, wo der Oculomotorius Zeichen
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108                        Entziindung der dura mater.
starker Entziindung wahrnehmcn liess, woraus sich die Ptosis und der
Strabismus erklaren. Die iibrigen Nerven schienen gesund zu sein.
Die dura mater auf dem Felsenbeine war niclit erkrankt; gleichwohl
war die Trommelhohle ganz mit plastischer Lymphe erfullt, die Gehor-
knochelchen wareu gerothet durch ausgedehnte Gefasse, dergleichen
auch im Vorhofe und in den Candles semicirculares sicbtbar waren.
Die pia mater war vorn und oben so fest mit den Hemispharen ver-
wachsen, dass sie, ohne Zerstorung zu bewirken, von derBindenschicht
sich nicht abziehen liess. — Ohne Zweifel war die Entziindung der
dura mater durch den vor 8 Jahren erlittenen Unfall herbeigefuhrt
worden. Ob jener Unfall eine Eissur veranlasst hatte und ob der
Condylus maxillae degenerirt war, dariiber kann ich nichts angebeiu
weil mir nur die Untersuchung des Gehirns gestattet wurde.
Ich konnte noch andere Falle aus meiner Beobachtung mitthei-
len, namentlich solche, wo die Entziindung der dura mater nach Otor-
rJwe
uiid Caries des Eelseiibeins aufgetreten war. Ich begmige rnich
indessen zunachst damit, noch auf einen von mir- beobachteten und
durch Tobbe (Over de ontsteking in de voorhoofdsboezems. Utrecht, 1860.
p. 41) beschriebenen Fall hinzuweisen. Er betrifft eine Frau, bei welcher
die Entziindung und Vereiterung des Sinus frontalis sich zur Innenseite
des Schadels fortpflanzte und eine ausgebreitete, zuletzt subpuru-
lente Affection der pia mater herbeifuhrte, der die Frau erlag.
Dagegen will ich jetzt noch ein Paar Falle mittheilen, aus denen
zu entnehmen ist, dass diese so gefahrliche und dabei leicht verkannte
Entziindung der dura mater doch der Genesung zugefiihrt werden
kann, wenn man nur eine kraftige Behandlung einschlagt.
Siebenter Fall.
Ein starker, kraftiger Mann von etwa 45 Jahren, der von Jugend
auf einer guten Gesundheit sich erfreut hatte, bekam ohne bekannte
Veranlassung im November 1832 Schmerzen im Arme und im Beine
der linken Seite, welche Schmerzen durch Flanelleinwickelungen wie-
der zu verschwinden schienen. Dazu kam von Zeit zu Zeit ein Gefiihl
von Kraftlosigkeit in beiden Handen, die allerdings rasch wieder ver-
schwand; dies wiederholte sich aber etwa alle acht Tage und dauerte
wohl ein Vierteljahr hindurch an. Bald hernach entstand eine Ge-
schwulst in der linken Kniekehle; dieselbe wurde sehr schmerzhaft,
ging durch Breiumschlage in Eiterung iiber und entleerte eine grosse
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Entziindung der dura mater.                        109
Menge Eiter, worauf sich die Wunde schloss. Im December stellte
sich ein Schmerz links in der Hinterliauptsgegend, nahe dem Olire,
ein, der immer iirger wurde, weshalb der Mann im Januar einen Arzt
dariiber zu Rathe zog. Des Nachts im Bette nahmen die Schmerzen
an Heftigkeit zu, und da man an Syphilis nicht denken konnte, so
wurden sie als rheumatische Schmerzen gedeutet, wozu audi die un-
freundliche Witterung zu berechtigen schien. Es wurden schweiss-
treibende Mittel, namentlich Pulv. Doveri gegeben, ein Vesicans im
Nacken wurde einige Zeit im Zuge erhalten, und dabei verschwand der
Schmerz.
Im October 1833 kam der Mann aber wieder zu seinem Arzte,
weil der Schmerz wieder mit Heftigkeit an der namlichen Stelle wii-
thete und sich bis tiber das Ohr hin erstreckte. Lange Zeit war er
ganz schmerzfrei gewesen, vor einiger Zeit waren aber die Schmerzen
wieder periodisch aufgetreten und jctzt hatten sie sich zu grosser Hef-
tigkeit gesteigert. Der Puis war schwach, nicht fieberhaft, die Augen
matt und thranend, das Gesicht blass. Dabei war der Stuhl trage.
Zuerst wurde ein Abfuhrmittel verordnet; dann kamen schweisstrei-
bende Mittel und Pulv. Doveri an die Reihe. Die Schmerzen liessen
aber nicht nach, und nach vier Tagen, am 17. Marz, nahm der Kranke
meine Hiilfe in Anspruch.
Ich fand den Kranken in einem sehr unerfreuliclien Zustande.
Am Kopfe, den er wegen des vermeintlichen rheumatischen Leidens
ganz in Flanell eingewickelt hatte, zeigte sich etwas Oedem, das Ge-
sicht war bleich und die Kopfschmerzen schienen mit uugemeiner
Heftigkeit zu wiithen. Jedes Beugen des Kopfes war wegen heftiger
Steigerung der Schmerzen unmoglich und der Kranke musste die ganze
Nacht hindurch aufrecht im Stuhle sitzen. Dazu kam eine subparalytische
Affection des linken Armes, die allerdings nur eine Viertelstunde anhielt,
wo dann nur noch zuckende Bewegungen zuriickblieben. Die Augen
hatten etwas Mattes, das Sehvermogen des linken Auges war geschwiicht,
die Pupille desselben etwas erweitert. Das Gedachtniss fehlte beinahe
ganz, und der Mann schien auf dem Punkte zu stehen, in vollkomme-
nen Blodsinn zu verfallen. Die Schmerzen breiteten sich hauptsiich-
lich iiber das linke Ohr und die Hinterliauptsgegend aus und cs ver-
band sich mit ihnen ein starkes Gerausch im Ohre.
Ich diagnosticirte sogleich eine gefahrliche Entziindung der dura
"mater,
die sich bereits auf die Arachnoidea und pia mater ausgebreitet
und auch die Hemisphere ergriffen hatte, wodurch die geistige Thatig-
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110                        Entziindung der dura mater.
keit beeintrachtigt wurde, und dass ausserdem noch eine Otitis im An-
zuge war.
Demgemass griff ich mit Entschiedenheit zu einer antiphlogisti-
schen und ableitenden Behandlung. Die wollene Kopfumhiillung
wurde durch kalte Ueberschlage ersetzt und an die schmerzhafte Stelle
des Kopfes liess ich acht Blutegel setzen. Innerlich aber verordnete
ich:
Up. Tart. emet. gr. 5.
Aq. destill. Vnc. 5.
I). S. Stiindlich 1 Essl. z. n.
18. Oct. Durch die Blutegel ist der Schmerz zwar etwas gemin-
dert worden, aber immer noch heftig genug. Der Brechweinstein hat
keine Uebelkeit veranlasst und auch nicht auf den Stuhl gewirkt.
Sonst ist der Zustand unverandert.
20. Oct. Der Kopfschmerz ist noch sehr heftig, scheint sich aber
jetzt auf einem Punkte, schief iiber dem linken Ohre, zu concentriren.
An dieser Stelle liess ich ein Fontanell anlegen; ich wirkte durch
EUctuarium lenitivum auf den Stuhl und liess mit dem Brechweinsteine
und den kalten Ueberschlagen fortfahren. Diese Bahandlung wurde
dann fortgesetzt, die Dosis des Brechweinsteins aber von Zeit zu Zeit
erhoht.
29. Oct. Es wurde jetzt auf 5 Unzen Wasser 1 Scrupel Tart. emet.
genommen. Der Kopfschmerz hatte bei dieser Behandlung entschie-
den abgenommen und das ganze Aussehen des Kranken war ein bes-
seres. Das Zucken im linken Arme hatte bald nach der Application
des Fontanells, welches jetzt stark eiterte, nachgelassen. Es stellte
sich allmalig allerdings etwas Uebelkeit ein, der Stuhl blieb aber
noch immer trage. Deshalb verordnete ich:
Up. Tart. emet. Scrup. 1.
Extr. Aloes gr. 10.
Fell, tauri inspiss.
Pulv. Liquir. ana Dr. l/.2.
Fiant Pill. Nr.
40. Fiinfmal taglich 3 Stuck z. n.
3. Nov. Die Schmerzen haben sich entschieden gemindert und
der Stuhlgang will sich reguliren. Da der Kranke frei von Uebelkeit
war, so liess ich die Pillen siebenmal taglich nehmen.
11. Nov. Der Gesammtzustand bessert sich. Die Niichte sind ru-
higer; der Kranke kann wieder liegen und wird durch den Schlaf er-
quickt. Das Geriiusch im Ohre hat entschieden abgenommen. Mit
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Entziindung der dura mater.                        Ill
zunehmender Besserung mindert sich aber auch die Toleranz gegen
den Brechweinstein, so dass 3 Pillen bereits Uebelkeit verursachen,
weshalb die Dosis auf 2 Stuck siebenmal tiiglich herabgesetzt wird.
Stuhlgang erfolgt zwei- bis dreimal taglich.
13. Nov. Der Kopfschmerz bat sich so sehr gemindert, dass der
Kranke nur noch wenig dadurcb bebindert wird. Die Augen haben
einen lebhafteren Ausdruck, die Pupillen sind nicht mehr ungleicb,
und das Sehvermogen des linken Auges hat sich gebessert. Das gilt
aber auch von der geistigen Thatigkeit: das Gediichtniss kebrt wieder
und neues Leben verbreitet sich gleichsam iiber das Gesicht. Das
Fontanell ist stark im Gange und wegen der copiosen Entleerung eines
stinkenden Eiters muss es mehrmals im Tage verbunden werden. Der
Appetit bleibt gut, nur klagt der Kranke etwas iiber Saure im Magen
und deshalb wird den Pillen eine Drachme Sapo medicatus zugesetzt.
16. Nov. Das saure Aufstossen hat aufgehort, das Gerausch im
Ohre ist ganz weg und der Puis wird voller und starker. Die Tole-
ranz gegen den Brechweinstein hat aber noch mehr abgenommen, und
deshalb nimmt er nur funfmal taglich 2 Stuck, im Ganzen also 5 Gran
tiiglich.
18. Nov. Der Kranke hatte 2 Pillen niichtern genommen, wo dann
der Brechweinstein weit leichter Uebelkeit und Erbrechen verursacht,
und so fand ich ihn sich erbrechend beim Besuche. Ich erkundigte
mich, oh ihm das Erbrechen nicht Kopfschmerz verursache; er ver-
sicherte aber, dass es ihm beim Erbrechen allemal leichter im Kopfe
wiirde. Der weiche und schwache Puis sprach auch deutlich genug
fiir die deprimirende Wirkung des Brechweinsteins aufs Gefasssystem.
Die Nachte sind jetzt ruhig und Kopfschmerz spurt der Kranke
fast gar nicht mehr. Er kann sich wieder um seine Angelegen-
heiten kiimmern. Das Fontanell macht ihm Schmerzen und ist ihm
sehr unbequem; er will es daher gem eingehen lassen, was ich ihm
aber wider rathe.
Er begab sich nun wieder ausser Haus, und zu seiner "Verwunde-
rung entdeckte er, der doch in der Stadt geboren war, dass er alle
Namen der Strassen und den Weg ganz vergessen hatte. Wurde ihm
dann auf seine Nachfrage der Name einer Strasse genannt, so erinnerte
er sich derselben wieder und er lernte so die Wege in der Stadt von
Neuem kennen.
Uebrigens schien er nach ein Paar Tagen ganz genesen zu sein,
denn er war nun vollstandig frei von Kopfschmerzen. Trotz meiner
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112                        Entziindung der dura mater.
Warnung liess cr nach einigerZeit das Fontanell eingehen, da er sich
ganz hergestellt wahnte und von der heimtiickischen Natur der Krank-
heit nichts wissen wollte.
Da erlitt der Mann im folgenden Jahre am 28. Januar Morgens,
naclidem eine reiehliche Abendmahlzeit vorausgegangen war, einen
heftigen apoplektischen Anfall. Auf der Stelle wurde ein Aderlass
vorgenommen und es wurden noch C Blutegel an den Kopf gesetzt.
Darnach kehrte allcrdings das Bewusstsein einigermaassen zuriick;
man iiberzeugte sich aber audi alsbald, dass der Mann die Sprache
verloren hatte und seine Ilmgebung auch nicht recht erkannte. Da sich
am folgenden Tage wieder heftige Kopfschmerzen einstellten, so wurden
nochmals 6 Blutegel an die linke Seite des Kopfes applicirt; dazu
Fussbader und ein Vesicator im Nacken, weil der Kranke in die Er-
neuerung des Fontanells nicht einwilligte. DerStuhlgang war wieder
trage und musste durch Abfiihrmittel und Tart, emeticus unterstiitzt
werden.
Bei dieser Behandlung blieb der Zustand des Kranken fast unver-
andert, namentlich was die Kopfschmerzen betrifft. Das Sprechen
war erschwert und stammelnd, und der Kranke konnte meistens die
rechten Worter nicht finden; periodisch ging es aber wieder besser
mit dem Sprechen. Da der Puis keine besondere Spannung zeigte,
so erhielt der Kranke ein schwaches In/usum Amicae, und dabei schien
sich allerdings die Sprache langsam zu bessern, bis am 25. Februar
ein neuer apoplektischer Anfall eintrat, wodurch nicht nur die Sprache
ganz verloren ging, sondern auch die Fahigkeit, seine Angehorigen
zu erkennen.
Ich zweifelte jetzt an der Moglichkeit einer Herstellung, weil das
Leiden schon tiefer in's Gehirn vorgedrungen zu sein schien und die
Form epileptischer Anfalle annehmen wollte. Ich liess daher wiederum
Blutegel anlegen und setzte es durch, dass das Fontanell von Neuem
am alten Platzo hergestellt und mit einer reizenden Salbe in Gang
gebracht wurde. Innerlich gab ich wieder Tartarus emeticus, der aber
nicht mehr gleich gut vertragen wurde, weshalb ich nur bis zu 5 Gran
steigen konnte. Der Kopfschmerz hielt an, wenn er auch etwas
schwiicher war. Da kam am 4. Marz ein neuer, jedoch nicht gleich
heftiger Anfall, wodurch die Sprache wieder mehr litt.
Von jetzt an schien sich der Zustand langsam zum Bessern zu
wenden. Aber am 27. Mai merkte der Kranke, dass ein neuer Anfall
im Anzuge war, denn die Sprache war ganz aufgehoben und es drohten
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Entziindung der dura mater.                        113
Krampfe auszubrechen. Die Frau des Kranken wollte rasch etwas
Spiritus nitri dulcis geben, goss aber aus Versehen aus dem Glaschen
mit Spiritus salts ammoniaci ein. Kaum hatte der Kranke hiervon
etwas geschluckt, so war der Anfall, der schon ausbrechen wollte, wie
abgeschnitten; die Sprache war auf der Stelle wieder da, ja selbst
von einem erscbwerten Sprechen, wie es vor diesem Anfalle noch be-
stand, war nicht mehr die Rede.
Von jetzt an trat der Kopfschmerz allmalig wieder ganz zuriick,
wahrend das Fontanell in Eiterung blieb; es kamen keine ferneren
apoplektischen Anfalle und die geistige Thatigkeit war frei. Jetzt
geniigte aber audi scbon 1/i Gran Brechweinstein, um dem Manne
Uebelkeit zu verursachen. Das Fontanell liess icb noch lange unter-
halten, bis es im folgenden Sommer im August sich von selbst obne
nachtheiligen Einfluss schloss.
Im darauffolgenden Winter bekam der Mann noch einmal Schmerzen
in der Brust mit erschwertem Athmen. Fine Venisection und De-
mulcentia
beseitigten aber rasch diese Erscheinungen, und es zeigte
sich dabei nichts von Kopfschmerz oder von einer Gehirnaffection.
Er war nun wieder in seinem Comptoir, und das Rechnen und Nach-
denken fiel ihm nicht beschwerlich, noch ermiidete es ihn. Er schlief
gut, ohne zu traumen.
Er erfreute sich von jetzt an einer ungestorten Gesundheit, und
nur erst fast 20 Jahre spater, im Jahre 1852, erlitt er wieder einen
epileptischen Anfall, dem ein Gefiihl von Schwere im Kopfe vorausge-
gangen war. Die Sprache war durch diesen Anfall nicht beeintrachtigt
worden und Kopfschmerz war dadurch auch nicht erweckt worden.
Ich verordnete blutige Schropfkopfe im Nacken und liess spater ein
Fontanell im Nacken setzen; ausserdem sorgte ich fur freien Stuhl
und regulirte die Diat, die wohl zu reichlich war. Seitdem ist der
Mann bis jetzt (1860) gesund geblieben.
Wir ersehen aus diesem Falle, wie vortheilhaft bei Pachymeningitis
kraftig ableitende Mittel sind, deren locale Wirksamkeit sich daraus
erklart, dass die Gefasse der dura mater mit denen des Pericranium
communiciren. Wenn nur chronische Entziindung der pia mater und
Arachnoidea besteht, ohne Verwachsung mit der dura mater, so sind
ableitende Mittel zwar auch nicht zu verwerfen, sie wirken aber
weniger kraftig.
Dieser Fall zeigt auch wieder deutlich, dass die Entziindung der
dura mater eine ganz heimtiickische Krankheit ist. Der letzte Anfall,
Schroederv. d. Kolk, Geisteskrankheiten.                                                          8
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114                    Entziindung der dura mater.
20 Jahre nach der Heilung, lasst vermuthen, dass noch Residuen an
der friiher ergriffenen Stelle vorhanden sind, die man als einen aus-
gebrannten Vulkan ansehen darf, von wo aus, vielleicht durch eine
starkere Congestion, ein Reflex auf die Medulla oblongata zu Stande
kam, der sich als epileptischer Anfall ausserte.
Selir bemerkenswerth sind auch die psychischen Erscheinungen in
diesem Falle. Wahrscheinlich liatte die Entziindung sich iiber die
pia mater verbreitet, wodurch eine Beeintrachtigung der Hirnrinde-
zellen entstand, und so kam der Verlust des Gediichtnisses und beim
spateren Recidiv die Erschwerung der Sprache zu Stande, ohne dass
noch eine Entartung eingetreten war. Der Uebergang der Arterien
und Venen in der pia mater selbst hatte auch hier zur Folge, dass
der heftigste Sturm iiber den Patienten hin ging. — Wenn der Mann,
als or das erste Mai hergestellt war, den Weg in der Stadt nicht mehr
wusste, wiihrend seine geistige Thatigkeit sonst keinen Abbruch er-
litten hatte, so darf man wohl annehmen, dass bei einem Theile der
Zellen die Function gestort geblieben war, ohne dass dies einen be-
sonderen Einfluss auf die iibrigen Geisteskriifte hatte. Auch schien
es nur eine unbedeutende Schwache zu sein, denn eine massige Er-
regung, namlich die Erneuerung des friiheren Eindrucks durchs Ver-
nehmen des Strassennamens, war ausreichend, die Function wieder
herzustellen. Beim spateren Recidiye trat diese Erscheinung nicht
wieder hervor.
Sehr auffallend ist ferner die rasche Wirkung des fluchtigen Aetz-
ammoniaks, wodurch nicht nar der epileptische Anfall im Nu abge-
schnitten wurde, sondern auch die Sprache und das Gedachtniss sich
wieder herstellten. Eine solche Wirkung ist mir spater nie wieder
vorgekommen, obwohl ich das Mittel hin und wieder bei bevorstehen-
den epileptischen Anfallen habe versuchen lassen. Es beweist mir
jene Wirkung, dass die Zellen in ihrer Wirksamkeit geschwacht waren,
sich gleichsam in einem paralytischen Zustande befanden, der durch
das fliichtig reizende Mittel alsbald gehoben wurde. Auch finde ich
darin einen Beweis fur meiue friihere Behauptung, dass die Hirnsub-
stanz nicht gerade sehr reizbar ist und der eigentlichen Entziindung
und Degeneration lange Zeit widersteht.
Ueber die Wirkung des Brechweinsteins, die ich weiterhin noch
ausfuhrlicher bespreche, giebt dieser Fall auch sehr belehrenden Auf-
schluss. Seine deprimirende Wirkung auf Herz und Gehirn, selbst
beim Erbrechen, tritt in iiberzeugender Weise hervor, und selbst die
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Entziindung der dura mater.                        115
Gehirncongestionen schien er zu beschranken. Wahrscheinlich muss
aber schon eine gewisse Saturation durch das Mittel eingetreten sein,
wenn diese Wirkung hervortreten soil. Ware das Erbrechen nach
der ersten Gabe des Brechweinsteins eingetreten, dann wiirde wohl
eine Zunalime der Congestion eingetreten sein.
Endlicb mahnt auch dieser Fall darin zur Vorsicht, dass man
nicbt aus der nacbtlichen Exacerbation der Schmerzen ohne Weiteres
auf eine syphilitische Grundlage scbliesst. Der Schmerz steigerte sich
hier nur deshalb, weil durch die liegende Stellung die Congestion zunalim.
Achter Fall.
Die genaue Krankengeschichte dieses Falles verdanke ich meinem
Freunde Dr. Roelandt in Rotterdam, auf dessen Anrathen ich als
consultirender Arzt beigezogen wurde.
Der Weinhiindler van K., ein Funfziger von schlankem Wuchse
und sogenanntem lymphatischen Temperamente, hatte sich bisher bei
seiner miissigen Lebensweise einer andauernden Gesundheit zu er-
freuen gehabt. Im Jahre 1854 litt er aber zwischendurch an Furunkeln.
Einer davon entwickelte sich in der Nahe der Augenbraue, zwei an-
dere, denen ein lastiges Jucken vorausging, an der Innenseite der
Nasenfliigel. Bei zweckmassiger chirurgischer Behandlung verliefen
sie ohne weitere Storung der Gesundheit, obwohl weiterhin noch ein
Paar kleinere Furunkel nachfolgten.
In den vier ersten Monaten des Jahres 1855 stellten sich mancher-
lei unangenehme Empfindungen im Kopfe ein: ein driickendes Geftihl,
Empfindlichkeit gegen unangenehme durchdringende Gerausche, Ge-
sichtsschwache beimLesen und Schreiben, Schliifrigkeit, Verdriesslich-
keit, leichtes Angegriffensein beim Nachdenken. Diese Erscheinungen
nahmen allmalig zu, bis in der ersten Halfte Juni's sich mit mehr
Bestimmtheit ein Kopfschmerz einstellte, der in den beiden folgenden
Monaten langsam zunahm. In der ersten Zeit trat dieser Kopf-
schmerz nur am Morgen auf. Der Mann konnte dabei seine gewohn-
lichen Geschafte nicht versehen, er setzte sich wohl still hin, fasste
den Kopf zwischen beide Hande und fiel dann und wann in Schlaf,
wodurch der Kopfschmerz bald noch schlimmer wurde, bald auch auf
kiirzere oder langere Zeit nachliess, um zu unbestimmten Stunden bei
Tag oder beiNacht und unter verschiedenartiger Veranlassung wieder
aufzutreten. Dabei war der Stuhl trage, wogegen Hausmittel und
eine entsprechende Diat in Anwendung gebracht wurden.
8*
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116                        Entziindung der dura mater.
Ungeachtet der grosseren Schlafrigkeit wirkte der Schlaf doch
nicht crquickend; der Kopfschmerz war beim Erwachen eher starker.
Es war nicht ausfindig zu machen, warum die Schmerzanfalle eintraten
oder warum sie wegblieben. Durch Husten, durchNiesen verstiirkten
sich die Schmerzen.
Als Sitz des Kopfschmerzes wurde die Stirn oberhalb der Augen-
brauen bezeicbnet; von hier breitete er sich, wenn er zunahm, iiber
die Schlafen bis zum Nacken aus. Beim ersten Auftreten dieses
Schmerzes hatte sich wiederum ein lastiges Jucken in der Nase ein-
gestellt, wie schon zweimal bei der Entwickelung der Nasenfurunkeln,
und deshalb erwartete der Kranke nochmals einen Furunkel; statt
dessen kam aber der in unregelmassigen Paroxysmen auftretende und
ihn nicht mehr verlassende Kopfschmerz.
Die objectiven Symptome derKrankheit waren folgende: 1) Bias-
sere Farbung des Gesichts, matter und verdriesslicher Ausdruck der
nur schwach injicirten Augen, niedrige Temperatur der Haut, zumal
an den Gliedmaassen, erhohte Temperatur des Kopfes, zumal an Stirn
und Scheitel. 2) Im Stehen hat der Kranke nicht die energische
Haltung wie gewohnlich, er sitzt gern, denKopf in die Hand stiitzend;
im Liegen sincl ihm alle Bewegungen beschwerlich. 3) Der Puis ist
ziemlich selten (54,C), triige, klein, leicht wegzudriicken. 4) Die Re-
spiration erfolgt langsam. 5) Die Innervation liegt darnieder, wie
aus den psychischen und sensuellen, aber auch aus den vegetativen
Verrichtungen zu entnehmen ist. In den Muskeln der Beine treten
manchmal Reflexbewegungen auf, auch wahrend des Schlafes.
Die Diagnose war bei den ersten Besuchen unklar. Wegen Trag-
heit des Stuhles wurden am 13. und 14. Juli kleine Gaben Extr. Aloes
verordnet, die auch wirkten, und darnach blieb der Kopfschmerz am
Morgen langer weg.
Am 15. Juli wurden 6 Gran Tart. emet. auf 6 Unzen Wasser ver-
schrieben, wodurch Uebelkeit und reichliche Ausleerungen herbeige-
fiihrt wurden. Bis zum 24. Juli wurde weiter nichts verordnet. Die
Beobachtung des Kranken ergab aber, dass derselbe taglich wahrend
6 Stunden (etwa von Morgens 10 Uhr bis Nachmittags 4 Uhr) frei von
Kopfschmerzen war und wahrend dieser Zeit auch seinen Geschaften
obliegen konnte, dass dagegen wahrend der ubrigen 18 Stunden der
eben beschriebene Zustand zugegen war. Man dachte somit an eine
Intermittens Jarvata und verordnete:
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Entziindung der dura mater.                        117
Up. Chin, sulph. Scrup. 1.
Extr. Liquirit. Dr. 2.
Fiant pill. Nr. 40. S. In der freien Zeit stiindlich zwei Stuck zu nehmen.
Dabei horten die Kopfschmerzen auf, es stellte sich ein ruhiger
und natiirlicher Schlaf ein, und vom 2. August an setzte daher der
Kranke die Pillen aus. Die Heilung war indessen von kurzer Dauer;
bereits am 8. August hatte sich der friihere Zustand wieder eingefun-
den. Man dachte an ein Recidiv der Intermittens und verordnete von
Neuem Chinin; dieses Mai aber ohne alien Erfolg. Die Symptome
nahmen eher an Heftigkeit zu, und es kam niclit mehr zu einer regel-
massigen Intermittenz.
Dem Kranken wurden jetzt Sturzbader angerathen; dieselben
hatten aber keinerlei Erfolg. Secbs Blutegel hinter die Obren, die
bedeutend nachbluteten, bewirkten eben so wenig eineBesserung, eher
verschlimmerten sich alle Krankheitserscheinungen bei Fortdauer der
Kopfschmerzen: der Schlaf wurde mehr soporos, und der Kranke er-
wachte nur mit immer heftigerenKopfschmerzen; die Reflexbewegungen
in den Beinen traten haufiger auf; auch wurde einmal, wenn auch nur
voriibergehend, eine unregelmassige Erweiterung der Pupillen wahr-
genommen. Die deutliche Congestion nach dem Kopfe und die Blut-
stase forderten zu kraftigerer Ableitung auf. Am 29. August wurde
verordnet:
Up. Tart. emet. gr. 6.
Mucil. gummi arab.
Aq. Naph. ana Unc. 1.
Aq. destill. Unc. 6.
j3. Stiindlich 1 Essl. voll z. n.
Am 30. August wurde diese Solution repetirt. Am 31. August
wurde ein Infus. Sennae mit Anima Bhei und 6 Gran Tart. emet. ver-
ordnet; dazu kalte Ueberschliige auf den Kopf und Sinapismen an die
Waden. Es stellten sich reichliche Stiihle ein.
Am 1. und 2. September wurden die namlichenMittel angewendet,
und dabei trat zum ersten Mai ein starkes wasseriges Erbrechen ein,
mit galliger Beimischuug. Diesem folgte alsbald eine erfreuliche Be-
ruhigung und Abspannung, ruhiger Schlaf, Erwachen ohne Kopfschmerz,
gleichmassige Temperatur und feuchte Haut, Besserung des triigen
Pulses, reichlichere Harnabsonderung. Der Kranke ftihlte sich selbst
entschieden besser, und man schopfte wieder Hoffnung fur Genesung.
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118                        Entziindung der dura mater.
Um die Ableitung zu unterhalten, wurde ein Vesicans in den Nacken
gelegt.
Indessen schon am 3. Sept. stellten sich die eben verschwunde-
nen Krankheitserscheinungen wieder ein; ja das Krankheitsbild. trat
noch entschiedener hervor als friiher. Es wurde Eodr. Aloes aquosum
gegeben und zwar in steigender Dosis, aber ohne Erfolg. Die Krank-
heitserscheinungen steigerten sich nur, derKranke verfiel in vollkom-
mene Lethargie, die Stirn fiihlte sich warmer an und war oberhalb
der Augenbrauen deutlich gerothet, der Puis sank auf 50 Schliige.
Am 6. Sept. wurde ich zur Consultation berufen. Ich fand den
Kranken in dem genannten Zustande ganz bewusstlos und diagnosti-
cirte sogleich eine Pachymeningitis. Ich liess 4 Blutegel in die Nase
appliciren, die moglichst nachbluten sollten, und da der Brechwein-
stein in Pulver- und Pillenform besser und in grosseren Dosen ver-
tragen wird, als in Solution, so verordnete ich innerlich:
Up. Tart. emet. gr. 9.
Sacch. alb. Dr. 3.
Divide in partes aequales 9. S. Zweistiindlich 1 Pulver z. n.
Ichrieth ferner, die wunde Stelle im Nacken in starke Eiterung zu brin-
gen, verordnete kalte Ueberscklage auf den Kopf, Sinapismen auf die
Waden und ein Klystir. Letzteres bewirkte eine starke Entleerung,
und dieser folgten noch fiinfmal wiisserige und gallige Abgiinge. Die
Blutegel bluteten stark nach. Schon am Abend dieses Tages war der
Zustand wesentlich gebessert: der Kranke war bei Bewusstsein, der
Puis hatte sich auf 60 Schlage gehoben und die Haut fiihlte sich warm
an, der Harn ging besser und war nicht mehr gleich dunkel. Die
Nacht verlief ruhig, und wahrend derselben verschwand der Kopf-
schmerz.
Am 7. ziihlte man 66 Pulsschlage und der Kranke genoss etwas.
Die Tulver, die Sinapismen und das Klystir wurden wiederholt und
die Eiterung im Nacken wurde befordert. Am Abend fiel der Puis
wieder (62 Schlage) und wurde kleiner. Der Kranke lag auf der Seite
vorn ubergebeugt, brachte iiber einzelne Dinge unrichtige Vorstellun-
gen zum Vorschein und nahm einen sehr befehlerischen Ton an. Ich
hatte darauf aufmerksam gemacht, dass nach Beseitigung der Krank-
heitserscheinungen ein Recidiv kommen wurde, und darauf hin wur-
den sechs Blutegel an die Stirn gesetzt und es wurde deren Nachblu-
tung durch elastische Schropfkopfe unterhalten, so dUss die entleerte
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Entziindung der dura mater.                    119
Blutmenge etwa 5 Unzen betrug. Darnach trat Beruhigung und Ab-
spannung ein, und der Kranke hatte eine ruhige Nacht.
8.  Sept. Keine Spur von Kopfschmerz; die verwirrten Vorstel-
lungen sind verschwunden, der Kopf und der iibrige Korper haben
normale Temperatur; der Puis voller, mit 60 Schlagen in der Minute;
die Zunge weniger belegt und mehr feucht; von der Unruhe und den
Reflexbewegungen der Beine ist nichts mehr wahrzunehmen. Die
Pulver werden wiederholt. Dazu wurde noch eine Unze Ricinusol, auf
zwei Male zu nehmen, verordnet.
9.  Sept. Die Nacht ist ruhig verlaufen. Die psychischen Verrich-
tungen sind recht gut, nur im Gedachtniss und in der Zeitrechnung
zeigt sich einige Storung; der Kopfschmerz tritt nicht hervor. Die
Pulver haben keine Uebelkeit verursacht und werden deshalb wieder-
holt. Gegen Abend wird der Kranke unruhiger und lasst sich nur
schwer im Bette halten. Im Urine zeigt sich ein niedersinkendes
Wolkchen.
10.  Sept. Der Schlaf war fest gewesen, das Athmen stohnend,
zwischendurch von Schluchzen unterbrochen. Am Morgen war viel
Urin gelassen worden. Der Puis mehr entwickelt, die Temperatur
etwas erhoht. Das Kauen und Schlucken ist erschwert und der Kranke
will nichts zu sich nehmen; Abends verweigert er entschieden das Ein-
nehmen der Pulver. Ein Klystir hat nur wenig Erfolg.
11.  Sept. Die Nacht ist ruhig gewesen. Der Puis wechselt zwi-
schen 55 und 65 Schlagen. Das Einnehmen der Pulver wird beharr-
lich verweigert. Beim zweiten Besuche wurde auf dem Fortgebrauche
des Brechweinsteins bestanden und derselbe in geringerer Dosis ver-
ordnet, namlich:
lip. Tart. emet. gr. 10.
Extr. Hyoscy. aq. Scrup. 1.
Extr. Liquir. Dr. 1/$.
Fiant pillulae Nr. 30. Zweistundlich 1 Stuck zu nehmen.
Bis zum 15. Sept, blieb der Zustand gut, ja er besserte sich so-
gar noch taglich. Der Kopfschmerz war ganz geschwunden, Verstand
und Gemiithsstimmung, abgerechnet ein etwas erregtes Wesen, liessen
nichts zu wiinschen ubrig. Der Schlaf wurde ruhiger und war frei
von Traumen, die bisher immer gequalt hatten. Der Puis hatte 70
Schlage. Der Kranke konnte ohne Beschwerde auf einige Zeit das
Bett verlassen. Die Zunge hatte einen grauen Beschlag und sah wio
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120                        Entziindung der dura inater.
geschwollen aus; der Appetit war aber dabei ganz gut *). Der Brech-
weinstein wurde deshalb ein Paar Tage ausgesetzt, und dabei bekam
die Zunge ihr natiirliches Aussebn wieder. Am 13. wurde ein Klystir
gegeben, auch 1 Unze Electuar. lenitivum mit 4 Gran Extr. Hyoscyami
verordnet.
16.  Sept. Der Kranke befindet sicb heute wieder in einem ganz
andern Zustande und die Hoffnung auf Wiederherstellung ist zum
dritten Male zu Schanden geworden. Am Abend vorher waren die
Hande allmalig kalt geworden, wie bei den friiberen Riickfallen, dann
hatte sicb Kopfscbmerz eingestellt und die Nacht war nicbt gleich gut
wie die friiberen verlaufen; kurz, Alles deutete auf die Wiederkebr des
friiberen ungiinstigen Zustandes, und die Schuld davon glaubte man
auf einen Diatfehler scbieben zu miissen. Der Kranke lag theilnahm-
los und an Kopfscbmerzen leidend auf der namlichen Stelle. Die Haut-
temperatur stand niedriger und war ungleichmassiger; das Herz schlug
60 Mai in der Minute. Da neue Congestion und Entziindung zu be-
fiirchten stand, so wurden vier Blutegel an die Stirn gesetzt und de-
ren Nachblutung wurde durch elastische Scbropfkopfe unterstiitzt.
Dazu Sinapismen auf Waden und Fusssohlen, ein Klystir, innerlich
Elect, lenitivum und neuerdings Brecbweinstein.
17.  Sept. Die Nacht war nicbt sehr unruhig gewesen. Der Kopf-
schmerz war nicbt mehr gleicb heftig, aber bin und wieder zeigten
sich Spuren von Verwirrung, und es bestand grosse Theilnahmlosig-
keit und Verdriesslichkeit. Appetit ganz gut, auch geborige Stuhlent-
leerung. Beim Abendbesucbe erklarte der Kranke, er sei frei von
Kopfschmerz und habe wieder rubig geschlafen. Das Herz scblug
60 Mai in der Minute. Der Brecbweinstein wurde obne Widerwillen
genommen.
18.  Sept. In der Nacht trat ein diinner, nicht copioser Stuhl ein.
Das Aussehn des Kranken ist weniger gut; er hat einen leidenden Ge-
sichtsausdruck, eine kiihle trockene Haut, 57 Pulsschlage, mehr Kopf-
schmerz und seine ganze Haltung verkiindet nichts Gutes. Es werden
wieder sechs Blutegel an die Stirn gesetzt und die Nachblutung wird
durch Scbropfkopfe unterhalten. Dazu Brechweinstein ohne Extr.
Hyoscyami,
kalte Ueberschlage und ausserdem ein Klystir.
Da diese gefahrlichen Recidive immer wieder eintraten, so kam
*) Das kommt vielfaoh bei Maniaci vor und spricht fiir eine noch i'ortbe-
etehende Reizung.
                                                                      *
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Entziindung der dura mater.                        121
der Arzt auf die Vermuthung, man diirfte es mit einer speciiischen
Entziindung zu tlmn haben, einer Folge der Furunkeldyskrasie, womit
die Krankheit angefangen hatte, und die wohl durch die kraftige Anti-
phlogose zuriickgedriingt, aber nicht ganz gehoben sein moge. Er
entschloss sich daher zum Sublimat als einem Mittel, welches Krank-
hejtskeime zerstbrt, und das nach seiner Erfahrung bei heftigen aus-
seren Entziindungen, die den kraftigsten antiphlogistischen Mitteln
Wochen lang widerstanden, sich wirksam bewiesen hatte. Er ver-
ordnete:
jRjp. Merc. subl. corros. gr. 1.
Sacch. alb. Dr. 4.
Divide in partes aequales 24. S. Dreistiindlich ein Fulver z. n.
Er fand sich hierzu um so eher veranlasst, weil diesmal die Blutent-
leerung nicht den geringsten Nutzen brachte, vielmehr die Erscheinun-
gen noch an Heftigkeit zunahmen.
Ich war einige Tage abwesend gewesen und wurde jetzt wieder
consultirt. Ich hatte gegen diese kleinen Gaben Sublimat nichts ein-
zuwenden, erwartete aber audi nicht viel davon.
Am 19. Sept. war derZustand wohl noch der namliche. Das Herz
schlug 48 Mai in der Minute. Der Krauke war ganz gleichgiiltig und
theilnahmlos und bekam bei der geringsten Bewegung Schmerzen im
Kopfe. Eine geringe Menge Mittagsessen war wieder ausgebrochen
worden. Abends wurden zwei Blutegel in die Nase gesetzt.
20. Sept. Nach Anlegung der Blutegel besserte sich der Zustand
schon am Abend und die Nacht war besser. Ein Klystir hatte nur
massig gewirkt; Erbrechen war nicht wieder gekommen. Der Puis
hat sich Ton 44 auf 56 gehoben, der Kopfschmerz ist massiger, der
Kranke mehr bei Bewusstsein. Reichliche Harnentleerung. Der Subli-
mat wird fortgegeben.
Vom 21. bis 23. wechselten gtinstige und weniger giinstige Er-
scheinungen mit einander; die letzteren waren aber offenbar vorherr-
schend.
24. Sept. Der Kranke hat sich sehr verschlimmert und'immer
mehr schwindet die Hoffnung eines giinstigen Ausgangs. Wenn auch
keine entschiedenen Exacerbationen des Kopfschmerzes mehr vorkom-'
men, so ist doch offenbar grossere Gefiihllosigkeit da, und Stumpfsinn
und Gleichgultigkeit behindern vielleicht das Kundgeben des Schmer-
zes. Der Kranke spricht so gut wie nicht mehr, kaum dass er dann
und wann mit Miihe ein Wort hervorbringt. Mit den Augen mag der
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122                        Entziindung der dura mater.
