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DIE
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PATHOLOGIE UND THERAPIE
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DEB
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GEISTESKMMHEITEN
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AUF
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ANATOMISCH-PHYSIOLOGISCHER GRUNDLAGE.
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VON
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J. L. C. SCHROEDER VAN DER KOLK,
Professor der Physiologic an tier Umvereitat Utrecht.
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BRAUNSCHWEIG,
DRUCK UND VERLAG VON FRIEDRICH VIEWEG UND SOHN.
18 6 3.
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0346 3068
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Hie Herausgabe einer Uebersetznng in franzOsischer und englischer Sprache,
sowie in anderen modernen Sprachen wird vorbehalten. |
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V 0 E R E D E.
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er in den ersten Tagen des Mai im Jahre 1862 verstor-
bene Utrechter Professor J. L. C. Schroeder van der Kolk, der Restaurator des holliindischen Irrenwesens, war schon lange mit dem Plane umgegangen, seine physiologischen Studien und praktischen Erfahrungen liber die Geisteskrank- heiten zusammenzustellen, um sie dann der Oeffentlichkeit zu iibergeben. Wie es aber so hiiufig im Leben geschieht, so bedurfte es auch hier noch einer besonderen Veranlassung, um zum Werke zu schreiten, und diese Veranlassung fand sich im Herbste 1861, als zwei Medicin Studirende in Utrecht, Herr P. Templeman van der Hoeven und der Unterzeichnete, vom Mangel einer psychiatrischen Klinik an unseren Hoch- schulen betroffen, sich an Schroeder van der Kolk mit der Bitte wandten, unter seiner Leitung in das Gebiet der Geistes- krankheiten eingefiihrt zu werden. Gem ging derselbe auf unsere Bitte ein und traf alsbald die Bestimmung, wir sollten zweimal in der Woche auf sein Studirzimmer kommen, da wollte er uns vorlesen, was er an seinem Buche ausgearbei- tet hatte, und dariiber mit uns sprechen. Wir haben so das Buch entstehen gesehen, den Zweck
desselben erkannt, und wir wissen, welchen Werth der Ver- fasser demselben beilegte und was er an Zeit und Miihe darauf verwendet hat. Mit unnachlassigem Eifer fiihrte er das Unternehmen durch, gleichsam als fiihlte er, dass seine |
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VI V o r r e d e.
Laufbahn dem Ende zueilte, und dass er sich beeilen miisste,
das seine literarische Wirksamkeit kronende Werk der Voll- endung zuzufiihren. Wirklich ereilte ihn der Tod bei dieser Arbeit, er sprach aber noch vorher seinen Wunsch aus, dass das Werk veroffentlicht werden mochte. Mir ward dann die Auszeichnung zu Theil, dass mein Freund Dr. H. W. Schroe- der van der Kolk mich damit betraute, den Wunsch seines Vaters in Erfiillung zu bringen. Das vorgefundene Material bedurfte schon wegen der
Eile, womit die Zusammenstellung hatte bewirkt werden miis- sen, mehrfach der Aenderung, nicht nur einzelner Ausdriicke, sondern bisweilen ganzer Satze,' wobei iibrigens der Eigen- thiimlichkeit Schroeder van der Koik's moglichst wenig Abbruch geschehen ist. Das Werk war aber auch noch nicht ganz vollendet (beim Paragraphen iiber das kleine Gehirn fanden sich z. B. ein Paar leere Blattseiten, und es wollte der Autor offenbar noch einiges hinzufligen), sein therapeu- tischer Theil war noch gar nicht in Angriff genommen. Die- sem letzteren Mangel konnte durch zwei Abhandlungen Schroe- der van der Kolk's abgeholfen werden, deren eine in der Tydschr. der Nederl. Maatschappy van Geneeskunde (1852) ver- offentlicht wordcn war, die andere aber unter den Papieren des Verstorbenen vorgefunden wurde. Das ist der Ursprung dieses Werkes, worin durch That-
sachen die materielle Basis unserer geistigen Thatigkeiten nach- gewiesen, gleichzeitig aber auch dem Glauben an ein Fort- bestehen desMenschen nach dem Zerfalle des Leibes sein entschie- denes Recht gewahrt wird. Es liefert den fur Viele durch- aus nicht iiberflussigen Beweis, dass keinerlei anatomisch-phy- siologische Untersuchungen die aus der sittlichen Weltord- nung entnommenen Data umzustossen vermogen, und dass keine Gefahr damit verkniipft ist, wenn dem herkommlicher Weise geschmahten Materialismus seine Berechtigung zuge- standen wird. Utrecht, April 1863.
Dr. F. A. Hartsen.
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13ei Uebertragung dieses Opus posthumum habe ich mir,
ganz unbeschadet des Sachlichen, mehrfach kleinere und auch einige erheblichere forraelle Aenderungen und Kiirzungen er- laubt, die der Herausgeber zum guten Theile wohl aus Pie- tiit im Originate unterlassen hatte, die mir aber vom Genius der deutschen Spraclie und Wissenschaft gefordert zu werden schienen. Diesen Kiirzungen gegeniiber will ich wenigstens an dieser Stelle auch eine Vervollstandigung hinzufligen, die ich einem Briefe vom 21. November 1861 entnehme, dem letzten, den ich vom trefflichen Schroeder van der Kolk empfangen habe. Er theilte mir mit, dass er an der Physio- logie und Pathologie des Gehirns schreibe, und in meiner Abhandlung liber Microcephalie eine weitere Bestatigung sei- ner Ansicht iiber das Verhaltniss zwischen Lobus anterior und posterior cerebri, die durch den Gyrus centralis von einander ge- trennt werden, gefunden habe. Jene Ansicht basirte namlich theilweise auch auf Messungen, die er an den von Rud. Wag- ner (Abhandlung iiber die typischen Verschiedenheiten der Win- dungen der Hemisphdren) gegebenen Abbildungen ausgeflihrt hatte. Ich nahm (schreibt er) feines Postpapier, worauf Qua- drate eingetragen waren, zeichnete die Abbildungen hindurch, zahlte dann, wie viele Quadrate der Lobus anterior vor dem Gyrus centralis A A und wie viele Quadrate der Lobus posterior hinter diesem Gyrus hatte, und bekam folgende Resultate: |
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VIII Vorrede.
Lob. ant. Lob. post.
Gauss, Taf. V, Fig. 1...... 154 : 174 = 88,5 : 100
Dirichlet, Taf. V, Fig. 2..... 203 : 203 = 100 : 100
Philolog Hermann, Taf. V, Fig. 3 152 : 202 = 75 : 100
Handarbeiter Krebs, Taf. V, Fig. 4 142 : 206 = 69 : 100
JungerOrang-Utung, Taf.V, Fig. 5 138 : 224= 57:100
Idiot, Taf. VI, Fig. 2...... 260 : 504 = 53 : 100
Ibr Microcephalia....... 92 : 191 48 : 100
Es versteht sich, dieses giebt nur einen relativen Werth
und eine relative Genauigkeit, denn ich messe die ebene Ober- flache und nicht die gewolbte; aber das findet doch bei alien gemessenen Gehirnen in ziemlich gleicher Weise statt. Ich bin uberzeugt, es wird zu guten Resultaten fiihren, wenn auf diese Art Vergleichungen zwischen den Gehirnen von Leuten von Talent und von geringeren Geistesfahigkeiten angestellt werden." Weimar, 18. Mai 1863.
Dr. Theile. -
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IFHALTSVERZEICHFISS.
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Seile
Einleifung............................ 1 Erstes Hauptstiick.
Physiologische Anatomie des Gehirns.
§. 1. Allgemeine Uebersicht...................... 7
§. 2. Entwickclung des Gehirns beim Embryo, vergliohen mit seinen vcr-
scbiedenen Form en im Tbierreich................. 9
§. 3. AnatomiFcher Zusammenhang zwischen den primaren Gehirntheilen
an der Basis und den Grosshirnhemispharen . ......... 12
§. 4. Verschiedene Arten von Ganglienzellen im Gehirn und Riickenmark
im Allgemeinen......................... 15
§. 5. Wirkungsweise und Zusammonhang der centralen und peripherischen
Nerven- und Gehirnzellen..................... 17
§. 6. Zellen der Rindensubstanz.................... 23
§. 7. Wirkungsweise der Zellen in der Rindensubstanz......... 23
§. 8. Verschiedene Kriifte in verschiedenen Hemispharentheilen..... 33
§. 9. Vivisectionen.......................... 38
§. 10. Das kleine Gehirn........................ 45
§. 11. Die Circulation im Gehirne.................... 46
§. 12. Zusammenhang und Wechselwirkung zwischen Leib und Seele ... 58
§. 13. Einfluss des Leibes auf die Seele................. 72
§. 14. Allgemeine Pathologie des Gehirns................ 84
§. 15. Entziindung der dura mater................... 97
§. 16. Pathologische Anatomie des Gehirns............... 127
Zweites Hauptstiick.
Pathologie und Therapie des Irrseins.
A. Jdiopathischcs Irraein.
§. 1. Einleitung............................ 131
§. 2. Verschiedene Formen und Eintheilung des Irrseins........ 132
§. 3. Erscheinungen des idiopathischen Irrsinns im Allgemeinen..... 133
§. 4. Erscheinungen des sympathischen Irrsinns im Allgemeineu..... 137
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X Inhaltsverzeichniss.
Selte
§. 5. Mania idiopathica acuta .................... 138
§. 6. Mania idiopathica chronica................... 147
§. 7. Hallucinationen........................ 156
§. 8. Ohrblutgeschwulst........................ 159
§. 9. Zeitpunkt der Besserung..................... 160
§. 10. Stumpfsinnigkeit.......<.................. 164
§. 11. Blodsinn und Idiotismus..................... 164
B. Sympathisches Irrsein. «.
§. 1. Einleitung.............-............... 165
§. 2. Physiologisclie Erkliirung der sympathischen Manie........ 166
§. 3. Fathologische Anatomie der Mania sympathica......... 170
§. 4. Erscheinungen der Mania sympathica, die vom Colon ausgeht . . . 177
S. 5. Therapie der vom Colon ausgehenden Mania sympathica..... 185
§. 6. Die vom Geschlechtsapparate ausgehende Melancholie....... 191
§. 7. Die vom Harnapparate ausgehende Manie............. 204
§. 8. Manie und Brustleiden...................... 205
§. 9. Mania erethica sensilis..................... 209
§. 10. Mania intermittens....................... 210
§.11. Wirkung der Nervina und Narcotica............... 213
§. 12. Aeusserliche Mittel........................ 216
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EINL E I T U N G.
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Die Lehre vom Irrsein ist wohl ilerjenige Theil der Heilkunde,
woriiber man die verschiedenartigsten Urtheile vernehmen kann, und der noch auf der unsichersten Grundlage rnht. Das kann nicht Wunder nehmen. Dieser Abschnitt der Pathologie hat es rait den Seelenstorungen zu thun, wo die wichtigsten pathologischen Er- seheinungen sich fast allein in der veranderten Wirkungsweise der Geistesvermogen kund geben, wahrend das kbrperliche Befinden oft- mals anscheinend gar nicht leidet. Fragt man nach dem verkniipfen- den Bande zwischen Korper und Seele, so mochte man schier die Hoff- nung aufgeben, dass jeroals eine befriedigende Losung der hier sich bergenden Rathsel gelingen werde. Die Schwierigkeiten, welche sich derAufhellung der verborgenen Aeusserungen des Ich entgegenstellen, werden noch dadurch gesteigert, dass wir iiber die Verrichtungen der verschiedenen Gehirntheile so unvollkommen unterrichtet sind. Denn wenn auch das Gehirn von den Anatomen aufs Genaueste untersucht und bis in seine kleinsten Kinzelnheiten beschrieben worden ist, so be- hielt doch in Betreff dieser letztern lange Zeit der Ausspruch Riche- rand's Giiltigkeit, dass der Anatom sich hier in dem namlichen Falle befinde, wie der Pariser Lasttriiger, der zwar alle Strassen und Gass- chen bis ins Einzelnste kennt, aber nicht weiss, was in den Hausern vorgeht. Da man von den Verrichtungen der verschiedenen Gehirntheile
so wenig wusste, so war man bemuht, durch Sectionen Geisteskranker zum Verstandniss der pathologischen Erscheinungen zu gelangen. Sehroeder v. J. Kolk, Irrsein. 1
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2 Erforschung der Geisteskrankheiten.
Aber selten gliickte es, die bei Lebzeiten wahrgenommenen Erschei-
nungen mit den oftmals nur unbedeutenden Veranderungen, welche die Section nachweist, in Zusammenbang zu bringen und eins ans dem andern zu erklaren. Eine deutlichere Einsicht in dieses dunkele Ge- biet schien sich ja geradezu zu versebliessen, als man zu wiederholten Malen die Beobachtung machte, dass im Gehirne sehr bedeutende Storungen, wie Eiteransammlungen, Verlust eines mehr oder weniger grossen Theils u. s. w. vorkommen konnen, obne dass den geistigen Kraften des betreffenden Individuums dadurch Abbruch geschieht. Eben so unklar, wie iiber den Zusammenbang zwischen Seele und
Gehirn, war man auch iiber die Bcziehungen zwischen dem iibrigen Korper und der Seele. Die oberflachlichste Beobachtung der Tenipe- ramente, der Lebensalter und mancher psychischer Affecte spricht zwar deutlich genug fur eine solche Beziehung, aber immer blieb es riithselhaft, in welcher Weise der Korper auf unsere Seele einzuwirken im Stande ist. Nahm man auch bei Geisteskranken manoherlei Ab- weichungen vom gesunden Zustande wahr, die mit der Krankheit in einem gewissen Zusammenhange zu stehen schienen, z. B. Verstopfung oder verhaltenen Stuhl, Menstruationsstorungen, so liess sich doch. nicht immer leicht entscheiden, was Ursache oder Wirkung der Krank- heit war; die unbestiindigcn pathologiscben Befunde aber, denen man sonst im Korper Geisteskranker begegnet, konnte man noch weniger mit den Storungen der Geistesthatigkeit in einen ursachlichen Zu- sammenhang bringen. Da sich in den Leichen Geisteskranker mancherlei pathologische
Veriinderungen in den Brust- und Bauchorganen zu linden pflegen, so entstand die schwierige Frage, welche von diesen Veranderungen sind nur zufallig oder secundiir zugegen, welche anderen stehen mehr in directem causalen Zusammenhange mit der GeisteskrankheitV Auf die somatischen Storungen wird aber bei Lebzeiten im Ganzcn um so weniger geachtet,weil die meisten Irrsinnigen sich selbstiur ganz gcsund halten, oder ihre krankhaften Walirnehmiiugen mit ihren verwirrtcn Vorstellungen dergestalt in Verbindung und Zusammenbang zu bringep ])flegen, dass der Arzt, der ihre Art und Weise sich auszudriickcn nicht niiher kennt, oftmals nur wenig Aufkliirung zu erhalten vermag. War man so iiber das Wesen der Geisteskrankheiten im Unklaren,
so fehlte natiirlich auch die feste Grundlage fur die therapeutische Behandlung und man beschrankte sich darauf, die besonders ins Auge fallenden Erscheinuugen zu bekiimpfen. |
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Erforsehung dor Goisteskrankheiten. 3
Die constantesten und auffalligsten Erscheinungen sind nun Stb-
rungen der geistigen Thlitigkeit und des Denkvermogens: womit sich nur unbedeutende krankhafte Symptome im iibrigen Korper verbinden, die audi wohl scheinbar ganz fehlen. Deshalb konnte es geschelien, dass viele Aerzte, an dem psychischen Momente festhaltend, in dem Irresein eher ein Leiden der Seele erkennen wollten, als eine somati- sche Affection, die storend auf das Gehirn und dadurch auf die geistige Thiitigkcit einwirkte. Bei dieser Auffassung musste sich dann die Tlierapie auf psychische Einwirkungen beschranken, indem man auf das Gemiith und auf den Verstand des Irren wirkte und dessen verkehrten Vorstellungen durch Ableitung oder Ueberzeugung eine bessere Rich- tung zu geben suchte, zu Heilmitteln aber nur dann griff, wenn zufallig ein korperlicb.es Unwohlsein hinzukam oder ein dringendes Symptom auftrat. Andere Aerzte fanden diese Anscliauung freilich zu einscitig; sie
meinten, der Irrsinn babe, gleich anderen Krankheiten, seinenUrsprung im leiblicben Organismus und in dessen pathologiscben Affectioncn, und es gcwann diese Ansicbt noch festerenBoden durch die in neuerer <Eeit geforderte Kenntniss der Verrichtungen des Gehirns, sowie be- sonders auch durch bessere Deutung der darin vorkommenden patho- logiscben Veranderungen. Damit musste denn auch eine mehr pbar- makodynamische Behandlung der Irren Platz greifen, zumal als man anting, sie nicht mehr in dunkle Winkel und gleich Missethatern in Ketteii und Fesseln zu stecken, sie vielmehr in zweckmassig einge- richteten Anstalten der Beobachtung zugiinglich machte und ihnen mit Achtsamkeit und Menschenliebe begegnete. Da indessen die An- sichten iiber das Wesen des Irrsoins so sehr auseinander gingen und zur Erkliirung der Erscheinungen so verschiedenartige Gesichtspunkte festgehalten wurden, so musste wohl die somatische Behandlung mehr empirisch als rationell ausfallen. Es fehlte fur die Tlierapie der Gei- steskrankheiten die feste Basis, und zumal der angehende Arzt konnte in diesein Widerstreit der Ansichten keinen Anhalt fur ein sicheres Handeln finden. Dem glaube ich es hauptsachlich beimessen zu sollen, dass selbst
gegcnwartig die psychische Theorie und die psychische Therapie auf dem Felde der Geisteskrankheiten noch ein zjemliches Uebergewicht haben. Man vergleiche nur die verschiedenen Handbiicher iiber Gei- steskrankheiten, auch die neuesten nicht ausgeschlossen, die in Deutschland nicht nur, sondern auch in Frankreich und England l*
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4 Erforschuns; der Geisteskrankheiten,
erschienen sind, und man wird finden, dass sehr dickleibige Abschnitte
mit ausfiihrlichen theoretischen Betrachtungen iiber die mannichfalti- gen Affectionen und Abweichungen der Geistesvermogen angefullt sind, wobei es nicht an vielerlei Unterabtheilungen f'ehlt, wahrend dem praktisch Therapeutischen gewobnlich nur ein Paar Blatter gewidmet sind, auf denen man sich meistens auf allgemein therapeutische Regeln beschrankt. Der Anfanger weiss nun im concreten Falle nicht, welche Symptome er zumeist beacbten soil, und auf welchem Wege er am sichersten die Herstellung des Patienten erreichen kann. Ein Missgriff kann aber hier leicht dahin fiihren, dass ein Irrsinniger, der unter der Behandlung eines von sicherer Basis aus operirenden Arztes, zumal beim Beginn dorErkrankung, noch zu rotten gewesen ware, fiir immer verloren ist und im ungliicklichsten Zustande der menschlichen Ge- sellschaft zur Last fiillt. Der Vorwurf der Einseitigkeit ware indessen ein vollkommen be-
griindeter, wenn der Ai*zt bei Geisteskranken der psychischen Behand- lung, wohin z.B. dieBeseitigungder friiheren nachtheilig einwirkenden Verhiiltnisse, die Hinleitung auf einen richtigen Gedankengang, saufte Zusprache, sowie Zerstreuung durch Arbeit undBewegung desKorpers* zu rechnen sind, sich ganz entschlagen wollte. Der Arzt ist hier inso- fern in einer besseren Lage als bei vielen anderen Krankheiten, als ihm zwei machtige Factoren und Mittel zur Herstellung zu Gebote stehen. Da das Irrsein in seinen verscbiedenen Formen sich vorzugs- weise durch Verwirrung oder Storung des regelrechten Gedanken- ganges .aussert, so vermag er durch Zerstreuung, durch passende Zu- sprache und kraftigesHandeln dieSeele den schadlichen Einwirkungen zu entriicken und ihr in Folge besserer Einsicht zur verlorenen Herr- schaft iiber den Korper und zur Bewaltigung der Leidenschaften wieder zu verhelfen. Das wird ihm am besten dann geliugen, wenn er vorher durch sorgsam berechnete iirztliche Behandlung jene storenden Ein- fliisse und pathologischen Zustande beseitigt oder wenigstens gemil- dert hat. Der Tobsijchtigp hat die Herrschaft iiber seine Begierden verloren, der Melancholiker vermag seine triiben Vorstellungen nicht mehr im Zaume zu halten, und beide sind Sklaven ihrer psychischen Affection. Beiderlei Behandlungsweisen sollen neben einander Platz greifen, doch muss die pharmakodynamische meistens den Reigen eroffnen und den Kranken erst fiir die psychische Einwirkung vor- bereiten. |
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Erfbrschung der Geisteskrankheiten. 5
Wollte man bei einem Tobsiichtigen die Gehirnreizung, statt
durch entsprechende Heilmittel, durch verniinftigen Widerspruch, durch Zwangsmittel und gewaltsames Festhalten zu beruhigen suchen, welche andere Folgen konnte dies haben, als eine starkere Aufreizung und eine Steigerung der Wuth? 1st doch der Irrsinnige, zumal der Melancholiker, von der Wahrheit seiner Wahnvorstellungen fest iiber- zeugt, so dass alles Zu- uud Einreden, wodurch er von seinem Irr- thum iiberzeugt werden soil, nur dazu beitragt, seine Widerspanstig- keit und sein Misstrauen zu versttirken und wohl gar die Vorstellung in ibm zu erwecken, er sei uberall von Widersachern und geheimen Feinden umringt, die nur auf die Gelegenheit passen, ibn zu ver- derben. Fest iiberzeugt von der Wahrheit seiner Wahnvorstellungen, erachtet er sich leicht verkannt, audi von Seiten jener, denen er als lieben Verwandten und Freunden sein Vertrauen zu schenken pflegte. Darf man sich daim wundern, wenn der Arzt durch ein solches un- zeitiges Zusprechen des Vertrauens des Kranken verlustig geht? Wir miissen uns nur in denZustand uud in die Denkweise des Kranken selbst versetzen und uns vergegenwartigen, was wir selbst, fest iiberzeugt von der Wahrheit unserer Vorstellungen, tbun wiirden, wenn alle Freunde plotzlich mit einem nachhaltigen Widerspruch uns entgegen traten. Wir wiirden an unerklarliche Verschworungen, an geheime Zwecke glauben und von der Opposition befreit zu werden wiinschen; gar willig wiirden wir unser Ohr einem Fremden offnen, der iiber ganz andere Dinge mit uns sprache und unsere Gedanken von jener Entdeckuug ablenkte. Es kommt also auf die Menschenkenntniss und auf das Urtheil
des Arztes an, der die psychische Behandlung je nach den verschiede- nen Zustanden des Kranken zu modificiren wissen muss. Dabei muss der Arzt recht vertraut sein mit den organischen
Vorgangen. die audi im pathologisch verauderten Gehirne vorkom- men konnen, was eine genaue Kenntniss des Nervensystems und der Gehirnorgauisation voraussetzt, und nicht minder das Verstand- niss des Einflusses, dem das Gehirn von Seiten des iibrigen Orga- nismus unterliegt. Wie aber die iibrigen Zweige der Heilkunde auf genauer Keuntniss der Organisation und der Verrichtungen des ge- sunden Organismus basirt siud, so gilt dies auch von den verschie- denen Formen des Irrseins, wobei sowohl den Functionen dea Gehirns. |
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6 Erforschung der Geisteskrankheiten.
als dem Einrlusse des Organismus auf das Gehirn eine so grosse
Rolle zufallt. Ich erachte es deshalb nothig. die Betrachtung des Gehirns und
Nervensystems der Pathologie der Geisteskrankheiten vorauszu- schickcu, wobei ich a"er die grobern anatomischeo Verhiiltnisse als bekannt voraussetze und auf deren Beschreibung nicht weiter ein- gehen werde. |
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Erstes Hanptstiick.
Physiologische Anatomie des Gehirns.
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Allgemeine Uebersicht.
Unzweifelhaft gehort es zu den schwierigsten Aufgaben der Phy-
siologie, eine Erklarung der Gehirnfunctionen zu geben. Zu alien Zeiten haben auch die scharfsinnigston Gelehrten mit Fleiss diesen Gegenstand zu erforscben gesucht, sie wurden aber mehr oder weniger durch den dicbten Schleier gehemmt, womit die Natur hier ihre Ge- beinmisse umhiillt. Verschiedene Wege hat man zur Aufhellung dieses dunkeln Ge-
bietes betretcn. Ganz willkiirlich nahm man ein Sensarium commune an, worin die Seele ihren Thron aufgeschlagen hatte, wohin alle Ein- driicke fortgeleitet, und von wo aus alle Befehle ertheilt wiirden. Den Sitz desselben verlegte Descartes in die Zirbeldriise, Vieussens in das nach ihm benannte Centrum semicirculare, selbst Sommerring noch in eine der Gehirnhohlen. Spatere Physiologen erstrebten die Losung des Problems durch Vivisectionen, und Flourens (Recherches experimentales sur les proprictes du systeme nerveux. Paris 1824) so wie (lessen Nachfolger glaubton wenigstens soviel erschliessen zu diirfen, dass dem grossen Gehirne vorzugsweise die eigentlichen seeli- schen Verrichtungen zugewiesen sind. Ein tieferes Eindringen in die verborgene Werkstiitte der Natur wurde jedoch hierbei durch den Umstand erschwert, dass unser Urtheil iiber die Empfindungen der Thiere ein unzuverliissiges ist und somit die bei Vers+iimmelung |
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8 Die Gehirnfunctionen.
verschiedener Gehirntheile auftretenden Erscheinungen nur unklare
und unvollstandige Antworten sind. Man gewann Vermuthungen iiber den Nutzen der verschiedenen Gehimtheile und brachte es zu Hypo- thesen. Andere suchten durch vergleichende Untersuchung des Gehirns
bei verschiedenen Thieren und durch Vergleichung der an die ver- schiedenen Gehirnorganisationen gebundenen Lebensausserungen der Losung jener Frage naher zu kommen. Da una aber die Wahrnehmun- gen, die seelischen oder Verstandesthatigkeiten der Thiere ganz unbe- kannt sind, so konnte auch auf diesem Wege der umhiillende Schleier nicht geliiftet werden. Man suchte ferner durch Vergleichung der klinischen Beobach-
tung mit den genau erforschten anatomischen Storungen des Gehirns Aufschluss zu gewinnen, aber ebenfalls ohne Erfolg. Trifft man doch die verschiedenartigsten pathologischen Veranderungen im Gehirne an, das eine Mai, wo die schwersten und bedenklichsten Krankheits- erscheinungen dem Tode vorangingen, ein anderes Mai aber auch, wenn wahrend des Lebens fast keinerlei krankhatte Symptome aufge- treten waren. In der That braucht man nur die lange Heihe von Fallen zu vergleichen, welche Burdach (Ban und Leben des Gehirns. Dritter Theil) zusammeugestellt hat, um die Ueberzeugung zu gewinnen, dass diese klinisch-anatomischen Untersuchungen, die meistens auch nicht auf grosse Genauigkeit Anspruch mac-hen konnten, eher dazu angethan waren, Unklarheit und Verwirrung herbeizufiihren, als die Einsicht in die Gehirnthatigkeit aufzuhellen. Dasjenige benutzend, was auf diesem oder jenem der vorerwahn-
ten Wege als zuverlassig oder doch als wahrscheinlich erkannt wor- den ist, und zugleich die mikroskopischen Aufklarungen iiber den feineren Bau des RUckenmarks und Gehirns und den Zusammenhang ihrer Elemente herbeiziehend, habe ich einen andern Weg betreten und mbglichst einfache Fragen an die Natur zu stellen versucht. Hinter dem ganz Einfachen verbirgt ja die Natur oftmals ihre Ge- heimnisse, und das Suchen nach Complicirtem kann wohl dazu bei- tragen, uns zu verwirren und auf falsche Spur zu leiten. |
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Embryonale Entwickelung des Gehirns. 9
§2-
Entwickelung des Gehirns beim Embryo, verglichen mit
seinen verschiedenen Formen im Thierreich.
Es ist bekannt. dass das embryonale Gehirn aus den namlichen
einfachen Formen hervorgeht, die wir bei niedrigeren Thieren peren- nirend antreffen, und hierauf im Besondern stiitzt sich der Satz, dass dem Wirbelthierreiche ein fester Typus zu Grunde liegt, dessen Ent- wickelung von den Fischen bis zum Menschen mehr und mehr fort- schreitend sich vervollkommnet, so dass die verschiedenen Thiergat- tungen gleichsam nur Glieder eiuer grossen Kette sind. Wir fragen daher, welche Theile bilden die erste Anlage des Ge-
hirns beim Embryo und bei den niedrigsten Wirbelthieren, oder welche Theile des Gehirns sind als primiire, unbedingt nothwendige zu be- trachten, und welche Gehirntheile treten erst spater auf als secun- dare, die aber deshalb nicht mit minder wichtigen Functionen be- traut sind? Nehmen wir die trefflichen Abbildungen des embryonalen Men-
schengehirns von Tiedemann (Anatomic und Sildungsgeschichte des Gehirns. Niimberg 1816) zur Hand, so sehen wir das Ruckenmark unter einem Winkel in die Medidla oblongata sich umbiegen, und vorder- halb der ersten Anlage des Cerebellum zeigen sich die Vierhiigel, so wie noch waiter nach vorn die Selihiigel, die jetzt nur erst von Andeutungen der Hemispharen bedeckt werden. Die namliche Grundform finden wir auch bei den Fischen: nur sind Medulla oblongata und Cerebellum noch sehr unvollkommen, die hierauf folgenden Vierhiigel sind sehr gross, und eine vor diesen liegende Anschwellung gibt nicht nur die Wurzel der Riechnerven ab, sondern bedeckt auch die Corpora striata und Thalamic so dass sie als Anlage der Hemispharen zu deuten ist. Ueber die Bedeutuug und die Functionen dieser verschiedenen
Theile kann man nicht in Zweifel sein. Wir sehen beim Fisclie aus der Medidla oblongata den Trigeminus, den Acusticus, den Vagus, der zugleich dem Grlossopharyngeus entspricht, entspringen, mit einem Worte die Nerven fur Empfindung, Gehor und Geschmack. In der Medulla oblongata und moglicher Weise noch etwas weiter nacli vorn, falls ein Zusammenhang mit dem Thalamus besteht, muss demnach der Sitz der Perception fur die Empfindung, das Gehor und den Ge- schmack enthalten sein: es gibt beim Fische keiiie anderen Theile, denen diese Functionen zuerkannt werden konnteu. |
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10 Primare unci socundare Gehirntheile.
Weiter nach vorn sehen wir die Schnerven aus den Corpora qua-
drigemina abgehen. Sie miissen also beim Fische Sitz der Gesichts- perception sein, da sich kerne andern Gehirnthede vorfiuden, die diesen Zweck erfiillen konnten. Noch weiter nach vorn, an der Wurzel der Riechnerven, muss
dann die Perception der Geruchseindrucke vor sich gehen. Nun hleiben noch die Corpora striata iibrig, die mit den Pyraniiden
und den die Bewegung vermittelnden vordern Nervenwurzeln in so enger Verbindung stehen: es sind Bewegungsorgane, auf welche der Wille wirkt, und durch die wir die Herrschaft iiber die Bewegungen unseres Korpers ausiiben. Wir entnehmen hieraus, dass die erste Anlage des Gehirns mit
Theilen beginnt, durch die wir mit der Aussenwelt in Beziehung ge- gebracht werden, niimlich mit den sensuellen Apparaten, die an ver- schiedenen Punkten des Gehirns die von aussen empfangenen Ein- driicke zur Perception bringcn. Spater erst treten jene Apparate auf, die uns die Herrschaft iiber den eigenen Korper und die willkiirlichen Bewegungen sichcrn. Die erstgenannten siud also primare Theile, oder gleichsam die Grundlagen, auf denen das ubrigc Gebiiude mehr und mehr zur Vollendung gebracht und complicirter hergestellt wird. Schi'eiten wir in der Wirbelthierreihe vorwarts, so sehen wir, dass
die primarcn Grundlagen bci den Amphibien, bei den VSgeln, bei den verschiedenen Saugethieren sich erhalten. Die Nerven entspringen beim Fische wie beim Menschen aus den niimlichenThcilcn: der Opti- cus kommt bei alien aus den vorderen Vierhugelii, der Trigeminus aus der Medulla oblongata u. s. w., und bei den niedrigeren Thieron so gut wie beim Menschen haben Verletzungen jener Vierhiigel vollkom- mene Erblindung zur Folge. Wir kommen so zu dem Schlusse, dass die Functionen dieser primarcn Gehirntheile in der ganzen Thierreihe identisch sind. Bei den hbheren Thieren treten aber neue, immer mehr zusammengesetzte Theile hinzu, namentlich die Hemispharen, die eben so beim fortschreitenden Wachsthume des Embryo wie auf den hoheren Stufen des Thierreichs immer weiter nach hinten wachsen und iiber die an der Gehirnbasis gelegenen Theile sich herlegen. Bei den Fischen sind die Hemispharen sehr klein und lassen die Vierhiigel noch ganz frei liegen; bei den Amphibien haben sie bereits an Grosse zugenommen; bei den Vbgeln sind die Vierhiigel durch das Wachs- thum der Hemispharen zur Seite verschoben, was bei den Vogel- embryonen noch nicht so gefunden wird; bei den Saugethieren fangen |
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Primare unci secundare Gehirntheile. 11
die Hemispharen an, die Vierhligel zu iiberbrucken und beim starkeren
Wachsthume nach binten sicli iiber das Cerebellum herzulegen; beim Menscben endlicb wachsen sie ganzlich iiber letzteres binweg. Wir diirfen daher in die Hemispharen nicht den Sitz der sensuel-
len Perceptionen verlegen, und eben so wenig den Sitz der motori- schenWillensenergie; denn beiderleiFuncticmen gewahren wir schon bei den Fisehen in vollkommener Ausfiihrung, wo docb nur die erste An- lage der Hemispharen gegeben ist. In gewisser Beziehung kann man deshalb die Hemispharen als secundare Gehirntheile bezeichnen, die zu den primaren hinzutreten und mit den. Organen fiir die Perception und fiir die Willensausserung in Beziehung stehen, nicht aber selbst diese Organe darstellen. Allgemein ist es auch anerkannt, dass die Hemispharen unempfind-
lich und Verletzungen derselben nicht mit Schmerzenswahrnehmung verbunden Bind. Gefiihlseindrucke kommen in ihnen nicht zurPerception. Fragen wir nach der Bedeutung und nach den Functionen dieser
secundaren Gehirntheile, also namentlich der Hemispharen des grossen Gehirns, so erscheint wohl die Annahme nicht zu kiihn, dass die in den tiefer liegenden primaren Theilen bewirktenEindrucke bier weiter verarbeitet und zu bestimmten Vorstellungen uragewandelt werden. Auch ist es jetzt allgemein anerkannt, dass die Grosshirnhemispharen die Organe der hoheren Verstandeskrafte sind, und dafiir liefert, wie sich weiterhin zeigen wird, die pathologische Anatomie ganz bestimmte Heweise. Die verschiedene Wirkungsweise der primaren percipirenden Ge-
hirntheile und der Grosshirnhemispharen tritt recht deutlich hervor, wenn wir auf die Vorgange beim Sehen achten. Erblicke icb z. B. eineu Gegenstand, so erfolgt dessen Perception in den vorderen Vier- hiigeln, und es wird diese Perception, abgesehen von der Eigenthiini- lichkeit ties Auges, beim Fiscbe und beim Menschen die namliche sein. Sage ich dagegen, jener Gegenstand sei ein Mensch, oder er sei ein Freund, den ich erkenne, so haben wir es nicht mehr mit einer Wir- kung der Vierhugel zu thun, sondern mit einer solchen der Gross- hirnhemispharen, denen der durch die Vierhugel empfangene Eindruck zu weiterer Auspriigung iiberliefert wurde. Dieses Wahrnehmen, Er- kennen, Beurtheilen ist eine hohere Function, die beim Menschen und beim Fiscbe eine sehr verschiedene Stufe eiunimmt. Verschwindet jetzt jener Gegenstand und liort die Perception in den Vierhugeln auf, so sehe ich zwar meinen Freund nicht mehr, es ist aber damit die |
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12 Graue Substanz und Alarksubstanz.
Secundarwirkung in den Hemispharen noch nicht ausgefallen: es kann
der Eindruck, der hier in eine Vorstellung umgewandelt wurde, zuriick- gerufen werden, und ich kann das Bild des Freundes mit alien Eigen- thumlichkeiten, die sich an ihm zeigten, meinem Geiste wiederum ver- gegenwartigen. Bevor ich eine nahere Erklarung dieser Wirkungsweise unter-
nehme, woftir spater noch mehrereBeweise beigebracht werden sollen, ist es vor Allem aus erforderlich, den Nachweis vorzufiihren, dass zwischen den tiefer liegenden primaren percipirenden Gehirntheilen und den Grosshirnhemispharen wirklich ein anatomischer Zusammen- hang vorhanden ist. Mit anderen Worten, es sind die Wege, d. h. die Fasern nachzuweisen, wodurch die Primareindriicke den Hemispharen zugefiihrt werden. §.3.
Anatomischer Zusamme ii hang zwischen den primaren
Gehirntheilen an der Basis und den Grosshirn- hemispharen. Das centrale Nervensystem besteht aus zweierlei Substanzen, aus
der grauen und aus der weissen oder Marksubstanz. Es bedarf aber gegenwartig kaum mebr eines ausfuhrlichen Beweises, dass die wahren Quellen oder die Centren der Gehirnthatigkeit in der grauen Sub- stanz und deren Zellen zu suchen sind, die Nerveufasern oder Nerven- rohren dagegen im Allgemeinen nur Leiter darstellen. Bekannt ist es ferner, dass alle Nerven aus Zellen der grauen Substanz entstehen, welche Zellen durch Fasern unter einander und mit anderen Zellen- gruppen in Verbindung stehen. In gewisser Beziehung diirfen wir daher diese Nervenfasern mit unsern Telegraphendrahten vergleiehen, und die Ganglienzellengruppen mit den Telegraphenbiireaus, wo eine Wirkung erregt und durch Nervenfasern nach anderen Theilen hinge- fuhrt wird*). *) Freilich diirfen wir die Nervenfasern nicht durchaus' ale einfache Con-
duotoren ansehen, deren Wirksamkeit lediglich von der grauen Substanz aus- ginge, denn den Nervenfasern selbst wohnt audi noch einige Selbstwirkung inne. Nach neueren Untersuchlingen Pfliiger's contrahirt sich ein Muskel starker, wenn der Reiz nicht zu nahe dem Muskel einwirkt, sondern durch eine langere Nervenbahn verlauft. Ein durchschnittener Nerv kann die Fahigkeit verlieren, anf Reizung durch Muskelcontraction zu antworten, durch Assruhen jene Fahig- keit aber wieder erlangen, obgleich er von seinem Ursprunge abgetrennt ist. |
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Gehirnfasern. 13
Bekanntlich koniraen in jenen an der Gehirnbasis gelegenenThei-
len, die ich so eben als primare bezeichnete, mehrfache Kerne grauer Substanz vor, so z. B. am Ursprunge aller sensuellen Nerven, im ver- langerten Marke, in den Vierhiigeln und Sehhiigeln; auch die Corpora striata, die uns als Centren der motorischen Willensausserung erschie- nen, bestehen zum grosseren Theil aus grauer Substanz. Die Gross- hirnhemispharen werden von der grauen sogenannten Rindenschicht bedeckt. Zwischen diesen beiden Gebilden befinden sich Massen weisser Markfasern. Man darf daber schon a priori vermuthen, dass diese weissen Hirnfasern Conductoren dai-stellen, wodurch eine Wir- kung von einem Theile zum andern iibergefiibrt wird und wodurch sich auch der Zusammenhang zwischen den verschiedenen Gruppen grauer Substanz herstellt. Den Verlauf und die Richtung dieser Hirnfasern. gleichwie deren Zusammenhang mit der grauen Substanz, wird man daher bei Erforschung der Gehirnfunctionen nothwendig in Betrachtung ziehen miissen. Vieussens, Vicq d'Azyr, Gall, besondei-s aber Reil (Reil's
Archiv, Bd. 8. 9. 11) baben in friiherer Zeit den Verlauf der Gehirn- fasern genauer untersucbt und beschrieben, und aus neuererZeit sind Arnold (Icones cerebri), Foville (Anatomie du systbme nerveuxcerebro- spinal. 1844) und Gratiolet (Leuret et Gratiolet, Anatomie comparee du systime nerveux. Par. 1857) besonders zu erwahnen. Nach Foville's Untersuchungen hat man zwei besondere Faser-
systeme zu unterscheiden, wolrhe die an der Gehirnbasis gelegenen Theile mit der Corticalschicht in Verbindung setzen. Das erste System, welches schon den fruheren Anatomen mehr oder weniger bekannt war, begreift jene Faserung, die von der Vorderflache der Medulla oblongata aus als Pyramiden durch die Briicke und die Hirnschenkel zu den Corpora striata sich hinzieht, oder richtiger ausgedriickt, jene Fasern, welche als Trager oder Leiter unseres Willens in den Corpora striata entsteben und durch die genannten Theile hindurch zur Me- |
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Durcli die Untersuchungen von Philip eaux und Vulpian wurde sogar er.
mittelt, dass ein durchschnittener und nach einer gewissen Zeit degenerirter Nerv, nachdem ein langerer Zeitraum voriiber ist, wiederum zum norraalen Zustande zuriickkehren kann, so dass er bei eintretender Reizung wieder Muskelcontrac- tionen hervorruft, ungeachtet es nicht zur Wiedervereinigung mit dem Stamme gekommen ist (Comptes rendus. 3. Sept. 1860. p. 363). Diese Fahigkeit empiangt die Nervenf'aser in solchem Falle nicht von den Ganglienzellen. Die Ganglien- zellen konnen aber als Reiz auf die in den Nervenrohren sohlumuiernde Energie wirken, deren Eigenthumlichkeit uns freilich noch ganz unbekannt ist. |
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14 Gehirnfasern.
dulla oblongata und zu den vorderen Markstriingen des Rtickenmarks
verlaufen. Andererseits gehen aber auch von den Corpora striata radienformig eine Menge Fasern aus, die vertical zu den Gehirnwin- dungen aufsteigen und in deren Rindensubstanz endigen, indem sie, fiicherformig auseinanderfahrend, im vorderen, mittleren und hinteren Hirnlappen bis zum unteren bin sich ausbreiten, fast iiberall parallel mit der Fissnra magna zwischen beiden Hemisphiiren verlaufend und ungefahr 2 Centimeter von dieser Fissur entfernt. Foville rechnet hierzu seine Gyri vierter Ordnung. Durch diese fiicherformig aus den Corpora striata aufsteigenden Fasern steben die Centren unseres motorischen Willens in genauem Zusammenhange mit der grauen Rinde des Gehirns. Das zweite Fasersystem, welches die Centren der Perception mit
dem grossen Gehirn in Verbindung setzt, hat einen ganz andern Ver- lauf. Von der Hinterseite der Medulla oblongata aus verlaufen die Fasern liings der Innenseite des Thalamus und an den Wiinden des dritten Ventrikels zur vorderen Siebplatte (Substantia perforata antica), welche vor dem um den Hirnschenkel sich herumschlagenden Tractus opticus und zur Seite des Chiasmi gelegen ist. Mit dieser Stelle stebt die Wurzel des Olfactoritis in directer Verbindung, und der Opticus liangt durch seine Commissura mollis damit zusammen. Von da aus verliiuft diese Fasermasse bogenformig von vorn nach hinten liber den Balken weg, und schlagt sich hinter dessen hinterem Rande herab zum unteren Gehirnlappen: sie ist mit grauer Substanz belegt, und es gehen immer P'asern von ihr ab, die gegen den oberen Rand der grossen Ilirnspalte gerichtet sind. Diese Windung (bei Foville Ourlet genannt), deren Fasern von vorn nach hinten, jcdoch nicht fiicherformig verlaufen, scheint besonders dazu bestimmt, die Centren der Perception mit der Rindensubstanz zu verbinden. Zu dic- sem zweiten Systeme gehort wohl auch die von Gratiolet (Anat. com- parrc. PI. XXVI. Fig. ±mmmm) beschriebene Schicht von Fasern, welche vom Tractus opticus, da wo dieser sich von hinten her gegen die Vierhiigel und den Thalamus umbiegt, nach hinten und oben aus- strahlen. Ein drittcs System von Gehirnfasern bildon die Commissuren,
wodurch die beiden Halbkugeln des Gehirns unter einander in Ver- bindung kommen. Aus dieser kurzen Uebersicht erhellet, dass die Centren des mo-
torischen Wollens und der sensuellen Perception mit dem Grosshirn |
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Centrale Ganglienzellen. 15
durch ein doppeltes System von Fasern verbunden sind: das eine
breitet sich von den Corpora striata aus facherformig nach oben aus; das andere verliiuft, hufeisenformig gebogen, oberhalb des Balkens von vorn nach hinten. Es wird deshalb noting sein, in eine niihere Untersuchung der diese Theile znsammensetzenden Elemente einzu- gehen und nachzusehen, ob nicht dadurch das Dunkel, welches die Ge- himfunctionen umschleiert, einigermassen aufgehellt werden kann. §4.
Verschiedene Arten von Ganglienzellen im Gehirn und
Riickenmark im Allgemeinen. Als man in den letzten Jabren die feinere Structur des Central-
nervensystems einer genaueren mikroskopischen Untersuchung zu unterwerfen begann, stellte es sich aufs Bestimmteste heraus, dass die Zellen, die in der grauen Nervensubstanz in so grosser Menge an- getroffen werden, die wichtigsten Gebilde des Nervensystems sind, von denen alle Thatigkeit ausgeht. Dabei fand man auch, dass diese Ganglienzellen an verschiedenen Stellen der Grosse und Form nach sich von einander unterschoiden. Die Zellen in den vorderen Hornern des Kiickenmarks, von denen die Bewegungsnerven entspringen, zeich- neu sich nicht nur durch bedcutendere Grosse aus, sondern sie be- sitzen auch eine grossere Menge sogenannter Auslaufer, wodurch sie theils unter einander, theils mit den aus ihnen entspringenden Nerven zusammenhangen. Die Zellen in den hintern Ruckenmarks- hornern, welche mit den sensibeln Nerven in niiherer Beziehung zu stehcn scheinen, sind im Allgemeinen kleiner und mehr langlieh, und haben weniger Auslaufer. Es kommen aber auch noch kleinere Zellen im Riickenmarke vor. Jacubowitsch (Ueber die feinere Structur des Gchirns und Rilckenmarks. Breslau 1857) glaubte deshalb dreierlei Zellen untersclieiden zu sollen, namlich grosse motorische, kleine seusil)elc, kleiuste synipathische. Ich habe es bereits anderwarts (Bau und Functional der Me-
dulla spinalis und oblongata u. s. w. S. 129) ausgesprochen, dass diese Eintheilung nicht duichfiihrbar ist, da die Zellen, aus denen der Audi- torius entspringt, noch grosser sind, als jene motorischen in den vor- deren Hornern des Iluckenmarks. Auch kommen im Gehirn selbst noch viel grossere Verschiedenheiten vor. Im Cerebellum findet man sehr grosse Zellen mit eigenthumlicher Gestaltung und Verastelung |
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16 Central^ Ganglien zellen.
und daneben wieder sehr kleine; in der Varolsbriicke sind die Zellen
kleiner, in der Substantia nigra der Grosshirnschenkel wieder grosser, sehr klein dagegen in den Corpora striata, jedoch mit einzelnen gros- seren untermengt; auch in der Rindensubstanz der Hemispharen trifft man, zumal nach der Oberflache zu, Schichten feinster Zellen an, zu deren deutlicher Wahrnehmung schon sehr starke Vergrosserungen erforderlich sind. Es diirfte sich wohl eher der in meiner genannten Schrift (S. 128)
ausgesprochene Satz als allgemeine Regel hinstellen lassen, dass dort, wo den Nervenfasern oder der grauen Substanz eine eigenthiimliche Function zugewiesen ist, specifische Zellen auftreteu, die sieh eben so durch ihre Form und Structur wie durch den Zusammenhang mit an- deren Zellen auszeichnen. Durch und in diesen Zellen beginnt die eigene Wirkuugsweise,
die sich den Nervenfasern mittheilt. So finden wir bei den centripetal wirkenden Nerven, beim Olfartorius, beim Opticus, beim Auditorius. beim Geschmacksnerven an den peripherischen Enden Ganglienzellen, wodurch die Thatigkeit in diesen Nerven erregt wird. Sehr wahr- scheinlich haben wir bei den Gefuhlsnerven den namlichen Vorgang in den Tastkorperehen, wodurch es erklarlich werden diirfte, warum ein die Haut treffender Reiz eine andere Empfindung hervorruft, als wenn derselbe den Nervenstamm unmittelbar trifft. Durch die schonen Versuche von E. H. Weber wissen wir, dass die Haut zwar warme und kalte Gegenstande unterscheidet, dass aber nur eine schmerzhafte Empfindung zu Stande kommt, wenn ein Nervenstamm durch warme oder kalte Gegenstande gereizt wird. Das namliche Verhalten diirfen wir im Centralnervensysteme voraussetzen. Ueberall. wo sich Zellen finden. geht von diesen die Wirkung aus, und wo der Effect ein ver- schiedenartiger ist, da wird auch die Structur und die Zusammen- setzung der Zellen sich durch Besonderheiten auszeichnen. Die mi- kroskopische Untersuchung hat dies auch aufs Vollstandigste be- statigt. Bevor ich diese Verschiedenartigkeit der Zellen naher auseinander
setze, will ich erst von ihrer Wirkungsweise und von der Wirkung der Theile, worin sie vorkommen, handeln, soweit wir dariiber Rechen- schaft zu geben im Stande sind. Sonst wiirde die blosse Aufzahlung jener Verschiedenheiten nur ein trockenes Verzeichniss kleiner Eigen- thiimlichkeiten sein, worin man nicht leicht einen geregelten Zusam- menhang wiirde herausfinden konnen. |
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Nervenzellen der Sinnesorgane. 17
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§5.