Kranke freilich sehen; sie machen aber nicht den Eindruck, als ob er
damit wirkliche Wahrnehmungen erzielte. Tag und Nacht wird ziem-
lich die gleiclie Lage eingenommen. Der Unterschied zwischen Schla-
fen und Wachen ist nur seheinbar. Speise wird fast gar nicht mehr
aufgenommen und Getrank aucb nur selten. Dabei ist in den letzten
Tagen die allgemeine Abmagerung entschiedener hervorgetreten, wor-
an ebensowobl die geschwachte Einwirkung des Nervensystems auf die
Vegetation als die geminderte Nahrungszufuhr Schuld sein mag. Mehr
und mehr tritt der adynamische Charakter der Krankheit und ein Ge-
sunkensein der Innervation bei Abvvesenheit aller paralytischen Er-
scheinungen hervor, so dass es geboten erscheint, durch Reizorittel
einzugreifen. Aus diesem Grunde wurde ein Infusum flor. Arnicae
(l1/* Drachmen auf 6 Unzen) verordnet, daneben aber der Sublimat
fortgesetzt. Auch ein Klystir wurde gegeben. Gegen Abend war
noch starkerer Verfall eingetreten, und es wurde jetzt ein grosses Bla-
senpflaster iiber die ganze Stirn bis zum Scheitel hinauf und bis zu
den Schlafen bin gelegt.
25.  Sept. Die Nacht war ruhig gewesen. Der Kranke stohnt
zwischendurch. Der Puis ist etwas mehr entwickelt, schlagt aber doch
nur 40 Mai in der Minute; die Hauttemperatur ist mehr natiirlich, das
Schlucken weniger erschwert, als an den vorhergehenden Tagen. Die
Verabreichung der Arnica wird von jetzt an nach der Hauttempera-
tur bemessen.
26.  Sept. In der Nacht hatte sich, wenn auch nur kurz dauernd,
heftiger Kopfschmerz eingestellt. Die Intelligenz liegt sehr darnie-
der und nur starke Eindriicke wirken auf das tief gesunkene Leben.
Der Puis ist von 40 auf 50 gestiegen. Nur mit Miihe und Widerwillen
schluckt der Kranke und das einzelne Wort bleibt ihm fast in der
Kehle stecken; nur selten kommen gleichsam lucida intervalla des
Sprechvermogens vor, wo er von sich aus etwas mit Leichtigkeit sagt.
Er scheint mehr zu schlafen, als dass er wirklich fest schliefe. Da das
Vesicator noch nicht gezogen hat, so wird es durch ein anderes ersetzt.
Auch wird wiederum ein Klystir gegeben.
27.  Sept. Der Earn hat zum ersten Male einen starken Boden-
satz, der sich indessen in den nachsten Tagen nicht wiederholt. Die
Thranendriisen sonderu reichlich ab und ihre Fliissigkeit sammelt sich
zwischen dem untern Augenlide und dem Bulbus, sowie im innern
Augenwuikel. Das dauert auch in den nachsten Tagen fort. Die
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Entziindung der dura mater.                        123
Zunge ist feucht und es stellt sich wieder Appetit ein. Die namlichen
Mittel werden fortgegeben.
28.  Sept. Im Ganzen ist der Zustand mehr befriedigend, das
Athmen gut. Es sind bis jetzt 3l/2 Gran Sublimat verbraucht, olme
dass sich Salivation zeigt. Durch die Arnica steigert sich immer
rasch die Hauttemperatur, der Kranke will sie durchaus nicht mehr
fortnehmen.
29.  Sept. Wahrend der Nacht ist der Kranke ziemlich ruhig ge-
wesen. Der Zustand ist im Ganzen unverandert. Der Sublimat wird
nur noch in halb so grosser Dosis fortgenoinmen.
30.  Sept. Der Zustand war am Morgen noch derselbe, Abends
aber trat eine giinstige Veranderung ein. Der Kranke richtet sich
ganz unversehens auf, spricht viel, isst und trinkt mit Appetit, ohne
dabei so exaltirt zu sein, wie friiher bei eintretender Besserung. Er
spricht ganz verstandig iiber die Gefahr, worin er so lange geschwebt
hatte, und scheint von Allem unterrichtet zu sein. Er fuhlt sich ganz
gut, hat 50 Pulsschliige und ist frei von Kopfschmerzen.
1. Oct. Die Nacht ist ziemlich ruhig verlaufen; kein Kopfschmerz,
keine Stoning in den geistigen Verrichtungen, 50 Pulsschliige. Durch
Elect, lenitivum wird auf den Darm gewirkt und der Sublimat fortge-
nommen.
4. Oct. Das Vesicator wird weggenommen und nur noch in halb-
mondformiger Gestalt auf den Protuberantiae frontales als Exutorium
unterhalten.
Von jetzt an schreitet die Besserung entschieden von Tag zu Tag
fort, alle beunruhigenden Symptome vcrschwinden und der Kopfschmerz
bleibt aus. Der Sublimat wird noch zu l/i% Gran fortgebraucht und
zwischcndurch wird noch zum Elect, lenitivum gegriffen.
13. Oct. Die Exutorien werden gehorig unterhalten, mit der Do-
sis des Sublimats wird noch weiter herabgegangen. An der Stirn ent-
wickeln sich (in'Folge der Hautirritation) kleine Furunkel. Keine
Spur von Salivation. Die Diat wird streng geordiiet. Einige Stunden
des Tags verlasst der Mann als Reconvalescent das Bett.
Diese Besserung schreitet nun gleichmassig fort. Am 8. Novem-
ber zahlt man 82 regelmassige Pulsschlage, die Abmagerung hat sich
zum Theil wieder ausgeglichen, und mit Vorsicht konnen schon einige
Geschafte versehen werden. Es warcn bis dahin etwa 6 Gran Subli-
mat genommen worden.
Von da an bis jetzt (1861) ist der Mann immer gesund geblieben;
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124                        Entzundung dcr dura mater.
nur fallt es ihm beschwerlich, dass ihmdurch den Weindunst im Keller
leicht der Kopf eingenommen wird. Der Kopfschmerz ist aber nicht
wieder gekommen. Man darf wohl sagen, dass in dem hartnackigen
Kampfe mit dem anstiirmenden Tode ein glanzender Sieg errungen
worden ist.
Dieser Fall beweist wieder aufs Entschiedenste, wie hartnackig
und heimtiickisch die Pachymeningitis ist, zu deren Eigenthiimlich-
keiten die oftere Wiederkehr mit erneuter Heftigkeit zu gehoren
scbeint.
Dass die Entzundung der dura mater auf die pia mater iiberge-
gangen war, ist wohl klar genug.
Es belehrt uns der Fall, dass man bei Paralysen einzelner Gehirn-
functionen, wohin das in der letzten Zeit so sehr behinderte Schlucken
zu rechnen ist, und eben so bei Verwirrtsein der geistigen Functionen
doch nicht allemal gleich an eine Desorganisation zu deuken braucht.
Als die Congestion und die Entzundung auf die Rindenschicht und
selbst auf tiefere Theile des Gehirns sich fortpflanzten, ergab sich
zwar Functionsstorung, es war aber noch nicht zu einer Desorganisa-
tion gekommen. Wir haben hier aber audi einen neuen Beweis dafiir,
dass die Hirnsubstanz nur langsam in den entziindlichen Zustand yer-
setzt wird.
Auffallend ist es, dass beim Ausbruche der Krankheit die Anfalle
mit einem fixenTypus in die Erscheinung zu treten schienen und auch
dem Chinin wichen. Im weiteren Verlaufe war dies anders. Dadurch
steigert sich nur das Heimtiickische der Krankheit. Ich habe mich
dadurch audi einmal irrefiihren lassen in einem andern Falle, wo ich
zur Consultation berufen wurde und wo der heftige Kopfschmerz dem
schwefelsauren Chinin wich. Nach ein Paar Tagen trat der Kopf-
schmerz wieder mit periodischen Anfallen auf, und obwohl ich eine
Pachymeningitis vermuthete, stimmte ich doch auch fur Wiederholung
des schwefelsauren Chinins, neben gleichzeitiger Anwendung von Blut-
egeln und von Blasenpflastern im Nacken. Ich fand diesen Patienten,
der ausserhalb der Stadt wohnte, beim zweiten Besuche bereits im
Sterben.
Der Roelandt'sche Fall zeigt ferner, dass Blutegel der afficirten
Stelle so nahe als moglich applicirt werden miissen. Blutegel und
ein Vesicator im Nacken beim Beginne der arztlichen Behandlung
batten nichts geholfen. Dagegen halfen die Blutegel an der Stirn
(das letzte Mai freilich auch nicht) und noch mehr die Blutegel in der
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Entziindung der dura mater.                        125
Nase, wegen directer Ableitung von der afficirten Stelle. Ware die
Entziindung mehr in der Hinterhauptsgegend gewesen, so wiirden blu-
tige Schropfkopfe im Nacken eher am Platze gewesen sein.
Auch der Nutzen intensiver Ableitungen in der Nahe der ergrif-
fenen Stelle bestatigte sich hier. Ich kann die Heilung nicht den ge-
ringen Mengen Sublimat zuschreiben, die der Kranke bekommen hat.
Wahrend des Gebrauchs dieses Mittels war der Zustand noch schlimm
genug. Erst dann, als das grosse die ganze Stirn bedeckende Vesicator
intensiver wirkte, wich auch die Entziindung der dura mater mit alien
ihren Folgen.
Das Heilbringende solcher Ableitungen, gleichwie die kraftig depri-
mirende Wirkung des Brechweinsteins, habe ich noch in zwei Fallen
erfahren, die ich nur mit einem Worte beriihren will. Eine Frau
hatte, und zwar mehr oben am Scheitel, -eine mit heftigen Schmerzen
verlaufende Pachymeningitis; allmalig traten selbst epileptische An-
falle dabei hervor. Es wurden wiederholt Blutegel gesetzt, und ein
Fontanell oben am Scheitel wurde tiber ein Jahr lang offen erhalten,
wodurch vollkommene Heilung zu Stande kam. Es stellte sich selbst
ein eiterartiger Ausfluss aus der Nase ein, wodurch der Zustand sich
besserte. Der andere Fall kam ebenfalls bei einer Frau vor: die Ent-
ziindung der dura mater und der heftige Schmerz, den man fur rheu-
matisch gehalten hatte, traten hier oberhalb des linken Ohres auf.
Ein Fontanell, welches in sehr starke Eiterung versetzt wurde, und
wiederholtes Anlegen von Blutegeln brachten das langwierige Leiden,
welches mehr denn einmal von cerebralen Erscheinungen begleitet
war, zuletzt zum Schweigen. Es stellte sich in diesem Falle eine
Otorrhoea purulenta ein, die indessen keine Taubheit hinterliess. In
beiden Fallen traten mehrmals bedenkliche Recidive ein.
Nach meiner Erfahrung, welche durch die vorstehenden Falle
noch nicht ganz erschopft ist, kann ich die idiopathische Pachymenin-
gitis,
wo weder eine aussere Verletzung noch eine syphilitische Ur-
sache zu Grunde liegt, keineswegs fiir eine so selten vorkommende
Krankheit halten, als man bei den Autoren angegeben findet. Ich
glaube, die Krankheit wird haufig verkannt, und wegen der regelmas-
sigen Intermissionen fiir eine Febris larvata, oder haufiger wohl noch
fur eine Cephalaea rheumatica gehalten.
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126                        Entziindung der dura mater.
Auf den e'rsten Blick kann es befremden, dass diese Entziindung
durch solche intensive Schmerzhaftigkeit sich auszeichnet. Man be-
denke indessen, dass die dura mater cerebri aus zwei Hauten besteht,
von denen die aussere das Periost darstellt, womit die eigentliche
dura mater verwachsen ist. Die grosse Schmerzhaftigkeit in Folge ent-
ztindlicher Affection hat also die dura mater mit dem Periost an an-
dern Knochen gemein. Die vom Periost gesonderte dura mater des
Wirbelkanals ist nach meiner Erfahrung bei weitem nicht so schmerz-
haft bei Entziindungen, als die dura mater cerebri. Auch Degenera-
tionen, Verknocherungen, ja selbst Entziindungen der Falx cerebri
schienen in ein Paar Fallen, die mir vorgekommen sind, nicht gerade
sehr schmerzhaft zu vorlaufen. Im Riickgratskanalc kommt eine iso-
lirte Entziindung der dura mater frcilich nur selten vor, und man hat
deshalb keine ganz reinen Beobachtungen. Indessen habe ich die
hier auftretenden Schmerzen, wenn sie auch vielleicht von andern
Theilen ausgingen, nicht in soldier Heftigkeit beobachtet. Nimmt
die Krankheit einen mehr chronischen Verlauf, wobei die dura mater
fast untrennbar mit dem Sckiidel verwiichst, dann treten nicht immer
die heftigen Schmerzen auf. So verhielt es sich bei dem 72jahrigen
Greise (S. 87), wo sich der Schiidel nicht von der dura mater ab-
trennen liess und wo dennoch kein Kopfschmerz dagewesen war*).
Eigenthiimlich ist auch die Intermittenz, die manchmal bestimmt
periodisch wie bei Febris intermittens hervortritt, meistens aber un-
regelmassig sich kund giebt, so dass liingere ganz freie Zeitriiume
unterschieden werden. Hierin giebt sich auch wieder die Ueberein-
stimmung der dura mater mit dem Perioste anderer Stellen zu erken-
nen. Bei Periostitis iiberhaupt tritt der Schmerz wahrend der Nacht-
zeit meistens starker hervor, oder er hat auch langere Intermissionen.
Auch bei andern Autoren geschieht der Intermittenz der Krankheits-
erscheinungen Erwahnung. Namentlich finden sich vielfache Beob-
achtungen der Art in dem ausgezeichneten Werke von Lallemand
(Mechcrches sur Vencephale. Lettre II. Obs. 5 et 31. Lettre III. Obs. 6
*) Wahrscheinlich tragt die starke Anheftung des Periosts an den Knochen
und die grosse Spannung in Folge der entziindlichen Geschwulst, wodurch ein
nachtheiliger und schmerzhafter Druck auf die Nerven zu Stande kommt, vieles
zu der Schmerzhaftigkeit bei. Wenigstens ist die Periostitis, die nach Bein-
briichen oder nach Amputationen sich immer einstellt, nicht gar schmerzhaft,
sofern nicht die zerrissenen Rander des Periosts bestimmt einer Spannung und
einem Drucke ausgesetzt sind.
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Pathologische Anatomie des Gehirns.                   127
et 17. Lettre IV. Obs. 3 et 20. Lettre V. Obs. 4, wo wegen der Iuter-
mittenz Arsenik gegeben wurde. Lettre VII. Obs. 1, 2, 11. Lettre VIII.
Obs. 13).
In sehr acuten Fallen scheinen diese Intermissionen aber auch zu
fehlen, oder vielleicht wurden sie auch zuAnfang der Krankheit, bevor
noch arztliche Behandlung eintrat, nicht benierkt. So findet sich z. B.
bei Lallemand (Lettre IV. Obs. 14, aber auch noch in andern Fal-
len) nichts davon erwlihnt.
§• 16.
Pathologische Anatomie des Gehirns.
Dass Reizungen und entziindungsartige Zustande der pia mater,
je nach dem Grade ihrer Entwickelung, mit den verschiedenen Formen
des Irrseins im innigsten Zusammenhange stehen, dariiber kann man
bei Beriicksichtigung dessen, was ich iiber die Rindenschicht des Ge-
hirns als Organs der hohern geistigen Krafte, iiber den Zusammenhang
zwischen Seele und Leib, iiber den Einfluss des Leibes auf die Seele,
sowie iiber die Circulation im Gehirn beigebracht habe, wohl kaum
in Zweifel sein. Es giebt aber noch einige dahin beziigliche Punkte,
die einer genaueren Besprechung wiirdig sind.
Bekannt ist es, dass die pia mater von der Arachnoidea bedeckt
wird. Meistens lasst man, und meines Erachtens mit vollem Rechte.
das aussere Blatt der Arachnoidea auf der Innenfliiche der dura mater
liegen, ihr inneres oder viscerales Blatt dagegen das Gehirn bekleiden,
aber solchergestalt, dass es nicht zwischen den Hirnwindungen sich
einsenkt, sondern briickenformig von einer Windung zur andern ver-
lauft. Dabei ist die Arachnoidea durch zartes Bindegewebe an die
unterliegende pia mater geheftet. Letztere hat man nun als eine Ge-
fasshaut anzusehen, wodurch fortwahrend eine serose Fliissigkeit aus-
schwitzt, die sich zwischen pia mater und Arachnoidea ansammelt und
auch im normalen Zustande nicht ganz zu fehlen scheint. Befindet
sich aber die pia mater in einem entziindungsartigen Zustande, oder
auch nur in einem Zustande starkerer Congestion, dann vermehrt sich
nicht nur dieMenge des zwischen beide Haute ausgeschwitzten Serums,
sondern die Fliissigkeit wird auch fibrinhaltiger und gerinnt nach dem
Tode. In einem Falle konnte ich schon 6 Stunden nach dem Tode
die Section eines Irrsinnigen, der bereits in Blodsinn verfallen war,
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128                Pathologische Anatomie des Gehirns.
vornehmen. Nach Eroffnung des Schadels und Blosslegung des Ge-
hirns zeigte sich iiberall ein starkes Exsudat zwischen Arachnoidea
und pia mater, welches aus Schnittstellen der Haute in solcher Menge
ausfloss, dass ich es auf einem untergestellten Teller sammeln konnte.
Nach einer halhen Stunde sah ich zu meiner Verwunderung, dass die
Fliissigkeit im Teller in eine weissliche ziihe Masse umgewandelt wari
die ganz wie eine rheumatische Entziindungsmembran aussah und sich
am Rande hautartig aufhebon Hess; die Fliissigkeit musste also gros-
sentheils aus Fibrin bestanden haben, das nun geronnen war. Die
Hirnhaute waren inzwischen ganz durchscheinend geworden und hatten
ihre natiirliche diinne Beschaffenheit angenommen, Avahrend sie noch
vor wenigen Augenblicken wie verdickt aussahen. Die pia mater war
aber so fest mit der Rindenschicht verwachsen, dass sie ohne Zer-
reissung der Hirnsubstanz sich nicht abziehen Hess.
Urn iiber die Formen und Grade des Irrseins ein richtiges Urtheil
fallen zu kbnnen, hat man festzuhalten, dass der vordere und obere
Theil des Gehirns in genauester Beziehung zu unserer hbheren Geistes-
tbatigkeit steht, und zwar die graue Schicht oder die Rindenschicht,
die unter dem Stirnbeine bis zum Scheitel hinauf benndlich ist. Wenn
man bei solchen, die im Irrsinn verstorben sind, die pia mater vor-
sichtig von dieser Flache abzieht und sie dann abwascht, indem man
reines Wasser aus einem Schwamme darauf tropfeln lasst, so bemerkt
man Folgendes.
In seltneren Fallen, wenn namlich der Kranke bei beginnender
Krankheit erlegen war, zeigt die Rindenschicht eine ungleiche Far-
bung : an einzelnen Windungen erscheint sie hell rosa, an anderen
mehr blass. Diese Farbennuancen machen sich manchmal nur bei
einer ganz genauen Untersuchung bemerklich, und sie sind die Folgen
einer starkern Congestion zu diesen bedeutungsvollen Gehirntheilen;
oder auch einer schon beginnenden Entziindung. Man findet sie auch
bei Kranken, die am Typhus oder am Nervenfieber unter Entwickelung
eines starken Deliriums gestorben sind. Seltener trifft man diese
Veranderung in frischen Fallen von Irrsein gleichzeitig auch an den
hintern oder untern Hirnlappen an.
Bei liingerer Dauer und bei heftigem Auftreten ist die Krankheit
in Entziindung iibergegangen. Man hat nun Miihe, die pia mater, deren
Gefasse meistens stark gefiillt sind, von der Rindenschicht abzuziehen:
ja nach dem Grade der Entziindung werden ganze Schichten von der
oberflachlichen grauen Rinde mit abgerissen und bleiben an der Ge-
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Pathologische Anatomie des Gehirns.                129
fasshaut hangen. Dabei ist fast immer eine mehr oder weniger grosse
Menge plastischer Lymphe zwischen pia mater und Arachnoidea ausge-
schwitzt, die durchs Gerinnen im Leichname so undurchscheinend wer-
den kann, dass sie eine dicke weisse Schicht bildet, durch welche die
Windungen kaum hindurchschimmern.
War bei langerer Dauer der Krankheit bereits Stumpfsinn oder
Blodsinn eingetreten, dann findet sich keine starkere Farbung mehr
vor. Die Gefasse sind jetzt weniger gefiillt, und die pia mater lasst
sehr leicbt von den Windungen los, so dass man sie leichter abzieht,
als im gesunden Zustande; die graue Substanz erscheint blass und
anamisch, aucb wohl diinner und etwas atropbisch; das Exsudat, wel-
ches im vorhergebenden Stadium die pia mater so fest mit der Rinde
vereinigt, ist ganz gescbwunden; iiberall fliesst ein wiisseriges belles
Serum aus, und die Gefasse, zumal an der Gehirnbasis, sind in der
Regel auf der Innenseite mit Knochenplattchen oder mit atheromato-
sen Ablagerungen bedeckt.
Sind die Veranderungen so weit vorgeschritten, dann ist meistens
an keine Herstellung mehr zu denken. Im zweiten Stadium dagegen,
namlich bei der Verwachsung der pia mater, kann noch immer Ge-
nesung eintreten; denn ich habe dasselbe mehrmals bei Individuen
angetroffen, die in gleicher Weise oder wohl nicht einmal so heftig
und so stark gelitten hatten, als andere Individuen, bei denen Ge-
nesung eintrat.
Die chronische Entziindung der Hirnhaute und der Hirnsubstanz
beschrankt sich aber nicht immer auf die vordere und obere Flache
des Gehirns: bei langerer Dauer ergreift sie auch wohl die Innen-
flache der Sinus und die Hirnhohlen. Die pia mater in diesen Hohlen
wird dabei gewohnlich verdickt; sie hat bisweilen, zumal am Septum
und im vierten Ventrikel, bei auffallendem Lichte ein Aussehen, als
ware sie mit feinen Sandkornchen bedeckt. Dabei findet sich auch
wohl eine gewisse Menge helles Serum in den Gehirnhohlen, wodurcb
diese eine entsprechende Erweiterung erfuhren. Die pia mater auf den
Corpora striata ist meistens verdickt, und sie lasst sich in der Regel
nicht abziehen, ohne dass die gewohnlich erweichte Hirnmasse zerreisst.
Im Leben giebt sich diese Veranderung durch paralytische Erschei-
nungen kund, die mit einem Zittern der Lippen beim Sprechen anzu-
fangen pflegen, und weiterhin durch Stammeln und durch erschwertes
unsicheres Gehen sich bestimmter charakterisiren. — Auch der dritte
Ventrikel wird wohl durch Serum ausgedehnt, wodurch zugleich die
Schroeder v. <1. Kolk, Oeistoskrankheiten. ,                                                      9
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130                Pathologische Anatomie des Gehirns.
Wurzeln der Oculomotorii einenDruck erleiden. Durch Herabstimmung
der Energie dieses Nerven wird das Gleichgewicht zwischen dem Le-
vator palpebrae superioris
und dem vom Facialis versorgten Orbicularis
palpebrarum
gestort, und es kommt zu einer Ptosis, die auf ein tiefes,
nicht zu beseitigendes Hirnleiden deutet. — Nimmt der Druck im
dritten Ventrikel durch fortgesetzte Ausschwitzung noch mehr zu, dann
werden die Oculomotorii noch mehr geschwacht. Es tritt nun ein un-
gleiches Wirken ein zwischen dem innern geraden Augenmuskel, der
vom Oculomotorius versorgt wird, und zwischen dem aussern geraden
Augenmuskel, der unter der Herrschaft des Abducens steht, und ein
mehr oder weniger starker Strabismus externus kommt zum Vorschein.
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Zweites Hauptstiick.
Pathologie und Therapie des Irrseins.
A. Idiopathisches Irrsein *).
§. 1.
Einleitung.
Es ist nicht meine Absicht, ausfuhrlicher mich dariiber auszulas-
sen, wie man mit Irren umzugehen hat, oder wie die psychische Be-
handlung am zweckmassigsten einzuricbten ist; gesunder Verstand
und Menschenkenntniss sind hierin in der Regel bessere Fiihrer, als
viele Regeln und Beispiele, die doch nur selten auf den besonderen
Fall Anwendung finden konnen. Icb mochte aber den Aerzten, die
nicht Gelegenheit hatten, mit diesem scbwierigen Theile der Heilkunde
in einer Irrenanstalt sich griindlicher zu beschaftigen, eine kurze und
passende Anweisung geben, die ihnen in praktischer Beziehung von
Nutzen sein und ihnen als feste Basis fur ihr Handeln dienen kann.
Dadurch hoffe ich dazu beizutragen, dass nicht beim Ausbruche der-
artiger Krankheiten, wo die Aussicht auf Genesung noch am besten
ist, ein verkehrtes und unzweckmassiges arztliches Eingreifen statt-
findet, der gunstigste Zeitpunkt verabsaumt wird, und dann die Krank-
heit entweder einen chronischen Verlauf nimmt, oder jegliche Aussicht
auf Herstellung verschwindet.
*) Mit einigen Auslassungen ist dieses Kapitel unverandert aufgenommen aus
der Tydschrift der Ned. Maatschappy tot bevordering der Geneeskunde. 3. Jaarg.
1852. (Heraueg.)
'J*
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Eintheilung des Irrseins.
132
§• 2.
Verschiedene Formen und Eintheilung des Irrseins.
Dm in kurzen und bestimmten Ziigen ein Bild von der rationellen
Behandlung des Irrseins entwerfen zu konnen, muss ich erst einige
Hauptsatze iiber das Wesen dieser Krankheit, iiber ihre nacbsten Dr-
sacben, sowie iiber ihre verschiedenen Formen vorausschicken. Auf
eine tiefere Begriindung mancher Satze kann ich mich aber bei dieser
gedrangten Uebersicht nicht einlassen; ich will nur die Resultate einer
langjahrigen Erfahrung und einer grossen Anzahl Sectionen mit-
theilen.
Selbstverstiindlich muss wohl das Gehirn, als dasjenige Organ,
worin sich die hoheren Geistesvermogen zunaehst kundgeben, beim
Irrsein und bei der Geisterverwirrung vorzugsweise leiden. Man
wiirde aber sehr irren, wenn man mit manchen Autoren die eigent-
liche Quelle und Ursache der Krankheit immer im Gehirne suchen
wollte. Denn dieses steht ja in engster Beziehung zum ubrigen Kor-
per, und der Einfluss, den viele Grgane auf das Gehirn iiben, ist deut-
lich genug; brauche ich doch nur daran zu erinnern, dass durch Sto-
rung der Digestion orler durch eine copiose Mahlzeit das Gefiihl der
Dnlust, eine Tragheit und Herabstimmung des Denkens hervorgerufen
werden kann.
Man pflegt nun die verschiedenen Arten der Geistesverwirrung
je nach der Verschiedenheit der Erscheinungen, die sie hervorrufen,
zusammenzustellen und als Mania, Monomania, Melancholia, Dementia
und Idiotisinus aufzufiihren. Diese Eintheilung eignet sich sicherlich
zur Enterscheidung der verschiedenen Formen und verdient beibehal-
ten zu werden: gleichwohl ist sie mir immer nicht recht praktisch
vorgekommen, weil sie mehr von den Krankheitssymptomen als vom
"Wesen und vom Drsprunge der Krankheit ausgeht. Seit Jahren habe
ich daher die verschiedenen Formen der Krankheit unter zwei Haupt-
gruppen untergebracht, die sich als idiopathischer und sympathischer
Irrsinn bezeichnen lassen, durch eigenthiimliche Kennzeichen von ein-
ander unterschieden sind und in therapeutischer Beziehung alle Be-
riicksichtigung verdienen.
Beim idiopathischen Irrsinne ist das Gehirn primar leidend,
mag nun ungewohnliche Anstrengung des Geistes und Deberreizung-
des Gehirns zu Grunde liegen, oder mag eine violente Einwirkung, ein
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Idiopathischer Irrsinn.                               133
Fall, ein Stoss, oder bei einer gewissen Anlage und nicht selten erb-
licher Disposition irgend eine andere Ursache dazu Veranlassung ge-
geben haben.
Sympathischer Irrsinu besteht dann, wenn das Gehirn nur
erst secundar leidet, die veranlassende Ursache aber in anderen Kbr-
pertheilen, namentlich ini Unterleibe oder in der Geschlechtssphare
liegt. Bei langerem Bestehen kann daraus idiopathischer Irrsinn ent-
stehen, eine Genesung kann aber nicht zu Stande kommen, wenn nicht
vorher die entfernten Ursachen beseitigt worden sind. Hieraus ergiebt
sich zur Geniige der grosse praktische Nutzen dieser Eintheilung.
§.3.
Erscheinungen des idiopathischen Irrsinns im
Allgemeinen.
Die bei Mania idiopathica auftretenden Erscheinungen charakte-
risiren diese Form des Irrsinns aufs Beste.
Beim Beginne der Krankheit giebt sich nur ein gereizter Zu-
stand kund, eine Erregung der Rindensubstanz, womit sich eine be-
schleunigte Circulation im Gehirne zu verbinden scheint. Der Puis ist
in der Regel mehr frequent, nicht- selten auch hart und voll, das Ge-
sicht in der Mehrzahl der Falle mehr gerothet, die Augen funkelnd;
dabei eine ungewohnliche Beweglichkeit, eine gewisse Ueberstiirzung
in alien Handlungen, und in Folge dieser Aufregung das entschiedene
Gefiihl von Gesundheit, so dass der Patient versichert, er sei gesunder,
rascher und kraftiger als je zuvor, auch sich befahigt erachtet, die
grossten Strapazen ohne Hinderniss zu ertragen. Durch die fortwah-
rende Erregung des Gehirns und die hierdurch unterhaltene Lebhaf-
tigkeit wird der Schlaf zum Oefteren unterbrochen, oder es stellt sich
gar kein Schlaf ein, oder aber der Patient glaubt gar keines Schlafes
mehr zu bediirfen. Diese Erregung, der rasche Gedankenlauf, die
ruhelose Beschaftigung, die erhitzte Phantasie bringen ihm die Ueber-
zeugung, dass er viel mehr, denn friiherhin, auszufuhren im Stande ist,
aber auch die Ueberzeugung, dass er mehr vermag als andere Menschen,
dass er — mehr ist. Er fiihlt sich nun hoher stehend, einsichts-
voller, reicher oder auch machtiger; der Verstand vermag den mit
Ungestiim immer mehr anschwellenden Strom der Vorstellungen und
Bilder nicht mehr zu beherrschen, es kommen die ausschweifendsten
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134                               Idiopathischer Irrsinn.
Plane unci Entwiirfe zum Durchbruch, es wird mit Millionen, mit Konig-
reichen gespielt. Wir haben es jetzt mit einem Fiirsten, mit einem
Kaiser zu tbun, der die ganze Erde beherrscht.*)
Beim Beginne der Krankheit, die oftmals nur sebr langsam und
fast unmerklich fortscbreitet, wird die Veranderung sogar von den
Hausgenossen und von den Verwandten nicht immer wahrgenommen.
Man bemerkt zwar eine grossere Lebhaftigkeit, freut sich aber iiber
die Versicberungen eines vollkommenen Wohlbefindens, ungeachtet
die grosse Reizbarkeit und das Aufbrausen beim Widersprechen nicht
selten auf unangenebmeWeise dieRuhe derFamilie storen. Uebrigens
weiss sich der Kranke meistens im Anfange Fremden gegeniiber noch
zu beherrschen, so dass andere Personen nichts an ihm bemerken.
Beim Weiterschreiten der Krankheit miissen ihnen freilich die ver-
riickten Plane, das sinnlose Kaufen und Verschwenden, der ungebiihr-
liche Hochmuth und die Selbstiiberschatzung die Augen offnen.
Eine solche Aufregung des Gehirns bleibt aber auch nicht ohne
Einfluss auf den iibrigen Korper. Das verlangerte Mark gerath mehr
und mehr ebenfalls in erhohte Thatigkeit und es steigert sich dessen
Empfindlichkeit; das verbreitet sich aber von hier iiber andere Organe,
zumal iiber die Eingeweide. Daher lebhafteres Hungergefiihl und eine
kraftige Verdauung, was nicht selten bis zur Fressgier fortscbreitet,
womit sich auch wohl eine Neigung zum Weintrinken oder iiberhaupt
zu Spirituosis verbindet. Da die Geschlechtsfunctionen mit dem ver-
*) Aus diesen Erscheinungen lasst sich meines Erachtens deutlich genug ent-
nehmen, dass unser hoheres Prinoip, unsere Verstandeskrafte, unser Urtheil mit
den Wirkungen des Gehirns, mit der Gehirnkraft, wenn ich mich so ausdriioken
mag, nicht identificirt werden darf. Resultirte unser Verstand, unser Urtheil
ohne Weiteres aus dem Wirken des Gehirns, dann miissten doch solche Kranke
bei der obwaltenden Erregung des Gehirns verstandiger werden, ihr Urtheil
miisste gescharft sein und tiefer gehen, mit einem Worte, ihre Verstandeskrafte
miissten sich erhohen. Allein gerade das Gegentheil findet Statt. Der Gedan-
kengang ist wegen starkerer Erregung des Organs allerdings ein rascherer, aber
der Verstand selbst zeigt sich nicht auf einer hoheren Stufe; der Kranke ist
nicht mehr im Stande, den unwillkurlichen Andrang der Gedanken zu beherr-
schen, und Bein Verstand wird mit fortgerissen. Nur das Organ wirkt rasoher;
daB Organ aber und seine Wirkungen constituiren darum noch nicht unser Ich,
unser hoheres Priucip. — Beachtenswerth ist es auch, dass derartige Irre sich
wohl hoher gestellt, machtiger, reicher fiihlen, oder sich selbst gottliche Eigen-
schaften vindiciren. Es ist mir aber noch keiner vorgekommen, der auf seine
grossere Rechtschaffenheit, auf seine hcihere Tugend gepocht hatte. Sie denken
sich nur als Gotter, weil sie sich fur machtiger halten, und sie lassen es auch
vielleicht nicht an Drohungen mit Blitz und Donner fehlen.
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Idiopathischer Irrsinn.                                135
langerten Marke in genauem Zusammenhange stehen, so werden auch
diese in die allgemeine Aufregung hineingezogen, und geschlechtliche
Ausschweifungen kommen in solchen Zustanden haufig genug vor.*)
Schreitet die Krankheit weiter fort und geht sie nicht durch iiber-
massige Hirnreizung und durch Meningitis in Raserei tiber, so folgt
nun dem acuten Stadium ein inehr chronisches, wo die grosse Leben-
digkeit in dem Maasse zuriicktritt, als die graue Rindenschicht mehr
und mehr entartet und sich verandert. Zornige Aufwallungen kommen
nur noch zwischendurch zum Vorschein, oder sie horen auch ganz und
gar auf. Die Vorstellungen werden mehr und mehr verwirrt, zuletzt
verfallt der Ungliickliche in Albernheit, und dabei treten oftmals die
paralytischen Erscheinungen auf, welche auf eiue serose Ausschwitzung
im Gehirn hinweisen. Schliesslich pflegen wiederholte apoplektische
Anfalle zu kommen, bis zuletzt ein heftiger Anfall der Art das traurige
Leben des Kranken endigt.
Dass die Korperconstitution, das Geschlecht, das Alter hierbei
modificirend einwirken, versteht sich wohl von selbst. Immer indessen
liegt Hochmuth mit verschiedenartiger Niiancirung zuGrunde; nur ist
derselbe nicht, wie man wohl angenommen hat, als die veranlassende Ur-
sache des Irrsinns anzusehen, sondern er bezeichnet bei der primar
vom Gehirn ausgehenden Erkrankung bereits deren Anfang und er
gehort zu den ersten und constanten Krankheitsymptomen. Es kom-
men ferner Falle vor (und wahrscheinlich ist dann die Affection nicht
gleich heftig iiber das Gehirn verbreitet oder sie schreitet langsam fort
und erreicht keinen hohen Grad), wo der Irre nur in Betreff einzelner
Punkte oder selbst nur eines einzigen Punktes abschweift, iiber alle
anderen Sachen dagegen ganz verstandig spricht, — ein Zustand, der
in mancher Beziehung mit der Melancholie Aehnlichkeit hat, nur dass
der Kranke nicht niedergeschlagen oder schwermiithig ist**). Diese
*) Zum Oefteren kamen Irre in meine Behandlung, die mit Syphilis be-
haftet waren. Der Arzt muss hierauf achten, weil die Irren es nicht immer an-
geben.— Auf Onanie als ursachlicb.es Moment komme ich weiterhin zu sprechen.
Hier geniige die Bemerkung, dass auch bei idiopathischer Manie dieses Laster
manchmal zum grossen Verderben des Kranken geiibt wird.
**) Da bei der sympathischen Manie oder Melancholie, wie ich weiterhin ent-
wickeln werde, die secundar auftretende Hirnreizung nicht so heftig ist und mei-
stens auch einen langsameren Verlauf nimmt, wobei dann der Kranke iiber an-
dere Gegenstande ganz verniinflig sprechen kann, so darf man wohl annehmen,
dass bei der idiopathischen Manie mehrfache Grade von Hirnreizung und Hirn-
affection vorkommen, und darunter auch solche, wobei der geregelte Gedanken-
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136                               Idiopathischer Irrsinn.
Krankheitsform ist gewohnlich von langer Dauer und schwer zur
Heilung zu bringen.
Bei Mannern, wo das Gefasssystem starker entwickelt und imAll-
gemeinen zu Entziindungen disponirt ist, kommt die Mania idiopathica
weit haufiger vor, als bei Weibern. Man muss sicb dariiber wundern,
wie lange Zeit ein Weib bisweilen an heftiger Manie leiden kann, ohne
dass die Aufregung in eine so heftige Meningitis iibergeht, dass Mania
paralytica
und Blodsinn darnacb eintraten. Ich habe Falle beobachtet,
wo Weiber Jabre lang in tobsiichtigem Zustande gewesen waren und
dock nocb geheilt wurden.*) Bei Miinnern kommt dies seltener vor,
und ein solcber Verlauf der Krankheit ist bei ihnen gefahrlicher.
Aber nicht jeder Irrsinn, der mit grosser Aufregung oder selbst mit
Tobsucht verbunden ist, zahlt deshalb zur idiopathischen Form. Bei
sehr reizbaren und sensibeln Individuen, namentlich bei Frauen und
Madcben, auch wohl bei Mania puerperalis begegnet man Fallen, wo
das Gebirn durch eine entfernte Ursache heftig gereizt wird, diese
Reizung aber nicht sowohl vom Gefasssysteme ausgeht, als vielmehr
durch heftige Erregung des Nervensystems, zumal bei hysterischer
Anlage, hervorgebracht wird. Dann kann ebenfalls Tobsucht mit den
meisten Symptomen der Mania idiopathica vorhanden sein, der Hoch-
muth und die Selbstiiberhebung treten aber dabei gar nicht oder nur
ganz voriibergehend hervor. Der aufmerksame Arzt wird dann die
veranlassende Ursache meistens im Uterus oder in anderen entfernten
gang nicht ganz gestort ist. Es entsteht dann meistens nur Wahnsinn mit Einer
beherrschenden Vorstellung, jedoch ohne jenen deprimirenden Einfluss auf den
Geist, woraus die melancholische Stimmung hervorgeht, die von der Einwirkung
dee Sympathicus und seiner pars abdominalis auf das Gehirn herriihrt. So kon-
nen Falle vorkommen, wo es schwer zu entscheiden ist, ob der Irrsinn idiopa-
thisch oder sympathisch ist, zumal da die idiopathische Hirnaffection nicht
selten auch wieder einen entschiedenen Einfluss auf die Baucheingeweide iibt. —
Gliicklicher Weise hat dieser Unterschied in solchen Fallen auf die Heilmethode
keinen wesentlichen Einfluss, wie ich weiterhin nachweisen werde.
*) Bei einer Frau hatte die Aufregung und die Tobsucht nicht weniger denn
7 Jahre angehalten, und wahrend der ersten 6 Jahre hatte sie meist unangeklei-
det auf Stroh gelegen. Sie wurde dann in die Utrechter Irrenanstalt aufgenom-
men, beruhigte sich langsam unter einer besseren Behandlung und wurde inner-
halb 3 Jahren dort vollkommen hergestellt. Sie erfreute sich dann wahrend
eines Zeitraums von 9 Jahren der besten Gesundheit, ohne dass ihre geistige
Thatigkeit durch die langanhaltende Tobsucht einen Abbruch erlitten hatte. Un-
gliicklicher Weise verfiel sie aber zuletzt von Neuem in Tobsucht, und sie befin-
det sich jetzt wieder seit 6 Jahren in der Anstalt, ohne dass es gelungen ware,
ihre Aufregung zu beruhigen.
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Syrnpathischer Irrsinn.                               137
Theilen ausfindig machen konnen, die durch Reflex und Einwirkung
aufs Gehirn diesen Zustand von Ueberreizung hervorriefen. Solche
Falle werden auch leicht der Genesung zugefiihrt, wenn man die Ur-
sache hebt und den aufgeregten Zustand beruhigt.
§4.
Erscheinungen des sympathischen Irrsinns im
Allgemeinen.
Der sympathische Irrsinn, zumal wenn er in der Form der Me-
lancholie auftritt, giebt ganz andere Symptome als der idiopathische.
Im Allgemeinen beobachtet man bier viel weniger Aufregung, im
Gegentheil die Kranken sind meistens still, gedriickt, schwermiithig.
Sie haben auch nicbt so verwirrte Vorstellungen, sondern sprechen
und urtheilen ganz richtig iiber Alles; nur beherrscht sie der Wahn,
dass sie ungliicklich sind, ja selbst zu den ungliicklichsten unter alien
Menscben gehoren. Denu sie betrachten sich selbst als die Ursache
ihres Ungliicks und verfallen in die grasslichste Angst,-die mit einem
Gefiihle von Beengung in der Pracordialgegend, in der Gegend des
Magens und des Quergrimmdarms gepaart ist, was sie mit Gewissens-
angst verwecbseln. Sie fliehen die Menscben, verbergen sich gern in
einem dunklen Winkel, und in alien ihren Handlungen, in ihrer Hal-
tung, in ihrem Gesichtsausdrucke erkennt man die tiefste Schwer-
muth und ein geistiges Niedergedriicktsein, welches nicht selten zur
vollstandigenVerzweiflung fiihrt und Selbstmordsgedanken aufkommen
lasst.
Das Gehirn befindet sich in minder lebhafter Action. Zwar ist
der Kranke unaufhorlich in seine schwermuthigen Gedanken versunken,
dabei aber fur gewohnlich in keinem aufgeregten Zustande. Statt des
funkelnden, glanzenden Auges haben wir einen niedergeschlagenen
Blick. Manchmal kommt zwar eine Congestion nach dem Kopfe vor,
aber doch nur in massigem Grade, und wenn der Kopf vielleicht
warmer erscheint und die Carotiden vielleicht starker klopfen, so
fiihlen sich doch Hiinde und Fiisse in der Regel kiihl an, und der
Radialpuls ist klein und zusammengezogen, so dass sich also eher eine
ungleiche Circulation kund giebt. Es findet mehr eine chronische
Congestion statt, oder dieselbe ist mehr passiv. Die Nasenspitze hat
in der Regel eine rothe Farbung, aber auch wohl die Ohren zeigen
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138                            Mania idiopathica acuta.
eine solche Farbung, jenachdem die Congestion die vordern Hirnpar-
tien oder die Medulla oblongata starker trifft.
Vornehmlich kommen aber hier Affectionen eutfernterer Theile vor,
in der Bauchhohle oder in der Brusthbhle, im Verdauungsapparate
oder an den Gescblechtstheilen, die dem Ausbruche der Manie oder
der Melancholie meistens eine gewisse Zeit lang vorausgegangen sind.
Dadurch kann man bei einiger Aufmerksamkeit in den meisten Fallen
in's Reine kommen, ob man es mit idiopathischem oder mit sympathi-
schem lrrsinne zu thun hat. Doch gelit der sympathische Irrsinn,
wie icb weiterhin nachweisen werde, durch die Storungen und Ver-
anderungen, die er im Geliirne hervorruft, nicht selten in die idiopa-
thische Form iiber, sei es nun, dass die melancholischen Vorstellungen
ganz aufhoren und dafur eine ganz entgegengesetzte Erregungsform
auftritt, sei es, dass sie in Blodsinn iibergehen, diese allgemeine Aus-
gangsform aller localen zur Degeneration fiihrenden Hirnaffectionen.
Ausfiihrlicher werde ieh iiber das sympathische Irrsein mich ver-
breiten, wenn ieh auf dessen specielle Behandlung komme; hier konnten
nur einige Kennzeichen hervorgehoben werden, wodurch sich die sym-
pathische und die idiopathische Krankheitsform von einander unter-
scheiden.
§.5.
Mania idiopathica acuta.
Bei der Mania idiopathica haben wir mit Rttcksicht auf den Ver-
lauf eine acute und eine chronische Form zu unterscheiden.
Die Mania idiopathica acuta characterisirt sich durch grossere
Intensitat und durch eine kiirzere Dauer. Der acute Verlauf kommt
besonders bei kraftigen und jungen Individuen vor. Die Erscheinungen
der Hirnreizung und der Meningitis treten dann mit starkerer Aus-
pragung hervor, die Verwirrung des Geistes ist grosser und mehr
ausgebreitet, das Toben in den Wuthanfallen ist heftiger; der Puis
fiihlt sich nicht selten voll und hart an, derKopfheiss, unddas Antlitz
ist manchmal starker gerothet, in der Regel aber etwas geschwollen;
dieAugen, deren Conjunctiva manchmal injicirt ist, sind stark glanzend,
und die Pupille erscheint meist klein und zusammengezogen; der
Kranke ist in fortwahrender Bewegung, er vermag so wenig still zu
sitzen, wie Jemand bei einem heftigen Zorn- oder Wuthanfalle, und
dabei entwickelt er oftmals eine ungemein grosse Muskelkraft; die
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Mania idiopathica acuta.                          139
irrsinnigen Vorstellungen von Grosse, Macht und Reichthum gehen
iiber alle Schranken hinaus, und bei dieser heftigen Hirnreizung stellt
sich auch nicht selten vollstandige Schlaflosigkeit ein *); derGeschlechts-
trieb ist meistens erhoht. Dabei pflegt der Appetit sehr gut zu sein,
so dass der Kranke in Betreff der Speisen, aber auch des Weines und
der Spirituosa, wenn er sie haben kann, in hohem Grade unniassig ist.
Der Stuhl ist in der Regel trage.
Erhohte Anlage zu dieser Krankheitsform hat man meistens schon
in einem erblichen Zustande, im sanguinischen leicht erregbaren Tem-
peramente, in grosser Lebhaftigkeit und Beweglichkeit des Geistes zu
suchen. Als veranlassende Ursachen machen sich alle Einfliisse geltend,
welche heftig reizend auf das Gehirneinwirken: aussere Verletzungen,
der Sonnenstich**), intensive oder anhaltende geistige Anspannung,
heftige Gemiitbsaffecte, Missbrauch von Spirituosis oder von andern
Giften, die durchs Blut aufgenommen werden.
Die Prognose ist zu Anfang der Krankheit im Ganzen nicht un-
giinstig, wenn der Kranke unter eine zweckmassige arztliche Behand-
lung kommen kann. Aber es ist grosse Vorsicht nothig, weil im
Anfange gernRecidivekonimen, die sehr leicht in die chronische Form
ubergehen, oder auch mit den heftigsten Erscheinungen von Menin-
gitis
einherschreiten und mit Apoplexie oder Paralyse endigen. Auf
den ersten Monat (hochstens die zwei oder drei ersten Monate) kommt
hier ungemein viel an; bei langerer Andauer hat man es mit der
chronischen Form zu thun. Einige Male sah ich Kranke innerhalb
dieses Zeitraums der heftigen Meningitis erliegen: die Section zeigte
dann starke Aussclrwitzung eines plastischen Serums, bedeutende Ful-
*) Auf diese Schlaflosigkeit muss der Arzt immer achten. Ihr Vorhanden-
sein weist auf eine starke Hirnreizung hin, und es wiirde in einem solchen Falle
sehr verkehrt sein, wenn man mit Opiaten eingreifen wollte, wodurch nur die
Congestion und der Blutandrang zum Gehirne gesteigert wiirden. In anderen
Fallen freilioh konnen Opiate ganz am Platze sein, wovon nooh weiterhin die
Rede sein wird.
**) Diese Ursache wirkt sehr haufig in heissen Landern ein, und daher riihrt
es, dass Individuen, welche in Ost - oder Westindien, oder auf der Riickreise in's
Vaterland erkrankten, bei ihrer Riickkehr nach Europa meistens unheilbar sind. Sie
waren in jenen Landern einer grosseren Hitze ausgesetzt, wodurch die Krankheit sich
intensiver entwickelte, namentlich wenn die starke Sonnenhitze auf den unbe-
deckten Kopf wirkte, und andererseits ist in solchen Fallen der erste Zeitraum
der Krankheit, wo noch Herstellung moglich ist, bereits voruber, und durch die
Heftigkeit der Krankheit sind unheilbare organische Veranderungen im Gehirne
zu Stande gekommen.
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L40             Behandlung der Mania idiopathica acuta.
lung der Gefasse, starke Farbung der grauen Rinde, sogar ein hell-
rothes, mehr oder weniger geflecktes Aussehen der Marksubstanz.
Natiirlich kann bei dieser acuten Form der Reizungszustand der
Gehirnhiiute in eine hochgradige Entziindung iibergehen. Das hangt
grossentlieils von der Constitution und vom Alter des Kranken ab,
oder auch von der die Gehirnreizung bedingenden Ursache, und dar-
nach muss der Arzt seine Behandlung einrichten. Ich habe zwar
waiter oben auf den Scbaden aufmerksam gemacht, den eine zu reich-
liche oder eine nichtindicirte Blutentziehung herbeifiihren kann, habe
aber damit nicht behaupten wollen, dass vom Aderlass in dieser Krank-
heit ganzlich Abstand zu nehmen sei. Derselbe kann sogar dringend
gefordert sein. Bei robuster Constitution, wenn die Gehirnreizung
und die Meningitis durch deutliche Zeichen sich zu erkennen geben,
wenn der Puis voll, hart, frequent und der Kranke erregt ist, muss
man wohl wiederholt zur Lanzette greifen. Indessen vergesse mau
nicht, dass man es hier nicht mit einem gleich reizbaren und gefass-
reichen Organe zu thun hat, wie bei einer Pericarditis oder bei einer
Pneumonie, d. h. man hiite sich, auf Einmal sehr grosse Mengen Blut
zu entleeren*). Ist das Gehirn in einem stark gereizten und empfind-
*) Man wird das Nachtheilige eines solchen Verfahrens begreifen, wenn man
die anatomischen Verhallnisse in Berilcksichtigung nimmt. Gehirn und Riicken-
mark sind in knocherne Kapseln eingeschlossen, die sich nicht erweitern, aber
auch nicht verkleinern konnen: dieNatur suchte die edeln in diesen Hohlen ein-
geschlossenen Organe moglichst unter einem gleichmassigen Drucke zu erhalten.
Will zu vieles Blut daraus abfliessen, so miisste eine Art Vacuum entstehen, wenn
der sich bildende leere Raum nicht wieder durch etwas erfullt wiirde. Das Blut
wird somit in gewisser Beziehung durch Ansaugung zuriickgehalten, und wenn
auch die von mancher Seite aufgestellte Behauptung, dass durch starke Hamor-
rhagieen das Gehirn nicht blutleer weide, durchaus nicht begriindet ist, so steht
doch so viel fest, dass das Gehirn nicht gleich schnell, wie andere Organe, blut-
leer wird. Wenn in Folge eines starken Blutverlustes der Druck bedeutend ab-
nimmt, so wirkt der Hohlraum jener knochernen Kapsel gleichsam saugend ein,
die Exsudation aus den Gefassen steigert sich und der Liquor cerebro-spinalis
nimmt an Menge zu: entsprechend der voriibergehenden Zunahme des Liquor
cerebro-spinalis
zeigt sich eine Blutabnahme in den Hirngefassen. Hierzu kommt
noch, dass kein anderer Korpertheil so zahlreiche verflochtene Netze diinnwan-
diger und ausdehnbarer Venen besitzt, als der Riickgratskanal, und diese mus-
sen sich dabei ausdehnen und theilweise das durch den starken Blutverlust ent-
stehende Vacuum erl'ullen. Auf solche Weise wird der Ausfluss des Blutes ver-
langsamt und iiberhaupt wird die Circulation im Gehirne trager, als es mit der
normalen Wirkungsweise dieses wichtigen Organs vertraglich ist. Das Gehirn
erfahrt bei dieser tragen Circulation nicht mehr die gehorige Reizung, die Me-
ningitis
wird nicht gehoben, sondern geht in die chronische mehr passive Form
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Behandlung der Mania idiopathica acuta.             141
lichen Zustande, dann kann die durch starke Aderlasse herbeige-
fiihrte Umanderung der Circulation eine neue Erregung herbeifiihren,
wovon Pin el bereits Beispiele anfuhrt, die ich ebenfalls durch einige
Falle vermehren kann. Nach dem Aderlass stellte sich ein neuer
Wuthanfall ein. Wie empfmdlich das Gehirn gegen einen starken
Blutverlust ist, ersehen wir daraus, dass ein Aderlass nicht selten
von ohnmachtsahnlichen Zufallen begleitet wird, so wie von Convul-
sionen, die sich damit vergesellschaften.
Der Arzt muss hier auf den allgemeinen Zustand des Gefasssystenis
und auf den Puis achten, und nicht bloss die Aufregung oder die Wuth
des Kranken im Auge behalten *). Ist das Gefasssystem nicht zu sehr
gefiillt, dann verdient es bei Weitem den Vorzug, wenn man ein Paar
blutige Schropfkopfe in den Nacken setzt, wovon ich so oft den herr-
lichsten Erfolg gesehen habe. Diese bewirken eine weit kraftigere
Ableitung vom Kopfe, als ein Aderlass, der eine allgemeine Wirkung
aussert und nur da passt, wo die blutigen Schropfkopfe nicht aus-
reichen, namlich um die allgemeine Reaction des Gefasssystenis zu
bekampfen. Auch Blutegel konnen indicirt sein, und zwar nicht hinter
die Ohren, sondern am besten hoch oben im Nacken, wo sie mehr
auf die Aeste der Vertebralis einwirken konnen. Sie bewirken indessen
keine so kraftige Ableitung, als blutige Schropfkopfe, und die Appli-
cation warmer Ueberschlage im Nacken, um dadurch die Blutung zu
unterhalten, wirkt leicht erwarmend und erhitzend, wodurch dann der
Ableitung durch die Blutegel wieder Eintrag geschieht. Beschwerlich
wird auch oftmals die Anwendung von Blutegeln wegen langerer An-
dauer der Blutung, und weil dasSetzen derThiere bei einem unruhigen
fiber, und so befordert man durch starke Blutentziehungen den Uebergang in
Blodsinn. Daher warnt schon Pinel nachdrucklich vor denselben, und neuere
Schriftsteller bestatigen seine Erfahrung.
In dieser Beziehung halte man auch fest, was ich wetter oben entwickelt
habe, dass namlich das Blut die Rindenschicht sehr rasch durchstromt, weil die
in selbige eindringenden Gefasse nur einen kurzen Verlauf haben. Verlangsa-
mung der Circulation im Gehirne wirkt deshalb besonders schadlich. Daher
ruhrt es auch, dass kohlensaurehaltiges Blut im Gehirne und in der Medulla ob-
longata
fast augenblicklich Erstickungserscheinungen hervorruft.
*) Man achte vornehmlich auf die erhohte Temperatur an Stirn und Schei-
tel. Sind die Hande dabei kiihl, so passt ein Aderlass nur selten, ja er schadet
vielmehr; sind sie dagegen warm und ist der Puis vol], so kann er niitzen, ja er
kann selbst dringend erforderlich sein. — Bei Manie kommt zwar nur selten Hy-
pertrophic des Herzens vor, denn diese veranlasst eher Apoplexie; indessen muss
der Arzt doch auch an diese Moglichkeit denken.
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142             Behandlung der Mania idiopathica acuta.
Kranken Millie verursacht. Man hat die Blutegel auch an den Schlafen
applicirt, und um direct vom Gehirn abzuleiten, konnten sie auch im
Bereiche der Frontalis an der Stirn oder in der Nahe der Augen
gesetzt werden. Von Blutegeln in der Schlafengegend sah ich aber
mehrmals durch die Reizung der empfindlichen Haut Erysipelas ent-
stehen, und die damit verbundene Geschwulst und Congestion iiber-
wogen durchihre nachtheiligen Wirkungen jene durch die Blutentziehung
erzielten Vortheile. Blutegel in der Nasenhohle wirken freilich sehr
stark ableitend vom Gehirne; aber bei einem sehr aufgeregten, toben-
den Irren wird man sie dorthin nicht leicht bringen konnen. Am
sichersten wiihlt man daher immer den Nacken hoch oben. Aber
blutige Schropfkopfe, nach Umstanden wiederholt, verdienen gewiss
den Vorzug.
Es versteht sich von selbst, dass daneben auch anhaltende kalte
Ueberschlage auf denKopf indicirt sind, oder je nach den Umstanden
auch Eis, Douchen, Tropf- und^Sturzbader auf den Kopf, oder auch
neben der Kalteeinwirkung auf denKopf gleichzeitig warme Ganzbader
oder Fussbader*). Sauerteig hann ebenso Anwendung finden.
Dagegen verlangen Vesicatore einige Vorsicht. 1st der Kranke
sehr aufgeregt und reizbar, dann kann derReiz und derSchmerz von
den Spanischen Fliegen Schaden bringen, weil der Gesammtorganismus
zu sehr erregt wird; statt zu beruhigen, bringen sie die schon an sich
lebhafte Phantasie des Kranken nur noch mehr in Aufruhr**).
Jeder Arzt begreift wohl, dass Ruhe noting ist und alle Reize ab-
*) Beim Fussbade hat man darauf zu achten, dass immer warmes Wasser
zugegossen wird; denn das Wasser wird rascher abgekuhlt, als die duroh den
ersten Eindruck erhitzten Fiisse, es wirkt dann nicht mehr ableitend, oder man
hat zuletzt sogar ein relativ kaltes Fussbad, d. h. das Badewasser ist niedriger
temperirt als die Fiisse. Das Fussbad darf auch nicht zu lange fortgesetzt wer-
den, und seine reizende Einwirkung verstarkt man durch Salz, durch Senf und
dergleichen Substanzen. Gleichzeitig kann man auch Kalte auf den Kopf wirken
lassen. Eis wirkt aber dabei leicht durch seine Schwere und durch Druck nach-
theilig, wenn man diesem Uebelstande nicht durch besondere Vorkehrungen vor-
beugt.
**) In einem Falle, wo ich den Kranken in seiner Privatwohnung nicht im
Bette und im Zimmer zu erhalten vermochte, entschloss ich mich zu Vesicato-
ren auf die Fusssohlen. Ich erreichte dadurch mein Ziel, denn der Mann war
nicht im Stande, auf den entstandenen Blasen zu stehen, was auch einige Tage
fortdauerte. Das Vertrauen und die FreundsGhaft des Mannes gewann ich indes-
sen dadurch nicht, wenngleich die nachfolgende Ableitung zur Beruhigung bei-
trug und zuletzt Heilung erreicht wurde.
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Behandlung der Mania idiopathica acuta.             143
gehalten werden miissen, wohin namentlich die Anwesenheit vieler
Verwandten und Freunde*), eine zu haufige Zusprache und zu starkes
Licht zu rechnen sind. Unter ganz Fremden und bei Abwesenheit
aller Blutsverwandten sind die Kranken in der Regel ruhiger und
leichter zu leiten. Widerspruch und Einreden gegcn ihre Vorstellun-
gen vertragen sie von Seiten der Angehorigen um so weniger, je mehr
ihnen diese friiher untergeben waren und je weniger Widerspruch sie
von dorther erwarten diirfen. Auch wirken Dienstboten, denen der
Kranke sonst zu befehlen pflegte, oftmals dadurch nachtheilig ein, dass
letzterer es nicbt ertragen kann, durch jene im Durchsetzen seines
Willens beeintrachtigt zu werden.
Die Anwendung irinerlicher Mittel, solcher namentlich, die auf
den Darmkanal wirken und die bei rechtzeitiger Anwendung so nutz-
bringend sein konnen, iibertreibe man ja nicht. Drastica und Acria
reizen den Darmkanal zu stark, sie rufen viele wasserige Stiihle und
Krampfe in den Eingeweiden hervor und bringen den Kranken eher
in Aufregung, als dass sie beruhigend wirkten. 1st der Stuhl trage,
wie sehr haufig in solchen Fallen, so passt ein Decoct, fol. Sennae mit
Tamarinden, dem man noch ein Mittelsalz* und ein oder zwei Grane
Brechweinstein zusetzen kann. Kommen darnach viele wasserige
Stiihle, so lasst man die Mischung seltener nehmen oder setzt sie auch
ganz aus. Besteht noch grosse Aufregung, dann ist es besser, man
giebt nur Brechweinstein mit Zucker in Pulverform, oder auch bei hef-
tiger Gefassaction mit Nitrum, zumal wenn die Esslust des Kranken,
wie es ja gewohnlich der Fall zu sein pflegt, sehr gesteigert ist. Wenn
iibrigens Nitrum einige Zeit lang gegeben wird, so verursacht es in
dieser Verbindung nicht seiten Magenstorungen, weshalb ich in solchen
Fallen den Brechweinstein fiir sich zu geben pflege. Manche Aerzte
haben die irrige Vorstellung, der Brechweinstein miisse in solchen
Fallen den Magen in einen gereizten Zustand versetzen und dadurch
als Derivans wirken. Giebt man ihn indessen in solcher Gabe, dass
er anhaltend Uebelkeit oder Erbrechen hervorruft, so tragt das kraftige
Mittel weit weniger zur Minderung der Hirnreizung bei, als wenn der
Magen nicht in solcher Weise afficirt wird. Die grosse Lebhaftigkeit
*) In einem Falle erzahlte mir ein Kranker naoh seiner Genesung, nichts
habe ihn mehr in Angst versetzt, als die Schatten auf einer Wand, welche da-
durch entstanden, dass Personen, die er nicht immer eehen konnte, an einer an-
geziindeten Lampe vorbeigingen. Diese Schatten hatte er fiir Geister und Teu-
fel gehalten.
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144            Behandlung der Mania idiopathica acuta.
und Aufregung wird am Besten durch dasselbe beschwichtigt, wenn es
in grosster Menge in den Korper ubergefuhrt wird, ohne dass Uebel-
keit oderDiarrhoe entstebt*). Das hangt von der Form ab, in welcher
man das Mittel verabreicbt, von etwaiger Verbindung mit andern
Mitteln, die auf die Bewegung der Gedarme von Einfluss sind, so wie
von der Zeit des Einnebmens.
Am besten habe icb, wie schon angefiihrt, die Pulverform mit
Zucker gefunden, manchmal aucb die Pillenform. Giebt man den
Brecbweinstein in wasserigerLosung, so erregt er leichter Erbrechen i
in der Verdiinnung mit Wasser wird er rascher von den Gefassen ab-
sorbirt, so dass in einem Momente eine grossere Menge des Mittels
mit dem Blute circulirt, wo es dann, wie die Experimente mit directer
Einspritzung in die Gefasse von Thieren gelehrt haben, durch seine
Einwirkung auf die Centren des Nervensystems, namentlich aufs
Riickenmark, rascber Erbrechen hervorruft. Das Pulver mit Zucker
wird mit weniger Wasser in den Magen gebracht, die Solution ist da-
her concentrirter und durch den mitgelosten Zucker dicker, die en-
dosmotische Aufnahme erfolgt langsamer und es kommt nicht so
schnell zum Erbrechen. Ohne Hinderniss kann man nun auch mit
der Gabe allmalig weit hoher steigen, als wenn das Mittel in wasse-
riger Solution verabreicht wird**). Daher kommt es vielleicht, dass
man nach sehr grossen Gaben bisweilen kein Erbrechen auftreten
*) Stellt sich gleich zu Anfang Uebelkeit oder Erbrechen ein, wornach dann
auch Diarih.be einzutreten pflegt, so wird der Kranke nicht nur bald geschwacht,
sondern sein Darm wird auch so empfindlich, dass er nur kleine Gaben von Tar-
tarus emeticus
vertragt, die nichts mehr niitzen. Auch schien mir dann mei-
stens die Lebhaftigkeit und die Unzufriedenheit des Irrsinnigen zuzunehmen.
Durch Unvorsichtigkeit hat man sich dann eines sehr wirksamen Beruhigungs-
mittels beraubt. Bekanntlich kann dieses Mittel auch bei Peripneumonie die Ge-
fassaction und die Entziindung kraftig herabstimmen, ohne dass es zu Erbrechen
oder Diarrhoe kommt. In einem Falle von heftiger localer Pachymeningitis, die
auf die pia mater ubergegangen und mit einem intensiven Kopfschmerze ver-
bunden war, bekam der Kranke vom Tart. emet. Erbrechen. Ich war gerade
bei ihm, und statt des kraftigen und vollen Pulses, wie bei starkerer Kopfcon-
gestion, fiihlte ich den Puis schwach. Wahrend des Erbrechens war der Kopf-
schmerz um Vieles gemindert. Dieser Kranke genas ubrigens vollkommen.
**) Ich pflege mit kleineren Gaben von 1/i bis y3 Gran pro doBi anzufangen,
die ich mehrmals im Tage wiederholen lasse. Bei einem Tobsuchtigen kann man
aber sogleich mit grosseren Mengen anfangen, und das Mittel wird dann auch
besser vertragen. Durch gleichzeitigen Gebranch von Sauren, z. B. in der Form
der Limonade, des Salats u. s. w., kommt es weit eher zu Uebe'keit und Er-
brechen.
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Behandlung der Mania idiopathica acuta.             145
sieht. In zwei Fallen, wo ein Irrsinniger aus Versehen eine Drachme
Tart. emet. auf Einmal bekommeu hatte, beobachtete ich weder Uebel-
keit noch Diarrhoe, iiberhaupt ausser einer gewissen Schwache
keine andere Erscheinung. Setzt man Abfiihrmittel irgend einer Art
zu, so vertragt der Kranke das Mittel bei weitem nieht in so grosser
Menge, als wenn er es unvermischt nimmt. Muss man wegen Trag-
heit des Stuhles bisweilen ein Laxans geben, und kommt es nicht
gerade auf eine sehr intensive Wirkung auf den Darm an, dann eignet
sich am besten ein Decoct, corf, rhamni frangulae.
Erbrechen tritt aucb leicbter ein, wenn der Brechweinstein ntich-
tern genommen wird. In der Regel lasse ich ihn daher nach dem
Friihstuck, nach dem Mittagsessen und Abends vor Bettgehen geben,
in den Zwisehenzeiten aber immer ein Stuckchen Zwieback dabei neh-
men. Bei solcher Verabreichung kann man auch leichter mit der Do-
sis steigen, und dabei macbt sich auch fortwahrend die eigenthiimliche
beruhigende oder deprimirende Wirkung aufs Gehirn geltend, so dass
der Kranke ruhiger und auch heller wird, und unter diesen giinsti-
gen Veranderungen oftmals rasch der Heilung entgegen geht.
In manchen Fallen, jedoch im Ganzen seltener bei Mania idio-
pathica,
wird der Brechweinstein nicht vertragen, so dass alsbald
Uebelkeit und Erbrechen oder Diarrhoe davon entsteht. Der Darm-
kanal befindet sich dann in einem erethischen Zustande, und durch
eine Emulsion oder durch andere besanftigende Mittel muss man diese
Empfindlichkeit erst abzustumpfen suchen, da es nurSchaden bringen
wiirde, wenn man den Brechweinstein ohne Weiteres fortgiibe.
Manchmal will auch ein Irrsinniger, weil er sich fur ganz gesund
halt, gar keine Arznei nehmen. Dann kann man den Brechweinstein
dem Essen oder dem Getrank zusetzen; das verlangt aber besondere
Vorsicht. Hat man mit einer zu starken Dosis angefangen, so merkt
es der Kranke vielleicht an der sich einstellenden Uebelkeit, oder er
schmeckt es auch wohl, wenn etwa dem Trinkwasser der Zusatz ge-
macht wurde; er wird dann argwohnisch und misstrauisch, halt alle
Speisen und Getriinke fiir vergiftet und will gar nichts mehr nehmen,
zumal wenn er bei langerem Gebrauche des Mittels den Appetit ver-
loren haben sollte. Uebrigens kommt das Verweigern der Speisen
mehr bei Mania sympathica vor.
Bestand friiher starke Esslust, so tritt diese beim Gebrauche des
Tart. emet. immer mehr zuriick. Nur setze man das Mittel nicht so
lange Zeit fort, dass die Esslust giinzlich verloren geht.
Schroeder v. d. Kolk, Geisteskrankheiten.                                                     in
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146             Behandlung der Mania idiopathica acuta.
Bessert sich der Irrsinnige bei dieser Behandlung, dann nimmt
seine Toleranz gegen den Tart. emet. ab, und ohne Uebelkeit oder Er-
brechen kann er lange nicht mebr die grossen Dosen vertragen, die
er wahrend der friiheren Aufregung taglich und anscheinend ohne
besondere Wirkung nahm. Die Regel ist demgemass folgende. Zu An-
fange der Krankheit steigt man mit der Dosis jeden zweiten Tag oder
auch wohl taglicb, bis sich eine Andeutung von Uebelsein kundgiebt,
und dann bleibt man mit der Dosis stehen. Wird im weiteren Ver-
laufe derKranke mebr berubigt, treten lucida intervalla ein, die durch
wiederkehrende Accesse grosserer Lebhaftigkeit unterbrochen zu wer-
den pflegen, obwobl die Krankheit fortwahrend abnimmt, so muss auch
die Gabe des Brechweinsteins herabgesetzt werden, und zwar in dem
Maasse, als der Kranke empfindlicher gegen das Mittel wird.
Calomel mit Bad. Jalappae, wovon man bei der Hirnentziindung
der Kinder oftmals so gliinzenden Erfolg sieht, habe ich in der Regel
bei Manie nicht in Anwendung gebracht. Die Gehirnaffection weicbt
bier nicht so schnell wie bei Kindern, man muss das Mittel langere
Zeit geben, und die etwa eintretende Salivation sah ich von einer
vermehrten Congestion begleitet werden. Die weniger vortheilhafte
Einwirkung dieses Mittels auf den Gesammtorganismus fiihrt ausser-
dem noch einen cachektischen Zustand und ein Verfallen des Kran-
ken herbei.
In der Reconvalescenz sei man darauf bedacht, dass der Kranke
nicht zu schnell den Einfliissen des gesellschaftlichen Umgangs aus-
gesetzt wird. Er behalt immer noch eine Zeit lang eine gewisse Er-
regbarkeit, und mehrmals habe ich, weil in dieser Beziehung die no-
thige Vorsicht verabsaumt worden war, einen unter Umstanden un-
heilbaren Riickfall eintreten sehen. Tagliche Spaziergange an nicht
gerade lebhaften Orten empfehlen sich; dagegen mussen noch einige
Zeit lang lebhafte Gesellschaften, Kaffeehauser, Musik und Alles, was
lebhaft aufregen konnte, vermieden werden.
Im acuten Stadium der idiopathischen Manie, wenn der Kranke
sehr aufgeregt ist und eine starke Hirnreizung besteht, mussen alle
Narcotica wegbleiben. In ein Paar Fallen sah ich zwar durch Digita-
lis,
zumal wenn sie im Infusum gegeben wurde, Ruhe eintreten in
dem Maasse, als der Puis durch das Mittel herabgestimmt wurde; al-
lein nach dem Aussetzen des Mittels, wenn es auch lange Zeit gegeben
worden war, trat meistens ein neuer Anfall ein, so wie der Puis sich
wieder hob. Im Allgemeinen schien mir die Digitalis nur ein Pallia-
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Mania idiopathica chronica.                         147
tivmittel zu sein. Gelingt es, durch Tartarus emeticus einen Kranken
zu beruhigen, so befindet er sich in der Regel auf demWege derHei-
lung. Das kann man aber von der Digitalis nicht sagen. Von Opium
und Morphium habe ich meistens nur nachtbeilige Wirkungen bei
jener Erregung des Gefasssystems beobachtet, es stellte sich Stumpf-
sinn ein oder auch eine gesteigerte Lebhaftigkeit. Bei anderen Irr-
seinsformen, wo mehr das Gefiihl gesteigert ist, ohne dass die starke
Aufregung im Gefasssysteme sich kundgiebt, namentlich bei sympathi-
scher Manie, konnen sie freilich sehr vortheilhaft wirken.
§.6.
Mania idiopathica chronica.
Es gelingt nicht iminer, die acute Manie beim ersten Auftreten
zur Heilung zu bringen. Auch wird der Arzt wohl erst gerufen, nach-
dem eine unzweckmassige Behandlung vorausgegangen oder auch gar
nichts angewendet worden war, so dass die fiir die Herstellung geeig-
netste Zeit verstrich. Manchmal ist aber auch die kraftigste Behand-
lung beim ersten Auftreten der Krankheit nicht im Stande, dieFolgen
der Meningitis und der Entziindung der Rindensubstanz zu verhtiten.
In alien diesen Fallen tritt der Kranke, wenn er nicht unter den Er-
scheiuungen der acuten Hirnentzundung erlag, mit mehr oder weniger
ungiinstigen Erscheinungen in das Stadium chronicum liber.
Die Heftigkeit der Krankheit ist jetzt im Abnehmen, die Tob-
sucht ist gemindert, und seltener stellen sich Anfalle von starker Auf-
regung ein; aber an die Stelle des friiher wechselnden Wahnsinns, wo
fast taglich neue Ideen und Plane auftauchten, ist jetzt mehr eine
bestimmte einzelne Vorstellung getreten. Statt des friihereii heftigen
und auffahrenden Wesens zeigen die Kranken manchmal mehr den
Charakter der Narrheit, sie sind still und in ihren Vorstellungen giebt
sich immer mehr eine allgemeine Verwirrtheit kund. Andere Male
tritt abwechselnd noch die grossereLebendigkeit hervor, wahrend der
Kranke im Ganzen von Einer Vorstellung beherrscht wird (Monoma-
nia);
nicht selten entwickeln sich dabei Hallucinationen, namentlich
im Gehororgane (wodurch die Prognose recht ungiinstig wird), und
der Kranke hort dann immer Stimmen, durch die er verfolgt wird,
oder er glaubt Verwunschungen und Lasterungen zu horen, oder als
Prophet empfiingt er Eingebungen von Gott und was dergleichen
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148                         Mania idiopathica chronica.
mehr ist. Bei vielfachen individuellen Verschiedenheiten, worauf das
Geschlecht, die Erziehung, der Stand, die friihere Bildung und Be-
schaftigung von Einfluss sind, giebt sich jedoch auch bei der chroni-
schen Mania idiopathica der Hochmuth als Grundton zu erkennen,
wobei nur die Ersclieinungen einen langsameren Verlauf nehmen.
Auch jetzt noch lasst sich der Kranke, manchnial ganz im Wider-
spruche mit seineni eigenen Vortheile, von gewissen Vorstellungen
beherrschen, die er nicht niederzuhalten vermag, und alles verniinf-
tige Zureden, womit ibm das Verkebrte oder Narrische seines Wahns
zum Bewusstsein gebracht werden soil, hat meistens nur den Erfolg,
dass er nach neuen Griinden sucht, wodurch er seinen Wahn verthei-
digen kann, und dass er, statt iiberzeugt zu werden, in der Kegel nur
noch mehr in diesen Wahn sich verrennt *). Wenn man diese domi-
nirende Idee so wenig als moglich beriihrt und den Kranken davon
abzieht, indem man seine Thatigkeit anderen Gegenstanden zulenkt,
wozu vor Allem, wenn der Kranke sich dazu eignet, Arbeit und Be-
scbaftigung das Ihrige beitragen kbnnen, so tragt man auf die wirk-
samste Weise zur Herstellung bei, und am sichersten iordert man auf
diesem Wege die Beruhigung des Geistes, gegeniiber den oftmals auf-
schiessenden verwirrten Vorstellungen.
Im Gesichte treten nun mehr und mehr die Zeichen der chroni-
schen Congestion oder der Meningitis auf; es hat nicht mehr eine
gleichmassige tiefere Fiirbung, sondern meistens ist die Nasenspitze
dunkler, und bei einem heftigeren Grade chronischer Entziindung nimmt
auch die Gegend oberhalb der Augenbrauen an dieser dunkleren Far-
bung Antheil (S. 51). Meistens fiihlt sich die Scheitelgegend heisser
an, aber auch wohl die Stirn oder das Hinterhaupt, wahrend je nach
Maassgabe des mehr oder weniger chronischen Verlaufes Hande und
Fiisse kiihl sind, die Hande gleichzeitig auch wohl etwas geschwollen
und bliiulich sich darstellen. Uebt man zwischen Hinterhaupt und
erstem Wirbel einen Druck aus, so fiihlt der Kranke manchmal einen
*) Solche Kranke wissen sich bei verfanglichen Fragen oftmals reoht gut zu
helfen. Ein Kutecher versioherte mir, er sei der liebe Gott. Bald darauf fragte
ich ihn, wo er geboren ware und welchen Beruf er ausgeubt habe, und diese
Fragen beantwortete er ganz ordentlich. Ich sagte ihm jetzt, dass ich nicht be-
greifen konne, wie er als der liebe Gott selbst es doch nicht weiter als bis zum
Kutscher gebracht hatte. Seine Antwort war, er sei allerdings schon vor Adam
da gewesen; Jesus sei ja aber auch in einem kleinen Dorfe geboren und sein
Vater eei ein Zimmermann gewesen.
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Mania idiopathica chronica.                         149
unangenehmen driickenden Schmerz im Kopfe: es spricht diese Erschei-
nung fur eineReizung und Blutiiberfiillung der Medulla oblongata, die
durch blutige Schropfkopfe im Nacken meistens abnehmen oder auch
ganz verschwinden. Manchmal zeigen sich die Ohren gerothet, was
von einer Congestion in der Schadelbasis und in den Wirbelschlagadern
herzuriihren scbeint.
Haufig wird der Kranke nocb von einem unersattlichen Hunger
beherrscht, zumal wenn er in der ersten Zeit gar nicht oder auf un-
zweckmassige Weise arztlich bebandelt worden war. Wie viel Spei-
sen er auch verschlingen mag, er verdaut sie in der Regel rasch und
nur selten leidet er an Indigestion, was um so mehr zu verwundern
ist, weil der Stuhl trage zu sein pflegt und die vorsichtige Anwendung
von auflosenden und ausleerenden Mitteln verlangt. Eutzielit man
dem Kranken die Speise und setzt man ibn auf eine sparsame Diat,
so wird er bose, unrubig, verdriesslich; bei Fortsetzung dieser Ent-
ziehung wird er schwacher und cachektisch, oder es tritt wohl auch,
zumal zur Winterszeit, Zehenbrand ein*). Einmal habe ich bei einem
jungen Menschen, der in heftige Wuth verfallen war, diese Gangran
kritisch auftreten sehen, so dass nach derselben der Irrsinn bald
schwand: es war fur hinreichende Kost gesorgt, er verlor aber an
zwei Zehen die Nagelglieder.
Im ferneren Verlaufe der Krankheit, zumal wenn sie sich zum
Bosen wendet, treten haufig Zeichen von Paralyse auf. Dabei fin-
det man oftmals die beiden Pupillen ungleich, und es ist vielleicht
ein leichter apoplektischer Anfall unbemerkt vorhergegangen; beide
Augen sehen aber noch gut. Es kann diese Ungleichheit der Pupil-
len schon friiher bestanden haben, vielleicht angeboren gewesen sein,
und dann hat sie nichts zu bedeuten. Steht sie aber mit dem Irrsinn
im Zusammenhang, dann gehort sie zu den ungiinstigsten Erschei-
nungen und es steht Apoplexie zu erwarten. Sie deutet daher im
*) Wahrend meiner friiheren Anstellung im Amsterdamer Krankenhause, wo
die Kost oftmals viel zu wiinschen iibrig liess, desgleichen auch in der ersten
Zeit zu Utrecht, wo die Irrenanstalt noch in einem bedauernswiirdigen Zustande
war, als mir die arztliche Inspection iibertragen wurde, habe ich mehrmals die
Pott'sche Krankheit gesehen, was mir spater bei besserer Einrichtung der Be-
kostigung nicht mehr vorgekommen ist. — Schon Pin el gedenkt der grossen
Mortalitat, der haufigen Recidive, der grosseren Auf'regung der Irren, der todt-
lichen Diarrhoen und Dysenterieen, die auftraten, als man das Speisequantum
in den Irrenanstalt en zu sehr herabsetzte.
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150                         Mania idiopathiea chronica.
Allgemeinen auf Unheilbarkeit, wenngleich ich in ein Paar Fallen
doch noch Heilung beobacbtet habe.