Wirkungsweise und Zusammenhang der centralen und
peripherischen Nerven- und Gehirnzellen. Um die Wirkungsweise der Gehirnzellen zu erkennen, miissen wir
der Function unserer Sinnesorgane nachforschen, in denen die ver- schiedenen Zellen eine so grosse Rolle spielen. Wie sonderbar es auch auf den ersten Blick erscheinen mag, man
ist zu dem Ausspruche berechtigt, dass im strengen Sinne des Wortes beim Sehen nicht das Licht selbst, beim Horen nicht der Schall selbst wahrgenommen wird. Eine kurze Auseinandersetzung soil diesdeutlich machen. Bekanntlich liegt hinter der Netzhaut des Auges die sogenannte
Stabchenschieht, deren Stabchen so gestellt sind, dass ihre Axen mit den ins Auge eindringenden Strahlen zusammenfallen, d. h. dass die Rich- tung der Strahlen der Verliingerung der Stabchen folgt. Im einzelnen Stabchen wird durch das Licht eine specifische Wirkung hervorgerufen und durch eine hochst feine Faser auf eine Nervenzelle (Ecker, Icones physiolog. Tab. XX, Fig. 12 b, c, g, f, m) iibertragen; dieser die Nervenzelle treffende Reiz aber bringt jene Netzhautfaser, womit sie in Verbindung steht, in Thatigkeit. Die Nervenfaser selbst, d. h. die Netzhaut ist, wie wir jetzt sehr gut wissen, fur das Licht selbst un- empfindlich, und ein Lichtkegel, der durch ein Brennglas zur Eintritts- stelle des Opticus hingeleitet wird, wo alle Fasern der Netzhaut zu- sammenkommen, wird nicht wahrgenommen. Es werden diese Fasern durch die Nervenzellen erregt, die von den Stabchen her den Reiz in Empfang nehmen. Die Fasern der Netzhaut und des Opticus leiten dann die Wirkung nach den Corpora quadrigemina hin, wo sie wieder in eigenthumlichen Zellen endigen, und erst hier findet die Licht- perception statt. Alle Verletzungen der vorderen Vierhiigel haben daher unmittelbar Blindheit zur Folge. Wenn wir uns im Dunkeln ans Auge stossen mit der Empfindung, als sprange Licht oder Feuer heraus, so ist das natiirlich kein Licht, sondern durch das mechanische Moment wurde die Netzhaut gereizt, und sie pflanzte jenen Reiz nach dem Centrum fort, wo wir ihn als Licht percipiren. Somit empfinden wir nicht das Licht selbst, sondern eine eigenthiimliche Wirkungsweise in den Zellen der Netzhaut und der Vierhiigel. Wir miissen aber an- Schroeder v. d. Kolk, Geisteskrankheiten. 2
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18 Nervenzellen der Sinnesorgane.
nehmen, dass die Zellen in den Vierhiigeln mit dem Ich in einer
naheren Verbindung stehen, so dass man sie fiiglich als centrale Zellen oder noch besser als Perceptionszellen bezeicbnen darf. Ihre specifische Function in diesem Falle ist es, das Bewusstsein von der Wahrnehmung des Lichtes in Kenntniss zu setzen. Aebnlich verhalt es sich mit dem Horen. In der Scbnecke sind wahr-
scbeinlicbdieCorti'scbenZellen*) dazu bestimmt, die Schalleindriicke den Zellen des Gehornerven mitzutbeilen, und es scheinen die Schall- schwingungen eben so wenig im Gehornerven eine Wirkung hei-vor- zurufen, als die Lichtstrahlen in der Netzbaut. .Sonst konnte man sich schwer erklaren, wie wir die verschiedenen Tone eines Concert- stiickes zu unterscbeiden im Stande sind, wenn alle Tone gleichzeitig durcb dieselbe Nervenfaser fortgeleitet wiirden. Die Eimvirkung wird nun einer Gehor nervenfaser iiberantwortet, die wabrscbeinlich dem specifischen Tone entspricbt, und diese Faser leitet zu den Centralzellen fort, aus denen der Gehornerv entspringt. Die Wirk- samkeit dieser Centralzellen nun empfinden wir als Schall, und nicht etwa als Licht oder alsSchmerz; wir nehmen also die specifische Wir- kung dieser Zellen wahr, unci nicht die Luftschwingungen selbst. Des- balb konnen aber auch Hallucinationen desGehbrs zu Stande kommen, ohne dass ein wirklicher Schall einwirkt. Dass jene centralen Zellen oder Perceptionszellen nicht unmittelbar durcb Scballscbwingungen afficirt werden, ist daraus zu entnehmen, dass die Zerstorung des inneren Gehororganes Taubbeit zurFolge hat; denn Schallscbwingungen pflanzen sich ja durch alle Fliissigkeiten und festen Kcirper, somit auch durcb den Schadel und durchs Gehirn fort und miissen somit die Perceptionszellen erreichen. Die gleicbe Eimiehtung finden wir im Riechapparate. Im oberen
Theile der Nasenbohle licgen eigentbiimlicbe Epithelialzellen, die durch eine feine Faser mit Ganglienzellen zusammenzuhiingen scheinen, worin Olfactoriusfasern endigen**). Sicherlich wirken |
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*) Vergl. Ecker's Icones phys. Tab. XVI, Fig. 2, f, g, h, k. Den Zusammen-
hang der Corti'schen Zellen mit dem Gehornerven hat man spater wieder geleugnet, und namentlich der Bau der Vogel scheint zu widerspreuhen, wo das dickere Ende der Corti'schen Zelle der Nervenfaser zugekehrt ist, Hier scheinen sich die Nerven nur in der Haut oder im Knorpel der akustischen Membranen zu verbreiten, gleichwie auch nach manchen Angaben bei den Saugethieren der Nerv unter der Lamina perforata verblejbt. '*) Der unmittelbare Zusammenhang dieser Theile (Ecker, Icones phys.
Tab. XVIII, Fig 2, 3, 5) ist zwar noch nicht ganz sicher erwiesen, aber doch |
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Nervenzellen der Sinnesorgane. 19
die Riechstoffe nicht direct auf die Nervenfasern, da sie wohl
kaum so schnell durch die verhaltnissmassig dicken Epithelialzellen wiirden dringen konnen, sie scheinen vielmehr in den Epithelialzellen eine specifisclie Wirkung zu Stande zu bringen, die mittelst der Gan- glienzellen auf die Olfactoriusfasern iibertragen wird. Sobald diese Epithelialzellen in ihrer Wirksamkeit eine Beeintraehtigung erfahren, geht der Geruch verloren. Es werden auch nur fliichtige Stoffe gerochen, jedoch nicht durch Fliissigkeiten hindurch, wenn diese auch noch so sehr mit Riechstoffen geschwiingert sind; denn Fliissigkeiten scheinen durch die Imbibition und Anschwellung der Epithelialzellen eine abnorme Wirkung derselben zu veranlassen. Bei reichlicher Schleimabsonderung im Schnupfen verlieren wir den Geruch. Der Schleim und das Wasser konnen aber doch nur schwer bis zu dem Nerven selbst durchdringen; sie wirken vielmehr auf die Epithelial- zellen, die fur den Olfactorius die gleiche Bedeutung zu haben scheinen, als die Stabchenschicht fiir die Netzhaut, oder die Cortischen Zellen fiir den Gehornerven. I)er Geschmacksnerv scheint in gleicher Weise zu endigen, obwohl
der anatomische Beweis dafiir noch nicht beigebracht ist. Soviel scheint ausgemacht, dass die Glossopharyngeusfasern mit kleinen Nervenzellen endigen (Remak in Miiller''s Archiv 1852, S. 52), und dergleichen scheinen auch an den feinsten Fasern des Lingualis vor- zukommen. Die Geschmackswarzchen aber scheinen auch wieder mit Cortischen Zellen bedeckt zu sein, die in eine lange feine Faser aus- gehen und mit Geschmacksnervenfasern zusammenhangen (Fixsen, De linguae raninae textura. Dorp. 1857, Fig. 4, 5, 6). Ein Zusammen- hang zwischen den Epithelialzellen und den Nervenfasern, wie er sich zwischen der Netzhaut und deren Stabchenschicht und in den anderen Sinnesorganen findet, ist demnach wenigstens sehr wahrscheinlich. Soviel steht dann fest, dass Veranderungen der Epithelialzellen bei belegter Zunge von entschiedenem Einflusse auf das Schmecken sind. Wir konnen auch nicht fiiglich annehmen, dass die geschmackerregen- den Stoffe in die Nerven selbst eindringen und diese direct afficiren; denn waren die letzteren der Einwirkung der Aussendinge so ganz |
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hochst wahrscheinlich. Die Abbildung in der Dissertation von Erichsen
(Be textura vera Olfactorii ejusque ramorum. Dorp. 1857), welche den Zu- sammenhang zwischen Nervenfasern und Epithelialzellen erlautert, darf wohl Misstrauen erwecken, und es ist auch die Richtigkeit der Sache von Andern bezweifelt worden. 2*
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20 Nervenzellen der Sinnesorgane.
blossgestellt, so rnochten sie durch Salze und stark roizende Substanzen
wohl rascher eine Beeintrachtigung erleiden. Man kann sich ferner nicht gut denken, dass diese Substanzen so rasch durch die Schleim- haut dringen und mit den Nerven selbst in Beriihrung kommen soil- ten; die Sauren wenigstens wiirden wohl durch den Speichel neutra- lisirt werden und somit nicht mehr auf die Nerven wirken konnen. Jedenfalls sind wir zu der Annahme berechtigt, dass die Schmeckstoffe nicht direct empfunden werden, und durch dieselben nur eine eigen- thiimliche Wirkung in den Geschmacksnerven zu Stande kommt, die zu den centralen Zellen im Gehirn fortgeleitet und hier percipirt wird, d. h. mit andern Worten, die Wirksamkeit dieser centralen Zellen nehmen wir als Geschmack wahr. Ungewiss ist es aber, ob sich hier verschiedenartige Zellen finden, die bei stattfindender Reizung die Empfindung des Sauren, des Sussen oder des Bittern erwecken. Endlich scheint es auch mit dem Hautgefuhle die namliche Be-
wandtniss zu haben. Die Endigungsweise der Gefiihlsnerven kennen wir allerdings auch noch nicht ganz vollstandig; sie scheinen in die Tastkorperchen auszugehen, worin auch Zellen mit korniger Masse erfiillt vorkommen, die also vielleicht Nervenzellen entsprechen. Freilich kennt man diese zuerst von Wagner undMeissnerbeschrie- benen Tastkorperchen fast nur an den Fingern und Zehen, und die Endigungsweise der iibrigen sensibeln Nerven ist noch nicht enthiillt. Die Fortpflanzung der diellaut treffendenEindriicke erfolgt auf einem complicirteren Wege. Die sensibeln Nerven scheinen namlich im Riickenmarke in eigenthiimlichen Ganglienzellen zu endigen, von denen Fasern nach der andern Seite verlaufen und von hier zur Gehirnbasis aufsteigen, wo an oder neben dem Thalamus nervi optici -die eigentliche Perception erfolgt*). *) Denken wir uns die vordern Horner des Riickenmarkes, die mit den Be-
wegungsnerven zusammenhangen, und die hinleren Horner, worin die sen- sibeln Nervenf'asern endigen, nach oben ins Gehirn verlangert, so werden hier die vorderen Horner durch die Corpora striata reprasentirt, deren motorische Beziehungen keinem Zweil'el unterliegen, die hinteren Horner aber durch die Thalami, welohe wahrscheinlich die Perception des Uefuhls vermitteln. Auch will Tiirck gefunden haben, dass bei Verlust der Gefiihls- empfindung alleraal eine Verletzung der Thalami sich herausstellt. Damit stimrat ganz gut eine Beobachtung von Waters (Brit. Med. Joum. 4. May 1861; Schmidt's Jahrbilcher 1861, Nr. 9, S. 294). Ein Mann, der eine Zeit lang an Schwache des linken Armes gelitten hatte, wurde hemiplegisch; die Sprache und das Denkvermogen waren nicht beeintrachtigt, dieZunge war etwas nach links, der Mund nach rechta verzogen, das rechte Auge offnete sich |
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Nervenzellen der Sinnesorgane. 21
Bedeutsam ist in dieser Beziehung das bereits erwahnte Experi-
ment von E. H. Weber, wonach wir wohl verschiedene Temperatur- grade mittelst der Haut zum Bewusstsein bringen, nicht aber dadurch, dass wir einen erwarmten oder einen kalten Korper mit dem Nerven- stamme in Beriihrung setzen. Im letzteren Falle kommt es nur zu einer Schmerzempfindung. Wir diirfen hieraus den Schluss (ziehen, dass in der Haut, und zwar wahrscheinlich durch die Nervenzellen, die sich ja iiberall als Erreger der Nervenwirkung kund geben, eine specifische Erregung und Wirkungsweise der sensibeln Nervenfasern zu Stande kommt, dieser Reiz aber im Centrum des Nervensystems als Kalte oder als Warme wahrgenominen wird. So geschieht es, dass die Sinnesnerven, wenn der namliche Reiz, z. B. der elektrische oder galvanische, auf sie einwirkt, doch immer durch ihre specifischen Empfmdungen antworten: es bewirkt die galvanische Reizung Licht- erscheinungen im Auge, Schallempfmdungen im Ohre, Geschmacks- wahrnehmung an derZunge, Schmerz oder ein Gefuhl von Erwarmung in der Haut. Der einwirkende Reiz ist ein und derselbe, die Wirkung in den centralen Zellen dagegen ist verschiedenartig und .bringt uns die den verschiedenen Sinnesorganen entsprechenden Wahrnehmungen. Das ist der Grund, warum die Durchschneidung des Opticus nicht schmerzt, sondern mir von Lichterscheinungen begleitet ist. Aus dem Vorstehenden folgt, dass wir eigentlich nicht die uns
umgebende Natur selbst wahrnehmen, sondern nur die eigenthumliche Wirkung der Gehirnzellen, welche durch Eindriicke von aussen her- vorgerufen wird. Was hier keine Wirkung hervorruft, das wird von uns nicht wahrgenommen. So konnen denn wohl noch mancherlei Dinge in der Natur vorhanden sein, von denen wir keine Kenntniss haben. Diese Zellen, die wir nach ihrer Wirkungsweise als Per- ceptionszellen bezeichnen diirfen, stehen mit unserm Ich oder mit unserer Seele in naherem Zusammenhange, d. h. die in ihnen wirken- den Krafte theilen sich unmittelbar unserer Seele mit. Sie liegen aber insgesammt in Theilen, die an der Basis des Gehirns befindlich sind, die beim Embryo zuerst entstehen, und die bei den Fischen fast das Gesammtgehirn constituiren. Diese Zellen unterscheiden sich nach Grosse, Configuration und
nicht vollstandig, das Gefuhl schien nirgends beeintrachtigt zu sein. Bei der
Section fand sich das rechte Corpus striatum vollig erweicht, der gleich- namige Thalamus ganz normal beschaffen. Waters zieht hieraus die Fol- gerung, dass das Corpus striatum zur Bewegung in Beziehung stent. |
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22 Nervenzellen der Sinnesorgane.
Reichthum der Verbindungsfasern gar sehr von jenen Nervenzellen, die
im Riickenmarke vorkommen, und aus denen die Bewegungsnerven entspringen, gleichwie auch Gefiilils- und Reflexnerven darin endigen, und von deren Wirkung wir keine directe Wahrnelimung bekommen*). Wir haben aber gesehen, dass neben diesen primaren Theilen an der Gehirnbasis sich in der aufsteigenden Thierreihe sowobl wie im Embryo immer mehr das grosse Gehirn entwickelt, nacb hinten wachst und jene Grundtheile iiberdeckt. Parallel dieserZunabme des grossen Gehirns wachsen auch die geistigen Krafte. Es wurde dann auch nachgewiesen, dass die Rindenschicht des Grosshirns durch besondere Hirnfasern mit den primaren Theilen an der Basis oder mit den Organ en der Perception und des Will ens genau zusammenhangt. Die Beschaffenheit und die Wirkungsweise dieser Zellen der grauen Sub- stanz kennen zu lernen, wird deshalb eine wichtige, aber auch schwie- rige Aufgabe sein. |
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*) Pfltiger's Ansioht, welche Lewis in seiner neueren Physiologie so sehr in
Schwung gebracht hat, will ich nicht umstandlioher auseinander setzen. Eine bewusstlose Empfindung, die Lewis noeh von der Perception unterscheiden will, ist fur mioh em Unding. Die Untersuchungen iiber die sensorischen Functionen des Riickenmarks von A. Mayer in Mainz (Prager Vierteljahrs- schrift 1861, 1. Bd., S. 44 bis 65; Schmidt's Jahrbilcher 1861, Bd. Ill, S. 278) sind in Betreff dieses Punktes von besonderem Interesse. Nach Mayer hat sich Piliiger insofern geirrt, als die Medulla oblongata beim Frosche sich viel weiter nach unten erstreckt, niimlich bis zu den Sehulterblattern, und somit beim Decapitiren des Frosches noch mit dem Riickenmarke in Verbindung bleibt. In ihr wurzeln aber Qefiihl und Bewegung, wio aus der Entwickelungsgeschichte der Thiere und am Gehirne der Fische zu ersehen ist. Jene Erscheinungen, welche die Existenz der Empfindung und will- kiirlichen Bewegung beurkunden, horen bei den Froschen auf, sobald auch die Medulla oblongata weggenommen wird. Darin liegt ein neuer Beweis dafiir, dass der Sitz der willkiirlichen Bewegung in den Corpora striata und am Ende der Medulla oblongata zu suchen ist. Ist das eigentliche Riicken- mark noch allein vorhanden, so fehlt die willkiirliche Bewegung, und es kommt nur noch zu Reflexbewegungen; die Thiere fuhren nicht mehr co- ordinate Bewegungen aus, und sie verrathen keine Empfindlichkeit. Die Beweise, welche man aus den Bewegungen des Schwanzes bei Aalen, Sala- mandern, ja selbst jungen Katzen hergenommen hat, sind nicht iiberzeugend. Die Bewegungen des Katzenschwanzes variiren je nach der Verschiedenheit der gereizten Punkte. So land Schiff, dass der Schwanz bei Reizung der Schwanzspitze sich allerdings von dem Reize abwandte, bei Reizung der Schwanzwurzel dagegen sich der Flamme naherte. |
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Zellen der Rindensubstanz. 23
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§ 6.
Zellen der Rindensubstanz. Klinische Untersuchungen, Vivisectioneu und die vergleichende
Anatomie fuhren zu der jetzt wohl allgemein anerkannten Annahme, dass die Rindenschieht der Grosshirnhemispharen mit den geistigen Thatigkeiten in engerer Beziehung stelit. Untersucht man aber diese Rindenschieht mikroskopisch, z. B. auf vertikalen Schnitten, so sieht man, dass die Fasern der Marksubstanz facherformig in sie eindringen, sich wiederum zu Biindeln vereinigen, durch querlaufende Fasern gekreuzt werden, zwischen den Biindeln aber zahlreiche Ganglien- zellen liegen. Diese Zellen haben eine mannigfaltige Grosse, wenn- gleich sie alle zu den sehr kleinen gehoren; sie haben mehrere sehr feine Auslaufer, meistens 3 bis 4*). Daneben kommen noch ganz feine Zellen vor, die meistens an einem ausserst diinnen Fadchen sitzen und durch dasselbe mit einer Nervenfaser oder mit einer grbsseren Zelle in Verbindung stehen. §.7.
Wirkungsweise der Zellen in der Rindensubstanz. Es liegen in der Rindensubstanz verschiedene Zellenarten in
mehreren Reihen iiber einander, in denen die vertikal eindringenden Markfasern zu endigen scheinen, und ausserdem scheinen diese Zellen auch noch unter einander durch Fasern in Verbindung gesetzt zu sein. Die verschiedenartige Grosse und Configuration dieser Zellen recht- fertigt wohl die Annahme, dass sie auch verschiedene Functionen haben. Wir haben aber gesehen, dass die eigentlichen Sinneseindriicke
den in deri primaren Gehirntheilen liegenden Perceptionszellen zu- gefiihrt werden, welche Zellen durch eigenthiimliche Fasern mit der |
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*) Den Faserverlauf, wie ihn Berlin (Beitrag zxw Structurlehre der Gross-
hirnwindungen. Erlangen, 1858) abbildet, finde ich ganz gut. Die Ganglien- zellen dagegen finde ich dort zu gross und auch zu sparsam angegeben; denn sie sind in zahlloser Menge vorhanden. |
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24 Zellen der Rindensubstanz.
Gehirnrinde zusammenhangen. Hierhin mogen also wohl jene Ein-
driicke weiter geleitet und hier mogen sie verarbeitet werden, etwa in folgender Weise. Wenn wir zu Bett gehen und uns z. B. auf die eine Seite legen,
60 schweben unserm Geiste eine Menge verwirrter Bilder vor. Sind wir etwas erregt durch eine vorausgegangene lebhafte Gesellschaft oder durch irgend eine andere Ursache, dann werden diese Bilder so lebhaft, dass sie den Schlaf verhindern. Unwillkiirlicli legen wir uns dann auf die andere Seite und die Bilder verschwindeii, werden . jedoch bald durch andere ersetzt. Wir legen uns nach einiger Zeit wiederum auf die andere Seite, um von den lastigen Bildern befreit zu werden, was sich wohl noch mehrmals wiederholt, bis wir endlich einschlafen. Dieser Vorgang lasst folgende Erklarung zu. Wie das Blut auf das gesammte Nervensystem einen erregenden Einfluss iibt, so besonders aueh auf die an Capillaren so ungemein reiche Rindensubstanz. Die Gehirngefasse haben bekanntlich diinnere Wandungen, da ihnen die Muskelfaserschicht fast ganz abgeht, weshalb sie auch nur einen schwiicheren Druck auf das Blut ausiiben konnen. Das Blut, dem Gesetze der Schwere folgend, wird sich in den tiefer gelegenen Par- tien der graueu Substanz anhiiufen, und in Folge des starkereu An- drangs und der starkeren Transsudation starker auf die^Zellen ein- wirken, wodurch deren natiirliche Function in Wirksamkeit tritt. Es erwecken aber diese Zellen nicht etwa die Vorstellung des Lichts oder des Schalls oder des Schrnerzes, vielmehr werden die durch die Sinnes- organe empfangenen Eindriicke zu ihnen geleitet, zu Vorstellungen und Bildern vereinigt und durch erneuerte Beizung reprodueirt. Wendeii wir uns daher unter den angegebenen Verhaltnissen auf die andere Seite, dann hort jene unwillkiirliche Thatigkeit auf, das Blut senkt sich aber in der andern Hemisphere und es beginnt hier das namliche Spiel. Damit erklart sich das unwillkiirliche Auftreten und die Unregel-
massigkeit dieser Bilder und Vorstellungen. Und nicht bloss bei Nachtzeit, sondern auch unter Tage, wenn wir im Gesprache sind, gehen wohl solche unfreiwillige Bilder an unserm Geiste voriiber. Eine recht gute Schilderung derselben finden wir in Gaubius' trefflicher Abhandlung de regimine mentis, quod medicorum est",- wo es heisst: quam incommodum saepe est rem uliquam eogitanti, sopitis etiam sen- |
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sibus ezternis, tot tamque alienas ex corpore suggeri imagines; quam
difficile, cum prosiliunt, reprimere, cavere ne continue intcrveniant *). Fiihrt denn aber, kann man fragen, diese Theorie nicht zum
grobsten Materialismus, und wird nicht unsere Seele dadurch zur Stufe eines blossen Zellenlebens herabgedriickt? Mit Nicliten. Bei jener Auffassung, wobei ich dem Gange der Natur nioglichst getreu gefolgt bin, bleibt nach meinem Dafiirhalten die Selbststandigkeit des Ich5 der Seele, auf das Bestimmteste gewahrt. Denn sobald wir in dem Zeitraum, wahrend dessen jene Bilder so verwirrt und kraus vor unserm Geiste voriiberziehen, es nur wollen, halten wir eins von jenen Bildern fest, um es ganz nach unserm Gutdiinken weiter auszu- schmiicken. Das beweist doch, dass nocli ein; hoheres Vermogen in uns wirksam ist, welches jene Eindriicke aufzunehmen und wahrzu- nehmen vermag, zugleich aber auch selbststandig einzugreifen und die ordnungslose Masse zu beherrschen im Stande ist/ Wir haben ein Telegraphenbiireau, zugleich aber auch cineu Telegraphisten, der mit Willkiir und Selbststandigkeit eingreift. Die unwillkiirliche Vorstellung jener Bilder ist eine organische Gehirnwirkung: wir fiiblen es, dass die Bilder uns vorgestellt werden, dass sie nicht das eigne Ich sind, und sie existiren als Objecte ausser uns. Unser Wille dagegen gehort zum Ich, er ist nicht Product des Korpers, sondern der Seele, er ist Subject. Der Materialist will uns zu einem Telegraphenbiireau ohne Telegraphisten machen, zu einem Automaten, der nur blind wirkt, ohne Ordnung, ohne Willen, ohne Verstand und Urtheil, zu einem ununter- brochenen Traumer, der seine eigenen Traume nicht wahrnehmen kann. Die Willkiir gehort dem hoheren Ich an, sie ist ein seelischesVermogen. Mit diesen unwillkiirlichen Bildern stimmen auch jene uberein,
die als Zeichen von Gehirnreizung in unsern verwirrten Traumen vor- |
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*J Es kann noch die Frage aufgeworfen werden, ob die unwillkiirlichen und
verwirrten Bilder, die uns umgaukeln, wirklich Producte der Hirnrinde sind, oder ob sie etwa in der Netzhaut entstehen und uns von hier aus entgegen- gefiihrt werden. Dieser letzteren Annahme widerstreitet folgender leicht zu wiederholender Versuch, den ich mehrmals angestellt habe. Hat man im Dunkeln ein solches Bild vor sich, so bewege man die Augen nach rechts oder nach links, und man iiberzeugt sich davon, dass jenes Bild den Bewe- gungen der Augen nicht folgt, vielmehr unverriickt nach vorn stehen bleibt. Achtet man dann genau auf die Stelle, welche das fragliche Bild einnimmt, und fiihrt man den Finger dahin, so gewahrt man, dass diese Stelle ober- halb der Augen gelegen ist, etwa vorn an der Stirn, d. h. in der Gegend der Lobi anteriorcs cerebri. |
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26 Zellen der Rindensubstanz.
kommen. Der korperliche Gesundheitszustand ist deshalb vom ent-
schiedensten Einflusse auf die Traume. Nach einer stiirkeren Abend- mahlzeit, wobei es zu vermehrter Congestion nach demGehimekommt, traumen wir gewobnlich, und zwar wohl in Folge von Reizung der Zellen in der Rindenschicht, in denen friihere Eindriicke und Vor- stellungen wieder erweckt werden, und wozu der Impuls jetzt nicht von der Seele, sondern vom Korper ausgeht. Die Verbindung dieser Zellen unter einander scheint den Zweck
zu haben, die durch die Sinnesorgane empfangenen Eindriicke zu ver- kniipfen, zu Vorstellungen und Bildern fiir unsere Seele urnzugestalten, wie denn audi umgckehrt unsere Seele jene Eindriicke wieder wach rufen kann. Es sind diese Zellen die physischen Elenicnte des Er- innerungsvermogens, und bei Verletzungen der Gehirnrinde im Blod- sinn oder im hoheren Alter geht das Gedachtniss schnell verloren, d. h. es konnen dann in diesen Zellen die friiheren Eindriicke nicht mit gleicher Leichtigkeit reproducirt werden. Trifft die Hirnrinde ein fremdartiger Eindruck, wird sie durch
beschleunigte Circulation, durch das mehr oder weniger pathologisch veranderte Blut im Nervenfieber starker gereizt, dann erlangen jene Vorstellungen und Bilder solche Starke, dass wir sie nicht mehr von den durch die Sinnesorgane oder eigentlich durch die Perceptionszellen zuStande gebrachten zu unterscheiden vermogen: es entsteht Delirium. Oder nach reicblichem Genusse von Spirituosis gehen die Bilder rascher und unter starkerem Eindrucke an unserem Geiste voriiber, so dass wir ihnen nicht mehr genau folgen konnen: die Gedanken gehen uns durch und wir reden irre. Einen recht instructiven Fall fiir die Bedeutung der Hirnrinde-
zellen beobachtete ich an einem Handelsmanne, der in Begleitung seines Sohnes zu mir kam, um sich iiber seinen Zustand Raths zu er- holen. Vor etwa einem halben Jahre, erzahlte mir der Sohn, hatte der Vater einen Schlaganfall von nur kurzer Dauer gehabt, der keine Lahmungserscheinungen hinterliess; dagegen war das Namens- oder Wortgediichtniss grossentheils verschwunden, so dass er die Gegen- stande mit falschen Namen belegte, und z. B. das Wort Stuhl ge- brauchte, wenn er einen Tisch meinte. Er wusste nun recht gut, dass das Wort Stuhl nicht das richtige war und brachte ein anderes Wort hervor, bis er zuletzt auf Tisch kam, welches Wort er dann mit voller Befriedigung iiber das Auffinden des Richtigen aussprach. Der Fehler lag in diesem Falle nicht in den Corpora striata, sondern in |
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Zellen dei' Rindensubstanz. 27
der Rindenschicht, denn es zeigten sich keinerlei Lahmungserschei-
nungen, weder an den Gliedmaassen noch an der Zuuge. Etwas Aehnlichcs ist mir wiederholt vorgekommen. Es zeigte sich
aber bei diesem Kranken noch ein anderes merkwiirdiges Verhalten, dergleichen ich noch nicht beobachtet hatte. Der Sohn theilte mir namlich weiterhin mit, dass sein Vater nicht mehr zu lesen im Stande ware, obwohl das Sehvermogen nicht beeintrachtigt war. Ich legte dem Manne ein grossgedrucktes Buch vor; er unterschied darin ganz gut die Buchstaben, und buchstabirte z. B. das Wort h i n z u, er vermochte aber nicht, diese Buchstaben zu einem Worte zu combiniren. Die Perception der Buchstaben durch die Zellen der Corpora
quadrigemina erfolgte also ungeschmalert, es war aber das Vermogen verloren gegangen, diese Zeichen zu verarbeiten, sie zu einer Vor- stellung, zu einem Worte zu verbinden. Dieser Process scheint eben in der Gehirnrinde vor sich zu gehen. Der Mann hatte auch die Fahigkeit des Schreibens verloren, so
dass er seinen Namen nicht mehr aufzeichnen konnte. In seinen Fingern war keine Spur von Lahmung zu bemerken, und gleichwohl brachte er Figuren aufs Papier, die einem umgekehrten Buchstaben glichen, oder fast ganz unkenntlich waren. Er hatte mithin nicht bloss die Fahigkeit verloren, Zeichen oder Buchstaben zu combiniren, sondern auch die deutliche Vorstellung oder Riickerinnerung dieser Zeichen war ihm abhanden gekommen, und darauf beruhte wohl seine Schreibunfahigkeit. Denn wenn diese Vorstellungen in der Rinden- schicht fehlten, so konnte der Mann nicht mehr dergestalt durch seinen Willen auf die Corpora striata einwirken und seine Bewegungen der- gestalt beherrschen, dass die Buchstaben oder Worter richtig aufs Papier gebracht vurden. In diesem Falle ist der Zusammenhang zwischen der Rindenschicht und den Corpora striata, den Organen der willkurlichen Bewegung, durch die verbindenden Hirnfasern ersichtlich. So ist in der Phantasie des Malers eine deutliche Vorstellung
des von ihm Gemalten vorhanden. Diese Vorstellung entsteht ihm nicht in den Corpora striata, sondern in der Rindenschicht, wo die Eindriicke sich zu einem Bilde zu vereinigen scheinen, oder wohin sich die Eindriicke wenigstens fortpflanzen, die sein Wille repro- duciren und auch aufs Papier bringen kann. Das Auffallendste bei meinem Kaufmanne war aber, dass derselbe
nach Versicherung des Sohnes sein Handelsbuch noch fiihren und nach wie vor rechnen konnte. Leider vergass ich, mir durch |
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28 Zellen der Riridensubstanz.
eigene Versuche iiber diesen Punkt Gewissheit zu verschaffen. Es
konnte dies daran erinnern, dass es sogenannte hervorragende Talente giebt, z. B. ausgezeichnete Rechner, die aber von andern Diugen nieht viel oder sogar sehr wenig verstehen. Bestimmter aber fiihrt es darauf, dass vorschiedene Theile der Rindenschicht auch mit verschiedenen Functionen betraut sind, wofiir weiterhin noch andere Beweise beigebracbt werden sollen. Ganz ahnliche Beobachtungen finden sich in einer interessanten
Abhandlung des Dr. Marce (Memoire sur quelques observations de physiologic pathologique, tendant a demontrer I 'existence d'un principe coordinateur de Vecriture et de ses rapports avec le principe coordinateur de la parole. Extrait de la Gaz. mid. de Paris, 1856). Marce fiihrt darin 12 Falle auf, die er theilsselbstbeobachtet, theils gesammelt hat. Ein Mann hatte die Sprache verloren, konnte aber noch schreiben.
Sollte er das vorgesprochene Wort tambour nachsagen, so sprach er frontage, er schrieb aber das Wort ganz richtig. Die Worter feuille medicate schrieb er ganz richtig ab, als er sie aber aussprechen sollte, sagte er fcquicale, fenicale, fcdicale. In drei von den zusammengestellten Fallen war auch die Fahig-
keit zu schreiben verloren gegangen. Bei einem dieser drei Falle fehlte das Wortgedachtniss. Man gab dein Kranken ein Taschentuch und er wusste nicht den Namen dafiir, wahrend er hinschrieb, er habe das Wort vergessen. Das Wort Taschentuch schrieb er richtig ab; er brachte aucb ein Taschentuch zum Vorschein, als der Name genannt wurde, und er konnte es auch schreiben. Allein nach ein Paar Minuten hatte er wieder den Namen vergessen, und er konnte ihn auch nicht mehr schreiben. Die eilfte Beobachtung stimmt darin mit der meinigen, dass der
Kranke die einzelnen Buchstaben fur sich ganz gut unterschied, aber nicht mehr im Stande war, sie zu einem Worte zusammenzustellen. Er schrieb ein Wort ganz richtig ab, konnte es aber nicht schreiben, wenn es ihm dictirt wurde. Auch dieser Kranke konnte dabei, gleich meinem Handelsmanne, recht gut Zahlen schreiben. Der Kranke der siebenten Beobachtung wurde hergestellt. Als er
seinen Namen noch nicht aus dem Gedachtniss aufschreiben konnte, schrieb er nicht nur Zahlen, sondern er loste auch complicirtere arith- metische Aufgaben und setzte die Zahlen iiberall an die richtige Stelle. Spater erst ting er auch an, Worter zu schreiben. Auch in der sechsten und achten Beobachtung konnten die
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Zellen der Rindensubstanz. 29
Kranken keine Buchstaben schreiben und brachten nur unverstand-
liche Charactere aufs Papier. Die verschiedenen geistigen Thatigkeiten gingen also nicht immer
gleichzeitig verloren: einzelnenKranken fehlte die Wortfiigung, andere konnten nicht aus dem Gedachtniss Buchstaben formen, und dabei war bei Einigen das Zahlengedachtniss vollkommen erhalten. Das verstan- dige Denken war bei Allen ungestort. So muss man wohl mit Marce annehmen, dass diese geistigen Thatigkeiten nicht an der namlichen Stelle des Gehirns in Wirksamkeit kommen. Daraus erklart es sich dann auch wohl, warum manche Personen, z. B. ich selbst, ein weit besseres Zahlen- als Namengedachtniss haben. Die Zellen in der Rindenschicht durfen wir also als die Apparate
fur das Gedachtniss und fur die Phantasie ansehen. Damit steht es im Einklange, dass bei Gehirnkrankheiten, namentlich wenn die Rinden- schicht leidet, das Gedachtniss so leicht verloren geht, und ebenso im hoheren Alter, wenn die Zellen nicht mehr so reizbar sind und zum Theil atrophieren oder sich doch wenigstens veriindern. Denn in der Medulla spinalis und Medulla oblongata wenigstens sind die Zellen im hoheren Alter dunkler gefarbt und pigmentreicher. Wenn sie dann auf stattfin- dende Einwirkung nicht mehr antworten und die verlangte Vorstellung des Bildes uns nicht mehr verschaffen, dann fehlt uns die Erinnerung. Eine merkwiirdige Beobachtung der Art machte ich bei einem
Manne, der durch eine von einem Falle ausgegangene Hirnerschiitterung das Gedachtniss fur die meisten Worter und Sachen verloren hatte. Er kam in die Utrechter Anstalt, und konnte weder seinen Namen, noch sein Alter, noch seinen Geburtsort angeben; auch konnte er beim Sprechen oftmals die "Worter nicht finden. Als er eine Katze zu Ge- sicht bekam, war er sehr verwundert liber das merkwiirdige Thier, dergleichen er noch nicht gesehen hatte, und er fing an die Katze mit einem Stocke auf den Sand zu zeichnen. Bald darauf begegnete ihm das Namliche mit einem bliihenden Kastanienbaume. Die Schon- heit der Bliithen, die er noch nie zuvor gesehn haben wollte, fand er so auffallend, dass er auf den Baum stieg, sich einen Bluthenzweig pfliickte und diesen mit Bleistift abzuzeichnen begann. Er wunderte sich dariiber, dass ihm dies so gut gelang, da er der Meinung war, er habe niemals Zeichnen gelernt, und er glaubte deshalb, alle Menschen waxen geborene Zeichner. Er wollte nun alle Kranke, mit dencn er inBeriihrung kam, zeichnen lassen, da sie dies ja nach seiner Meinung gleich gut mussten ausfiihren konnen. Da seine Schuler zum Theil |
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30 Zellen tier Rindensubstanz.
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unwillig und ungelolirig waren, so gab er sich grosse Miihe, sie davon
zu iiberzeugen, dass sie, falls sie nuv wollten, gleich gut wie er selbst zeichnen konnten. Nach einiger Zeit fing sein Gedachtniss an sicli zu bessern, unci mehrfache Erinnerungen aus seinem friiheren Leben kehrten ibm zuriick. Er erzahlte meisteris beiin Krankenbesuche, was er in der vorhergehenden Nacht getraumt hatte', und er erkannte des Morgens in diesen Triiumen Theile seiner friiheren Lebensgeschichte. Es wurden ilim die Namen mehrerer Dorfer Frieslands genannt, aus welcher Provinz er gebiirtig war, darunter auch der Name seines Geburtsdorfes. Er erkannte darin zwar seinen friiheren Wohnort noch nicht, aber der Name machte doch einen besondern Eindruck auf ihn: es war ilnn ein recht hiibscher und merkwiirdiger Name, ohne zu wissen warum. In der nachsten Nacht kam ihm im Traume das Bild seines Dorfes zuriick, und nun erzahlte er, dass er in diesem Dorfe gewohnt hatte. Es war ihm, als ware etwas aus seinem Gehirne weggeschoben", und er wurde wiederum in Stand gesetzt, sich neue Sachen vorzustellen. Dies wiederholte sich zumal in seinen Traumen mit mehreren Dingen, und es hatte den Anschein, als ob durch den wahrend des Schlafs ver- mehrten Blutandrang und durch die bessere Ernahrung die Zellen zu ihrer Wirksamkeit zuriickkehrten. Nach ein Paar Wochen war er ganz hergestellt, ohne dass eine Spur des Gehirnleidens oder des Ge- dachtnissmangels zuriick blieb, und er verweilte noch langere Zeit im dienenden Verhiiltniss in der Anstalt. Wir sehen also, dass in diesem Falle die Wirksamkeit jener Organe, worin sich unsere Vorstellungen und Bilder reproduciren, durch die Gehirnerschutterung gehemmt worden war: mit ihrer Wiederherstellung kehrte das Gedachtniss zuriick. Die Hemmung der Wirksamkeit dieser Zellen scheint iibrigens
leicht einzutreten. Selbst im ruhigen traumlosen Schlaf scheint dies der Fall zu sein, und der Ausfall ihres Wirkens und aller Vorstellun- gen scheint mit dem Fehlen des Bewusstseins in genauem Zusammen- hange zu stehen. Wir konnen diese Zellen, durch welche uns Bilder reproducirt
werden, als Vorstellungszellen bezeichnen. Es fehlt nicht an Bei- spielen, dass ihre Wirkung merkwiirdiger Weise in mehr oder weniger starkem Maasse gehemmt wurde. Eine junge Dame erlitt beim Durch- gehen eines Pferdes einen heftigen Stoss mit dem Kopfe gegen einen in der Niihe befindlichen Baum und wurde dadurch bewusstlos. Sie kam zwar wieder zu sich, behielt aber dann noclj drei Wochen hin- durch etwas Kindisches; dabei erkannte sie mich iibrigens ganz gut, |
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Zellen der Rindensubstanz. 31
und erinnerte sich aufs Bestc meines Besuclis am vorhergehenden
Tage. Eines Morgens erwachte sie nun wie aus einem Traume und war vollkommen bei sich, nur hatte sie alles vergessen, wasseitjenem Anschlagen an den Baum mit ihr vorgegangen war. Sie wusste, dass sie im Wagen gesessen hatte, dass das Pferd durchgegangen war, dass sie mit demKopfe angestossen war; die hierauf folgenden drei Wochen dagegen waren ganz aus ihrem Lehen gestrichen. Noch sonderharer sind die Falle, wo ein periodisches Nachlassen
oder Schwindeu des Gedachtnisses aufzutreten scheint. Vor mehreren Jahren wurde ich wegen eines zwanzigjahrigen Madchens consultht, die vor sieben Jahren eine langwierige Krankheit iiberstanden hatte, aus der endlich der nun bereits vier Jahre bestehende Zustand her- vorgegangen war. Am Morgen nach dem Erwachen stellte sich zu einer bestimmten Stunde eine Art Chorea ein, wobei sie mit den Handen tactmassig nach rechts und links schlug; das dauerte eine halbe Stunde, dann kam sie zwar zu sich, benahm sich aber ganz und gar wie ein Kind. Am folgenden Tage wiederholten sich die Zuckun- gen. Nach deren Beendigung aber verhielt sie sich wie ein recht gescheidtes Madchen; sie sprach gut Franzosisch und Deutsch und zeigte sich recht belesen. Dabei wusste sie aber nichts vom unmittel- bar vorhergegangenen Tage, sondern ihr Gedachtniss correspondirte nur mit dem zweitvorhergegangenen Tage oder mit dem sogenannten hellen Tage. Dies ging so weit, dass sie an dem lappischen oder kindischen Tage wieder Franzosisch zu lernen angefangen, aber nur massige Fortschritte gemacht hatte, wahrend sie doch am folgenden Tage ganz fliessend sprach. Ich hatte sie vierzehn Tage hindurch stets am sogenannten kindischen Tage besucht, wo sie mich allemal erkannte. Dann kam ich zum ersten Male an einem guten Tage zu ihr, und da war ich ihr ganz fremd; sie konnte sich nicht entsinnen, mich gesehen zu haben. Dieser Wechsel trat bereits seit vier Jahren ununterbrochen und mit solcher Regelmassigkeit ein, dass man die Uhr darnach hatte stellen konnen; denn dieStosse oder Schlage kehr- ten immer um die namliche Zeit wieder und wiederholten sich auch in der namlichen Anzahl. Sie wurde einmal von einem Tertianfieber befallen, dessen Paroxysmen keinen Einfluss auf die Krankheit ausserten. In Erwartung einer gunstigen Riickwirkung wollte man das Fieber nicht sogleich stopfen; es postponirte und fiel auf den bosen Tag. Da wusste das Madchen nicht, was ihr fehlte, und benahm sich so, als hatte sie nichts von dem Fieber gehort. Wiilu-eiid des Sommers zog |
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32 Zellen der Rindensubstanz.
sie mit den Eltern gewbhnlich auf ein Landhaus, und man wahlte den
schlimnien Tag zum Umzuge. Wenn sie dann am nachsten Tage er- wachte, war sie sehr erstaunt iiber die Wohnungsanderung und wusste nicht, wie sie an den jetzigen Ort gekommen War. In der Abhandlung iiber dunkle Gehirnkrankheiten von Forbes
Win slow (Edinbg. Review 1860) wird ein ahnlicher Fall mitgetheilt, nur dass hier eine vierwbchentliche Periode hervortrat. Diese Falle beweisen wobl zur Geniige, dass das Gedachtniss an
die Organisation gekniipft ist und an deren Krankheiten Theil nimmt. Nur konnen wir nocb nicht angeben, welche Veranderungen in den Zellen der Rindensubstanz vor sich gehen miissen, wenn bestimmte Erschei- nungen auftreten sollen. In den oben mitgetheilten Fallen von Gediichtnissmangel haben
die hoheren Geistesvermbgen keine Stbrung erlitten, und die Urtheils- kraft ist nicht geschwiicht, nur stiitzt sich das Urtheil oftmals auf falsche Priimissen. Giebt man die Pramissen zu, dann hat der daraus gezogene Schluss voile Berechtigung, und wir selbst wiirden nicht anders schlussfolgern, wenn wir mit jenen einverstanden waren. Die hoheren Geistesvermbgen sind also nicht an diese Zellen und
deren Wirkung gebunden, sie sind Aeusserungen der Seele selbst, und dadurch ist die logische Ordnung und Regelmassigkeit bedingt, gegeniiber den verwirrten organischen Vorstellungen. Bemerkenswerth ist es, dass nicht alle Sinnesorgane indemnamli-
chen genauenZusammenhange mit den hoheren Geistesvermbgen stehen. Den vornehmsten Sinn haben wir zuverliissig im Sehorgane, wodurch uns die Vorstellungen von Farbe und Form zugefuhrt werden; die durch dasselbe erhaltenen Eindriicke werden auch zumeist reproducirt, und wir reden von Denkbildern. Auch steht der Gesichtsnerv in anatomischem Zusammenhange mit den gesammten Hemispharen, vorn namlich durch die Commissura mollis, seitlich durch den um den Grosshirnschenkel sich herumschlagenden Tractus opticus, hinten durch die vonGratiolet entdeckten Ausstrahlungen; die Fasern der vordern Vierhugel aber strahlen liings der Thalami nach der Lamina perforata antica aus, und verbreiten sich von hier durch Foville's Ourlet weiter in die grossen Hemispharen. Eine so vielfache Verbindung des Nerven mit dem grossen Gehirne findet sich bei keinem andern Sinnesorgane. Wir sprechen aber auch nicht von Denkkliingen und Denkge- schmacken, sondern nur von Vorstellungen und Denkbildern. Sicherlich steht auch der Gehbrnerv mit dem grossen Gehirne in |
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Zellen der Rindensubstanz. 33
genauer Verbindung, und namentlieh wohl mit dem obern und hintern
Theile der Hemispharen. Deshalb wirkt aber der Gehornerv mehr auf das Gefiihl und das Gemiitb, denen diese Gehirntheile, wie ich spater ausfuhren werde, im Besonderen dienen, wahrend das Gesicht mit dem Verstande in engerer Beziehung steht. Wie die Gesichtsvorstellungen, so werden auch die Gehbrsvor-
stellungen in der Rindenschicht reproducirt. Der Componist schreibt sein Musikstiick fiir das voile Orchester, ohne ein Instrument zu Hiilfe zu nehmen, und in seiner Einbildung hort er das ganze Concert in solcher Weise, dass er den Wohllaut und die Harmonie des Ganzen zu em- pfinden und auf die regelmassigste und beste Weise die den verschie- densten Instrumenten gleichzeitig entstammenden Tone zu combiniren im Stande ist. Bekanntlich konnte der grosse Beethoven wegen Taubheit seine eigenen Compositionen nicht horen. Als ihn einstmals nach Vollendung einer Composition ein Freund besuchte, dem er sein neues ihn selbst erfreuendes Werk vorfuhren wollte, setzte er sich ans Pianoforte und spielte; der Freund aber horte nur verwirrteTone, weil der taube Beethoven nicht wusste, dass an dem schon an und fiir sich verstimmten Instrumente auch noch viele Saiten gesprungen waren, so dass er nur Misstone hervorbringen konnte. Pathologische Veranderungen und Reizungen der Zellen in der
Gehirnrinde, welche mit dem Gehornerven in Verbindung stehen, haben die bisweilen auftretenden Gehorshallucinationen zur Folge. Wir sind iibrigens noch weit davon entfernt, in der Gehirnrinde
die Stellen zu kennen, wo die Vorstellungs- oder Erinuerungszellen jedes einzelnen Sinnesorganes gelegen sind. §.8.
Verschiedene Krafte in verschiedenen Hemispharentheilen. Dass nicht alien Partieen der Gehirnwindungen ganz gleiche
Functionen zugewiesen sind, ist schon langst vermuthet worden. Dass ferner eine schon gewolbte Stirn in der Regel auf hohere Geistes- gaben hindeutet, war bereits den Griechen nicht unbekannt, wie wir aus ihren Darstellungen eines Zeus, Apollo u. s. w. entnehmen kon- nen. Die stark vorragende Stirn als Vorzug des Menschen fiel indessen bestimmter in die Augen, als Camper den nach ihm benannten Ge- sichtswinkel aufstellte, und dessen Verschiedenheiten bei Azteken, Schroeder v. d. Kolk, Geisteskrankheiten. 3
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34 Functionen verschiedener Heraispharentheile.
Negern und Europaern, desgleichen bei Kindern und bei Erwachsenen
hervorhob. Gall verfuhr zwar hochst willkiirlich in der Localisirung seiner
Organe, doch verlegte er wenigstens die wichtigsten Organe der hohe- ren Geistesvermogen hinter die Stirn. Car us (Grundzuge einer Cranioscopie, Stuttgart 1841. Ueber ivissen-
schaftliche Cranioscopie in Muller's Archiv, 1843, S. 149) unterscbied drei Abtheilungen des Gehirns, die den drei Schadelwirbeln entsprachen, und die sich bei alien Wirbelthieren wiederfinden sollten. Die vorderste Abtheilung oder die Hemispharen, die im Wesentlichen unter dem Stirnbeine liegen, ist ibrn wesentlich Sitz des Verstandes, namlich des Vorstellens, des Erkennens und derEinbildungskraft; in der mittleren Abtheilung unter den Scheitelbeinen, wozu audi die Vierhugel gebo- ren, hat vorziiglich das Gefiihl und das Gernuth seinen Sitz; an die hintere Abtheilung im Hinterhauptwirbel ist der Wille, das Begehrungs- vermogen, die Reproduction der Gattung gekniipft. Zwar kann ich nicht ganz mitCarus iibereinstimmen; seinen Angaben iiber diebeiden ersten Abtheilungen sind aber spater manche Bestatigungen zu Theil geworden, und meine weiterhin mitzutheilenden Beobachtungen stehen auch damit im Einklange. Car us macht geltend, dass die vordere Abtheilung des Gehirns, die regio intellectus, um so besser entwickelt ist, und zwar beim Menschen sowohl wie bei Thieren, je mehr die Ver- standeskriifte hervortreten: er fand die Stirn bei vielen Gelehrten und ausgezeichneten Mannern, wie Kant, Ehrenberg, Purkinje, Re- tzius, Raumer, Thorwaldsen, Schiller, G6the sowohl hoher als auch breiter. Er hebt ferner hervor, dass beim Weibe der mittlere Schadelabschnitt verhaltnissmassig mehr entwickelt ist als der vordere, wahrend es sich beim Manne umgekehrt verhalt; er stiitzt sich dabei auf Hamilton, der den vorderen Abschnitt des miinnlichen Gehirns grosser fand, und beruft sich auch auf die geringe Entwickelung der Stirn bei Negern und uucultivirten Volkern. Bestimmtere Messungen iiber die geschlechtlichen Differenzen der
Hemispharenoberflache verdanken wir Huschke (ScMdel, Him und Seele, Jena 1854). An normalen Gehirnen erhielt er fur den Abstand des oberen Endes der Centralfurche vom vorderen und vom hinteren Ende des Gehirns beim Weibe 59 und 130 Millimeter = 31,3 : 68,7
beim Manne 88 und 113 Millimeter == 43,9 : 56,1. Er fand ferner, wenn das Gehirn vor dem Balken vertikal durch-
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Functionen verschiedener Hemispharentheile. 35
schnitten wurde, dass der vordere Abschnitt beim Manne, der hintere
beim Weibe verhaltnissmassig mehr entwickelt ist. Die Oberflache des mannlichen Stirnbeins betrug im Mittel (fiir 32 Schadel) 15000 Quadratmillimeter, jene des weiblichen Stirnbeins nur 13000 Quadrat- millimeter. Da iibrigens der weibliche Schadel absolut kleiner ist, so verglich er das Areal des Stirnbeins mit jenem des ubrigen Schadel- daches, soweit die Hemispharen dadurch bedeckt werden, und diese beiden Werthe stellten sich im Mittel fiir 14 Weiberschadel = 26,5 : 73,5 Proc, im Mittel fiir 16 Mannerschadel = 28,3 : 71,7 Proc. Ferner macht sich nach Huschke's Messungen bei den hoher ste- henden Menschenrassen entschiedener ein Unterschied der Schadel- capacitat beim mannlichen und weiblichen Geschlechte geltend, als bei den niedrigerenRassen: es tritt dieser Unterschied beim Europaer in starkerem Maasse hervor als beim Neger. Desgleichen zeigt auch die germanische Rasse eine starkere Entwickelung des Stirnbeins im Verhaltniss zum ubrigen Schadeldache im Vergleich mit niedrigeren Rassen, deren Geistesentwickelung zuriicksteht. Auch stellte sich bei Huschke's Messungen das merkwiirdige Resultat heraus, dass die Sch'adelknochen bis zum vierten Jahre die doppelte Grosse erreicht haben, das Stirnbein aber dariiber hinaus wachst und beim Erwachse- nen manchmal die dreifache Grosse erreicht. Retzius {Beurtheilung der Phrenologie vom Standpunlde der Ana-
tomie in Milller's Archiv, 1848, S. 243) verglich die Entwickelung des menschlichen Gehirns mit der Entwickelung dieses Organes in der Thierreihe, fand, dass der hintere Gehirnlappen beim Embryo sich am -spatesten entwickelt und eigentlich dem Menschen allein zukommt, und kam dadurch zu dem Schlusse, dass die vorderen Gehirnlappen am niedrigsten, die hinteren Gehirnlappen am hochsten zu stellen seien. Wenn wir indessen aus anderen Griinden annehmen miissen, dass der obere und hintere Theil der Hemispharen mehr fiir das Gefiihls- und Gemiithsleben bestimmt ist, worin doch der Mensch, im Vergleich mit den Thieren, selbst noch hoher steht, als in seiner Ver- standesentwickelung, so steht jene Thatsache nicht in Widerspruch mit unserer Annahme, dass der vordere, unter demStirnbeine gelegene Abschnitt der Hemispharen mehr fiir das Verstandesleben bestimmt ist, der obere und hintere Abschnitt der Hemispharen eher im Dienste des Gefiihlslebens steht. Mein verehrter Freund R. Wagner (Gottinger gelehrte Ans. 1860,
Februar und Mai, und TJeber die typischen Verschiedenheiten der Win- 3*
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36 Functionen verschiedener Hemispharentheile.
dungen der Hemispharen und iiber die Lehre vom Himgetvicht u. s. tv.,
Gottingen 1860) hat uns mit Tabellen des Hirngewichts von Per- sonen ungleicher Intelligenzgrade und beiderlei Geschlechts beschenkt. Obenan stehen durch Maxima des Hirngewichts beriihmte Manner; doch steht auch ein funfzehnjahriger Knabe sehr hoch oben iiber meh- reren Gelehrten, und auch Frauen kommen iiber die letzteren zu stehen. Wagner zieht deshalb aus jenen Wagungen den Schluss, dass das ^ittlere Hirngewicht bei sehr intelligenten und bei weniger intelligenten Individuen nicht differirt. Diesem Resultate von Wagner kann ich wohl beistimmen, nur
scheint mir der zur Vergleichung angelegte Maassstab kein richtiger zu sein. Es kommt bei den Wagungen die Verschiedenartigkeit der Todesursachen mit inBetracht. Bei einem an Typhus Verstorbenen ist sicherlich in Folge der Congestion viel Transsudat im Gehirne, wo- durch dessen Gewicht erhoht wird. Da ferner, wie Huschke nach- gewiesen hat, bei Mannern die Stirnlappen, bei Weibern die Hinter- lappen grosser sind, so kann ungeachtet der Ungleichheit bestimmter Gehirntheile das Gesammtgewicht des Gehirns bei zwei Individuen gleich sein, oder das weibliche Gehirn kann selbst noch schwerer wiegen. Wagner wiirde wohl zu besseren Resultaten gelangt sein, wenn er den von Huschke eingeschlagenen Weg weiter verfolgt hatte. Dass die vorderen Gehirnlappen der Gelehrten am windungs-
reichsten waren, steht mit meinen Beobachtungen und mit meiner Anschauung imEinklange. Auffallender Weise fand Wagner an denGe- hirnen zweier recht intelligenter Individuen doch nur wenige Windungen. Leider ist aber dabei nicht angegeben, ob deren vordere Lappen doch nicht vielleicht mehr entwickelt waren. Eine Vergleichung des Gewichts des grossen Gehirns mit dem
Cerebellum, dessen Function uns doch noch ziemlich verschlossen ist, wurde wie von Anderen, so auch von Wagner unternommen. Ein besonderes Resultat stellte sich dabei nicht heraus, ausgenommen dieses, dass bei Weibern das grosse Gehirn relativ zum kleinen ein grosseres Gewicht hat. Gegenwartig kommen die meisten Autoren in der Ansicht zu-
sammen, dass in der vorderen Abtheilung des grossen Gehirns der Sitz der hoheren Geistesvermogen angenommen werden muss. Der Beweise dafur sind so viele, dass ich diesen Satz als einen der zuver- lassigsten in der Physiologie des Gehirns ansehe. Es. ist eine bekannte Sache, die wir bei Idioten bestatigt sehen,
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Functionen verschiedener Hemispharentheile. 37
dass mit einer nicht gewolbten Stirn Schwache der Geisteskrafte ver-
bunden zu sein pflegt. Man stosst zwar auch auf Cretins und Idioten mit grossen Kopfen; dann aber liegt meistens Wasseransammlung zu Grunde. Bei gesunder intellectueller Thatigkeit sind Schadelformen ausgeschlossen, wo die Stirn stark nach hinten geneigt ist, so dass die vorderen Gehirnlappen nur klein sein konnen*). Die Gehirnformen der Thiere liefern auch Bestatigungen. Dahin
zahlt die starkere Entwickelung der vorderen Gehirnlappen beim Orang-Utang, der in dieser Beziehung dem Menschen zunachst steht, aber auch die starkste intellectuelle Entwickelung unter den Thieren wahrnehmen lasst. Es war mir vergonnt, das Gehirn eines beriihmten Mathematikers
und Physikers, der sich durch hervorragende Intelligenz und durch Scharfsinn auszeichnete, zu untersuchen, und ich war verwundert iiber die Menge von Windungen an diesem Gehirne, die allerdings an und fiir sich nicht gross waren. Die namliche Formation sah ich spater bei R. Wagner in Gottingen am Gehirne des beriihmten Gauss, und Aehnliches fand ich dort auch an Gehirnen anderer ausgezeichneter Gelehrten. Gerade das Umgekehrte finde ich am Gehirne eines Idioten in
meiner Sammlung. Alle Windungen an den vorderen Gehirnlappen bis zur vordern Centralwindung sind nur wenig entwickelt und in ge- ringer Anzahl vorhanden, wahrend die hinter jener Centralwindung gelegenen Gyri gross und sonst normal sind. Die iiberzeugendsten Beweise finde ich aber in pathologischen
Verhaltnissen. Als Resultat meiner vieljahrigen und genauen Unter- suchungen, wovon ich weiterhin noch Manches beibringen werde, kann ich es aussprechen, dass bei eigentlicher Verstandesverwirrung auch allemal die Rindenschicht unter dem Stirnbeine dunkler gefarbt er- schien, fester mit der pia mater zusammenhing oder erweicht war. Bei Melancholie dagegen, wo angstliche Aufregung, ein Gefiihl von Hitze und Beklemmung auftreten, und wo mehr das Gemiith als der Verstand leidet, findet man eher pathologischeVerandei-ungen an den Windungen der oberen und hinteren Lappen. |
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*) Selbstveratandlich kann bei den kiinstlich zu Stande gebrachten Schadel-
formen der sogenannten Flachkbpfe in Amerika nicht von einem Defecte die Rede sein, sondern nur von einer Verschiebung; sie konnen demnach nicht als Gegenbeweis hingestellt werden. |
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38 Functionen verschiedener Hemispharentheile.
So kommen wir denn zu dem Schlusse, dass die Zellen in der
Rindenschicht der oberen und hinteren Lappen anders wirken als jene in der Rindenschicht der vorderen Lappen: jene bringen Gemuths- stimmungen zu Stande. Ob es vielleicht noch verschiedene Classen oder Abtheilungen dieser Zellen giebt, das lasst sich bis jetzt noch nicht entscheiden. Vergleicht man nun die Abbildungen der Rindenschicht im Vorder-
hirne und Oberhirne bei Berlin (Beitrage zur Structurlehre der Gross- himwindungen, 1858) und Stephany (Beitrage zurHistologie derHirn- rinde) mit der Structur des Cornu Ammonis, worin wir doch nur eine Windung des unteren Hirnlappens anzunehmen haben, bei Kupffer (Be cornu Ammonis textura. Dorpati 1860), so gewahrt man eine solche Verschiedenheit in der Anordnung der Rindensubstanz, dass man schon allein hieraus auf eine verschiedenartige Thatigkeit schliessen muss. Dafiir liefern auch pathologische Beobachtungen bestatigende Beweise. Auch bei Thieren zeigt sich eine verschiedene Textur der grauen
Substanz im vorderen und hinteren Gehirnlappen, wie ich beim Hunde und beim Kaninchen gefunden habe. Beim Kaninchen sieht man im vorderen Lappen Faserbundel mit zwischengelagerten Zellen, die meist tripolar sind; im hinteren Lappen, da wo sich die Wurzel des Riech- nerven herumschlagt, zeigt sich eine Textur, die mit jener des mensch- lichen Cornu Ammonis iibereinstimmt, namlich eine regelmassige Reihe gestielter Zellen, die wie Orgelpfeifen dicht an einander stehen. Im vorderen Lappen messen die Zellen 0,166 bis 0,168mm, die Kerne aber 0,102mm; im hinteren Lappen giebt es einzelne grossere Zellen von 0,216mm mit Kernen von 0,140 bis 0,152mm, die Stabchenzellen aber sind kleiner und haben nur 0,126 bis 0,140mm Durchmesser. §.9.
Vivisection en. Meine im vorigen Paragraphen niedergelegten Untersuchungs-
ergebnisse linden in den Vivisectionen eine Bestatigung. Ich will nicht in eine ausfiihrlichere Darstellung dessen eingehen, was die ver- schiedenen Autoren aus ihren Vivisectionen gefolgert haben, beschranke mich vielmehr auf dasjenige, was Schiff (Lehrbuch der Physiologie, 1. Theil) als Resultate seiner Untersuchungen mittheilt, obwohl ich nicht alien seinen Folgerungen beitreten kann. |
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Ergebnisse der Vivisectionen. 39
Durch Wegnahme des grossen Gehirns verfallen Thiere nach dem
einstimmigen Zeugnisse aller Autoren in einen schlafsiichtigen oder lieber passiven Zustand. Sie bemerken noch empfangene Eindriicke, es fehlt aber das eigentlich active Auswirken oder die Verarbeitung derselben. Die Pupille verengt sich bei Lichteinwirkung, und bei hel- lerem Lichte schliessen die Thiere auch die Augen, ja in einzelnen Fallen folgte dem Hin- und Herbewegen einer Flamme selbst ein Be- wegen des Kopfes. Auch das Schmecken ist nicht ganz aufgehoben, denn wenn Koloquintensolution an die Zunge gebracht wird, so bewe- gen die Thiere dieselbe, sie verziehen die Lippen, sie offnen und schlies- sen den Schnabel. Ueber das Riechen liisst sich zwar nichts ermit- teln; doch zeigt sich die Nasenschleimhaut noch empfindlich gegen Ammoniakdiinste. Das Gehbr anlangend, so machen zwar plotzliche Detonationen keinen Eindruck auf die Thiere, ebenso wenig das Ge- schrei der Raubvbgel, wodurch sie fruher so sehr in Schrecken ver- setzt wurden, und selbst ein Anlegen und Aufrichten der Ohren findet nicht mehr Statt. Das riihrt jedoch nach Schiff davon her, dass alle (lurch Gchorsemptindung hervorgerufenen Reflexe mehr oder weniger durch andere Vorstellungen, durch ein sogenanntes Urtheil bestimmt werden. Denn dass die Thiere noch horen, glaubt Schiff deshalb an- nehmen zu diirfen, weil die Operation den Gehbrnerven gar nicht beeintrachtigt, und die Thiere ja doch noch sehen, obwohl der Seh- nerv weit leichter bei der Operation zu Schaden kommt. Mancherlei spricht auf bestimmte Weise fur das Vorhandensein des Hautgefiihls. So putzen Vogel ihre Federn, wenn sie durch Ungeziefer geplagt wer- den. Man vermisst aber die ausseren Zeichen grosser Unlust und peinlicher Schmerzen, sobald man nur das Schreien der Thiere und die Reflexbewegungen nicht damit verwechselt. Die Eindriicke werden passiv aufgenommen, ohne bleibende Vorstellungen oder Erinnerungen zu veranlassen, und ohne die Reflexion oder das Urtheil zu beein- flussen. Aus alle dem erhellet zur Geniige, dass der eigentliche Sitz der
Perception nicht in den Grosshirnhemispharen zu suchen ist, sondern in Theilen an der Gehirnbasis, wo die Nervencentren befindlich sind. Ueber das Ausschneiden der Grosshirnhemispharen theilt Schiff
auch noch Folgendes mit. Ein Murmelthier, eine Katze suchen zu entweichen, wenn man ihnen Koloquinten auf die Zunge gebracht hat, und sie wehren sich dagegen, wenn man den Versuch wiederholen will. Nach Ausschneidung der Hemispharen jedoch suchen sie nicht mehr |
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40 Ergebnisse der Vivisectionen.
zu entweichen, und einer Wiederholung des Versuchs setzen sie kei-
nen grbssern Widerstand entgegen. Schiff will dies aus der gehin- derten Reflexbewegung erklaren. Der eigentliche Grund dieses ver- schiedenartigen Verhaltens ist indesseii einfach darin zu suchen, dass dem Thiere das Gedachtniss abhanden gekommen ist. Wir sehen dar- aus, dass die Eindriicke auf die eigentlichen Perceptionszellen, d. h. auf die Centra der sensuellen Nerven, keine bleibenden sind, weil j a sonst auch eine Verwirrung unter den auf einander folgenden Eindrucken oder ein Verscbmelzen der Eindriicke entstehen miisste. Es iiber- dauern jene Eindriicke nicht die Erregung, welche von den Sinnes- organen her die Perceptionszellen trifft. In jenen Zellen des Gross- hirns dagegen, wo die Eindriicke zu Vorstellungen und Bildern com- binirt werden, sind die Eindriicke verharrend und konnen auch leicht wieder hervorgerufen werden, das heisst also, diese Zellen sind die materielle Basis des Gediichtnisses. Die der grossen Hemispharen beraubten Thiere sehen audi noch,
wie man aus ihren Bewegungen bei starkerer Erhellung entnehmen kann; nichtsdestoweniger stossen sie aber, wie blinde Thiere, wieder- holt gegen mechanische Hindernisse an, ohne dass sie diesen auswei- chen konnen. Den Eindruck vergessend, sind sie nicht mehr im Stande, ihre Korperbewegungen nach bestimmten Vorstellungen zu modifici- ren; die Fahigkeit, das Hinderniss zu erkennen, und die nothige Com- bination, um dasselbe zu vermeiden, ist ihnen mit dem Vorstellungs- vermogen benommen. Sie nehmen passiv wahr, ohne zu reagiren; sie verstehen und begreifen nichts mehr. So kann sich ein Thier mit Futterstoffen im Munde oder Schnabel todt hungern, weil es nicht schluckt, bis die Speise in den Baches kommt, wo dann der unwill- kiirliche Reflex die Schluckbewegung hervorruft. Werden die Hemispharen schichtenweise abgetragen, so werden
die durch die Sinneseindrucke hervorgerufenen Bewegungen dem Grade nach immer schwacher, je tiefer der Schnitt kommt und je mehr Ge- hirnmasse weggenommen wird. Aber schon bei Flourens (Recherches experimentales etc., Par. 1824, p. 98) findet sich die richtige Bemer- kung, dass diese Abnahme nicht von einem einzelnen Sinnesorgane ausgeht, vielmehr alle Sinnesorgane in gleichem Grade eine Abstum- pfung erleiden, oder mit anderen Worten, die Thatigkeit in den hohe- ren Organen oder der Vorstellungskreis schwindet. Der Blutverlust bei der Operation und die gestb'rte Circulation
konnen zuerst auch die noch unverletzten Theile beeintrachtigen. |
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Ergebnisse dcr Vivisectionen. 41
1st der operative Eingriff kein zu intensiver gewesen, dann kbnnen die
sensuellen Functionen allmalig immer mehr zuriickkehren. Bei Exstirpation nur Einer Hemisphere sah Schiff keine Veran-
derung oder Schwachung der thierischen Bewegungen eintreten. Wurde die Operation mit Vorsicht ausgefiihrt, so benahmen sich die Thiere gleich anderen Thieren, die einen starken Blutverlust erlitten haben. Wir diirfen aber hieraus schliessen, dass der "Willc noch seinen Ein- fluss iibt auf die Corpora striata, die ich weiter oben als den Sitz der motorischen Willensausserungen hingestellt habe, und dass auch das Gedachtniss nicht verloren gegangen ist. Auch sind ja Falle bekannt, wo bei Menschen die eine Hemisphere ganz zerstort angetroffen wurde, ohne dass die Verstandeskrafte verloren gegangen waren. Sehr merkwiirdig sind jene die Corpora striata betreffenden Ver-
suche. Schiff nimmt bei einem Kaninchen die Hemispharen weg, so dass die Corpora striata blossliegeu, und dann entfernt er audi die letzteren mit grosser Vorsicht, ohne sensible Fasern zu beriihren oder Schmerzen zu erregen. Das Tbier bleibt jetzt ganz ruhig sitzen, als wenn es gar nichts litte, und zeigt keinen Trieb fortzulaufen. Es sitzt aber in seiner bekannten Stellung da, zumBeweise, dass es sein Gleich- gewicht zu erhalten im Stande ist. Fasst man jetzt vorsichtig eine Hinterpfote und streckt sie, so lasst das Thier diese Gliedmaasse lie- gen und zieht sie nicht wieder vor. Streckt man jetzt auch die an- dere Hinterpfote nach hinten, so dass der Bauch des Thieres auf den Boden zu liegen kommt, so verharrt das Tbier in dieser Stellung, als ware es gelahmt. Man kann auch die Vorderpfoten nach der Seite verstellen, so dass das Thier mit dem Thorax aufliegt, und dabei ist es einerlei, ob die Pfoten eine symmetrische Stellung haben oder nicht. Jetzt kann man die Pfoten wieder in ihre natiirliche Stellung zuriick- bringen, und sie stiitzen neuerdings den Hinterleib. Ein Thier mit gelahmten Pfoten miisste aber jetzt umfallen. Das Kaninchen ist gleichsam kataleptisch geworden. Bringt man nun an der einen oder der andernStelle einen starkeren Druck an, dann erhebt sich das Thier plbtzlich, reckt Kopf und Ohren in die Hohe und fiihrt zuerst langsam regelmassige Spriinge aus. Es waren bei dem scheinbar erschopften Thiere gewiss nur schwachere Bewegungen zu erwarten; aber mit je- dem Sprunge scheint die Kraft zuzunehmen, die Bewegungen werden immer schneller, und ist nur Platz da, so stiirzt sich das Thier in blin- der Hast unauflialtsam vorwarts, bis es endlich auf ein Hinderniss stosst und plotzlich stehen bleibt. Statt aber die sitzende Stellung |
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42 Ergebnisse der Vivisectionen.
mit angezogenen Pfoten einzunehmen, bleibt es unbeweglich in jener
Haltung, in welche es durch den Anstoss versetzt wurde, namlich die Hinterpfote gestreckt oder halb gehoben und die Nase gegen das Hin- derniss gestenmit. Es ist wunderbar, welche grosse Strecken ein Thier mit stets zunehmender Geschwindigkeit durchmessen kann, falls es auf kein Hinderniss stosst. Ist es einmal im Springen, dann geht es so schnell, dass kein Mensch nachkommen kann. Eine Erklarung der merkwurdigen Erscheinung fallt nicht schwer.
Bei alien diesen Bewegungen ist der eigentliche Wille ausgeschlossen: sie erfolgen passiv wie bei einer ledernen Puppe, sobald der Bewe- gungsapparat nur einmal in Gang gekommen ist. Fangt das Thier einmal an zu springen, so vermag es nicht mehr durch Willenseinfluss die Bewegungen zum Stillstand zu bringen, sondern es verhalt sich wie ein ablaufendes Uhrwerk. Schiff wirft nun die wichtige, aber schwierige Frage auf, wo denn
jene Kraft sitzt oder wirkt? Wenn er andere, weiter nach hinten ge- legene Hirntheile wegnahm, dann traten die genannten Erseheinungen nicht hervor. Indessen bedarf es auch nicht unerliisslich hierzu einer Wegnahme der Corpora striata, denn das namlich e Resultat stellte sich auch heraus, wenn die Fasern durchschnitten wurden, welche vom vorderen und iiusseren Rande der Corpora striata aus radienformig in die Hemispharen ausstrahlen, das heisst also der sogenannte Strahlen- kranz, wodurch der Zusammenhang zwischen den Hemispharen und den Corpora striata vermittelt wird. Aus diesem Grunde will Schifi die Corpora striata als den Anfang der Hemispharen gelten lassen. Nach dieser Erklarung wurden die Corpora striata nicht Apparate
fur die Bewegung sein, und Schiff stellt auch geradezu die Behaup- tung auf, dass sie bei den Bewegungen nicht wirken. Soviel steht fest, dass, wenn nach ihrer Wegnahme noch so rasche Bewegungen zu Stande kommen konnen, das eigentliche Centrum motorium hinter den Corpora striata liegen muss, da wo die Hirnschenkel in die Thalami eintreten *). Ich war bis jetzt immer der Meinung, unser Wille wirke direct auf
die Corpora striata, und nicht bloss von den Hemispharen aus. Dieser *) R. Wagner (Gott. gel. Am. Febr. I860, S. 58) sucht das Centrum moto-
rium in der Substantia nigra der Hirnschenkel; indessen habe ich Bedenken gegen diese Annahme. Verletzungen des Corpus striatum haben doch bestimmt Lahmung zur Folge, und findet eine Erweichung der Substantia nigra Statt, dann leiden auch zugleich die von den Corpora striata kommenden Fasern. |
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Ergebnisse der Vivisectionen. 43
Annahme liegt hauptsachlich die Erwagung zu Grunde, dass, wie ich
selbst zu beobachten Gelegenhejt hatte, Tuberkeln, apoplektische Er- giisse und Zerstorungsprocesse zwischen den Corpora striata und der Rindenschicht nicht immer Lahmungen zur Folge haben, die dagegen bei Ergiissen in die Corpora striata niemals auszubleiben scheinen. Wie iibrigens der Wille auch von den Hemispharen aus auf die Cor- pora striata zu wirken vermag, habe ich schon weiter oben entwickelt und auf das Beispiel des Malers verwiesen, der ein in seiner Phanta- sie entworfenes Bild auf s Papier bringt. Ich habe mir dabei niemals verbergen konnen, dass es Schwierig-
keiten hat anzunehmen, unser Wille wirke gleichzeitig auf zwei ver- schiedenen Punkten, namlich in der Rindenschicht und in den Corpora striata. Ich darf aber wohl darauf hinweisen, dass die Wahrnehmung des Lichts sicherlich in den Corpora quadrigemina erfolgt, insofern die Wegnahme der Hemispharen kein vollstandiges Erblinden nach sich zu ziehen scheint, wahrend der Geschmack wenigstens durch jene Operation gewiss verloren geht. Unmoglich konnen wir annehmen, dass den Corpora striata, die
bei den Embryonen aller Wirbelthiere doch zuerst mit auftreten und nirgends fehlen, keine Function zugewiesen sei, wie es in dem Schiff- schen Satze ausgesprochen ist, welcher dahin lautet, es besassen diese Gehirntheile keine besonderen Eigenschaften und in physiologischer Beziehung diirften sie nicht von den Hemispharen getrennt werden. Wirkte der Wille von den Hemispharen aus auf die Corpora striata,
so ware es schwer begreiflich, warum die Wegnahme Einer Hemisphare nicht Lahmung der entgegengesetzten Korperseite zur Folge hat. Flourens (Becherches exper. p. 29) nahm nach dieser Operation bis- weilen eine Abschwachung wahr, die sich indessen bald wieder verlor. Schiff schreibt dies aber nur zufalligen Ursachen zu, die wahrend eines gewissen Zeitraums storend einwirken konnen; denn wenn bei Kaninchen, Hunden, Katzen, Murmelthieren die Exstirpation nur Einer Hemisphare mit Vorsicht ausgefuhrt wird, dann tritt nur eine derar- tige Schwache ein, wie sie allgemein nach Blutverlusten beobachtet wird, und sehr bald verliert sie sich wieder. Eine Taube, der beide Hemispharen exstirpirt worden sind, fliegt, wenn sie in die Luft ge- worfen wird, sie bewahrt im Laufen das Gleichgewicht, und wird sie auf den Riicken gelegt, so steht sie auf. Daraus ersieht man, dass der Wille nicht giinzlich verloren gegangen ist, sondern noch in den Corpora striata wirkt. |
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44 Ergebnisse der Vivisectionen.
Im Berichte der fur die Flour en s'schen Experimente ernannten
Commission wurde schon hervorgehoben, der ganzliche Verlust der Perception in Folge der Hemispharenexstirpation sei durch Flour ens noch keineswegs erwiesen, wenngleich jene sich nicht kund giebt und das Gedachtniss fehlt. Das bestatigen auch die Versuche, welche Longet (Traite de physiologie, 1850, T. 2, p. 240) in Betreff dieses Punktes unternahm. Derselbe brachte eine Taube mit exstirpirten Hemispharen ins Dunkle. Naherte er sich rasch mit einem hellen Lichte, dann contrahirte sich die Iris und selbst die Augenbffnung wurde kleiner, ja als er eine brennende Kerze im Kreise herum be- wegte, und zwar in solcher Entfernung vom Thiere, dass die Warme davon nicht einwirken konnte, so machte es mit dem Kopfe entspre- chende Drehbewegungen. Hatte das Thier die Augen geschlossen, wie es meistens der Fall war, und es wurde eine Pistole abgeschossen, dann offnete es die Augen, erhob den Kopf und streckte den Hals, worauf es neuerdings in Schlaf verfiel. Auch sah er, dass junge Ka- tzen, denen die Hemispharen weggenommen waren, nach Einbringen von Koloquinten Bewegungen mit den Kiefern und mit der Zunge vor- nahmen, gleich anderen Thieren, die einen widerlichen Geschmack von sich abwehren wollen. Die eben genannte Flourens'sche Commission bezeichnete auch
schon die Grosshirnhemispharen als das Receptaculum, worin die Per- ceptionen ihre Vollendung erreichen (consommes), wo die sinnlichen Empfindungen bestimmte Form annehmen, Eindriicke hinterlassen und damit das stoffliche Material fur das Urtheil liefern: eine Auffassung, die ganz mit der meinigen ubereinstimmt. Ich darf somit annehmen. dass die Vivisectionen vollkommen jene
Satze bestatigen, zu deren Aufstellung ich durch ganz andere Griinde gefiihrt worden bin: die Grosshirnhemispharen sind nicht die prima- ren Organe fur die Perceptionen, vielmehr werden in ihnen die sinn- lichen Eindriicke zu Vorstellungen und zu Bildern gesammelt. Damit stimmt es auch iiberein, dass nach belangreicher Zerstorung der Rin- denschicht durch Entziindung oder durch Atrophie die Erscheinungen der Stumpfheit und des Blodsinns auftreten, obne dass die Wahrneh- mung sinnlicher Eindriicke verloren geht, sofern nur nicht deren Cen- tra Schaden erlitten haben. |
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Kleines Gehirn. 45
§ 10
Das kleine Gehirn. Unter alien Gehirntheilen setzt meines Erachtens das kleine Ge-
hirn die grossten Schwierigkeiten entgegen, wenn es sich um Ermitte- lung der Functionen handelt. Flourens, Hertwig und Andere haben die Beobachtung ge-
macht, dass Verletzungen der Kleinhirnhemispharen oder gar Weg- nabme derselben den erheblichsten Einfluss auf die Korperbewegun- gen aussern, die zwar nicht unterdruckt sind, deren voile Beherrschung aber zu fehlen scheint. Man wies deshalb dem Cerebellum die Coor- dination der Bewegungen zu. Hiergegen spricht aber, dass ein Frosch, dem das grosse und kleine Gehirn weggenommen worden sind, noch springt und regelmassige Bewegungen vollbringt, wenn auf eine seiner Pfoten ein Reiz einwirkt. R. Wagner (Gott. gel. Ariz. 1860, Nr. 4, S. 36) kommt durch seine
Untersuchungen zu dem Schlusse, dass das kleine Gehirn ein rein mo- torischer Hirnapparat ist, welcher bei der Perception der Sinnesein- driicke, bei der Bildung der Vorstellungen gar nicht, bei den organi- schen Functionen ebenfalls nicht oder nur sehr entfernt betheiligt ist. Das kleine Gehirn scheint ihm allerdings auf die Regulirung der sym- metrischen Korperbewegungen, insbesondere der Gangbewegungen, zu influiren, ohne dass es aber deshalb geradezu als Regulator der Kor- perbewegungen zu betrachten ist. Menschen wie Thiere konnen nach bedeutenden Beschadigungen des kleinen Gehirns die einzelnen Glied- maassen noch bewegen, den Rumpf aber und die hinteren Gliedmaassen haben sie nicht recbt in ihrer Gewalt. Nach Schiff folgen der Verletzung des kleinen Gehirns die glei-
chen Erscheinungen, die wir bei Verletzung der von ihm ausstrahlen- den Fasern, z. B. des Pons Varolii, wahrnehmen. Findet die Verle- tzung nicht symmetrisch auf beiden Seiten Statt, so kommt es zu ei- ner ungleichen Haltung der Wirbelsaule, und dadurch entstehen unregel- massige Bewegungen. Schliesslich spricht er sich indessen dahin aus, dass die Functionen des kleinen Gehirns noch ganzlich unbekannt sind. Dass das kleine Gehirn vorzugsweise dazu bestimmt sei, das Gleich-
gewicht zwischen beiden Seiten des Korpers zu sichern oder die letz- teren wenigstens in eine nahere Verbindung zu bringen, hat man wohl |
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46 Circulation im Gehirne.
aus dem Faserverlaufe zu schliessen. Mit den Pyramiden, die doch
ausschliesslich der Bewegung der Gliedmaassen zu dienen scheinen, steht der Pons Varolii in engster Verbindung. Hinter oder uber den Pyramiden liegen die verschiedenen Centren sensibler und motorischer Nerven, und daneben die Hiilfsganglien der Oliven, sowie die Corpora restiformia, die ein anderes System aus dem Cerebellum ausstrahlen- der Fasern darstellen. Diese gehen in die Fibrae arciformes uber, welche die hinter der Briicke gelegenen Theile wechselseitig verbin- den. Ein dritter paariger Faserzug, die Crura cerebelli ad Corpora quadriyemina, verlauft seitlich langs der sogenannten Haube, und diese Fasern kreuzen sicb nach Stilling in den Hirnschenkeln. Mogen nun diese Fasern, wie Wagner (G-ott. gel.Anz. 1860, Jan., S. 35) meint, dazu dienen, Eindriicke vom grossen Gebirn nach dem Cerebellum zu leiten, oder inogen auch an alien Crura centripetale und centrifugale Fasern vor- kommen, das Wahrscheinlichste ist fiir mich, dass die bilateralen Be- wegungen vom Cerebellum beherrscht werden, und zwar auf reflekto- ri8chem Wege. § 11.
Die Circulation im Gehirne. Um die bei Geisteskrankheiten auftretenden Gehirnstorungen ge-
horig begreifen zu konnen, ist es nothig, die Beziehung der Circula- tion zum Gehirnleben ins Auge zu fassen. Denn es ist wohl klar ge- nug, dass ein ungleich starker Blutandrang, die mehr arterielle oder venose Beschaffenheit des Blutes, sowie andere Modificationen dessel- ben nicht ohne erheblichen Einnuss auf das Gehirn bleiben konnen. Die tagliche Erfahrung belehrt uns, dass ein heftiger Andrang
des Blutes die Gehirnfunctionen zu storen und rasch ein todtliches Ende herbeizufiihren im Stande ist. Sehen wir uns nun nach den Mitteln und Vorkehrungen um, wodurch ein starker Blutandrang ge- massigt oder verhiitet werden kann. Wird das Blut durch erhohte Herzthatigkeit kraftvoller und unter gesteigertem Drucke in die Aorta getrieben, dann fliesst es zumeist und am schnellsten durch jene Ge- fasse ab, in denen ein geringerer Wiclerstand und Gegendruck zu iiber- winden sind. Blicken wir aber auf die Verastelungen der grosseren Gefasse, dann ist es gewiss recht auffallend, dass gerade neben der Vertebralis die Thyreoidea inferior entspringt, und an der Theilung der Carotis communis in Carotis interna et externa die Thyreoidea su- |
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Circulation im Gehirne. 47
perior abgeht. Die constante Verdoppelung der Thyreoidea auf jeder
Seite weist darauf hin, dass damit ein bestimmter Zweck erfiillt wer- den soil, und es nicht blossauf eine ausreicheudeBlutzufuhr zurSchild- driise abgesehen sein kann, da ja letztere sehr einfach zu erreichen ge- wesen ware, wenn eine der beiden Thyreoideae ein grosseres Lumen erhalten hatte. Die Schilddriise kann aber viel Blut aufnehmen und sie scheint sich selbst stark ausdehnen zu konnen, indem Forneris durch Messungen ermittelt haben will, dass der Hals in Folge dieser Ausdehnung oder Anschwellung wahrend des Schlafs und beim Er- wachen dicker ist, als wahrend des Tages. Auch wechselt die Grosse, die Weichheit, der Blutreichtlium dieser Druse in den Leichen in auf- fallender Weise. So kann man recht gut begreifen, dass das einge- triebene Blut in den beiden dehnbaren Thyreoideae einen geringeren Widerstand findet, als in der Vertebralis und in der Carotis interna, die sich vermoge ihres Verlaufs in Knochenkanalen in die Quere nur wenig und in die Lange gar nicht ausdehnen konnen, und deshalb in grossererMenge nach der Schilddriise abfliesst. Somit mag die Schid- driise, unbeschadet anderer Verrichtungen, die ihr noch etwa anver- traut sind, als ein Divertikel oder Behalter gelten, wodurch der zu starke Blutandrang vom Gehirne abgeleitet wird. Der in die Nahe der Vertebralis und Carotis interna geriickte Ursprung der Tliyreoideae gewinnt ubrigens auch noch dadurch an Bedeutsamkeit, dass diese An- ordnung sich nicht auf die Saugethiere beschrankt. Denn nach J. Si- mon {On the comparative Anatomy of the thyroid gland, in Fhil. Trans- act. 1844, p. 295) entspringen die Thyreoideae der Vogel gerade gegen- iiber der Stelle, wo die Carotis und Vertebralis abgehen, und selbst bei den Amphibien und Fischen stehen diese Gefasse mit den Hirngefassen in Beziehung. Dadurch wird es nicht unwahrscheinlich, dass das Vorhandensein
eines Kropfs, der viel Blut aufnimmt und zu stark vom Gehirne ablei- ten kann, bei Cretins eine schwachere Entwickelung des Gehirns oder wenigstens eine geschwachte Energie desselben herbeifiihrt, wenngleich der Cretinismus nicht als Product des Kropfes anzusehen ist, sondern nur haufig damit gepaart erscheint. Ebenso mochte es sich hieraus erklaren, dass Individuen, die mit Kropf behaftet sind, meistens nicht recht aufgeweckt und lebendig, sondern mehr phlegmatisch sich dar- stellen. Vielleicht steht es auchhiermitinZusammenhang, dass ich manch-
mal bei Meningitis chronica und Mania idiopathica eine kleine, verhiir- |
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48 Circulation im Gehirne.
tete, gelblich gefarbte Schilddriise gefunden habe, weil durch diese Be-
schaffenhe.it die Ableitung des Blutstroms vom Gehirne gehindert wer- den konnte, was dann zu wiederholten Congestionen und zur Ent- wickelung der Meningitis beitrug. Ich mochte wenigstens diesen Punkt bei ferneren Untersuchungen beachtet wiinschen. Auch die Ausbreitung der Gefasse im Gesichte tragt zur Ablei-
tung vom Gehirne bei. Es giebt nicht viele andere Arterien, die sich so leicht mit Blut fiillten und ausdehnten, als die Gesichtsarterien; dieselben sind iiberall von einem weichen Fette umgehen, und die Ge- fasshaute haben deshalb nach aussen keine kraftige Stiitze. Daher kommt es, dass die Wangen, ja das ganze Gesicht so leicht eine er- hohte Farbung annehmen, z. B. bei starken und raschen Bewegungen, zumal bei hohen Temperaturgraden. Konnten die Hirngefasse sich gleich leicht fullen, dann hatten wir bei jeder starkeren Anstrengung eine Apoplexie zu fiirchten. So aber leitet die Carotis externa den starkeren Blutandrang nach aussen ab, weil die Carotis cerebralis in der geschlossenen Schadelhohle sich nicht gleich gut ausdehnen kann und deshalb dem andrangenden Blute einen kraftigen Widerstand ent- gegensetzt. Man darf daher aus'diffuser Gesichtsrothe nicht immer auf Gehirncongestion schliessen, wenngleich die letztere sich haufig mit jener vergesellschaftet. *) Aehnliche Verhaltnisse kommen bei den Vertebrales vor. Diese
entspringen aus den Subclaviae, und bei starkerem Blutandrange kann das Blut von der Vertebralis nach dem Arme abgeleitet werden. Aus diesem Grunde konnen Handbader, kann das Anlegen einer Binde um den Arm oder selbst nur um den Finger das Nasenbluten stillen, was ich mehrmals mit bestem Erfolge versucht habe und in friiheren Jah- ren auch an mir selbst zu erproben pflegte. Der Widerstand gegen einen starkeren Blutandrang wird noch da-
durch vermehrt, weil Gehirn und Rttckenmark in eine Knochenhbhle |
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*) Damit stimmen die Untersuchungen von Sucquet (Schmidt's Jahrb.
1362, Nr. 1, S. 20) zusammen, der ausser den eigentlichen Capillaren auch noch grossere Verbindungsaste zwischen Arterien und Venen nachgewiesen hat, und zwar in der Hand und am Ellenbuge, am Fusse und am Knie, sodann im Ge- sichte an der Haut der Lippen, der Nase, der Augenlider, der Augenbrauen, der Ohren, an der Schleimhaut der Nasenmuscheln und der Nasenscheidewand. Diesen grosseren Anastomosen vindicirt er mit Recht einen derivativen Zweck, da das Blut bei starkerem arteriellen Andrange durch dieselben rasoher nach den Venen abgeleitet wird. Im Alter sollen diese Communicationsaste an Zahl und an Grosse zunehmen. |
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Circulation im Gehirne. 49
eingeschlossen sind, die keiner Ausdehnung fahig ist und unter ge-
wohnlichen Umstiinden immer die gleiche Menge festen oder fliissigen Inhalts fiihren muss, da nichts Elastisches darin vorkommt. Hieraus hat man wold schliessen wollen, es konne iiberhaupt keine grossere Blutmenge ins Gehirn gelangen, da dasselbe einer Compression niclit iahig ist. Allein bei Apoplektischen findet man oftmals grosse Men- gen ausgetretenen Blutes *). Der Liquor cerebrospinalis kann dann noch Raum fiir eine grossere Blutmenge schaffen, indem er aus der Schadelhohle in den schlafferen und beweglicheren Sack der dura mater spinalis entweicht, der im natiirlichen Zustande niclit besonders gefiillt und gespannt zu sein scheint. Denn offnet man mit Vorsicht den Wirbelkanal, so dass die dura mater darin nicht gequetscht wird, so kann man jenen Sack grosser aufblasen. Ist nun auch die Schadel- hohle nicht durchaus unveranderlich, so hahen doch die Blutgefasse an ihr eine starkere Stiitze und sie leistet einer zu grossen Blutanfiil- lung einen starkeren Widerstand. Ein gewisser Spielraum war aber unerlasslich, da jede Kraftausserung, also auch die Gehirnthatigkeit, eine kraftigere Circulation und vermehrten Stoffwechsel erheischt, weshalb dann auch eine starke und anhaltende geistige Anspannung Congestionserscheinungen veranlasst und endlich das Gefiihl von Schwere, Stumpfsinnigkeit und Ermiidung hervorruft. Vor langerer Zeit haben Kellie (JJeber den Tod durch Kdlte und
iiber Congestionen des Gehirns in: Fr. Nasse, Sammlung zur Kennt- niss der Gehirn- und BiicJcenmarlcsJcrankheiten: 1. Heft 1837) so wie Dieckenhoff (De remediorum quorumdam vi sanguinem cerebro et meningibus contentum diminuendi. Bonn.) sich experimentell mit diesem Gegenstande beschaftigt. Kellie wollte gefunden haben, wegen Ge- schlossensein des Schadels werde bei Blutverlust das Blut in der Schadelhohle zuriickgehalten, und deshalb erscheine das Gehirn nach einer todtlichen Hamorrhagie nicht so blutleer wie andere Korper- theile. Wenn er dagegen durch vorgangige Trepanation den Eintritt von Luft in die Schadelhohle ermoglichte, dann fand er auch das Gehirn starker blutleer. Dieckenhoff "indessen konnte diese An- |
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*) Ich besitze ein Praparat, yro das Blut zwischen der dura mater und dem
den Schadel bekleidenden Perioste in so grosser Menge ausgetreten ist, dass die geronnene Blutmasse beim Oeffnen des Schadels melir denn f'austgross war und die Heniisphare ganz platt gedriickt hatte. Das Blut war frisch geronnen, sein Austritt hatte also erst vor Kurzem stattgefunden und mit grosser Raschheit, so dass unmittelbar der Tod eintreten musste. Schroeder v. d. Kolk, Geiateskrankheiten. ^
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50 Circulation im Gehirne.
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gaben nicht bestatigen, und ich selbst habe bei rasch todtlichen
Hamorrhagieen das Gehirn ganz blass und blutleer angetroffen. Nicbts desto weniger seheint mir Kellie's Annahme nicht ganz verwerfiicli. Meistens findet man das Gehirn geschlachteter Schafe nicht ganz blutleer. Sollen aber die Hirngefasse bei Hamorrhagieen sich ent- leeren, dann muss der Raum durch etwas anderes erfiillt werden, und das geschieht nach Kellie durch serose Exsudation. Wir diirfen aber annehmen, dass bei einer rasch todtlichen Hamorrhagie die serose Fliissigkeit aus clem Riickgratskanale in die Schadelhohle abfliesst und die Stelle des abgeleiteten Blutes ersetzt, Der im Riickgratskanale sich bildende Raum muss dann durch Fiillung und Anschwellung der weiten Venae spinales ausgeglichen werden, welche Venen rait den Venae cephalicae commuuiciren und in Wechselbeziehung stehen. Indessen wird das Blut, wenn auch nicht in toto, im Gehirne lin-
ger als in andern Organen zuriickgehalten werden *). Bei vermindertem Blutdrucke nach einem starken Blutverluste
wird leicht ein starkeres Ausschwitzen von Serum eintreten, und das kann wohl die bekannte Wahrnebmung erlautern, dass Blutentziehun- gen bei Irrsinnigen, namentlich bei Melancliolischen, so nachtheilig einwirken. 1st einmal Serum ausgeschwitzt, so wird dasselbe einer kraftigeren Circulation Widerstand leisten, das Gehirn bleibt daher langer anamisch, und durch das ausgeschwitzte Serum kann Gehirn- erweichung und Blodsinn hervorgerufen werden. Das kommt aber in solchen Fallen nach Venasectionen haufig genug vor. Haben sich die Hirngefasse in Folge eines starkeren Blutandran-
ges gefiillt, wie es zum Oeftern bei chronischem Irresein der Fall ist, so giebt es noch andere Wege zum Abfuhren des iiberniissigen Bluts. Steht das Blut in der Schadelhohle unter einem hoheren Drucke, als im Gesichte, so V:'::::::"t :: ^.-rch die Art. ophthalmica einen Abfluss: |
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*) Bei Seotionen muss man das Angesaugtwerden des Bluts im Auge behal-
ten, wenn das Bestelien einer Hirnoongestion in Frage kommt. Das Gehirn so- wohl wie die Gehiriifliissigkeit ziehen sich beim Erkalten des Korpers zusammen, und das Blut in den Venen, welches noch mehrere Stunden naeh dem Tode fliissig verbleibt, wird theilweise zum Gehirn zuriickfliessen, um den durchs Zu- sammensehrumpfen sich bildenden Raum zu erfullen. Das hat bereits Nasse (Untersuchtmgen zur Phys. u. Pathol. Bd. I., S. 387) hervorgehoben. Daher mag es auch kommen, dass das Blut in den Hirnvenen meist nicht geronnen ist, weil das Fibrin zuriickbleibt und nur das flixssige Blut in die Schadelhohle zuriickkehrt. Somit giebt die Erfullung der Hirngefasse bei Sectionen noch kei- nen richtigen Maassstab fur das Verhalten wahrend des Lebens. |
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Circulation im Gehirne. 51
(lurch die Frontalis bekommt die Oberaugenhohlengegend, bekommt
die Nase ein starker gerothetes Colorit. Hat die Congestion mehr einen chronischen Verlauf, wie bei vielen Tobsiichtigen, dann ist nur die Nasenspitze starker gefarbt, bis ins Blauliche. Dergleichen kommt aber auch wohl bei Melancholischen vor. Deshalb beobachten wir auch bei Gewohnbeitstrinkern, wo mehr eine habituelle Hirnconge- stion besteht, so allgemein eine rothe oder blauliche geschwollene Nase. Da die OphtJialmica durch die Ethmoidals anterior langs des Septum narium bis zur Nasenspitze sicli ausbreitet, und die Nasenhaut ausserlich ebenfalls mit Zweigen der Ophthalmica und Angularis in Verbindung steht, so begreift man wohl, wie die Ophthalmica diagno- stisch so bedeutend werden kann, wenn das Bint einem starkeren Drucke in der Schadelhohle unterliegt und zum Theil durch die Oph- thalmica abfliesst. Dagegen haben wir in der Parbung der Sclerotica ein ganz unzu-
verlassiges Zeichen. Hire Gefasse scheinen sich bei Hirnreizungen unter dem Einflusse der Nervi ciliares bisweilen zu contrahiren; we- nigstens habe ich selbst bei sehr intensiven, mehrere Tage andauern- den Hirncongestionen und Apoplexieen die Sclerotica noch weiss an- getroffen. Man begreift somit, dass Nasenbluten bei Hirncongestionen ein
giinstiges Ereigniss ist. Wo dasselbe nicht von selbst eintritt, da applicirt man auch wohl einen Blutegel in die Nase, wovon ich mehr- mals den besten Erfolg gesehen habe *). Die Vertebrates goben, bevor sie in die Schadelhohle eintreten,
Muskelaste ab, welche mit den Auriculares posteriores communiciren. Dem schreibe ich es zu, dass Kinder, wie ich mehrfach beobachtet habe, kurz vor einem Krampfanfalle ganz rothe Ohren bekommen, ja dass schon bei grosser Neigung zu Krampfen diese Erscheinung auf- treten kann. Bei einem Theile der Tobsiichtigen ist die Nase gefarbt, bei einem anderen Theile sind es die Ohren, und das erklare ich mir so, dass die Congestion bei den ersteren mehr in den vorderen Ge- hirntheilen, bei den letzteren mehr in den hinteren Gehirntheilen statt- findet. Hieraus erklart es sich wohl auch, dass bei Congestionen wiederholte blutige Schropfkopfe im Nacken vortheilhaft wirken, wofiir |
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*) Zur Aui'klarung dieses Verhaltnisses habe icli mehrmals die Ophthalmica
von der Schadelhohle aus isolirt injicirt. Es farbten sich dabei die Stira, die Nasenspitze und die Backe. 4*
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52 Circulation im Gehirne.
ich, zumal bei frischen Fallen von Epilepsie, sehr gliickliche Erfolge
aufzuweisen habe. 1st der Abfluss des liluts durch die Venen behindert, z. B, bei
Astbma, dann fiillen sich die Sinus der Schadelhohle, so dass sich die Vena ophthalmica nicht frei in diese zu entleeren vermag. Aeussere Venen miissen ihr Blut aufnehmen, und es stellt sicb eine Erweiterung der Venen der Sclerotica ein, auf welche die Ciliarnerven einen schwacheren Einfluss iiben, wodurch dann die Sclerotica, wohl ein briiunliches Aussehen bekommt; auch die Augenlider, zumal das untere, zeigen eine violette Farbung, gleicb wie die Nasenspitze. Neben den anderen diagnostiscben Zeichen venoser Gehirncongestion, wie sie z. B. in den klimakteriscben Jahren oder auch sympathiscb bei Gebar- mutterleiden auftritt, fallt daher auch die stiirkere Farbung der unte- ren Augenlider entschieden ins Gewicht. Bei oberflachlicher Betrachtung konnte es den Anschein haben,
als musse der Festigkeit der Hirngefasse dadurch Abbruc.li geschehen, dass ihre Wandungen diinner sind; doch scheinen die Gefasswande eher deshalb verdiinnt zu sein, urn Rupturen der Capillaren vorzu- beugen. Namlich nur die mittlere Tunica niuscularis fehlt fast ganz, durch deren Contraction das Blut einen starkeren Druck erfahrt und in die kleineren Gefasse getrieben wird; der inneren und der ausseren Gefasshaut dagegen verdanken die Gefasse ihre eigentlicbe Festigkeit und Widerstandsfabigkeit. Beim Mangel der Muskelhaut geben die Gefasswande dem Blutstrome leichter nach, sie bieten demselben einen geringeren Widerstand und treiben auch das Blut mit schwacherer Kraft durch die Capillaren, die im Gehirn so zart sind und von aussen her so geringe Stiitze erhalten. Die Folge hiervon ist eine mehr gleichmassige, nicht pulsatorische Blutstromung in den Hirncapillaren. Denn da die grosseren Aeste, die unter vielfacher Bildung von Anasto- mosen eine Strecke weit in der pia mater verlaufen, wegen ihrer leichten Ausdehnbarkeit jedem Pulsschlage durch Aufnahme der ein- stromenden Blutwelle Geniige leisten konnen, so pflanzt sich von ihnen keinerlei Pulsation zu den kleineren Hirngefassen fort. Hierin ist wohl auch die Bedeutung der Wundernetze zu suchen, die bei vielen Saugethieren, namentlich beim Rinde, Schaafe, Hirsche in der Scha- delhohle vorkommen. Die Natur hat aber selbst noch weitere Vorkchr getroffen. Be-
kanntlich bedeckt die pia mater die Hirnwindungen und aus ihrer Unterflache dringen sehr feine Capillaren in die graue Substanz, wo |
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Circulation im Gehirne. 53
sie sich mannichfach verasteln und dann in feinere Venen iibergehen,
die wieder naeh der pia mater zuriickkehren und hier zu grosseren Aestchen sich vereinigen. Miisste nun das Blut in den Gefassen der pia mater, um in Venen iiberzutreten, insgesammt durch die Rinden- schicht der Windungen gehen, so wiirde jeder starkere Blutandrang, z. B. schon bei einer starkeren Bewegung, alsbald in der so leicht er- regbaren Rindenschicht sich kund geben. Das ist aber nicht der Fall, und zwar deshalb, weil in der pia mater selbst ein freier Ueber- gang zwischen Arterien und Venen stattfindet, wovon ich mich durch Injectionen iiberzeugt habe*). So geht bei einem starkeren Andrange das Blut nieistens iiber der Rindenschicht weg in die Venen iiber, ohne auf jene einzuwirken; der Sturm streicht gleichsam iiber uns weg, ohne dass wir es nierken. Gleichwohl giebt sich die Wirkung eines solchen Andranges immer
kund. Es mag etwa ein guter Freund im vollen Laufe, keuchend und erhitzt, herankommen. Wiirde demselben eine verwickelte Frage, ein schweres Rechenexempel vorgelegt, so wiirde er zur Antwort geben, er miisse erst einigermaassen zur Ruhe kommen, da er im Augenblicke nicht gefasst genug sei, um iiber eine so wichtige Frage nachzu- dcnken. Die Zellen in der Rindensubstanz befinden sich augenblick- lich im Zustande zu starker Reizung, die Vorstellungen und Bilder jagen einander, und es kommt nicht zu deren Beherrschung; das tie- fere Nachdenken verlangt vorher eine Beruhigung der Circulation. Nimmt die Circulation noch mehr an Raschheit und Starke zu, wie etwa im Fieber, dann kann es bis zum Delirium kommen: die unwill- kurlieheu Vorstellungen und Bilder gewinnen dergestalt an Starke, dass sie von wirklichen Eindriicken nicht mehr zu unterscheiden sind. Beriicksichtigung verdienen ferner die Sinus durae matris, die
keiner Ausdehnung fahig sind. "Wird bei erschwertem Athmen der |
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*) Das Gehirn wird dergestalt aus dera Schadel herausgenommen, dass we-
nigstens der obere Their der dura mater nebst den Sinus daran sitzen bleibt. Dann wird in die abgeschnittene Carotis oder Vertebralis ein Rohrchen einge- setzt und um die andern Arterien werden Ligaturen gelegt; desgleiohen wird in den Sinus longitudinalis, da wo derselbe in den Sinus transversus iibergeht, eine Kaniile eingesetzt. Treibt man jetzt abwechselnd rothe Masse in die Arte- rien und blaue Masse in die Venen, so kann man deutlich sehen, wie die rothe Masse direct in Venen iibergeht, und wie naeh Einspritzung der Venen die rothe Masse wiederum in Arterien zuriickgedriingt wird. Das spricht doch wohl fur eine frcio Communication. Selbstverstandlich muss das Gehirn rait moglichster Vorsicht herausgenommen werden, um jede Quetschung zu vermeiden. |
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54 Circulation im Gehirne.