Mancbinal sind die Pupillen sehr verengt, nur Nadelkopf gross,
was immer als Zeichen starker Hirnreizung anzusehen ist*). Dazu
gesellt sich auch wohl eine Storung im Sprechen. Das fangt mit einem
Zucken um den Mundwinkel an, dann kann der Kranke die ersten
Worte nur mit Mtihe aussprechen, und weiterhin wird das Stammeln
immer starker. Eine Heilung solcher Kranken tritt nur selten ein.
Die Prognose bei der chronischen Mania idiopathiea muss natiir-
lich eine ungiinstige sein. Sie ist aber um so ungiinstiger, je heftiger
das fruhere Stadium auftrat, je mehr Zeichen der Meningitis friiherhin
hervorgetreten waren, je kraftiger die Constitution war, je leichter das
Gefasssystem in eine abnorme Thatigkeit versetzt wird, weshalb sie
auch bei Mannern ungiinstiger ist. Mit der langen Dauer des lrr-
seins nimmt in entsprechender Weise die Aussicht auf Genesung ab.
Im hohern Alter iiber 60 und 70 Jahre pflegt die Krankheit unheilbar
zu sein, zumal bei Mannern **).
Bei der mehr chronischen Form sind allgemeine Blutentziehungen
nicht mehr indicirt, es miisste denn ein apoplektischer Anfall noch
einen Aderlass verlangen: es tritt darnach leicht Collapsus ein oder
der Kranke verfallt in ein albernes Wesen. Dauert die Gehirnconge-
stion fort, wie es meistens der Fall ist, und giebt sie sich durch die
obengenannten Kopferscheinungen kund, durch Rothung der Nase und
der Ohren und zunehmende Verwirrung oder auch Abstumpfung des
Geistes, dann sind blutige Schropfkopfe im Nacken indicirt, oder in
deren Ermangelung Blutegel. Der Kranke wird meistens dadurch
nach einigen Tagen heller im Kopfe, fallt aber leicht wieder in den
*) Bekanntlich bewirkt der Oculomotor ius die Verengerung der Pupille, und
Reizung des Sympathicus, z. B. bei Wurmern, hat eine Erweiterung zur Folge,
die aber auch bei Hirndruck vorkomint. — Ich habe auch eine Entfarbung der
Iris beobachtet, oftmals in einem hohen Grade, und diese ist meistens ein Zei-
chen von Unheilbarkeit. Manchmal sah ich auch diese Erbleichung entsprechend
dem Irrsinnsgrade zu- und abnehmen. Bei Sectionen solcher Individuen fand ich
in der Kegel die Merkmale starker Entziindung im Gehirne.
**) Nach dem im Jahre 1848 erschienenen Berichte iiber die Hollandischen
Irrenanstalten, der sich iiber 5 Jahre verbreitet, wurden 2142 Individuen in die-
sen Anstalten verpflegt, und von den iiber 70 Jahre alten Individuen wurde kein
Mann geheilt, dagegen aber noch 17 Weiber. In dem die Jahre 1849 und 1850
betretfenden Berichte kommen erst zwei Fiille vor, wo Manner iiber 70 Jahre ge-
heilt wurden.
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Behandlung der Mania idiopathica chronica.          151
vorigen Zustand zuriick, so dass die namliche Cur indioirt sein kann,
zugleich wohl in Verbindung mit den friiher empfohlenen aussern
Mitteln, namlich den kalten Ueberschlagen auf den Kopf, den Ganz-
badeni, Fussbiidern u. s. w. Es passen dann besonders kraftige ab-
leitende Mittel, Vesicatore in den Nacken, oder auch ein Haarseil,
das meistens noch kraftiger wirkt. Manche empfehlen die Auten-
rieth'sche Salbe, die icb ebenfalls mehrfach mit Erfolg angewendet
babe. Nur verschieben die Kranken manchmal den Verband, verun-
reinigen die Finger mit der Salbe und bringen sie dann an die Augen,
was natiirlich scbiidliche Folgen haben kann. Uebrigens ist es mir
doch so vorgekommen, als wirke dieses schmerzvolle Mittel oftmals
mehr irritirend als ableitend, und deshalb habe ich es in den letzten
Jabren nicht mehr angewendet. Manchmal verlangt der Zustand des
Kranken das Anlegen eines Fontanells an den Waden, und ich habe
gesehen, dass der genesene Patient, wenn er das Fontanell unvorsich-
tiger Weise eingehen liess, ein Recidiv erlitt, welches mit Herstellung
des Fontanells wiederum gehoben wurde *).
Man suche ferner die Complicationen zu heben und die noch
heftige Hirnreizung und die Folgen des fruheren acuten Stadiums zu
beseitigen. Fur diesen Zweck ist auch jetzt noch in erster Linie der
Tartarus emeticus indicirt, bei dessen Verabreichuiig die vorhin ange-
gebenen Vorsichtsmaassregeln nicht ausser Acht zu lassen sind. So
grosse Dosen wie friiher kann man jetzt selten geben, man braucht
es aber auch nicht. Da- bei dieser chronischen Form meistens eine
zjihe Geduld und Ausdauer in Anspruch genommen wird, so darf man
das Mittel nicht in solchen Dosen geben, dass der Darm dadurch zu
sehr gereizt wurde. Einzelne Kranke vertragen allerdings auch gros-
sere Gaben gut, und die beharrliche Verabreichung fiihrt manchmal
zu einem glucklichen Ziele. In andern Fallen indessen verliert der
Kranke bei Fortgebrauch dieses Mittels den Appetit, oder er leidet
fortwahrend an Uebelkeit oder an Diarrhoe, fangt an abzumagern, be-
kommt ein cachektisches Aussehen, und bald hier bald da treten Fu-
runkeln auf, oder es bildet sich ein Ausscblag um die Lippen. Dann
ist cs hohe Zeit, mit dem Brechweinstein aufzuhoren. Sind aber die
*) Ein Fall der Art kam in der Utrechter Anstalt vor. Ein Mann hatte frii-
her ein offenes Bein gehabt und war dabei gesund gewesen. Nach dem Zuhei-
len des Beins verfiel er in Irrsinn, von dem er befreit wurde, als Fontanelle an
die Waden kamen. Diese Fontanelle liess er spater wieder zuheilen, und es kam
ein Recidiv des Irrsinns, welches bei Wiederherstellung der Fontanelle wich.
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152          Behandlung der Mania idiopathica chronica.
Krankheitserscheinungen noch sehr lebhaft und ist noch fernerhin eine
die Gehirnthatigkeit herabstimmende Curmethode in Anwendung zu
hringen, dann haben wir ein ausgezeichnetes und nur zu wenig ange-
wendetes Mittel am Cuprum sulphuricum. Dieses wirkt ebenfalls, nur
in etwas schwacherem Maasse, beruhigend aufs Nervensystem und
aufsGehirn, durch seine adstringirenden Eigenschaften verhalt es sich
aber noch bestimmter als ein Tonicum. Fast immer sah ich durchs
Cuprum sulphuricum die Esslust wiederkehren, und die wahrend der
Brechweinsteincur abgemagerten und zumCachektischen hinneigenden
Kranken wurden wieder gut genahrt; auch die Geistesverwirrung ver-
schwand dabei nicht selten vollstandig. Man giebt es in kleinerer
Dosis als den Brechweinstein, Anfangs z. B. zu l/6 Gran einige Male
taglich, und steigt darait langsam, wobei man darauf achtet, ob sich
Magenschmerz oder Uebelsein dabei einstellt. In mehreren Fallen
konnte ich audi grosse Dosen, selbst langere Zeit hindurch, ohne
Nachtheil geben; denn es wirkt nicht auf den Stuhl und schlagt nicht
durch, was der Brechweinstein so leicht thut*). Das Mittel hat nur
das Unangenehme, dass man es nicht gut anders als in Pillenform
geben kann, weil es den Kranken durch seinen unangenehmen Ge-
schmack bald zuwider wird. Einfach mit Succus Liquiritiae verbunden
wird es ohne Widerstreben genommen.
In einzelnen Fallen, wo der Brechweinstein nachtheilig einwirkte,
das schwefelsaure Kupfer der Form wegen auch keine Anwendung
finden konnte, die namliche Indication aber fortbestand, habe ich
Zincum sulphuricum versucht. Dasselbe wirkt auch nicht auf den
Stuhl, es wirkt aber auch weniger deprimirend auf das gereizte Gehirn,
und deshalb habe ich nur wenig Erfolg davon gesehen. Bei einer
Kranken, die gegen den Brechweinstein, bei dessen Gebrauche die
Aufregung abnahm, zu empfindlich war, wurde das Zincum sulphuricum
gegeben. Sie bekam vier Male taglich 2 Gran, ohne dass Uebelkeit
*) Einmal bin ich nach und nach bis zu der ganz ungewohnlichen Gabe von
13 Gran Cuprum sulphuricum, dreimal taglich, gestiegen. Die Kranke nahm das
Mittel in dieser Gabe einen Monat hindurch, und es trat dann rasch Genesung
ein. Jetzt steigerte sich aber innerhalb acht Tagen die Empfindlichkeit gegen
dieses Mittel dergestalt, dass sie nicht mehr V5 Gran ohne Uebelkeit oder Magen-
schmerz nehmen konnte. Die Frau blieb geheilt und gut genahrt, ohne dass nur
der geringste Nachtheil von dem Mittel aufgetreten oder zuriickgeblieben ware.
Man verwechselt dieses Mittel haufig mit dem Cuprum aceticum, wjlches frei-
lich zu den heftigen Giften gehort.
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Behandlung der Mania idiopathica chronica.           153
entstand; allein die Lebhaftigkeit und die Aufregung steigerten sich
wieder, und zugleich wurde der Stuhl trager, so dass Laxantia verab-
reicht werden mussten. Jetzt wurde Cuprum sulphuricum gegeben,
wodurch die Aufregung wieder abnahm, und die Kranke wurde ge-
heilt. In einem andern Falle gab ich das Zincum sulphuricum zu
1 Gran pro dosi viermal taglich, und zwar einige Wochen lang, ohne
Erfolg: der Stuhl wurde trage, die Zunge schmutzig, aber die Auf-
regung des Kranken liess nicht nach.
Durch Ipecacuanha sah ich zwar die Diarrhoe aufhoren, die Leb-
haftigkeit und die Aufregung der Kranken nahmen aber dabei zu.
Bei manchen Kranken in diesem chronischen Zustande muss der
Arzt wegen der fortdauernden Aufregung anhaltend solche deprimi-
rende Mittel geben, wobei sie dann wirklich ruhiger, stiller und fried-
lieher werden, auch weniger den Qualen ihrer irren Vorstellungen
unterliegen. Setzt man aber dann die Mittel aus, so kehrt die fruhere
Lebhaftigkeit und Aufregung wieder zuriick. Diese Erscheinung kann
sich, auch bei unheilbaren Irren, mehrmals wiederholen. Endlich bei
einem ungiinstigen Ausgange lasst die Reizung und die Aufregung des
Gehirns nach und die Kranken verfallen in Blodsinn oder in einen
solchen im Ganzen ertraglichen Zustand, dass sie in der Anstalt
wegen ihrer Folgsamkeit sich noch auf eine nutzliche und thatige Weise
beschaftigen konnen. Bei manchen tritt dieser aufgeregte Zustand
nur dann und wann hervor, namentlich im Friihjahre und im Herbste,
und diese kehren durch die genannten Mittel meistens bald zu ihrem
friiheren ruhigen Verhalten zuriick.
Oftmals leiden die Kranken in dem chronischen Stadium an Ver-
stopfung und tragem Stuhle, was nach meiner Meinung mit einer Af-
fection des Riickenmarkes zusammenhangt*). Das verlangt manch-
*) Die Neigung zum tragen Stuhl ist auch in der Regel starker, wenn die
Erscheinungen der Hirnreizung zunehmen. Sie kann daher eine Folge der Ma-
nia idiopathica
sein, gleichwie andererseits der trage Stuhl und die Neigung
zur Verstopfung haufig zur Manie fiihren, und zwar durch Reflex aus dem Unter-
leibe auf das Ruckenmark und Gehirn. Hieraus ist aber auch zu entnehmen,
dass die genannte abnorme Thatigkeit des Darms, falls sie aus einer Mania idio-
pathica
ihren Ursprung genommen hat, ihrerseits wieder auf den Kopf zuriick-
wirken kann. Aus diesem Grunde muss man auch bei Mania idiopathica immer
auf den Stuhl achten. — Bei heftiger localer Myelitis beobachtete ich die hart-
nackigste Verstopfung. Man hat deshalb auch bei Mania chronica auf den Zu-
stand des Riickenmarks zu achten. Durch blutige Schropfkopfe auf die afficirt^
Gegend kann der Stuhlgang gefordert werden.
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154          Behandlung der Mania idiopathica chronica.
mal die Anwendung kraftiger Mittel, z. B. des Decoct. Sennae mit
Tamarinden. Neuerer Zeit habe ich gern eine Abkochung des Cortex
JRhamni frangulae
(1 Unze auf 8 Unzen, mit einem Syrup versetzt,
3 bis 4 Male taglich zwei Loffel voll) genommen*). Recht gut wirkt
auch Extr. Aloes aquosum, am besten in Pillenform und mit einem
Zusatze von Brechweinstein. Da aber letzterer in dieser Verbindung
leicht Uebelkeit verursaclit, so darf er nur in kleiner Menge zugesetzt
werden. Giebt man das Extr. Aloe's aquosum fur sich ohne Brechwein-
stein, so muss man, um einen bleibendenErfolg zu erzielen, nach einiger
Zeit die Dosis steigern und mit dieser Steigerung immer weiter gehen.
Wird dagegen etwas Brechweinstein zugesetzt, z. B. 5 Gran auf 60 Pil-
len, wovon 4 bis 5 Male taglich 2 bis 4 Stuck genommen werden, so
nimmt die Reizbarkeit der Gedarme allmalig zu, so dass die friihere
Dosis nicht mehr vertragen wird, und man muss dieGabe fortwahrend
herabsetzen, bis zuletzt das Mittel gar nicht mehr nothig ist. — Viele
Aerzte lassen das Extr. Aloes aquosum nur am Abend, oder nur am
Morgen und am Abend in grosserer Dosis nehmen; davon habe ich
aber mehrmals iible Folgen gesehen. Die Aloe wirkt besonders aufs
Colon und ruft hier, wie ich bei der Mania sympaihica darthun werde,
krampfhafte Zusammenziehungen hervor. In Folge dieser Reizung
werden dann oftmals die harten Stoffe nicht durchgelassen, und der
Stuhl wird deshalb unregelmassig, indem wassrige Stiihle und Ver-
stopfung mit einander abwechseln. Ich nehme zu 60 Pillen 15 Gran
Extr. Aloes mit etwas Tart. emet. und der nothigen Menge eines bittern
Extractes, und lasse 4 bis 5 Male taglich 2 bis 3 Stuck nehmen. Doch
muss man auch damit bisweilen steigen. Wegen leicht eintretender
Uebelkeit muss der Tart.emet. oftmals noch mehr herabgesetzt werden;
die oben mitgetheilten Cautelen beim Gebrauche desselben haben aber
auch hier noch Geltung.
Die Neigung zu wassrigen Stiihlen, die mit Verstopfung wechseln,
ist eine hochst lastige, oftmals nur schwer zu beseitigende Erschei-
nung. Manchmal habe ich die Verbindung des Extr. Aloes aquosum
mit Cuprum sulphuricum sehr vortheilhaft gefunden, welches Mittel
wohl Monate lang in kleinen Dosen fortgegeben wurde. Zum Rheum
greife ich nur selten, weil es immer Verstopfung hinterlasst und da-
durch manchmal schadet.
*) Die Einde darf nicht von zu diinnen Aesten sein, sonst kann sie Brechen
erregen. Die Rinde von Bhamnus cathartica hat mehr soharfen Stoff und ver-
ursaoht Sehmerzen in den Gedarmen.
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Behandlung der Mania idiopathica chronica.          155
Um die Neigung des Colon descendens zu krampfhaften Zusammen-
ziehungen zu mindern, muss man bisweilen Antispasmodica zusetzen,
z. B. Extr. Belladonnae. Dadurch pflegt die Wirksamkeit des Extr.
Aloes aquosum
zuzunehmen, so dass man letzteres in kleinerer Dosis
geben kann. Auch jene Substanzen, welche besonders aufs Riicken-
mark wirken, wie Extr. nucis vomicae, Chinin. sulphuricum, desgleicben
Extr. Secalis cornuti aquosum, erhohen die Wirksamkeit des Extr.
Aloes aquosum
und wirken dadurch oftmals recht gut.
Am wirksamsten habe ich aber immer das Decoctum cort. Bhamni
frangulae
gefunden, was ich hiermit dringend empfohlen haben will.
Es hat die Eigenschaft, ohne Bauchgrimmen oder Schmerz zu verur-
sachen, eine feste Ausleerung zu beschaffen, und dabei hat es keinen
widerlichen Geschmack.
Wenn eine dick schleimig belegte Zunge auf eine besondere Rei-
zung der Schleimhaute des Verdauungsapparats hinweist, dann passt
eine Verbindung des Extr. Aloes aquosum mit Ammon. muriat.; da-
durch verschwindet diese Erscheinung meistens bhmen wenigen Tagen.
Mit dem Brechweinsteine muss man dabei vorsichtig sein; er wird
durch den Salmiak in der Regel zersetzt, und man hat ein starker
wirkendes Mittcl.
Wenn das Darmrohr sich in gereiztem Zustande befindet und die
im Colon angehauften Stoffe schwer fortgehen, so kann natiirlich auch
Ricinusol gute Dienste leisten; nur darf man dieses Mittel nicht in
anhaltenden Gebrauch ziehen*).
Versagt ein Kranker alles Arzneinehmen, und sieht man, dass die
Verwirrung des Geistes und die Aufregung in Folge des tragen Stuh-
les immer mehr zunehmen, dann kann manchmal noch das Oleum
Crotonis
Htilfe bringen, wenn man es in Pulverform zu 1/6 oder 1/J
Tropfen, oder auch in noch grosserer Menge, dem Essen zusetzt.
Frictionen des Unterleibes konnen an und fiir sich die peristaltische
Bewegung der Gedarme befordern; dagegen habe ich vom Einreiben
des 01. Crotonis in den Unterleib keine besondere Wirkung erfahren.
*) Besteht hartnackige Verstopfung und trager Stuhl, bo braucht man nicht
immer zu starken drastischen Mitteln zu greifen, die bei fortgesetzter Anwen-
dung nur immer unwirksamer werden. Ich habe Falle gesehen, wo man ohne
Erfolg zu ganz ungewohnlichen Gaben gestiegen war, und nachdem einige Blut-
egel ad anum gesetzt worden waren, bewirkten Mittelsalze meistens eine reich-
liche Entleerung, wozu es iriiher durch die starksten Mittel nicht gekommen war.
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156                              Hallucinationen.
§.7.
Hallucinationen.
Zu den unangenehmen unci storenden Erscheinungen des chroni-
sclien Stadiums gehoren die Hallucinationen oder Sinneseinbildungen,
deren ich schon weiter oben kurz gedacht habe. Sie variiren je nach
den verschiedenen Sinnesorganen, deren Wirkungsweise in den Ner-
ven, und namentlich wohl an den centralen Perceptionsstellen, eine
Stoning erleidet. Sie sind bei der sympathischen Manie nicbt aus-
gescblossen, vorziiglich aber begleiten sie die idiopathische Manie
und sind bier von ganz besonderer Bedeutung: meistens weisen sie
auf ein tiefes, nicht zu beseitigendes Leiden und auf eine Veranderung
des Gebirns bin, hervorgerufen durch weitere Ausbreitung der Me-
ningitis
nach der Tiefe und nach den Gehirnhohlen hin, welche mei-
stens paralytische Erscheinungen hervorzubringen pflegt. Nicht alle
Hallucinationen sind gleich bedeutungsvoll. Die Gesichtshallucina-
tionen, wobei der Kranke irrige Vorstellungen vonPersonen und Gei-
stern hat, kommen nicht gerade sehr haufig vor. Oftmals sind sie
bloss durch Congestionen nach den Sehnerven oder nach den Vier-
hiigeln bedingt, und dann verschwinden sie durch blutige Schropf-
kopfe im Nacken oder durch andere ableitende Mittel, Obne Zweifel
konnen sie aber auch mit tiefer eingreifenden und nicht mehr zu be-
seitigenden Veranderungen zusammenhangen. Im Allgemeinen sah
ich die Gesichtshallucinationen leichter verschwinden. Nicht so leicht
zu nehnien sind die Gefiihlshallucinationen, wenn man die bekannten
Empfindungen von Zucken und Ameisenlaufen in den Gliedmaassen
dazu rechnet, die gewohnlichen Symptome einer Congestion zum ver-
langerten Marke oder zum Gehirne, oder auch Vorboten eines apo-
plektischen Anfalls. Gefiihlstauschungen im Gesichte deuten auf eine
Veranderung des Trigeminus und sind in der Regel von ungiinstiger
Vorbedeutung.
Am haufigsten kommen die Gehorshallucinationen vor, die aber
auch die lastigsten sind, weil sie den Kranken unaufhorlich beunru-
higen und seinen Irrwahn unterhalten; denn in jenen Gerauschen
glaubt er meist die Stimmen von Personen und Geistern zu verneh-
men, die ihn verfolgen. Man darf nicht erwarten, ihn von dem Phan-
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Hallucinationen.                              157
tastischen der Wahrnehmung zu Uberzeugen*). Eine Beseitigung der
Gehorshallucinationen halt schwer. Bestand das Leiden nicht bereits
zu lange, dann gelang es mir bisweilen doch noch durch ableitende
Mittel oben im Nacken, durch Schropfkopfe, Fontanelle, Haarseile, es
zu heben. Manchmal kommen auch diese Hallucinationen bei Mania
sympathica
vor, wo sie dann meistens mit Congestionen zum Uterus
und mit Menstruationsstorungen in Zusammenhang stehen, und sie
sind dann nicht so anhaltend und auch leichter zu beseitigen. Im
Ganzen ist es mir so vorgekommen, als ob jene Kranken, die nur ein
Gefliister zu horen glauben, eher genesen, als andere, denen deutlich
ausgesprochene Worte zum Ohre gelangen. Die Prognose ist um so
iibler, wenn diese Hallucinationen fortwahrend und ohne alle Dnter-
brechung auftreten. Bei manchen Kranken werden sie durch andere
Gerausche erweckt, z. B. im Gesange der Vogel glauben sie Stimmen
zu vernehmen.
Nach vielen vergeblichen Versuchen, diese lastige Erscheinung zu
heben, kam ich endlich auf den Gedanken, ob bei diesen Gehorshallu-
*) Eine recht gebildete Frau, die unaufhorlich solche Stimmen horte und
sich von geheimen Personen verfolgt wahnte, Hess ich in's offene freie Feld ge-
hen, wo Niemand im Verborgenen weilen konnte. Ich fragte sie, ob sie die
Stimmen auch hier noch horte und ob sie auch bier noch an verborgene Per-
sonen glauben diirfe, oder nicht vielmehr zugeben musse, dass es ein Phantasma
oder ein Traum im wachen Zustande sei? Denn im Traume horten wir ja auch
manchmal Personen reden, die nicht anwesend sind. Ihre Antwort war, sie konne
allerdings nicht angeben, wo die von ihr gehorten Personen sich befanden, sie
sei jedoch ganz bei VerBtande, und ihre eigene Wahrnehmung und ihr Bewusst-
sein konne sie sich doch nicht ableugnen; es mussten demnach Personen oder
Geister sein, die im Boden oder hinter den Wolken verborgen waren, und die
sie zu deutlich vernahme, als dass sie sich durch Andere sollte irre machen las-
sen. — Eine arme Frau klagte mir ihre Noth, dass sie fortwahrend vom Teufel
verfolgt wiirde, der allerlei Gotteslasterungen gegen sie losliesse, und zwar um so
arger, je mehr sie sich abmiihte, nicht darauf zu achten, manchmal aber auch
dann, wenn sie selber sprache und lebhafter ware. Sie war schon zum Geist-
lichen gegangen, der ihr den Teufel bannen sollte, und dieser hatte die Frau
verstandiger Weise an mich gewiesen. Ich fragte, in welchem Ohre der Teufel
immer zu ihr redete. Sie wunderte sich uber die Frage, die sie sich selbst noch
nicht aufgeworfen hatte, erkannte aber jetzt, dass die Sache immer im linken
Ohre spielte. Ich erklarte ihr nun, es sei eine Gehorkrankheit, die wohl hin
und wieder vorkomme, und sie wurde zweifelhaft; sie zu uberzeugen, gelang aber
doch nicht, und alle angewandten Mittel blieben erfolglos. Ich kenne iibrigens
nur diesen einen Fall, wo die Hallucinationen sich auf Ein Ohr beschrankten. —
Mir ist der Fall bekannt, dass ein Mann sein Haus in Brand gesteckt hatte, um
dadurch die heimlichen Geister auszutreiben, die ihn tagtaglich durch ihre Reden
quiilten.
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158                                    Hallucinationen.
cinationen niclit vielleicht eine locale Congestion und ein Klopfen in
kleinen Arterien zu Grunde liegen mochte; denn bei Sectionen sol-
cher Individuen hatte ich mehrmals das Vorhandensein einer Menin-
gitis chronica
im vierten Ventrikel erkannt. Ich versuchte deslialb
ein Infusum Digitalis, um dadurch moglicher Weise die Action der
Pulsadern zu beschranken, und unter alien Mitteln hat mir dieses
noch die erspriesslichsten Dienste geleistet. Mehrmals trat bei fort-
gesetztem Gebraucke der Digitalis eine Abnahme der Hallucinationen
ein und zuletzt blieben sie ganz aus. In ein Paar Fallen kehrten die
Hallucinationen wieder, wenn mit dem Mittel aufgehort wurde, sie
zeigten sich dann aber wohl in einem anderen Grade. Natiirlich hat
mir audi in manchen Fallen die Digitalis gar nichts geholfen. Im
Allgemeinen indessen mildert sie das Leiden und macht den Zustand
des Kranken ertraglicher. Nur Eines Falles will ich in dieser Bezie-
hung hier gedenken. Ein Mann von 40 Jahren verfiel durch Miss-
brauch von Spirituosis in Manie mit Gehorshallucinationen, was ja
gar nicht so selten beobachtet wird. Ueberall glaubte er seine Freunde
zu horen, die in der Anstalt versteckt sein miissten. Bei seiner Leb-
haftigkeit und de-m rothen Gosichte bekam er Tartarus emeticus in
steigender Dosis: er wurde dadurch ruhiger, aber die Hallucinationen
hcirten nicht auf. Durch ein Fontanell im Nacken trat zwar eine
Abnahme der Hallucinationen ein, doch kehrten sie zwischendurch
immer wieder zuriick. Ich gab nun Datura Stramonium, das von
Manchen geriihmt worden ist; es brachte aber auch keine Verande-
rung hervor. Jetzt griff ich zum Infus. Digitalis und setzte es liin-
gere Zeit fort: der Puis fiel dabei auf 50 Schlage und der Kranke
wurde recht schwach, aber die Hallucinationen horten auf. Die Di-
gitalis
wurde ausgesetzt und durch andere Mittel wurden die Krafte
gehoben, jene lastige Erscheinung kehrte aber nicht wieder. Der Mann
war so weit gebessert, dass er wieder ins Leben eintreten konnte,
wenngleich seine geistige Thatigkeit den friiheren Grad von Klarheit
noch nicht wieder erreicht hatte.
Auch in den iibrigen Sinnen kommen Hallucinationen vor. Im
Allgemeinen ist es ein tibles Zeichen, wenn der Kranke iiberall einen
schlechten Geruch wahrzunehmen glaubt. Auch das Geschmacks-
organ kann Sitz der Hallucinationen sein, und es giebt Kranke, die
allerlei Abfalle und Unreinlichkeiteu, ja sogar den eigenen Koth ver-
schlingen. Das ist meistens eine sehr ungiinstige Erscheinung, die
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Ohrblutgeschwulst.                                 159
auf eine erhebliche Hirnaffection hiuweist. Doch babe ich ein Paar
Male auch bei solchen Kranken noch Genesung beobachtet.
Unter den Ursacben der Hallucinationen ist Alles zu nennen, was
die Congestion nach dem Kopfe vermebren kann: trager Stubl, Men-
struationsstorungen, Hamorrhoiden, Missbraucb von Spirituosen, und
hauptsachlich auch noch Onanie. Mehrmals sah ich die bereits ge-
bobenen Hallucinationen durch Onanie wieder zum Vorschein kom-
men. In einem Falle hatte ich durch Massigung der Gehirncon-
gestion die Hallucinationen ganz beseitigt, nach einiger Zeit aber,
wahrend der Reconvalescenz, stellte sich neue Hirncongestion durch
wiederbeginnende Onanie ein, der ich aber gliicklicher Weise bald
ein Ziel setzen konnte. Der Kranke erzahlte mir, er babe diesmal
in derselben Weise, wie er friiher die Stimmen horte, ein Sausen em-
pfunden, ohne dass es weiter ging. Ich wirkte auf den Stuhl und
deprimirte die Gefassaction, wodurch auch dieses Sausen verschwand.
Nase und Ohren, die wahrend des Anfalls gerothet waren, bekamen
in der Genesung ihre natiirliche Farbe wieder.
§•8.
Ohrblutgeschwulst.
Mir ist diese Erscheinung vorzugsweise bei Mania idiopathica
vorgekommen. Auch habe ich sie nur bei Mannern beobachtet, was
eben so von anderen Autoren bebauptet wird. Nur wenige Beobach-
tungen sprecben auch fiir ein Vorkommen bei Weibern. Die Ohr-
muschel schwillt bis zu einer Dicke von 1 bis l1^ Zoll und selbst
wobl noch mehr an, und dadurch wird dieser Theil ganz missgestaltet.
Manchmal sind beide Ohren ergriffen. Oeffnet man die Geschwulst,
so fiiesst Blut aus. Spaterhin zieht sich die Ohrniuschel mehr oder
weniger zusammen.
Ueber die Prognose weiss ich nichts Bestimuites anzugeben.
Manche Kranke sah ich trotz der Ohrblutgeschwulst genesen, und das
kam auch in einem Falle vor, wo beide Ohren ergriffen waren. Bei
anderen, und das war die grossere Anzahl, bestand bereits unheilba-
rer Irrsinn. Ueble Folgen habe ich nicht davon gesehen.
Die Eroffnung der Geschwulst ist nicht immer geboten, obwohl
dieselbe bei grosser Spannung gute Dienste leisten kanu, und nach-
theilige Folgen davon von mir wenigstens nicht beobachtet worden
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160                    Besserung der Mania idiopathica.
sind. Es tritt allmalig Resorption ein, ohne dass die Geschwulst er-
offnet wird; oder aber durch Breiumschlage kommt es zur Vereite-
rung und weiterhin zum Einschrumpfen.
Es kann leicht der Yerdacht entstehen, dass der Geschwulst eine
vorausgegangene Misshandlung zu Grunde liegt. Ich habe jedoch
einen Fall beobaclitet, wo eine Irrsinnige diese Anklage laut werden
liess, die aber durchaus unbegriindet war. Denn die Person bekam
spaterhin, ohne alle Veranlassung, eine ahnliche Blutgeschwulst am
anderen Ohre.
§.9.
Zeitpunkt der Besserung.
1st die Mania idiopathica bereits ins chronische Stadium iiber-
gegangen, dann pflegt die Genesung nur langsam einzutreten. Das
aufgeregte Wesen tritt mehr zuriick, der Kranke wird ruhiger und
bringt die Nachte besser zu, Zureden und verniinftige Grunde maclien
eher einen Eindruck auf denselben, er wird nicht mehr so vollstan-
dig von seinen dominirenden Ideen beherrscht, auch kann er wohl
wieder Aufmerksamkeit beim Lesen und im Gespraehe entwickeln,
was ihm friiher nicht moglich war*). Immer haufiger treten lucida
intervalla
ein, wo der Kranke iiber das Verkehrte seiner friiheren
Vorstellungen mit sich im Klaren ist. Die Besserung schreitet nun
unmerklich fort, der Kranke tritt mit seinen verkehrten Vorstellungen
weniger hervor, und es ist im Ganzen auch besser, nicht darauf zu
kommen, wenn er nicht selbst davon anfangt. Manchmal ist auch
das Irrsein ganz plotzlich wie durch einen Zauber verschwunden; doch
kommt dieses mehr bei Mania sympathica vor, wo das Gehirn nur se-
cundar leidet.
Indessen nicht immer verlauft das chronische Stadium der Krank-
heit in der Weise, dass der gereizte Zustand unter der angegebenen
Behandlung mehr und mehr zuriicktritt und damit die Gesundheit
wieder kommt. Haufig genug treten die entgegengesetzten Verande-
rungen ein. Der Kranke wird schwacher, stiller, apathisch; der Puis
*) Manche an chronischem Irrsinne Leidende sprechen, abgesehen von ihrer
verkehrten Idee, ganz verstandig iiber andere Dinge. Es kommt dabei auf den
Grad der Hirnaffection und des Irrsinns an, die vorausgegangen sind, sowie auf
den mehr oder weniger aufgeregten Zustand des Kranken.
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f
Besserung der Mania idiopathica.                     161
ist klein, die Hiinde kiihl, derKopf aber zeigt nochimmer eine hohere
Temperatur; die chronische active Hirnaffectiou gestaltet sich mehr
zu eiper passiven, und der Kranke droht der Albernheit oder de*»
Blodsinn anheira zu fallen; rnanehmal zeigen sich die ersten Anfange
einer Paralyse beim Sprechen und in einem Zittern urn den Mund-
winkel*). Unter solchen Umstandeu ist nun die friihere herab-
stimmende Behandlung nicht mehr indicirt; fortwahrend muss aber
noch fiir geregelten Stuhl Sorge getragen werden, weil Verstopfung
auch jetzt noch nachtheilig auf den Kopf einwirken und somit die
vielleicht noch mogliche- Heilung verhindern kann. Jetzt ist eine ex-
citirende Curmethode am Platze, und namentlich passen I'lores Arni-
cae.
Ich gebe dieses ausgezeichnete Mittel als Infusum (\l/.2 bis 2
Drachmen auf 6 bis 8 Unzen Colatur) und setze wohl etwas Acid,
sulph. dilut.
zu, um die Gefasserregung zu massigen, oder nbthigen-
falls auch ein Laxans, z. B. Aq. laxat. Vienn. Allmiilig wird mit der
Dosis gestiegen. Vom rechtzeitigen Gebrauche dieses Mittels habe
ich mehrmals die herrlichsten Erfolge gesehen. Die Kranken erwa-
chen langsam aus einem schlafartigen und stumpfsinnigen Zustande,
sie erscheinen lebhafter, die weniger kiihlen Hande und der bessere
Radialpuls deuten auf eine mehr gleichmassige Circulation, es verliert
sich der dumme Gesichtsausdruck ufid das Auge wird lebhafter, der
Appetit, der vielleicht durch den langern Gebrauch des Brechwein-
steins gelitten hatte, hebt sich und die Ernahrung nimmt zu, der ca-
chektische Zustand mit Neigung zur Furunkelbildung verschwindet
und die Genesung schreitet regelmassig fort.
Ist der Kranke noch mehr geschwacht und der cachektische Zu-
stand starker entwickelt, besteht Neigung zur Diarrhoe oder ein was-
sersiichtiger Zustand, collabirt der Kranke immer mehr, dann gebe
ich lieber die Radix Arnicae im Decoct, lft bis 1 Unze auf 7 Unzen
und davon 4 bis 5 Male taglich 2 Essloffel. Die Aerzte pflegen die-
sem vorziiglichen Mittel, namentlich in der Armenpraxis, nicht die
gehorige Beriicksichtigung zu schenken; das Excitirende der Flores
Arnicae
vereinigt sich darin mit mehr tonischen Eigenschaften. Selten
hat mich dieses Mittel im Stiche gelassen, wenn eine erschopfendo
Diarrhoe zu bekampfen war. Nicht minder gut wirkt es aber auch,
*) Manchmal lasse ich einen Kranken schreiben. Haben seine Buchstaben
jetzt ein anderes Aussehn, sind die Iiinien mehr sohief, ist die Sehrift mit einem
"Worte verandert, so ist nach meiner Erfahrung die Herstellung eines soleheu
Kranken nieht zu erwarten.
Schroeder v. d. Kolk, Gei3te3kranklieiten.                                                      11
t;
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162                    Besserung der Mania idiopathica.
wenn keine Diarrhoe da ist, und in manchen Fallen von chronischer
Manie ist es mir noch gelungen, den hoffnungslosen Zustand durch
dieses Mittel der Besserung zuzufiihren.
Auch bei solchen, die durch Onanie erschopft waren und schon
dem blodsinnigen Zustande verfallen zu sein scliienen, habe ich durch
Rad. Arnicae noch Genesung eintreten sehen: es kommt nur darauf
an, ob wiihrend des Verlaufs der Meningitis bereits unheilbare- Zer-
storungen im Gehirne zu Stande gekommen sind. Mit Vortheil habe
ich auch manchmal FJor. Arnicae und Bad. Arnicae zusammen ge-
geben, wenn eine kraftigere Erregung gefordert zu sein schien. Mei-
stens wird durch Radix Arnicae die Anwendung der China uberflussig
gemacht, die zwar als Tonicum wirkt, dabei aber der erregenden
Wirkung aufs Nervensystem eutbehrt, wodurch sich die Radix Arnicae
auszeichnet. Besonders empfiehlt sich noch die Arnicawurzel wegen
des niedrigeren Preises in der Armenpraxis. Bei stark entwickelter
Cachexie habe ich mehrfach Flor. Arnicae und Cort. Chinae mit gutem
Erfolge verbunden.
Treten beim Gebrauche dieser Mittel Zeichen von Hirncongestion
und von starkerer Aufregung des Gehirns hervor, so versucht man
durch blutige Schropfkopfe und andere Ableitungsmittel im Nacken
entgegen zu wirken. Manchmal ist aber auch die Reizbarkeit des
Kranken noch zu machtig, undes tritt grossere Aufreizung imNerven-
systeme beim Gebrauche der Arnica hervor. Dann ist die chronische
Meningitis noch mehr im activen Stadium, und man muss einige Zeit
hindurch nochmals zur beruhigenden Curmethode zuriick kehren.
Auch gegen die unfreiwilligen Stuhl- und Urinentleerungen, die
in diesem Stadium so haufig sich einstellen, ist Radix Arnicae indicirt,
falls der sonstige Zustand des Kranken dem nicht entgegen steht.
Zeigen sich paralytische Erscheinungen, z. B. Zucken um den Mund-
winkel beim Sprechen, Stammeln, erschwertes Gehen, so kann die
Arnica noch immer vortheilhaft wirken, und beobachtete ich in einigen
Fallen der Art doch noch Genesung.
Die Nux vomica kann beim Eintritte paralytischer Erscheinungen
auch vortheilhaft wirken und dem weiteren Fortschreiten bis zum
Blodsinn Einhalt thun. Indessen habe ich von ihr doch seltener
gliickliche Erfolge beobachtet als von den Flores Arnicae.
Riihrt die Schwache nicht sowohl von Herabstimmung des Nerven-
systems her, als von Cachexie und von geringerer Plasticitat der Safte,
die sich manchmal durch hydropischeErscheinungen kundgebenund auch
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Besserung der Mania idiopathica.                    163
neben der vom Nervensysteme ausgehenden Schwache vorkommen
konnen, dann sind Martialia amPlatze. Als Tonicum niitzt aber auch
das Eisen oftmals bei Nervenaffectionen, ohne dass die Empfindlichkeit
des Nervensystems durch dasselbe gesteigert wird.
Auch kraftige Derivantia konnen unter solchen Umstanden in
Anwendung kommen, z. B. Ungt. Autenriethii in den Nacken oder auf
den Scheitel, wobei man aber auf Eiteransammlungen unter der Haut
achten muss, die sich bei langerer Anwendung dieser Salbe leicht
bilden*). Auch kann man wohl eine Moxa am Schadel abbrennen,
wozu sich Baumwolle mit Salpeter getrankt am meisten eignet. —
Mehrmals habe ich auch einen Einschnitt auf der Hcihe des Scheitels
gemacht, am besten in querer Richtung, damit die Wunde besser
klafft, und bis auf's Pericranium. Eine solche Incision ist nicht ge-
rade sehr schmerzhaft, auch ist sie rasch gemacht. Die eintretende
Blutung dient zugleich als Ableitung. In die Schnittwunde bringt man
ein Paar kleine Erbsen, um die Eiterung zu unterhalten. Ein Paar
Kranke habe ich dadurch noch hergestellt. Nachtheile habe ich von
diesem Verfahren, zu dem ich nicht selten griff, niemals gesehen; doch
muss ich bemerken, dass andere Aerzte mir versicherten, allerdings
dergleichen beobachtet zu haben.