Abfluss des Blutes aus den Jugulares uach der Brust behindert, so
tritt der Blutanhaufung im Schadel dennoch ein Widerstand entgegen, einerseits durch das Geschlossensein des Schadels selbst, andererseits dadurch, dass die Sinus sich nicht ausdehnen konnen: vermittelst der mannichfaltigen Anastomosen zwischen den Venae swindles und der Azygos kann das Blut sich dann mehr im Unterleibe sammeln *). Auch will ich erwahnen, dass das Gehirn im Liquor cerebrosjaina-
lis fast wie in einem Bade herumschwimmt, so dass es nach den Unter- suchungen von Toltz (PrayerVierteljahrsschr. 1855. IV. S. 99) nur mit V50 seines Gewichts auf die Schadelbasis driickt. Dabei ist es be- achtenswerth, dass die Arterien, welche vermoge Hirer Spannung einen grosseren Druck aushalten konnen, alle an der Schadelbasis liegen, die so leicht gedriickten Venen dagegen an der Oberflache der Hemi- spharen sich sammeln undmeistens in den Furchen zwischen denHirn- windungen ihre Lage haben, so dass sie bei Anschwellung des Gehirns nicht gedriickt werden, weshalb denn der Blutabfluss vom Gehirne moglichst frei bleibt. Ueberdies finden sich zwischen den Aesten der Arterien sowohl als zwischen den Venen liberall zahlreiche Anasto- mosen, und bei vermehrtem Blutzufiusse kann es doch zu keinern starkereu Audrange zum Gehirne kommen, weil der Druck sich gleich- miissig auf alle Arterien und Venen vertheilt. Ohne diese Einrich- tung wiirde eine starkere Blutzufuhr durch eine der Gehirnschlag- adern alsbald eine starkere Congestion nach einem einzelnen Gehirn- abschnitte zur Folge haben, wodurch leicht gefahrliche Blutextrava- sate entstehen konnten. Auch kann jetzt, wenn der Zufluss durch irgend eine Veranlassung an einer Stelle abgeschnitten ist, das Blut durch Seitenaste zustromen, so dass die Circulation im Gauge bleibt. Uessen ungeachtet sehen wir beim Embolismus der Hirngefasse, dass |
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*) Treibt man blaue Injectionsmasse durch die Jugulares nach oben, so
sieht man dieselbe leicht von der untern Hohlvene aus ins Herz ubertreten, weil die weiten Plexus venosi spinales mit den Venae lumbales anastomosiren und dadurch mit der unteren Hohlvene in Verbindung stehen. Ein interessanter Versuch von Toltsi (Gaz. med. de Paris, 1853. Nr. 10 u. Prager Vierteljahrs- schrift 1855. IV. S. 99) liefert ferner einen Beweis dafiir, dass das Blut, wenn ein starkerer Druck in der Schadelhohle wirksam ist, sich leicht nach aussen Bahn bricht. Er unterband die Jugulares internae et externae, legte dann den Sack der dura mater am Ende des Riickenmarkes bloss, und setzte eine Kaniile ein, durch welche er Wasser in den .Aiachnoidealsack einspritzte. Dadurch bekam das fruher leichenblasse Gesicht augenblicklich eine" blauliche Farbung, und die Venen fullten sich oberhalb der Ligatur. |
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Circulation im Gehirne.
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eine solche Verstopfung sehr naclitheilig werden kann, sobald sie nur
iiber einen grosseren Bereich sich erstreckt. Durch alle diese harmonisch zusammenwirkenden Ursachen wird
es moglich, dass das Gehirn mit seinen Gefassen, uiigeachtet des zarten Baues der letztern, einen bedeutenden Druck auszuhalten im Stande ist. Wir sehen dies bei schweren Geburten, beim Asthma, beim Keuchhusten, bei Epilepsie, wo die Gefasschen in dem lockern Gewebe der Augenlider, welche von der aus der Schadelhohle heraus- tretenden Ophthalmic® abstammen, in Folge des starken Blutandranges bersten, ohne dass im Gehirne selbst Blut ausgetreten ist. Von grosser Bedeutung sind audi die Untersuchungen iiber die
Circulation im Schlafe, welche wir Arthur H. Durham {Schmidt's Jahrbb. 1861. Nr. 4. S. 13) verdanken. Man war allgemein der An- sicht, im Schlafe sei eine grossere Blutmenge im Gehirne angehauft, und die starkere venose Congestion bedinge gerade den Eintritt des Schlafes: die zunehmende Schlafrigkeit bei grosser Vollblutigkeit schien dafiir zu sprechen, desgleichen die Blutanhaufung im Gehirne bei Coma,, der Eintritt des Schlafes nach einem epileptischen Anfalle, wo doch offenbar Congestion vorhanden ist, und nicht minder der Zustand von Bewusstlosigkeit bei apoplektischem Exsudate oder bei capillarer Injection der Hirngefasse. Aus Durham's Untersuchun- gen scheint aber soviel zu folgen, dass wir den ruhigen Schlaf vom Coma und vom Sopor bestimmt unterscheiden miissen. Einem Hunde wurde ein Stuck des Schadeldachs mit der Trephine weggenommen, und es wurde dann die darunter liegende Dura ausgeschnitten: der blossgelegte Gehirntheil schien sich in die Oeffnung eindrangen zu wollen, die grossenVenen auf der Oberflache waren etwas ausgedehnt, die kleineren Gefasse der Pia schienen voll dunkelnBluts zu sein, und ein deutlicher Unterschied in der Farbe zwischen Arterien und Venen konnte nicht wahrgenommen werden. So war namentlich das Aus- sehen und Verhalten wahrend der Chloroformwirkung. Nachdem die Chloroformwirkung aufgehort hatte, verfiel das Thier in einen relativ naturlichen und gesunden Schlaf; dabei wurde die Oberflache des Ge- hirns blass und sank etwas unter das Niveau des Knochens, die Venen waren nicht mehr ausgedehnt, kleinere Gefasse mit arterieller Farbung waren zu unterscheiden, und viele, die vorher mit dunklem Blute strotzten, waren nicht mehr zu erkennen. Als das Thier nach einiger Zeit geweckt wurde, schien sich eine schwache Rothe iiber die Ober- flache des Gehirns zu verbreiten, und letzteres drang wieder in die |
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56 Circulation im Gehirne.
Knochenoffnung. Je munterer das Thier ward, desto mehr injicirte
sich die Pia, und um so turgider wurde das gerothete Gehirn; allent- lialbon zeigten sich Gefasse, die wahrend des Schlafs nicht sichtbar ge- wesen waxen, and Arterien undVenen waren bestimmt durcb ihre ver- schiedene Farbung zu erkennen. Das Thier wurde nun gefiittert und ver- sank dann wieder in ruhigen Schlaf: die Blutgefasse wurden wieder enger und die Gehirnoberflache wurde blass, wie zuvor. Die Verschieden- heit dieser Erseheinungen wurde um so sicherer festgestellt, als gleich- zeitig zwei Thiere unter entgegengesetzten Verhaltnissen beobachtet wurden. Der Zustand der Gefasse wurde iibrigens niit stark vergros- sernden Lupen, ja unter schwacher mikroskopischer Vergrosserung untersucht. Die Versuche wurden mehrmals mit ganz gleichem Er- folge wiederholt. Hunde eigneten sich aber besser dazu als Ka- ninchen. Ein verschiedener atruospharischer Druck konnte bei diesen Ver-
suchen nicht in Betracht kommen, denn dieser blieb sich ja iin Schlal'e und im wachenden Zustande gleich, auch anderten sich die Ersehei- nungen nicht, als genau eingepasste Glasplatten in die Schadeloffuung eingesetzt wurden. Den Grund der Erscheinung findet Durham darin, dass wahrend des Schlafs die Gefassaction und die Congestion zum Gehirne auf schwacherer Stufe stehen. Im wachen Zustande und wenn das Gehirn in Thatigkeit ist, stromt mehr Blut dahin, dasselbe bewegt sich auch rascher durch die Gefasse, und die Gehirnsubstanz wird starker oxydirt; denn das Functioniren des Gehirns verlangt eine starkere Sauerstoffconsumtion, und diese vis a fronte veranlasst einen reichlicheren Zufluss arteriellen Blutes, Erweiterung der Capil- laren und Verstarkung des Stoffwechsels. Die vennehrte Schuelligkeit der Circulation bedingt eine gestei-
gerte Zufuhr von Sauerstoff und wahrscheinlich auch eine stiirkerc Auftiahme der Umsatzproducte ins Blut. Denn wenn man nach Dur- ham's Versuchen Fliissigkeiten durch einen Kaninchendarm stromen liisst, der in einer umgebenden Fliissigkeit liegt, so ti-anssudirt um so weniger durch die Darmwand nach aussen, je rascher der Strom ist. Wahrend des Schlafs nun nimmt die Vis a fronte ab, die Gefasse contrahiren sich starker vermoge ihrer Elasticitat und die nutritive Circulation tritt mehr hervor: es circuliren weniger Blutzellen und die Langsamkeit, mit welcher.das Blut fliesst, begiinstigt den Austritt nutritiven Plasmas. Die niichste Ursache der temporaren Suspension der Hirnthatig-
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Circulation im Gehirne. 57
keit kann nicht darin liegen, dass es an wirksamem Material felilt
oder dass dieses durch Oxydation erschopft ist; denn das schon er- miidete Gehirn kann durch passende Reize zu erneuter Thatigkeit ge- bracht werden. Durham findet diese Ursache in den Umsatzproduc- ten und beruft sich auf die Beobachtung, dass die Hirnsubstanz eines eben getodteten Thieres neutral oder selbst schwach alkalisch reagirt, nach kurzer Einwirkung der Atmosphare dagegen sauer. Heynsius hatte ubrigens schon vor Durham gefunden, dass die ganz frische Hirnsubstanz vom Schafe oder vom Rinde eher sauer als alkalisch reagirt, was dann Funke bestatigte, der zugleich nachwies, dass bei gesteigerter Hirnthatigkeit saure Reaction, bei Unthiitigkeit des Ge- hirns alkalische Reaction sich einstellt. Heynsius (Nederl. Tydschr. v. Geneesh. 1859. p. 651) hat im Weiteren dargethan, dass die Diffu- sion oder Exosmose des Albumen durch Saure gehindert, durch Alkali befordert wird. Hat sich also nach langerer Thatigkeit in Folge der Oxydation Saure im Gehirne angehauft, dann transsudirt weniger Al- bumen aus den Blutgefassen, der Stoffwechsel oder vielmehr die Zu- fuhr ist geringer, und erst wahrend der Ruhe kann die saure Fliissig- keit aufgenommen und weggefiihrt werden, wodurch dann das Organ zu erneuter Thatigkeit geschickt ist. Diese Saurebildung wiirde aber ein Correctiv der Ueberreizung oder iibermassigen Thatigkeitsausse- rung sein. Nach Durham verhindert die Saure die Oxydation, nach Heynsius beschrankt sie die Transsudation des Albumen. Nach Durham ist die Nutrition wahrend des Schlafs vermehrt; Heynsius nirnmt wahrend desselben verstarkte Absorption und geminderte Ei- weissabsetzung an, also eine geschwachte Nutrition. Mir will es wahrscheinlicher vorkommen, dass wahrend des Wa-
chens der Stoffwechsel gesteigert ist, womit sich vermehrte Zufuhr von Sauerstoff sOwohl als von Eiweiss verbinden muss, im Schlafe aber der Ansatz und die Ernahrung starker sind, wobei zugleich die gebil- deten Siiuren fortgeschafft werden. Man bedenke nur, dass der Schlaf nicht sowohl vom verminderten
Zuflusse arteriellen Blutes, als vom verminderten Stoffwechsel aus- geht, also von Abnahme in der Zufuhr und in der Apposition neuer Substanz. Verminderte Zufuhr und schwiichere Oxydation konnen auch eintreten, wenn die Gefasse bei Circulationsstorung durch das Blut stark ausgedehnt werden, und wenn die Circulation durch star- keren Widerstand sich verlangsamt; die Erneuerung des Blutes in den Capillaren erfolgt dann zu langsam und es steigert sich seine |
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58 Leib und Seele in Wechselwirkung.
Venositiit, Coma und Schlafrigkeit brauchen also nicht immer die
Folge von Congestion und trager Circulation zu sein; auch Contrac- tion der Cefiisse kann sie hervorrufen, gleicliwie eine Minderung der Oxydation und Nutrition durch vorausgegangene Anstrengung und durch Saurebildung, welche der Nutrition hinderlich ist. Die eigent- liclie Ursache liegt in beiderlei Fallen in einer Minderung der Oxyda- tion. So scheint audi der Fotus vor dem Beginne der Respiration, so lange sein Blut nur schwach arteriell ist und die Oxydation fehlt, sich in einem lethargiscben Zustande zu befinden: erst nach dem Beginne der Respiration erwacht er aus diesem Zustande, und er giebt dies durch halbwillkurliche Bewegungen kund. §.12.
Zusararaenhang und Wechselwirkung zwischen Leib und
Seele.
■ Zu alien Zeiten wurde iiber den Zusammenhang zwischen Seele
und Leib gestritten, und es sind die verschiedensten Hypothesen iiber diesen Gegenstand aufgestellt worden. Die psychische Schule liess deu Einfluss des Korpers auf die Seele unbeachtet und wollte alle Irrsinnserscheinungen nur als abnorme Seelenthatigkeiten auffassen. Auf der andern Seite wurde die Existenz einer Seele verkannt, alle Geistesthatigkeiten wurden zu Aeusserungen des Gehirnlebens ge- stempelt oder in ein Labyrinth unbegreiflicher durch einander gewirr- ter Reflexerscheinungen zusammengedrangt, und bei dieser Auffassung machte man eine blosse Maschine oder einen Automaten aus dem Menschen. Nach meiner Ueberzeugung hat man die Gehirnfunctionen, die
je nach den verschiedenen Zwecken und nach der Beschaffenheit der wirksamen Zellen verschieden ausfallen, genau zu trennen von einem hoheren Principe, namlich einer selbststandig wirksamen Seele, die zwar, wie weiter oben ausgefiihrt wurde, mit jenen Zellen aufs engste verkniipft ist und durch dieselben Eindriicke emphingt, aber auch wiederum selbststandig auf sie einwirken kann, und durch dieses willkiirliche Wirken von alien andern Naturkraften sich unterscheidet. Diese Willkiir wirkt nirgends anders als im Gehirne; nur in die-
sem wurzelt unser Bewusstsein. Pfliiger und einige sich ihm An- |
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Leib und Seele in Wechselwirkung. 59
schliessende reden zwar von einem unbewussten Willen iin Riicken-
marke; allein schon die Vorstellung eines unbewussten Willens ent- halt einen Widerspruch. Wird ein Nerv, oder wird das Rtickenmark durchschnitten, so konnen in dem abgetrennten Theile wohl automa- tische oderReflexbewegungen vorkommen, niemals aber spontane oder willkiirliche. Wir fiihlen es, dass nur im Kopfe der Sitz unseres Be- wusstseins ist und der Rumpf eigentlich ausserhalb des Ich sich be- tindet, dass wir auf letzteren wirken, gleichwie auf einen Apparat, worin unsere Seele nicht wobnt. Die Zellen im Gehirne entwickeln eine Thatigkeit, die sich der
Seele mittheilt, sci es als Wahrnehmung eines sinnlichen Eindrucks, sei es (und das ist die Hauptsache) als Vorstellung oder Bild, als Re- production einer friiheren Wahrnehmung. So stehen wir im engsten Verbande mit jener Zellenthatigkeit. Denn wie sie unserer Seele sich mitzutheilen vermag, so kann auch umgekehrt unsere Seele auf die Zellen in der Hirnrinde einwirken: wir sind im Stande, die Zellen in Thatigkeit zu versetzen unci uns ein schlummerndes Bild zu ver- gegeuwartigen. Die den Zellen zukommenden Functionen diirf'en jedoch nicht mit dem Ich verwechselt werden; die darin wirkende organische Kraft befindet sich in Abhangigkeit von ihrer Zusammen- setzung, und neben unserem Willen sind sie auch anderen Reizen zu- gangig. Werden die Zellen auf entzuudliche Weise, wie beim Irrsein, oder durch abnorme Blutbeschaffenheit, wie im Nervenfieber, gereizt, dann erscheinen die Bilder unwillkiirlich und wir deliriren. Konnte wohl jemand behaupten, dass die heftigen Krampfe in
einem epileptischen Anfalle abnorme Wirkungen der Seele darstellen ? Die organische Thatigkeit wirkt hier fiir sich selbst, also nicht will- kiirlich: sie ist nicht identisch mit unserem hoheren Princip, vielmehr demselben unterthan. Werden durch einen apoplektischen Anfall die Werkzeuge betroffen, auf welche unser Wille wirkt, dann entsteht Lahmung, d. h. die Fahigkeit zu Bewegungen ist verloren, nicht aber der Wille zu ihrer Ausfiihrung, woraus doch deutlich entnommen werden kann, dass die Gehirnthiitigkeit nicht das Namliche ist, wie die Seele oder das hohere Princip. Man wird doch nicht behaupten, dass mittelst der Flores Arnicae oder des Galvanismus, wodurch die Anasthesie oder die Parese beseitigt wurden, der Seele die verlorene Perceptionsthatigkeit oder der verlorene Wille wieder zugefiihrt wurde? nur die Werkzeuge, mit denen unsere Seele wirkt, sind' zur Norm zuriickgekehrt. In dieser Beziehung zwischen dem hoheren Ich und |
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60 Leib und Seele in Wechselwirkung.
den Hirnfunctionen haben wir den Zusammenhang zwischen Seele und
Leib, vermoge dessen beide wechselseitig auf einander wirken. Der Zusammenhang ist aber ein so inniger, dass jede Steigerung der Ge- hirnenergie, jede Veranderung oder Erschopfung derselben alsbald auf die Seele zuriickwirkt, dort erhebend und spannend, bier nieder- driickend und abstumpfend. Diese unwillkiirliche Einwirkung des Leibes im Allgemeiuen und
des Gehirns im Besondern offenbart sicb unter besondereu Umstandun auf eine mehr oder weniger entschiedene Weise, ja sie giebt sicb auch in den Eigentbiimliebkeiten, in den Anlagen und im Charakter ver- scbiedener Individuen kund; sie ist der Grund, warum bei unserem Handeln so vielmal etwas Unwillkiirliches, ein gewisser blinder Trieb mit im Spiele ist. Gerade das Vorkommen des Willkiirlichen und des Unwillkiir-
lichen bei unseren Handlungen ist eins der schwierigsten Probleme. Die meiste Aufklarung verscbafft uus die genaue Untersuchung krank- hafter Zustande, wo die hervortretenden Thiitigkeiten zu den unwill- kihliehen gehoren, und nach dem verschiedenen Grade ihrer Aeusse- rung nocb am ehesten unterschieden werden konnen. Es ist weiter oben aus einander gesetzt worden, dass die Gehirn-
zellen, namentlich aber jene in den vorderen Hemispharen, nicht nur Bilder zu Stande bringen, sondern audi friiber empfangene Eiudriicke wieder in die Erscheinung rufen konnen, welcbe Eindriicke sicb bald unwillkurlich unserem Geiste mittheilen, bald wieder durch unseren Geist an Lebendigkeit und Intensitat gewinnen. Die Einbildungskraft gehort daber auch zu jenen Geistesvermogen, welcbe in engster Ver- kniipfung mit den Gehirnfunctionen steht. Sind jene Zellen in Wirk- samkeit, so hangt es ganz von dem Erregungsgrade ab, ob das Un- willkiirliche die Oberhand hat, wie im Delirium, oder ob die Seele die Bilder beherrscht und nach Willkiir und durch ruhiges Walten kuhnc Schopfungen der Phantasie producirt, dergleichen wir in den plastischen Werken eines Michel Angelo, im befreiten Jerusalem eines Tasso, in Beethoven's meisterhaften Compositionen bewundern. Jene Zellen der Hirnrinde vermitteln also den Zusammenhang zwischen Seele und Leib. Wenn einerseits durch diese Zellen unwillkiirliche Bilder zu Stande kommen, wie beim Einschlafen und im Traume, so sind wir andererseits im Stande, auf dieselben einzuwirken und sie in Thatigkeit zu versetzen, so dass uns dies oder jenes Bibl entstebt, welches in friiherer Zeit durch sensuelle Eindriicke daselbst nieder- |
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Leib und Seele in Wechsehvirkung. (il
gelegt wurde. Daher der alte Satz! nihil est in intellectu, quod non
ante fuerit in sensu. Die Rindenzellen erhalten zuerst durch die Per- ceptionszellen der Sinnesapparate die Eindriicke, und wahrend der Eindruck in den Perceptionszellen alsbald verschwindet, erhalt er sich gleichsam schluramernd in den Rindenzellen. Diese letzteren sind die Bewahrplatze oder Magazine fiir die Schatze unserer Erinnerung: wenn sie einmal auf einen Eindruck reagirten und in Thatigkeit versetzt wurden, dann scheinen sie den Eindruck zu bewahren, um bei einer spateren seelischen Reizung in derselben Weise zu wirken, \vie bei der friiheren sensuellen Reizung. Diese Wirkung sensueller Eindriicke auf die Gehirnrinde hat man
von den Eindriicken selbst genau zu unterscheidcn. Denken wir uns einen Blinden, der ein Dreieck betastet. Er findet zunachst den einen Winkel und durch Verschieben der Finger auf dem Objecte findet er auch die beiden anderen Winkel. Diese Eindriicke werden zu den Ge- fiihlsperceptionszellen fortgeleitet und von hier den Hirnrindenzellen iiberantwortet, wo die verschiedenen Eindriicke durch die Seele zu einem Ganzen verbunden werden, so dass das Dreieck erkannt wird. Solches wird nur dadurch ermoglicht, dass der Eindruck hier nicht so rasch verwischt wird, als in den Perceptionszellen. Verharrte der Ein- druck einige Zeit in den letzteren, so wurde die Wahrnehmung des ersten Winkels mit jener des zweiten und dritten zusammenfallen, und die Perception der drei verschiedenen Winkel und deren Vereinigung in der Hirnrinde zu Einem Korper, zum Dreieck namlich, ware unmog- lich. Hier erst vereinigen sich die isolirten Eindriicke, hier erkennen wir auch, ob die gleichzeitigen verschiedenen Eindriicke durch meh- rere Sinnesorgane von Einem Objecte oder von mehreren Objecten aus- gehen. Das alles ist hohere Wirkung des 'Geistes, und dabei verhal- ten sich die Zellen, welche die Eindriicke als Bilder und Vorstellungen festhalten und verarbeiten, als unumgangliche Hiilfsmittel. Die Ab- hiingigkeit des Gedachtnisses vom Zustande der Hirnrinde erkennen wir daraus, dass, wenn letztere im Alter zu atrophiren beginnt, auch das Gedachtniss abnimmt, und dass bei Irren, wo die Hirnrinde durch Entziindung pathologisch entartet, auch das Gedachtniss schwindet. Somit ist das Gedachtniss keine blosse Function des Gehirns, sondern zu seiner Wirksamkeit wird die Beihiilfe und Mitbetheiligung des Kbrpers erfordert. Wie nun aber diese Zellenthatigkeit in der Form von Bildern und
Vorstellungen an die Seele herantritt, so vermag umgekehrt auch die |
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62 Leib und Seele in Wechselwirkung.
Seeleauf dieZellen zu wirken undBilder dariti hervorzurufen, und aus-
serdeni ist die letztere auch im Stande, die unwillkiirlich aufgetretenen Bilder zu ordnen, zu regeln und zu einem Ganzen zu verkniipfen. Die in der Schlaftrunkenheit unwillkiirlich und ordnungslos an uns vorbei- streifenden Bilder konnen wir einfach anstarren, wir konnen aber auch eines jener Bilder festhalten, andere damit in Verbindung bringen und auf diese Weise einen Roman, eine Geschichte zusammensetzen. Die- ses geistige Vermogen nennen wir die Einbildungskraft, die Phantasie; durch sie bringt der mit schopferiseher Vernunft ausgestattete Dichter seine unsterblichen Werke zu Stande. Hierzu ist nun aber eine grosse Empfanglichkeit der Zellen erfor-
derlich; sie miissen leicht und beweglich auf den durch unsere Seele, durch unsern Willen gegebenen Anstoss antworten. Ist ihr Wirken abgestumpft durch somatische Ursachen, z. B. durch Congestion und Blutuberfiillung, wodurch sie einen gewissen Druck zu erleiden schei- nen, oder aber durch Erschopfung und Erraattung, dann ftihlen wir uns schwach und stumpfsinnig und die Arbeit des Geistes will nicht riicken; wir konnen keine Bilder, vielleicht nicht einmal Worte finden, unser Geist ist ganz eingenommen, ja es macht uns wohl Miihe, nur einen einfachen Brief zu schreiben. Gleichwie das Gedachtniss, so ist also auch die Phantasie in Abhangigkeit vom Korper. Die Psycho- logie weiss hiervon nichts und vermag keine Erklarung von diesen ver- schiedenen geistigen Zustiinden zu geben. Mit den Hirnrindezellen scheint somit unsere Seele in einem in-
nigeren Verbande zu stehen und in mehr anhaltender Wechselwirkung, als mit den iibrigen Hirnzellen. Jene Zellen, welche die sensuellen Eindriicke aufnehmen, theilen uns zwar ihr Wirken mit, umgekehrt aber vermag unsere Seele nicht auf sie einzuwirken. Wir sehen ein Bild vermoge des in unser Auge fallenden Lichts, aber wir sind nicht im Stande, im Dunkel vermoge unseres Willens die namliche Erschei- nung herzorzurufen; wir erinnern uns dann wohl des gesehenen Bil- des, aber nicht mit jener Klarheit und Helligkeit, in welcher es wirk- lich auf unser Auge fiel. Ware so etwas moglich, so wiirden wir die Producte unserer Einbildungskraft und die realen Erseheinungen nicht von einander unterscheiden konnen, und dadurch miisste eine unauf- horliche Verwirrung entstehen. , Eine Eigenschaft der Perceptionszellen scheint es zu sein, dass
sie nur durch die von den Sinnesorganen kommenden Nervenfasern in Thatigkeit versetzt werden, und nicht durch linsern Willen. Dadurch |
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wird es ermoglicht, dass die sensuellen Eindriicke sich rein und un-
vermischt erhalten. Konnte der Wille eingreifen und vermochte er z. B. willkiirlich ein Lichtbild hervorzurufen, dann wiirde ein wirk- liches gesehenes Bild durch ein innerlich hervorgerufenes oft genug so verandert und umgestaltet werden, wie die Bilder unserer Phanta- sie, und wir wiirden uns niemals mit Zuverliissigkeit iiber unsere Ge- siehtswahrnehmungen aussprechen konnen, da es immer zweifelhaft sein miisste, ob nicbt unser Geist unwillkiirlich die eine oder die an- dere Veranderung daran hervorgebracht hatte. Der Eindruck darf nur ein augenblicklicher sein und er darf keine Spuren hinterlassen; sonst bliebe ja das gesehene Bild auch nach dem Verschwinden des Objects zuriick, was zur Verwirrung fiihren miisste. So stellt es sich als eine Nothwendigkeit beraus, dass ein Apparat
vorhanden ist, der uns die Bilder wirklicber Objecte rein und unver- andert zufiihrt, aber sie audi nicbt langer bewahrt, als der vom Ob- jecte ausgehende Eindruck andauert; daneben aber noch ein zweiter Apparat, worin jene Eindriicke nur in solcher Starke, dass sie vom Itealen unterschieden werden konnen, gesammelt und aufgehauft wer- den, und aus dem wir sie wieder in die Erscheinung rufen konnen, um sie mit anderen zu verkniipfen und Veranderungen mit ihnen vor- zunehmen. Dabei ist noch der Umstand beachtenswerth, dass die eigentlichen
Perceptionszellen, die uns die sensuellen Eindriicke iibermitteln, zeit- weise aus dem Verbande mit der Seele scheinen heraustreten zu kon- nen, so dass die 'Eindriicke nicht mehr wahrgenommen werden, z. B. im Schlafe. Ist ein Korpertheil wahrend des Schlafens einer anhalten- den Kalteeinwirkung ausgesetzt, oder iibt etwa ein eng anliegendes Halstuch einen Druck aus, so kommt es nicht zu einer eigentlichen Wahrnehmung dieser Einwirkungen, es werden aber in der Hirnrinde Eindriicke bewirkt, wodurch analogeVorstellungen und Bilder auftau- chen, wie jene, die auf keiner directen sensuellen Perception beruhen. Im Schlafe theilen also die Perceptionszellen ihre Eindriicke der Seele nicht mit. Im Traume hingegen ist der Verband zwischen Hirnrin- dezellen und Seele nicht gelost. Wird die Imagination beim Triiu- men noch lebhafter, so haben wir den Somnambulismus, wobei das In- dividuum sich so benimmt, wie sonst im wachen Zustande. Die Seele wirkt so energisch auf die Einbildungszellen, dass von diesen Befehle nach den Bewegungscentren gelangen, obwohl der Verband zwischen den Perceptionszellen und der Seele noch unterbrochen ist. |
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G4 Leib und Seele in Wechselwirkung.
Wenn unsere Seele durch den Willen auf die Zellen der Corpora
striata wirkt, so kann man im Zweifel dariiber sein, ob das eine di- recte Wirkung der Seele ist, oder ob sie erst von der Hirnrinde aus zu Stande kommt. Manche Griinde sclieinen mir dafiir zu sprechen, *C^dass die Seele direct auf die Corpora striata wirkt. Die Exstirpation der Grosshirnhemispharen, wie friiher bemerkt, scheint doch die Tbiere nocb keineswegs aller Willkiir verlustig zu machen. Auch finde ich es nur bei Annahme einer directen Einwirkung erklarlich, dass unser Korper, ohne dass die Seele daran denkt, mit solcher Leichtigkeit seine Bewegungen ausfiihrt. Gehen wir z. B. mit einem Freunde in ernstem Gesprache spazieren, so wird docb unsere Seele von den durch das Gespriich hervorgerufenen Bildern vollstandig erfiillt, und wir konnen uns nicht gut denken, dass von den gleichen Zellen auch noch die auf das Wandeln bezuglichen motorischen Befehle ausgehen sollten. Da- fiir scheint eine besondere Einrichtung zu bestehen, die auf eine nicht naher zu erklarende Weise die Leichtigkeit eines Uhrwerks besitzt, so dass nur ein Anstoss gegeben oder eine Sperrung gehoben zu werden braucht, und die Bewegungen setzen sich dann von selhst fort. An einem anderen Orte (Bau und Functionen der Medulla spina-
lis und oblongata u. s. w. S. 57 fig.) habe ich den Beweis geliefert, dass das Zusammenwirken der Muskeln beim Gehen, die sogenannte Coor- dination, durch die Bewegungszellen des Riickenmarks zu Stande kommt. Unser Wille influirt aber auf diese Zellen von einer holier oben befindlichen Zellengruppe aus, die in den Corpora striata zu lagern scheint, deren kiinstliche Anordnung und Verkniipfung indessen wohl niemals wird ganz deutlich erkannt werden; auf diese Zellen scheint die Seele direct einzuwirken. Die Leichtigkeit, womit wir uns fast un- bewusst bewegen, haben wir aber grossentheils aufRechnung der viel- fach wiederholten Bewegungen zu setzen, wodurch diese fast den Cha- rakter des Spontanen bekommen. Der Musiker spielt ein schweres Musikstiiek, worin cine unendliche Anzahl mit Precision auszufiihren- der Bewegungen vorkommt, aus dem Gedachtniss: er weiss, dass er dabei die Noten wiedergiebt; er ist sich aber nicht im Einzelnen be- wusst, welche Fingerbewegungen er dabei ausfiihrt. Wir ersehen hier- aus, dass die Seele gleichzeitig denken und Befehle zu dieser oder je- ner Bewegung geben kann. Aehnliches sahen wir schon bei dem mit dem Freunde Wandelnden, und es findet sich noch in vielen anderen Fallen. Es kann mir Jemand das Eine oder das Andere dictiren; ich schreibe ganz genau das Gehorte wieder, denke aber gleichzeitig an |
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Leib und Seele in Wechselwirkung. 65
ganz andere Dinge, und weiss dann schliesslich nichts von dem, was
niedergeschrieben worden ist. Wir haben aucb bier wieder einen Be- weis dafiir, dass die dem Denken dienenden Zellen andere sind als jene, denen die Seele Befehle zu Bewegungen ertheilt, und dass bei- derlei Zellen unabhangig von einander wirken. Ob die in Grosse und Gestalt variirenden Zellen der Hirnrinde
fur diese simultanen differenten Thatigkeiten bestimmt sind, oder ob dabei einzelne Windungen eine Rolle spielen, die in besonderer Ver- bindung mit den Corpora striata stehen, wie Fovilie's vierte Ord- nung, muss dahin gestellt bleiben. Wie empfanglich nun aber auch die Zellen der Corpora striata
fur den Eindruck des Willens sind, sie scheinen doch nicht in gleich enger Verbindung mit unserer Seele zu stehen, als die Zellen der Hirn- rinde, die mit Recht als der Apparat fur die hoheren Geistesvermogen gelten. Die Zellen der Corpora striata empfangen zwar den Impuls unseres Willens, unser Ich aber erhalt von ihnen keinerlei Anstoss. Wir fiihlen es auch nicht, wohin der Willensimpuls wirkt, und haben keinerlei Kenntniss vom Bestehen der Corpora striata. Wir erkennen allerdings die nach unserem Willen ausgefuhrten Bewegungen, aber auf anderem Wege, namlicli durch die sensibeln Nerven, und die hier- bei in Wirksamkeit tretenden Zellen sind sicherlich von jenen ver- schieden, welche die Bewegung reguliren. Die Hirnrindezellen sind uns somit die wichtigsten und edelsten,
die mit dem Ich, mit der Seele in genauer Yerbindung und Wechsel- wirkung stehen; sie sind die stoffliche Unterlage des Gedachtnisses, die eigentliche Werkstatte der Seele. Die Seele entnimmt aus ihnen Bilder, die sie nach Willkiir zusammenstellt und ordnet, die sie kraft ibrer hoheren Vermogen der vernunftigen Beurtheilung unterwirft, und aus denen sie die Begriffe entwickelt. Bir Wirken ist aber ein desto lehendigeres, je leichter, je rascher, je regelmassiger die Mate- rialien zum Denken ihr zugefuhrt werden. Bei dieser Wechselwirkung sind nun zwei verschiedene Thatigkei-
ten im Spiele. Einmal haben wir das Walten der Zellen, wodurch uns Bilder, Vorstellungen, Materialien fur's Denken zugefuhrt werden; das ist eine organische unwillkiirliche TMtigkeit, die vom Stande der Le- benskrafte, von dem Erregungs- oder Reizungsgrade der Zellen ab- hangig ist, wobei dann die Qualitat und Quantitat des zu den Zellen gelangenden arteriellen Blutes und die Verschiedenartigkeit der durch die Sinnesorgane auf indirectem Wege ihnen zugefiihrten Eindriicke Schroeder t. d. Kolk, Qeisteakrankhelten. 5
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66 Leib und Seek- in Wechselwirkung.
in Betracht kommt. Zweitens haben wir das Wirken der Seele, welche
jene Eindriicke und Vorstellungen aufnimmt, so dass sie zumBewusst- sein gelangen, mit ihnen arbeitet, sie willkurlich belierrscht und dem hoheren verniinftigen Urtheile unterwirft. Ausserdem ist aber die Seele auch noch vermogend, diese Bilder aus ihren Schatzkammern hervorzuliolen, sie nach Willkiir und Bediirfniss vorzufiihren und so- mit die organischen Krafte der Hirnrindezellen anzuspannen, wodurch Bilder, Vorstellungen, Gefiihle, Neigungen zu Tage treten, alles im Verhaltniss zu den differenten Eindriicken und zur Natur der afficir- ten Zellen. Was die verschiedenartige Wirkung der Gehirnrindezellen anbe-
langt, so wurde oben entwickelt, dass die unter dem Stirnbeine oder yorderhalb der Centralfurcbe gelegenen Windungen mehr den hoheren Geistesvermogen, demVerstande, der Begriffsbildung bestimmt sind*); in den dahinter gelegenen Windungen dagegen bat mehr das Gemiith seinen Sitz und das sittliche Gefuhl, welches auch im Somatischen wurzelt und verhaltuissmassig bei Frauen mehr hervortritt. Auch ha- ben die Zellen in den hinteren Hemispharen, wenigstens an einzelnen Stellen, eine andere Textur und sie scheinen uns keine Bilder und Vor- stellungen zuzufiihren, sondern nur in einer eigenthiimlichen Wahr- nehmung, in einem Gefiihle ihre Wirksamkeit zu aussern, und der Seele einen Anstoss, eine Neigung zu ertheilen, denen aber alles Be- stimmte abgeht. Fast moehte ich sagen, obwohl noch der anatomische Nachweis fehlt, durch die vorderen Hirnlappen werden mehr die pla- stischen Gesichtseindriicke aufgenommen, durch die hinteren Hirn- lappen mehr die Gehors- und Gefuhlswahrnehmungen. Durch die hinteren Zellen empfangt die Seele eine eigenthiimliche Wahrnehmung und Stimmung, unci durch ihr Vorstellungsvermogen giebt sie dieser Wahrnehmung Gestalt und Korper, und zwar mit Hiilfe der vorderen Gehirnlappen. Mit anderen Worten: die vorderen Gehirnlappen ver- halton sich plastisch, verschaffen uns Stoff und Bilder zum Denken, die oberen und hinteren Lappen enthalten Gefuhlszellen und vermit- |
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*) Ich liabe schon weiter ofeen angefuhrt, dass am Gehirne eine? Idioten in
meiner Samralung alle Windungen vorderhalb jener Centralfurche auffallend klein, die dahinter gelegenen aber von gewolmlicher Grosse sind. Bei einem anderen Individuum, das nicht hatte lesen lernen konnen, nur den Sehmiede- hammer fuhren konnte, aber niclit einmal das Feilen und sonstige Arbeit ver- stand, und end'ich in die Utrechter Irrenanstalt kam, fand ich die vorderen Hirn- lappen nouh starker atrophirt. |
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Leib und Seele in Wechselwirkung. . 67
teln eigenthiimliche Eindriieke, die mehr das Gemiith beriihren und zu
den Trieben gehoren. Von dieser verscbiedenartigen Wirkungsweise der verschiedenen
Gehirnlappen babe ich bei einer ziemlichen Anzahl Sectionen mich zu iiberzeugen Gelegenbeit gehabt, wofiir ich noch weiterkin beweisende Falle beibringen werde. Hier geniige die Angabe, dass ich beim eigentlichen Irrsein, in Fallen von Begriffsverwirrung und von Hooh- mutbswahnsinn immer die vorderen Hirnlappen leidend fand, bei Me- lancholischen dagegen und solchen, die sich selbst verdammten, mit oder obne religiose Beimiscbung, die Scheitellappen und die hinteren Lappen erkrankt antraf, und dass im letzteren Falle der Verstand oft- mals keine Spur von Stoning zeigte, insofern die Individuen richtig geurtheilt und scharfsinnig disputirt batten. Die patbologiscbe Af- fection beschrankt sich dann auf die oberen und hinteren Lappen, und an den vorderen zeigt sich nichts Abnormes in Betreff der Farbung, der Festigkeit und des Zusammenhangs mit der pia mater. Bei sol- chen,'die mit finalem Blodsinn geendigt hatten, traf ich die vorderen Lappen niemals intact an; immer waren sie stark mit der pia mater venvachsen, und es liess sich diese nicht ohne Verletzung der grauen Rinde abziehen. Man findet aber auch Atrophie und Entfarbung der Rindenschicht, und dabei ist die pia mater in so lockerem Zusammen- hange mit der Hirnrinde, dass sie dem schwachsten Zuge nachgiebt. Auch fand ich wohl eine Lockerung friiherer Adhasionen und Atrophie der Windungen, welche Veranderungen auch wohl iiber die gesamm- ten Hemispharen ausgebreitet waren. Ohne Zweifel machen sich aber auch noch andere Unterschiede
in den Hirnrindezellen geltend, woraus sich die ungleichen Anlagen erklaren, insofern sich der eine durch seinen Zahlensinn, ein anderer durch seine plastischen Auffassungen auszeichnet. Ich habe bereits oben interessante Falle mitgetheilt, wo diese oder jene Fiihigkeit ver- loren ging oder intact blieb. Wenn ich auch der Phrenelogie in der Form, wie sie von Gall aufgestellt wurde, nicht beistimmen kann, so glaube ich doch, dass wir den Grund der ungleichen geistigen Thatig- keit in einer ungleichen Korperconstitution zu suchen haben, namlich in Verschiedenheiten der Hirnrinde und ihrer Zellen, die mehr oder weniger entwickelt sind und mit Raschheit oder mehr trage reagiren. Es kommen in dieser Beziehung Verschiedenheiten vor, die sich nicht wohl auf andere Weise erklaren lassen. Ich selbst bewahre mitLeich- tigkeit Zahlen im Gedachtniss, und bei einer Riickerinnerung sehe ich 5*
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die Zahl so vor mir, wie ich sie friiher gedruckt oder geschrieben vor
mir gehabt habe; Personennamen dagegen, selbstwohl die Namen von Freunden, entschwinden jeden Augenblick meinem Gedachtniss, und selbst bei Wiedererinnerung muss ich sie rait Anstrengung festhalten, da ich sie sonst schon nach wenigen Augenblicken wieder vergessen baben konnte. Der Grund hiervon kann nur in der Hirnorganisation, in einer Verschiedenartigkcit der Zellen liegen, mit deren Hiilfe uns die hierzu nothigen Eindriicke, Vorstellungen und Bilder erweckt wer- den. Der Apparat fur die geistige Thiitigkeit ist nicbt immer gleich vollkommen in alien seinen Theilen entwickelt, und demgemass varii- ren auch die Anlagen. Wir wissen, dass uns ere Seele die Eindriicke von der Aussenwelt
nicht direct aufniinmt, dass das Licht, derSchall und die anderen Ein- driicke nur auf die Sinnesorgane wirken, welche die empfangenen Ein- driicke den Perceptionszellen libergeben, namlich den Centren, wo die Sinnesnerven entspringon oder endigen, der Seele aber nur dasjenige kundbar wird, was jene Perceptionszellen gemiiss ihrer Verschfeden- artigkeit ihr mittheilen. Die Eindriicke werden durch jene Zellen auch nach der Hirnrinde fortgepflanzt, wo sie zu Bildern und Vorstel- lungen verbunden werden, oder wo sie eine unbestimmte Wahrneh- mung, ein Gefiihl oder einen Trieb hervorrufen. Wir miissen somit zu der Annahme kommen, dass die Verschiedenartigkeit unsererWahr- nehmungen durch die verschiedene Qualitat der Eindriicke bedingt ist, welche durch die Zellen je nach ihrem specifischen Verhalten iiber- mittelt werden. Wie jedes Sinnesorgan seine eigenthiimlichen Per- ceptionszellen hat, durch die uns die Wahrnehmung des Lichts, des Schalls u. s. w. zu Theil wird, so miissen auch die Zellen der Hirnrinde, mit denen die Perceptionszellen iiberall durch Markfasern zusammen- zuhangen scheinen, mit ungleichartiger Energie ausgestattet sein. Sie bringen uns ein Gefiihl, eine Wahrnehmung, wodurch unser Geist in eine freudige oder angstliche Stimmung versetzt werden kann, ein Bild aber verschaffen sie uns nicht, Der Geist kann indessen diese Wahr- nehmung mit Bildern verkniipfen, die er aus der -Phantasie schopft. So bekommen wir durch den Gesicbts- und Tastsinn die Vorstel-
lungen der Form und der Raumerfixllung : bei beiden werden die wahr- genommenen Punkte in der Gehirnrinde zu einem Ganzen vereinigt und in ein Bild verwandelt. Durch das Gehor bekommen wir nicht plastische Vorstellungen, wie durch's Gesicht, sondern nur bildlose Wahrnehmungen; allein die einzelnen Tone miissen in der Gehirnrinde |
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Leib und Seele in Wechselwirkung. 69
wieder zu einem harmonischen Ganzen vereinigt werden, und das ist
mehr ein Gefiihlsprocess, der wohl im oberen und hinteren Theile der Hemisphiire stattfinden diirfte. Beim Geruche und Geschmacke fiih- len wir nur das Angenehme und das Nichtangenehme. Hierzu bedarf es nur niederer Sinnesorgane, die mit der hoheren Intelligenz in einer weniger directen Verkniipfung sich befinden. Durch sie lernen wir nicbt die Qualitat der umgebenden Korper kennen, sondern nur die Art und Weise, wie die letzteren auf unsern Korper einwirken und Ge- fiihle erwecken. Sie erzeugen nach Gratiolet Sentiments, im Gegen- satze zu den Sensations. So werden audi die Zellen, durcb deren Er- regung uns die Wahrnehmung von Hunger und Durst zu Theil wird, nicbt gleichartig mit jenen sein, durch welche wir die Temperatur- unterschiede erkennen; denn die Temperaturwabrnebmungen werden uns nicht einmal durcb die Eingeweidenerven zu Theil, die doch beim Hunger eine so grosse Rolle spielen. Statuiren wir nun Zellen mit der specibschen Eigenthiimlichkeit, die Eindriicke von Hunger und Durst hervorzubringen, so entstehen uns durch diese Zellen keine Bil- der, sondern nur dunkle Gefuhle, wie durch die Zellen der hinteren Hemisphareu. Sie rufen einen Trieb, eine Neigung, eine Wahrneh- mung bervor, wodurcb die Seele auf specifische Weise afficirt und zum Wirken angetrieben wird. Hierin liegt meines Eracbtens der Schllissel zur Erklarung dessen,
was wir Instinct zu nennen pflegen. Es giebt sich bei den Thieren ein bestimmter, bei alien Individuen der namlichen Species iibeinstim- mender Trieb kund, vermoge dessen sie einzelne ftir ibr eigenes Be- stehen oder fur die Nachkommenschaft nothige Handlungen ausfiihren, wobei wir das Kunstmassige und die Zweckmassigkeit, urn nicht zu sagen den Verstand und das Genie, bewundern mussen. Da aber diese Handlungen auf unbewusste Weise und stets auf eine fast iibereinstim- inende Art ausgefiibrt werden, so konnen wir sie nicbt auf Recbnung des Verstandes oder einer Beurtheilung setzen, und wir nennen sie angeborene Neigungen. Diese Thiere befinden sich in Abhangigkeit von ihrem Korper,
von ihrem Nervensysteme, d. h. sie besitzen specifiscb wirkende Zel- len, welche ihrem psychischen Principe einen bestimmten Eindruck ertheilen, vermoge dessen das Tbier zu dieser oder jener Handlung angespornt wird. Wir haben ja ebenfalls verschiedene Triebe, nicht nur den Hunger und den Durst, sondern auch den Geschlechtstrieb und andere Neigungen, deren Quelle zuverlassig im Korper selbst |
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70 Leib und Seele in Weehselwirkung.
liegt. Verlieren Eunuchen den Geschlechtstrieb, danii werden die Zellen,
wodurch jenerTrieb zur Perception der Seele gelangt,nicht mehrwirksam sein; unentschieden lasse ich es aber, ob sie ganz und gar verloren ge- hen, oder doch noch andere Eindriicke aufzunehmen im Stande sind. Auch konnen bei Thiereu Nervenzellen vorkommen, die mit Wir-
kungsweisen ausgestattet sind, deren Analogon in unserem Korper sich niclit findet. So beobachten wir bei vielen Thiereu, z. B. bei Zug- vogeln, die ihren Weg obue Compass kinwarts und herwarts zuriick- legen, Eigenschaften, von denen wir uns keine Vorstellung machen konnen. In soldier Weise haben wir es uns auch zu erklaren, dass die Spinne ihr Gewebe aufzieht, die Biene ihre Honigwabe, der Vogel sein Nest baut. Es erhellt aus der vorstehenden Entwickelung, dass bei unseren
geistigen Thatigkeiten ein unwillkiirliches Wirken des Korpers (die organische Function der Gehirnzellen mit inbegriffen) und das willkiir- liche Wirken der Seele zusammeutreffen, in und auf einander wirken, wodurch Tollstandige Gedanken und Begriffe zu Stande gebracht wer- den. Die Seele ist der Telegraphist, der Leib das Telegraphenbiireau. Wenn der Leib sich starker vernehmen liisst, d. h. wenn die Zellen der Seele sehr lebhafte Eindriicke zuschicken, dann bekommt das Unwill- kiirliche leicht die Oberhand: so in der Trunkenheit, im Delirium, im Wabnsinn. Bleibt die Seele Meister, so regelt sie vermbge ihres Ur- theils die Verkniipfung der verschiedenen Eindriicke: die Bilder und Vorstellungen, die sie beherrscht, werden zu Begriffen umgewandelt, und durch das Vorstellungsvermogen kann sie etwa einBildwerk, durch das erweckte Gefiihl ein Adagio oder eine Elegie zu Stande bringen. Je nach der Stinimung des Instruments iiberlassen wir uns mehr Ver- standesoperationen oder Gefiihlsschwellungen. Wenn aber diese Weeh- selwirkung zwischen Leib und Seele sich schon beim ruhigeu Walten des Verstandes und Gemuthes kund giebt, so tritt sie noch weit ent- schiedener in den Leidenschaften zu Tage. Erfahrt Jeman'd durch ein krankendes Wort oder durch irgend
eine Handlung eines Dritten eine Beleidigung, so vermag er die Fol- gen dieses Insults im ersten Augenblicke noch durch festen Willen zu unterdriicken, zumal wenn er friih sich an Selbstbeherrschung gewohnte: er fuhlt den Insult, sein Nervensystem wird afficirt. er bleibt aber ru- hig und beherrscht sich selbst, wenngleich nur mit einer gewissen An- strengung. Trifft ihn dagegen die Sache ganz unversehens und un- vorbereitet, so reagirt seine heftig beriihrte Seele energisch auf das |
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Leib und Seele in Wechselwirkung. 71
Gehirn und dadurch auf das ganze Nervensystem, und wegen des di-
recten Zusammenhanges des letztern mit der Circulation und mit den iibrigen Verrichtungen des organischen und animalen Lebens, wird der Gesammtorganismus in eine aufriihrerische Bewegung versetzt, als de- ren nachste Folgen starkes Herzklopfen und Congestion nach dem Kopfe auftreten. Auf die letztgenannten Wirkungen, die unter dem Einflusse des
Sympathicus stehen, iibt unser Wille keine Macht; ist der Sturm ein- mal losgebrochen, so ist es fast unmoglich, ihn durch die Kraft des Willens zu berubigen. Die Gehirnzellen, welcbe schon durch den ersten Insult und durch die seelische Reaction auf das Gehirn erregt waren, werden jetzt durch die secundare Steigerung der Circulation noch mehr gereizt, die Bilder und Vorstellungen jagen an der Seele voriiber, und der in Wuth Versetzte kann nicht schnell genug dem empfangenen Eindrucke durch heftigeWorte einen Ausdruck verleihen. Die durch solchen Sturm und durch die beschleunigte Circulation ge- spannten Krafte des Gehirns wirken wiederum unwillkiirlich auf die Seele und drangen sie zu unbedacfiten Handlungen. Schwache Ein- drucke finden keinen Eingang mehr, der Wiithende hort und sieht beinahe Nichts, ausser dem Gegenstande seiner Wuth, ein ruhiges Nackdenken ist ihm jetzt unmoglich. Durch die Heftigkeit derLeiden- scbaft fortgerissen, vermag er diese in der unbandigen Wuth nicht mehr zu bemeistern. Die Folgen des ersten Insults, die Erregung des Nerven- und Gefasssystems horen nach Beseitigung der veranlassen- den Ursache keineswegs auf, gleichwie auch die Wogen der stiirmi- schen See mit dem Auf horen des Sturms noch nicht zur Ruhe kommen. Die gesteigerte Thatigkeit des Gehirns reagirt wieder auf den
Gesammtorganismus, und dadurch giebt sich die enge Verkniipfung zwischen Leib und Seele auf entscbiedene Weise kund. Der das Ge- hirn treffende Insult wirkt zunachst niachtig auf das Riickenmark ein, und von hier aus nicht allein auf das der Willensherrschaft entzogene Nervensystem, so dass Herzklopfen eutsteht, sondern auch auf die willkiirlichen Muskeln, die fur gewohnlich unter der Herrschaft von Gehirn und Riickenmark stehen. So kommt es zu nachhaltigen hef- tigen Bewegungen des Korpers. Der Wiithende kann nicht stillstehen, er schlagt mit den Handen, selbst gegen schuldlose Gegenstande, und stampft mit den Fiissen; seine Gesichtsmuskeln befinden sich in einer krampfhaften Contraction, das Auge glanzt und starrt zuerst fast un- beweglich unter den stark gerunzelten Augenbrauen. Diese heftigen |
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72 Leib und Seele in Wechselwirkung.