Gelingt es nicht, den Kranken durch diese Mittel herzustellen,
so collabirt er allmalig immer mehr, er wird ganz albern und stupid,
und meistens treten auch mancherlei paralytische Erscbeinungen auf,
indem z. B. der Gang unsicher, das Gesicht abgestumpft wird. Ein
apoplektischer Anfall pflegt zuletzt dem ungliicklichen Lebcn ein Ende
zu bereiten.
*) Man muss dabei auf die Bereitungsweise dieser Salbe achten. Setzt man
WaBser zum Brechweinsteine, bevor er mit dem Futle gemengt wird oder auch
wiihrend dieser Mengung, so lost er sich theilweise auf. Er ist dann feiner ver-
theilt, wirkt kraftiger und wird leichter absorbirt, so dass ich von der Anwen-
dung einer so bereiteten Salbe wiederholtes Erbrechen und Diarrhoe nebst gros-
ser Depression des gesammten Organismus beobachtet habe. Wird der Brech-
weinstein fur sich in Pulverform unter das Fett gerieben, dann tritt diese allge-
meine Wirkung von der Salbe nicht leicht ein. Unter Umstanden konnte also
da, wo man keine Arzneimittel eingeben kann, die erstgenannte Salbenfonn an-
wendbar sein.
11
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164                                Stumpfsinnigkeit.
§• 10.
Stumpfsinnigkeit.
4
Von der eigentlichen Stupiditat ist jener Zustand von Betaubtsein
und Stumpfsinnigkeit zu unterscheiden, welchen Etoc Demazy ge-
nauer beschrieben hat. Der Kranke sitzt hier unbeweglich da, ohne
auf eine P'rage zu antworten, er bewegt die Augen nicht, deren Pu-
pillen vibrigens nicht immer erweitert sind, er wendet seine Aufmerk-
samkeit keinem einzelnenGegenstande zuund scheint ganz gedankenlos
zu sein. Bei hoheren Graden des Uebels wird sogar der Mund nicht
immer geschlossen und der Speichel fliesst fortwahrend iiber dasKinn
herab; ja selbst der Hunger scheint nicht immer gefiihlt zu werden,
der doch Idioten gewohnlich noch in Unruhe versetzt. Harn und
Stuhl gehen dann auch wohl unwillkiirlich ab.
Etoc Demazy findet in diesem Zustande ein Oedema cerebri
und ich -will ihm nicht gerade widersprechen; doch fand ich das Gehirn
nicht immer weicher, wohl aber zusammengedriickt, mit abgeplatteten
Windungen Druck auf die graue Rindenschicht scheint mir daher
die wesentliche Veranlassung dieses Zustandes zu sein.
EinzelneKranke sahEtoc Demazy genesen, doch giebt er selbst
zu, dass seine Therapie manches zu wiinschen lasst. In der That em-
pfiehlt er ohne Unterschied und in demselben Satze Purgantia, Diu-
retica, Sudorifica, Sialagoga
und Bevellentia. Er theilt auch einen Fall
mit, wo durch ein grosses Blasenpflaster iiber den Kopf Genesung
herbeigefiihrt wurde.
"Wie schwer auch die Erscheinungen auftreten mogen, man darf
solche Kranke nicht mit eigentlichen Blodsinnigen verwechseln und
fur unheilbar halten. Ich habe mehr denn einen Kranken der Art
genesen sehen, hauptsachlich durch Incision der Kopfschwarte. In
einem Falle wirkte ein Haarseil mit gleichzeitiger Ableitung durch
den Darmkanal, sowie das Hervorrufen der Menstruation. Blutige
Schriipfkopfe im ^Jacken konnen auch vortheilhaft wirken.
§. 11.
Blodsinn und Idiotismus.
Ich will mich nicht in eine ausfuhrlichere Schilderung der ver-
schiedenen Zeichen rles Blodsinns {Dementia) einlassen, aus deren Ge-
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Blodsinn und Idiotismus.                            165
8ammtheit sich deutlich entnehmen lasst, dass hier ein unlieilbarer
Zustand vorliegt. Nur darauf will ich hinvveisen, dass solche Kranke
bei guter Behandlung noch reclit folgsam und niitzlich sein konnen:
sie sind in der Regel die eifrigsten und arbeitsamsten Bewohner der
Irrenanstalten, und bei einer sanften Behandlung lassen sie sicb ganz
gut leiten und sind sehr gewillig. Je zweckmassiger mit ihrer psychi-
schen Behandlung vorgegangen und je mehr dafiir gesorgt wird, dass
alle Leidenschaften undAufwallungen von ihnen entfernt bleiben, desto
ruhiger pflegt es in einer solchen Anstalt herzugehen.
1st Apoplexie vorausgegangen, dann treten in der Regel mehr
oder weniger entschiedene paralytische Erscheinungen auf. Bei mauchen
Individuen leidet das Gedachtniss, und zwar- manchmal nur das Wort-
gedachtniss: sie geben dann jedem Binge einen andern Namen, reden
z. B. von einemHause, wenn sie Brot verlangen, werden dadurch ganz
unverstandlich und erbossen sich wohl, wenn man nicht versteht, was
sie wollen. Andere verlieren das Gedachtniss ganz und gar und leben
nur noch in ihrer Jugendzeit, deren Erinnerung ihnen geblieben ist.
Noch andere werden immer mehr paralytisch, oder es treten auch epi-
leptische Anfalle bei ihnen auf.
Ueber Idiotismus oder angebornen Irrsinn schweige ich ganzlich.
Nur eine psychische Einwirkung vermag hier bisweilen noch etwas,
nicht aber eine iirztliche Behandlung. Diese Zustande fallen daher
nicht in mein Gebiet.
B. Sympathisehes Irrsein.
§• 1-                                •
Einleitung.
Man kann wieder einige Unterarten der Mania sympathica unter-
scheiden, je nach den verschiedenen Theilen, 'welche primarer Sitz der
Krankheit sind, und von wo aus dieselbe secundar auf das Gehirn sich
ausgebreitet hat.
Mussen wir auch das Gehirn als das Instrument ansehen, wodurch
die verschiedenartigon Eindriicke der Seele iibergeben werden, so sind
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166                Erkliirang des syrnpathischen Irrsinns.
doch die pathologischen Eindriicke und Wahrnehmungen je nach dem
Orte, von wo sie ausgehen, sehr von einander abweichend. 1st eg doch
eben so, wenn im gesunden Zustande Eindriicke und Reize aus dem
Magen, oder von den Gedarmen, oder von den Geschlechtstheilen,
oder von den Brustorganen zum Bewusstsein gelangen. Dabei be-
steht aber der wesentliche Unterschied, dass wir im gesunden Zustande
gewbhnlich fiihlen, von wo die Reizung oder die Aufregung ausgeht,
wahrend dies bei der sympathiseben Manie gar nicht oder doch in der
Regel nur in einem schwachen Grade und hochst undeutlich der Fall
ist. Die Erkennung des eigentlichen primaren Sitze3 der Krankheit,
aus welcher das sympathische Hirnleiden hervorgegangen ist, fallt
dcshalb weit schwieriger als bei der idiopathischen Manie, undmeistens
lasst sich nur aus dem Charakter des Irrsinns dieser Sitz erschliessen.
Nur durch fortgesetzte und wiederholte Beobachtungen an vielen
Kranken kann man sich in dem Labyrinthe der verscbiedenen Er-
schcinungen zurecht finden, um mit einiger Sicherheit den urspriing-
lichen Sitz und den Ausgangspunkt der Krankheit zu bestimmen. Da
nun aber die Kenntniss dieses primaren Krankheitssitzes fiir die The-
rapie der syrnpathischen Manie von hocbster Wichtigkeit ist, so bin
ich seit Jahren bemiiht gewesen; durch Vergleichung des Leichenbe-
fundes mit der vorliegenden Krankengeschichte mehr oder weniger
zuveidassige Kennzeichen ausfindig zu machen.
§.2.
Physiologische Erkliirung der syrnpathischen Manie.
Da bei dieser Art des Irrsinns das Gehirn erst secundar leidet
in Folge des Verbandes zwischen den verscbiedenen peripherischen
Organen und dem Centralnervensysteme, so wird es begreiflich, dass
die Geistesverwirrung dabei keinen so hohen Grad erreicht und der
Verlauf der Krankheit auch ein langsamer ist. In der That pflegt die
sympathische Manie mit andern Erscheinungen aufzutreten als die
idiopathische.
Die vom Gehirn und von dessen Hauten ausgehende Reizung cha-
rakterisirt sich durch Raschheit im Handeln, durch Lebhaftigkeit der
Phantasie, auch wohl durch erhohtes Selbstgefiihl, durch ein stolzes
und hoffartiges Benehmen; bei der secundaren Hirnaffection dagegen
hat die Congestion einen mehr passiven oder venosen Charakter, die
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*                          *
Erklarung des sympathischen Irrsinns.               167
Hirnreizung ist dabei nicht so bedeutend, es leidet vornehmlich das
Gemiith, und manchmal zeigt sich ein Gefiihl von Druck und Schwere
im Kopfe.
Mit wenigen Ausnahmen erscheint der mit sympathischer Manie
Behaftete weniger aufgcregt, sondern er wird durch ein nicht niiher
bekanntes Angstgefiihl bedriickt, das er nicht los werden kann. Da
er den Grund dieses Gcfiihls meistens nicht im eigenen Korper zu
finden vermag, sich vielmehr eben so fur gesund halt, wie ein an idio-
pathischer Manie Leidender, so sucht er die Ursache seines Leidens
in ganz anderen, meist aussei'halb seines eigenen Organismus gelegenen
Verhaltnissen.
Wir miissen nun festhalten, dass die Aeusserungen des Gehirns
nicht durch ein besonderes Gefiihl von Schmerzhaftigkeit sich kund
geben, vielmehr, insofern die Oberflache des Gehirns dabei in Frage
kommt, als Bilder und Vorstellungen, oder als unklare Wahrnehmun-
gen und als eine eigenthumliche Stimmung des Geistes hervortreten.
Bekanntlich kommen uns audi im gesunden Zustande oftmals ganz
unwillklirlich mancherlei Bilder und Gedanken, selbst wahrend wir
iiber anderes sprechen oder schreiben, und wir achten nicht weiter
darauf, wenngleich es nicht selten schwer fallt, uns derselben zu ent-
schlagen. Das wiederholt sich auch im Traume. Wenn aber dann
eine mehr passive Congestion stattfindet, etwa durch ein enganliegen-
des Halstuch oder durch Tiefliegen des Kopfes, so pflegen mehr angst-
liche Bilder aufzutreten, wahrscheinlich in Folge der Zuriickhaltung
des venosen Blutes und der verlangsamten Circulation. Ist das
Gehirn starker erregt, stromt mehr arterielles Blut durch die Hirnge-
fiisse, dann sind die Traume lcbhafter und die phantastischen Vor-
stellungen losen einander in rascherer Folge ab, ohne dass sich etwas
Aengstliches damit verkniipft.
Das wiederholt sich, wie ich glaube, bei der sympathischen Manie.
Bei den meisten Formen derselben, namentlich bei den mit Schwer-
muth verkniipften, besteht eine mehr venose Congestion zum Gehirne.
Zuerst klagen die Kranken iiber ein besonderes Gefiihl von Warme
oder iiber einen Druck in der Scheitelgegend. Der Kopf ist meistens
gerothet, audi wohl etwas geschwollen, derScheitel fiihlt sich warmer
an, manchmal auch der Hinterkopf, oder selbst die Stirn, was aber
mehr bei idiopathischer Manie vorkommt; Hande und Fiisse dagegen
sind, zumal im weiteren Verlaufe, kiihl, blaulich aufgetrieben, der
Radialpuls ist klein und weich, die Carotiden klopfen starker. Alles
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*
168               Erklarung des sympathischen Irrsinns.
deutet auf unregelmiissige Circulation und venose Congestion zum
Gehirne, wenngleich sich die letztere nicht immer in einem rothen, auf-
getriebenen Gesichte auspriigt. Nun kommen auch hin und wieder
Aeusserungen der Melancholie, und dasGesicht zeigt eine blasse gelb-
licbe oder braunliche Farbung, die es entweder schon vorher hatte,
oder die auch von Complicationen, z. B. mit Leberleiden, herriihren
kann. Die gedriickte Gemiithsstimmung kommt aber wohl grossen-
theils auf Rechnung jener venosen Congestion; es ist gleichsam ein
Traum im wachen Zustande, den der Kranke vergeblich niederzuhalten
sucht.
Der Nachtheil solcher passiven Congestionen fiirs Gehirn scheint
aber nicht lediglich in der vermehrten Zufuhr von Blut und in der
mecbanischen Ausdehnung der Gefasse zu liegen. Gleichzeitig ist auch
die Circulation verlangsamt, das venose Blut verweilt langer in den
Capillar en, das arterielle Blut wird weniger rasch zugefiihrt, und dar-
unter muss wohl die Ernahrung oder der Stoffwechsel des Gehirns
und somit auch dessen Thatigkeit und Erregung leiden. Wir wissen
alle, wie belebend die reine frische Luft auf uns wirkt, so dass wir uns
darin lebhafter und beweglicher fiihlen, und wie durchs Einathmen
von mehr Sauerstoff alle Verrichtungen des Nerven- und Muskellebens
rascher und kraftiger von Statten gehen, wahrend dagegen ein kleiner
enger Raum, mit unreiner Luft erfullt. uns trage und abgestumpft
macht und im tiefen Nachdenken beeintrachtigt. Aehnliches beob-
achten wir bei krankhaften Zustanden. Wirkt das Blut starker reizend
ein, z. B. bei Lungenphthise, wo es wegen der Abmagerung nicht zu
einem Drucke aufsGehirn und zu starkerer Fiillung desselben kommt,
und wo die Erregung des Herzens, die sich durch den beschleunigten
Puis verrath, eine raschere Stromung durch die Hirngefasse mit sich
bringt, so giebt sich eine lebhaftere Erregung, ein rascheres Denken
und eine Steigerung der Phantasie kund. Engbriistige Individuen
dagegen und solche, die an Asthma leiden, sind auch kleinmiithig und
leicht schreckbar. Eben so wirken pathologische Veranderungen des
Bluts auf unsere Stimmung ein. So bemerkt Burdach (Bau und
Leben des Gehirns.
Ill, S. 115), dass Scorbutische kleinmuthig und
gedriickten Geistes sind. Cblorotische, wie allgemein bekannt, machen
sich durch ein launisches, verdriessliches Wesen unangenehm; Gelb-
siichtige sind meistens schwermiithig, matt und trage, verdriesslich.
Auf die Delirien, welche im Nerven- und Faulfieber mit der verander-
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Erklarung des sympathischen Irrsinns.               169
ten Blutmischung in engem Zusammenhange stehen, brauche ich wohl
nicht besonders hinzuweisen.
DerBlutmangel in Folge von Hamorrhagieen und zu starken Blut-
entziehungen veranlasst bekanntlich audi ohnmachtsahnliche Anfalle,
Convulsionen, Delirien u. s. w. Dabei kommt nicbt bloss die ge-
minderte Ausdebnung der Blutgefasse in Betracht, sondern auch die
langsamere Durchstiomung der Hirngefasse und die unter der Norm
stehende Zufuhr arteriellen Blutes.
Indessen darf man die sympathische Manie oder Melancholie
und deren Modificationen nicbt aus einer Zunahme oder Abnahme der
zum Gebirne stromenden Blutroenge, nicht aus der rascberen oder
trageren Circulation, nicht aus einer veriinderten Mischung dcs Blutes
erklaren wollen. Die beigebrachten Beispiele sollten nur dartbun,
welchen grossen Einfluss das Blut im Hirnleben iibt. Der eigentliche
Grund, warum ein entfernter Theil einen pathologischen Einfluss aufs
Gehirn zu iiben vermag, ist ohne Zweifel in den Nerven zu suchen,
namentlich im Sympathicus oder auch im Vagus. Wenn auch nicht
in alien, so doch in den meisten Fallen, scheint der Sympathicus von
dem afficirten Theile aus in der Bahn des Biickenmarks reflectorisch
aufs Gehirn zu wirken. Ob eine solche Wirkung auch direct durch
den Sympathicusstrang zu Stande kommen kann, ist nicht ausgemacht,
ja es ist sogar unwahrscheinlich, da die Reflexe vom Sympathicus auf
das Riickenmark bekannt genug sind. Die Nerven vom Colon sinistrum,
- von den Geschlechtstheilen, vom Uterus kommen dabei hauptsachlich
in Frage.
Nach der Verbreitung der auf den Hirngefassen verlaufenden
Fasern des Sympathicus in der Scbadelhohle stebt zu vermuthen, dass
durch ihn hauptsachlich locale Congestionen zum Gehirne zu Stande
kommen. In der That sah Brachet (Becherches sur les fonctions du
systhne nerveux.
Par. 1830. p. 155), als er den Halstheil des Sympa-
thicus
durchschnitt, nur auf der Hemisphare der gleichnamigen Seite
Congestion und Exsudation eintreten. Spaterhin hat dann Bernard
(Comptes rendus. 1852. 20. Mars, p. 472) dargethan, dass nach Durch-
schneidung der pars cervicalis Sympathies auf Einer Seite die gleich-
namige Kopfseite hoher temperirt ist, und dass die Arterien dieser
Seite starker gefiillt, die Theile also blutreicher sind. Diese Conge-
stion nimmt zwar in den folgenden Tagen ab, die erhohte Temperatur
der betreffenden Kopfseite aber erhalt sich. Vom Ganglion cervicale
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170 Pathologische Anatomie der Mania sympathica.
supremum aus muss also nach der Durchschneidung des Stammes eine
pathologische Reizung ausgehen.
Einzelne Beobachtungen beweisen aber ganz entschieden, wie von
manchen Organen eine sympathische Einwirkung aufs Gehirn ausgehen
kann, so namentlich in demFalle, welchenLarrey bei einemSoldaten
mit fistuloser durch eine Kugel erzeugter Bauchwunde beobachtete
(S. 79). Bei solchen Fallen muss man nothwendig an eine reflectori-
sche Wirkung des Sympathicus auf das Gehirn denken, wodurch eine
Congestion zu einzelnen Gehirntheilen, und wohl meistens von mehr
passiver Art, zu Stande kommt. Aus dieser Congestion allein lassen
sich aber die Erscheinungen nicht gut erklaren. Sie scheint sich iibri-
gens, zumal in chronischen Fallen, nicht gleichmassig iiber alle Par-
tieen des Gehirns auszubreiten, sondern vorzugsweise die Scheitel-
gegend, oder auch den Hinterkopf zu treffen. Meistens kommt auch
dabei Spinalirritation im Nacken vor, so dass ein Druck auf die obern
Wirbel ein unangeuehmes Gefiihl im Kopfe hervorruft. Fande die
Congestion zu alien Theilen des Gehirns statt, dann wiirden auch die
Sinnesorgane leiden, namentlich das Sehorgan. Bei einer mehr allge-
meinen Plethora und Congestion zum Kopfe findet sich ja wirklieh Er-
weiterung der Pupillen, Funken vor den Augen, Minderung der Seh-
kraft, was bei dem mehr passiven chronischen Zustande nicht vor-
kommt.
§.3.
Pathologische Anatomie der Mania sympathica.
Kennt man die Krankengeschichte nicht, so kann es schwer fallen,
bloss mittelst der Section festzustellen, welche Theile priinar und se-
cundar gelitten habeu, da von Affectionen des Gehirns und Riicken-
marks eben so gut eine Riickwirkung auf die Eingeweide stattfindet,
wie umgekehrt von Affectionen der Eingeweide eine Riickwirkung auf
das Centralnervensystem beobachtet wird.
Am haufigsten kommen Yeranderungen im Colon vor, namentlich
bei Melancholie, womit gewohnlich trager Stuhl und sogenannte Ob-
structionen verbunden zu sein pflegen. Fast immer ist das Colon sini-
strum
der leidende Theil; es zeigen sich hier Einschniirungen und
Verengungen, die man durch Aufblasen gar nicht oder nur mit grosser
Miihe wegscliaffen kann. Die Stelle dieser Stricturen wechselt. Man
findet sie unterhalb der Flexura sigmoidea, am Uebergange ins Rectum,
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Pathologische Anatomie der Mania sympathica. 171
wo dann die Sformige Schlinge erweitert, verlangert und durch Gas
ausgedehnt zu sein pflegt; sie ist dabei vielleicht nach oben gedrangt,
ja sie reicht wohl bis zum Colon transversum oder selbst nocb dariiber
hinauf. In anderen Fallen sitzen die Stricturen iiber der Flexura
sigmoidea
am linken Colon: dann .ist das Colon transversum erweitert
und verlangert, so dass es wohl bis ins Becken herabreicht und dann
wieder bis zur Leber aufsteigt *); auch das Coecum kann dabei erwei-
tert sein. Es koramen auch mehrfache Stricturen im Colon sinistrum
vor, ober- und unterhalb der Flexura sigmoidea, wobei die /Sformige
Biegung und der Quergrimmdarm in verschiedenem Grade erweitert
sein konnen. Verengungen im Colon transversum oder im Colon ad-
scendens
sind mir nicht vorgekommen. — Die Haute des Colon sind
meistens verdiinnt und ausgedehnt, an den Stricturen aber kann der
Darm bis zur Fingersdicke verengt sein. Die Schleimhaut hat auf der
Innenflache meistens ein gesundes Aussehen, doch ist sie auch manch-
mal an den Stricturen etwas verdickt und roth. Einige Male habe
ich auch Entziindung und Ulceration vorgefuuden. In einem Falle
von heftiger und unbezahmbarer Melancholie mit Neigung zum Selbst-
morde war das ganze Colon auf der Innenflache stark entziindet und
ulcerirt, und im Coecum fand sich sogar eine perforirte Stelle, die
durch Pseudomembranen verdeckt war.
In solchen Fallen bestand meistens schon langere Zeit hindurch
eine Neigung zu tragem Stuhle.
Die Verlangeruugen des Colon scheinen als angeborner Zustand
vorkommeu zu konnen, da man sie schon bei Kindern angetroffen hat.
Monterossi (Meckel's Archiv f. Phys. 1820. Bd. 6. S. 566. Taf. VI.
u. \7II.) glaubt darin die Ursache des Todes mancher Neugeborner
suchen zu dtirfen, und giebt Abbildungen dieses Vorkommens.
Morgagni und Andere hatten bereits auf diese Verlangerungen
des Colon aufmerksam gemacht. Esquirol lenkte dann vorziiglich
die Aufmerksamkeit auf ihr haufiges Vorkommen bei Irrsinnigen, ohne
*) Ein Paar Male fand ich das Colon transversum verlangert und nach oben
zwischen Leber und Zwerchfell gedrangt; die obere Leberflache war zwar nicht
mit dem Colon verwachsen, hatte aber eigenthumliche Vertiefungen zur Auf-
nahme des Colon transversum. In einem Falle von Melancholie, die in Manie
und Blodsinn ubergegangen war, lag das Colon transversum, auch iiber der Le-
ber und hatte sich unter dem Schwerdtfortsatze durch das Zwerchfell Bahn ge-
brochen, eine faustgrosse Hernia phrenica bildend, fur welche das Peritonaeum
und die Pleura Bruchsacke lieferten.
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172 Pathologische Anatomie der Mania sympathica.
dass er aber eine Erklarung davon zu geben wusste. Ich habe mich
iiber diesen Gegenstand bereits ausfiihrlicher bei J. B. te Welscher
(Diss, de quibusdam coli affectionibus. Traj. ad Rhenum, 1841) ausge-
sprochen.
Es unterliegt keinem Zweifel, dass in den meisten Fallen die Ver-
langerungen des Colon durch die vorausgegangenen krampfhaften Con-
tractionen und Stricturen im Colon sinistrum zu Stande gekommen
sind. Meistens litten solche Kranke schon friiber mehr oder weniger
an Verstopfung, so dass sie manchmal erst nach ein Paar Tagen zu
Stubl gingen. Durcb diese Stricturen werden die Kotbmassen zuriick-
gehalten; dabei findet gleichzeitig Gasentwickelung statt, und das
Colon transversum, vielleicht bis zum Coecum hin, dehnt sich aus, oder
bei tieferer Lage der Strictur ist die Flexura sigmoidea oberhalb des
Rectum der ausgedehnte Theil. Die Kotbmassen, welche durch das
langere Verweilen verharten, wirken reizend auf die Stricturen ein,
und durch die hierdurch zunehmende Verengerung verschliessen sie
sich selbst den Durchgang*). Aus diesem Grunde passen hier die
scharfen Drastica nicht, weil sie durch Reizung des Darmes nur die
Stricturen vermehren, so dass die festen Massen zuriickbleiben und
nur wiissrige Stiihle erfolgen.
Aber nicht bloss die Dickdarmwande dehnen sich aus, sondern
auch die darin verbreiteten Blutgefiisse erfahren eine Ausdehnung und
Verlangerung. Eiuige Male fand ich den Dickdarm um zwei Fuss
*) Die anatomischen Verhaltnisse miissen hierbei in Betracht gezogen wer-
den. Das Colon descendens oberhalb der Flexura sigmoidea ist durch ein sehr
kurzes Mesocolon an die muskuloseBauchwand geheftet und wird dadurch gestiitzt.
Der Anfangstheil desBeetum und dasBeckenunterhalbderl^ZexMras^mojdeastehen
gewissermaassen in der namlichen Beziehung zu einander. Dagegen ist die Fle-
xura, sigmoidea
gleich dem Colon transvcrsum ganz frei beweglieh und nir-
Sends an die Bauchwand angeheftet; es sind diese Theile weniger unterstiitzt
und sie konnen sich leichter ausdehnen. Befordert wird dieses durch eine sitzende
Lebcnsweise, wo die Bauchmuskeln erschlaffen und die Eingeweide, namentlich
das Colon transversum und die Flexura sigmoidea, durch die Bauchwandungen
weniger gedriickt und unterstiitzt werden; durch die vermehrte Gasentwickelung
und die zuriickgehaltenen Kothmassen werden sie nur leichter ausgedehnt und
verlangert. Es bedarf ubrigens wohl keiner umstandlichern Nachweisung, dass
die Spannung der Bauchwande bei aufrechter Stellung und Korperbewegung,
wobei die Bauchwande starker wirken und das Athemholen energischer von Stat-
ten geht, einen vermehrten Druck auf die gegen die Bauchwand sich stiitzenden
Gedarme, auf das Colon adscendens und transversum, sowie auf einen Theil
des Colon descendens zur Folge haben muss, wodurch deren Contraclionen und
somit das Fortbewegen ihres Inhalts gefordert werden muss.
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Pathologische Anatomie der Mania sympathica. 173
langer als gewohnlich, ohne class er deshalb weniger bluthaltig ge-
wesen ware. Die Arteriae mesentericae haben im Verhaltniss zu ihrem
grossen Verbreitungsgebiete ein kleines Lumen, woraus man schlies-
sen darf, dass fiir gewohnlich die Circulation im Darme nichts weni-
ger als rasch sein kann. Erfahren nun die Gedarme, und namentlich
das Colon, eine starkere Ausdehnung, dann wird auch zugleich der
Umfang der Pfortader vergrossert. Das Blut muss aber in der Bahn
der Pfortader die Leber vollstandig durchsetzen, hier findet es mithin
einen grosseren Widerstand, und die Folge davon muss sein, dass
sich in den zarten Gefassen am peripherischen Anfange der Pfortader,
d. h. im Colon, mehr Blut anhauft. Das Pressen bei der erschwerten
Austreibung der verharteten Kothmassen tragt noch mehr zu dieser
Blutanhaufung bei. Daher entstehen die Hamorrhoidalgeschwiilste,
die man so haufig bei Melancholischen findet.
Es ist nicht unwahrscheinlich, dass durch die trage Circulation
und durch die Anhaufung eines mehr venosen Blutes um die Zweige
des Sympathicus eine nachtheilige Einwirkung auf diesen Nerven zu
Stande kommt. Hieraus erkliirt es sich denn auch wohl, zum Theil we-
nigstens, warum Hamorrhoirlalblutungen bei solchen Kranken so vor-
theilhaft wirken konnen, eine Unterdriickung soldier Blutungen aber
so nachtheilige Folgen haben kann. Dabei fragt es sich auch noch,
ob die Leber bei solcher Ueberfiillung im Stande ist, im gesammten
Blute die wichtigen Veranderungen und Keinigungen zu Stande zu
bringen, die diesem Organ e anvertraut sind.
Von besonderer Bedeutung ist es ferner, dass man den genauen
Zusammenhang zwischen Colon descendens und Geschlechtstheilen im
Auge behalt, worauf die Autoren im Allgemeinen nicht genugsam ge-
achtet haben. Die Anatomie lehrt uns namlich, dass die Nerven der
Gebarmutter sowohl als der Samenblaschen, und eben so die Nerven
der Harnblase und der Harnleiter in engster Verbindung mit dein
Plexus mesentericus inferior stehen, dessen Aeste zum Colon descendens
verlaufen; denn mit dem Plexus hypogastricus, der von der Aorta zum
Becken hinab verlauft und nach links Aeste ans Colon sinistrum giebt,
sind die Nerven fiir die Geschlechtstheile im Zusammenhange. Das
Colon transversum und das Colon adscendens hingegen erhalten die
Nerven aus dem Plexus mesentericus superior. Eben so versorgt die
Arteriu mesenterica inferior mit ihren Aesten das Colon sinistrum und
giebt zugleich Vasa haemorrhoidalia interna ab, die mit den Gefassen
der Gebarmutter, der Harnblase, der Samenblaschen anastomosiren.
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174 Pathologische Anatomie der Mania sympathica.
Es darf uns somit niclit wundern, wenn wir niclit selten das Colon
sinistrum
und die Geschlechtstheile gemeinschaftlich erkrankt finden,
oder wenn das Leiden des einen Apparates vom andern eingeleitet
wird. So kommt bei Hysterischen ein Schmerz in der linken Seite
vor, der Ton Manchen irriger Weise in die Milz verlegt wurde, der
aber nur von krampfhaften Zusammenzielmngen und Stricturen ira
Colon sinistrum herriihrt, und sick nicbt selten als ein unangenehmes
Gefiihl von Schwere oder Druck langs des Colon transversum unter
dem Magen hinzieht.
Pollutionen und Neigung zur Onanie werden haufig durch Ha-
morrhoidalcongestionen unterhalten, so wie aucb umgekehrt eine Itei-
zung der Geschlechtstheile oftmals auf das Colon wirkt und tragen
Stuhlgang veranlasst. Mehrmals fand ich bei starken Onanisten be-
deutende varicose Erweiterung der Venen um die Samenblaschen
herum.
Dergleichen Congestionen und Affectionen der Geschlechtstheile
berlingen nicht gar selten weiterhin Hypertrophieen und Faserge-
schwiilste des Uterus, besonders aber Entartungen der Ovarien.
Dabei ist es beachtenswerth, class clann, wenn der sympathische
Irrsinn von den Geschlechtstheilen ausgegangen ist, die melancholi-
schen Vorstellungen eine eigenthumliche Farbung und einen besondern
Character annehmen, weshalb man auch umgekehrt daraus wieder
mit einiger Sicherheit auf den Sitz und auf die wesentliche Ursache
der Krankheit zuriickschliessen darf.
Aber auch die Lungen und die Luftwege konnen bei der sympa-
thischen Manie die hauptsachlich leidenden Theile sein. Bekannt ist
es, dass Phthisis und Brustaffectionen im Allgemeinen in enger Be-
ziehung zu Gehirnleiden stehen, und die Schriftsteller geben an, dass
die Mehrzahl jener, die an chronischen Hirnleiden, namentlich an
Hirnerweichung darniederliegen, an einem Herz- und Lungeniibel zu
Grunde gehen. Mehrfach habe ich die Beobachtung gemacht, dass in
jenen Familien, worm der Irrsinn erblich vorkommt, jene Glieder,
welche von diesem Uebel verschont bleiben, an Phthisis zu sterben
pflegen. Oftmals alterniren diese beiden Uebel mit einander, oder sie
kommen gleichzeitig neben einander vor; es ist aber nicht leicht zu
bestimmen, ob das Lungenleiden hier secundar entstanden ist, oder ob
es auch primar auftreten und auf das Gehirn und die Medulla oblon-
gata
seinen Einfluss aussern konnte. Nicht selten findet man bei
Irren die bedeutendste Lungenzerstorung, die sich bei Lebzeiten durch
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§
Pathologische Anatomie der Mania sympathica. 175
keinebesonders auffallendenErscheinungen kund gab; derHusten fehlt
in solchen Fallen mancbmal ganz und gar, auch von Auswurf sieht
man nichts, weilibnder Kranke wahrscheinlichregelmiissig verschluckt,
und nur durcb Abmagerung, durch den beschleunigten Puis, durch den
eigenthiimlichen Gesicbtsausdruck und durch die aussere Untersuchung
der Brust kann die Lungenaffection erkannt werden.
Man glaube aber ja nicht, dass die erwahnten Leiden in entfern-
teren Theilen des Korpers an und fur sich den Irrsinn hervorzurufen
vermogend sind: Verlangerungen und Stricturen des Colon, Neigung
zu tragem Stuble, Affectionen des Uterus, der Ovarien, der Lungen
kommen haufig genug vor obne die geringste Spur von Geistesverwir-
rung. Es muss noch eine besondere Disposition und eine besondere
Erregtheit des Cerebralsystems dazu kommen. Es besteht eine Wech-
selwirkung zwischen Gehirn, Riickenmark und Eingeweiden, wodurch
es oftmals scbwer fallt anzugeben, in welchem Theile der Ursprung
der Krankheit zu suchen ist. Denn auch beim idiopathischen Irrsinn
kommen jene Verlangerungen und Stricturen des Colon vor, bei idio-
pathiscber Manie und bei heftiger Erregung des Gehirns pflegt auch
eine Aufregung im Geschlecbtsapparate zu bestehen, und trager Stubl
und hartniickige Verstopfung gehoren zu den gewohnlichsten Erschei-
nungen bei Entziindungen des Riickenmarks. Die Stricturen im Colon
und die geschlechtliche Aufregung konnen also in manchen Fallen von
einer vorausgegangenen Affection des Gehirns oder des Riickenmarks
herruhren; sind sie aber einmal entstanden, so iiben sie selbst wieder
einen nachtheiligen Einfluss auf die letztgenannten Theile und tragen
zur Erzeugung des sympathischen Irrsinns bei. Es kommt hier darauf
an, welcher Theil starker ergriffen ist und gleichsam den Grundton
anschlagt, wodurch der Irrsinn seine eigenthiimliche Farbung bekommt.
Der Arzt muss sich durch die vorausgegangenen und gegenwartigen
Erscheinungen leiten lassen. Sitzt das Leiden wesentlich im Gehirne,
dann zeigt sich mehr eine allgemeine Aufregung, der Kranke ist mei-
stens weit lebhafter und in alien seinen Gesprachen tritt sein erhohtes
Selbstgefuhl zu Tage, wie ich bei der Mania idiopathica angefiihrt
babe. Ueberwiegt die Affection der Eingeweide, so pflegt der Kranke
lange nicht so lebhaft und aufgeregt zu sein, aber alle seine Vorstel-
lungen haben einen dunkeln Hintergrund. Andern Personen gegen-
iiber vermag er sich noch lange dergestalt zu beherrschen, dass man
ihm fast nichts anmerkt, er spricht z. B. noch ganz scharfsinnig iiber
Dinge, die in keiner unmittelbaren Beziehung mit seinem Schwermuthe
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176 Pathologische Anatomic der Mania sympathica.
steben. Sein Verstand ist also nicht verwirrt. Allein unauf horlich wird
er durch einen verkehrten Wahn, durch einen angstlichen Traum be-
herrscht, und seinen triiben Vorstellungen und Selbstanklagen vermag
er sicb nicht zu entzieben; das Gefiihl, das Gemiitb iiben einen patho-
logischen Einfluss auf seinen Verstand. Ein fremdartiger, ihm uner-
klarlicher Eindruck wirkt auf sein Gehirn und auf seinen Verstand;
dieser fiibrt ibu irre und reisst ibn unwiderstelilich mit sich fort.
Ich babe iibrigens die Bemerkung gemacht, dass im Allgemeineii
die Sprache eine lebendigere ist, die Bewegungen und Beangstigun-
gen in starkerer Auspragung hervortreten, wenn die Lungen leiden,
als wenn die Krankheit vom Colon oder vom Geschlechtsapparat aus-
geht. Indessen macht sich auch hierin oftmals der Einfluss der Con-
stitution und des Geschlechts geltend.
Bei Sectionen findet man am Gehirne in der Regel die namlichen
Veranderungen, wie bei beginnender Mania idiopathica: die Gefasse
meistens ausgedehnt; die pia mater iiber den Hemispharen oftmals
mit einem serbsen Exsudate bedeckt, das zwischen ihr und der Ara-
chnoidea
gelegen ist; wird die pia mater abgerissen, so zeigt die graue
Rinde an verschiedenen Stellen abwechselnd eine bellrothe und eine
blassere Far bung. Bei langerer Dauer der Krankheit ist auch die
pia mater mit den Hirnwindungen verwachsen und lasst sich nur schwer
abziehen. Meistens indessen ist bei Melancholie, namentlich wenn
dieselbe von den Eingeweiden und den Geschlechtstheilen ausgeht, die
Scheitel- und Hinterhauptsgegend starker ergriffen, und die vordere
Partie der Hemispharen unter dem Stirnbeine zeigt um so weniger
pathologische Veranderungen, je mehr der Kranke wahrend seiner
Melancholie von allgemeiner Verstandesverwirrung frei blieb und, ab-
gesehen von seiner dominirenden falschen Idee, verstandig spracb.
Bei Mania idiopathica leidet mehr diese vordere Partie der Hemispha-
ren. Wenn nun aber bei langerer Dauer der Melancholie die sym-
pathische Gehirnaffection endlich zur idiopathischen wird, und die
Melancholie in Manie oder in Blodsinn iibergeht, dann ist die Gehirn-
affection nicht mehr so umschrieben, sondern es hat sich manchmal
eine allgemeine chronische Meningitis ausgebildet, mit den namlichen
Folgen, die bei Mania idiopathica auftreten. Nur selten gelingt es
aber, in dieser Beziehung genauere und zuverlassige Beobachtungeu
zu machen. In ein Paar Fallen, wo mir dies verstattet war, fand ich
die Gehirnaffection mehr auf die Hohe des Scheitels beschrankt.
Eine interessante hierher gehorige Beobachtung habe ich schon
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Pathologische Anatomie der Mania sympathica. 177
friiher (Nederl. Lancet, 1851. July p. 25) veroffentlicht; sie betrifft eine
Frau, die wahrscheinlich in Folge friiherer Onanie an unheilbarer
Melancholie litt, wahrend sie sonst ganz richtig und scharf urtheilte,
und die ibrem traurigen Leben durch einen Sprung you einer Treppe,
wobei sie auf den Kopf stiirzte, ein Ziel setzte. Der Zwiscbenknorpel
zwischen dem dritten und vierten Halswirbel war ganz zerrissen und
das Riickenmark war plattgedriickt worden, so dass wahrend der 24
Stunden bis zum Todeseintritte das Gefuhl sowohl wie die Bewegung
im ganzen Korper gelahmt waren. Wahrend dieses Zeitraums erhielt
sich indessen die Melancholie und die Neigung zum Selbstmorde ganz
unverandert; die Frau widersetzte sich jeder Hiilfsleistung und hatte
nur ihren Aerger dariiber, dass sie sich nicht todtgestiirzt hatte. Durch
die Verletzung des Riickenmarks war hier die Communication des ver-
langerten und ausgedehnten Colon und des mit Fibroiden durchsetzten
Uterus mit dem Gehirne abgeschnitten, nichts desto weniger aber blie-
ben die melancholischen Gedanken. In der Schadelhohle fand sich
chronische Entziindung der pia mater und Verwachsung derselben mit
den Hirnwindungen, aber nur oben unter den Scheitelbeinen, denn die
vorderen Hirnlappen unter dem Stirnbeine waren ganz gesund. Aus
der sympathischen Melancholie war also hier eine idiopathische ge-
worden, was auch ganz mit den Erscheinungen wahrend des Lebens
im Einklange stand. Hatte sich die Reizung und die chronische Ent-
ziindung auch iiber die vorderen Hirnlappen unter das Stirnbein aus-
gebreitet, dann wiirden gewiss wahrend des Lebens noch andere Er-
scheinungen aufgetreten sein; es wiirde dann mehr Geistesverwirrung
und ein weniger verstandiges Urtheilen zu Tage gekommen sein, und
es ware Melancholie und Manie oder aber Blodsinn daraus hervorge-
gangen.
Ich habe schon erwahnt, dass meistens auch die Medulla oblongata
an dieser Gehirncongestion Theil nimmt, und dass ein Druck auf die
obersten Halswirbel in der Regel unangenehme Empfindungen im
Kopfe zur Folge hat.
§•4.
Erscheinungen der Mania sympathica, die vom Colon
ausgeht.
Eine Geistesstorung, die von dieser Quelle herstammt, charakte-
risirt sich durch ein eigenthiimliches Gedriicktsein des Geistes, durch
Schroeder v. d. Kolk, Geisteskranklieiteii.                                                         ]2
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178            Mania sympathica, vom Colon ausgehend.
Beangstigungen und dadurch, dass die Kranken sich meistens selbst
der Schlechtigkeit und Verworfenheit anklagen, entweder in der Ge-
genwart oder in einer vergangenen Zeit. Die Krankheit hat einen sehr
langsamen Verlauf, und meistens sind die Beangstigungen und die
Selbstanklagen schon eine gewisse Zeit hindurch da gewesen, bevor
noch ein Arzt befragt wurde. Anfangs bekiimpft der Kranke noch
seine triiben Gedanken, und Fremden gegeniiber benimmt er sich wie
ein ganz Gesunder, so dass man nichts Ungewohnliches an ihm wahr-
nimmt oder vermuthet. Das kommt beim idiopathischen Irrsinne nicht
vor. Der Kranke litt ferner meistens schon friiher, bisweilen schon
Jahre lang, an tragem Stuhle; oftmals hatte sich erst nach mehreren
Tagen Stuhlgang bei ihm eingestellt, ohne dass ihm dies aber beson-
dere Beschwerden verursacht hatte. Daneben hatte sich nicht selten
sehr bald eine Hiimorrhoidalanlage kund gegeben, namlich Knoten und
Blutungen am After, oder auch ein heftiges Jucken an diesem Theile.
Dieses Hamorrhoidalleiden aber, namentlich der Blutabgang, hatte vor
dem Ausbruche der Melancholie wieder nachgelassen oder auch ganz
aufgehort.
Die Melancholie nimmt meistens langsam zu, wenn nicht die trau-
rige Gemiithsstimmung durch besondere Umstande starker in Anspruch
genommen wird. Der Kranke sucht die Einsamkeit und versteckt sich
gem in einem dunklen Winkel. Auch hat er wohl ein hochst unan-
genehmes Gefiihl in den Pracordien, das sich nicht selten, zumal bei
Weibern, nach links ausbreitet, und womit sich bei diesen oftmals noch
hysterische Erscheinungen verbinden, namentlich wohl der sogenannte
globus hystericus. Dazu kommt noch ein unbeschreibliches Angstge-
fiihl, das gar nicht weicht und meistens als Gewissensbisse gedeutet
wird.
Wie nun bei einer solchen deprimirten Gemiithsstimmung ein Ge-
fiihl von Druck und Schwere in der Gegend des Quergrimmdarms
entsteht, so wirken umgekehrt Affectionen dieses Eingeweides auch
wieder auf das Gemiith zuriick und erwecken jene triibe Stimmung,
von deren Entstehung aus einem krankhaften Zustande der Kranke
nicht zu iiberzeugen ist, die er vielmehr fur wirkliche Gewissensbisse
halt und wofiir er oftmals auch allerlei Griinde vorzubringen weiss.
Die Selbstanklagen zeigen allerdings individuelle Verschiedenheiten,
doch laufen sie meistens darauf hinaus, dass die Kranken als schlechte,
abscheuliche Menschen ihre Verwandten und Freunde ungliicklich ge-
macht oder in Armuth gestiirzt haben. Sie zeihen sich der Lieblosig-
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Mania sympathica, vom Colon ausgehend.            179
keit gegen Verwandte, Ehegatten oder Kinder; sie glauben vielleicht,
ihre nachsten Verwandten seien todt und jene, die sich dafur ausgeben,
seien nur fremde Eindringlinge, die sich der Kleider und GUter ihrer
wahren Verwandten bemiichtigten; sie halten sich wohl fur die Ur-
sache zufallig herrschender Krankheiten, denn durch ihren giftigen
Athem oder durcb andere schadliche Eigenschaften, meinen sie, muss
Alles sterben oder hinwelken, was in ihre Nahe kommt; durch eigene
Schuld sind sie in die grosste Armuth verfallen und sie konnen nichts
verbrauchen, weil sie es nicht zu bezahlen vermogen; sie fiirchten vor
Gericht gezogen und der schrecklichsten Folterung unterworfen zu
werden; waren sie friiher als Kiinstler, als Musiker von Ehrgeiz be-
seelt, so glauben sie ihren Beruf vernachlassigt zu haben, so dass sie
nun von Andern iiberflugelt werden und der Verachtung anheim fallen.
Mehrmals ist es mir auch vorgekommen, dass Mutter, die durch den
Verlust ihrer Kinder oder auch durch Verdruss und Misshandhmgen, die
sie von den eigenen Kindern erlitten hatten, in Melancholie verfallen
waren, das Verhaltniss geradezu umkehrten, so dass sie durch Sorg-
losigkeit den Tod ihrer Kinder herbeigefuhrt oder deren Vermogen
durchgebracht zu haben behaupteten. Oder eine Tochter war trostlos
geworden, weil sie in der Pflege der kranken Mutter eine Kleinigkeit
iibersehen und dadurch ihren Tod herbeigefuhrt hatte. In einemFalle,
wo die kranke Mutter genesen war, jammerte die Tochter fortwahrend
dariiber, dass sie den Tod der Mutter hatte verschulden konnen, weil
sie es einmal verabsaumt hatte, derselben zur bestimmten Stunde die
verordneten Arzneimittel zu geben.
Zur belehrenden Erliiuterung theile ich folgenden Fall ausfuhr-
licher mit, da man nur selten Gelegenheit hat, die ganze Kette der
Ursachen und Wirkungen so genau zu verfolgen und das Gemiithslei-
den so griindlich zu erforschen, wie hier. Er betrifft eine Frau von
50 Jahren, Wittwe mit 5 Kindern, von zartem Korperbau und sensibe-
ler Constitution, die ihres angenehmen Wesens und ihres hervorragen-
den Verstandes wegen allgemein geachtet war. Schon seit mehreren
Jahren betrauerte sie den Verlust ihres Gatten, der als hoherer Offi-
cier im spanischen Kriege umgekommen war. Spater hatte sie eine
Stiitze an ihrem altesten Sohne. Dieser war ihr in alien Dingen Rath-
geber, Heifer und treuer Freund, und er that nichts ohne Mitwissen
der Mutter, gleichwie diese auch immer seine Ansichten und seinen
Beirath sich zu Nutze machte. Obgleich etwas hoch hinaus gehend,
wurde dieser Sohn durch ein Madchen bethort, das sich durch Schon-
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180           Mania sympathica, vom Colon ausgehend.
heit auszeichnete und in sittlicher Beziehung untadelhaft dastand, aber
doch unter seinem Stande war. Als die Mutter dies horte, missbilligte
sie diese Neigung aufs Entschiedenste und erklarte, sie werde niemals
ihre Zustimmung zu dieser Verbindung geben. Der Sohn, dem diese
Aeusserung zu Ohren kam, stellte die Sache, um der Mutter keinen
Verdruss zu bereiten, in Abrede, sei es nun, dass er sich von dem
Madchen losmachen oder bessere Zeiten abwarten wollte. Die Mutter
vertraute dieser Versicherung des Sohnes und war ganz beruhigt, der
Sohn aber schmachtete in Liebesgram dahin und verfiel bald in eine
rasch und heftig verlaufende Lungenphthise. Die Mutter wich nicht
vom Bette des geliebten Solmes und pflegte ihn mit aller miitterlichen
Sorgfalt und Ziirtlichkeit, immer in Angst und Furcht wegen der
raschen Fortschritte der Krankheit und wegen der Krai'teabnahme.
Eines Tages empfing sie von jenem Madchen einen Brief mit der
flehentlichen Bitte, ihren Geliebten vor dem Tode noch einmal sehen
zu diirfen. Beim Lesen dieses Briefes wurde die Frau dermaassen
erschiittert, dass sie ohnmachtig zusammen stiirzte und zuerst ganz
verwirrt zu sein schien: zum ersten Male sah sie sich von ihrem gelieb-
ten Sonne getauscht, der die ganze Sache gegen sie in Abrede gestellt
hatte. Beim Zustande des Kranken war nicht daran zu denken, dass
die Bitte des Madchens gewahrt wurde. Nachdem die ungliickliche
Mutter durch ihre anderen Kinder wieder aufgerichtet und beruhigt
worden war, kehrte sie zum Krankenbette zuriick, wo sie jetzt unter
einer doppelten Folter litt: sie konnte gegen den geliebten Sohn kein
Wort iiber die Sache fallen lassen, ja durfte nicht einmal darauf hin-
deuten, da ihm jede Gemuthsaufregung erspart werden musste, und
mit dem tiefen Kummer in der Brust sollte sie ihn noch aufrichten
und selbst moglichst ruhig erscheinen. Das war fur sie zu schwer,
dann und wann verliess sie das Zimmer und brach in heftige Thranen
aus, bis sie wieder Kraft fiihlte, den innern Kampf niederzuhalten.
Nach ein Paar Wochen schien sie allerdings etwas beruhigt zu sein;
allein die tiefe Betrubniss iiber das immer naher riickende Ende des
Sohnes und das gezwungene Schweigen iiber jene sie so tief beriihrende
Angelegenheit iiberwiiltigten sie endlich, so dass sie fiinf Wochen nach
Empfang jenes Briefes in vollstandige Melancholie und Geistesver-
wirrung verfiel. Sie wurde rasch aus dem Hause geschafft und zu
einer Verwandten gebracht, so dass dem Kranken das Ungliick der
Mutter verborgen blieb. Aber das Schicksal forderte noch mehr! Das
jiingste Kind, ein schones und liebenswiirdiges Madchen, litt nicht nur
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Mania sympathica, vom Colon ausgehend.            181
(lurch den kranken Bruder und die kranke Mutter, sondern auch durch
Liebesgram iiber einen treulosen Geliebten. Sie bekam einen heftigen
Blutsturz, und dieser fiihrte zu galoppirender Schwindsucht. Sie starb
binnen wenigen Wochen und bald folgte ihr auch der Bruder nach,
vor dem man die Krankheit der Mutter verborgen gehalten hatte.
Schon 5 Wochen nach dem Ausbruche des Irrsinns bei der Mutter
sanken beide ins Grab. — Die ungliickliche Mutter klagte in ihrem
Wahnsinne nicht den Sohn an, sondern sich selbst, dass sie den mit
dem Tode Ringenden verlassen hatte, obwohl man ihrem Begehren,
ihn zu sehen, nicht hatte nachkommen konnen; sie hielt sich fur das
schlechteste Geschopf, von ihr gingen alle Uebel in der Welt aus, und
namentlich auch die damals (1826) herrschende Groninger Fieberepi-
demie, wovon sie sprechen horte. Nach einiger Zeit stellte sich eine
Intermittenz der Melancholie ein, so dass die Kranke heute in tiefster
Verzweifelung undvollstandigerGeistesverwirrung sich befand, morgen
aber vollkommen bei sich war und iiber Alles verstandig sprach. Da-
bei wusste sie am guten Tage nichts vom vorigen melancholischen.
Ihr Arzt gab ohne Erfolg China, Belladonna und andere Narcotica,
so wie Nervina. Sie kam daher in die Behandlung eines anderen
Arztes, und dieser liess die Ader offnen, wodurch allerdings eine ge-
wisse Ruhe eintrat. Jetzt erfuhr sie den Tod ihrer beiden Kinder, den
man ihr zwei Wochen lang sorgfaltig verborgen gehalten hatte, und
sie wollte die Sache Anfangs gar nicht glauben. Durch eine zweite
Aderlasse wurde sie neuerdings wieder mehr beruhigt. Von da an hielt
sie sich fur die einzige Ursache des Todes ihrer beiden Kinder; in
ihrem Irrwahne hielt sie sich dergestalt fiir entartet, dass Alles, was
sie beriihrte, alsbald in ein fiir alle Menschen todtliches Gift umge-
wandelt wurde. Die Melancholie hielt aber ohne Unterbrechung an,
und der Zustand erlitt im Verlaufe mehrerer Monate beim Gebrauche
von Narcoticis und Nervinis keine Aenderung, so dass sich die Aerzte
endlich entschlossen, die Krankheit der Natur zu iiberlassen. — Im
Juli 1827, fast ein Jahr nach dem Ausbruche des Irrsinns, wurde ich
zu der Kranken gerufen, die ich in gesunden Tagen recht gut gekannt
hatte. Ich erfuhr, dass die monatliche Reinigung zur gewohnlichen
Zeit aufgehort hatte, und dass die Frau friiherhin mehrfach an Ha-
morrhoiden litt, die aber spater verschwunden waren. Der Stuhlgang
war sehr trage und Arznei wollte die Frau durchaus nicht nehmen.
Ich versuchte daher, Brechweinstein in Speisen und Getrank beizu-
bringen, und hoffte auf diesem Wege in so weit eine Besserung zu
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182            Mania sympathica, vom Colon ausgehend.
Stande zu bringen, class dann auch noch andere Mittel in Anwendung
kommen konnten. Die Ausfiihrung war aber schwer. Erst im Monat
October erfuhr ich, dass der Brecliweinstein jetzt regelmassiger in An-
wendung kame, dass er aber leiclit Uebelkeit und Erbrechen verur-
sacbte, wesbalb ich die Gabe desselben herabsetzen liess. Nachdem
das Mittel regelmassiger in Anwendung gekommen war, lautete der
Bericht dabin, dass die Kranke sicli wohl von iliren Vorstellungen ab-
bringen liesse und dass man jetzt auch iiber andere Dinge mit ihr
sprechen konnte. Nach einiger Zeit wurde sie aber wieder von einer
andern Vorstellung beherrscht. Sie klagte von Zeit zu Zeit iiber
Kolikschmerzen und iiber eine Schwere unten im Leibe und bildete
sich ein, dass sie schwanger sei und dass jeden Angenblick die Geburt
eintreten konnte, weshalb sie das Haus nicht verlassen diirfte. Dieser
Gedanke peinigte sie aufs schmerzlichste. Die Veranlassung zur
Schwangerschaft wusste sie sich zwar nicht anzugeben, sie war aber
fest von deren Bestehen iiberzeugt und verfluchte sich selbst wegen
der grossen Schande, wodurch die ganze Familie entehrt wurde. —
Ich hatte gleich von Anfang an gewiinscht, Blutegel ad anum zu appli-
ciren, konnte es aber nicht durchsetzen. Ebenso musste ich, weil die
Kranke keine Arzneien nalim, vom Extr. Aloes aquosum abstehen,
welches mir in diesem Falle um so mehr indicirt zu sein schien, weil
der Brechweinstein eher Uebelkeit erzeugte, als dass er auf den triigen
Stuhl wirkte. Endlich gelang es, die Kranke zum Einnehmen von
Pillen aus Extr, Aloes zu bringen, indem man ihr vorstellte, diese
Pillen wtiren gut gegen die Uebelkeit, sie starkten den Magen und
wirkten sehr vortheilhaft bei Schwangeren. Im Monat December mel-
dete mir einer der Sohne, dass seit dem Gebrauche der Pillen der
Zustand der Kranken sich sehr gebessert hatte. Es waren grosse
Massen entleert worden und der Stuhl war regelmassig geworden, die
Kranke fing von sich selbst an, mit Andern iiber dies und jenes zu
reden, ja sie stimmte wohl auch ins Lachen mit ein. Sie ass auch
nicht mehr so viel wie friiher, der Schlaf aber war noch immer un-
ruhig. Durch den Besuch des Sohnes (denn sie wohnte jetzt auf dem
Lande) war sie nicht mehr in Betriibniss und Verz weiflung versetzt worden,
wie friiher, wosieaufeinvernunftigesZureden ganz und gar nicht horte.
Indessen hielt sie sich noch fiir schwanger, sprach aber weniger davon
und verwunderte sich manchmal dariiber, dass die Schwangerschaft
sich so lange hinzoge. Die Dosis der Pillen wurde allmalig gesteigert,
bis zwei oder drei ordentliche Stiihle taglich eintraten. — Im folgen-
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Mania sympathica, vom Colon ausgehend.          183
den Marz bekam ich wieder Nachricht, dass beim Fortgebrauche der
Pillen der Zustand sicb sehr auffallend gebessert habe. Von der
Schwangerschaft war gar nicht mehr die Rede. Den Tod ihres gelieb-
ten Sohnes und ihrer Tochter schob sie indessen noch itnmer auf ibre
Abwesenheit, denn durcb verdoppelte Sorge hatte sie diesen Tod ver-
htiten konnen. Gleichwohl sprach sie nicbt mebr so ganz verzweif-
lungsvoll davon wie friiher, wo sie nur mit Handeringen und unter
einer Thranenfluth daran batte denken konnen. Sie hatte hellere
Augen und war ruhiger. Den Tod einer geliebten Schwester vernahm
sie zwar mit Betriibniss, aber docb mit Gelassenbeit. Sie verfertigte
sicb eigenhandig Trauerkleider und batte immer weibliche Arbeiten
vor, wovon sie friiber nicbts hatte wissen wollen.
Den Grund oder die Ursacbe ibrer Gewissensbisse und ihrer
Scbuld finden solche Melancholiscbe in diesem oder jenem manchmal
hochst unbedeutenden Ereigniss, das aber nicht wieder ungeschehen
gemacbt werden kann. Demnach ist ihre Schuld nicht zu tilgen, an
ein Wiedergutmachen ist nicht zu denken, und es ist eine vergeblicbe
Miihe, wenn man die Elenden wahrend der Heftigkeit der Krankheit
durch Vernunftgriinde zu besserer Einsicht bringen will. Alles dieses
treibt denn auch die Unglucklichen zum Selbstmorde an.
Manchmal ist die Esslust sehr gesteigert und die Kranken haben
fortwahrenden Hunger. Dem Arzte, der sie vom Kranksein iiberzeu-
gen will, fiihren sie diesen guten Appetit als Beweis ihrer vollkomme-
nen Gesundheit vor. Deshalb widersetzen sie sich auch gewohnlich
dem Einnehmen von Arznei, wodurch die arztliche Behandlung im
eigenen Hause meistens sehr erschwert, wenn nicht geradezu unmog-
lich gemacht wird*).
In anderen Fallen fehlt aber auch die Esslust ganz und gar, und
das deutet meistens darauf hin, dass sich in den Gedarmen Massen
angehauft haben, die entfernt werden miissen. Damit verbindet sich
nicht selten ein ubelriechender Athem. In Fallen der Art glauben
die Kranken gar keiner Speisen zu bediirfen, oder sie sind auch kei-
*) Bei der Melancholie mit vermehrter Esslust beobachiete ich meistens auch
gleichzeitig eine starkere Reizung der Medulla oblongata, so dass ein Druck
oben im Nacken nicht vertragen wurde. Wahrscheinlich riihrt diese starkere Ess-
lust, wie bei Mania idiopathica, von vermehrter Empfindlichkeit, von einem ge-
reizten Zustande am Ursprunge des Vagus her.
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184            Mania sympathica, vom Colon ausgehend.
ner Speisen wiirdig, oder sie suchen in der Enthaltung von Speisen
ein Mitte], ihrem Leben ein Ziel zu setzen*).
Es wechseln diese Erscheinungen auch nach Alter und Geschlecht.
So sind die Manner moistens stille vor sich hin, scheu und zuriick-
haltend; Frauen dagegen pflegen unter grosser Beweglichkeit an-
haltend zu klagen.
Meistens ist die Circulation dabei unregelmassig: Hande und
Fiisse meistens kiilil, manchmal blaulich gefarbt, der Radialpuls klein
und eingezogen, der Kopf dagegen mehr heiss, namentlich am Schei-
tel und am Hinterkopfe, das Gesicbt oftmals gerothet, die Nase blau-
lichrotb und gescbwollen. Zu Anfang und wenn die Krankheit star-
ker bervortritt, klagen die Kranken iiber ein Gefiihl von Leicbtigkeit
oder aucb iiber einen Druck, meistens in der Scheitelgegend, oder
sie haben Ohrensausen, oder beim Schliessen der Augen und im Dun-
keln seben sie Funken vor den Augen. Die Carotiden klopfen stark
und verhalten sich insofern ganz anders als die Radialis.
Lesen und jede geistige Anstrengung greift solche Kranke an,
die sebr vergesslich sind. Ein ferneres Zeicben der Hirnreizung ist
der scblaflose Zustand. Sie konnen gar nicht einschlafen, oder sie
werden in der Nacbt oder am friihen Morgen munter und bringen
dann die iibrige Zeit noch im Bette zu unter furchtbarer Angst und
selbstqualerischen Anklagen, da sie nicht, wie am Tage, durch andere
Gegenstande abgezogen werden; sie sind aber auch schwer dazu zu
bringen, dass sie das Bett verlassen. Manche leiden besonders in
denMorgenstunden und Abends ist der Zustand ertraglicher, bei An-
deren ist es gerade umgekehrt. Treten die Erscbeinungen der Hirn-
reizung sehr ausgepragt hervor, dann verbindet sich auch meistens
ein gewisser Grad von Spinalirritation damit, so dass ein Druck oben
*) Bei einer Melancholie mit vollstandigem Mangel der Esslust und entschie-
dener Abstinenz musste die Nasensonde in Anwendung gezogen werden, die sich
aber nur mit Muhe durch den Oesophagus einfuhren liess. Bei der Section fand
sich eine Ulceration der Schilddriise, die versteckt geblieben war. Der Eiter war
seitlich ausgebrochen, war langs des Oesophagus in die Brusthohle gedrungen,
ja er war durch's Ostium oesophageum in die Bauchhohle gelangt und hatte sich
langs der Wirbelsaule bis zu den Nieren hin gesenkt. Oben am Eingange in die
Brust fand ich beide Vagi entzundlich gerothet und erweicht, und dadurch war
• wohl das Hungergefiihl geschwunden, denn auch in anderen Fallen von Dyspha-
gie mit Entziindung dieses Nerven beobachtete ich die ganzliche Abwesenheit
des Hungergefiihls. Dergleichen Beobachtungen beweisen meines Erachtens weit
mehr, als eine Menge Vivisectionen, dass der Vagus das Hungergefiihl vermittelt.
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Therapie der vom Colon ausgehenden Manie. 185
im Nacken die unangenehmen Empfmdungen im Kopfe steigert. Manch-
mal sind auch tiefere Stellen des Riickens empfindlich. Zeigen sich
dabei Erscheinungen von Menstruatio difjicilis, oder ist zugleich eine
Congestio uterina vorhanden, dann offenbart sich die Spinalirritation
oftmals in der Lendengegend; desgleichen auch, wenn etwa weisser
Fluss vorhanden ist. In einigermaassen acuten Fallen ist der Urin
meistens sehr dunkel und sedimentirend.
Alle diese Erscheinungen erklaren sich aus der Affection des Co-
lon
und dessen Reflexen auf den oberen Theil des Riickenmarks, aufs
Gehirn und selbst auf die Nieren. Bei starker Pracordialangst ist
zumal das Colon transversum erweitert, auch wohl mit stockenden
Massen erfiillt. Der Stuhlgang ist dann meistens trage, und das
Angstgefiihl steigert sich mit der Verhaltung des Stuhls. Seltener
klagen die Kranken iiber ein unangenehmes Gefiihl in der rechten
Seite und in der Lebergegend,
§• 5.
Therapie der vom Colon ausgehenden Mania sympathica.
Eine rationelle Behandlung muss vor Allem aus das Colon ins
Auge fassen, die Congestion zur Medulla oblongata und zum Gehirne
nebst den anderen Reflexerscheinungen diirfen aber auch nicht iiber-
sehen werden.
Alle Mittel, die heftig reizend auf das Colon wirken, die sogenann-
ten Drastica, tragen nur zur Vermehrung der Stricturen bei, sie ver-
mehren die Empfindlichkeit des Colon und die Blutanhaufung in dem-
selben und veranlassen wasserige Stiihle, wobei die festen Massen in
den oberen Theilen des Dickdarms sitzen bleiben. Die Unruhe, die
Aufregung und das Angstgefiihl des Kranken nehmen dabei zu, die
Krafte aber ab, wenn diese Mittel langere Zeit fortgegeben werden;
die Circulation wird mehr und mehr unregelmassig, der Radialpuls
wird klein und die Gliedmaassen werden kiihl.
Die Regulirung des Stuhls ist bei solchen Kranken oftmals der
schwierigste Punkt, und dabei kommt viel auf die Wahl der Mittel an.
Sennesblatter, Tamarinden und die Mittelsalze wirken mehr auf die
diinnen Gedarme, und erzeugen leicht wasserige Stiihle oder Krampfe
in den Gedarmen. Auch Jalappe scheint mehr auf die diinnen Ge-
darme zu wirken. Ein Infusum Sennae mit Tamarinden und einem
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186 Therapie der vom Colon ausgehenden Mame.
Mittelsalze oder etwas Brechweinstein fand ich ofters recht wirksam,
wenn vorerst angehaufte Stoffe wegzuschaffen waren und vom Gehirne
abgeleitet werden musste. Spater gab ich dann meistens ein De-
coct von Rhamnus frangula, dem auch wohl etwas Brechweinstein zu-
gesetzt wird, da dieses Mittel nicht so wasserige Stiihle macht und
keine Kolik verursacht. Bei langereni Gebrauche wirkt es tonisch
und reizend.
Das Extr. Aloes aquosum wirkt mehr auf den Dickdarm als auf
den Diinndarm; es scheint einen starkeren Blutzufluss zur Schleim-
haut und eine vermehrte Secretion derselben zu bewirken, weshalb es
auch Haraorrhoiden erwecken und den Hamorrhoidalfluss in Gang
bringen kann. Giebt man es nun in grosserer Dosis auf Einmal, wie
es z. B. viele Aerzte Abends in Pillenform nehmen lassen, dann wirkt
es leicht zu stark reizend aufs Colon, die Stricturen treten noch mehr
hervor und ein unregelmiissiger Stuhl ist die Folge, namlich wasse-
rige Stiihle abwechselnd mit Verstopfung, wobei die Unruhe desKran-
ken zunimmt. Wird es dagegen in wiederholten kleinen Gaben ge-
gebeii, etwa funfmal taglieh oder selbst alle zwei Stunden, so bekommt
man reichliche lehmartige oder breiige Stiihle, manchmal dunkel ge-
farbt und hdchst widerlich riechend; zwischendurch gehen auch wohl
hartere anders gefarbte Massen zur grossen Erleichterung des Kran-
ken ab. Ich erwalmte aber bereits oben, dass ein kleiner Zusatz von
Brechweinstein sehr gut ist, weil dieser die eigenthiimliche Wirkung
der Aloe noch mehr sichert und dabei noch den Vortheil schafft, dass
man die Dosis der erlangten zusagenden Wirkung nicht weiterhin noch
zu steigern braucht, vielmehr allmalig herabsetzen muss, weil die
• Empfindlichkeit des Darmes gegen dieses Mittel mehr und mehr zu-
nimmt*). Ein starkerer Zusatz von Brechweinstein bewirkt Reizung
*) Vielfach habe ich mich davon iiberzeugen konnen, dass das Extr. Aloes
bei dieser Krankheit nicht bloss durch das Wegschaffen angehaufter Kothmassen
vortheilhaft wirkt, sondern auch durch die im Colon gesetzte Secretion. Die ei-
genthiimliche und reichliche Entleerung hochst fbtider Massen halt unter dem
Gebrauche dieses Mittels manchmal Wochen lang an, so dass die Menge des
Entleerten die Menge des Aufgenommenen iibertrifft, und zwar unter deutlicher
Verbesserung aller Erscheinungen, namentlich des qualenden Angstgefiihls. Nur
einen Fall will ich vorfiihren, wo sich die Wirkung dieses Mittels aufs Glan-
zendste bewilhrte. Eine sensible, plethorische junge Frau, Mutter von zwei Kin-
dern, verfiel in Melancholie mit Neigung zum Selbstmorde. Um ihren Mann
nicht zu betriiben, verschloss sie ihre Gedanken moglichst lange bei sich, bis sie
endlich in einem Anfalle tiefster Traurigkeit ihren triiben Zustand und ihre Ge-
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Therapie der vom Colon ausgehenden Manie. 187
der Schleimhaut, unci durch die vermehrte Congestion kommt es dann
zu wasserigen Stiihlen; es ist nicht leicht, hierin das rechte Maass zu
treffen. Manchmal wird der Brechweinstein gar nicht vertragen, in-
dem er schon in sehr kleinen Dosen wasserige Stiihle liervorruft. In
solchen Fallen, namentlich bei mehr chronischen Zustanden, habe ich
dem Extr. Aloes aquosum kleine Mengen von Cuprum sulphuricum zu-
gesetzt, welches als Tonicum die wasserigen Stiihle zuriickhalt.
wissensbisse demselben anvertraute. Det Arzt verordnete Mittel gegen den tra-
gen Stuhl, ohne dass aber daduroh eine Aenderung im Psychischen eintrat. Dar-
auf wurde ich mit zu Rathe gezogen. Ich verordnete Extr. Aloes aquosum mit
etwas Brechweinstein, und nach ein Paar Tagen war die Kranke, nachdem sie
viele Massen entleert hatte, ruhiger geworden. Es war aber die monatliche Rei-
nigung schon zweimal weggeblieben, so dass moglicher Weise auch Schwanger-
schaft da sein konnte, und da die Frau bei einem fruheren Abortus und ebenso
auch wahrend der Schwangerschaft sehr zu Blutungen geneigt gewesen war, so
wurden wir doch wegen Fortgebrauchs der Aloe bedenklich, und es sollte des-
halb versucht werden, durch andere Mittel das vorgesteckte Ziel zu erreichen-
Die Kranke bekara abwechselnd Rhabarber, Senna, Mittelsalze, und hatte davon
tiigliche, nicht mehr so fotide Stiihle; ihr schwermiithiger und gedruckter Zu-
stand trat aber dabei wieder in starkerem Grade hervor. Im dritten Monate
trat ein starker Blutabgang ein, der uns einen Abortus befurchten liess: derBlut-
abgang wurde aber gestillt, und es trat kein Abortus ein, weshalb wir am Be-
Btehen der Schwangerschaft zweifelhaft wurden. Nach einiger Zeit gaben wir
deshalb von Neuem das Extr. Aloes aquosum mit Brechweinstein, und die Folge
war, dass die hoch gestiegene Melancholie und das Angstgefuhl wiederum ab-
nahmen und die Kranke sich eher von ihren Gedanken ablenken liess. Nach eini-
ger Zeit waren wir aber iiber die wirklich vorhandeneSchwangerschaftimKlaren. Von
der Aloe eine neue Hamorrhagie befiirchtend, versuchte ich noch einmal Rha-
barber, Jalappe und andere Abfiihrungsmittel, denen ich auch etwas Brechwein-
stein zusetzte. Es stellte sich dadurch taglich Stuhlgang ein, allein die Melan-
cholie trat wieder lebhafter hervor, und wir mussten wieder zum Extr. Aloes
aquosum
greifen. Dadurch wurde denn auch eine vollkommene Heilung erreicht,
und zwar noch vor der Niederkunft, die ganz gliicklich verlief. —■ Zwolf Jahre
spater kam ein frischer Anfall von Melancholie, und ich wurde wieder zur Con-
sultation berufen. Es wurde das namliche Mittel verordnet, nachdem die hef-
tige Congestion durch blutige Schropfkopfe gemindert worden war, und unter
dem Abgange vieler Massen trat alsbald ein Nachlass in der Melancholie ein.
Beim Eintritte der Periode liess der Arzt das Mittel weg; da steigerte sich auch
die Melancholie alsbald wieder, und ich fand die Kranke eine Woche spater in
einem sehr gedriickten Zustande. Das Extr. Aloes aquosum leistete auch jetzt
seine Dienste wieder, die Kranke genas schnell, und ich liess das Mittel noch
einige Zeit in kleinerer Dosis fortnehmen. Der plotzliche Tod eines Kindes, der
ein Paar Wochen spater eintrat, veranlasste zwar neuerdings Aufgetriebenheit
des Bauches, Tragheit des Stuhls und eine melancholische Stimmung; allein alle
diese Erscheinungen verschwanden wieder nach ein Paar Tagen, als die Aloe
in der fruheren Gabe genommen wurde.
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188 Therapie der vom Colon ausgehenden Manie.
Vom Rhabarber habe ich selten viel Gutes geseben; er scheint
zu beftig auf die Muskulatur und auf die Stricturen des Colon zu wir-
ken, ruft mebr wasserige Stuhle hervor, die mit Verstopfung wecbseln,
und hinterlasst bekanntlich gewbhnlich Verstopfung.
Das Decoct, rhamni frangulae erzeugt keine Kolik, die so leicbt
von der Senna auftritt, und der Stuhl geht mebr in fester Form ab.
Das Mittel eignet sich desbalb manchmal recbt gut zu einer langeren
Anwendung. Vom Extr. Aloe's aquosum unterscheidet sich Bhamnus
frangula
durch seine mebr tonische Wirkung, desgleichen auch da-
durch, dass die austretenden Massen nicbt so zah, dunkel gefarbt und
fbtid sich darstellen, wie man sie zur grossen Erleichterung des Kran-
ken beim Gebraucbe der Aloe abgeben sieht. Wenn daher auch
Bhamnus frangula in vielen Fallen recht gut wirkt, so muss ich doch
dem Extr. Aloe's aq., mit etwas Brechweinstein verbunden und in wie-
derholten kleinen Gaben gereicht, den Vorzug geben, falls es vertra-
gen wird. Ich recline auf 60 Pillen 4 bis 5 Gran, und lasse fiinfmal
tiiglich 2 bis 4 Stuck nehmen.
Uebcr den Zusatz von krampfwidrigen und anderen Mitteln zum
Extr. Aloes aquosum babe ich mich schon oben ausgesprocben.
Dass bei tragem Stuhle und starken Stricturen des Colon oder
auch bei Hamorrhoidalbeschwerden Blutegel ad anum sehr gut wirken
konnen, das bedarf wobl keiner weiteren Auseinandersetzung. Mei-
stens wirken dann Laxantia weit besser, so dass man schon mit klei-
nen Gaben ausreicht, wenn vorher grossere Gaben oder auch Drastica
vergebens gereicht worden waren. Mehrmals sah ich dann schon ein
Mittelsalz wirken. Die Blutegel bewirken auch eine starke Ableitung
vom Kopfe. Am besten ist es, der Kranke lasst nach dem Abfalleii
der Blutegel auf dem Nachtstuhle Wasserdampfe einwirken *).
*) Noch neuerdings consultirte mich ein Apotheker wegen Melancholie mit
beginnender Neigung zu Selbstmord. Das rothe Gesicht wies offenbar auf pas-
sive Congestion hin. Wegen Eingenommenheit des Kopfes konnte der Mann
sein Geschaft niclit mebr versehen, ja nicht einmal einen Brief mehr Bohreiben.
Friiher hatte er viel Nasenbluten gehabt, spaterhin traten wiederholt fiiessende
Hamorrhoiden auf, die aber seit langerer Zeit ausgeblieben waren. Wegen Trag-
heit des Stuhles hatte der Arzt Pillen verordnet, und zwar auf 60 Pillen 2 Scru-
pel Extr. Aloes aq. und 14 Gran Tart, emet., zweimal taglich 3 bis 4 Stuck zu
nehmen. Er hatte davon meist wasserige Stuhle ohne alle Erleichterung. Ich
liess Blutegel ad anum setzen und unter Zuleitung von Wasserdampfen stark
nachbluten, wornach der Kranke den Kopf alsbald weit leichter fuhlte, so dass
er wieder denken konnte. Zur Forderung des Stuhls verschrieb ioh ebenfalls
60 Pillen, wozu aber nur 3 Gran Tart. emet. und 12 Gran Extr. Aloes aquosum
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Therapie der vom Colon ausgehenden Manie. 189
Manchmal hangt der trage Stuhl mit einer Affection des Riicken-
inarks zusammen, so dass sich die Gedarme gleichsam in einem pa-
ralytischen Zustande befinden; dann passt wohl Extr. nuc. vomicae,
verbunden mit Extr. Aloes aquosum. Handelte es sich aber um eine
chronische Myelitis oder wenigstens um einen stark congestiven Zu-
stand, dann wird die Wirkung der Laxantia durch blutige Schropf kopfe
am Riicken gefordert werden.
Sind viele Massen im Colon angehauft, was sich wohl durch Auf-
treibung des Unterleibes und durch ein eigenes Gefiihl von Schwere
und von Druck in der Gegend des Colon transversum zu erkennen
giebt, dann ist 01. Ricini ein vortreffliches Mittel, welches wegen der
sicheren und dabei sanften Wirkung vor alien anderen den Vorzug
verdient. Doch nehmen manche Kranke dieses Mittel nur ungern.
Manche Kranke widersetzen sich hartnackig jedem Einnehmen
von Arzneien. In der Privatpraxis kann man dann den Tart. emct.
unvermerkt den Speisen und dem Getranke zusetzen lassen, um da-
durch den Stuhl zu reguliren. Nur merken es die Kranken leicht,
werden dann misstrauisch, dass man sie vergiften wolle, und versagen
wohl hartnackig die Aufnahme von Speise und Getrank.
Statt des Tart. emet. habe ich auch wohl '/4 Tropfen 01. Crotonis
den Speisen zusetzen lassen und davon bei hartnackiger Verstopfung
Erfolg gesehen. Vom Einreiben des 01. Crotonis in den Unterleib sah
ich dagegen keinen anderen Erfolg, als den auch das blosse Reiben
des Unterleibes gehabt haben wtirde.
Man begegnet auch wohl besonderen Idiosynkrasieen. So ver-
suchte ich bei einem Melancholiker vergebens durch Extr. Aloes aquo-
sum
auf den tragen Stuhl zu wirken; seinZustand besserte sich nicht
bei dieser Behandlung. Spater bekam er anhaltend Senna mit Ta-
marinden, dabei wurde der Stuhlgang regelmassig und der Kranke
genas. Vielleicht war das Extr. Aloes aq. in diesem Falle ein zu
starker Reiz fur die Stricturen des Colon.
Von Helleborus albus und niger habe ich niemals einen besonde-
kamen; davon sollte er funfmal taglich 3 Stuck nehmen. Er konnte es nicht
begreifen, dass diese Dosis ausreichen sollte. Aber schon am zweiten Tage ka-
men vier breiartige Stiihle, und wegen der starken Wirkung musste die Pillen-
zahl bald auf die Hiilfte herabgesetzt werden. Nach 10 Tagen horte er ganz da-
mit auf, weil tagliche reichliche Stiihle da waren. Nach 14 Tagen kam er ganz
hergestellt zu mir, mit so verandertem Gesichte , dass ich inn zuerst kaum er-
kannte.
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190 Therapie der vom Colon ausgehenden Manie.
ren Erfolg beobachtet, wesbalb ich diese Mittel schon langst babe
ganzlich fallen lassen. In ein Paar Fallen von habitueller Versto-
pfung, wo in der Regel eine Aenderung der Arzneimittel wieder eine
Zeit lang gut tbut, fand icb aucb Scammoniwm zwischendurcb wirksam,
doch kann ich demselben keinen Vorzug vor anderen Mitteln ein-
raumen.
Bei herabgekommenen Individuen mit unregelmassigem Stuhl-
gange fand ich mehrfach das Decoct, rod. Arnicae, mit einer geringen
Menge Aq. laxativa Viennensis oder mit einem anderen Abfiihrmittel
verbunden, recht wirksam. In solchen Fallen kann auch die China
passen, wenn man damit milde Abfiihrmittel verbindet, oder wenn man
danelten kleine Mengen von Extr. Aloes aq. in Pillenform giebt. Mehr-
mals beobachtete ich, namentlich wenn zugleich Mad. Arnicae gege-
ben wurde, class der Stuhl sich regulirte und die Melancholie wich.