Muskelwirkungen oder Korperbewegungen steigern ihrerseits die Fre-
quenz und Energie des Pulses, und das wirkt secundar wieder auf die schon erhohte Energie der Gebimthatigkeit. Ein Nachlass kann erst dann wieder eintreten, weim die unwillkiirlichen Reaetionen des Organismus zum Schweigeu gebracbt worden sind. Darauf griindet sicb der Rath, man solle dem Zornigen einen Stuhl anbieten und ihn zum Sitzen nothigen. Gelingt dies, so mindern sich die Raschheit und Energie der Circulation, welche durch die Korperbewegungen unter- balten wurden, der Korper wird ruhig, das ungestiime Walten des Gehirns lasst nacb, in der Seele kehrt die verniinftige und ruhige Stimmung zuriick und sie beherrscht wieder ibr Reich. Hieraus ergiebt sich von selbst, wie viel darauf ankommt, dass
man einem wiithenden Tobsiichtigen nicht voile Freiheit der Bewe- gung gestattet, wie es viele Aerzte verlangen, namentlich die Verthei- diger des No-restraint-Systems. Ein solcher Ungliicklicher muss sich nach ihrer Ansicht gleichsam austoben, man soil desbalb seine Bewe- gungen nicht beschranken, sondern dieselben nur moglichst unschad- lich machen, was nothigenfalls durch den Verschluss in einer sichern- den Zelle erreicht werden soil. Icb babe mich dieser Ansicht nicht anschliessen konueu. Immer habe ich guten Erfolg davon geseben, wenn ein Tobsiichtiger in einen zweckmassigen Zwangsstuhl gebracht wird. Einen solchen habe ich in alien niederlandischen Anstalten eingefiihrt; er ist bequem fiir den Kranken, entzieht ihm alle Stiitz- punkte und erspart die Miihe, ihn durch feste Binden zuruckzuhalten und in eine Zelle zu bringen. Da der Korper in bequemer Lage in Ruhe verharrt, so beruhigt sich die Circulation, die inneren Mittel zur Massigung der Hirnreizung wirken rascher und kraftiger, und der Anfall wird erheblich abgekiirzt. Daher begegnet man auch in der Utrechter Anstalt nur selten einem Tobsiichtigen, weil es durch dieses Mittel fast immer gelingt, den Sturm zu beschwichtigen. § 13.
Einfluss des Leibes auf die Seele. Nachdem die eigenthiimlichen und specifischen Functionen der
verschiedenen Ganglienzellen, namentlich auch in der Hirnrinde, so wie ihr Zusammenhang und die Wechselwirkung mit der Seele be- |
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Einfluss des Leibes auf die Seele. 73
sprochen worden sind, muss es wiinschenswerth erscheinen, den so-
matischen Drsachen nachzuforschen, wodurch diese Zellen erregt und in erhohte Thatigkeit versetzt werden konnen, und die hierdurcli einen so gewiclitigen Einfluss auf unsere Geisteskrafte iiben. Unter diesen ursachlicken Momenten muss dem Blute jedenfalls
die erste Stelle eingeriiumt werden. Seine mehr oder weniger aus- gesprochene arterielle Beschaffenheit, die etwaige Beimischung frem- der Gemengtheile, die Raschheit seiner Bewegung, die Anfullung der Hirngefasse, das sind eben so viele bedeutsame Punkte. Kein Theil unseres Leibes vermag seine Wirksamkeit zu aussern,
wenn nieht arterielles Blut zu ihm gelangt, und man darf dieses daher wohl als eine Lebensfliissigkeit bezeichnen. Bekanntlicb ist aber auch kein anderer Theil so empfindlich for die geringstenModificatio- nen der Blutbesehaffenbeit, als das Nervensystem, besonders aber das Gehirn. In den Lungen, in der Leber flndet sich normal das venose Blut in grosser Menge, und es kann sich auch sonst ohne Nachtheil reichlich darin anhaufen; die Anwesenheit venosen Blutes in den Ge- hirnarterien kann aber schon binnen wenigen Minuten einen todtlichen Stickfluss herbeifuhren, was auf unwiderlegbare Weise aus den Expe- rimenten von Bichat (Sur la vie et la mort. 4. Ed. Par. 1822. p. 360) zu entnehmen ist, die stets 'als Muster physiologischer Versuche gel- ten werden. Daftir spricht auch die eigenthumlicbe Einrichtung des fotalen Kreislaufs, wo das mehr arterielle Blut vorzugsweise zu Ge- hirn und Riickenmark stromt, und erst nach Beginn der Lungenath- mung der Gesammtkorper rein arterielles Blut erhalt. Damit steht es wieder im Zusammenhange, dass die graue Sub-
stanz des Gehirns im Allgemeinen, besonders aber die Hirnrinde so reich an Capillaren ist. namentlich wenn man den Capillarreichthum derMarksubstanz damit vergleicht (E. H. Ekker, Onderzoelcingen over het haarvatenstelsel van hersencn en ruggemerg in: Nederl. Lane. 1852. p. 329). Wir diirfen aus dieser reichen Zufuhr arteriellen Blutes zur Hirn-
rinde den Schluss ziehen. dass die Rindezellen in lebhafter Wechsel- wirkung mit demselben stehen miissen, wobei ausserdem auch noch in Betracht kommt, dass die aus der pia mater in die graue Schicht ein- tretenden Arterien einen sehr kurzen Verlauf haben und meistens nicht bis zur tieferen Marksubstanz reichen, was ebenfalls eine rasche Erneuerung des Bluts zur Folge haben muss. Es sind diese Gehirn- theile aber auch sehr empfindlich, wenn dem Blute nur irgend etwas |
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74 Einfluss des Leibes auf die Seele.
Fremdartiges beigemengt ist. In einem menschenerfiillten Raume, in
dessen Luft der Chemiker kaum Differenzen der proportionalen Zu- sammensetzung auf fin den konnte, und deren grosserer Kohlensaure- gehalt bei sonstiger Reinheit noch keinen Schaden bringen wiirde, sehen wir, zumal bei sensibeln Frauen, Ohnmachten, Krampfe und an- dere Erscheinungen auftreten, und zwar deshalb, weil in der exspirir- ten Luft thierische, dem Organismus nachtheilige Stoffe enthalten sind, die von Neuem eingeatlimet werden und sich deni Blute beimen- gen. Ich will ferner nur an die Wirkungen geringer Mengen Chloro- formdunstes erinnern, oder an die rasch tbdtlichen Folgen der Ein- athmung concentrirter Blausaure, oder auch an die schadlichen Diifte vieler Blumen, die leiclit Kopfschmer,zen und andere Gehirnerschei- nungen hervorrufen. Welche geringe Mengen sind hierbei im Spiele, die dann noch erst init dem grosseren Theile des Bluts gemengt wer- den und in solcher Verdiinnung auf das Gehirn wirken. Da die Lebensausserungen der Hirnrinde an die Einwirkung ar-
teriellen Blutes gekniipft sind, so erkliirt es sich auch, warum durch stjirkere Blutzufulir eine allgemeine Erregung und Steigerung der dort wirkenden Hirnkrafte hervorgerufen wird. Es handelt sich nicht urn besondere Eindriicke oder Perceptionen, sondern durch den ver- mehrten Stoffwechsel und die Erregung der Hirnrindezellen werden die Vorstellungen und Bilder, welche der Seele entgegentreten, leben- diger, und die Antworten auf die von der Seele gestellten Fragen er- folgeu rascher, das heisst die Sprache ist eine raschere, die Gedankeu entwickeln sich leicht und schnell, und man braucht nicht erst lange nach einem Worte oder Bilde fiir seine Rede zu suchen. Bei solcher Erregung der Hirnrinde nimmt alles einen raschen Verlauf, der ganze Korper betheiligt sich daran und der Sprechende findet kein Ende. Schon durch eine kurzdauernde raschere Zufuhr arteriellen Bluts
wird die Hirnrinde afficirt. Ich sprach schon weiter oben davon, dass Jemand, der schnell gelaufen ist und mit keuchendem Athem ankomnrt, nicht auf der Stelle tiefgehende Fragen, welche ein ruhiges Nachden- ken erfordern, zu beantworten vermag. Aehnliches beobachten wir, wenn die Circulation durch andere Reize, z. B. durch Wein, erregt wird, wo dann noch die directe Reizung durch den Alkohol hinzu- kommt. Rasch wird der Geist erweckt, die Phantasie wird lebendi- ger, grosse und erhabene Bilder treten hervor und die Verse fliessen dem Dichter. Nimmt es aber zu, dann bekommt auch bald das Un- willkiirliche im Walten des Geistes die Oberhand, die Bilder und Vor- |
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stellungen folgen einander rascher und ohne Ordnung, so dass der
Verstand sie nicht fassen, die Seele sie nicht beherrschen kann, die Sprache und der Gedaukengang verlieren den Zusammenhang und das Regelrechte, und durch die geringste Veranlassung konnen die heftigsten Leidenschaften zum Ausbruche kommen. Aehnliches beobachten wir im Fieber. Zuerst, wenn der Puis
schneller wird, zeigt der Kranke sich unruhig, so dass er nicht still liegen kann. Nimmt dann die Reizung des Gebirns zu, so werden die Bilder und Vorstellungeri so lebhaft, dass er sie von realen Bildern nicht mehr zu unterscheiden vermag, und er delirirt. Auch hier ha- ben wir es nur mit einer erhbhten Wirkung der Hirnrindezellen zu thun. Aus dem eigenthiimlichen Verlaufe der Arterien im Gehirne wird
die beschleunigte Circulation, namentlich in der Hirnrinde, begreiflich. Die Carotis cerebralis zerfallt nach dem Eintritte in die Schiidelhohle alsbald in mehrere grossere Aeste. Als Fortsetzung des Stammes haben wir die Art. fossae Sylvii, die sich in der pia mater auf den Hirnwindungen und namentlich auf jenen des vorderen Hirnlappens ausbreitet; von ihr empfangt die Hirnrinde den ersten Impuls. Die tieferen Gefiisse, z. B. fiir die Corpora striata, kommen nicht von den Gefassstammen selbst, sondern es sind kleinere Aeste aus dem Ra- mus communicans Willisii. Da nun der Hauptast nach vielfacher Theilung in der pia mater in der Hirnrinde sich verbreitet, so wirkt auch eiii stitrkerer Blutandrang zunachst auf diese. Deshalb sind Personen, die an activer Hypertrophic des Herzens rait Erweiterung der Carotiden leiden, und bei denen mehr Blut nach dem Gehirne stromt, meistens sehr reizbar, und kommen leicht in Aufwallung. Auch erwahnt Friedreich eine Beobachtung Parry's, der durch Druck auf die Carotiden eines Tobsiichtigen den Wuthanfall zu besanftigen und zuriickzuhalten im Stande war. Hierher gehort auch die Beobachtung, dass rhachitische Kinder
meistens einen grossen Kopf haben und rasches Auffassungsvermogen besitzen, da bei ihnen nach dem Zeugniss von Haller (Elementa phys. IV. p. 402) die Blutgefasse fiir den Kopf durch grosseren Umfang sich auszeichnen. Eine bckannte Sache ist es, dass schiefe, bucklige Individuen, bei
denen das Blut rascher und kraftiger zum Gehirne stromt, durch Lebhaftigkeit des Geistes sich hervorzuthun pflegen. Personen mit langem Halse sind meistens ruhiger und langsamer, solche mit kurzem |
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Halse lebendiger, unruhiger und mehr leidenschaftlioh, was aber auch
wieder seine Ausnahmen hat. Hierher gehort auch der Einfluss von Luft und Klima auf das
Hirnleben. Bergbewohner, die eine reinere Luft athmen, sind lebhaf- ter, rascher und muthiger, und bei den in feuchter nebliger Luft Wohnenden begegnet man weit mehr einer Tragheit und einem nicht aufgeweckten Wesen. Diese verschiedene Einwirkung auf den Geist erfahren wir auch wohl an uns selbst. Damit stimmt auch die Beobachtung, dass Selbstmord so haufig
in die nebelige Jahreszeit fallt, weil dann der gedriickte Zustand des Geistes nur noch mehr zunimmt. Villeneuve berichtet, dass von den zehn Selbstmorden, die in einem Pariser Stadtviertel innerhalb zweier Jahre vorkamen, neun auf regnerisches und nebeliges Wetter Helen. Umgekehrt wirkt ein nicbt hinreichend arterialisirtes Blut depri-
mirend und betjiubend, es entsteht davon Abspannung und Schlafrig- keit. Asthmatische sind in der Kegel furchtsam und kleinmiithig; einer breiten, geraumigen Brust dagegen entspricht Kraft des Leibes und der Seele. Skorbutische und Chlorotische, die ein wasseriges Blut haben, sind auch meistens verdiiesslich und kleinmiithig (Bur- dach, Baa des Gehirns. III. S. 115), und mit der Gelbsucht, wo das Blut mit fremden Beimengungen erfiillt ist, verbindet sich immer gei- stige Abspannung, Verdriesslichkeit, Missmuth. Wenn venose Con- gestion vorhanden ist, das Blut trage bewegt wird und sich langer im Kopfe anhauft, wie so haufig bei Plethora abdominalis, wo die venose Congestion zum Kopfe durch Reflex zu Stande kommt, so beobachtet man meistens eine gedriickte Stiinmung, Neigung zu Melancholie und Angstgefiihle. Erfahrt der Riickfluss des Blutes aus demGehirne eine Stoning, z. B. bei Pericarditis, wo auch die Zufuhr des Blutes ge- sehwacht ist, dann erreicht das Angstgefiihl manchmal einen unbe- schreiblich hohen Grad. Eine gedriickte Stiinmung und ein Angst- gefiihl nach Korperbewegungen gewahren wir auch bei Jenen, die in Folge eines Herzfehlers an Morbus coenileus leiden. Da die Rinden- substanz mit ihren Zellen der unausgesetzten Durchrieselung eines arteriellen Blutes bedarf, bei gestortem Abflusse und venoser Con- gestion aber das Blut langsamer durchstromt, auch in Folge der schwachen Erregung durch arterielles Blut der Stoffwechsel darnieder liegt, so erkltirt sich wohl das eigenthiimliche Angstgefiihl, das auch |
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beim Asthma vorkommt und bei vielen Melancholikern eine bedeutende
Rolle spielt.
In alien dieson Fallen hat man den Grand der wechselnden Seelen-
stimmung in eiuer ungleichen Erregung der Hirnrindezellen zu su- chen, worein diese durch verschiedenartige Blutreize versetzt werden. Dei- Einfluss des Leibes auf die Seele beschrankt sich indessen nicht auf die directe Einwirkung des Brutes auf die Hirnrindezellen; auch entferntere Theile und namentlich der Sympathicus greifen dabei mit ein. Bekanntlich begleitet der Sympathicus die Gefasse der Scha- delhbhle, und sein Einfluss auf diese Gefasse hat sich deutlich bei Versuchen herausgestellt, die auf meinen Wunsch von Professor Bon- ders und von Br. Callenfels (Over den invloed der vaatzenuwen op den bloedsomloop etc. Utrecht, 1855. p. 67) ausgefuhrt worden sind. Ich habe es selbst bei diesen Versuchen beobachtet, dass auf Reizung des Sympathicus und seines Ganglion cervicale zunachst eine Ver- engerung der Gefasse in der pia mater eintrat, der aber alsbald eine entschiedene Erweiterung folgte, so dass die Gefasse zwei- bis drei- mal dicker waren, als wahrend der vorausgehenden Reizung, aber nur auf jener der Reizung entsprechenden Seite. Nachdem das Ganglion ausgeschnitten worden war, wurde ein Reiz am Sympathicus der ande- ren Seite applicirt, und nun trat auch in der anderen Hemisphare zu- erst Verengerung ein, der dann Erweiterung nachfolgte. Schon friiher hatte Brachet (Bccherches experimentales sur le
systeme ganglionaire. Par. 1830. p. 368) gefunden, als er einem Hunde das Ganglion cervicale superius durchschnitten hatte, dass das Gehirn auf der operirten Seite starker injicirt war und dass Somnolenz ein- trat. Callenfels, der an Kaninchen experimentirte, konnte diese Angaben nicht bestatigen. Man hat aber zu bedenken, dass beim Hunde der Sympathicus und Vagus genau mit einander vereinigt sind und also wohl auch der Vagus mit durchschnitten wurde, wo dann das Athmen gestort sein musste, und dass hierdurch ein soporoser Zustand entstehen konnte. Eine analoge Beobachtung finde ich aus der Erfahrung von Roux
{Schmidt's Jahrbb. 1856. No. 7. S. 19) verzeichnet. Roux operirte bei einem Kutscher eine grosse carcinomatose Geschwulst am Halse, wobei die Carotis dextra zweimal unterbunden werden musste, und der Vagus nebst dem Halstheile des Sympathicus durchschnitten wur- den (!!). Bie Stimme wurde heiser und es stellten sich Hustenanfalle ein. Bei der Section zeigte sich die Convexitat der rechten Hemi- |
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sphare, also der operirten Seite, blutreicher, als die der linken. Das
steht aber aucb ganz im Einklange mit unserem Wissen iiber die va- somotorischen Nerven. Sind diese geliilimt, so erweitern sich die be- treffenden Gefasse, und die Hirngefiisse konnten wohl hierin keine Ausnahme machen. Schwieriger fallt es festzustellen, wie entferntere Organe, z. B.
die Baucheingeweide, mittelst des Sympathicus auf das Gebirn wirken konnen. Wir gewahren aber diesen Einfluss recht lebhaft nach jeder Indigestion. Schon nach jeder Mahlzeit sind wir zu geistiger Arbeit weniger aufgelegt. 1st die Verdauung wirklich gestort, feblt es an Appetit, dann fiihlen wir uns trage, abgespannt und gedriickt; in noch hoherem Grade tritt dies aber bei tragem Stuhle und sogenannter Verstopfung ein, wobei, wie ich spater zeigen werde, Stricturen des Dickdarms zu Grunde liegen. Der Geist ist dann ganz niedergeschla- gen und es tritt ein mehr oder weniger heftiges Angstgefiihl auf, von dem die Kranken sicb keine Bechenschaft zu geben vermogen, und wodurch sie in der Begel zu allerlei Anklagen gegen sicb selbst ver- anlasst werden. Zur Aufkliirung dieses Verhaltnisses will ich vorerst den umge-
kehrten Weg einschlagen und zu ermitteln suchen, wie eine gedriickte Gemiithsstimmung auf den Korper wirken kann. Bekanntlicb haben wir bei Traurigkeit und Seelenschmerz ein
Gefiihl von Mattigkeit und Gedriicktheit, die Bewegungen erfolgen mit Tragbeit und miihsam, wir haben eine Schwere in den Gliedern, die Digestion leidet, der Puis ist verlangsamt, zwischendurch aber su- cben wir uns durch Seufzen und tiefes Einathmen einige Erleichterung zu verschaffen. Das Blut stromt weniger leicht durch die Lungen. Dazu gesellt sich ein eigenes druckendes Gefiihl in der Herzgrube, das zumal bei Gewissensbissen stark hervortritt und sich zur Angst steigert. Das Blut wird bei der triigen Circulation nicht gehorig im Gehirne erneuert, das Gehirn aber wird bei dem tragen Ersatze des arteriellen Blutes nicht in der erforderlichen "Weise gereizt, wie dies bereits von Nasse (Untersuchungen zur Physiologie und Patliologie. I. S. 348) angegeben worden ist. Stellen sich nun aus anderen Ursachen, die auf die Unterleibs-
nerven wirken, dergleichen Anfalle eines driickenden Gefiihls in den Pracordien ein, etwa bei krampfhafter Zusammenschniirung des Ma- gens oder noch mehr des Colon, womit sich allgemeine secundare Storungen der Circulation verkniipfen, so dass Hiinde und Fiisse kalt |
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sind, tier Kopf aber unci namentlich der Scheitel heiss erscheinen,
dann stellt sich ebenfalls einGefiihl von Angst und Gedriicktheit ein, wie bei Betriibniss, Schmerz und Gewissensbissen. Nur fehlt in einem solchen Falle die iiussere Veranlassung. Ein soldier Patient wird dann, je nach seiner Gemiithsstirnmung, die Sache auf verschiedene Weise zu erklaren sucben, meistens aber verfallt er auf Eingriffe in sein gemiithliches Leben und auf Selbstanklagen. Dabei besteht in- dess der sehr wesentliche Unterschied, dass Jemand, der durch einen Unfall odor durch andere iiussere Ursachen niedergedriickt ist, sicb wohl Trost und Muth zusprechen lasst, dass aber diese Mittel hier nicht anschlagen, da ja die materiellen Ursachen, welche die qualende Angst und Unrulie herbeifiihren, durch Vernunftgriinde sich nicht fort- schaffen lassen: ein Umstand, auf den man meistens zu wenig achtet. Wie also Traurigkeit und Schmerz auf die Eingeweide einwirken und in diesen eigenthiimliche Storungen hervorrufen, so erzeugen hin- wieder analoge Affectionen der Eingeweide und des Sympathicus re- flectorisch ein diisteres, unhestimmt niederdriickendes Gefiihl im Ge- birne, Niedergescblagenheit des Geistes, Melancholic Indessen fiihrt die pathologische Affection des Sympathicus nicht
immer zur Melancholie; es konnen auch lebhafte Eindriicke, Phan- tasmen und Hallucinationen aus dieser Quelle hervorgehen. Einen interessanten Beleg dafiir verdanken wir dem berlihmten Larrey. Ein Soldat war in den Unterleib geschossen worden und hatte rech- terseits eine Fisteloffniing behalten, die zwei Finger breit vom hervor- ragendsten Punkte der falschen Rippen anfing und schief nach innen und links verlief. Eine Sonde nahm in der Fistel die Richtung gegen den Quergrimmdarm und die vordere Magenfliiche, und die Beriih- rung dieser tieferen Theilc durch die Sonde rief auf der Stelle ganz ungewohnliche Nervenzufiille hervor. Zunachst entstand ein Gefiihl von Kalte und von driickendem Schmerze; dann folgte eine krampf- liafte Contraction des ganzen Unterleibes und ein Reckon der Glied- maassen; hierauf verfiel der Mann in ein verwirrtes Geschwatz, in eine Art Somnambulismus, und dieses Stadium konnte man nach Will- kiir verlangern, wenn man an sein Rasonnement ankniipfte; nach 25 bis 30 Minuten horten diese Zufalle endlicb auf, und der Kranke be- kam wieder eine Art Heimweh und eine hypochondrische Gemiiths- stimmung, die seit der Verwundung sich seiner ohne Nachlass be- machtigt hatten. Die Kugel, meint Larrey, hatte wahrscheinlich, in ein Stiick des Hemdes eingehiillt, an den Bauchwandungen einen star- |
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ken Widerstand gefunden, war dann durch die diinnen Blatter des
Netzes vorgedrungen und hatte den darunter gelegenen Quergrimm- darro mit Heftigkeit getroffen, so dass dessen innere Gefasshaut zer- riss; denn alsbald nach dem Auftreten der ersten Entziindungszufalle hatte sich eine starke Darmblutung eingestellt. Ausserdem hatte die Kugel eine Erschiitterung des Ganglion cocliacum veranlasst, von des- sen Hyperiisthesie Larrey mit Recht die Hypochondrie und die an- deren Nervenerscheinungen herleitet. Der directe Einfluss des Sym- pathies auf den Eintritt der Gehirnerscheinungen ist in diesem Falle wohl deutlich genug. Die Wirkung des Sympathicus vom Colon aus, welches, wie ich
weiterhin zeigen werde, zur reflectorischen Wirkung aufs Gehirn be- sondere Disposition zeigt, habe ich einmal an mir selbst wahrzuneh- men Gelegenheit gehabt. In Folge starker geistiger Anspannung und angestrengten Arbeitens, wozu noch eine Erkaltung kam, wurde ich von einer Febris continua remittens befallen, nachdem ich, ganz gegen meine Gewohnheit, einige Tage hindurch an tragem Stuhle mit dem Gefiihle eines Vollseins des Unterleibes gelitten hatte. Mein Arzt befiirchtete die Entwickelung einer Febris nervosa, und widersetzte sich deshalb der Anwendung von leichten Abfiihrmitteln und Klysti- ren, die ich zu erhalten wiinschte. Nach einer zweitagigen Andauer des Fiebers stellten sich Hallucinationen und Phantasmen bei mir ein: bei geschlossenen Augen sah ich immer eine Menge Leute um mich, und dabei hatte ich doch voiles Bewusstsein, da ich uberzeugt war, es seien nur Hallucinationen. Drei Tage und drei Nachte hielten diese Erscheinungen mit fortschreitender Steigerung an. Im Schlafe triiumte ich fortwahrend, und nach dem Erwachen brauchte ich nur die Augen zu schliessen, so sah ich diePersonen, die immerfort wech- selten. Endlich erhielt ich ein Klystir, wodurch eine grosse Masse bochst fotider Stoffe entleert wurde, und im Augenblick verschwanden alle Erscheinungen, so dass ich mich hergestellt fiihlte. Am anderen Morgen wiederholte sich zwar die Scene, wenn audi in einem leichte- ren Grade; nach einer zweiten Entleerung gleich bescbaffener Massen verschwanden aber auch wieder augenblicklich alle Erscheinungen, ich fiihlte mich ganz wohl und blieb es auch*). |
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*) Merkwiirdig war hierbei noch Folgendes. Wegen der Fieberhitze machte
ich kalte Ueberschlage auf den Kopf, und diese hatten alsbald die Wirkung, dass die mich umgebenden Personen und ihre Kleider erblassten, ihre Be- |
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Die Veranderung trat so plotzlich und so vollstandig ein, dass
ich in vollem Rechte zu sein glaube, wenn ich eine directeEinwirkung der schadlichen Massen auf die gereizten Nerven des Colon und von hier aus auf das Gehirn annehme, welches in Folge der vorausgegan- genen Anstrengung und unter dem Einflusse des Fiebers sich in star- kerer Erregung befand. Da ich alsogleich nach der Entfernung der Kothmasscn das Gefiihl der Genesung hatte und mich als ganz ande- rer Mensch fiihlte, auch nicht wohl anzunehmen ist, dass eine durch erhohte Temperatur erzeugte Gehirncongestion so im Nu aufhort, so diirfte es wohl gerechtfertigt erscheinen, wenn ich dem SympatJiicus neben seiner Einwirkung auf die Circulation im Gehirne auch noch einen directen Einfluss aufs Gehirn durch Reflex zuschreibe. Ich will diesen wichtigen Gegenstand durch einige andere Falle
noch mehr zu erlautern versuchen. Wenn bei mir die Gehirnreizung, die wahrscheinlich hauptsachlich die vorderen Gehirnlappen traf, sich in der Form der Hallucinationen kundgab, so kann die namliche sympathische Wirkung bei einem anderen Naturell sich in der Form der Melancholie aussern, sobald mehr die oberen und hinteren Gehirn- lappen ergriffen sind. Mehr denn einmal habe ich beobachtet, dass nach der Entleerung harter in Verderbniss iibergegangener oder auch breiartiger stinkender Massen rasch eine vollstandige Hebung der Me- lancholie eintrat. Ich wahle folgende Falle. Ein wissenschaftlich gebildeter Mann hatte sich nach einem schwe-
ren Nervenfieber zu bald mit anstrengender Arbeit ubernommen, und bei seiner sitzenden Lebensweise verfiel er in eine schwere Melan- cholie, welche der zwei Jahre lang fortgesetzten arztlichenBehandlung Trotz bot. Er war nicht im Stande, seine Gedanken auf andere Ge- |
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wegungen aber langsamer wurden; denn es umgaukelte mich dasBild einerLand-
sehaft, mit einer Menge Menschen erfiillt, und zuletzt glaubte ich nur noch mattgraue und weisse Standbilder um mich zu sehen. Da ich vollkommenes Bewuestsein hatte, wiederholte ich diese Beobachtung mehrmals mit dem nam- lichen Erfolge. Mit dem Aussetzen der kalten Ueberschlage kehrten die Bewe- gungen und Farben der Bilder wieder. Ich anderte auch den Versuch ein Paar Male dahin ab, dass ich die Ueberschlage nur auf der rechten oder auf der lin- ken Kopfhalfte applicirte: es erblassten dann die Personen auf der den Fomenta- tionen entsprechenden Seite, und die andere Hiilfte der Bildergruppe behielt die friihere Lebhaftigkeit. Noch nach vielen Jahren ist mir die Sache lebhaft in der Eriiuieiung, denn der Merkwurdigkeit halber hatte ich sie alsbald nach meiner Herstellung mit vielen Einzelnheitcn niedergeschrieben. Schrooder v. d. Kolk, Geisteskraiikbeiten. '>
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genstande zu richten und katte das Gedachtniss verloren; sein Arzt
hielt daher das Leiden fur ein unheilbares. Da der Mann iiber alle anderen Dinge noch ganz verniinftig sprach, so hatte ich noch einige Hoflhung, es moge sich doch nur urn ein sympathisches Hirnleiden ohne bereits eingetretene Degenerationen handeln. Er ging nacb Pyrmont, trank dort das Wasser einer stark salzhaltigen, damals nocb wenig bekannten Quelle und genas in kurzer Zeit vollkommen. Nach seiner Zuriickkunft erzahlte er mir, er habe, nachdem er das Wasser ein Paar Tage getrunken und dabei taglich zu Pferde gesessen hatte, einen heftigen Schmerz in der linken Seite mit Drange zum Stuhle bekommen, der Stubl aber sei so schmerzhaft gewesen, dass er hatte aufschreien miissen. Dabei entleerte er sehr verhartete Massen. Auf der Stelle aber war seine Melancholie ganz und gar verschwunden; er fiihlte sich als ein ganz anderer Mensch und wurde wieder ganz belebt und theilnehmend. Spater wieder insLehramt eintretend, ver- sah er dasselbe ganz unbeschwert und ohne Kopfleiden, ja selbst noch leichter als friiherhin. Sein Geist hatte durch diese mehr denn zweijahrige Depression der Denkthatigkeit nicht gelitten. Seitdem sind acht Jahre verflossen, und er erfreute sich fortwiikrend einer un- gestorten Gesundheit; nur ist er vielleicht zwischendurch zu lebhaft und aufgeregt. Wie die Nerven voin Uterus aus wirken konnen, das sehen wir
ganz deutlich bei Hysterischen. Unter anderen ist mir ein recht ent- schiedener Fall der Art bei einer zarten sensibeln Frau vorgekomraen, die ich vor ihrer Verheirathung schon einmal an Melancholie mit Er- folg behandelt hatte. Ein Paar Jahre nach der Verheirathung verfiel sie von Neuem in einen melancholischeu Zustand, verbunden mit dem Gefiihle grosser Schwere im Becken, wogegen Blutegel an die Schamlippen, Resolventia und andere Mittel vergeblich angewendet wurden. Beim Eintritte der Menstruation und wahrend derselben trat, wie es ja haufig vorkommt. die melancholische Stimmung immer entschiedener hervor. Bei vorgenommener Untersuchung fand sich Prolapsus uteri, eine Hypertrophic des Uterus selbst mit grosser Em- pfindlichkeit des Muttermundes; dabei klagte die Frau iiber ein be- klemmendes Gefiihl, welches von unteu nach oben aufstieg und ihr unbeschreibliche Angst verursachte. Die Reposition des Uterus war etwas schwierig; so wie sie aber eintrat, war auch augenblicklich die Melancholie verschwunden. Der Prolapsus trat weiterhin noch einige Male ein, wobei sich allemal das Angstgefiihl und die melancholische |
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Stimmung einstellten, so dass die Frau den Anblick des Mannes, mit
dem sie ganz gliicklich lebte, nicht ertragen konnte, und jedesmal verschwanden diese Erscheinungen nach erfolgter Reposition augen- blicklich. Nach vollstandiger Hebung des Prolapsus blieb die Frau ganz gesund, und so habe ich sie noch mebrere Jahre gekannt. Aus derartigen Fallen erkennt man deutlich, dass entfernte Theile
einen sympathischen Einfluss auf's Gehirn iiben konnen, und man muss wohl annehmen, dass der Sympathicus direct durch Reflex auf das Gehirn einwirkt, wodurch meistens eigenthiimliche diistereEmpiindungen erweckt werden. Da sich keine plastischen Vorstellungen dazu ge- sellen, so wird dieser Reflex in den meisten Fallen sich mebr in den oberen und hinteren Hirnlappen kundgeben, worin ich auch immer bei solchen melancholischen Stimmungen starkere Hyperamie der Hirn- rinde und starkere Verwachsung dieser mit der pia mater angetroffen habe. Diese Reflexwirkung fiihrt nun wohl meistens eine in derRegel mehr passive Congestion herbei. War indessen noch keine organische Degeneration im Gehirne eingetreten, so erfolgt der Uebergang in solchen Fallen so rasch, die melancholischen und sonstigen Reflexer- scheinungen im Gehirne treten so plotzlich zuriick, dass ich mir nicht gut vorstellen kann, eine passive Congestion mit ihren Folgen werde so rasch voriibergehen. Zwar will ich nicht behaupten, dass in der- gleichen Fallen keine passive Congestion als Product abnormer Wir- kung des Sympathicus stattfand, allein die Congestion allein erweckt noch nicht so starke melancholische Stimmungen. Die directe Ein- wirkung des Sympathicus auf einzelne Gehirntheile erscheint desshalb sehr wahrscheinlich. Es verbindet sich damit eine mehr oder weniger gesteigerte Em-
pfindlichkeit der Medulla oblongata, die sich als sogenannte Spinal- irritation aussert: der Druck auf den ersten und zweiten Halswirbel wird nicht vertragen, denn er verursacht ein eigenes unangenehmes Gefiihl im Kopfe, zumal in der Scheitelgegend. In der Regel sind auch die Pupillen bei solcher Reflexwirkung des Sympathicus erweitert. Die passiven Congestionen, die meistens plotzlich in den oberen
und hinteren Hirnlappen auftreten, scheinen mir eher Folge der sym- pathischen Reflexwirkung als primare Ursache der Melancholie zu sein. Ohne Zweifel konnen sie aber selbst wieder die Krankheit ver- schlimmern und selbst unheilbar machen. Sind diese Congestionen mehr liber das gauze Gehirn verbreitet,
dann treten auch noch andere Erscheinungen auf, Verwirrung des 6*
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Gedankenganges, Funkeu vor den Augen u. s. w. Bei reiner Melan-
cholie kommt dies jedoch selten vor, sondern fast ausschliesslich nur bei passiver chronischer Affection. Solche sympathische Hirnaffectionen gehen am haufigsten vom
Colon aus, namentlicb vom linksseitigen, aber aucb vom Uterus, des- gleicben beim Manne von den Geschlecbtstheilen. Ein Paar Male sind sie mir bei Mannern vorgekommen, die an starkem Catarrhus vesicae litten. Aucb mit Lungenaffectionen konnen sie im Zusammenhange steben. Von der Leber gebt diese Einwirkung aufs Gehirn seltener aus, als man vermuthen sollte. Bei diesem Reflex vom Sympathicus aufs Gehirn hat man festzu-
halten, dass der im Gehirn erzeugte Eindruck sich durchaus von jenen Eindriicken unterscheidet, die wir durch die Sinnesorgane empfangen. Durch die Sinne erhalten wir bestimmte Eindriicke und Vorstellungen, so dass wir auf der Stelle iiber die iiussere veranlassende Ursache im Klaren sind. Hingegen durch die Reflexwirkung vom Sympathicus erhalten wir nicht directe Vorstellungen, sondern es kommt nur zu einer fremdartigen, unangenehmen Wahrnehmung, iiber deren Quelle der Geist im Dunkeln bleibt, und da meistens kein Schmerz damit ver- bunden ist, so sucht der Kranke den Grund seines Leidens ausserhalb des Korpers. Durch die Ungewissheit hinsichtlich der Art und Ent- stehung jener unangenehmen Wahrnehmungen wird dem Kranken Angst und Furcht eingejagt, diese wirken aber selbst wieder auf das Gehirn zuriick, erwecken bier allerlei fremde Gedanken und konnen zur Verzweiflung fiihren. §.14.
Allgemeine Pathologie des Gehirns. Bevor ich mich zum Therapeutischen wende, balte ich es fiir an-
gemessen, einige allgemeine Bemerkungen iiber die Natur des Gehirns und seine pathologischen Veranderungen vorauszuschicken. Die verschiedenen Korpertbeile unterscheiden sich in der Textur
und in den Verrichtungen von einander, Und diese DifFerenzen machen sich auch bei Kranken geltend, so dass sie der Arzt nicht unberiick- sichtigt lassen darf. Manche Korpertheile sind nicht blose durch ihren Gefassreichthum ausgezeichnet, sondern auch durch eine hochgestei- gerte Reizbarkeit, so dass schon schwache Einwirkungen eine heftige |
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Pathologie des Gehirns. 85
Entziindung hervorrufen konnen; das ist z. B. der Fall mit den Lun-
gen. Der Magen ist zwar auch sehr gefass- und nervenreich, er ver- tragt aber ohne Nachtheil starkere Einwirkungen, die an anderen Thei- len alsbald eine heftige Entziindung erregen wiirden, und die hitzigen Gewiirze und andere Substanzen lassen ihn unberiihrt. DasBaucbfell liinwiederum, obwolil es nur sparsam mit Geiassen und Nerven ausge- stattet ist, kann schon durch den Reiz der Atmosphare sich rasch entziinden. Das Gehirn bei aller seiner Bedeutsamkeit stebt in dieser Bezie-
hung nicht gerade auf einer hohen Stufe; denn wenn auch schon schwache Reize auf dasselbe einzuwirken im Stande sind, so wird es doch nicht gar rasch in den entziindlichen Zustand ubergefiihrt. Es kommen freilich heftige acute Gehirnentzundungen vor, zu denen der reizbarere Organismus des Kindes besonders disponirt ist, und im rei- fen Lebensalter hat das mannliche Geschlecht vor dem weiblichen hierzu eine grossere Anlage, weshalb auch Gehirnreizung bei Maun era im Allgemeinen eher zu Degeuerationen fiihrt. Auffallend ist es a»er oftmals, wie das Gehirn, zumal bei Weibern, erregt und gereizt werden kann, ohne dass es zur Entziindung kommt; tritt sie dann ja ein, so ergreift sie meistens zuerst die Hirnhaute und nimmt gem einen chro- nischen Verlauf. In der Gehirnsubstanz selbst tritt seltener eine pri- mare Entziindung auf und dann auch meistens nur local. Auch bei Geisteskranken findet man haufiger Affectionen der Hirnhaute mit Verauderungen der Rindensubstanz, als solche der Hirnsubstanz selbst, wo sich die Folgen meistens erst nach langerem Verlaufe als Erwei- chung oder als Verhartung kundgeben. Daher ist es gekommen, dass man durch die Leichenoffnungen sich nicht befriedigt fiihlte, und da man sich nicht denken konnte, dass durch solche geringe Abweichun- gen so bedeutende Erscheinungen bedingt sein sollten, so verfiel man darauf, das Irresein als ein rein psychisches Leiden anzusehen. Noch mehr kam man durch die pathologische Anatomie des Ge-
hirns in Verlegenheit, insofern man bisweilen in den Leicben bedeu- tenden Degenerationen des Gehirns und Eiteransammlungen begegnet, die sich wain-end des Lebens durch keinerlei Erscheinung verrathen hatten. Da die Entziindung der Gehirnsubstanz meist local beschrankt bleibt, so entstehen davon keine Irrsinnserscheinungen, sie miisste denn auf die pia mater iibergehen, oder von ihrem Ausgangspunkte aus zu den vorderen und oberen Hirnlappen fortschreiten. Auch kon- nen Gehirnpartieen verloren gehen und der Betroffene tritt mit voll- |
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8fi Pathologie des Gehirns
standiger Krhaltung der Verstandeskrafte in die Genesung, wenn nur
die Verwundung keine Meningitis nach sich zog, die sich iiber das Ge- hirn ausbreitete, und wenn nur die Rindenschicht der vorderen und oberen Partie des Gebirns gesund und functionsfjihig blieb. Zur Erlauterung und Begriindung dessen will ich einige Beobach-
tungen mittheilen. Einem Zimmermaim fiel ein schwerer Balken auf den Kopf, so
dass er obne Besinnung niederstihzte, und bei der Untersuclmng fand sich eine bedeutende Fissur und eine Depression oben am Schadel. Die Erscheinungen von Hirndruck nbthigten nach einiger Zeit zur Vornahme der Trepanation, wobei sich eine ziemliche Menge Eiter aus der Schadelhohle entleerte. Hiernach war der Mann ganz frei im Kopfe und bei vollem Bewusstsein. Delirien waren gar nicht dage- wesen, wohl aber Eingenommenbeit und Coma vor der Operation. Wie der Mann spator erzahlte, hatte er wahrend der Operation einen gewaltigen Liirni gehort. Er befand sich jetzt ganz wohl und ging taglich auf die Arbeit, ohne iiber irgend etwas zu klagen. Da fiel er, ein Vierteljahr nach der Operation, bei der Arbeit auf einmal todt nieder. Bei der Section fand sich unter der rechten Kranznaht ein Eitersack von etwa 2 Centimeter Tiefe und 2 '/2 Centimeter Breite, der bis zum rechten Seiteuventrikel reichte, ohne aber direct mit demsel- ben zu communieiren. Die Wandungen des Sackes batten etwa 5 Mil- limeter Dicke und bestanden aus langen Zellen und jungem Binde- gewebe. Auf der Innenflache des Ventrikels war das Ependyma ent- ziindet, wahrscheinlich in Folge der Vergrosserung und des Weiter- riickens des Eitersackes, und es war zur Eiterung gekonnnen, so dass ein ziemlich diinner, friehr seroser Eiter durch den dritten Ventrikel hindurch bis zum vierten gelangt war, woselbst er wahrscheinlich durch plotzlich eintretenden Druck die Katastrophe herbeigefiihrt hatte. An der Oberflache des Gehirns zeigte sich keine Spur von Ent- ziindung, die Rindenschicht war ganz gesund, auch waren die Gehirn- haute frei von Entziindung. So erkliirte es sich, dass der Mann un- geachtet der bedeutenden eiterigen Zerstbrung bis zum Augenblicke des Todes im vollen Besitze seiner Verstandeskrafte geblieben war. Eine andere interessante Beobachtung hatte ich schon friiher bei
einem zweiundsiebenzigjahrigen Greisc machen kbnneu. Bisher im- mer ganz gesund, soviel er sich erinnern konnte, bekam dieser ohne bekannte Veranlassung ein unangenehmes Gefiihl von Kribbeln und Ameisenkriechen, verbunden mit Taubheit, in Hand und Fuss der lin- |
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Pathologie des Gehirns. 87
ken Seite, und daraus bildete sich rasch eine vollkommene Lahmung
des linken Armes und Beines, so dass nach 14 Tagen die Gliedmaassen nicht mehr bewegt werden konnten. Jetzt stellten sich Contractionen in den Flexoren der. gelahmten Seite ein, die durch Ersehiitterungen und unwillkttrliche Bewegungen unterbrochen wurden. Nach vier Wochen konnte der Mann audi den Hals nicht mehr bewegen und den Kopf nicht drehen. Dabei behielten aber die Gesichtsmuskeln ihre Beweglichkeit und die Pupillen waren nicht erweitert. Das Gefiihl hatte sich in den Gliedmaassen erhalten. Sechszehn Tage nach dem Anfange der Krankheit ging die Beherrschung der Stuhl- und Harn- entleerung verloren, wenngleich ganz regelmassig taglich Stuhlgang sich einstellte. Der Appetit erhielt sich immer gut. Der Puis war immer etwas beschleunigt, dabei voll und manchmal fast hart. Es kam bald zu Decubitus, namentlich auf der gelahmten Seite. In den letzten Tagen stellte sich Geschwulst und Schmerz des linken Armes ein, sowie Excoriationen am Ellenbuge, und der ganzeArm bekam ein blauliches Aussehn, obwohl der Puis noch unverandert war. Ablei- tende Mittel im Nacken und Flores Arnicae brachten keine Besserung zu Wege. Dabei behielt der Kranke bis zum letzten Athemzuge sein helles klares Bewusstsein, er hatte keine Spur von Kopfschmerz, keine Eingenommenheit,-keine Schwere des Kopfes, oder sonst ein fremdartiges Gefiihl in demselben. Er versicherte wiederholt und namentlich auch, als ich ihn ein Paar Stunden vor seinem Tode, sechs Wochen nach dem Ausbruch der Krankheit, ausdriicklich daruber befragte, er habe vor seiner Krankheit nie an Kopfschmerzen gelitten, und auch wah- rend der ganzen Krankheit hatte er niemals Kopfschmerz oder auch nur Ohrensausen gehabt. Wer den Greis mit den etwas gefarbten Wangen sah, wie er so ganz verstandig redete, hatte ihn wohl kaum flir krank gehalten; denn er klagte nur iiber Schmerzen im linken Arme und iiber Unbeweglichkeit und Lahmung der linken Seite. Die Section ergab zunachst, dass die diinnen Gedarme sich auf
eine sonderbare Weise um das Colon descendens herumgedreht hatten; die Flexura sigmoidea war verengt, der daruber befindliche Theil des Colon aber durch Luft ausgedehnt, und dabei hatte sich das Colon zwischen Leber und Zwerchfell gedrangt, so dass die Leberoberflache Vertiefungen fur den ausgedehnten Darm zeigte. Daraus ist zu er- sehen, dass diese Erweiterung schon seit langerer Zeit bestanden ha- ben musste, und gleichwohl hatte der Mann, wenigstens wahrend der sechswochentlichen Krankheit, nicht an Tragheit des Stuhles gelitten. |
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Ilerz unci Lungen waren gesund. Nun wurde der Wirbelkanal, wie ich
immer zu thun pflege, von vorn her geoffnet; dabei zeigte sich, dass idle Wirbel unter einander durch Knochenmasse verwachsen waren. Der Sack der dura mater war gespannt ausgedeiint und mit einem rothlichen Serum erfiillt. Der Halstheil des Riickenmarks zeigte eine grossere Festigkeit, namentlich vorn in der Gegend des vierten Hals- wirbels; die pia muter hatte hier eine grauliche Farbung und die Arachnoidea hing durch Pseudomembranen mit der pia mater zusam- men. Ausserdem kamen an mehreren Stellen in der Arachnoidea knor- pelige, ja selbst knocherne Lamellen vor. Die dura mater des Gehirns war so fest mit dem Schadeldache
verwachsen, dass letzteres sich nicht abnehmen liess, und es musste die dura mater kreisformig durehschnitten werden. An der rechten Hemisphare zeigten sich Spuren einer abgelaufenen Arachnoideitis. Am vorderen Hirnlappen der rechten Seite, ungefahr V/2 Centimeter von der Hirnsichel entfernt, da wo sich Foville's Windungen der vierten Ordnung befinden, bestand eine ausgesprochene Gehirnerwei- chung mit scharf umschriebener Begrenzung. Diese Erweichung, welche die graue Substanz und die Marksubstanz in gleichem Maasse betraf, fing vorn oberhalb des Augendaches an, erstreckte sich bis zum Gyrus parietalis anterior, und weiter nach der Sichel hin auch bis zum Gyrus parietalis medianus; dabei reichte sie wohl drei Centime- ter in die Tiefe bis zum Corpus striatum hin. Ihre grosste Breite uu- ter dem Stirnbeine betrug 21j2 Centimeter. In dieser ganzen Ausdeh- nung war die pia mater mit dem Gehirne fest verwachsen und liess sich ohne Zerreissung nicht abziehen; ja am Vorderlappen blieb die erweichte Hirnmasse bis zum Corpus striatum hin an der pia mater hangen, wie man noch an dem Praparate in meiner Sammlung sehen kann. Sonst iiberall zeigte sich nichts Abnormes, weder am Gehirne noch an der pia mater, und letztere liess sich allenthalben leicht ab- ziehen. Die linke Hemisphare war ganz normal. In den Ventrikeln land sich die gewohnliche geringe Menge Serum. An den Corpora striata, an den Thalami, am Balken, an der Briicke und am kleinen Gehirne kam nichts Abnormes vor; nur die Medulla oblongata schien etwas dichter zu sein. Die pathologisch veranderte Stelle abgerech- net, hatte die graue Substanz nirgends anders eine starkere Farbung- auch war keine Hypcramie im Gehirne und Riickenmarke vorhanden. Es handelte sich demnach um eine local umschriebene Erweichung und Degeneration, die aus der Tiefe und von der Seite des Corpus |
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striatum, vom sogenannten Strahlenkranze ausgegangen zu sein schien
und sich bis zur Oberflache ausbreitete, wo es zu einer ebenfalls local beschrankten Meningitis gekommen war. War nun auch in diesem Falle der grosste Theil des vorderen
Hirnlappens, den ich doch als das Organ der hoheren Geistesvermo- gen ansehe, auf der rechten Seite degenerirt und zerstbrt, so hatte der Mann gleichwohl nicht an Geistesstorung gelitten, ja er hatte iiber keine abnormen Empfindungen im Kopfe zu klagen gehabt. Das muss auf den ersten Blick befremden, steht aber mit dem, was frfiher iiber die Functionen der verschiedenen Hirntheile beigebracht worden ist, ganz im Einklange. Man wusste ja langst, dass die Hemispharen des grossen Gehirns nicht empfindlich sind, und dass man Stiicke davon wegnehmen kann, ohne dass der Patient, auch wenn er bei vollem Be- wusstsein ist, etwas davon merkt. Diese Unempfindlichkeit riihrt da- von her, dass die verschiedenen Wahrnehmungen und Eindriicke, die wir erhalten, von Zellen mit verschiedener sensueller Energie ausge- hen, deren Thatigkeit durch aussere Eindriicke erregt und dann von uns wahrgenommen wird. Wenn demnach die Zellen in den Hemi- spharen und in der Hirnrinde nicht vermogend sind, uns Empfindun- gen oder Schmerzen zu erwecken, wozu die an der Gehirnbasis be- findlichen Perceptionszellen bestimmt sind, so konnen Affectionen der Hemispharen selbst auch keine Schmerzen verursachen, d. h. die He- mispharen sind unempfindlich. Die Hirnrindezellen reagiren aller- dings auf Reize, die hierdurch bewirkten Wahrnehmungen iiussern sich aber nicht als Schmerzempfindung, sondern in der Form von Vorstel- lungen oder Bildern, von Trieben, von Neigungen, von Stimmungen, je nach der verschiedenen Localitat jener Zellen. Besteht nun eine bloss locale Affection, wie in den mitgetheilten
beiden Fallen, wo Degenerationen eingetreten waren, dann konnen die degenerirten Theile allerdings nicht mehr wirken und uns keine Wahr- nehmungen verschaffen, die sich doch nur in starkerer Intensitat der Vorstellungen, der Bilder, der Traume aussern konnte. Von der fibri- gen Gehirnmasse konnten aber auch keine pathologischen Erschei- nungen ausgehen, da sie ja nicht afficirt war, die Meningitis aber sich nicht weiter fiber das Gehirn ausbreitete. Immerhin erkennen wir aus diesen Fallen, dass das Gehirn nur
geringe Irritabilitat besitzt, da so bedeutende ortliche Degenerationen vorhanden sein konnen, ohne dass die umgebenden Theile mit ergriffen werden. So etwas kommt aber nur bei Erwachsenen vor. Bei einem |
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Kinde hatte eine solche Destruction sich nicht so ganz local gehalten,
bestimmt ware hier eine allgemeine Meningitis aufgetreten. Das locale Leiden muss sich aber im zweiten Falle aus der Tiefe
der Gehirnmasse nach den Windungen bin ausgebreitet haben, so dass zuletzt auch die pia mater ergriffen und in einen entziindlichen Zu- stand versetzt wurde, aber ebenfalls ganz local. Anders gestaltet sich die Sache, wenn die Krankheit, z. B. in Fallen von Manie, von der Oberflache der Hirnrinde und von der pia mater selbst ausgeht. Dann verbreitet sie sich mehr oder weniger rasch iiber die gauze Oberflache oder wenigstens iiber den grossten Theil der Hemispharen. Die pia mater und Arachnoidea theilen mit den serosen Hauten die Eigen- schaft, dass eine darin auftretende Entziindung sich iiber die ganze Flache ausbreitet. Ob aber dabei Geistesstorung auftritt oder nicht, das hangt davon ab, ob die unterliegende Hirnrinde in den Entziin- dungsprocess mit hineingezogen wird oder nicht. Dieses Verhalten wird von den Aerzten nicht geniigend beachtet. Ein schwach congestiver Zustand oder eine beginnende Entziin-
dung der pia mater kann sich auf ihr ausseres Blatt nebst der Arach- noidea beschranken; es hildet sich dann ein plastisches Exsudat unter der Arachnoidea, welches oftmals in der Form einer mehr oder weni- ger undurchsichtigen Speckhaut das ganze Gehirn iiberdeckt. Das kommt haufig bei Irrsinnigen vor, und ich vermeinte friiher hierin ein charakteristisches UnterschCidungszeichen zu finden zwischen dem Ge- hirne eines Irrsinnigen und eines Andern, der bei ungestorten Geistes- kraften an einer andern Krankheit gestorben ist. Bei genauerer Nach- forschung iiberzeugte ich mich aber bald, dass diese sogenannte Speck- haut, dieses weissliche Exsudat zwischen pia mater und Arachnoidea ebensogut in den Leichen von Nichtirren und von solchen, die iiber keinen Kopfschmerz geklagt hatten, gefunden wird. Das wird auch von Nasse bestatigt, der sich auf einen interessanten Fall bezieht, wo eine Verengerung der Diinndarme und zugleich eine iiber das ganze Gehirn ausgebreitete starke Speckhaut gefunden wurde, dennoch aber bis zum Verschwinden des Pulses und dem Kaltwerden der Gliedmaassen hiu keine Spur von Delirium, von Irrsinn oder von mangelhaftem Be- wusstsein aufgetreten war. Deshalb verwirft auch Nasse die geist- reiche, immerhin aber einseitige Theorie Bayle's, der das Irrsein iiberall von einer Meningitis herleiten wollte. Schon vor langer denn 30 Jahren habe ich (Observationes anato-
mico-pathologicae, 1826, p. 28) dargethan, dass Partes contiguae, die |
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verschiedene Gewebe besitzen, nicht leicht in glcicher Starke von Ent-
ziindung ergriffen werden. So bleiben z. B. die Zwischenrippenmus- keln bei PJeuritis costalis fast immer ganz frei, und bei Peritonitis ist die Muskulatur der Eingeweide audi nur selten ergriffen. In gleicher Weise verhalt es sich mit der pia mater. Congestion, Eutziindung, Ausschwitzung konnen sich auf deren aussere Flache beschranken und das Gehirn freilassen, so dass man im Leichname ein Exsudat zwischen Arachnoidea und pia mater eingeschlossen findet, wahrend im Leben auch nicht die geringsten pathologischen Hirnerscheinungen beobachtet wurden. Ich muss hierbei an dasjenige erinnern, was ich oben iiber die
Gefasse der pia mater angefiihrt babe, dass nainlich in der pia mater selbst ein directer Uebergang arteriellen Blutes in Venen stattfindet, wodurch ein starkeres Zustromen von Blut, ja selbst eine Congestion und eine leichte Entziindung zu Stande kommen kann, ohne dass die in die Hirnrinde sich erstreckenden Gefasse daran Theil nehmen: man kann sagen, der Sturm fahrt iiber uns hin, ohne dass wir es nur bemerken. Bei der geringen Irritabilitat des Gehirns pflanzt sich eine Entziindung nur langsam auf dasselbe fort und nimmt dann auch meistens einen chronischen Verlauf. Wenn daher die Herzmuskulatur, trotz der heftigen Pericarditis und der Exsudation in den lierzbeutel, gesund bleiben kann, so wircl man auch wohl zu der Annahme be- rechtigt sein, dass bei Entziindung und Exsudatbildung anderAussen- fliiche der pia mater der Process nicht his zur Hirnrinde vorzudringen braucht. Da nun die Hemispharen unempfindlich sind, eine Reizung der Hirnrinde aber wohl zu^Erregung und Leidenschaftlichkeit Ver- anlassung geben kann, nicht aber zum Auftreten von Kopfschmerzen, so haben leichtere Affectionen keine besonderen pathologischen Er- scheinungen in ihrem Gefolge, so lange dieSeele noch dieZiigel fiihi't. Verliert diese ihre Herrschaft, dann ist die Hirnrinde bereits starker ergriffen. Ohne Grund haben Nasse und andere zur psychologischen An-
schauung sich Bekennende die Meningitis als ursachliches Moment des Irrseins und seiner Folgen streichen wollen, undzwaraus dem Grunde, weil Meningitis mit Exsudation auch ohne Gehirnerscheinungen auf- treten kann. Es kommt hierbei Alles auf die Ausbreitung der Ent- ziindung an, ob diese namlich auf die Aussenseite der pia mater sich beschrankt, odcr ob auch die Kindenschicht in den Process mit hinein- |
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gezogen ist; denn in beiden Fallen ist dasExsudat zwischen pia mater
und Arachnoid/a ganz das namliche. Locale Zerstbrungen kommen aber nicht bloss in der Stirn- und
Scheitelgegend vor, sondern auch am untern oder Schlafelappen. Mehrmals sind mir an der Spitze dieses Lappens Eiteransammlungen vorgekommen, ohne dass Gehirnerscheinungen oder Schmerzen dabei aufgetreten waren. Schmerz, aber dann auch sehr heftiger Schmerz, tritt erst auf, wenn die dura mater an der Entziindung Theil nimmt. Ist die Entziindung der Hirnsubstanz ganz local, wenn sie z. B.
durch Stase auftritt, oder wenn sie sich, wie das wabrscheinlich bei dem erwiilinten 72jahrigen Greise der Fall war, aus der Tiefe heraus entwickelt, dann fehlen die Frscheinungen einer Gehirnaffection. Be- schrankt sich der entziindlicbe Process auf die Aussenseite der pia mater, dann kann sichErregtheit und Schlaflosigkeit einstellen, manch- mal auch ein Gefiihl yon Leichtsein oder aber von Schwere und An- fiillung; oder es scheint sich auch wohl ein fremder Korper im Schadel hin und her zu bewegen, was wahrscheinlich von einem ausgedehnten Blutgefiisse herriihrt, oder davon, dass die Fliissigkeit zwischen pia mater und Arachnoidea in Bewegung kommt. Wird die Hirnrinde starker gereizt, dann entsteht im acute'n Falle Delirium, im chro- nisclien Falle dagegen Manie oder Melancholie mit deren Folgen. Bei Irrsein, namentlich wenn es idiopathisch ist, hort man nur selten iiber Kopfschmerz klagen. Besitzen nun auch die Hemispharen nur eine geringe Irritabilitat,
sind sie gleich unempfmdlich in dem Sinne, dass ihre Affection sich nicht durch Schmerz kund giebt, so lange dieselbe nicht direct oder auch secundar auf die tieferen Theile des Gehirns einwirkt oder aber auf die dura mater sich ausbreitet, so zeichnen sie sich wieder in der Beziehung durch einen hohen Grad von Empfindlichkeit aus, dass schon durch einen schwachen Reiz heftige Erscheinungen hervorge- rufen werden konnen, wenngleich keine oder doch nur sehr geringe Spuren von Entziindung vorhanden sind. Ein Tuberkel, ein massiger Blutaustritt kann die heftigsten Convulsionen veranlassen; Reizungen der Rindensubstanz, starkere Congestionen, wie sie beim Delirium tremens vorkommen, erzeugen wohl Wuthanfalle; ein Blutverlust, wobei doch gewiss nicht von Congestion oder Entziindung die Rede sein kann, ruft die heftigsten Krampfe hervor, weil das Verhalten des Blutes zu den Zellen und der Parenchymfhissigkeit eine Abanderung erlitten hat, wodurch das Gleichgewicht zwischen dem Zelleninhalte und der um- |
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gebenden Fliissigkeit eine Stoning und somit das Wirken der Zellen
eine Aenderung erfuhr. Einer solchen Umiinderuug scheinen die mo- torischen Zellen in den Corpora striata noch leichter unterworfen zu sein, da bei todtlichen Hamorrhagieen wohl Convulsionen und Bewusst- losigkeit auftreten, aber keine Wuthausbriiche. Unbedeutende idio- pathische oder sympathische Ursachen, z. B. Wiirmer bei Kindern, oder der Hysterismus bei Madchen, konnen sehr heftige Erscheinungen hervorrufen, und andererseits konnen sehr bedeutende Storungen, z. B. locale Eiterungen, lange Zeit besteben, ohne dass man von ihrer Anwesenheit weiss. Heftige Erscheinungen berechtigen noch durchaus nicht zur Annahme einer heftigen Entziindung, der man kraftig mit Aderlassen und mit antiphlogistischen Mitteln entgegen treten miisste. 1st das Gehirn nun auch insoweit empfindlich, als ein schwacher
Reiz heftige Erscheinungen hervorrufen kann, so gehort es doch noch nicht zu den reizbaren Organen in dem Sinne, dass eine heftige Ent- ziindung sich in ihm rasch entwickeln konnte. Bei den Krankheits- processen, von denen ich hier handle, ist die Entziindung weit mehr zum chronischen Verlaufe geneigt, und aus diesem Grunde vermag man durch einzelne starke Aderlasse nicht so rasch darauf zu wir- ken, als es wohl manchmal bei Pleuritis oder bei Pneumonic vor- kommt. Die schwache Action des Gefasssystems bei Gehirnkrankheiten ist
auch daraus zu entnehmen, dass, selbst wenn sehr heftige Erscheinungen auftreten, dennoch kein Fieber sich einstellt. Tritt indessen eine mehr acute heftige Encephalitis auf, dann giebt sich dies auch wohl am Fieber und am Pulse zu erkennen, und es kann eine intensivere anti- phlogistische Behandlung noting werden. Da alle pathologischen Erscheinungen von der Natur des afficirten
Theiles abhangig sind, das Gehirn aber ohne Zweifel zu den zusam- mengesetztesten Organen gehort, welches mit der ihm durchaus eigen- thiimlichen Function ausgestattet ist, die Verbindung zwischen Leib und Seele zu vermitteln, und worin die psychischen Thiitigkeiten zu- nachst sich kund geben, so treten hier auch pathologische Erscheinungen auf, die zwar allgemein bekannt sind, deren Erklarung aber doch nicht so leicht fallt. Die erste Stelle in dieser Beziehung gebuhrt wohl dem Zustande der Bewusstlosigkeit, die auch im gesunden Zustande vorkommt, aber bei alien gewaltsamenEinwirkungen und bei mancherlei Affectionen als ein auffallendes Symptom hervortritt. Im Schlafe sind wir nur zeitweilig bewusstlos, dann namlich, wenn
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wir nicht traumen; denn beim Triiurnen sind die Hirnrindezellen in
Thatigkeit. Zum Wirken dieser Zellen, dem Erhabensten, was in der Natur vorkommt, scheint aber eine ganz ungestorte Circulation und ein nicht zu hoch gesteigerter Druck auf diese Theile erfordert zu werden. Entsteht ein Druck aufs Gehirn, z. B. bei Blodsinn als Folge von Gehirnausschwitzung, wo die Windungen abgeflacht er- scheinen, dann ist das Bewusstsein zwar nicht ganz verschwunden, seine Wirksamkeit aber fast auf Null reducirt; denn die Blodsinnigen gleichen fast Wachsbildern, sie sprecheu nicht, bewegen sich nicht und be- halten die Stellungen, die man ihnen giebt. Die Seele scheint dabei auch wenige Eindriicke zu empfangen. Entsteht ein starkerer Druck durch heftigen Blutandrang oder sonst eine Ursache, dann entsteht Coma, aus dem der Geist nur schwer zu erwecken ist, daher er meistens nicht bemerkt, was geschieht. Umgekehrt sehen wir bei hysterischen Madchen durch die ge-
ringsten Drsachen Ohnmachten entstehen. Ist Krampf dabei im Spiele, dann ist das Gesicht oftmals blass, und es scheint durch den Sympathicus, der, wie oben entwickelt, die Gefasse verengert und da- durch so bedeutend auf die Circulation einwirkt, die Circulation be- schrankt zu werden, so dass der nothige Stoffwechsel indenHirnzellen ausbleibt und damit auch deren feinere Wirksamkeit in Wegfall kommt. Die Seele empfangt keine Eindriicke mehr, da alle Vorstellungen und somit auch das Bewusstsein durch diese Zellen zu Stande kommen. Sind die Zellen mit Blut iiberladen, wie bei Apoplexie oder Epi-
lepsie, dann tritt Yollkommene Bewusstlosigkeit ein. Diese stellt sich aber gleicher Weise ein, wenn ihnen durch eine starke Blutentziehung oder durch Hamorrhagieen zu vieles Blut entzogen wird. Erfahrt die Circulation vom Nervensysteme aus eine Storurig, so andert dies nichts im Erfolge. Die Rindezellen erfahren durch die geringsten Ursachen eine Storung ihres Wirkens, und selbst durch die Eindriicke des all- taglichen Lebens werden sie so erschopft, dass sie zur Herstellung ihrer Functionen des Schlafs bediirfen, was doch von den Organen des Kreislaufes, der Athmung, der Ernahrung und Secretion nicht in gleicher Weise gesagt werden kann. Hierdurch wird es noch eher begreiflich, warumbeilocalerEntzundungmitnachfolgenderErweichung oder Eiterung in der Hirnrinde jene Zellen so rasch ibrer Wirksam- keit verlustig gehen und keine Symptome mehr hervorrufen, weshalb dann dasUebel unbemerkt im Gehirn verborgen bleiben kann. Zellen, die ihre eigenthumliche Kraft, ihre Energie nicht mehr aussern, wirken |
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Pathologie des Gehirns. 95
auch nicht auf die Seele. Denn es steht die Seele nicht mit dem
Stoffe selbst in Verbindung, sondern nur mit den Kraften, die sich durch das stoffliche Wirken in den Zellen entwickeln*). Die verschiedenen Zellenarten verhalten sich in diesev Beziehung
nicht gleich. Die Perceptionszellen horen bald auf, der Seele Ein- driicke zuzufiihren, wie z. B. im Schlafe; aber auch schon bei ander- weitigen Beschaftigungen der Seele kommt dies vor, wie man denn ein Uhrwerk, an das man gewohnt ist, nicht mehr schlagen hort. Die Hirnrindezellen verlieren ihre Wirksamkeit nicht so rasch: Aetheri- sirte fiihlen ihre Schmerzen nicht mehr, horen aber noch ihr unwill- kiirliches Geschrei, und sie sehen nicht mehr, wenngleich sie noch nicht vollkommen bewusstlos sind. Dagegen steigert sich oftmals die Wirksamkeit der motorischen Zellen in krankhafter Weise, wenn die Hirnrindezellen ihre Wirksamkeit eingestellt haben. So fehlt das Bewusstsein bei Epileptischen wahrend der heftigen Krampfe, ja meistens verbindet sich iiberhaupt bewusstloser Zustand mit Krampfen, welcher Art diese auch sein mogen. Freilich kommen auch unwill- kiirliche Bewegungen bei vollem Bewusstsein vor, zumal bei solchen auf das verlangerte Mark beschrankten Affectionen, z. B. nach Strych- ninanwendung; das Bewusstsein geht dann nicht verloren, wenigstens nicht rasch, so lange die Respiration im Gange bleibt. Entstehen Con- vulsionen durch apoplektischen Erguss in die Corpora striata, dann tritt Bewusstlosigkeit ein. Bei Epileptischen scheinen die Convulsionen von der Medulla oblongata auszugeheu und es tritt sogleich Bewusst- losigkeit ein, weil das Leiden, auf die Verbreitung des Sympathicus in der Schadelhohle und auf die Circulation des Kopfes einwirkend, das ganze Gehirn ergreift; keineswegs aber ist Bewusstlosigkeit, wie manche Autoren meinen, immer das erste Symptom. Noch ganz neuerlich wurde ich durch einen Epileptiker consultirt, der mir angab, er werde beim Eintritte eines Anfalles erst schwindelig, dann stiirze er zusam- men, wobei er manchmal noch den Fall selbst oder seine Stirame hore, und hierauf erst trete Bewusstlosigkeit ein; ja manchmal sei er sich auch noch der ersten Zuckungen bewusst, mit denen der Anfall begann. Es kommt sogar vor, class das Bewusstsein bei den Zuckungen gar nicht verloren geht. |
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*) Zum Verstandniss sei hier bemerkt, dass Sehroeder van der Kolk am
Dualismus zwisclien Kraft und Stoff f'esthielt und in dieser Beziehung sich ganz und gar an Faraday anschloss. (Herausg.) |
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Im Allgemcinen verlieren also die Perceptionszellen zuerst ihre
Wirksamkeit und spater erst tritt das Namliche in den Hirnrinde- zellen ein. Dabei steigert sich oftmals die Wirksamkeit der motori- schen Zellen, wodurch sicli ein Gegensatz in ilirer natiirlichen Be- schaffenheit zu erkennen giebt. Wir wissen endlich auch, dass Congestion und Entziindung, je
nach der Verschiedenartigkeit der Gewebe in den ergriffenen Organen, verscliiedene Folgen baben und ungleiche Veranderungen herbeifiihren konnen. So tritt z.B. im Uuterhautbindegewebe sehr bald Verhartung und Anschwellung ein, weil in dem ausdehnbaren Gewebe leicht albu- ninose und fibrinose Fliissigkeit transsudirt und sich anhauft. Im Gehirne kommt nur weniges Bindegewebe vor, denn was Bidder
bier als Bindegewebe unterschieden bat, das kann ich nicht dafiir halten. Die Gefasse werden zwar von etwas Bindegewebe umhtillt, aber an den feinsten Capillaren ist es nicht mehr mit voller Sicherheit nachzuweisen. Die Nervenrohrchen sind im Gehirne durch lntercel- lularniissigkeit gleichsam aneinander geleimt, die aber nur in geringer Menge vorhanden ist und sehr eiweisshaltig zu sein scheint. Daher riihrt die festere Consistenz der Hirnmasse. Durchs Aufbewahren in Weingeist oder in Chromsaure nimmt die lntercellularniissigkeit an Festigkeit zu, sie gerinnt, und deshalb gewinnt das Gehirn in diesen Fliissigkeiten an Festigkeit. Durch chronische Entziindung oder an- haltende Congestion erleidet aber diese lntercellularniissigkeit eine Umanderung, sei es in der Beschaffenheit oder in der Menge. Bei acuter Entziindung wird das Transsudat meistens starker
plastisch, es gerinnt und dadurch entsteht Verdichtung des Gewebes. Bei chronischer Entziindung wird die lntercellularniissigkeit mehr wasserig und sie unterliegt der Aufsaugung, dieFettablagerung nimmt zu und der Zusammenhang der Theile geht durch die Fetterweichung verloren, zuletzt werden auch die Nervenrohren selbst zerstort und es bilden sich Hohlen. Meistens jedoch riihren solche Hohlen davon her, dass Blut extravasirt war und absorbirt wurde. Bringt man von einem dergestalt afficirten Gehirne ein Stuck in Weingeist, so erhartet dasselbe bisweilen sehr rasch und feine Schnitte haben unter dem Mikroskope ein korniges Aussehen. Ist aber die Intercellularfliissigkeit weniger eiweisshaltig und bereits heftige Degeneration im Anzuge, dann stellt sich die Erhartung im Weingeist langsam ein, und erst nach mehrtagigem Inneliegen hat das Gehirn hinlangliche Festigkeit, um diinne Schnitte anfertigen zu konnen. Die das ganze Gewebe er- |
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Entziindung der dura mater. 97
fiillenden Fettmassen machen diese feinen Schnitte undurchsichtig.
Auch findet man wohl an denselben eine Menge feiner Kornchen, die sich in Chlorcalcium losen, und somit wohl keineFettkornchen, sondern geronnenes Eiweiss sind. Bei acuter Entziindung bilden sich zwischen denFasern und Zellen
der grauen Substanz, und ebenso in der Markmasse grossere Zellen, die ganz mit kleinenFettblaschen erfullt sind. Man nannte sie friiher- hin Entziindungskugeln, weil man sie bei Entziindung mehrfach antraf, und in der That.kommen sie im Gehirne auch nur bei Ent- ziindung vor. Ob die Corpora amylacea, die mir zwischen den sogenannten Ent-
ziindungskugeln in der Marksubstanz vorgekommen sind, erst in der Leiche entstehen, wie Stilling annimmt, oder schon bei Lebzeiten vorhanden sind, muss ich unentschieden lassen. § 15-
Entziindung der dura mater. Ueber Entziindung der dura mater findet man nur wenig bei den
Schriftstellern. Die Krankheit soil hochst selten oder gar nicht primiir vorkommen, sondern nur bei Verletzungen oder bei Caries der Schiidel- knochen, und sie wird nur nebenbei mit beriihrt. Andral, der so zahlreicheBeobachtungen von Gehirnkrankheiten
zusammen stellte, hat keinen Fall von aeuter idiopathischer Entziin- dung der dura mater. Abercrombie erwahnt nur einen Fall, wo gleichzeitig auch die Arachnoidea, die pia muter und das Gehirn er- griffen waren, wie das meistens der Fall ist, und diesen scheint er im Leben nicht erkannt zu haben. Einzelne Falle haben Fizeau, Hankel, Rumler mitgetheilt, und ein Paar Falle finden sich bei Schoenlein, bei Copland, bei Bressler (Krankheiten des Kopfes und der Sinnesorgane, I. Thl. 1839). Foville (Diet, de Medecine et de Chir. pratique. Art. Meningite) sagt, die Symptome der Entziindung der dura mater {Meningitis parietalis) seien unbekannt. In dem treff- lichen Werke von Lallemand findet man aber mehrere Beob- achtungen von Entziindungcn und sonstigen Affectionen der dura mater, die durch Verletzungen, durch Exostosen, durch Syphilis und andere Ursachen entstanden waren. Er verzeichnet die charakteristischen Symptome dieser Krankheit im vollen Einklange mit meinen Beob- Schroedetv. d. Kolk, GeiBteskrankheiten. 7
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98 Entziindung der dura mater.
achtungen. Hoppe (Die Entziindung des Gehims und der Gehirn-
Mute. 1847) hat die charakteristischen Symptome dieser Entziindung nicht gekannt; sie tritt nach ihm nur selten primar oder idiopathisch auf, sondern meistens soil sie von Caries oder sonstigen Leiden des Schadels, von Syphilis ausgehen, oder durch aussere Beschadigungen entstehen. Kurz aber sachgemassfinden wir die wichtigsten Symptome bei Leubuscher (Pathologie und Therapie der GeMrnkrankheiten. Berlin 1854. S. 232 und: KranMieiten des Nervensystems. Leipz. 1860. S. 178) angegeben; er bemerkt aber ebenfalls, dass die spontane oder primare Entziindung der dura mater, wenigstens die acute Form, sehr selten vorkommt, und dass er nur Einen Fall bei Abercrombie ge- funden hat. Nach meiner Erfahrung kommt die Krankheit keineswegs so gar
selten vor, sie pflegt nur verkannt und meistens als rheumatischer Kopfschmerz aufgefasst zu werden. Da sich aber die gefahrvolle Krank- heit durch entschiedene Zeichen zu erkennen giebt und auf dieser Erkennung die Moglichkeit der Genesung beruht, so erachte ich es passend, wenn ich einige von mir beobachtete Falle zur Mittheilung bringe. Erster Fall.
Eine Frau von ungefahr 40 Jahren kam im aussern Krankenhause
in Amsterdam, wo ich von 1824 bis 1826 thatig war, mit Fieber und Wassersucht in meine Behandlung; sie verliess die Anstalt genesen, ohne dass sich nur eine Andeutung irgend eines Hirnleidens gezeigt hatte. Ein Jahr spater kam sie wiederum in die Anstalt, und zwar diesmal mit vollstandiger Geistesverwirrung, so dass sie gar keine Arznei nehmen wollte. Das Gesicht war geschwollen und durch Con- gestion stark gerothet, die Frau klagte wiederholt iiber heftigen Kopf- schmerz, wobei sie meistens die Hand links auf den Hinterkopf legte. Es stellte sich bald ein zunehmender comatoser Zustand ein, so dass Harn- und Stuhlentleerung unwillkiirlich erfolgten. Blutegel an den Kopf, dabei kalte Ueberschlage und innerlich eine kiihlende Mixtur, die aber nicht in gehorigerWeise eingenommen wurde, brachten keine Erleichterung. Nach ein Paar Tagen trat jedoch Besserung ein und die geistige Thatigkeit wurde ganz frei; die Frau klagte nur noch iiber etwas Schwindel, der aber nach zwei Tagen auch ganz voriiber war. So durfte ich mich wohl dem Glauben an eine ziemlich vollstandige Herstellung hingeben, da auch der Kopfschmerz geCnz nachgelassen |
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Entziindung der dura mater. 99
hatte. Vierzehn Tage spater indessen wollte die Frau, ohne eine be-
kannte Veranlassung, neuerdings keine Arznei mehr nehmen, und sehr rasch stellte sich wieder Stupor und Coma ein. Das dauerte 9 Tage so, dann verschwanden nochmals alle krankhaften Erscheinungen. In ganz gleicher Weise wiederholten sich diese Anfalle von Sopor noch einige Male, und nacli 4 bis 5 Tagen besserte sich der Zustand von selbst. In dieser Zeit nahm die Frau weder Nahrung noch Arznei zu sich. Der Stuhl war zwischen den Anfallen von naturgemasser Be- schaffenheit und stellte sich regelmassig ein. Der Puis war nicht erregt und mehr schwach. Die Behandlung war meistens kiihlend und antiphlogistisch. Zuletzt jedoch trat eine Diarrhoe ein, wodurch die Frau wahrend eines solchen comatosen Zustandes sanft entschlief. Bei der Section fand sich die linke Hemisphere mit der dura mater
test verwachsen, und zwar oberhalb des linken Ohres nahe dem Sichel- fortsatze, am obern Theile des untern Hirnlappens dicht neben der Sylvischen Grube; die dura mater war hier durch Entziindung gerothet und verdickt. Eine Hirnerweichung fand sich nicht an dieser Stelle; eher erschiendas Gehirn daselbst etwas fester. Sonstfand sich nichts Ungewohnliches in der Leiche. . Ich entnahm aus diesem Falle, dass eine chronische Entziindung
der dura mater und des Gehirns mit langen und vollkommenen Inter- missionen vorkommen kann, wahrend welcher auch nicht das geringste Krankheitssymptom hervortritt. Zweiter Fall.
Eine Frau von mehr denn 40 Jahren hatte schon seit langerer
Zeit iiber unertragliche Kopfschmerzen geklagt, deren Heftigkeit sie endlich nothigte, im ausseren Krankenhause in Amsterdam Hiilfe zu suchen. Bei ihrem Eintritte war sie ganz verwirrt und hatte allerlei ver-
riickte Vorstellungen, was nach ein Paar Tagen in stillen Wahnsinn iiberging. Die Augen hatten einen dummen Blick, und meistens lag die Frau stumpfsinnig und in halber Betaubung da. Sie pflegte die Hand gegen die Stirne anzudriicken, was wohl in dem noch vorhan- denen heftigen Kopfschmerze seinen Grund hatte, iiber den sie aber in ihrer Bewusstlosigkeit und bei dem halb oder auch ganz comatosen Zustande nur wenig klagte. An einem localen Hirnleiden war dem- nach wohl nicht zu zweifeln. Ableitende Mittel, eine antiphlogistische 7*
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100 Entziindung der dura mater.
Behandlung mit Blutegeln, spiiter auch einige Gaben Kampher, niitzten
nur wenig. Nach sechs Wochen kehrte das Bewusstsein wieder, der Kopf-
schmerz war verschwunden, keine Spur von Somnolenz melir vor- handen; die Frau fiihlte sich wohl und hielt sich fiir vollkommen lier- gestellt, ich selbst fing an dieser Herstellung zu vertrauen, obwohl ich die traurige Erfabrung des vorber erzahlten Falles vor mir batte. Alle Functionen waren im normalen Gange, und der Frau schien nicbts zu feblen. Obwobl icb die Reconvalescenz sorgsam iiberwachte, kehrte doch
nach acht Wochen ohne eine bekannte Veranlassung der Kopfschmerz mit erneuerter Heftigkeit zuriick; dazu gesellten sich wieder Delirien mit allerlei verriickten Vorstellungen, und nach ein Paar Tagen trat Coma ein. Es stellte sich dann noch eine unwillkiirliche Contractur aller Flexoren der linkenGliedmaassen ein, die mir mehrmals bei Ge- hirnerweichung vorgekommen ist, und bald darauf verschied die Frau. Nach Eroffnung des Schadels fand sich, dass die rechte Hemi-
sphere vorn sehr genau mit der dura mater verwachsen war. Unter dieser Verwachsung lagen ein Paar harte Tuberkel, die beim Durch- scbneiden eine fast knorpelartige Harte zeigten, umgeben von einer erweichten, fast breiartigen Hirnmasse. Im bintern und seitlichen Theile der rechten Hemisphere zeigten sich ebenfalls Spuren von Ent- ziindung und kleinere Tuberkel, die von erweichter Hirnmasse um- geben wurden. Bei so bedeutender Hirnaffection war also hier doch auch eine
vollstandige Intermission aller krankbaften Erscheinungen aufgetreten. Dabei will ich noch darauf aufmorksam machen, dass der vordere Gehirnlappen afficirt war, wobei das Delirium und die Geistesverwir- rung in starkerem Grade bervortraten, als im erstangefuhrten Falle. Dritter Fall.
Eine Frau von 36 Jahren, schwachen und stumpfen Geistes, beklagte
sich iiber einen ungemein beftigen Kopfschmerz und suchte dafiir im ausseren Krankenhause in Amsterdam Hiilf'e. Sie hatte einen ganz dummen Blick. Nach ein Paar Tagen verfiel sie in einen comatosen Zustand, der zwischendurch mit vollkommener Geistesverwirrung alter- nirte. Resolventia innerlich, ein Vesicans in den Nacken und Ein- reiben Autenrieth'scher Salbe in den Schadel bewirkten keine Ver- |
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Entziindung der dura mater. 101
anderung des Zustandes. Nach einiger Zeit versuchte ich auch in
diesem Falle Nitrum mit Kampher, und auch hier waren nach sechs Wochen alle Erscheinungen so vollstandig gewichen, dass die Frau ganz genesen zu sein schien. Wenn ich dies auch nicht dem Kampher zuschreihen durfte, so war doch soviel klar, dass dieses Mittel wenig- stens nichts geschadet hatte. Die Frau schien sich in vollkommener Reconvalescenz zu hefinden,
ja genesen zu sein; nur hatte sie noch einen besonderen Blick der Augen. Auf Grund meiner friiheren Erfahrungen prognosticirte ich daher ein todtliches Recidiv, und dieses stellte sich denn auch nach drei Wochen nebst den ubrigen Erscheinungen ein, wie sehr ich auch bemuht gewesen war, alle schadlichen Einfliisse abzuhalten, die einen Riickfall herbeifiihren konnten. Die Kranke wurde sehr rasch vollkommen bewusstlos, bekam
Congestionen und rothe Backen, hatte erschwertes Athmen und leichte Convulsionen. Ich liess die Ader offnen, wodurch ein Blut mit ent- ziindlicher Beschaffenheit entleert wurde, und daneben wurden Blut- egel und kalte Ueberschlage am Kopfe applicirt. Der Stupor minderte sich aber dabei nicht, die Congestion nach dem Kopfe blieb sich gleich, und endlich stellten sich heftige Convulsionen ein, die zum Tode fiihrten. Auch hier war wahrend der Krankheit, wenn von ihrer ersten Pe-
riode und vom comatosen Zustande abgesehen wird, der Appetit ein ganz naturlicher, der Stuhl aber trage. Die Iris hatte eine auffallend blasse Farbung, was ich schon bei mehreren Patienten boobachtet hatte und was ich weiterhin noch mehrmals gesehen babe. Bei der Section fand sich in der Leber und in der rechten Lunge
starke Entziindung. Diese Entziindung musste sich aber schon vor langerer Zeit entwickelt haben, denn die Leber adharirte dem Zwerch- felle durch ganz feste Pseudomembranen, in denen ich selbst neuent- standene Lymphgefasse mit Quecksilber zu fallen im Stande war, und so etwas istdoch nur in alteren Pseudomembranen moglich. Wahrend des Lebens hatte sich diese Entziindung durch keinerlei Symptome verrathen. Nach Eroffnung des Schadels sah ich, dass linkerseits die dura
mater fest mit der Hemisphiire verwachsen war, und zwar gleich hinter dem vorderen Aste der Meningea media, oben am unteren Hirnlappen. Hier war die Hirnmasse dergestalt erweicht und mit gelbem Serum infiltrirt, dass sich eine grossere Hohle von 2y2 Centimeter Hohe und |
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102 Entziindung der dura mater.
4 Centimeter horizontalem Durchmesser gebildet hatte. In der Hirn-
masse, die wohl etwas weicher als normal war, zeigten sich iiberall rothe Punkte. Aus den Ventrikeln entleerte sich viel Serum. Das linke Corpus striatum war nicht so consistent, als das der andern Seite. In diesem Falle liatte sich die Entziindung offenbar mehr iiber
das ganze Gehirn verbreitet, sie war bis zu den Ventrikeln vorgedrun- gen und hatte das Corpus striatum ergriffen, worin wohl die Convul- sionen ihre Erkliirung finden, die zumal beim letzten Recidiviren auf- traten. Dor Wiedereintritt der Krankheit mit solcher Heftigkeit, trotzdem dass alle schiidlichen Einfliisse moglichst abgehalten wurden, verdient in diesem Falle alle Beachtung. Wahrscheinlich hatte sich schon beim ersten Anfalle eine ausge-
dehntere Entziindung der pia mater entwickelt, und nach der Verstan- desverwirrung zu urtheilen, war auch schon die Rindenschicht mit in den Bereich der Erkrankung gezogen worden. Vierter Fall.
Eine 57jahrige Frau, die schon seit langerer Zeit iiber heftigen
Kopfschmerz, iiber Eingenommenheit und Klopfen im Kopfe geklagt hatte, kam 1826 in das aussere Krankenhaus zu Amsterdam. Sie hatte jetzt, bei belegter Zunge, sich mehrmals erbrochen und klagte iiber Steifsein der Glieder. Es wurden auflosende und abfiihrende Mittel verabreicht und
Blutegel an den Kopf gesetzt. Darnach trat Stuhlgang ein, aber Ein- genommenheit des Kopfes und Schlafrigkeit, eine erschwerte und stammelnde Sprache erhielten sich; dabei noch enge Pupillen, unreine Zunge, bitterer Geschmack und starker Durst. Unter dem Fortgebrauche von Brechweinstein, von auflosenden Mitteln und Klystiren regulirte sich der Stuhl, dabei aber steigerten sich die Gehirnerscheinungen, und nach fiinf Tagen verfiel die Frau in einen comatosen Zustand mit halb geschlossenen Augen und offenem Munde. Sie lag meistens auf der rechten Seite. Der rechte Arm war immer gebeugt, den linken Arm aber driickte sie an die linke Seite des Kopfes an, zum Zeichen, dass sie dort noch einen dumpfen Schmerz fiihlte. Am folgenden Tage verzog sich der Mund nach links und die Pupillen waren noch mehr vereugt, namentlich die rechte, dabei war die Sprache ungemein |
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Entziindung der dura mater. 103
erschwert, und bei dem anhaltenden Sopor antwortete die Kranke
nur auf wiederholte Ansprache mit einem einzelnen Worte. Einige Tage nachher, als der Arm in die gebeugte Stellung ge-
kommen war, trat Parese im rechten Beine em, die alsbald in voll- standige Lahmung iiberging. Ein fortwahrendes Wimmern, statt dessen auch wohl zwischendurch ein Aufschreien, beurkundete den an- haltenden heftigen Kopfscbmerz. So hielt der Zustand vom 28. Miirz bis zum 4. April an. Da
trat unter der Anwendung antiphlogistischer und resolvirender Mittel ein Nachlass in den Erscheinungen ein. Die Augen wurden wieder mehr geoffnet, die Pupillen waren nicht mehr so stark contrahirt, was nament- lich an der rechten hervortrat; das linke Auge war durch starker ausgedehnte Gefasse mehr gerothet; die Verzerrung des Mundes hob sich und der Sopor schien zu verschwinden; dabei ging aber der Urin noch unwillkiirlich ab, und die Frau klagte jetzt iiber heftigen Kopf- schmerz links und hinten in der Scheitelgegend. Sie delirirte nicht. Nach ein Paar Tagen kehrten die Krankheitserscheinungen mit
erneuerter Heftigkeit zuriick. Der rechte Arm befand sich steif in gebeugter Haltung und fiihlte sich kiihl an; mit der Linken konnte die Frau nichts festhalten, wahrscheinlich in Folge einer sich ent- wickelndenGefiihllosigkeit; die rechte Pupille war wieder starker con- trahirt. Da sich nur wenig dunkler Urin entleerte, so liess ich den Catheter appliciren, wodurch eine grosse Quantitat abging. Beide Beine wurden auch wieder starker angezogen, Coma und Bewusst- losigkeit nahmen zu. Am 18. April stellten sich Convulsionen ein, und unter diesen verschied die Frau. Bei der Section fanden sich viele verhiirtete Stoffe im Colon. Das
Coecum entziindet und verhartet, an einigen Stellen selbst knorpel- hart; die Leber entziindet und mit vielen Tuberkeln erfiillt; auf der Milz eine fast knorpelartige Platte; die Lungen verwachsen und im Innern hepatisirt. Linkerseits, oben und hinten in der Scheitel- gegend, bis auf 1 Centimeter von der Hirnsichel und bis 2 Centimeter oberhalb des Tentorium, war die dura mater in einer Ausdehnung von etwa 7 Centimetern mit der Arachnoidea und pia mater verwachsen, stark entziindet und verdickt. Die Arachnoidea unter dieser verwach- senen Partie enthielt Eiter, die Gefasse der pia mater waren sehr aus- gedehnt, die Rindenschicht erschien sehr gerothet und in der Mark- substanz zeigten sich zahlreiche Blutpunkte, die Sehhiigel, namentlich |
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104 Entziindung der dura mater.
der linke, waren starker gerothet, das Gehirn selbst fiihlte sich etwas
fester an. In der Schadelbasis fand sich purulentes Serum. Dieser Fall liefert auch wieder einen Eeweis dafiir, dass man iiber
das Fortschafi'en verliarteter Stoffe aus dem Colon sich noch im Irr- thum befinden kann, wenn auch durch auflosende und abfiihrende Mittel, so wie durch Klystire langere Zeit fiir tagliche Entleerung ge- sorgt worden ist. Die Degeneration des Colon war nicht erst frisch entstanden, die davon ausgehenden Symptome wurden aber durch die hervortretenden Gehirnerscheinungen verdunkelt. Wahrscheinlich lag in diesen Obstructionen der ganze Grund der Krankheit, zumal da der Hinterlappen des Gehirns afficirt war, auf den der vom Colon aus- gehende Reflex eher zu wirken pflegt, als auf den vordern Theil der Hemispharen. Die Verhartuug und Verdickung des Colon trug in der letzten Zeit gewiss viel dazu bei, dass die verharteten Massen schwer fortbewegt wurden. Ich will darauf aufmerksam machen, dass zwar der linke Hinter-
lappen. und der linke Sehhiigel afficirt waren, gleichwohl die rechte Pupille wahrend der Krankheitssteigerung sich starker contrahirt zeigte, wogegen die Gefasse am linken Auge, also auf der entzundlich ergriffenen Seite, sich in starkerer Ausdehnung befanden. Die Anasthesie des linken Arms diirfte mit der Affection der Sehhiigel in Beziehung gestanden haben. Es bestand in diesem Falle eine intensive Entziindung im hintern
Abschnitte der Hemisphare, oline dass der Vorderlappen mit ergriffen war. Dabei fehlte aber auch das Delirium, zum Unterschiede vom zweiten Falle, wo der Vorderlappen erkraukt war und heftiges Deli- rium bestand. Bei der Intensitat der Entziindung war die Intermission nur von kurzer Dauer und nicht ganz vollstaudig. Es ist dieser Fall auch noch darin belehrend, dass er uns zeigt
dass bei solchen comatosen Zustanden, selbst wenn der Hani fort- wiihreiid unwillkiirlich abtraufelt, dennoch die Blase ganz gefullt sein kann. Fiinfter Fall.
Fan vollbliitiger Mann, zwischen 40und50Jahre alt, hatte andert-
halb Jahre vor seiner letzten Krankheit einen Fall auf die Scheitel- gegend erlitten und dabei eine Ilippe gebrochen. Bald darauf bekam er einen apoplektischen Anfall und der Arm der rechten Seite wurde |
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Entziindurig der dura mater. 105
geliihmt, nicht aber das Bein. Nach ciniger Zeit besserte sich der
Zustand, aber der Arm blieb noch geliihmt. Dabei hatte er auch ein Leiden am Unterkiefer, der ein halb Jahr vor jenem Falle beim gewalt- samen Ausziehen eines Backenzahns gebrochen war. Im Sommer 1825 kam er im ausseren Krankenhause von Amster-
dam in meine Behandluug. Er klagte iiber heftigen Kopfschmerz und Beengung der Brust, und der Arm war noch wie frtiber geliihint. Nach eiuer nicht gerade langen Behandlung verschwanden jene Krankheits- eischeinungen, mit Ausnahme der Armlahmung, und scheinbar geheilt verliess der Mann die Anstalt. Im Marz des folgenden Jahres wurde er ganz bewusstlos wieder
dahin gebracht. Er hatte starke Congestionen zum Kopfe, einen harten Puis und lag immer auf der rechten Seite. Ein starker Ader- lass entleerte ein Blut von sehr entziindlicher Beschaffenheit; der Sopor minderte sich nicht dadurch, allein auffallend war es, dass der Kranke den rechten Arm, der bisher gelahmt gewesen war, nach dem Kopfe fiihrte. Die Bewegung schien zum Theil mit Willkiir ausgefiihrt zu werden, insofern die linke Seite der Scheitelhohe mit der rechten Hand gerieben wurde; anderntheils war es aber auch wieder eine unwillkiirlichc, durch Contraction derBeuger herbeigefiihrte Bewegung, wodurch der Arm in eine feste Beugung versetzt wurde, so dass er, wenn man ihn mit Kraft streckte, beim Nachlass von selbst wieder zum Kopfe zuriickkehrte. Zugleich legte sich der Kranke jetzt auf die linke Seite, die aber gelahmt zu sein schien, da keine Bewegungen mehr damit vorgenommen wurden. Dabei war auch noch die rechte Hiilfte des Gesichts gelahmt, indem die Backenmuskeln undderMund- winkel herunter hingen. Ham- und Stuhlabgang erfolgten unwill- kiirlich. Es wurden blutige Schropfkopfe an den Kopf gesetzt, aber ohne
Besserung zu erzielen. In der folgenden Nacht stellten sich heftige Convulsionen ein und wahrend derselben verschied der Kranke. Bei der Section zeigte sich der Schadel sehr verdickt, was man
nicht selten bei chronischer Entziindung der dura mater findet. Beim Durchsagen desselben entleerte sich viel Blut links und hinten. Die dura mater war hier, hinten und obeu an der linken Hemisphere, sehr verdickt und fest mit dem Gehirne verwachsen. Die Oberflache des Gehirns war trocken, vielleicht in Eolge der Ausdehnung, wodurch das Serum aussen weggedriickt worden war. Die Gehiruhohlen ent- hielten viel hellgelbes Serum. |
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106 Entziindung der dura mater.
Die Marksubstanz des Gehirns war unter der mit der dura mater
verwachsenen Strecke bis zum Seitenventrikel hin ganz breiartig er- weicht, und etwas gelbliches Serum befand sich zwiscben denNervenfasern. Die Erweichung hatte in einer etwas scbiefen Richtung einen Durch- messer von nicht weniger als 11 Centimeter. In der Mitte der erweich- ten Stelle, wo die dura mater am starksten ergriffen und am meisten verdiekt war, bildete die Gebirnmasse gleichsam einen grossen Tuber- kel von etwa 31/2 Centimeter Grosse; bis zu einer Tiefe von 2 Centi- metern war sie ganz hart und roth gefarbt und test mit der dura ma- ter verwachsen. Ein Tuberkei war es aber doch nicht, denn die Be- granzung des verharteten Theils ging in das Erweichte tiber, und die acut entziindete Partie wurde von erweichter Masse umgeben. Der Schadel war an der ergriffenen Stelle caribs, und der angefressene Knochen fiihlte sich rauh an. Wahrscheinlich war das auch die Stelle, wo friiher die Gewalt des Falles hingewirkt hatte. Durch diese aussere Gewalt hatte sich wohl eine chronische Entziindung der dura mater entwickelt, und beim ersten Aufenthalte des Kranken im Spitale hatte ich einen jener Accesse gesehen, die bei dergleichen Leiden von selbst wieder zu verschwinden pflegen. Beachtenswerth ist die halb willkiirliche, halb unwillkiirliche Be-
wegung des rechten Arms und die Lahmung des linken. Vielleicht bestand Reizung des linken Corpus striatum oder des linken Thalamus, und Druck des Serums in der Hirnhohle hatte vielleicht spliter die linksseitige Lahmung erzeugt. Die Lahmung des rechten Armes allein bei einein Leiden des
oberen und hinteren Theils der Hemispharen kbnnte man vielleicht zu Gunsten der Annahme von Pinel Grandchamp deuten wollen, dass bei Affectionen der hinteren Lappen und der Thalami der Arm, bei Affectionen der vorderen Lappen und des Corpus striatum das Bein gelahmt werden soil. Doch habe ich so wenig als Andral Beweise fur diesen Satz. Das unwillkiirliche Driicken auf die afficirte Kopfstelle, trotz des
vorhandenen Coma, weist doch auf den heftigen Kopfschmerz hin. Als etwas Ungewohnliches will ich noch erwahnen, dass der Unter-
kiefer auf der einen Seite bis zum Foramen inframaxittare hin so diinn wie ein Federkiel war, und dass der hintere und vordere Theil nur durch Bander mit einander zusammenhingen. |
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Entzundung der dura mater. 107
Sechster Fall.