Bei Kranken mit Hamorrhoidalanlage sah ich auch vom fortge-
setzten Gebrauch der Flores sulphuris, mit oder ohne Cremor tartari,
recht guten Erfolg. Man muss das Mittel aber am Morgen nehmen
lassen, weil manche Individuen an Schlaflosigkeit leiden, wenn sie das-
selbe am Abend bekommen.
Endlich sind auch Klystire zur Beforderung des Stuhles sehr
wirksam. Nur vergesse man nicht, dass der oftmals empfindliche
Dickdarm direct dadurch gereizt wird. Zur Unterstiitzung der Ab-
fiihrmittel sind gewohnliche Klystire ausreichend. Taglich wiederholte
Klystire mit Sapo hispanicus, oder mit Seife und Oel, oder auch mit
kaltem Wasser bewahren sich bei starken Congestionen und als Tonicum.
Gar nicht selten besteht bei Melancholie eine heftige Reizung des
Gehirns und eine solche Aufregung des Kranken, dass die Hirner-
scheinungen die wichtigste Rolle spielen. Dann passt meistens der
anhaltende Gebrauch des Tart, cmeticus in kleinen Gaben, um den
Kranken mehr zu beruhigen und den Stuhl zu reguliren. Man muss
aber wohl unterscheiden, ob die grossere Lebhaftigkeit nur die Folge
erhohter Sensibilitat ist, die bei zarteren Constitutionen sich findet,
oder ob starkere Congestion zum Gehirne dabei zu Grunde liegt.
Nur im letztern Falle ist Tart, cmeticus indicirt, mit oder ohne blutige
Schropfkopfe: es passt hier die namliche Behandlung, wie bei Mania
idiopathica.
Bisweilen besteht gleichzeitig Verhartung und Vergrosserung der
Leber und der Milz, die sich durch Aufgetriebenheit und Harte des
Unterleibes kund geben. In solchen Fallen fand ich Jodkalium sehr
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Vom Geschlechtsapparate ausgehende Melancholia. 191
wirksam; bei dessen Gebrauche scliwand die Aufgetriebenheit und
Harte des Leibes nicht nur, sondern auch die chronische Melancholie.
In mehreren Fallen von Melancholie mit tragem Stuhle und so-
genannten Verstopfungen babe ich das Kissinger Wasser an der Quelle
sehr wirksam gefunden, einige Male auch das Wasser von Homburg.
Das verschickte Wasser leistete sehr wenig; es scheint durch den
Transport an Kraft zu verlieren. Doch mag auch die Reise an einen
fremden Ort und die Zerstreuung an einem solchen zur Herstellung
beitragen.
Nicht selten werden Kranke bei dieser Form der Melancholie zu
Selbstmordsversuchen getrieben, oder sie wollen durchaus keine Speise
oder keine Arznei nehmen. Die Abstinenz hort zwar meistens nach
einigenTagen auf; in manchen Fallen diirfte es aber gar nicht gerathen
sein, langere Zeit zu warten. Dann hat mir das durch die Nase ein-
zufiihrende Alimentationsrohr, dem vermittelst Charniere jede Art von
Biegung, die man wiinscht, gegeben werden kann, immer geholfen.
Oftmals geniigte schon ein einmaliges Einfuhren, die Kranken davon
zu iiberzeugen, dass sie auf diesem Wege ihr Ziel nicht erreichen
konnten, und sie widersetzten sich der Aufnahme von Speisen oder
von Arznei nicht langer.
§•6-
Die vom Geschlechtsapparate ausgehende Melancholie.
Diese Melancholieform stimmt zwar in manchen Beziehungen mit
jener iiberein, die vom Colon ausgeht, und es sind auch beiderlei
Formen oftmals mit einander in Verbindung. Gleichwohl unterscheiden
sich die beiden Formen meistens durch bestimmte Kennzeichen deut-
lich genug von einander.
Ich habe bereits oben (S. 173) auf den genauen Zusammonhang
der Blutgefasse und Nerven des Colon sinistrum mit denen des Uterus
und der Scheide bei der Frau, mit denen der Samenblaschen beim
Manne aufmerksam gemacht und darauf hingewiesen, dass demgemass
Congestionen zum Mastdarme und zum Colon sinistrum eben so zu
Onanie Veranlassung geben konnen, wie umgekehrt Onanie wieder
Congestionen zum Colon, Stricturen desselben und tragen Stuhl mit
alien Folgen des letztern hervorrufen kann. Die Affection des Ge-
schlechtsapparates, namentlich die Onanie, iibt nun einen entschiedenen
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19'2 Vom Geschlechtsapparate ausgehende Melancholie.
Einfluss auf den ganzen Verlauf der Melancholie und in therapeuti-
scher Hinsicht verdient sie die vollste Beachtung.
Die psychische Grundlage dieser Melancholieform ist zwar auch
die Schwermuth, das Niedergedriicktsein, die Selbstanklage, wie bei
der vom Colon sinistrwm ausgehenden Form; dabei zeigt sich aber
doch noch etwas Eigenthiimliches. Der Dickdarmmelanclioliker hat
es mit eingebildeten Missethaten zu thun, er ist ein schlechterMensch,
der Alles durchgebracht hat oder vor dem Richter erscheinen soil;
der andere hingegen halt sich fur siindhaft, „er ist von Gott verlassen,
der ihm niemals seine Missethaten vergeben kann, und in Ewigkeit
verloren." Mit einem Worte, die gedriickte Gemiithsstimmung geht
hier in Melancholia religiosa iiber, alle Beangstigungen haben einen
religiosen Anstrich.
Diese Eigenthumlichkeit habe ich in meiner langen Erfahrung so
oft und bestandig beobachtet, dass ich die Ueberzeugung aussprechen
darf, man werde nur hochst selten irren, wenn man bei einer Melan-
cholia religiosa
den Geschlechtsapparat, sei es durch Onanie oder durch
andere Ursachen, betheiligt annimmt. Bei den mit Melancholia religiosa
Behafteten in der Utrechter Anstalt habe ich durch genaue Nach-
forschung oft genug die Ueberzeugung gewinnen mtissen, dass die
strengglaubigen Ansichten, denen sie friiherhin zugethan waren, keines-
wegs einer wahren Frommigkeit entstammten, die Kranken vielmehr
der Onanie sich ergeben hatten oder auch mit andern Gebrechen der
Geschlechtssphare behaftet gewesen waren. Mehrmals gelang es mir
bei jugendlichen Individuen, die an Melancholia religiosa litten, die
friiher geiibte und noch bestehende Onanie zu constatiren, wenn auch
bei der ersten Untersuchung von Seiten der Eltern oder auch der
Kranken die Sache ganz und gar in Abrede gestellt worden war.
Indessen folgt der Onanie nicht immer Melancholia religiosa nach
und man darf auch nicht umgekehrt folgern, dass da, wo die Melan-
cholie nicht den religiosen Anstrich hat oder keine Neigung zu
Schwarmerei besteht, keine Onanie vorausgegangen sein konne; in
allerdings nur seltenen Fallen kommt bei Onanisten ein Irrsinn vor,
worin sich keine besondere religiose Farbung ausspricht. In solchen
Fallen riihrt die Onanie manchmal von vorausgegangener Mania idio-
pathica
und Reizung der Medulla oblongata her. Wieder in andern
Fallen wird durch haufiges Onaniren ein erregter maniakalischer Zu-
stand hervorgerufen, der weiterhin, wenn die Ursache nicht aufhort,
in Melancholia religiosa oder auch wohl in Blodsinn ubergeht.
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Vom Geschlechtsapparate ausgehende Melancholie. 193
Manchmal waren Onanie, Amenorrhoe und andere krankhafte Zu-
stande erst secundar aufgetreten, nachdem Congestionen zum Mast-
darme und zum Colon vorausgegangen waren, in anderen Fallen
dagegen hatte die bestandige Aufregung und Reizung der Geschlechts-
theile den tragen Stuhl, Molimina haemorrhoidalia und die Congestionen
zum Colon hervorgerufen. Weit seltener fehlte die Verstopfung.
Die Melancholia religiosa stellt sich zwar bei verscbiedenen Indi-
viduen je nach Alter und Gescblecbt uud nach der Verscbiedenartigkeit
der Ursachen, wodurch die Affection des Geschlecbtsapparates herbei-
gefiihrt wurde, etwas verscbieden dar; der Grundton indessen ist
uberall der naniliche.
Die allerhaufigste Ursache ist die Onanie, auf die man nicbt sorg-
sam genug achten kann, und wobei man sicb wobl zu hiiten hat, dass
man nicht durch dreistes Laugnen von der recbten Spur abgelenkt
wird *).
Wenn man bei einem jungen Menseben eine gewisse Scbeu, einen
ausweichenden und niedergescblagenen Blick, ein triiges, unentschlos-
senes Wesen wahrnimmt, wozu sich bald Stumpfsinnigkeit, Einge-
nommenheit des Kopfes und Gedachtnissschwache gesellen, dann bat
man immer an dieses traurige Laster zu denken. Dazu kommt noch
eine Unbestandigkeit des Charakters und ein sehr ungleiches Benehmen,
jenachdem der ungliicklichen Neigung ohne Riickhalt gefrohnt oder
aber einigermaassen ein Ziel gesteckt wird. Alle Onanisten bleiben
des Morgens gern im Bette liegen. Auch Menschenfurcbt tritt meistens
hervor: sie meinen, dass Jedermann unterwegs sie ansiebt, beklagen
sicb wobl dariiber und lassen sich zu allerlei Argwobn und verkehrten
Einbildungen verleiten. Kommen dazu noch schwarmerische Vorstel-
lungen und Selbstbeschuldigungen, dann kann man kaum mehr an der
Onanie zweifeln. Man findet meistens auch eine unregelmassige Cir-
culation, kiihle und dabei mit Scbweiss bedeckte Hande, Hitze am
Kopfe, besonders im Nacken und am Hinterkopfe oder am Scheitel.
Das Abbeissen der Niigel und das Klauben an den Fingern, wodurch
mehrfache kleine Abschilferungen entstehen, kommt zwar auch bei
*) Man vertraue ja nicht zu leiehtgliiubig den Versicherungen der Kranken,
die oftmals aus Soham laugnen. So gestand mir einmal ein anstandiges Miid-
chen ohne weitere Naehfrage, dass sie Onanie getrieben hatte; sie versicherte
zugleich auf s entschiedenste ihre Reue, und ich durfte mich ganz darauf ver-
lassen, dass es nicht mehr vorkame. Nichtsdestoweniger entdeckte ich spater,
dass das Madchen noch taglich dem traurigen Laster i'rohnte.
Sch roeder v. d. Kol k, firistcskranklieiten.                                                       13
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194 Vom Geschlechtsapparate ausgehende Melancholic
andern Formen der Melancholie vor, am haufigsten aber doch bei
Onanisten. Der trage Stuhl gehort auch mit zu den Erscheinungen
der Onanie.
Mancbe zahlen Abmagerung unter den unausbleiblichen Folgen
der Onanie auf, aber mit Unrecht: solche Individuen bekommen durch
die cbronische Congestion nach dem Kopfe oftmals etwas Aufgetrie-
benes im Gesicbte. Dagegen ist der matte Blick meistens recht
cbarakteristisch. Die Abnabme der geistigen Krafte geht zuletzt in
Blodsinn fiber. Diese geistige Abstumpfung schreitet in der Regel
bei jugendlichen Individuen rascher vor; auch pflegt sie beim mann-
lichen Gesclilechte rascher und intensiver aufzutreten. Ich babe sogar
Madchen gesehen, die dem Laster in ungezugeltem Maasse und lange
Zeit hindurch frohnten, und bei denen keine entsprechende geistige
Abstumpfung eingetreten war, sondern mehr etwas Launenhaftes, Bi-
zarres und Fremdartiges im Charakter. Allein auch bei ihnen bleiben
weiterhin die traurigen Folgen der Onanie nicht aus.
Der blodsinnige Zustand oder die Dementia von Onanie zeigt sich
iibrigens verschieden von dem gleichen Zustande nach Mania idio-
pathica
und Meningitis, und ihre Unterscheidung ist von "Wichtigkeit.
Durch die anhaltende venose Congestion werden die Gefasse erweitert,
es bildet sich ein mehr passiver Zustand und ein Druck aufs Gehirn
nebst Exsudation aus, die graue Substanz aber degenerirt nicht so
rasch. Ich habe deshalb den durch Onanie entstandenen Blodsinn in
erheblichem Maasse wieder schwinden sehen, sobald nur die veran-
lassende Ursache bei einer zweckmiissigen Behandlung aufhorte. Bei
Mania idiopathica dagegen stellt sich eine mehr acute Entziindung
der Gehirnhaute ein und der Blodsinn wird dadurch unheilbar. Sehr
haufig kommen auch Hallucinationen, namentlich des Gehors, als
Folgen der Onanie vor. Treten sie gleich zu Anfang der Krankheit
auf, wo sie im Ganzen seltener vorkommen, dann ist die Prognose
ziemlich ungiinstig.
Auch Epilepsie ist weit h'aufiger eine Folge der Onanie, als man
im Allgemeinen anzunehmen pflegt. Sehr haufig musste ich die Ent-
stehung dieses. Leidens auf vorausgegangene Onanie zuriickfiihren. Bei
der Inspection der Hollandischen Irrenanstalten, wenigstens zu der
Zeit, wo dieselben sich meistens noch in einem traurigen Zustande be-
fanden, weil die nothige Beaufsichtigung fehlte, habe ich mehrfach
die Beobachtung gemacht, dass die Anzahl der Epileptiker in den
einzelnen Anstalten in einem correspondirendenVerhaltniss zurMenge
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Vom Geschlechtsapparate ausgehende Melancholie. 195
der Onanisten darin stand, da ja jenes Laster beim Mangel jeder Auf-
sicht in einzelnen Anstalten auf die grasslichste Weise im Schwunge
war. • Seit der bessern Einricbtung der Holliindischen Irrenanstalten
finden sich aucb nicht mehr so viele Epileptiker darin.
Die Behandlung der Onanie ist ein sehr undankbares Geschaft,
weil es oftmals fast unmoglich ist, der Uebung des Lasters durch sorg-
faltige Aufsicht auf die Dauer vorzubeugen. Man bewegt sich dann
in einem Cirkel, der nicht leicht zu durchbrechen ist. Die sich immer
wiederholende Aufregung der Geschlechtstheile setzt fortwahrend er-
neuerte Congestionen zu denselben, und die Anhaufung des Blutes in
den zuletzt habituell ausgedehnten Gefassen bewirkt neue Aufregung
und Neigung zum Onaniren, der zu widerstehen auch die besten Vor-
satze des Kranken oftmals nicht ausreichend sind, so dass er, gleich
dem Trinksiichtigen, unrettbar in's Verderben gestiirzt wird. Hat er
aber auch noch Kraft genug, sich dem Triebe zu entziehen, dann treten
nicht seltenhaufige nachtlichePollutionen ein, denen er doch vielleicht
erliegt, wenn nicht eine vorsichtige Behandlung hier Schranken setzt.
Vor Allem aus muss man zu ermitteln suchen, was zur Onanie
Veranlassung gegeben hat, oder wodurch die starkere Aufregung des
Geschlechtstriebes unterhalten wird. Nicht immer liegt schlechtes
Beispiel, tible Lecture und Verfiihrung zu Grunde, oftmals sind auch
Hamorrhoidalcongestionen daran Schuld, oder Plethora und gereizter
Zustand der Medulla oblongata.
Wenn eine Hamorrhoidalcongestion sich auf die Gefasse der
Samenblaschen ausbreitet, wo dann meistens der Stuhl trage ist, so
passen leichte Eesolventia, manchmal Blutegel ad anum und noch
mehr ad perinaeum, kalte Waschungen und Sitzbader, auch wohl Flores
sulphuris*)-
1st die Onanie erst im Anfange, dann wirkt auch wohl
*) Ein merkwiirdiger Fall ist mir bei einem Prediger vorgekommen, der
schon als Student mit der Onanie kampfte und aus diesem Grunde mit zu einer
fruhen Ehe sieh entschlossen hatte. Obschon er Vater von funf Kindern war,
vermochte er doch dem fortwahrend anstiirmenden onanistischen Triebe nicht
zu widerstehen und war dem Laster wieder ganz anheimgefallen. Er hatte, wie
er glaubte, die Liebe zu Frau und Kindern verloren, schloss sich am liebsten
allein in seinem Studirzimmer ein, war nicht mehr im Stande, seine Geschiifte
zu verrichten, und kam so rathlos und verzweiflungsvoll zu mir, da er sich auch
von Gott verlassen glaubte, und da er, ein solches Scheusal, nicht mehr den
Gottesdienst versehen diirfte. Ich horte den unghicklichen M3nn geduldig an,
untersuchte seinen Korper und fand, dass Hamorrhoidalanlage und trager Stuhl
dem Uebel zu Grunde lagen. Durch kalte Waschungen, namentlich am Hinter-
13*
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196 Vom Geschlechtsapparate ausgehende Melancholie.
der fortgesetzte Gebrauch von Acid, sulpliuricum dilutum, und dancben
sparsame Diat, namentlich Abends. Kann man in solchen Fallen die
Hamorrhoidalcongestion mindern oder ganzlich zum Schweigen bringen,
dann feblt der Hauptreiz, der zur Onanie treibt, und der Ungliickliche
vermag der Verfiihrung leichter zu widersteben.
Manchmal liegt die Veranlassung zur Onanie mehr in Congestionen
zur Medulla oblongata. Ich habe oben erwahnt, dass bei Mania idio-
patMca,
wenn das Gehirn und das verlangerte Mark gereizt werden,
meistens ein sehr reger Geschlecbtstrieb vorhanden ist. Ich beob-
acbtete ferner bei einem Epileptischen, dass durch wiederholte blutige
Schropfkopfe, denen spater einHaarseil im Nacken folgte, diehaufigen
Pollutionen zugleich mit den epileptischen Anfallen aufhorten. An-
dererseits iibenaber auch Erregungen der Geschlechtstheile und Onanie
einen Reflex auf die Mcdtdla oblongata, der sich durch erhohte Tem-
peratur im Nacken oder am Kopfe unci durch Spinalirritation, nament-
lich beim Druck auf die obersten Halswirbel, haufig genug kund giebt.
Blutige Schropfkopfe, kalte Waschungen und Douchen im Nacken, die
letztern namentlich Abends vor Schlafengehen, konnen hierbei sehr
vortheilhaft wirken.
Viele Autoren schreiben dem Kampher eine besondere beruhigende
Wirkung zu. Mir hat er bei Aufregung des Geschlechtstriebes oder
bei Onanie keinerlei Dienste geleistet, und ich habe ihn bei Melancholia
religiosa
mit Affection des Geschlechtsapparates vergebens angewendet.
Nur bei grosser Erregung des Nervensystems, wenn nicht gleichzeitig
eine stiirkere Gefassaction sich kund giebt, kann Kampher recht vor-
theilhaft wirken.
In hartnackigen Fallen kommt oftmals sehr viel darauf an, dass
die ungliickliche Neigung zur Onanie ein Paar Wochen lang darnieder
gehalten wird. Gelingt dies, dauu bessert sich die Constitution einiger-
maassen und der Kranke fangt an, sich wieder zu beherrschen. Wollte
dies nicht gelingen, so legte ich einen schmalen Vesicatorstreifen
spiralformig um das Praputium und unterbielt die Eiterung; dabei
musste aber noch fortwahrend die Zwangsjacke in Anwendung kommen.
So wurde hin und wieder auch noch Besserung erzielt.
kopfe, die mehrmals taglich _wiederholt wurden, durch Resolventia, durch Flo-
res sulphuris
und sparsame Diiit gelang es, diesen Kranken vollstiindig zu hei-
len, so dass er sich wieder als Mensch, als Gatte und Vater gliicklich fiihlte und
durch gelehrte Abhandlungen den Beweis lieferte, dass er wieder im vollen Be-
sitze seiner Geisteskrafte war.
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Vom Geschlechtsapparate ausgehende Melancholie. 197
Spermatorrhoe, die nach Lallemand so haufig vorkommen soil,
scheint in Holland wenigstens weit seltener beobachtet zu werden.
In dem einzigen Falle, der in meine Wahrnehmung fiel, brachte die
Cauterisation nach Lallemand keinen Nutzen.
Bei Madcben und bei Frauen ist die Onanie durcbaus nicbt ganz
ungewohnlich, dabei ist sie oftmals sehr hartnackig und wobl mit hy-
sterischen Erscbeinungen vergesellschaftet. Meistens ist Fluor albus
dabei, in Folge der haufigen Reizung. Liegt dem aufgeregten Ge-
seblecbtstriebe und der Nymphomanie eine Amenorrboe und Plethora
uteri
zu Grunde, dann passen Blutegel an die Scbamlippen oder oben
an die Schenkel. Mancbmalkommen sie aber auch besser weiter unten
an die Scbenkel. Sonst hat man bier die allgemeinen Indicationen
im Auge zu behalten*).
Bei recht hartnackigen Fallen hat man auch die Cauterisation
der Clitoris empfohlen. Ich habe dieses Mittel einmal bei einem
Madchen in Anwendung gezogen, aber obne Erfolg. Es musste zur
Amputation der vergrosserten Clitoris geschritten werden, die von
einer starken Hamorrhagie begleitet war; darnacb minderte sich aber
die onanistische Neigung und blieb endlich ganz weg.
Zu den vorziiglichsten Hiilfsmitteln bei Onanie gehort die an-
baltende arbeitsmassige Beschaftigung. Nur kann man dieses Mittel
meistens desbalb nicbt in Anwendung bringen, weil dieOnanisten sehr
trage sind und sich nicbt zu anstrengender Arbeit bequemen.
War einmal die onanistische Neigung durch zweckdienliche Mittel
beseitigt worden, zeigten sich die Kranken aber noch matt und schwach,
jedoch frei von Gehirncongestion, wodurch die Anwendung von Reiz-
mitteln unriithlich geworden wiire, und schien so der Uebergang in
Blodsiun befiirchtet werden zu miissen, dann haben mir einige Male
Flores Arnicae und Eadix Arnicae, vielleicht mit China verbunden,
die besten Dienste geleistet. Ich verband damit arbeitsmassige Be-
schaftigung, so dass die Kranken ermiideten und am Abend bald ein-
schliefen.
Bei einem jungen Menschen von ganz blassem Aussehen wurde
*) Bei einer vollbliitigen verheiratheten Fran, wo hartnackige Verstopfung
und Plethora coli bestand, trat heftige Nympbomanie mit unbezwingbarer Ona-
nie auf. Durch Extr. Aloes aquosum wurden viele Kothmassen entleert und es
trat rasche Heilung ein. Im Ganzen aber passt Aloe hier weniger, weil da-
durch leicht die Hamorrhoidalcongestion zunimmt.
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198 Vom Geschlechtsapparate ausgehende Melancholic
die onanistische Neigung durch kalte Waschungen, durch Ableitunge
im Nacken und durch BeseitiguDg der Stuhlverhaltung gehoben; von
seinen falschen religiosen Vorstellungen aber wurde er weiterhin
durch Martidlia befreit. Er schien Anfangs ganz in Blodsinn ver-
fallen zu wollen, ist aber vollstandig hergestellt worden.
Bei den Hallucinationen der Onanisten passen ableitende Mittel,
namentlich ein Haarseil im Nacken, in acuten Fallen auch wohl blutige
Schropfkopfe.
Bei melancholischen Frauen und Madchen kommt nicht selten
ein ziemlich hartnackiger Fluor albus vor,„der von Onanie herriihren
kann, aber auch von Plethora uteri oder von andern Ursachen. Ein
solcher weisser Fluss hat eine ganz deprimirende Wirkung und tragt
zur Verstarkung der Melancholia religiosa bei; es stellen sich dabei
Congestionen zum Kopfe, sbwie Eingenommenheit und Betiiubung ein.
Riihrt die Melancholie von Verstopfung oder von Plethora uteri her,
so wird die Niedergeschlagenheit doch nicht leicht friiher oder doch
nur voriibergehend aufhoren, so lange nicht der weisse Fluss beseitigt
ist. Meistens verbinden sich damitmehr oder weniger heftigeLenden-
schmerzen, die durch Reflex auf den untern Theil des Riickeumarks
zu Stande kommen. In einzelnen Fallen ist dann die Affection des
Ruckenmarks eine primiire und verlangt ableitende Mittel und blutige
Schropfkopfe. — Bekanntlich nutzt beim weissen Flusse haufiges
Waschen mit kaltem Wasser, dem auch wohl Aqua Goulardi zugesetzt
werden kann. In langwierigen und hartnackigen Fallen bewahrten
sich mir aber Injectionen von Hollensteinauflosung am besten. Mir
ist noch kein Fall vorgekommen, wo das Uebel nicht alsbald durch
diese Injectionen zumSchweigen gebracht worden ware, so lange noch
keine Desorganisationen eingetreten waren. Ist etwas Syphilitisches
dabei im Spiele, dann nehme ich Sublimatauflbsung zu den Injectionen.
Eine andere gar haufig spielende Quelle der Melancholie ist die
Menstruatio suppressa oder irregularis. In manchen Fallen riihrt aber
die Amenorrhoe von einer allgemeinen Affection her, oder sie ist
krampfhaften Ursprungs. Der Zusammenhang zwischen Menstruation
und Melancholie lasst sich meistens daraus entnehmen, dass die Me-
lancholie vor oder wahrend der Periode starker hervortritt. Gar nicht
selten weicht aber auch die Melancholie oder die Manie, bevor die
Periode wieder eintritt, und letztere bleibt daher wohl im Zeitraume
der Reconvalescenz von selbst wieder weg.
Daher kommt es, dass Amenorrhoe nicht immer mit Melancholia
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Vom Geschlechtsapparate ausgehende Melancholic 199
religiosa sich verkniipft, sondern oftmals auch bei andern Arten von
Manie beobachtet wird. Allein bei Melancholia religiosa steht die
Amenorrhoe meistens in einem ursachlichen Verbande mit der Krank-
heit, und der Wiedereintritt der Periode ist dann auch in der Eegel
der Anfang der Genesung. Dagegen ist es als ein ungiinstiges Zeichen
anzusehen, wenn die Periode wieder eintritt und einen regelmassigen
Verlauf nimmt, ohne dass eine Aenderung des Irrsinns sich einstellt:
die Krankheit geht dann meistens in unheilbaren Blodsinn iiber.
Steht die Amenorrhoe in Beziehung zur gesammten Krankheit,
dann werden die Kranken durch fortwahrende Furcht vor ewigen
Strafen gequalt, und ungeachtet ihres religiosen Benehmens und der
Angst vor der Zukunft suchen sie durch Selbstmord den Lebensfaden
abzuschneiden; dabei glauben sie sich aber nicht selten bereits in der
Holle und fiihlen nach ihrer Versicherung die ewige Pein. Solche
Kranke miissen sorgfaltig iiberwacht werden, und die Behandlung im
eignen Hause hat daher ihre bedenkliche Seite, weil hier die Aufsicht
nicht so sorgfaltig zu sein pflegt als in einer Anstalt. Meistens treten
die Erscheinungen vor oder nach der Periode mit grosserer Heftig-
keit auf.
Manche Kranke wahnen sich in Folge der Plethora uteri schwan-
ger und jammern iiber die Schande, die dadurch iiber sie kommt; mit
der Wiederkehr der Periode schwindet aber dieser Irrwahn.
Entsteht die Melancholia religiosa in den klimakterischen Jahren,
dann ist die Prognose sehr ungiinstig; es bilden sich dann meistens
unheilbare Leiden des Uterus aus, die Plethora uteri und die davon
herriihrenden Reflexerscheinungen dauern fort und machen die Krank-
heit unheilbar.
Die Behandlung der vom Geschlechtsapparate ausgehenden Me-
lancholie ist oftmals schwierig und langdauernd. Allgemein schad-
liche Ursachen miissen selbstverstiindlich beseitigt werden. Bei Chlo-
rotischen wirken Eisenmittel oftmals am besten zur Beseitigung der
Melancholie. Manchmal verbindet sich mit der Verstopfung und der
Plethora coli Amenorrhoe, durch krampfhaften Zustand der Gebar-
mutter bedingt. Dann passen die bereits erwahnten Mittel haupt-
sachlich. Manchmal hat roir das Pulv. Doveri und besonders Morphium
bei Melancholie, bei Manie oder auch bei Nymphomanie Hysterischer
gute Dienste gethan. Die Unruhe, die Schlaflosigkeit verschwanden,
die Geistesverwirrung nahm bald eine bessere Gestalt an und die Pe-
riode stellte sich wieder ein. Ueber den Nutzen der Opiate habe ich
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200 Vom Geschlechtsapparate ausgehende Melancholie.
mehrfache Erfahrungen; ich sah die Menses suppressae dadurch wieder
in Fluss kommen. Auch bei Vivisectionen habe ich die excitirende
Wirkung des Opiums auf den Geschlechtsapparat und auf die Harn-
organe beobachtet. Ein Pferd, dem 6 Drachmen Extr. Opii aquosum
in die Jugularis gespritzt worden waren, harnte ein Paar Stunden
lang fortwahrend, und zwar 64 Male in der Stunde. Andere Male
schien die Gesehlechtslust dadurch erweckt zu werden. Opium wirkt
aber auch erregend aufs Iliickenmark, nur anders als Nux vomica;
denn wahrend die Wirkung der Nux vomica am intensivsten im Len-
dentheile des Riickenmarks hervortritt, trifft jene des Opium mehr den
obern Theil des Riickenmarks.
Ueber keine Abtheilung von Arzneimitteln ist man so sehr im
Unklaren, wie in Betreff der Emmcnagoga. Die meisten darunter
scheinen ganz wirkungslos zu sein. Manche dazu gerechnete Mittel,
•wie Sabina, Secale cornutum, wirken mehr auf die Muskelfaser der
schwangeren Gebarmutter und erwecken Contractionen derselben;
zweifelhaft ist es aber, ob sie auch auf die ungeschwangerte Gebar-
mutter einwirkon. Bekanntlich muss nun eine Reizung und ein Con-
gestionszustand der Ovarien vorausgehen, wenn der Monatsfluss ein-
treten soil, wie ja auch nach Exstirpation der Ovarien die Menstrua-
tion ausbleiben soil; Mittel, die speciell auf die Muskelfasern der Ge-
barmutter wirken, diirften deshalb als Emmenagoga so gut wie un-
wirksam sein. Bei Amenorrhoe von Unthatigkeit des Gefasssystems
soil die Sabina nachPereira's Angaben als Reizmittel auf die Gefasse
■wirken: ich habe indessen in keinem einzigen Falle einen bestimmten
Erfolg von Sabina gesehen. Bei fortgesetzter Anwenclung des Borax
sah ich mehrmals die Periode eintreten; ob aber daran allemal der
Borax Schuld war, muss ich dahin gestellt sein lassen, weil dieses
Mittel nicht selten auch ganz erfolglos gegeben wurde. Ueber Tinct.
Cantharidum
habe ich keine eigne Erfahrung. — Vom Extr. Aloes
wiuosum
habe ich auch keine sichere emmenagogischo Wirkung beob-
achtet. Uebrigens kann es durch seine Wirkung aufs Colon und durch
das Fortschaffen verharteter Kothmassen den Monatsfluss befordern,
denn nach Entfernung solcher Massen tritt oftmals von selbst die
Periode ein und damit zugleich eine Besserung der Melancholie. —
Einige Male sah ich auch den glanzendsten Erfolg von blutigen Schropf-
kopfen in der Lendengegend, zumal wenn hier Spinalirritation statt-
fand; in einem Falle trat die Periode bereits eine halbe Stunde nach
dem Setzen der Schropfkopfe ein. — Die Application des Elektro-
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Vom Geschlechtsapparate ausgehende Melancholic. 201
magnetismus, namentlich durch den Rotationsapparat, in der Lenden-
gegend kanu ebenfalls bei Torpiditat vortheilhaft sein. In einigen
Fallen von Paralyse der untern Gliedmaassen, wo der Elektromagnetis-
mus taglich in Anwendung kam, entstand ein so copioser Blutabgang,
dass ich das Mittel aussetzen musste. Ebenso kenne ich aber auch
Falle von Amenorrhcie, wo ich den Elektromagnetismus mit gutem
Erfolge am Riicken oder am Halse und an den Beinen appliciren liess.
Einmal trat sogar die Periode dadurch ein, nachdem der Junod'sche
Apparat erfolglos angewendet worden war. — Blutegel an die Scham-
lippen oder oben an die Schenkel wirken in solclien Fallen auch recht
gut, wenn man dazu greifen darf. Desgleichen audi Dampfbader an
die Geschlechtstheile, falls der weisse Fluss dadurch nicht zu sehr be-
fordert wird. — Zu den kraftigsten Mitteln gehort dann auch der
Junod'sche Schropfstiefel; ich beobachtete bei dessen Anwendung
raschen Eintritt der Periode und ein Verschwinden der Melancholic
Nur ist seine Anwendung, zumal in der Privatpraxis, keine leichte.
Vielleicht konnte man den Stiefel dadurch einigermaassen ersetzen,
wenn man kurze Zeit eine festeBinde um den Schenkel legte und da-
durch das Blut in den Beinen zuriick hielte. Fussbader gehoren
endlich zu den empfehlenswerthesten Unterstutzungsmitteln.
Natiirlich wird man bei der Auswahl dieser Emmcnagoga in Be-
tracht zu ziehen haben, ob durch Congestion und Reizung des Uterus
oder des Riickenmarks, mit oder ohne gleichzeitige Affection des Colon
sinistrum,
eine Betentio mensium spasmadica hervorgerufen wird, oder
ob andererseits eine zu schwache Gefassthatigkeit oder ein chloroti-
scher Zustand zu Grunde liegt.
Bei der Melancholia religiosa, gleichwie bei jeder andern sympa-
thischen Manie, muss man auf die Congestion zum Gehirne und die
Hitze im Nacken, so wie auf das Gefiihl von Schwere und von Druck
iin Kopfe achten. Denn die freilich nur secundiire Affection des Ge-
hirns ist doch die nachste Ursache der Geistesverwirrung, und von
ihrer Beseitigung hangt die Herstellung ab. Wird das Gehirn zu
heftig gereizt, so dass es zu chronischer Meningitis kommt, dann geht
die Melancholie in Manie oder in Blodsinn iiber, d. h. die graue
Rindenschicht atrophirt, und damit schwindet die Aussicht auf Wieder-
herstellung. Zur Verhiitung dieses ungliicklichen Ausganges muss
dafiir gesorgt werden, dass die Hirnaffection nicht zu sehr hervortritt.
Das erreicht man durch blutige Schropfkopfe im Nacken, durch Blut-
egel, durch kalte Ueberschltige. Mit andern Worten, neben der An-
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202 Vom Geschlechtsapparate ausgehende Melancholie.
wendung der Mittel, wodurch die Ursachen der sympathischen Manie
beseitigt werden, setzt man die bei der Mania idiopathica angegebene
Curmethode ins Werk.
Hallucinationen kommen in solchen Fallen ebenfalls vor*).
In hartnackigen, meist veralteten Fallen iindert diese Melancholie
manchmal den Charakter, es bildet sich eine bestimmte Vorstellung
aus und wir haben es mit Demonomania zu thun. Die Kranken klagen
dann iiber ein eigenthiimliches Gefiihl im Bauche, mit kolikartigen
Schmerzen, und das schreiben sie Teufeln zu, die sich in ihrem Bauche
verbergen. Esquirol fand in einem derartigen Falle die Gedarme
*) Einer der interessantesten Falle, die mir vorgekommen sind, betrifft eine
junge Banftmiithige, dabei aber plethorisohe Frau. Als sorgsame Mutter traf sie
das Ungliick, dass sie, die schon einige Zeit an tragem Stuhl und Verstopfung
gelitten hatte, ihr halbjahriges Kind auf dem Schoosse dureh Krampfe sterben
sah. Die heftige Erschiitterung machte sie zunachst gleichgiiltig, und sie machte
sich diese Gleichgiiltigkeit selbst zum Vorwurfe; nach einiger Zeit aber glaubte
sie gestorben zu sein. Sie „8ah die Laden schliessen, horte die Menschen iiber
ihren Tod reden und erwartete nun jeden Augenblick in den Sarg gelegt zu
werden." Nun folgte eine Wahnvorstellung der andern. Sie „befand sich in
der Holle, ihr Kind war nicht an Krampfen gestorben, sondern sie selbst hatte
es aufgegessen"; sie schreckte daher zusammen, wenn sie von Fleisch oder von
Fleischspeisen reden horte, und wollte deshalb kein Fleisch geniessen. Eine Zeit
lang kostete es sogar Miihe, sie iiberhaupt zum Essen zu bewegen, „sie war ja
todt und bedurfte keiner Speise, Ihr Mann und ihre anderen Anverwandten
waren durch sie gestorben, und die Personen, die sich dafiir ausgaben,,, waren
bose Geister, die sie dadurch qualten, dass sie sich in die Kleider ihres Mannes
und ihrer Sohwestern steckten; Alles war nur Schein, selbst die Sonne'war nicht
mehr die wahre Sonne, sondern eine falsche". Die Menschen erschienen ihr ent-
weder mit grauem Gesicbte, oder sie waren glanzend und hatten auch wohl feu-
rige Augen. Die Sinne der Frau, namentlich das Gehor, waren ungemein scharf.
Als sie endlich in die Utrechter Anstalt aufgenommen wurde, besserte sich ihr
Zustand unter der Anwendung blutiger Schropfkopfe, kalter Umschlage und
Tropfbader auf den Kopf, sowie durch Extr. Aloes aquoswm mit Tart, emeticus,
wodurch viele verhartete Massen abgingen, und es entstanden ihr Zweifel iiber
ihre Vorstellungen; nur den Gedanken konnte sie nicht fahren lassen, dass Bie
Bich einer schweren Missethat schuldig gemacht hatte. Endlich schien dieses
niederdriickende Gefiihl sie auf Einmal zu verlassen und sie war ganz gliicklich.
Nun sah sie aber einen Lichtglanz, eine Art Heiligenschein um alle Menschen,
und deshalb glaubte sie sich plotzlich im Himmel. Doch dauerte dieser Wahn
nur ein Paar Tage. Dann war sie vollkommen genesen, und sie sprach nun fort-
wahrend von den Hallucinationen, die sie so sehr beangstigt hatten. Die Pe-
riode war ausgeblieben, stellte sich aber ein Paar Wochen nach der Genesung
auch wieder ein. Die hohe Scharfung des Gehors und die Gesichtshallucina-
tionen waren jetzt ganz weg. Gegenwartig erfreut sich die Frau der besten Ge-
sundheit und ist als Mutter und als Hausfrau gliicklich.
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Vom Geschlechtsapparate ausgehende Melancholie. 203
ganz untereinander verwachsen, und ich habe das in einem Falle eben
so gefunden, Es scheint demnach, dass pathologische Empfindungen
von veralteten Adhasionen der Baucheingeweide zu solchen Vorstel-
lungen Veranlassung geben, wozu dann noch vernachlassigte Erziehung,
geringe Aufklarung und Aberglaube das Ihrige beitragen mogen. Im
Ganzen kommen dergleichen Falle seltener und meistens bei Frauen
niederen Standes vor. Die Prognose ist im Allgemeinen ungiinstig.
Die vom Geschlechtsapparate ausgehende Melancholie kann sich
nun aber wieder verschiedenartig gestalten, je nach der Constitution
und nach den besondern Zustanden des Kranken. Insbesondere gilt
dieses von der Mania puerperalis, wobei nicht selten die heftigste
Aufregung und Tobsucht mit religiosen Vorstellungen und mit Melan-
cholie abwechselt. Dabei hat man, ausser auf die Constitution, auch
auf das vorausgegangene Wochenbett zu achten. Meistens stellte sich
schon ein Paar Tage nach der Niederkunft grosse Lebhaftigkeit und
ein aufgeregtes Wesen ein. Manchmal wurde der Ausbruch durch
einen Schreck oder durch eine andere unvorhergesehene Einwirkung
herbeigefiihrt. Manchmal horen die Lochien auf; die Milchabsonderung
kann fortgehen oder nachlassen. Der Puis ist beschleunigt, und die
Aufregung des ganzen Organismus fiihrt meistens zum Ausbruche
heftigster Wuth. Die Kranken zerreissen ihre Kleider, sie beleidigen
ihre Anverwandten und verlieren nicht selten alles Schamgefuhl. Der
Schlaf fehlt. Die Angst treibt die Unglucklichen manchmal zu Flucht-
versuchen und sie suchen durch Ertranken ihr Leben zu endigen.
Meistens sind religiose Vorstellungen mit im Spiele, und bei langerer
Dauer geht der Zustand in Melancholia religiosa iiber.
Die Mania puerperalis wird bei zweckmassiger Behandlung der
Heilung am raschesten entgegen gefiihrt. Doch ist auch hier die
Entfernung aus der eigenen Wohnung und die Aufnahme in eine gute
Heilanstalt manchmal dringend geboten, oder doch wenigstens ein
sehr wirksames Heilungsmittel, weil die Kranken gleichsam in eine
neue Welt kommen, dadurch abgelenkt werden und eher zu der Rube
gelangen, welche der Herstellung vorausgehen muss. — Die starke
Hirnreizung verlangt zuerst Tart, emeticus in oft wiederholten Gaben,
bei Vollbliitigkeit oder starkerer Congestion blutige Schropfkopfe in
den Nacken und kalte Ueberschlage auf den Kopf. Auf den Stuhl
hat man nach Umstanden durch Extr. Aloes aquosum oder durch
Bhamnus frangula zu wirken. Sind die Kranken mehr nervos, dann
konnen auch Opiate mit Vorsicht gegeben werden. In ein Paar Fallen
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204            Vom Harnapparate ausgehende Manie.
babe icb aucb von grossen Dosen Kampher mit Nitrum guten Erfolg
geseben,
§• 7-
Die vom Harnapparate ausgebende Manie,
Ein Paar Fade sind mir wenigstens vorgekomraen, wo der Irrsinn
mit Nieren- und Blasenleiden im Zusammenhange zu steben scbien.
Ein Kaufmann aus Liverpool, der sich einige Tage hindurch sehr
erhitzt und dabei whisky getrunken batte, bekam einen Catarrhus
vesicae
mit scbmerzhaftem und miihsamem Harnabgange; der Harn war
ganz dick und wurde nur tropfenweise entleert. Die Behandlung war
gegen Vergrosserung der Prostata gerichtet. Der Katbeter verursachte
heftigen Schmerz und starker erscbwertes Harnlassen, so dass zwischen-
durch vollstiindige Anurie eintrat. Dazu kamen heftige nervose Er-
scheinungen, Hallucinationen des Gehors, und weiterhin auch des
Gesicbts, ferner heftige Schmerzen bis zu den Fusssoblen biaab. Der
Kranke bekam grosse Dosen Opium und Klystire, und in der Damm-
gegend wurde eine Salbe aus Extr. Delladonnae eingerieben. Spater
kam er in Brodie's Bebandlung, erhielt von diesem Brechmittel mit
Cicuta und weiterbin Acid, nitricum dilutum. Da der Zustand sich
nur verschlimmerte, kam der Kranke nach Hodand in meine Beband-
lung. Bei der Aufnahme in die Anstalt suchte man zuvorderst durcb
sanftes Zureden die Aufregung des Kranken zu beruhigen. Wegen
Tragheit des Stuhls wurde 01. Bicini verordnet, dann aber Decoct. Al-
thaeae
mit Senna und mit Extr. graminis. Der Harn war ganz dick
und entbielt viel Schleim, und wegen des Blasenleidens bekam der
Kranke Kalkwasser mit Extr. Cicutae, sowie zwischendurch ein Decoct,
sem. lini.
Bei dieser Behandlung nahmen die Erscheinungen des
Blasenkatarrbs rasch ab, der Harn wurde heller und trat leichter aus.
Dabei erwachte aber der Kranke gleichsam wie aus einem Traume;
er war sich bewusst, dass seine friihern Vorstellungeu irrige gewesen
waren, und scbien ganz gesund zu sein. Nach einer kleinen Spazier-
fahrt stellte sich eine Orchitis bei ihm ein und er wurde wieder etwas
verwirrt; XJngt. mercuriale c. Opio beseitigte die Geschwulst. Im
weiteren Verlaufe der Krankenbehandbing stellte sich noch einmal
eine kleine Verschlimmerung des Blasenkatarrhs ein und sogleich
waren auch die Hallucinationen wieder da. Alle Erscheinungen
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Manie und Brustleiden.                             205
schwanden aber rasch beim Fortgebrauche von Aqua calcis und durch
Unterhaltung eines geregelten Stuhls; nach 2 Monaten verliess der
Mann die Anstalt ganz geheilt, d. h. frei von alien Harnbescbwerden
und frei von jeglicher Geistesverwirrung. Ein Jahr nach seiner Ent-
lassung erfuhr icb, dass er seitber ganz gesund geblieben war.
Bei einer durch Onanie veranlassten Melancholia religiosa beob-
achtete ich ferner einen heftigen und hartnackigen Blasenkatarrh, so
dass der dicke, manchmal eiterig sedimentirende Harn miihsam und
mit Schmerzen entleert wurde. Der Zustand besserte sich ebenfalls
durch Decoct, lini mit Aq. calcis und etwas Morphium (spiiter wurde
Extr. secalis cornuti zugesetzt), und der Kranke trat genesen aus der
Anstalt. Sich selbst uberlassen, kehrte er aber zumLaster der Onanie
zuriick, und so kam er mit einem heftigeren Blasenkatarrh und mit
starkerem Irrsinn behaftet in die Anstalt zuriick. Die fruher ange-
wandten Mittel brachten jetzt nur eine Minderung des Katarrhs zu
Wege, vermochten ihn aber nicht ganz zu heben, wozu auch die Wider-
spenstigkeit des Kranken gegen alle Arzneimittel das Ihrige beitrug.
Es trat noch ein Nierenleiden hinzu und der Mann starb blodsinnig.
Auch in diesem Falle steigerte sich die Geistesverwirrung allemal zu-
gleich mit der Zunahme des Blasenkatarrhs.
In Betreff des Extr. secalis cornuti will ich nur noch bemerken,
dass ich bei Enuresis nocturna, die bei Geisteskranken im Stadium der
Dementia so haufig vorkommt, dieses specifisch auf die Blase wirkende
Mittel mehrfach mit dem grossten Erfolge angewendet habe. Auch
beim Bettpissen der Kinder habe ich es mehrfach wirksam gefunden.
§•8.
Manie und Brustleiden.
Eine engere Beziehung zwischen Irrsinn und Brustleiden gehort
keineswegs zu den ganz seltenen Vorkommnissen. NachNasse (Zeit-
schrift f. psych. Aerste.
1818. Heft 1. S. 44) soil Irrsinn haufig in einem
ursachlichen Zusammenhange mit Herzleiden stehen, was ich aber
nicht bestiitigen kann. Hypertrophic des Herzens und Klappenfehler
fiihren eher zu Apoplexie als zu Irrsinn; wo man sie bei Irrsinnigen
findet, da mochte ich sie eher durch die heftigen Gemiithsbewegungen
entstanden glauben, als dass sie primar aufgetreten waren. Anders
verhalt es sich dagegen mit Lungenaffectionen, mit Phthisis und Pneu-
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206                             Manie und Brustleiden.
monie; namentlich die Lungenphthise schien mir sehr hiiufig in ge-
nauerer Verkntipfung mit Irrsinn zu stehen.
Auffallend ist es, wenn in der namlichen Familie einige Kinder
an Manie oder Melancholie leiden, die Briider und Schwestern aber,
die von diesen Krankheiten verschont bleiben, an Phthise zu Grunde
gehen. Ich habe das so viele Male beobachtet, dass ich nicht einen
blossen Zufall darin zu finden vermag. Mancbmal alterniren auch
Phthise und Manie: die Phthise scheint zu sistiren, so lange der Irr-
sinn anhalt, und brioht nach dessen Beseitigung mit neuer Kraft
hervor. Beide Krankheiten bestehen aber auch wohl gleichzeitig neben
einander. Der Husten ist dann bei weitem nicht so heftig und der
Auswurf meistens massiger oder ganz fehlend, woran wohl auch das
Verschlucken der Sputa Theil hat. Ueberhaupt sind die phthisischen
Erscheinungen, ungeachtet der zunehmenden Abmagerung, weniger
hervortretend, und das hektische Fieber pflegt nicht gar heftig ent-
wickelt zu sein.
Mehrmals sah ich bei Kranken, die keine besondere Disposition
zu Brustaffectionen erkennen liessen, ganz plotzlich einen heftigen
Blutsturz auftreten. Bei einem plethorischen irrsinnigen Miidchen
war der Blutsturz so copibs, dass Erstickung davon drohte; darnach
verschwand aber die Manie innerhalb weniger Tage. Beim Wieder-
eintritt der letztern nach Jahresfrist kam keine neue Brustaffection,
und es erfolgte der Uebergang in unheilbaren Blodsinn.
Bei einer Melancholia religiosa mit grosser Aufregung und Neigung
zu Selbstmord, wo friiher der Geschlechtstrieb sehr entwickelt.gewesen
war, trat durch Tart, emeticus, Blutegel in den Nacken und kalte
Ueberschlage auf den Kopf Reconvalescenz ein, so dass der Mann von
dem Irrigen seiner friiheren Vorstellungen ganz iiberzeugt war und
voilkommen verniinftig redete. Er hatte friiher nie an der Brust ge-
litten, besass einen starken Korperbau und konnte Strapazen ertragen.
Eines Tages sass er plaudernd mit einem Freunde zusammen, und
indem er eine Cigarre anziindete, fiel er todt zu Boden. Ich drang
wegen des ganz unvermutheten Ereignisses auf die Section, und fand
die ganze Trachea und die Luftrohrenaste mit Blut angefullt, obwohl
in den Lungen keine Spur von Tuberkeln oder von Vomicae, ja nicht
einmal Adhasionen der Pleura zu finden waren. Wahrscheinlich hatte
sich das Blut in dem Augenblicke ergossen, wo der Mann seine Cigarre
anziindete, so dass durch's Lufteinziehen das Blut nach innen ge-
trieben worden war, denn es war auch nicht ein Tropfen Blut heraus
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Manie und Brustleiden.                            207
gekommen. Die Stelle, wo das Blut herausgekommen war, vermochte
ich nicht ausfindig zu machen, weil die Gefasse nicht injicirt wurden.
Es musste aber wohl ein grosses Gefiiss geborsten sein, so dass sich
in ein Paar Augenblicken viel Blut in den Luftwegen ansammeln
konnte. Die rechte Herzkammer war ganz leer. Das Gebirn er-
schien blass und anamisch.
Ein junger Mann litt an sogenannter Mania attonita, so dass er
wahrend dreier Jahre meist auf dem namlichen Flecke stand und, ohne
den Mund aufzutbun, vor sicb bin stierte. Es gelang mir indessen, ihn
vollstandigherzustellen. Ein Jabr darnach heirathete er. Zum Zeichen
seiner Dankbarkeit wollte er mir mit seiner jungen Frau sogleich einen
Besucb abstatten, und so kam er zwei Tage nach der Hochzeit zu mir.
Hier bekam er starkes Blutspucken, das sich taglich in immer star-
kerem Grade wiederholte. Ich machte den Arzt alsbald darauf auf-
merksam, dass dies kein gewohnliches Blutspucken war, weil der
Zustand unter antiphlogistischer Behandlung sich immer mebr ver-
schlimmerte. Eine eigenthiimliche Veranderung des Gesichts und der
stinkende Athem liessen micb eine Gangraena pulmonum localis dia-
gnosticiren, es wurde deshalb ein starkes Decoct- Chinae mit Acid,
sulph. dilutum
verordnet, und zu meiner Verwunderung trat Genesung
ein. Ein Jahr spater entwickelte sich aber Lungenphthise, die zum
Tode fiihrte. Die Schwester des jungen Mannes verfiel ebenfalls in
Manie, wurde geheilt, erlitt aber dann ein Recidiv und jetzt endigte
ebenfalls Lungenphthise ihr Leiden.
Auch Phthisis laryngea ist mir bei Irrsinnigen vorgekommen. Bei
einer mit Daemonomanie behafteten Frau, die immer sehr unruhig war
und laut schrie, stellte sich endlich Phthisis laryngea mit vielem Hu-
sten ein, so dass selbst die Epiglottis verloren ging und das Schlucken
sehr erschwert wurde; endlich erlag sie dem Kehlkopfsleiden. Als
der Husten und die Phthisis laryngea anfingen, hatte sich der Irrsinn
bei dieser Frau verloren.
Entscheidend sind die Falle, wo die Lungenphthise neben Manie
oder Melancholie besteht oder damit alternirt. Mehr denn einmal
habe ich die Beobachtung gemacht, dass eine weit vorgeschrittene
Lungenphthise, die rasch zum Tode fiihren zu wollen schien, ganz
unvermuthet stillstand, so dass alle phthisischen Erscheinungen, der
Husten, das hektische Fieber u. s. w. in kurzer Zeit aufhorten, dafiir
aber eine Manie oder auch eine Melancholie auftrat, wobei die Kran-
ken, die eben erst wegen des heftigen Hustens und des starken Aus-
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208                             Manie und Brustleiden.
wurfs kaum sprechen konnten, frei und tief athmeten, ohne Husten
anhaltend sprachen, ja selbst schrieen. Verschwand dann die Manie,
so kam die Phthise unmittelbar wieder zum Vorschein und fiihrte
wohl zum Tode. — Manchmal alterniren das Husten und der Irrsinn
auch mehrmals mit einander, wie folgender von Guislain berichtete
Fall darthut. Eine Frau verfiel in Folge eines heftigen Schrecks in
stille Melancholie, die vier Jahre hindurch anhielt. Dann stellte sich
ein heftiger Husten ein, der die Frau ungemein qualte; dabei horte
aber die Melancholie auf und nach einem halben Jahre war die gei-
stige Thatigkeit eine ganz normale. Nach Verlauf zweier Jahre wurde
die Frau wieder aufgeregt und verfiel von Neuem in Melancholie, wo-
bei dann der Husten alsbald nachliess. Im nachsten Jahre kehrte der
Husten wieder zuriick und die Melancholie schwand, bis auch er wie-
der durch den Irrsinn aus dem Felde geschlagen wurde.
Ein solcher Uebergang von Husten oder von Phthise in Manie
oder in Melancholie scheint auf eine wechselnde Empfindlichkeit der
Vagi und der Medulla oblongata.hinzudeuten, wie ich schon in meiner
Abhandlung iiber Ursprung und Bildung der Lungentuberkel (Nederl.
Lancet
1852. July en Aug.) bemerkte. Manchmal namlich kann der
Husten und vielleicht auch die Lungenphthise als eine excentrische
Erscheinung oder als die Folge einer Affection der Medulla oblongata
und der Vagi auftreten.
                                            „
Es kommt aber nicht immer zum Alterniren zwischen Brustleiden
und Irrsinn. Einige Male sah ich Melancholie und galoppirende
Schwindsucht neben einander bestehen, so dass die Kranken rasch
dahin starben.
Bisweilen gelang es mir, Geisteskranke der Heilung zuzufuhren,
bei denen die Erscheinungen einer vorgeschrittenen Lungenphthise
in sehr drohender Weise hervortraten, und zwar durch Emollientia
(z. B. Decoct. Athaeae mit Hyoscyamus) und durch Leberthran. Unter
dieser Behandlung trat nicht nur der Irrsinn zuriick, sondern es hor-
ten auch die Symptome des Brustleidens auf und die Kranken gena-
sen vollkommen. So kenne ich einen solchen Kranken, der jezt seit
langer denn 10 Jahren als Prediger fungirt und zwar ohne die ge-
ringste Anfechtung. Auch kenne ich noch mehrere Falle, wo Indivi-
duen, die bereits ganz abgezehrt waren, bei dieser blanden Behand-
lung nicht nur hergestellt, sondern auch weiterhin ganz dick wurden.
So konnte ich bei einem Manne von 26 Jahren, der an Mania here-
ditaria
litt, die grosse Aufregung und Wildheit nur mit Miihe durch
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Mania erethica sensilis.                             209
grosse Gaben Brechweinstein etwas bandigen, und erst durch Cuprum
sulphuricum
stellte sich noch etwas mehr Rulie ein. Dann cntwickelte
sich aber starke Salivation, die man nicht selten bei Maniacis beob-
achtet, auch obne dass sie Quecksilber bekommen haben; derKranke
bekam heftigen Husten mit purulentem Auswurfe, gorothete Backen
mit hektischem Fieber, Diarrhoe, und zumUeberfluss wurde der trau-
rige Zustand noch schlimmer durch das Ausbrechen zahlreicher Fu-
runkeln, wodurch sich die bestehende Dyskrasie noch bestimmter
charakterisirte. Trotz der grossen Abmagerung und unerachtet aller
ungiinstigen Erscheinungen genas der Kranke vollkommen, indem er
Decoct. Althaeae c. Hyoscyamo bekam, welches der Diarrhoe halber
dann und wann mit Decoct. Salep c. Opio vertaltscht, spater aber durch
Leberthran ersetzt wurde. Er verliess die Utrechter Irrenanstalt nach
9 Monaten ganz gut erniihrt und kraftig, und ohne eine Spur von
Brustkrankheit oder von Gcistesverwirrung.
Ich habe mehrfach die Bemerkung gemacht, dass Kranke, bei de-
nen der Irrsinn mit Brustleiden zusammenfallt, lebhafter und starker
aufgeregt sind, nicht nur wenn sie an Manie leiden, sondern auch im
Falle einer Melancholie, wo sie dann unaufhorlich gegen Andere von
ihrem Gemiithsleiden Mittheilung machen. Ausnahmen davon fehlen
aber nicht, und man trifft auch derartige Kranke, die kein Wort
sprechen. Vom Brechweinstein sah ich in solchen Fallen selten gute
Wirkung, ja manchmal schadete er offenbar. Milde Narcotica, z. B.
Hyoscyamus, eignen sich am besten, um die grosse Empfindlichkeit
und Le&haftigkeit herab zu stimmen.
§.9.
Mania erethica sensilis.
Mit diesem Namen belege ich eine Form der Manie, die sich durch
eigenthumliehe Charaktere auszeichnet und noch am meisten mit man-
chen Fallen von Mania puerperalis Aehnlichkeit hat. Die Reizung
des Gefasssystems tritt dabei weniger entschieden in den Vorder-
grund: Hitze im Kopfe und die anderen Zeichen von Congestion sind
nur in geringem Maasse entwickelt, wenn sie nicht ganz fehlen; das
Antlitz ist nicht sehr gerothet, und die Nasenspitze zeigt nicht jena
dunkle Farbung, die fiir die chronische Hirncongestion so charakte-
ristisch ist; der Stuhl ist meistens normal, oder es besteht selbst Nei-
Schroederv. d. Kolk, Geisteskrankheiten.                                                     14
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210                             Mania erethica sensilis.
gung zu Diarrhoe. Dabei zeigt sich aber erne anhaltende Unruhe des
ganzen Korpers, die sich bis zur Wuth steigern kann; die N.achtruhe
ist unvollkommen oder fehlt auch ganz; bei heftigeren AnMlen dauert
das Sprecben, Singen oder Schreien olme Unterlass fort.
Meistens ist mir diese Form von Manie bei zarten, sensibeln, hy-
sterischen Madchen vorgekommen; doch kann man sie auch, mehr
oder weniger durch die Constitution modificirt, bei Mannern beobach-
ten. Selten befallt sie das hohere Lebensalter. Fiir den Arzt ist es
von besonderer Wichtigkeit zu wissen, dass solche Kranke gegen Ab-
fiibrmittel und Brecliweinstein sehr wenig tolerant sind: schon klei-
nere Gaben verursachen alsbald Erbrechen oder Diarrhoe, wobei die
Krankheitserscbeinungen zunehmen und die Aufregung sich steigert.
Bei dieser Krankheitsform ist nach meiner Erfahrung Kampher
indicirt, meistens in Verbindung mit Nitrum. Man giebt den Kam-
pher zu 8 bis 10 Granen in 24 Stunden, steigt auch wohl nach Um-
st'anden allmalig mit der Dosis, und dabei werden die Kranken mei-
stens ruhiger. Besteht eine starkere Reizung des Gefiisssystems, dann
wirkt der Kampher mehr aufregend und die Congestion verstarkend,
und in gleicher Weise wirkt er auch, wenn Verstopfung eine Forde-
rung des Stuhls indicirt. Bei MelanchoUe mit stummem Schweigen
und Gedriicktsein des Geistes hat mir Kampher ebenfalls nichts ge-
niitzt; die gedriickte, triibe Stimmung nimmt wohl dabei noch mehr
zu. Bei einem irrsinuigen Manne indessen, der ganz trage und nie-
dergeschlagen war und den Brecliweinstein auch nicht in kleinen Do-
sen vertrug, erzeugten 12 Grane Kampher in 24 Stunden grossere
Munterkeit, die sich wieder beruhigte, als 16 Grane gegeben wurden.
Ich stieg dann bis auf 18 Grane in 24 Stunden; dabei wurde der
Kranke ganz rubig und der Genesung zugefiihrt.
In einem Falle war ich bei einer Kranken bis auf 26 Grane in
24 Stunden gestiegen, und es trat dabei ein epileptiformer Anfall ein:
die fruherhin aufgeregte Kranke wurde ganz still und stumpfsinnig
und sprach nicht mehr. Spaterhin wurde sie aber doch noch geheilt
durch Extr. Aloes aquosum c. Tartaro emetico, welches Mittel sie recht
gut vertrug.
§. 10.
Mania intermittens.
Nicht selten beobachtet man, namentlich bei Mania idiopathica,
dass der Kranke jeden zweiten Tag sich besser befindet, so dass mehr
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Mania intermittens.                                 211
oder weniger deutlich erne Pyrexie und eine Intermission unterschie-
den werden konnen. Uiese Intermittenz habe ich fast immer als eine
ungiinstige Erscheinung kennen gelernt; sie deutet meistens auf ein
tieferes Leiden des Nervensystems, und dass die Krankheit hartuackig
sein wird. Man darf diese Intermissionen nicht mit lucida intervalla
verwechseln, die meistens mehr unregelmassig hervortreten und die
bevorstehende Genesung andeuten.
In manchen Fallen von Manie sowohl wie von Melancliolie tritt
der Typus tertianus mit grosster Deutlichkeit hervor. Die Verschlim-
merung stellt sich manchmal immer zu einer ganz bestimmten Stunde
ein. In einem Falle, wo ganz offenbar ein chroniscbes Uebel zu
Grunde lag, wahrscheinlich Entziindung oder Tuberkeln in der Medulla
oblongata,
trat die Pyrexie sogar mit kalten blaulichen Fingern, einem
kleinen, raschen und zusammengezogenen Pulse ein, worauf dann eine
starke Gefassaufregung mit bedeutender Gebirncongestion folgte, so
dass Alles auf eine Intermittens larvata hinzuweisen schien.
Die Aerzte pflegen daher auch in solchen Fallen zum Chinin zu
greifen. Icb habe das Mittel auch vielfach versucht, aber niemals eine
Heilung, sondern nur nachtheilige Folgen davon beobachtet. Der
intermittirende Charakter andert sich wohl dabei, aber der Kranke
verfallt in einen Zustand anhaltender Aufregung, ja selbst in Wuth,
und deshalb muss ieh dringend vor der Anwendung des Chinins warnen.
Wie hartnackig diese Form sein kann, mag aus folgendem Falle
erhellen. Eine Dame hatte vor 7 Jahren den Schrecken gehabt, dass
ihr Kind ertrank, und bald nachher war sie von periodischer Melan-
cholic befallen worden, die wochentlich 2 bis 3 Anfalle machte. Das
dauerte 4 Jahre fort, so dass die Anfalle immer am dritten Tage ka-
men. Ein Jahr darauf trat Schwangerschaft ein, und die intermitti-
rende Melancholie anderte sich dabei nicht; nur nach der Niederkunft
war die Kranke drei Tage lang befreit geblieben. Sie nahm nun
meine Hiilfe in Anspruch und ich iiberzeugte mich, dass sie immer an
dem einen Tage ganz gesund war, am andern Tage aber von tiefer
Melancholie befallen wurde, ohne sonst eine Storung, als Tragheit des
Stuhles. Chinin war schon mehrfach in grossen Dosen gegeben wor-
den, und der Zustand hatte sich dabei nur verschlimmert. Ich ver-
ordnete Pillen aus Eoctr. Aloes aquosum c. Tartaro emetico, so wie Blut-
egel ad anum, und dabei minderte sich die Heftigkeit der Anfalle
und die Periode trat wieder ein. Die Frau brauchte aber die Mittel
nicht regelmassig fort und die Krankheit nahm wieder zu.
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212                                 Mania intermittens.
In einem anderen Falle von Mania intermittens verfiel der Kranke
jeden andern Tag, etwa um die Mittagszeit, in grosse Aufregung und
zuletzt in formliehe Wutb, und gegen Abend beruhigte er sich dann
wieder. So blieb er dann auch den nachsten Tag rubig und zeigte
bloss Spuren von Verwirruug, da er iiber viele Dinge ganz gut
spracb. Wegeu des typischen Eintrittes, der so bestimmt eine Febris
larvata
vorspiegelte, gab ich darin nach, dass noch einmal ein Ver-
such mit Chinin angestellt wurde, machte aber den Arzt docb auch
auf die mogliche schadliche Wirkung dieses Mittels aufmerksam.
Meine Besorguiss bestiitigte sich insofern, als aus der Mania intermit-
tens
eine Mania continua wurde. Das Mittel wurde deshalb nur we-
nige Tage gegeben. Es trat dann allmalig das Periodisclie wieder
bervor, so dass wir es nacli ein Paar Wochen wieder mit einer Mania
intermittens
zu thun batten. Da der Fall so hartuackig war, wollte
ich mit Arsenik, als kraftigem Febrifngum, einen Versuch machen.
Allein beim Gebrauche der Tinctura Fowler i nahm dieManie wiederum
den continuirlichen Typus an, und nach einer Wocbe bereits stellte
sich Diarrhde und Kolik ein, weshalb damit ausgesetzt werden musste.
Der durch die lange Dauer der Krankheit geschwachte Mann verfiel
nun rasch, binnen eiuigen Wochen war er ganz blodsinuig geworden
und bald trat der Tod ein. Am Gehirne fanden sich die Zeichen einer
allgemeinen chronischen Meningitis.
Wo sich auch eine deutliche Intermittenz in den Anfiillen heraus-
stellte, da sah ich gleichwohl von wiederholter Anwendung blutiger
Scbropfkopfe im Nacken, vom Haarseile und vom inneren Gebrauche
des Tart, emeticus oder der Digitalis noch den meisten Nutzen. Selbst
in den Fallen, wo eine vollkommene Herstellung wegen eines orgaui-
schen Leidens der Medulla oblongata unmoglich war, sah ich das Pe-
riodisclie dadurch schwinden und einen gleichbleibenden ruhigen Zu-
stand eintreten. Chinin, ganz zu Anfang gegeben, hatte auch hier
nachtheilig gewirkt und musste alsbald ausgesetzt werden.
Ein anderer Fall ist der, wenn ein mit Manie Behafteter von Fe-
bris intermittens
befallen wird. Mehrmals habe ich beobachtet, dass
der Irrsinn durch jeden Fieberanfall gebessert wurde. Ohne drin-
gende Noth habe ich daher in solcben Fallen nicht zum Chinin ge-
griffen, um nicht das heilsame Walteu der Natur zu storen. In einem
Falle war die Besserung des Irrsinns durch die Fieberanfalle so auf-
fallig, dass man auf eine baldige Beseitigung desselben hoffen durfte.
Da blieb das Fieber, ohne dass irgcnd ein Mittel dagegen in Anwen-
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Nervina und Narcotica.                             213
dung gekommen war, auf Einmal weg. Die Manie hatte sich zwar
sehr gebessert, war aber doch noch nicht gauz gehoben; der Kranke
brachte nocb ein Paar Monate in der Anstalt zu, bis er vollstandig
geheilt war.
§.11.
Wirkung der Nervina und Narcotica.
Ich kenne nur wenige Arzneimittel, deren Indication so unsicber
und schwankend ware, als es oftmals mit Kampher der Fall ist.
Manchmal wird er nicht vertragen, weil er zu sehr reizt, und doch
kann man dieses nicht mit Sicherheit vorher wissen. Ist er Iibrigens
indicirt, dann leistete er mir oftmals die besten Dienste. Die Un-
gleichmassigkeit seiner Wirkung scheint mir dadurch bedingt zu sein,
dass der Kampher das Gefiisssystem reizt, namentlich dann, wenn
dasselbe schon in einem erregten Zustande sich befindet, zugleich
aber auch berubigend aufs Nervensystem wirkt. Ich mochte ihn des-
halb mit Chloroform, Aether und anderen Nervinis zusammenstellen.
Bei bestehender Gefiissaufregung wirkt er soiuit erhitzend und da-
durch nachtheilig; andem Falles vermag er allerdings die erhohte
Sensibilitiit herabzustimmen und dadurch Ausgezeichnetes zu leisten.
Die Gabe darf aber nicht zu klein genommen werden, weil kleine Do-
sen eher erregend als besanftigend wirken*).
In dergleichen Fallen fand ich auch Opium sehr wirksam, na-
mentlich bei Melancholie mit grosser Priicordialangst, anhaltender
Agitation, Schlaflosigkeit, wenn zugleich der Darmkanal sehr empfind-
lich ist und leicht Diarrhoe entsteht. Ich gab dann Abends 7, bis
1 Gran Extr. Opii aquosum und liess diese Gabe auch wohl am Mor-
gen wiederholen. In einem Falle, wo neben der Empfindlichkeit des
Darms auch Congestionen zum Kopfe da waren, verschwanden diese
Congestionen durch Opium und die Kranke genas. Ich denke mir,
dass das Opium in solchen Fallen die Empfindlichkeit des Symjpathi-
u* v\Be\e^ ia h°h6m Grade aufgeregtenManne, der Tag und Nacht unauf-
horhch schne, hatte ioh Blutegel, Abfiihrmittel, kalte Ueberschlage vergebens
yenucht Durch Opium steigerte Sich die Aufregung noch mehr und der Puh
stzeg auf 100. Jetzt verschrieb ich 1 Scrupel Kampfer auf 24 Stunden, in Ver-
bmdung mitNitrum. Dadurch sank der Puis auf 60 Schlage, der Kranke wurde
runig und der Irmnn horte ganz auf.
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214                                          Nareotica.
cus, namentlich im Bereiche des Darmes, herabstimmt, dadurch den
Reflex auf Gehirn und Riickenmark mindert, also durch Beseitigung
der Congestion zur Heilung beitragt. — Man muss aber dabei im Auge
behalten, dass das Opium, wie mehrfache Beobachtungen und eben so
Versuche an Thieren (S. 200) gelehrt haben, erregend auf die Ge-
schlechtstheile wirkt. Bei einer jungen, plethorischen, lebhaften Frau,
die an Mania hysterica mit Schlaflosigkeit und Menstruatio parca litt,
wurde durch »/« Gran Morphium, Abends genommen, allemal der auf-
geregte und verwirrte Zustand beseitigt, ein amleres Mai aber, als die
Reinigung schon am zweiten Tage aufhorte, trat dieselbe durch Pulvis
Doveri
bereits am dritten Tage wieder ein; bald darauf war die Frau
in der Genesung. Spaterhin konnte ich einen drohenden Anfall alle-
mal durch eine Gabe Morphium des Abends coupiren; es stellte sich
Schlaf ein und der Geist wurde frei. Auch in diesem Falle wurde der
Brechweinstein schwer vertragen; schon von '/4 Gran entstand Er-
brechen. Nachdem die Frau iiber ein halbes Jahr sich einer guten
Gesundheit erfreut hatte, stellten sich wieder Aufregung und Anlalle
von Manie ein, und jetzt brach ein Paar Stunden nach der gleichen
Gabe Morphium ein heftiger Wuthanfall los, obwohl dem Morphium
eine Blutentziehung vorausgeschickt worden war. Wahrscheinlich
waren Gefasssystem und Geschlechtstheile jetzt zu sebr aufgeregt,
da, wie ich mich iiberzeugte, Onanie vorausgegangen war. — Morphium
habe ich haufig fiir sich allein, oder auch in Verbindung mit Tart,
emet.
gegeben und Erfolg davon gesehen; doch hat sich mir das Extr.
Opii aquosum
als das beste Sedativum bewahrt. DerZusatz von Mor-
phium
zuin Brechweinstein bewirkte in manchen Fallen, aber durehaus
nicht constant, ein rascheres Auftreten von Uebelkeit. — Uebrigens
vergesse man nicht, class Opium in sehr kleinen Dosen meistens mehr
irritirt, indem die sedative Wirkung nicht die Oberhand gewinnt; das
geschieht eher durch grossere Dosen. Besteht eine mehr idiopathische
Hirnreizung oder eine chronische Meningitis, dann wirkt Opium nach
meiner Erfahrung schadlich, indem es die Hirnreizung steigert.
Das Extr. JBelladonnae habe ich mehrfach mit gutem Erfolge
als Antispasmodicum angewendet. Es wirkt besonders auf den Sym-
pathicus
des Darmes, zumal in Verbindung mit Extr. Aloes aquosum.
Als allgemeines Narcoticum hat sich mir Belladonna so wenig als
Strammonium bewahrt; eher konnte ich ihnen eine uachtheilige Wirkung
zuschreiben.
Die Strobuli humuli lupuli verdienen unter den sedativen
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Narcotica.                                   215
Mitteln alle Beachtung. Ich lasse ejn paar Drachmen mit 6 bis 8
Unzen Wasser infundiren. Das Mittel wird gut genommen, es befordert
den Schlaf und retardirt nicht den Stubl, wie Opium. Dass das Lupulin
auf die Geschlechtsthatigkeit einen herabstimmenden Einfluss iibe, wie
manche Autoren anfiihren, ist mir n0ch sehr zweifelhaft. Opium da-
gegen wirkt allerdings erregend auf die Geschlechtsthatigkeit, und
darin mochte wohl ein grosser Uuterschied zwischen diesen beiden
Mitteln liegen. Uebrigens wirkt der Hopfen doch auch aufs Gefass-
system: ich beobachtete wiederholt sine Zunabme der Kopfcongestionen
bei dessen Gebrauche, so dass darn.it ausgesetzt werden musste. Ich
lasse gern ron dem Infusum Abends ein Paar Male einige Loffel nehmen;
die Nacht ist dann ruhiger, und es kommt nicht so leicht zu Con-
gestionen, als wenn man das Mittel 4 bis 5 Male im Tage nehmen lasst.
Auch der Hyoscyamus hat sich mir manchmal als Beruhigungs-
mittel bewahrt, und er hat wohl selbst Genesung bewirkt, namentlich
dann, wenn gleichzeitig ein Brustleiden vorhanden war. — Dagegen
habe ich Aq. Laurocerasi wegen seiner Unsicherheit nur selten ge-
geben.
Die Schlaflosigkeit, die bei Mania idiopathica eine so gewohnliche
Erscheinung ist, darf man nicht durch Narcotica bekampfen wollen,
die nur schadlich wirken konnen. Nur da passen Narcotica sedativa,
wo die Schlaflosigkeit ein Residuum erhohter Sensibilitat ist, ohne dass
das Gefasssystem in seiner Thatigkeit gesteigert erscheint.
Ein Paar Male habe ich auch Chloroform innerlich in Gummi-
wasser oder in Zuckerwasser nehmen lassen. Es tritt dadurch nicht
in gleichem Maasse eine heruhigende und betaubende Wirkung ein,
als wenn das Chloroform geathmet wird. Indessen sah ich doch ein
Paar Male bei Hysterischen nach 15 bis 20 Tropfen, die am Abend
gegeben wurden, Ruhe und Schlaf eintreten. Fur die Dauer passt es
aber nicht, weil man mit der Dosis immer holier steigen musste *).
*) Bei einer Dame, die an veralteter und unheilbarer Melancholia religiosa
litt und alle Hiilfe zuriickwiess, drilngte Bich die Frage auf, ob vielleicht Carci-
noma uteri
da ware. Eine Untersuchung ware nur unter grossem Widerstreben
und unter einem Wuthausbruche mogliob. gewescn. Ich rieth daher, die Frau
zu chloroformiren; sie verfiel in Sohlaf und konnte nun ohne Miihe untersucht
werden. Merkwurdiger Weise war sie beim Erwachen ganz bei Sinnen: sie
wusste, dass sie krank war und dem verkehrten Antriebe keinen Widerstand ent-
gegen zu stellen vermochte, und verlangte Hiilfe. Nach ein Paar Stunden war
sie aber wieder in den alten Zustand verfallen. Ein zweiter Versuch hatte den
namlichen Erfolg, aber leider auch nur von kurzer Dauer.
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216                                             Bader.
Vom Nutzen der Digitalis bei Hallucinationen habe ich schon
friiher (S. 158) gesprochen. Mehrmals habe ich aber die Digitalis auch
mit Erfolg gegeben, ran die starke Aufregung herabzustimmen, zumal
wenn Tart, emeticus nicht gut vertragen wurde. Der fortgesetzte Ge-
brauch eines Infusum Digitalis, welches nach meiner Erfahrung mehr
als dasPulver beruhigend wirkt, erzeugte wohl bei grosser Aufregung,
die sich durch kein anderes Mittel besiinftigen liess, Ruhe und eine
Herabsetzung der Pulsschliige, freilich wohl auch mit voriibergehender
Narkose, Kopfeingenommenheit und taumelndem Gange, welche Er-
scheinungen aber nach ein Paar Tagen wieder verschwanden. Doch
ist es mir vorgekommen, als ob die Beruhigung der Kranken nur so
lange anhielt, als der Puis durch Wiederholung des Mittels auf 50 bis
60 Schlagen stehen blieb, und dass beim Aussetzen des Mittels nicht
nur die Pulssehlage sich wieder vermehrten, sondern auch der vorige
aufgeregte Zustand sich wieder einstellte. Seltener kommt es beim
Brechweinsteine vor, dass die erzielte Beruhigung nach dem Aussetzen
des Mittels wieder verloren geht. Insofern scheint die Digitalis oft-
mals nur palliativ zu wirken. Doch kommt dabei viel auf die Form
der Krankheit und auf den Zustand des Kranken an. Denn man ch-
in al ist atfch die durch D-igitalis erzielte Besserung eine nachhaltige.
§• 12-
Aeusserliche Mittel.
Bei der Therapie der verschiedenen Irrsinnsformen ist wiederholt
von ausserlichen ableitenden Mitteln-die Rede gewesen, von Schropf-
kopfen, Blutegeln, Fontanellen, Haarseilen, Incisionen der Kopfschwarte,
und will ich darauf nicht wieder zuriick kommen. Dagegen habe ich
eines kraftigen Heilmittels noch niiher zu gedehken, der Bader nam-
lich, die als warme und laue Bader, als Douche, als Tropf- und Sturz-
bader in Anwendung kommen.
In der Privatpraxis sind Bader freilich wohl schwer herzustellen;
es sind aber diese so kraftig auf die Haut wirkenden Mittel von solcher
Bedeutung,dass sie in manchen Fallen durchaus nicht verabsaumtwerden
diirfen. Bei manchen Kranken ist die Hautausdunstung gestort und die
Hautganz trocken; dann wirken laue Bader sehr vortheilhaft durch Ab-
leitung auf die Haut. Verbindet man aberdamit noch ein kaltesTropf-
bad auf den Kopf, so wirkt man auf doppelte Weise ein, um die Congestion
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Bader.                                       217
void Kopfe abzuleiten. Nur darf das Bad nicht zu heiss, sondern nur
lau sein.
Neuerer Zeit hat Brierre de Boistnont auf 6, 8, 10 Stunden
ausgedehnte laue Bader empfohlen, nm dadurch die Wutli der Irren
zu besanftigen, und ich will gerne glauben, dass ein so ausgedehntes
warmes Bad ersclilaffen und die Thatigkeit des ganzen Gefiisssystems
herabstimmen muss. Der Anwendung solcber Bader stellen sich aber
Schwierigkeiten entgcgen, z. B. sehon die, das Wasser wahrend der
ganzen Zeit auf der namlichen Temperatur zu erhalten, und sie diirften
deshalb nur selten Anwendung finden konnen. Uebrigens besitzen
wir andere ausserliche Mittel, z. B. Schropfkopfe, sowie auch inner-
liche Mittel, wodurcb man auf eine einfacliere Weise den aufgeregten
Irren zu beruhigen ira Stande ist.
Auch kalte Bader konnen in Anwendung kommen, die eine kraftige
Reaction in der Haut hervorrufen und deren Function wieder her-
stellen konnen. Bei Neigung zu Congestionen und zu Meningitis, und
eben so bei Epilepsie konnen sie jedoch Schaden briugen. Auch bei
Onanie babe ich das kalte Bad als Heilmittel und als Zwangsmittel
mit Nutzen angewendet.
Auch zur blossen Reinigung verdienen Bader alle Beachtung bei
Irren, wo ja Unreinlichkeit eine nicht seltene Erscheinung ist.
M'
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