Dieser Fall ist bereits von G. A. F. Quarin Willemier (Diss, de
Otorrhoea. Traj. ad Bhen. 1835. p. 57) ausfiihrlicher beschrieben wor- den. Er betrifft einen Maurer, der durch eine umstiirzende Mauer umgeworfen wurde, umgekehrt zwischen einem Geriiste hangen blieb und in dieser Lage durch einen schweren Stein auf den rechten Unter- kieferwinkel getroffen wurde, wodurch die Gelenkgrube eine starke Beschadigung erlitt. Von da an klagte der Mann zwischendurch iiber Kopfschmerz auf der rechten Seite. Nach Verlauf von 5 Jahren stei- gerte sich dieser Kopfschmerz, der sich iiber Stirn und Scheitel aus- breitete, zu einer solchen Hohe, dass der Mann fast in Verzweifiung gerieth, Tag und Nacht keine Ruhe hatte und endlich in Irrsinn ver- fiel, wo dann der Kopfschmerz aufzuhoren schien. Zugleich stellte sich Taubheit auf dem rechten Ohre ein, sowie Lahmung des linken Facialis, und dazu gesellte sich spaterhin, sonderbar genug, auch noch Ptosis und Strabismus extemus des rechten Auges. Andere Lahmungs- erscheinungen waren nicht da. Am 12. Januar 1835, d. h. 8 Jahre nach jenemUnfalle, wurde der
Mann als Blodsinniger in die Utrechter Irrenanstalt aufgenommen. Nach einiger Zeit besserte sich der Zustand noch einmal und der Mann konnte wieder arbeiten, ohne dass er iiber Schmerzen klagte. Allein auf einmal, ohne bekannte Veranlassung, steigerte sich der Schmerz wieder sehr bedeutend, es trat ein apoplektischer Anfall ein, Sprechen und Schlucken wurden erschwert, und das rechte Auge er- schien gerothet und geschwollen. Die apoplektischen Anfalle wieder- holten sich, aber am 2. Marz dieses Jahres war der Mann, wenngleich sehr schwach, doch wieder vollkommen bei Sinnen. Er war sich des nahe bevorstehenden Todes bewusst, traf deshalb noch einige Anord- nungen und starb in der folgenden Nacht. Die dura mater fand ich oberhalb der Fovea glenoidalis fast knor-
pelhart und gewiss bis zwei Linien dick. Der untere Hirnlappen war von der Fossa Sylvii an bis zum Rande des Cerebellum hin ganz fest mit der dura mater verwachsen, und dabei zu einem mit eiterhaltigem Serum infiltrirten Brei erweicht. An der Schadelbasis war eiterhalti- ges Serum ausgetreten, eben so an den Crura cerebri, an der Briicke, an der Medulla oblongata. Die Entzundung der dura mater vorder- halb des Felsenbeins erstreckte sich bis zu den kleinen Kleinbein- fliigeln und bis zum Sinus cavernosus, wo der Oculomotorius Zeichen |
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108 Entziindung der dura mater.
starker Entziindung wahrnehmcn liess, woraus sich die Ptosis und der
Strabismus erklaren. Die iibrigen Nerven schienen gesund zu sein. Die dura mater auf dem Felsenbeine war niclit erkrankt; gleichwohl war die Trommelhohle ganz mit plastischer Lymphe erfullt, die Gehor- knochelchen wareu gerothet durch ausgedehnte Gefasse, dergleichen auch im Vorhofe und in den Candles semicirculares sicbtbar waren. Die pia mater war vorn und oben so fest mit den Hemispharen ver- wachsen, dass sie, ohne Zerstorung zu bewirken, von derBindenschicht sich nicht abziehen liess. Ohne Zweifel war die Entziindung der dura mater durch den vor 8 Jahren erlittenen Unfall herbeigefuhrt worden. Ob jener Unfall eine Eissur veranlasst hatte und ob der Condylus maxillae degenerirt war, dariiber kann ich nichts angebeiu weil mir nur die Untersuchung des Gehirns gestattet wurde. Ich konnte noch andere Falle aus meiner Beobachtung mitthei-
len, namentlich solche, wo die Entziindung der dura mater nach Otor- rJwe uiid Caries des Eelseiibeins aufgetreten war. Ich begmige rnich indessen zunachst damit, noch auf einen von mir- beobachteten und durch Tobbe (Over de ontsteking in de voorhoofdsboezems. Utrecht, 1860. p. 41) beschriebenen Fall hinzuweisen. Er betrifft eine Frau, bei welcher die Entziindung und Vereiterung des Sinus frontalis sich zur Innenseite des Schadels fortpflanzte und eine ausgebreitete, zuletzt subpuru- lente Affection der pia mater herbeifuhrte, der die Frau erlag. Dagegen will ich jetzt noch ein Paar Falle mittheilen, aus denen
zu entnehmen ist, dass diese so gefahrliche und dabei leicht verkannte Entziindung der dura mater doch der Genesung zugefiihrt werden kann, wenn man nur eine kraftige Behandlung einschlagt. Siebenter Fall.
Ein starker, kraftiger Mann von etwa 45 Jahren, der von Jugend
auf einer guten Gesundheit sich erfreut hatte, bekam ohne bekannte Veranlassung im November 1832 Schmerzen im Arme und im Beine der linken Seite, welche Schmerzen durch Flanelleinwickelungen wie- der zu verschwinden schienen. Dazu kam von Zeit zu Zeit ein Gefiihl von Kraftlosigkeit in beiden Handen, die allerdings rasch wieder ver- schwand; dies wiederholte sich aber etwa alle acht Tage und dauerte wohl ein Vierteljahr hindurch an. Bald hernach entstand eine Ge- schwulst in der linken Kniekehle; dieselbe wurde sehr schmerzhaft, ging durch Breiumschlage in Eiterung iiber und entleerte eine grosse |
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Entziindung der dura mater. 109
Menge Eiter, worauf sich die Wunde schloss. Im December stellte
sich ein Schmerz links in der Hinterliauptsgegend, nahe dem Olire, ein, der immer iirger wurde, weshalb der Mann im Januar einen Arzt dariiber zu Rathe zog. Des Nachts im Bette nahmen die Schmerzen an Heftigkeit zu, und da man an Syphilis nicht denken konnte, so wurden sie als rheumatische Schmerzen gedeutet, wozu audi die un- freundliche Witterung zu berechtigen schien. Es wurden schweiss- treibende Mittel, namentlich Pulv. Doveri gegeben, ein Vesicans im Nacken wurde einige Zeit im Zuge erhalten, und dabei verschwand der Schmerz. Im October 1833 kam der Mann aber wieder zu seinem Arzte,
weil der Schmerz wieder mit Heftigkeit an der namlichen Stelle wii- thete und sich bis tiber das Ohr hin erstreckte. Lange Zeit war er ganz schmerzfrei gewesen, vor einiger Zeit waren aber die Schmerzen wieder periodisch aufgetreten und jctzt hatten sie sich zu grosser Hef- tigkeit gesteigert. Der Puis war schwach, nicht fieberhaft, die Augen matt und thranend, das Gesicht blass. Dabei war der Stuhl trage. Zuerst wurde ein Abfuhrmittel verordnet; dann kamen schweisstrei- bende Mittel und Pulv. Doveri an die Reihe. Die Schmerzen liessen aber nicht nach, und nach vier Tagen, am 17. Marz, nahm der Kranke meine Hiilfe in Anspruch. Ich fand den Kranken in einem sehr unerfreuliclien Zustande.
Am Kopfe, den er wegen des vermeintlichen rheumatischen Leidens ganz in Flanell eingewickelt hatte, zeigte sich etwas Oedem, das Ge- sicht war bleich und die Kopfschmerzen schienen mit uugemeiner Heftigkeit zu wiithen. Jedes Beugen des Kopfes war wegen heftiger Steigerung der Schmerzen unmoglich und der Kranke musste die ganze Nacht hindurch aufrecht im Stuhle sitzen. Dazu kam eine subparalytische Affection des linken Armes, die allerdings nur eine Viertelstunde anhielt, wo dann nur noch zuckende Bewegungen zuriickblieben. Die Augen hatten etwas Mattes, das Sehvermogen des linken Auges war geschwiicht, die Pupille desselben etwas erweitert. Das Gedachtniss fehlte beinahe ganz, und der Mann schien auf dem Punkte zu stehen, in vollkomme- nen Blodsinn zu verfallen. Die Schmerzen breiteten sich hauptsiich- lich iiber das linke Ohr und die Hinterliauptsgegend aus und cs ver- band sich mit ihnen ein starkes Gerausch im Ohre. Ich diagnosticirte sogleich eine gefahrliche Entziindung der dura
"mater, die sich bereits auf die Arachnoidea und pia mater ausgebreitet und auch die Hemisphere ergriffen hatte, wodurch die geistige Thatig- |
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110 Entziindung der dura mater.
keit beeintrachtigt wurde, und dass ausserdem noch eine Otitis im An-
zuge war. Demgemass griff ich mit Entschiedenheit zu einer antiphlogisti-
schen und ableitenden Behandlung. Die wollene Kopfumhiillung wurde durch kalte Ueberschlage ersetzt und an die schmerzhafte Stelle des Kopfes liess ich acht Blutegel setzen. Innerlich aber verordnete ich: Up. Tart. emet. gr. 5.
Aq. destill. Vnc. 5. I). S. Stiindlich 1 Essl. z. n. 18. Oct. Durch die Blutegel ist der Schmerz zwar etwas gemin- dert worden, aber immer noch heftig genug. Der Brechweinstein hat keine Uebelkeit veranlasst und auch nicht auf den Stuhl gewirkt. Sonst ist der Zustand unverandert. 20. Oct. Der Kopfschmerz ist noch sehr heftig, scheint sich aber
jetzt auf einem Punkte, schief iiber dem linken Ohre, zu concentriren. An dieser Stelle liess ich ein Fontanell anlegen; ich wirkte durch EUctuarium lenitivum auf den Stuhl und liess mit dem Brechweinsteine und den kalten Ueberschlagen fortfahren. Diese Bahandlung wurde dann fortgesetzt, die Dosis des Brechweinsteins aber von Zeit zu Zeit erhoht. 29. Oct. Es wurde jetzt auf 5 Unzen Wasser 1 Scrupel Tart. emet.
genommen. Der Kopfschmerz hatte bei dieser Behandlung entschie- den abgenommen und das ganze Aussehen des Kranken war ein bes- seres. Das Zucken im linken Arme hatte bald nach der Application des Fontanells, welches jetzt stark eiterte, nachgelassen. Es stellte sich allmalig allerdings etwas Uebelkeit ein, der Stuhl blieb aber noch immer trage. Deshalb verordnete ich: Up. Tart. emet. Scrup. 1. Extr. Aloes gr. 10. Fell, tauri inspiss. Pulv. Liquir. ana Dr. l/.2. Fiant Pill. Nr. 40. Fiinfmal taglich 3 Stuck z. n. 3. Nov. Die Schmerzen haben sich entschieden gemindert und der Stuhlgang will sich reguliren. Da der Kranke frei von Uebelkeit war, so liess ich die Pillen siebenmal taglich nehmen. 11. Nov. Der Gesammtzustand bessert sich. Die Niichte sind ru-
higer; der Kranke kann wieder liegen und wird durch den Schlaf er- quickt. Das Geriiusch im Ohre hat entschieden abgenommen. Mit |
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Entziindung der dura mater. Ill
zunehmender Besserung mindert sich aber auch die Toleranz gegen
den Brechweinstein, so dass 3 Pillen bereits Uebelkeit verursachen, weshalb die Dosis auf 2 Stuck siebenmal tiiglich herabgesetzt wird. Stuhlgang erfolgt zwei- bis dreimal taglich. 13. Nov. Der Kopfschmerz bat sich so sehr gemindert, dass der
Kranke nur noch wenig dadurcb bebindert wird. Die Augen haben einen lebhafteren Ausdruck, die Pupillen sind nicht mehr ungleicb, und das Sehvermogen des linken Auges hat sich gebessert. Das gilt aber auch von der geistigen Thatigkeit: das Gediichtniss kebrt wieder und neues Leben verbreitet sich gleichsam iiber das Gesicht. Das Fontanell ist stark im Gange und wegen der copiosen Entleerung eines stinkenden Eiters muss es mehrmals im Tage verbunden werden. Der Appetit bleibt gut, nur klagt der Kranke etwas iiber Saure im Magen und deshalb wird den Pillen eine Drachme Sapo medicatus zugesetzt. 16. Nov. Das saure Aufstossen hat aufgehort, das Gerausch im
Ohre ist ganz weg und der Puis wird voller und starker. Die Tole- ranz gegen den Brechweinstein hat aber noch mehr abgenommen, und deshalb nimmt er nur funfmal taglich 2 Stuck, im Ganzen also 5 Gran tiiglich. 18. Nov. Der Kranke hatte 2 Pillen niichtern genommen, wo dann
der Brechweinstein weit leichter Uebelkeit und Erbrechen verursacht, und so fand ich ihn sich erbrechend beim Besuche. Ich erkundigte mich, oh ihm das Erbrechen nicht Kopfschmerz verursache; er ver- sicherte aber, dass es ihm beim Erbrechen allemal leichter im Kopfe wiirde. Der weiche und schwache Puis sprach auch deutlich genug fiir die deprimirende Wirkung des Brechweinsteins aufs Gefasssystem. Die Nachte sind jetzt ruhig und Kopfschmerz spurt der Kranke
fast gar nicht mehr. Er kann sich wieder um seine Angelegen- heiten kiimmern. Das Fontanell macht ihm Schmerzen und ist ihm sehr unbequem; er will es daher gem eingehen lassen, was ich ihm aber wider rathe. Er begab sich nun wieder ausser Haus, und zu seiner "Verwunde-
rung entdeckte er, der doch in der Stadt geboren war, dass er alle Namen der Strassen und den Weg ganz vergessen hatte. Wurde ihm dann auf seine Nachfrage der Name einer Strasse genannt, so erinnerte er sich derselben wieder und er lernte so die Wege in der Stadt von Neuem kennen. Uebrigens schien er nach ein Paar Tagen ganz genesen zu sein,
denn er war nun vollstandig frei von Kopfschmerzen. Trotz meiner |
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112 Entziindung der dura mater.
Warnung liess cr nach einigerZeit das Fontanell eingehen, da er sich
ganz hergestellt wahnte und von der heimtiickischen Natur der Krank- heit nichts wissen wollte. Da erlitt der Mann im folgenden Jahre am 28. Januar Morgens,
naclidem eine reiehliche Abendmahlzeit vorausgegangen war, einen heftigen apoplektischen Anfall. Auf der Stelle wurde ein Aderlass vorgenommen und es wurden noch C Blutegel an den Kopf gesetzt. Darnach kehrte allcrdings das Bewusstsein einigermaassen zuriick; man iiberzeugte sich aber audi alsbald, dass der Mann die Sprache verloren hatte und seine Ilmgebung auch nicht recht erkannte. Da sich am folgenden Tage wieder heftige Kopfschmerzen einstellten, so wurden nochmals 6 Blutegel an die linke Seite des Kopfes applicirt; dazu Fussbader und ein Vesicator im Nacken, weil der Kranke in die Er- neuerung des Fontanells nicht einwilligte. DerStuhlgang war wieder trage und musste durch Abfiihrmittel und Tart, emeticus unterstiitzt werden. Bei dieser Behandlung blieb der Zustand des Kranken fast unver-
andert, namentlich was die Kopfschmerzen betrifft. Das Sprechen war erschwert und stammelnd, und der Kranke konnte meistens die rechten Worter nicht finden; periodisch ging es aber wieder besser mit dem Sprechen. Da der Puis keine besondere Spannung zeigte, so erhielt der Kranke ein schwaches In/usum Amicae, und dabei schien sich allerdings die Sprache langsam zu bessern, bis am 25. Februar ein neuer apoplektischer Anfall eintrat, wodurch nicht nur die Sprache ganz verloren ging, sondern auch die Fahigkeit, seine Angehorigen zu erkennen. Ich zweifelte jetzt an der Moglichkeit einer Herstellung, weil das
Leiden schon tiefer in's Gehirn vorgedrungen zu sein schien und die Form epileptischer Anfalle annehmen wollte. Ich liess daher wiederum Blutegel anlegen und setzte es durch, dass das Fontanell von Neuem am alten Platzo hergestellt und mit einer reizenden Salbe in Gang gebracht wurde. Innerlich gab ich wieder Tartarus emeticus, der aber nicht mehr gleich gut vertragen wurde, weshalb ich nur bis zu 5 Gran steigen konnte. Der Kopfschmerz hielt an, wenn er auch etwas schwiicher war. Da kam am 4. Marz ein neuer, jedoch nicht gleich heftiger Anfall, wodurch die Sprache wieder mehr litt. Von jetzt an schien sich der Zustand langsam zum Bessern zu
wenden. Aber am 27. Mai merkte der Kranke, dass ein neuer Anfall im Anzuge war, denn die Sprache war ganz aufgehoben und es drohten |
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Entziindung der dura mater. 113
Krampfe auszubrechen. Die Frau des Kranken wollte rasch etwas
Spiritus nitri dulcis geben, goss aber aus Versehen aus dem Glaschen mit Spiritus salts ammoniaci ein. Kaum hatte der Kranke hiervon etwas geschluckt, so war der Anfall, der schon ausbrechen wollte, wie abgeschnitten; die Sprache war auf der Stelle wieder da, ja selbst von einem erscbwerten Sprechen, wie es vor diesem Anfalle noch be- stand, war nicht mehr die Rede. Von jetzt an trat der Kopfschmerz allmalig wieder ganz zuriick,
wahrend das Fontanell in Eiterung blieb; es kamen keine ferneren apoplektischen Anfalle und die geistige Thatigkeit war frei. Jetzt geniigte aber audi scbon 1/i Gran Brechweinstein, um dem Manne Uebelkeit zu verursachen. Das Fontanell liess icb noch lange unter- halten, bis es im folgenden Sommer im August sich von selbst obne nachtheiligen Einfluss schloss. Im darauffolgenden Winter bekam der Mann noch einmal Schmerzen
in der Brust mit erschwertem Athmen. Fine Venisection und De- mulcentia beseitigten aber rasch diese Erscheinungen, und es zeigte sich dabei nichts von Kopfschmerz oder von einer Gehirnaffection. Er war nun wieder in seinem Comptoir, und das Rechnen und Nach- denken fiel ihm nicht beschwerlich, noch ermiidete es ihn. Er schlief gut, ohne zu traumen. Er erfreute sich von jetzt an einer ungestorten Gesundheit, und
nur erst fast 20 Jahre spater, im Jahre 1852, erlitt er wieder einen epileptischen Anfall, dem ein Gefiihl von Schwere im Kopfe vorausge- gangen war. Die Sprache war durch diesen Anfall nicht beeintrachtigt worden und Kopfschmerz war dadurch auch nicht erweckt worden. Ich verordnete blutige Schropfkopfe im Nacken und liess spater ein Fontanell im Nacken setzen; ausserdem sorgte ich fur freien Stuhl und regulirte die Diat, die wohl zu reichlich war. Seitdem ist der Mann bis jetzt (1860) gesund geblieben. Wir ersehen aus diesem Falle, wie vortheilhaft bei Pachymeningitis
kraftig ableitende Mittel sind, deren locale Wirksamkeit sich daraus erklart, dass die Gefasse der dura mater mit denen des Pericranium communiciren. Wenn nur chronische Entziindung der pia mater und Arachnoidea besteht, ohne Verwachsung mit der dura mater, so sind ableitende Mittel zwar auch nicht zu verwerfen, sie wirken aber weniger kraftig. Dieser Fall zeigt auch wieder deutlich, dass die Entziindung der
dura mater eine ganz heimtiickische Krankheit ist. Der letzte Anfall, Schroederv. d. Kolk, Geisteskrankheiten. 8
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114 Entziindung der dura mater.
20 Jahre nach der Heilung, lasst vermuthen, dass noch Residuen an
der friiher ergriffenen Stelle vorhanden sind, die man als einen aus- gebrannten Vulkan ansehen darf, von wo aus, vielleicht durch eine starkere Congestion, ein Reflex auf die Medulla oblongata zu Stande kam, der sich als epileptischer Anfall ausserte. Selir bemerkenswerth sind auch die psychischen Erscheinungen in
diesem Falle. Wahrscheinlich liatte die Entziindung sich iiber die pia mater verbreitet, wodurch eine Beeintrachtigung der Hirnrinde- zellen entstand, und so kam der Verlust des Gediichtnisses und beim spateren Recidiv die Erschwerung der Sprache zu Stande, ohne dass noch eine Entartung eingetreten war. Der Uebergang der Arterien und Venen in der pia mater selbst hatte auch hier zur Folge, dass der heftigste Sturm iiber den Patienten hin ging. Wenn der Mann, als or das erste Mai hergestellt war, den Weg in der Stadt nicht mehr wusste, wiihrend seine geistige Thatigkeit sonst keinen Abbruch er- litten hatte, so darf man wohl annehmen, dass bei einem Theile der Zellen die Function gestort geblieben war, ohne dass dies einen be- sonderen Einfluss auf die iibrigen Geisteskriifte hatte. Auch schien es nur eine unbedeutende Schwache zu sein, denn eine massige Er- regung, namlich die Erneuerung des friiheren Eindrucks durchs Ver- nehmen des Strassennamens, war ausreichend, die Function wieder herzustellen. Beim spateren Recidiye trat diese Erscheinung nicht wieder hervor. Sehr auffallend ist ferner die rasche Wirkung des fluchtigen Aetz-
ammoniaks, wodurch nicht nar der epileptische Anfall im Nu abge- schnitten wurde, sondern auch die Sprache und das Gedachtniss sich wieder herstellten. Eine solche Wirkung ist mir spater nie wieder vorgekommen, obwohl ich das Mittel hin und wieder bei bevorstehen- den epileptischen Anfallen habe versuchen lassen. Es beweist mir jene Wirkung, dass die Zellen in ihrer Wirksamkeit geschwacht waren, sich gleichsam in einem paralytischen Zustande befanden, der durch das fliichtig reizende Mittel alsbald gehoben wurde. Auch finde ich darin einen Beweis fur meiue friihere Behauptung, dass die Hirnsub- stanz nicht gerade sehr reizbar ist und der eigentlichen Entziindung und Degeneration lange Zeit widersteht. Ueber die Wirkung des Brechweinsteins, die ich weiterhin noch
ausfuhrlicher bespreche, giebt dieser Fall auch sehr belehrenden Auf- schluss. Seine deprimirende Wirkung auf Herz und Gehirn, selbst beim Erbrechen, tritt in iiberzeugender Weise hervor, und selbst die |
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Entziindung der dura mater. 115
Gehirncongestionen schien er zu beschranken. Wahrscheinlich muss
aber schon eine gewisse Saturation durch das Mittel eingetreten sein, wenn diese Wirkung hervortreten soil. Ware das Erbrechen nach der ersten Gabe des Brechweinsteins eingetreten, dann wiirde wohl eine Zunalime der Congestion eingetreten sein. Endlicb mahnt auch dieser Fall darin zur Vorsicht, dass man
nicbt aus der nacbtlichen Exacerbation der Schmerzen ohne Weiteres auf eine syphilitische Grundlage scbliesst. Der Schmerz steigerte sich hier nur deshalb, weil durch die liegende Stellung die Congestion zunalim. Achter Fall.
Die genaue Krankengeschichte dieses Falles verdanke ich meinem
Freunde Dr. Roelandt in Rotterdam, auf dessen Anrathen ich als consultirender Arzt beigezogen wurde. Der Weinhiindler van K., ein Funfziger von schlankem Wuchse
und sogenanntem lymphatischen Temperamente, hatte sich bisher bei seiner miissigen Lebensweise einer andauernden Gesundheit zu er- freuen gehabt. Im Jahre 1854 litt er aber zwischendurch an Furunkeln. Einer davon entwickelte sich in der Nahe der Augenbraue, zwei an- dere, denen ein lastiges Jucken vorausging, an der Innenseite der Nasenfliigel. Bei zweckmassiger chirurgischer Behandlung verliefen sie ohne weitere Storung der Gesundheit, obwohl weiterhin noch ein Paar kleinere Furunkel nachfolgten. In den vier ersten Monaten des Jahres 1855 stellten sich mancher-
lei unangenehme Empfindungen im Kopfe ein: ein driickendes Geftihl, Empfindlichkeit gegen unangenehme durchdringende Gerausche, Ge- sichtsschwache beimLesen und Schreiben, Schliifrigkeit, Verdriesslich- keit, leichtes Angegriffensein beim Nachdenken. Diese Erscheinungen nahmen allmalig zu, bis in der ersten Halfte Juni's sich mit mehr Bestimmtheit ein Kopfschmerz einstellte, der in den beiden folgenden Monaten langsam zunahm. In der ersten Zeit trat dieser Kopf- schmerz nur am Morgen auf. Der Mann konnte dabei seine gewohn- lichen Geschafte nicht versehen, er setzte sich wohl still hin, fasste den Kopf zwischen beide Hande und fiel dann und wann in Schlaf, wodurch der Kopfschmerz bald noch schlimmer wurde, bald auch auf kiirzere oder langere Zeit nachliess, um zu unbestimmten Stunden bei Tag oder beiNacht und unter verschiedenartiger Veranlassung wieder aufzutreten. Dabei war der Stuhl trage, wogegen Hausmittel und eine entsprechende Diat in Anwendung gebracht wurden. 8*
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116 Entziindung der dura mater.
Ungeachtet der grosseren Schlafrigkeit wirkte der Schlaf doch
nicht crquickend; der Kopfschmerz war beim Erwachen eher starker. Es war nicht ausfindig zu machen, warum die Schmerzanfalle eintraten oder warum sie wegblieben. Durch Husten, durchNiesen verstiirkten sich die Schmerzen. Als Sitz des Kopfschmerzes wurde die Stirn oberhalb der Augen-
brauen bezeicbnet; von hier breitete er sich, wenn er zunahm, iiber die Schlafen bis zum Nacken aus. Beim ersten Auftreten dieses Schmerzes hatte sich wiederum ein lastiges Jucken in der Nase ein- gestellt, wie schon zweimal bei der Entwickelung der Nasenfurunkeln, und deshalb erwartete der Kranke nochmals einen Furunkel; statt dessen kam aber der in unregelmassigen Paroxysmen auftretende und ihn nicht mehr verlassende Kopfschmerz. Die objectiven Symptome derKrankheit waren folgende: 1) Bias-
sere Farbung des Gesichts, matter und verdriesslicher Ausdruck der nur schwach injicirten Augen, niedrige Temperatur der Haut, zumal an den Gliedmaassen, erhohte Temperatur des Kopfes, zumal an Stirn und Scheitel. 2) Im Stehen hat der Kranke nicht die energische Haltung wie gewohnlich, er sitzt gern, denKopf in die Hand stiitzend; im Liegen sincl ihm alle Bewegungen beschwerlich. 3) Der Puis ist ziemlich selten (54,C), triige, klein, leicht wegzudriicken. 4) Die Re- spiration erfolgt langsam. 5) Die Innervation liegt darnieder, wie aus den psychischen und sensuellen, aber auch aus den vegetativen Verrichtungen zu entnehmen ist. In den Muskeln der Beine treten manchmal Reflexbewegungen auf, auch wahrend des Schlafes. Die Diagnose war bei den ersten Besuchen unklar. Wegen Trag-
heit des Stuhles wurden am 13. und 14. Juli kleine Gaben Extr. Aloes verordnet, die auch wirkten, und darnach blieb der Kopfschmerz am Morgen langer weg. Am 15. Juli wurden 6 Gran Tart. emet. auf 6 Unzen Wasser ver-
schrieben, wodurch Uebelkeit und reichliche Ausleerungen herbeige- fiihrt wurden. Bis zum 24. Juli wurde weiter nichts verordnet. Die Beobachtung des Kranken ergab aber, dass derselbe taglich wahrend 6 Stunden (etwa von Morgens 10 Uhr bis Nachmittags 4 Uhr) frei von Kopfschmerzen war und wahrend dieser Zeit auch seinen Geschaften obliegen konnte, dass dagegen wahrend der ubrigen 18 Stunden der eben beschriebene Zustand zugegen war. Man dachte somit an eine Intermittens Jarvata und verordnete: |
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Entziindung der dura mater. 117
Up. Chin, sulph. Scrup. 1.
Extr. Liquirit. Dr. 2. Fiant pill. Nr. 40. S. In der freien Zeit stiindlich zwei Stuck zu nehmen.
Dabei horten die Kopfschmerzen auf, es stellte sich ein ruhiger
und natiirlicher Schlaf ein, und vom 2. August an setzte daher der Kranke die Pillen aus. Die Heilung war indessen von kurzer Dauer; bereits am 8. August hatte sich der friihere Zustand wieder eingefun- den. Man dachte an ein Recidiv der Intermittens und verordnete von Neuem Chinin; dieses Mai aber ohne alien Erfolg. Die Symptome nahmen eher an Heftigkeit zu, und es kam niclit mehr zu einer regel- massigen Intermittenz. Dem Kranken wurden jetzt Sturzbader angerathen; dieselben
hatten aber keinerlei Erfolg. Secbs Blutegel hinter die Obren, die bedeutend nachbluteten, bewirkten eben so wenig eineBesserung, eher verschlimmerten sich alle Krankheitserscheinungen bei Fortdauer der Kopfschmerzen: der Schlaf wurde mehr soporos, und der Kranke er- wachte nur mit immer heftigerenKopfschmerzen; die Reflexbewegungen in den Beinen traten haufiger auf; auch wurde einmal, wenn auch nur voriibergehend, eine unregelmassige Erweiterung der Pupillen wahr- genommen. Die deutliche Congestion nach dem Kopfe und die Blut- stase forderten zu kraftigerer Ableitung auf. Am 29. August wurde verordnet: Up. Tart. emet. gr. 6.
Mucil. gummi arab.
Aq. Naph. ana Unc. 1.
Aq. destill. Unc. 6.
j3. Stiindlich 1 Essl. voll z. n. Am 30. August wurde diese Solution repetirt. Am 31. August wurde ein Infus. Sennae mit Anima Bhei und 6 Gran Tart. emet. ver- ordnet; dazu kalte Ueberschliige auf den Kopf und Sinapismen an die Waden. Es stellten sich reichliche Stiihle ein. Am 1. und 2. September wurden die namlichenMittel angewendet,
und dabei trat zum ersten Mai ein starkes wasseriges Erbrechen ein, mit galliger Beimischuug. Diesem folgte alsbald eine erfreuliche Be- ruhigung und Abspannung, ruhiger Schlaf, Erwachen ohne Kopfschmerz, gleichmassige Temperatur und feuchte Haut, Besserung des triigen Pulses, reichlichere Harnabsonderung. Der Kranke ftihlte sich selbst entschieden besser, und man schopfte wieder Hoffnung fur Genesung. |
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118 Entziindung der dura mater.
Um die Ableitung zu unterhalten, wurde ein Vesicans in den Nacken
gelegt. Indessen schon am 3. Sept. stellten sich die eben verschwunde-
nen Krankheitserscheinungen wieder ein; ja das Krankheitsbild. trat noch entschiedener hervor als friiher. Es wurde Eodr. Aloes aquosum gegeben und zwar in steigender Dosis, aber ohne Erfolg. Die Krank- heitserscheinungen steigerten sich nur, derKranke verfiel in vollkom- mene Lethargie, die Stirn fiihlte sich warmer an und war oberhalb der Augenbrauen deutlich gerothet, der Puis sank auf 50 Schliige. Am 6. Sept. wurde ich zur Consultation berufen. Ich fand den
Kranken in dem genannten Zustande ganz bewusstlos und diagnosti- cirte sogleich eine Pachymeningitis. Ich liess 4 Blutegel in die Nase appliciren, die moglichst nachbluten sollten, und da der Brechwein- stein in Pulver- und Pillenform besser und in grosseren Dosen ver- tragen wird, als in Solution, so verordnete ich innerlich: Up. Tart. emet. gr. 9.
Sacch. alb. Dr. 3. Divide in partes aequales 9. S. Zweistiindlich 1 Pulver z. n.
Ichrieth ferner, die wunde Stelle im Nacken in starke Eiterung zu brin-
gen, verordnete kalte Ueberscklage auf den Kopf, Sinapismen auf die Waden und ein Klystir. Letzteres bewirkte eine starke Entleerung, und dieser folgten noch fiinfmal wiisserige und gallige Abgiinge. Die Blutegel bluteten stark nach. Schon am Abend dieses Tages war der Zustand wesentlich gebessert: der Kranke war bei Bewusstsein, der Puis hatte sich auf 60 Schlage gehoben und die Haut fiihlte sich warm an, der Harn ging besser und war nicht mehr gleich dunkel. Die Nacht verlief ruhig, und wahrend derselben verschwand der Kopf- schmerz. Am 7. ziihlte man 66 Pulsschlage und der Kranke genoss etwas.
Die Tulver, die Sinapismen und das Klystir wurden wiederholt und die Eiterung im Nacken wurde befordert. Am Abend fiel der Puis wieder (62 Schlage) und wurde kleiner. Der Kranke lag auf der Seite vorn ubergebeugt, brachte iiber einzelne Dinge unrichtige Vorstellun- gen zum Vorschein und nahm einen sehr befehlerischen Ton an. Ich hatte darauf aufmerksam gemacht, dass nach Beseitigung der Krank- heitserscheinungen ein Recidiv kommen wurde, und darauf hin wur- den sechs Blutegel an die Stirn gesetzt und es wurde deren Nachblu- tung durch elastische Schropfkopfe unterhalten, so dUss die entleerte |
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Entziindung der dura mater. 119
Blutmenge etwa 5 Unzen betrug. Darnach trat Beruhigung und Ab-
spannung ein, und der Kranke hatte eine ruhige Nacht. 8. Sept. Keine Spur von Kopfschmerz; die verwirrten Vorstel-
lungen sind verschwunden, der Kopf und der iibrige Korper haben normale Temperatur; der Puis voller, mit 60 Schlagen in der Minute; die Zunge weniger belegt und mehr feucht; von der Unruhe und den Reflexbewegungen der Beine ist nichts mehr wahrzunehmen. Die Pulver werden wiederholt. Dazu wurde noch eine Unze Ricinusol, auf zwei Male zu nehmen, verordnet. 9. Sept. Die Nacht ist ruhig verlaufen. Die psychischen Verrich-
tungen sind recht gut, nur im Gedachtniss und in der Zeitrechnung zeigt sich einige Storung; der Kopfschmerz tritt nicht hervor. Die Pulver haben keine Uebelkeit verursacht und werden deshalb wieder- holt. Gegen Abend wird der Kranke unruhiger und lasst sich nur schwer im Bette halten. Im Urine zeigt sich ein niedersinkendes Wolkchen. 10. Sept. Der Schlaf war fest gewesen, das Athmen stohnend,
zwischendurch von Schluchzen unterbrochen. Am Morgen war viel Urin gelassen worden. Der Puis mehr entwickelt, die Temperatur etwas erhoht. Das Kauen und Schlucken ist erschwert und der Kranke will nichts zu sich nehmen; Abends verweigert er entschieden das Ein- nehmen der Pulver. Ein Klystir hat nur wenig Erfolg. 11. Sept. Die Nacht ist ruhig gewesen. Der Puis wechselt zwi-
schen 55 und 65 Schlagen. Das Einnehmen der Pulver wird beharr- lich verweigert. Beim zweiten Besuche wurde auf dem Fortgebrauche des Brechweinsteins bestanden und derselbe in geringerer Dosis ver- ordnet, namlich: lip. Tart. emet. gr. 10.
Extr. Hyoscy. aq. Scrup. 1.
Extr. Liquir. Dr. 1/$. Fiant pillulae Nr. 30. Zweistundlich 1 Stuck zu nehmen.
Bis zum 15. Sept, blieb der Zustand gut, ja er besserte sich so-
gar noch taglich. Der Kopfschmerz war ganz geschwunden, Verstand und Gemiithsstimmung, abgerechnet ein etwas erregtes Wesen, liessen nichts zu wiinschen ubrig. Der Schlaf wurde ruhiger und war frei von Traumen, die bisher immer gequalt hatten. Der Puis hatte 70 Schlage. Der Kranke konnte ohne Beschwerde auf einige Zeit das Bett verlassen. Die Zunge hatte einen grauen Beschlag und sah wio |
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120 Entziindung der dura inater.
geschwollen aus; der Appetit war aber dabei ganz gut *). Der Brech-
weinstein wurde deshalb ein Paar Tage ausgesetzt, und dabei bekam die Zunge ihr natiirliches Aussebn wieder. Am 13. wurde ein Klystir gegeben, auch 1 Unze Electuar. lenitivum mit 4 Gran Extr. Hyoscyami verordnet. 16. Sept. Der Kranke befindet sicb heute wieder in einem ganz
andern Zustande und die Hoffnung auf Wiederherstellung ist zum dritten Male zu Schanden geworden. Am Abend vorher waren die Hande allmalig kalt geworden, wie bei den friiberen Riickfallen, dann hatte sicb Kopfscbmerz eingestellt und die Nacht war nicbt gleich gut wie die friiberen verlaufen; kurz, Alles deutete auf die Wiederkebr des friiberen ungiinstigen Zustandes, und die Schuld davon glaubte man auf einen Diatfehler scbieben zu miissen. Der Kranke lag theilnahm- los und an Kopfscbmerzen leidend auf der namlichen Stelle. Die Haut- temperatur stand niedriger und war ungleichmassiger; das Herz schlug 60 Mai in der Minute. Da neue Congestion und Entziindung zu be- fiirchten stand, so wurden vier Blutegel an die Stirn gesetzt und de- ren Nachblutung wurde durch elastische Scbropfkopfe unterstiitzt. Dazu Sinapismen auf Waden und Fusssohlen, ein Klystir, innerlich Elect, lenitivum und neuerdings Brecbweinstein. 17. Sept. Die Nacht war nicbt sehr unruhig gewesen. Der Kopf-
schmerz war nicbt mehr gleicb heftig, aber bin und wieder zeigten sich Spuren von Verwirrung, und es bestand grosse Theilnahmlosig- keit und Verdriesslichkeit. Appetit ganz gut, auch geborige Stuhlent- leerung. Beim Abendbesucbe erklarte der Kranke, er sei frei von Kopfschmerz und habe wieder rubig geschlafen. Das Herz scblug 60 Mai in der Minute. Der Brecbweinstein wurde obne Widerwillen genommen. 18. Sept. In der Nacht trat ein diinner, nicht copioser Stuhl ein.
Das Aussehn des Kranken ist weniger gut; er hat einen leidenden Ge- sichtsausdruck, eine kiihle trockene Haut, 57 Pulsschlage, mehr Kopf- schmerz und seine ganze Haltung verkiindet nichts Gutes. Es werden wieder sechs Blutegel an die Stirn gesetzt und die Nachblutung wird durch Scbropfkopfe unterhalten. Dazu Brechweinstein ohne Extr. Hyoscyami, kalte Ueberschlage und ausserdem ein Klystir. Da diese gefahrlichen Recidive immer wieder eintraten, so kam
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*) Das kommt vielfaoh bei Maniaci vor und spricht fiir eine noch i'ortbe-
etehende Reizung. * |
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Entziindung der dura mater. 121
der Arzt auf die Vermuthung, man diirfte es mit einer speciiischen
Entziindung zu tlmn haben, einer Folge der Furunkeldyskrasie, womit die Krankheit angefangen hatte, und die wohl durch die kraftige Anti- phlogose zuriickgedriingt, aber nicht ganz gehoben sein moge. Er entschloss sich daher zum Sublimat als einem Mittel, welches Krank- hejtskeime zerstbrt, und das nach seiner Erfahrung bei heftigen aus- seren Entziindungen, die den kraftigsten antiphlogistischen Mitteln Wochen lang widerstanden, sich wirksam bewiesen hatte. Er ver- ordnete: jRjp. Merc. subl. corros. gr. 1.
Sacch. alb. Dr. 4.
Divide in partes aequales 24. S. Dreistiindlich ein Fulver z. n.
Er fand sich hierzu um so eher veranlasst, weil diesmal die Blutent-
leerung nicht den geringsten Nutzen brachte, vielmehr die Erscheinun-
gen noch an Heftigkeit zunahmen.
Ich war einige Tage abwesend gewesen und wurde jetzt wieder
consultirt. Ich hatte gegen diese kleinen Gaben Sublimat nichts ein- zuwenden, erwartete aber audi nicht viel davon. Am 19. Sept. war derZustand wohl noch der namliche. Das Herz
schlug 48 Mai in der Minute. Der Krauke war ganz gleichgiiltig und theilnahmlos und bekam bei der geringsten Bewegung Schmerzen im Kopfe. Eine geringe Menge Mittagsessen war wieder ausgebrochen worden. Abends wurden zwei Blutegel in die Nase gesetzt. 20. Sept. Nach Anlegung der Blutegel besserte sich der Zustand
schon am Abend und die Nacht war besser. Ein Klystir hatte nur massig gewirkt; Erbrechen war nicht wieder gekommen. Der Puis hat sich Ton 44 auf 56 gehoben, der Kopfschmerz ist massiger, der Kranke mehr bei Bewusstsein. Reichliche Harnentleerung. Der Subli- mat wird fortgegeben. Vom 21. bis 23. wechselten gtinstige und weniger giinstige Er-
scheinungen mit einander; die letzteren waren aber offenbar vorherr- schend. 24. Sept. Der Kranke hat sich sehr verschlimmert und'immer
mehr schwindet die Hoffnung eines giinstigen Ausgangs. Wenn auch keine entschiedenen Exacerbationen des Kopfschmerzes mehr vorkom-' men, so ist doch offenbar grossere Gefiihllosigkeit da, und Stumpfsinn und Gleichgultigkeit behindern vielleicht das Kundgeben des Schmer- zes. Der Kranke spricht so gut wie nicht mehr, kaum dass er dann und wann mit Miihe ein Wort hervorbringt. Mit den Augen mag der |
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122 Entziindung der dura mater.
Kranke freilich sehen; sie machen aber nicht den Eindruck, als ob er
damit wirkliche Wahrnehmungen erzielte. Tag und Nacht wird ziem- lich die gleiclie Lage eingenommen. Der Unterschied zwischen Schla- fen und Wachen ist nur seheinbar. Speise wird fast gar nicht mehr aufgenommen und Getrank aucb nur selten. Dabei ist in den letzten Tagen die allgemeine Abmagerung entschiedener hervorgetreten, wor- an ebensowobl die geschwachte Einwirkung des Nervensystems auf die Vegetation als die geminderte Nahrungszufuhr Schuld sein mag. Mehr und mehr tritt der adynamische Charakter der Krankheit und ein Ge- sunkensein der Innervation bei Abvvesenheit aller paralytischen Er- scheinungen hervor, so dass es geboten erscheint, durch Reizorittel einzugreifen. Aus diesem Grunde wurde ein Infusum flor. Arnicae (l1/* Drachmen auf 6 Unzen) verordnet, daneben aber der Sublimat fortgesetzt. Auch ein Klystir wurde gegeben. Gegen Abend war noch starkerer Verfall eingetreten, und es wurde jetzt ein grosses Bla- senpflaster iiber die ganze Stirn bis zum Scheitel hinauf und bis zu den Schlafen bin gelegt. 25. Sept. Die Nacht war ruhig gewesen. Der Kranke stohnt
zwischendurch. Der Puis ist etwas mehr entwickelt, schlagt aber doch nur 40 Mai in der Minute; die Hauttemperatur ist mehr natiirlich, das Schlucken weniger erschwert, als an den vorhergehenden Tagen. Die Verabreichung der Arnica wird von jetzt an nach der Hauttempera- tur bemessen. 26. Sept. In der Nacht hatte sich, wenn auch nur kurz dauernd,
heftiger Kopfschmerz eingestellt. Die Intelligenz liegt sehr darnie- der und nur starke Eindriicke wirken auf das tief gesunkene Leben. Der Puis ist von 40 auf 50 gestiegen. Nur mit Miihe und Widerwillen schluckt der Kranke und das einzelne Wort bleibt ihm fast in der Kehle stecken; nur selten kommen gleichsam lucida intervalla des Sprechvermogens vor, wo er von sich aus etwas mit Leichtigkeit sagt. Er scheint mehr zu schlafen, als dass er wirklich fest schliefe. Da das Vesicator noch nicht gezogen hat, so wird es durch ein anderes ersetzt. Auch wird wiederum ein Klystir gegeben. 27. Sept. Der Earn hat zum ersten Male einen starken Boden-
satz, der sich indessen in den nachsten Tagen nicht wiederholt. Die Thranendriisen sonderu reichlich ab und ihre Fliissigkeit sammelt sich zwischen dem untern Augenlide und dem Bulbus, sowie im innern Augenwuikel. Das dauert auch in den nachsten Tagen fort. Die |
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Entziindung der dura mater. 123
Zunge ist feucht und es stellt sich wieder Appetit ein. Die namlichen
Mittel werden fortgegeben. 28. Sept. Im Ganzen ist der Zustand mehr befriedigend, das
Athmen gut. Es sind bis jetzt 3l/2 Gran Sublimat verbraucht, olme dass sich Salivation zeigt. Durch die Arnica steigert sich immer rasch die Hauttemperatur, der Kranke will sie durchaus nicht mehr fortnehmen. 29. Sept. Wahrend der Nacht ist der Kranke ziemlich ruhig ge-
wesen. Der Zustand ist im Ganzen unverandert. Der Sublimat wird nur noch in halb so grosser Dosis fortgenoinmen. 30. Sept. Der Zustand war am Morgen noch derselbe, Abends
aber trat eine giinstige Veranderung ein. Der Kranke richtet sich ganz unversehens auf, spricht viel, isst und trinkt mit Appetit, ohne dabei so exaltirt zu sein, wie friiher bei eintretender Besserung. Er spricht ganz verstandig iiber die Gefahr, worin er so lange geschwebt hatte, und scheint von Allem unterrichtet zu sein. Er fuhlt sich ganz gut, hat 50 Pulsschliige und ist frei von Kopfschmerzen. 1. Oct. Die Nacht ist ziemlich ruhig verlaufen; kein Kopfschmerz,
keine Stoning in den geistigen Verrichtungen, 50 Pulsschliige. Durch Elect, lenitivum wird auf den Darm gewirkt und der Sublimat fortge- nommen. 4. Oct. Das Vesicator wird weggenommen und nur noch in halb-
mondformiger Gestalt auf den Protuberantiae frontales als Exutorium unterhalten. Von jetzt an schreitet die Besserung entschieden von Tag zu Tag
fort, alle beunruhigenden Symptome vcrschwinden und der Kopfschmerz bleibt aus. Der Sublimat wird noch zu l/i% Gran fortgebraucht und zwischcndurch wird noch zum Elect, lenitivum gegriffen. 13. Oct. Die Exutorien werden gehorig unterhalten, mit der Do-
sis des Sublimats wird noch weiter herabgegangen. An der Stirn ent- wickeln sich (in'Folge der Hautirritation) kleine Furunkel. Keine Spur von Salivation. Die Diat wird streng geordiiet. Einige Stunden des Tags verlasst der Mann als Reconvalescent das Bett. Diese Besserung schreitet nun gleichmassig fort. Am 8. Novem-
ber zahlt man 82 regelmassige Pulsschlage, die Abmagerung hat sich zum Theil wieder ausgeglichen, und mit Vorsicht konnen schon einige Geschafte versehen werden. Es warcn bis dahin etwa 6 Gran Subli- mat genommen worden. Von da an bis jetzt (1861) ist der Mann immer gesund geblieben;
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124 Entzundung dcr dura mater.
nur fallt es ihm beschwerlich, dass ihmdurch den Weindunst im Keller
leicht der Kopf eingenommen wird. Der Kopfschmerz ist aber nicht wieder gekommen. Man darf wohl sagen, dass in dem hartnackigen Kampfe mit dem anstiirmenden Tode ein glanzender Sieg errungen worden ist. Dieser Fall beweist wieder aufs Entschiedenste, wie hartnackig
und heimtiickisch die Pachymeningitis ist, zu deren Eigenthiimlich- keiten die oftere Wiederkehr mit erneuter Heftigkeit zu gehoren scbeint. Dass die Entzundung der dura mater auf die pia mater iiberge-
gangen war, ist wohl klar genug. Es belehrt uns der Fall, dass man bei Paralysen einzelner Gehirn-
functionen, wohin das in der letzten Zeit so sehr behinderte Schlucken zu rechnen ist, und eben so bei Verwirrtsein der geistigen Functionen doch nicht allemal gleich an eine Desorganisation zu deuken braucht. Als die Congestion und die Entzundung auf die Rindenschicht und selbst auf tiefere Theile des Gehirns sich fortpflanzten, ergab sich zwar Functionsstorung, es war aber noch nicht zu einer Desorganisa- tion gekommen. Wir haben hier aber audi einen neuen Beweis dafiir, dass die Hirnsubstanz nur langsam in den entziindlichen Zustand yer- setzt wird. Auffallend ist es, dass beim Ausbruche der Krankheit die Anfalle
mit einem fixenTypus in die Erscheinung zu treten schienen und auch dem Chinin wichen. Im weiteren Verlaufe war dies anders. Dadurch steigert sich nur das Heimtiickische der Krankheit. Ich habe mich dadurch audi einmal irrefiihren lassen in einem andern Falle, wo ich zur Consultation berufen wurde und wo der heftige Kopfschmerz dem schwefelsauren Chinin wich. Nach ein Paar Tagen trat der Kopf- schmerz wieder mit periodischen Anfallen auf, und obwohl ich eine Pachymeningitis vermuthete, stimmte ich doch auch fur Wiederholung des schwefelsauren Chinins, neben gleichzeitiger Anwendung von Blut- egeln und von Blasenpflastern im Nacken. Ich fand diesen Patienten, der ausserhalb der Stadt wohnte, beim zweiten Besuche bereits im Sterben. Der Roelandt'sche Fall zeigt ferner, dass Blutegel der afficirten
Stelle so nahe als moglich applicirt werden miissen. Blutegel und ein Vesicator im Nacken beim Beginne der arztlichen Behandlung batten nichts geholfen. Dagegen halfen die Blutegel an der Stirn (das letzte Mai freilich auch nicht) und noch mehr die Blutegel in der |
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Entziindung der dura mater. 125
Nase, wegen directer Ableitung von der afficirten Stelle. Ware die
Entziindung mehr in der Hinterhauptsgegend gewesen, so wiirden blu- tige Schropfkopfe im Nacken eher am Platze gewesen sein. Auch der Nutzen intensiver Ableitungen in der Nahe der ergrif-
fenen Stelle bestatigte sich hier. Ich kann die Heilung nicht den ge- ringen Mengen Sublimat zuschreiben, die der Kranke bekommen hat. Wahrend des Gebrauchs dieses Mittels war der Zustand noch schlimm genug. Erst dann, als das grosse die ganze Stirn bedeckende Vesicator intensiver wirkte, wich auch die Entziindung der dura mater mit alien ihren Folgen. Das Heilbringende solcher Ableitungen, gleichwie die kraftig depri-
mirende Wirkung des Brechweinsteins, habe ich noch in zwei Fallen erfahren, die ich nur mit einem Worte beriihren will. Eine Frau hatte, und zwar mehr oben am Scheitel, -eine mit heftigen Schmerzen verlaufende Pachymeningitis; allmalig traten selbst epileptische An- falle dabei hervor. Es wurden wiederholt Blutegel gesetzt, und ein Fontanell oben am Scheitel wurde tiber ein Jahr lang offen erhalten, wodurch vollkommene Heilung zu Stande kam. Es stellte sich selbst ein eiterartiger Ausfluss aus der Nase ein, wodurch der Zustand sich besserte. Der andere Fall kam ebenfalls bei einer Frau vor: die Ent- ziindung der dura mater und der heftige Schmerz, den man fur rheu- matisch gehalten hatte, traten hier oberhalb des linken Ohres auf. Ein Fontanell, welches in sehr starke Eiterung versetzt wurde, und wiederholtes Anlegen von Blutegeln brachten das langwierige Leiden, welches mehr denn einmal von cerebralen Erscheinungen begleitet war, zuletzt zum Schweigen. Es stellte sich in diesem Falle eine Otorrhoea purulenta ein, die indessen keine Taubheit hinterliess. In beiden Fallen traten mehrmals bedenkliche Recidive ein. |
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Nach meiner Erfahrung, welche durch die vorstehenden Falle
noch nicht ganz erschopft ist, kann ich die idiopathische Pachymenin- gitis, wo weder eine aussere Verletzung noch eine syphilitische Ur- sache zu Grunde liegt, keineswegs fiir eine so selten vorkommende Krankheit halten, als man bei den Autoren angegeben findet. Ich glaube, die Krankheit wird haufig verkannt, und wegen der regelmas- sigen Intermissionen fiir eine Febris larvata, oder haufiger wohl noch fur eine Cephalaea rheumatica gehalten. |
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126 Entziindung der dura mater.
Auf den e'rsten Blick kann es befremden, dass diese Entziindung
durch solche intensive Schmerzhaftigkeit sich auszeichnet. Man be- denke indessen, dass die dura mater cerebri aus zwei Hauten besteht, von denen die aussere das Periost darstellt, womit die eigentliche dura mater verwachsen ist. Die grosse Schmerzhaftigkeit in Folge ent- ztindlicher Affection hat also die dura mater mit dem Periost an an- dern Knochen gemein. Die vom Periost gesonderte dura mater des Wirbelkanals ist nach meiner Erfahrung bei weitem nicht so schmerz- haft bei Entziindungen, als die dura mater cerebri. Auch Degenera- tionen, Verknocherungen, ja selbst Entziindungen der Falx cerebri schienen in ein Paar Fallen, die mir vorgekommen sind, nicht gerade sehr schmerzhaft zu vorlaufen. Im Riickgratskanalc kommt eine iso- lirte Entziindung der dura mater frcilich nur selten vor, und man hat deshalb keine ganz reinen Beobachtungen. Indessen habe ich die hier auftretenden Schmerzen, wenn sie auch vielleicht von andern Theilen ausgingen, nicht in soldier Heftigkeit beobachtet. Nimmt die Krankheit einen mehr chronischen Verlauf, wobei die dura mater fast untrennbar mit dem Sckiidel verwiichst, dann treten nicht immer die heftigen Schmerzen auf. So verhielt es sich bei dem 72jahrigen Greise (S. 87), wo sich der Schiidel nicht von der dura mater ab- trennen liess und wo dennoch kein Kopfschmerz dagewesen war*). Eigenthiimlich ist auch die Intermittenz, die manchmal bestimmt
periodisch wie bei Febris intermittens hervortritt, meistens aber un- regelmassig sich kund giebt, so dass liingere ganz freie Zeitriiume unterschieden werden. Hierin giebt sich auch wieder die Ueberein- stimmung der dura mater mit dem Perioste anderer Stellen zu erken- nen. Bei Periostitis iiberhaupt tritt der Schmerz wahrend der Nacht- zeit meistens starker hervor, oder er hat auch langere Intermissionen. Auch bei andern Autoren geschieht der Intermittenz der Krankheits- erscheinungen Erwahnung. Namentlich finden sich vielfache Beob- achtungen der Art in dem ausgezeichneten Werke von Lallemand (Mechcrches sur Vencephale. Lettre II. Obs. 5 et 31. Lettre III. Obs. 6 |
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*) Wahrscheinlich tragt die starke Anheftung des Periosts an den Knochen
und die grosse Spannung in Folge der entziindlichen Geschwulst, wodurch ein nachtheiliger und schmerzhafter Druck auf die Nerven zu Stande kommt, vieles zu der Schmerzhaftigkeit bei. Wenigstens ist die Periostitis, die nach Bein- briichen oder nach Amputationen sich immer einstellt, nicht gar schmerzhaft, sofern nicht die zerrissenen Rander des Periosts bestimmt einer Spannung und einem Drucke ausgesetzt sind. |
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Pathologische Anatomie des Gehirns. 127
et 17. Lettre IV. Obs. 3 et 20. Lettre V. Obs. 4, wo wegen der Iuter-
mittenz Arsenik gegeben wurde. Lettre VII. Obs. 1, 2, 11. Lettre VIII. Obs. 13). In sehr acuten Fallen scheinen diese Intermissionen aber auch zu
fehlen, oder vielleicht wurden sie auch zuAnfang der Krankheit, bevor noch arztliche Behandlung eintrat, nicht benierkt. So findet sich z. B. bei Lallemand (Lettre IV. Obs. 14, aber auch noch in andern Fal- len) nichts davon erwlihnt. § 16.
Pathologische Anatomie des Gehirns. Dass Reizungen und entziindungsartige Zustande der pia mater,
je nach dem Grade ihrer Entwickelung, mit den verschiedenen Formen des Irrseins im innigsten Zusammenhange stehen, dariiber kann man bei Beriicksichtigung dessen, was ich iiber die Rindenschicht des Ge- hirns als Organs der hohern geistigen Krafte, iiber den Zusammenhang zwischen Seele und Leib, iiber den Einfluss des Leibes auf die Seele, sowie iiber die Circulation im Gehirn beigebracht habe, wohl kaum in Zweifel sein. Es giebt aber noch einige dahin beziigliche Punkte, die einer genaueren Besprechung wiirdig sind. Bekannt ist es, dass die pia mater von der Arachnoidea bedeckt
wird. Meistens lasst man, und meines Erachtens mit vollem Rechte. das aussere Blatt der Arachnoidea auf der Innenfliiche der dura mater liegen, ihr inneres oder viscerales Blatt dagegen das Gehirn bekleiden, aber solchergestalt, dass es nicht zwischen den Hirnwindungen sich einsenkt, sondern briickenformig von einer Windung zur andern ver- lauft. Dabei ist die Arachnoidea durch zartes Bindegewebe an die unterliegende pia mater geheftet. Letztere hat man nun als eine Ge- fasshaut anzusehen, wodurch fortwahrend eine serose Fliissigkeit aus- schwitzt, die sich zwischen pia mater und Arachnoidea ansammelt und auch im normalen Zustande nicht ganz zu fehlen scheint. Befindet sich aber die pia mater in einem entziindungsartigen Zustande, oder auch nur in einem Zustande starkerer Congestion, dann vermehrt sich nicht nur dieMenge des zwischen beide Haute ausgeschwitzten Serums, sondern die Fliissigkeit wird auch fibrinhaltiger und gerinnt nach dem Tode. In einem Falle konnte ich schon 6 Stunden nach dem Tode die Section eines Irrsinnigen, der bereits in Blodsinn verfallen war, |
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128 Pathologische Anatomie des Gehirns.
vornehmen. Nach Eroffnung des Schadels und Blosslegung des Ge-
hirns zeigte sich iiberall ein starkes Exsudat zwischen Arachnoidea und pia mater, welches aus Schnittstellen der Haute in solcher Menge ausfloss, dass ich es auf einem untergestellten Teller sammeln konnte. Nach einer halhen Stunde sah ich zu meiner Verwunderung, dass die Fliissigkeit im Teller in eine weissliche ziihe Masse umgewandelt wari die ganz wie eine rheumatische Entziindungsmembran aussah und sich am Rande hautartig aufhebon Hess; die Fliissigkeit musste also gros- sentheils aus Fibrin bestanden haben, das nun geronnen war. Die Hirnhaute waren inzwischen ganz durchscheinend geworden und hatten ihre natiirliche diinne Beschaffenheit angenommen, Avahrend sie noch vor wenigen Augenblicken wie verdickt aussahen. Die pia mater war aber so fest mit der Rindenschicht verwachsen, dass sie ohne Zer- reissung der Hirnsubstanz sich nicht abziehen Hess. Urn iiber die Formen und Grade des Irrseins ein richtiges Urtheil
fallen zu kbnnen, hat man festzuhalten, dass der vordere und obere Theil des Gehirns in genauester Beziehung zu unserer hbheren Geistes- tbatigkeit steht, und zwar die graue Schicht oder die Rindenschicht, die unter dem Stirnbeine bis zum Scheitel hinauf benndlich ist. Wenn man bei solchen, die im Irrsinn verstorben sind, die pia mater vor- sichtig von dieser Flache abzieht und sie dann abwascht, indem man reines Wasser aus einem Schwamme darauf tropfeln lasst, so bemerkt man Folgendes. In seltneren Fallen, wenn namlich der Kranke bei beginnender
Krankheit erlegen war, zeigt die Rindenschicht eine ungleiche Far- bung : an einzelnen Windungen erscheint sie hell rosa, an anderen mehr blass. Diese Farbennuancen machen sich manchmal nur bei einer ganz genauen Untersuchung bemerklich, und sie sind die Folgen einer starkern Congestion zu diesen bedeutungsvollen Gehirntheilen; oder auch einer schon beginnenden Entziindung. Man findet sie auch bei Kranken, die am Typhus oder am Nervenfieber unter Entwickelung eines starken Deliriums gestorben sind. Seltener trifft man diese Veranderung in frischen Fallen von Irrsein gleichzeitig auch an den hintern oder untern Hirnlappen an. Bei liingerer Dauer und bei heftigem Auftreten ist die Krankheit
in Entziindung iibergegangen. Man hat nun Miihe, die pia mater, deren Gefasse meistens stark gefiillt sind, von der Rindenschicht abzuziehen: ja nach dem Grade der Entziindung werden ganze Schichten von der oberflachlichen grauen Rinde mit abgerissen und bleiben an der Ge- |
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Pathologische Anatomie des Gehirns. 129
fasshaut hangen. Dabei ist fast immer eine mehr oder weniger grosse
Menge plastischer Lymphe zwischen pia mater und Arachnoidea ausge- schwitzt, die durchs Gerinnen im Leichname so undurchscheinend wer- den kann, dass sie eine dicke weisse Schicht bildet, durch welche die Windungen kaum hindurchschimmern. War bei langerer Dauer der Krankheit bereits Stumpfsinn oder
Blodsinn eingetreten, dann findet sich keine starkere Farbung mehr vor. Die Gefasse sind jetzt weniger gefiillt, und die pia mater lasst sehr leicbt von den Windungen los, so dass man sie leichter abzieht, als im gesunden Zustande; die graue Substanz erscheint blass und anamisch, aucb wohl diinner und etwas atropbisch; das Exsudat, wel- ches im vorhergebenden Stadium die pia mater so fest mit der Rinde vereinigt, ist ganz gescbwunden; iiberall fliesst ein wiisseriges belles Serum aus, und die Gefasse, zumal an der Gehirnbasis, sind in der Regel auf der Innenseite mit Knochenplattchen oder mit atheromato- sen Ablagerungen bedeckt. Sind die Veranderungen so weit vorgeschritten, dann ist meistens
an keine Herstellung mehr zu denken. Im zweiten Stadium dagegen, namlich bei der Verwachsung der pia mater, kann noch immer Ge- nesung eintreten; denn ich habe dasselbe mehrmals bei Individuen angetroffen, die in gleicher Weise oder wohl nicht einmal so heftig und so stark gelitten hatten, als andere Individuen, bei denen Ge- nesung eintrat. Die chronische Entziindung der Hirnhaute und der Hirnsubstanz
beschrankt sich aber nicht immer auf die vordere und obere Flache des Gehirns: bei langerer Dauer ergreift sie auch wohl die Innen- flache der Sinus und die Hirnhohlen. Die pia mater in diesen Hohlen wird dabei gewohnlich verdickt; sie hat bisweilen, zumal am Septum und im vierten Ventrikel, bei auffallendem Lichte ein Aussehen, als ware sie mit feinen Sandkornchen bedeckt. Dabei findet sich auch wohl eine gewisse Menge helles Serum in den Gehirnhohlen, wodurcb diese eine entsprechende Erweiterung erfuhren. Die pia mater auf den Corpora striata ist meistens verdickt, und sie lasst sich in der Regel nicht abziehen, ohne dass die gewohnlich erweichte Hirnmasse zerreisst. Im Leben giebt sich diese Veranderung durch paralytische Erschei- nungen kund, die mit einem Zittern der Lippen beim Sprechen anzu- fangen pflegen, und weiterhin durch Stammeln und durch erschwertes unsicheres Gehen sich bestimmter charakterisiren. Auch der dritte Ventrikel wird wohl durch Serum ausgedehnt, wodurch zugleich die Schroeder v. <1. Kolk, Oeistoskrankheiten. , 9
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130 Pathologische Anatomie des Gehirns.
Wurzeln der Oculomotorii einenDruck erleiden. Durch Herabstimmung
der Energie dieses Nerven wird das Gleichgewicht zwischen dem Le- vator palpebrae superioris und dem vom Facialis versorgten Orbicularis palpebrarum gestort, und es kommt zu einer Ptosis, die auf ein tiefes, nicht zu beseitigendes Hirnleiden deutet. Nimmt der Druck im dritten Ventrikel durch fortgesetzte Ausschwitzung noch mehr zu, dann werden die Oculomotorii noch mehr geschwacht. Es tritt nun ein un- gleiches Wirken ein zwischen dem innern geraden Augenmuskel, der vom Oculomotorius versorgt wird, und zwischen dem aussern geraden Augenmuskel, der unter der Herrschaft des Abducens steht, und ein mehr oder weniger starker Strabismus externus kommt zum Vorschein. |
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Zweites Hauptstiick.
Pathologie und Therapie des Irrseins.
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A. Idiopathisches Irrsein *).
§. 1.
Einleitung.
Es ist nicht meine Absicht, ausfuhrlicher mich dariiber auszulas-
sen, wie man mit Irren umzugehen hat, oder wie die psychische Be- handlung am zweckmassigsten einzuricbten ist; gesunder Verstand und Menschenkenntniss sind hierin in der Regel bessere Fiihrer, als viele Regeln und Beispiele, die doch nur selten auf den besonderen Fall Anwendung finden konnen. Icb mochte aber den Aerzten, die nicht Gelegenheit hatten, mit diesem scbwierigen Theile der Heilkunde in einer Irrenanstalt sich griindlicher zu beschaftigen, eine kurze und passende Anweisung geben, die ihnen in praktischer Beziehung von Nutzen sein und ihnen als feste Basis fur ihr Handeln dienen kann. Dadurch hoffe ich dazu beizutragen, dass nicht beim Ausbruche der- artiger Krankheiten, wo die Aussicht auf Genesung noch am besten ist, ein verkehrtes und unzweckmassiges arztliches Eingreifen statt- findet, der gunstigste Zeitpunkt verabsaumt wird, und dann die Krank- heit entweder einen chronischen Verlauf nimmt, oder jegliche Aussicht auf Herstellung verschwindet. |
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*) Mit einigen Auslassungen ist dieses Kapitel unverandert aufgenommen aus
der Tydschrift der Ned. Maatschappy tot bevordering der Geneeskunde. 3. Jaarg. 1852. (Heraueg.) |
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Eintheilung des Irrseins.
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§ 2.
Verschiedene Formen und Eintheilung des Irrseins. Dm in kurzen und bestimmten Ziigen ein Bild von der rationellen
Behandlung des Irrseins entwerfen zu konnen, muss ich erst einige Hauptsatze iiber das Wesen dieser Krankheit, iiber ihre nacbsten Dr- sacben, sowie iiber ihre verschiedenen Formen vorausschicken. Auf eine tiefere Begriindung mancher Satze kann ich mich aber bei dieser gedrangten Uebersicht nicht einlassen; ich will nur die Resultate einer langjahrigen Erfahrung und einer grossen Anzahl Sectionen mit- theilen. Selbstverstiindlich muss wohl das Gehirn, als dasjenige Organ,
worin sich die hoheren Geistesvermogen zunaehst kundgeben, beim Irrsein und bei der Geisterverwirrung vorzugsweise leiden. Man wiirde aber sehr irren, wenn man mit manchen Autoren die eigent- liche Quelle und Ursache der Krankheit immer im Gehirne suchen wollte. Denn dieses steht ja in engster Beziehung zum ubrigen Kor- per, und der Einfluss, den viele Grgane auf das Gehirn iiben, ist deut- lich genug; brauche ich doch nur daran zu erinnern, dass durch Sto- rung der Digestion orler durch eine copiose Mahlzeit das Gefiihl der Dnlust, eine Tragheit und Herabstimmung des Denkens hervorgerufen werden kann. Man pflegt nun die verschiedenen Arten der Geistesverwirrung
je nach der Verschiedenheit der Erscheinungen, die sie hervorrufen, zusammenzustellen und als Mania, Monomania, Melancholia, Dementia und Idiotisinus aufzufiihren. Diese Eintheilung eignet sich sicherlich zur Enterscheidung der verschiedenen Formen und verdient beibehal- ten zu werden: gleichwohl ist sie mir immer nicht recht praktisch vorgekommen, weil sie mehr von den Krankheitssymptomen als vom "Wesen und vom Drsprunge der Krankheit ausgeht. Seit Jahren habe ich daher die verschiedenen Formen der Krankheit unter zwei Haupt- gruppen untergebracht, die sich als idiopathischer und sympathischer Irrsinn bezeichnen lassen, durch eigenthiimliche Kennzeichen von ein- ander unterschieden sind und in therapeutischer Beziehung alle Be- riicksichtigung verdienen. Beim idiopathischen Irrsinne ist das Gehirn primar leidend,
mag nun ungewohnliche Anstrengung des Geistes und Deberreizung- des Gehirns zu Grunde liegen, oder mag eine violente Einwirkung, ein |
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Idiopathischer Irrsinn. 133
Fall, ein Stoss, oder bei einer gewissen Anlage und nicht selten erb-
licher Disposition irgend eine andere Ursache dazu Veranlassung ge- geben haben. Sympathischer Irrsinu besteht dann, wenn das Gehirn nur
erst secundar leidet, die veranlassende Ursache aber in anderen Kbr- pertheilen, namentlich ini Unterleibe oder in der Geschlechtssphare liegt. Bei langerem Bestehen kann daraus idiopathischer Irrsinn ent- stehen, eine Genesung kann aber nicht zu Stande kommen, wenn nicht vorher die entfernten Ursachen beseitigt worden sind. Hieraus ergiebt sich zur Geniige der grosse praktische Nutzen dieser Eintheilung. §.3.
Erscheinungen des idiopathischen Irrsinns im
Allgemeinen. Die bei Mania idiopathica auftretenden Erscheinungen charakte-
risiren diese Form des Irrsinns aufs Beste. Beim Beginne der Krankheit giebt sich nur ein gereizter Zu-
stand kund, eine Erregung der Rindensubstanz, womit sich eine be- schleunigte Circulation im Gehirne zu verbinden scheint. Der Puis ist in der Regel mehr frequent, nicht- selten auch hart und voll, das Ge- sicht in der Mehrzahl der Falle mehr gerothet, die Augen funkelnd; dabei eine ungewohnliche Beweglichkeit, eine gewisse Ueberstiirzung in alien Handlungen, und in Folge dieser Aufregung das entschiedene Gefiihl von Gesundheit, so dass der Patient versichert, er sei gesunder, rascher und kraftiger als je zuvor, auch sich befahigt erachtet, die grossten Strapazen ohne Hinderniss zu ertragen. Durch die fortwah- rende Erregung des Gehirns und die hierdurch unterhaltene Lebhaf- tigkeit wird der Schlaf zum Oefteren unterbrochen, oder es stellt sich gar kein Schlaf ein, oder aber der Patient glaubt gar keines Schlafes mehr zu bediirfen. Diese Erregung, der rasche Gedankenlauf, die ruhelose Beschaftigung, die erhitzte Phantasie bringen ihm die Ueber- zeugung, dass er viel mehr, denn friiherhin, auszufuhren im Stande ist, aber auch die Ueberzeugung, dass er mehr vermag als andere Menschen, dass er mehr ist. Er fiihlt sich nun hoher stehend, einsichts- voller, reicher oder auch machtiger; der Verstand vermag den mit Ungestiim immer mehr anschwellenden Strom der Vorstellungen und Bilder nicht mehr zu beherrschen, es kommen die ausschweifendsten |
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134 Idiopathischer Irrsinn.
Plane unci Entwiirfe zum Durchbruch, es wird mit Millionen, mit Konig-
reichen gespielt. Wir haben es jetzt mit einem Fiirsten, mit einem Kaiser zu tbun, der die ganze Erde beherrscht.*) Beim Beginne der Krankheit, die oftmals nur sebr langsam und
fast unmerklich fortscbreitet, wird die Veranderung sogar von den Hausgenossen und von den Verwandten nicht immer wahrgenommen. Man bemerkt zwar eine grossere Lebhaftigkeit, freut sich aber iiber die Versicberungen eines vollkommenen Wohlbefindens, ungeachtet die grosse Reizbarkeit und das Aufbrausen beim Widersprechen nicht selten auf unangenebmeWeise dieRuhe derFamilie storen. Uebrigens weiss sich der Kranke meistens im Anfange Fremden gegeniiber noch zu beherrschen, so dass andere Personen nichts an ihm bemerken. Beim Weiterschreiten der Krankheit miissen ihnen freilich die ver- riickten Plane, das sinnlose Kaufen und Verschwenden, der ungebiihr- liche Hochmuth und die Selbstiiberschatzung die Augen offnen. Eine solche Aufregung des Gehirns bleibt aber auch nicht ohne
Einfluss auf den iibrigen Korper. Das verlangerte Mark gerath mehr und mehr ebenfalls in erhohte Thatigkeit und es steigert sich dessen Empfindlichkeit; das verbreitet sich aber von hier iiber andere Organe, zumal iiber die Eingeweide. Daher lebhafteres Hungergefiihl und eine kraftige Verdauung, was nicht selten bis zur Fressgier fortscbreitet, womit sich auch wohl eine Neigung zum Weintrinken oder iiberhaupt zu Spirituosis verbindet. Da die Geschlechtsfunctionen mit dem ver- |
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*) Aus diesen Erscheinungen lasst sich meines Erachtens deutlich genug ent-
nehmen, dass unser hoheres Prinoip, unsere Verstandeskrafte, unser Urtheil mit den Wirkungen des Gehirns, mit der Gehirnkraft, wenn ich mich so ausdriioken mag, nicht identificirt werden darf. Resultirte unser Verstand, unser Urtheil ohne Weiteres aus dem Wirken des Gehirns, dann miissten doch solche Kranke bei der obwaltenden Erregung des Gehirns verstandiger werden, ihr Urtheil miisste gescharft sein und tiefer gehen, mit einem Worte, ihre Verstandeskrafte miissten sich erhohen. Allein gerade das Gegentheil findet Statt. Der Gedan- kengang ist wegen starkerer Erregung des Organs allerdings ein rascherer, aber der Verstand selbst zeigt sich nicht auf einer hoheren Stufe; der Kranke ist nicht mehr im Stande, den unwillkurlichen Andrang der Gedanken zu beherr- schen, und Bein Verstand wird mit fortgerissen. Nur das Organ wirkt rasoher; daB Organ aber und seine Wirkungen constituiren darum noch nicht unser Ich, unser hoheres Priucip. Beachtenswerth ist es auch, dass derartige Irre sich wohl hoher gestellt, machtiger, reicher fiihlen, oder sich selbst gottliche Eigen- schaften vindiciren. Es ist mir aber noch keiner vorgekommen, der auf seine grossere Rechtschaffenheit, auf seine hcihere Tugend gepocht hatte. Sie denken sich nur als Gotter, weil sie sich fur machtiger halten, und sie lassen es auch vielleicht nicht an Drohungen mit Blitz und Donner fehlen. |
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Idiopathischer Irrsinn. 135
langerten Marke in genauem Zusammenhange stehen, so werden auch
diese in die allgemeine Aufregung hineingezogen, und geschlechtliche Ausschweifungen kommen in solchen Zustanden haufig genug vor.*) Schreitet die Krankheit weiter fort und geht sie nicht durch iiber-
massige Hirnreizung und durch Meningitis in Raserei tiber, so folgt nun dem acuten Stadium ein inehr chronisches, wo die grosse Leben- digkeit in dem Maasse zuriicktritt, als die graue Rindenschicht mehr und mehr entartet und sich verandert. Zornige Aufwallungen kommen nur noch zwischendurch zum Vorschein, oder sie horen auch ganz und gar auf. Die Vorstellungen werden mehr und mehr verwirrt, zuletzt verfallt der Ungliickliche in Albernheit, und dabei treten oftmals die paralytischen Erscheinungen auf, welche auf eiue serose Ausschwitzung im Gehirn hinweisen. Schliesslich pflegen wiederholte apoplektische Anfalle zu kommen, bis zuletzt ein heftiger Anfall der Art das traurige Leben des Kranken endigt. Dass die Korperconstitution, das Geschlecht, das Alter hierbei
modificirend einwirken, versteht sich wohl von selbst. Immer indessen liegt Hochmuth mit verschiedenartiger Niiancirung zuGrunde; nur ist derselbe nicht, wie man wohl angenommen hat, als die veranlassende Ur- sache des Irrsinns anzusehen, sondern er bezeichnet bei der primar vom Gehirn ausgehenden Erkrankung bereits deren Anfang und er gehort zu den ersten und constanten Krankheitsymptomen. Es kom- men ferner Falle vor (und wahrscheinlich ist dann die Affection nicht gleich heftig iiber das Gehirn verbreitet oder sie schreitet langsam fort und erreicht keinen hohen Grad), wo der Irre nur in Betreff einzelner Punkte oder selbst nur eines einzigen Punktes abschweift, iiber alle anderen Sachen dagegen ganz verstandig spricht, ein Zustand, der in mancher Beziehung mit der Melancholie Aehnlichkeit hat, nur dass der Kranke nicht niedergeschlagen oder schwermiithig ist**). Diese |
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*) Zum Oefteren kamen Irre in meine Behandlung, die mit Syphilis be-
haftet waren. Der Arzt muss hierauf achten, weil die Irren es nicht immer an- geben. Auf Onanie als ursachlicb.es Moment komme ich weiterhin zu sprechen. Hier geniige die Bemerkung, dass auch bei idiopathischer Manie dieses Laster manchmal zum grossen Verderben des Kranken geiibt wird. **) Da bei der sympathischen Manie oder Melancholie, wie ich weiterhin ent-
wickeln werde, die secundar auftretende Hirnreizung nicht so heftig ist und mei- stens auch einen langsameren Verlauf nimmt, wobei dann der Kranke iiber an- dere Gegenstande ganz verniinflig sprechen kann, so darf man wohl annehmen, dass bei der idiopathischen Manie mehrfache Grade von Hirnreizung und Hirn- affection vorkommen, und darunter auch solche, wobei der geregelte Gedanken- |
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136 Idiopathischer Irrsinn.
Krankheitsform ist gewohnlich von langer Dauer und schwer zur
Heilung zu bringen. Bei Mannern, wo das Gefasssystem starker entwickelt und imAll-
gemeinen zu Entziindungen disponirt ist, kommt die Mania idiopathica weit haufiger vor, als bei Weibern. Man muss sicb dariiber wundern, wie lange Zeit ein Weib bisweilen an heftiger Manie leiden kann, ohne dass die Aufregung in eine so heftige Meningitis iibergeht, dass Mania paralytica und Blodsinn darnacb eintraten. Ich habe Falle beobachtet, wo Weiber Jabre lang in tobsiichtigem Zustande gewesen waren und dock nocb geheilt wurden.*) Bei Miinnern kommt dies seltener vor, und ein solcber Verlauf der Krankheit ist bei ihnen gefahrlicher. Aber nicht jeder Irrsinn, der mit grosser Aufregung oder selbst mit
Tobsucht verbunden ist, zahlt deshalb zur idiopathischen Form. Bei sehr reizbaren und sensibeln Individuen, namentlich bei Frauen und Madcben, auch wohl bei Mania puerperalis begegnet man Fallen, wo das Gebirn durch eine entfernte Ursache heftig gereizt wird, diese Reizung aber nicht sowohl vom Gefasssysteme ausgeht, als vielmehr durch heftige Erregung des Nervensystems, zumal bei hysterischer Anlage, hervorgebracht wird. Dann kann ebenfalls Tobsucht mit den meisten Symptomen der Mania idiopathica vorhanden sein, der Hoch- muth und die Selbstiiberhebung treten aber dabei gar nicht oder nur ganz voriibergehend hervor. Der aufmerksame Arzt wird dann die veranlassende Ursache meistens im Uterus oder in anderen entfernten |
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gang nicht ganz gestort ist. Es entsteht dann meistens nur Wahnsinn mit Einer
beherrschenden Vorstellung, jedoch ohne jenen deprimirenden Einfluss auf den Geist, woraus die melancholische Stimmung hervorgeht, die von der Einwirkung dee Sympathicus und seiner pars abdominalis auf das Gehirn herriihrt. So kon- nen Falle vorkommen, wo es schwer zu entscheiden ist, ob der Irrsinn idiopa- thisch oder sympathisch ist, zumal da die idiopathische Hirnaffection nicht selten auch wieder einen entschiedenen Einfluss auf die Baucheingeweide iibt. Gliicklicher Weise hat dieser Unterschied in solchen Fallen auf die Heilmethode keinen wesentlichen Einfluss, wie ich weiterhin nachweisen werde. *) Bei einer Frau hatte die Aufregung und die Tobsucht nicht weniger denn
7 Jahre angehalten, und wahrend der ersten 6 Jahre hatte sie meist unangeklei- det auf Stroh gelegen. Sie wurde dann in die Utrechter Irrenanstalt aufgenom- men, beruhigte sich langsam unter einer besseren Behandlung und wurde inner- halb 3 Jahren dort vollkommen hergestellt. Sie erfreute sich dann wahrend eines Zeitraums von 9 Jahren der besten Gesundheit, ohne dass ihre geistige Thatigkeit durch die langanhaltende Tobsucht einen Abbruch erlitten hatte. Un- gliicklicher Weise verfiel sie aber zuletzt von Neuem in Tobsucht, und sie befin- det sich jetzt wieder seit 6 Jahren in der Anstalt, ohne dass es gelungen ware, ihre Aufregung zu beruhigen. |
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Syrnpathischer Irrsinn. 137
Theilen ausfindig machen konnen, die durch Reflex und Einwirkung
aufs Gehirn diesen Zustand von Ueberreizung hervorriefen. Solche Falle werden auch leicht der Genesung zugefiihrt, wenn man die Ur- sache hebt und den aufgeregten Zustand beruhigt. §4.
Erscheinungen des sympathischen Irrsinns im
Allgemeinen. Der sympathische Irrsinn, zumal wenn er in der Form der Me-
lancholie auftritt, giebt ganz andere Symptome als der idiopathische. Im Allgemeinen beobachtet man bier viel weniger Aufregung, im
Gegentheil die Kranken sind meistens still, gedriickt, schwermiithig. Sie haben auch nicbt so verwirrte Vorstellungen, sondern sprechen und urtheilen ganz richtig iiber Alles; nur beherrscht sie der Wahn, dass sie ungliicklich sind, ja selbst zu den ungliicklichsten unter alien Menscben gehoren. Denu sie betrachten sich selbst als die Ursache ihres Ungliicks und verfallen in die grasslichste Angst,-die mit einem Gefiihle von Beengung in der Pracordialgegend, in der Gegend des Magens und des Quergrimmdarms gepaart ist, was sie mit Gewissens- angst verwecbseln. Sie fliehen die Menscben, verbergen sich gern in einem dunklen Winkel, und in alien ihren Handlungen, in ihrer Hal- tung, in ihrem Gesichtsausdrucke erkennt man die tiefste Schwer- muth und ein geistiges Niedergedriicktsein, welches nicht selten zur vollstandigenVerzweiflung fiihrt und Selbstmordsgedanken aufkommen lasst. Das Gehirn befindet sich in minder lebhafter Action. Zwar ist
der Kranke unaufhorlich in seine schwermuthigen Gedanken versunken, dabei aber fur gewohnlich in keinem aufgeregten Zustande. Statt des funkelnden, glanzenden Auges haben wir einen niedergeschlagenen Blick. Manchmal kommt zwar eine Congestion nach dem Kopfe vor, aber doch nur in massigem Grade, und wenn der Kopf vielleicht warmer erscheint und die Carotiden vielleicht starker klopfen, so fiihlen sich doch Hiinde und Fiisse in der Regel kiihl an, und der Radialpuls ist klein und zusammengezogen, so dass sich also eher eine ungleiche Circulation kund giebt. Es findet mehr eine chronische Congestion statt, oder dieselbe ist mehr passiv. Die Nasenspitze hat in der Regel eine rothe Farbung, aber auch wohl die Ohren zeigen |
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138 Mania idiopathica acuta.
eine solche Farbung, jenachdem die Congestion die vordern Hirnpar-
tien oder die Medulla oblongata starker trifft. Vornehmlich kommen aber hier Affectionen eutfernterer Theile vor,
in der Bauchhohle oder in der Brusthbhle, im Verdauungsapparate oder an den Gescblechtstheilen, die dem Ausbruche der Manie oder der Melancholie meistens eine gewisse Zeit lang vorausgegangen sind. Dadurch kann man bei einiger Aufmerksamkeit in den meisten Fallen in's Reine kommen, ob man es mit idiopathischem oder mit sympathi- schem lrrsinne zu thun hat. Doch gelit der sympathische Irrsinn, wie icb weiterhin nachweisen werde, durch die Storungen und Ver- anderungen, die er im Geliirne hervorruft, nicht selten in die idiopa- thische Form iiber, sei es nun, dass die melancholischen Vorstellungen ganz aufhoren und dafur eine ganz entgegengesetzte Erregungsform auftritt, sei es, dass sie in Blodsinn iibergehen, diese allgemeine Aus- gangsform aller localen zur Degeneration fiihrenden Hirnaffectionen. Ausfiihrlicher werde ieh iiber das sympathische Irrsein mich ver-
breiten, wenn ieh auf dessen specielle Behandlung komme; hier konnten nur einige Kennzeichen hervorgehoben werden, wodurch sich die sym- pathische und die idiopathische Krankheitsform von einander unter- scheiden. §.5.
Mania idiopathica acuta. Bei der Mania idiopathica haben wir mit Rttcksicht auf den Ver-
lauf eine acute und eine chronische Form zu unterscheiden. Die Mania idiopathica acuta characterisirt sich durch grossere
Intensitat und durch eine kiirzere Dauer. Der acute Verlauf kommt besonders bei kraftigen und jungen Individuen vor. Die Erscheinungen der Hirnreizung und der Meningitis treten dann mit starkerer Aus- pragung hervor, die Verwirrung des Geistes ist grosser und mehr ausgebreitet, das Toben in den Wuthanfallen ist heftiger; der Puis fiihlt sich nicht selten voll und hart an, derKopfheiss, unddas Antlitz ist manchmal starker gerothet, in der Regel aber etwas geschwollen; dieAugen, deren Conjunctiva manchmal injicirt ist, sind stark glanzend, und die Pupille erscheint meist klein und zusammengezogen; der Kranke ist in fortwahrender Bewegung, er vermag so wenig still zu sitzen, wie Jemand bei einem heftigen Zorn- oder Wuthanfalle, und dabei entwickelt er oftmals eine ungemein grosse Muskelkraft; die |
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Mania idiopathica acuta. 139
irrsinnigen Vorstellungen von Grosse, Macht und Reichthum gehen
iiber alle Schranken hinaus, und bei dieser heftigen Hirnreizung stellt sich auch nicht selten vollstandige Schlaflosigkeit ein *); derGeschlechts- trieb ist meistens erhoht. Dabei pflegt der Appetit sehr gut zu sein, so dass der Kranke in Betreff der Speisen, aber auch des Weines und der Spirituosa, wenn er sie haben kann, in hohem Grade unniassig ist. Der Stuhl ist in der Regel trage. Erhohte Anlage zu dieser Krankheitsform hat man meistens schon
in einem erblichen Zustande, im sanguinischen leicht erregbaren Tem- peramente, in grosser Lebhaftigkeit und Beweglichkeit des Geistes zu suchen. Als veranlassende Ursachen machen sich alle Einfliisse geltend, welche heftig reizend auf das Gehirneinwirken: aussere Verletzungen, der Sonnenstich**), intensive oder anhaltende geistige Anspannung, heftige Gemiitbsaffecte, Missbrauch von Spirituosis oder von andern Giften, die durchs Blut aufgenommen werden. Die Prognose ist zu Anfang der Krankheit im Ganzen nicht un-
giinstig, wenn der Kranke unter eine zweckmassige arztliche Behand- lung kommen kann. Aber es ist grosse Vorsicht nothig, weil im Anfange gernRecidivekonimen, die sehr leicht in die chronische Form ubergehen, oder auch mit den heftigsten Erscheinungen von Menin- gitis einherschreiten und mit Apoplexie oder Paralyse endigen. Auf den ersten Monat (hochstens die zwei oder drei ersten Monate) kommt hier ungemein viel an; bei langerer Andauer hat man es mit der chronischen Form zu thun. Einige Male sah ich Kranke innerhalb dieses Zeitraums der heftigen Meningitis erliegen: die Section zeigte dann starke Aussclrwitzung eines plastischen Serums, bedeutende Ful- |
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*) Auf diese Schlaflosigkeit muss der Arzt immer achten. Ihr Vorhanden-
sein weist auf eine starke Hirnreizung hin, und es wiirde in einem solchen Falle sehr verkehrt sein, wenn man mit Opiaten eingreifen wollte, wodurch nur die Congestion und der Blutandrang zum Gehirne gesteigert wiirden. In anderen Fallen freilioh konnen Opiate ganz am Platze sein, wovon nooh weiterhin die Rede sein wird. **) Diese Ursache wirkt sehr haufig in heissen Landern ein, und daher riihrt
es, dass Individuen, welche in Ost - oder Westindien, oder auf der Riickreise in's Vaterland erkrankten, bei ihrer Riickkehr nach Europa meistens unheilbar sind. Sie waren in jenen Landern einer grosseren Hitze ausgesetzt, wodurch die Krankheit sich intensiver entwickelte, namentlich wenn die starke Sonnenhitze auf den unbe- deckten Kopf wirkte, und andererseits ist in solchen Fallen der erste Zeitraum der Krankheit, wo noch Herstellung moglich ist, bereits voruber, und durch die Heftigkeit der Krankheit sind unheilbare organische Veranderungen im Gehirne zu Stande gekommen. |
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L40 Behandlung der Mania idiopathica acuta.
lung der Gefasse, starke Farbung der grauen Rinde, sogar ein hell-
rothes, mehr oder weniger geflecktes Aussehen der Marksubstanz. Natiirlich kann bei dieser acuten Form der Reizungszustand der
Gehirnhiiute in eine hochgradige Entziindung iibergehen. Das hangt grossentlieils von der Constitution und vom Alter des Kranken ab, oder auch von der die Gehirnreizung bedingenden Ursache, und dar- nach muss der Arzt seine Behandlung einrichten. Ich habe zwar waiter oben auf den Scbaden aufmerksam gemacht, den eine zu reich- liche oder eine nichtindicirte Blutentziehung herbeifiihren kann, habe aber damit nicht behaupten wollen, dass vom Aderlass in dieser Krank- heit ganzlich Abstand zu nehmen sei. Derselbe kann sogar dringend gefordert sein. Bei robuster Constitution, wenn die Gehirnreizung und die Meningitis durch deutliche Zeichen sich zu erkennen geben, wenn der Puis voll, hart, frequent und der Kranke erregt ist, muss man wohl wiederholt zur Lanzette greifen. Indessen vergesse mau nicht, dass man es hier nicht mit einem gleich reizbaren und gefass- reichen Organe zu thun hat, wie bei einer Pericarditis oder bei einer Pneumonie, d. h. man hiite sich, auf Einmal sehr grosse Mengen Blut zu entleeren*). Ist das Gehirn in einem stark gereizten und empfind- |
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*) Man wird das Nachtheilige eines solchen Verfahrens begreifen, wenn man
die anatomischen Verhallnisse in Berilcksichtigung nimmt. Gehirn und Riicken- mark sind in knocherne Kapseln eingeschlossen, die sich nicht erweitern, aber auch nicht verkleinern konnen: dieNatur suchte die edeln in diesen Hohlen ein- geschlossenen Organe moglichst unter einem gleichmassigen Drucke zu erhalten. Will zu vieles Blut daraus abfliessen, so miisste eine Art Vacuum entstehen, wenn der sich bildende leere Raum nicht wieder durch etwas erfullt wiirde. Das Blut wird somit in gewisser Beziehung durch Ansaugung zuriickgehalten, und wenn auch die von mancher Seite aufgestellte Behauptung, dass durch starke Hamor- rhagieen das Gehirn nicht blutleer weide, durchaus nicht begriindet ist, so steht doch so viel fest, dass das Gehirn nicht gleich schnell, wie andere Organe, blut- leer wird. Wenn in Folge eines starken Blutverlustes der Druck bedeutend ab- nimmt, so wirkt der Hohlraum jener knochernen Kapsel gleichsam saugend ein, die Exsudation aus den Gefassen steigert sich und der Liquor cerebro-spinalis nimmt an Menge zu: entsprechend der voriibergehenden Zunahme des Liquor cerebro-spinalis zeigt sich eine Blutabnahme in den Hirngefassen. Hierzu kommt noch, dass kein anderer Korpertheil so zahlreiche verflochtene Netze diinnwan- diger und ausdehnbarer Venen besitzt, als der Riickgratskanal, und diese mus- sen sich dabei ausdehnen und theilweise das durch den starken Blutverlust ent- stehende Vacuum erl'ullen. Auf solche Weise wird der Ausfluss des Blutes ver- langsamt und iiberhaupt wird die Circulation im Gehirne trager, als es mit der normalen Wirkungsweise dieses wichtigen Organs vertraglich ist. Das Gehirn erfahrt bei dieser tragen Circulation nicht mehr die gehorige Reizung, die Me- ningitis wird nicht gehoben, sondern geht in die chronische mehr passive Form |
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Behandlung der Mania idiopathica acuta. 141
lichen Zustande, dann kann die durch starke Aderlasse herbeige-
fiihrte Umanderung der Circulation eine neue Erregung herbeifiihren, wovon Pin el bereits Beispiele anfuhrt, die ich ebenfalls durch einige Falle vermehren kann. Nach dem Aderlass stellte sich ein neuer Wuthanfall ein. Wie empfmdlich das Gehirn gegen einen starken Blutverlust ist, ersehen wir daraus, dass ein Aderlass nicht selten von ohnmachtsahnlichen Zufallen begleitet wird, so wie von Convul- sionen, die sich damit vergesellschaften. Der Arzt muss hier auf den allgemeinen Zustand des Gefasssystenis
und auf den Puis achten, und nicht bloss die Aufregung oder die Wuth des Kranken im Auge behalten *). Ist das Gefasssystem nicht zu sehr gefiillt, dann verdient es bei Weitem den Vorzug, wenn man ein Paar blutige Schropfkopfe in den Nacken setzt, wovon ich so oft den herr- lichsten Erfolg gesehen habe. Diese bewirken eine weit kraftigere Ableitung vom Kopfe, als ein Aderlass, der eine allgemeine Wirkung aussert und nur da passt, wo die blutigen Schropfkopfe nicht aus- reichen, namlich um die allgemeine Reaction des Gefasssystenis zu bekampfen. Auch Blutegel konnen indicirt sein, und zwar nicht hinter die Ohren, sondern am besten hoch oben im Nacken, wo sie mehr auf die Aeste der Vertebralis einwirken konnen. Sie bewirken indessen keine so kraftige Ableitung, als blutige Schropfkopfe, und die Appli- cation warmer Ueberschlage im Nacken, um dadurch die Blutung zu unterhalten, wirkt leicht erwarmend und erhitzend, wodurch dann der Ableitung durch die Blutegel wieder Eintrag geschieht. Beschwerlich wird auch oftmals die Anwendung von Blutegeln wegen langerer An- dauer der Blutung, und weil dasSetzen derThiere bei einem unruhigen |
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fiber, und so befordert man durch starke Blutentziehungen den Uebergang in
Blodsinn. Daher warnt schon Pinel nachdrucklich vor denselben, und neuere Schriftsteller bestatigen seine Erfahrung. In dieser Beziehung halte man auch fest, was ich wetter oben entwickelt
habe, dass namlich das Blut die Rindenschicht sehr rasch durchstromt, weil die in selbige eindringenden Gefasse nur einen kurzen Verlauf haben. Verlangsa- mung der Circulation im Gehirne wirkt deshalb besonders schadlich. Daher ruhrt es auch, dass kohlensaurehaltiges Blut im Gehirne und in der Medulla ob- longata fast augenblicklich Erstickungserscheinungen hervorruft. *) Man achte vornehmlich auf die erhohte Temperatur an Stirn und Schei-
tel. Sind die Hande dabei kiihl, so passt ein Aderlass nur selten, ja er schadet vielmehr; sind sie dagegen warm und ist der Puis vol], so kann er niitzen, ja er kann selbst dringend erforderlich sein. Bei Manie kommt zwar nur selten Hy- pertrophic des Herzens vor, denn diese veranlasst eher Apoplexie; indessen muss der Arzt doch auch an diese Moglichkeit denken. |
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142 Behandlung der Mania idiopathica acuta.
Kranken Millie verursacht. Man hat die Blutegel auch an den Schlafen
applicirt, und um direct vom Gehirn abzuleiten, konnten sie auch im Bereiche der Frontalis an der Stirn oder in der Nahe der Augen gesetzt werden. Von Blutegeln in der Schlafengegend sah ich aber mehrmals durch die Reizung der empfindlichen Haut Erysipelas ent- stehen, und die damit verbundene Geschwulst und Congestion iiber- wogen durchihre nachtheiligen Wirkungen jene durch die Blutentziehung erzielten Vortheile. Blutegel in der Nasenhohle wirken freilich sehr stark ableitend vom Gehirne; aber bei einem sehr aufgeregten, toben- den Irren wird man sie dorthin nicht leicht bringen konnen. Am sichersten wiihlt man daher immer den Nacken hoch oben. Aber blutige Schropfkopfe, nach Umstanden wiederholt, verdienen gewiss den Vorzug. Es versteht sich von selbst, dass daneben auch anhaltende kalte
Ueberschlage auf denKopf indicirt sind, oder je nach den Umstanden auch Eis, Douchen, Tropf- und^Sturzbader auf den Kopf, oder auch neben der Kalteeinwirkung auf denKopf gleichzeitig warme Ganzbader oder Fussbader*). Sauerteig hann ebenso Anwendung finden. Dagegen verlangen Vesicatore einige Vorsicht. 1st der Kranke
sehr aufgeregt und reizbar, dann kann derReiz und derSchmerz von den Spanischen Fliegen Schaden bringen, weil der Gesammtorganismus zu sehr erregt wird; statt zu beruhigen, bringen sie die schon an sich lebhafte Phantasie des Kranken nur noch mehr in Aufruhr**). Jeder Arzt begreift wohl, dass Ruhe noting ist und alle Reize ab-
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*) Beim Fussbade hat man darauf zu achten, dass immer warmes Wasser
zugegossen wird; denn das Wasser wird rascher abgekuhlt, als die duroh den ersten Eindruck erhitzten Fiisse, es wirkt dann nicht mehr ableitend, oder man hat zuletzt sogar ein relativ kaltes Fussbad, d. h. das Badewasser ist niedriger temperirt als die Fiisse. Das Fussbad darf auch nicht zu lange fortgesetzt wer- den, und seine reizende Einwirkung verstarkt man durch Salz, durch Senf und dergleichen Substanzen. Gleichzeitig kann man auch Kalte auf den Kopf wirken lassen. Eis wirkt aber dabei leicht durch seine Schwere und durch Druck nach- theilig, wenn man diesem Uebelstande nicht durch besondere Vorkehrungen vor- beugt. **) In einem Falle, wo ich den Kranken in seiner Privatwohnung nicht im
Bette und im Zimmer zu erhalten vermochte, entschloss ich mich zu Vesicato- ren auf die Fusssohlen. Ich erreichte dadurch mein Ziel, denn der Mann war nicht im Stande, auf den entstandenen Blasen zu stehen, was auch einige Tage fortdauerte. Das Vertrauen und die FreundsGhaft des Mannes gewann ich indes- sen dadurch nicht, wenngleich die nachfolgende Ableitung zur Beruhigung bei- trug und zuletzt Heilung erreicht wurde. |
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Behandlung der Mania idiopathica acuta. 143
gehalten werden miissen, wohin namentlich die Anwesenheit vieler
Verwandten und Freunde*), eine zu haufige Zusprache und zu starkes Licht zu rechnen sind. Unter ganz Fremden und bei Abwesenheit aller Blutsverwandten sind die Kranken in der Regel ruhiger und leichter zu leiten. Widerspruch und Einreden gegcn ihre Vorstellun- gen vertragen sie von Seiten der Angehorigen um so weniger, je mehr ihnen diese friiher untergeben waren und je weniger Widerspruch sie von dorther erwarten diirfen. Auch wirken Dienstboten, denen der Kranke sonst zu befehlen pflegte, oftmals dadurch nachtheilig ein, dass letzterer es nicbt ertragen kann, durch jene im Durchsetzen seines Willens beeintrachtigt zu werden. Die Anwendung irinerlicher Mittel, solcher namentlich, die auf
den Darmkanal wirken und die bei rechtzeitiger Anwendung so nutz- bringend sein konnen, iibertreibe man ja nicht. Drastica und Acria reizen den Darmkanal zu stark, sie rufen viele wasserige Stiihle und Krampfe in den Eingeweiden hervor und bringen den Kranken eher in Aufregung, als dass sie beruhigend wirkten. 1st der Stuhl trage, wie sehr haufig in solchen Fallen, so passt ein Decoct, fol. Sennae mit Tamarinden, dem man noch ein Mittelsalz* und ein oder zwei Grane Brechweinstein zusetzen kann. Kommen darnach viele wasserige Stiihle, so lasst man die Mischung seltener nehmen oder setzt sie auch ganz aus. Besteht noch grosse Aufregung, dann ist es besser, man giebt nur Brechweinstein mit Zucker in Pulverform, oder auch bei hef- tiger Gefassaction mit Nitrum, zumal wenn die Esslust des Kranken, wie es ja gewohnlich der Fall zu sein pflegt, sehr gesteigert ist. Wenn iibrigens Nitrum einige Zeit lang gegeben wird, so verursacht es in dieser Verbindung nicht seiten Magenstorungen, weshalb ich in solchen Fallen den Brechweinstein fiir sich zu geben pflege. Manche Aerzte haben die irrige Vorstellung, der Brechweinstein miisse in solchen Fallen den Magen in einen gereizten Zustand versetzen und dadurch als Derivans wirken. Giebt man ihn indessen in solcher Gabe, dass er anhaltend Uebelkeit oder Erbrechen hervorruft, so tragt das kraftige Mittel weit weniger zur Minderung der Hirnreizung bei, als wenn der Magen nicht in solcher Weise afficirt wird. Die grosse Lebhaftigkeit |
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*) In einem Falle erzahlte mir ein Kranker naoh seiner Genesung, nichts
habe ihn mehr in Angst versetzt, als die Schatten auf einer Wand, welche da- durch entstanden, dass Personen, die er nicht immer eehen konnte, an einer an- geziindeten Lampe vorbeigingen. Diese Schatten hatte er fiir Geister und Teu- fel gehalten. |
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144 Behandlung der Mania idiopathica acuta.
und Aufregung wird am Besten durch dasselbe beschwichtigt, wenn es
in grosster Menge in den Korper ubergefuhrt wird, ohne dass Uebel- keit oderDiarrhoe entstebt*). Das hangt von der Form ab, in welcher man das Mittel verabreicbt, von etwaiger Verbindung mit andern Mitteln, die auf die Bewegung der Gedarme von Einfluss sind, so wie von der Zeit des Einnebmens. Am besten habe icb, wie schon angefiihrt, die Pulverform mit
Zucker gefunden, manchmal aucb die Pillenform. Giebt man den Brecbweinstein in wasserigerLosung, so erregt er leichter Erbrechen i in der Verdiinnung mit Wasser wird er rascher von den Gefassen ab- sorbirt, so dass in einem Momente eine grossere Menge des Mittels mit dem Blute circulirt, wo es dann, wie die Experimente mit directer Einspritzung in die Gefasse von Thieren gelehrt haben, durch seine Einwirkung auf die Centren des Nervensystems, namentlich aufs Riickenmark, rascber Erbrechen hervorruft. Das Pulver mit Zucker wird mit weniger Wasser in den Magen gebracht, die Solution ist da- her concentrirter und durch den mitgelosten Zucker dicker, die en- dosmotische Aufnahme erfolgt langsamer und es kommt nicht so schnell zum Erbrechen. Ohne Hinderniss kann man nun auch mit der Gabe allmalig weit hoher steigen, als wenn das Mittel in wasse- riger Solution verabreicht wird**). Daher kommt es vielleicht, dass man nach sehr grossen Gaben bisweilen kein Erbrechen auftreten |
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*) Stellt sich gleich zu Anfang Uebelkeit oder Erbrechen ein, wornach dann
auch Diarih.be einzutreten pflegt, so wird der Kranke nicht nur bald geschwacht, sondern sein Darm wird auch so empfindlich, dass er nur kleine Gaben von Tar- tarus emeticus vertragt, die nichts mehr niitzen. Auch schien mir dann mei- stens die Lebhaftigkeit und die Unzufriedenheit des Irrsinnigen zuzunehmen. Durch Unvorsichtigkeit hat man sich dann eines sehr wirksamen Beruhigungs- mittels beraubt. Bekanntlich kann dieses Mittel auch bei Peripneumonie die Ge- fassaction und die Entziindung kraftig herabstimmen, ohne dass es zu Erbrechen oder Diarrhoe kommt. In einem Falle von heftiger localer Pachymeningitis, die auf die pia mater ubergegangen und mit einem intensiven Kopfschmerze ver- bunden war, bekam der Kranke vom Tart. emet. Erbrechen. Ich war gerade bei ihm, und statt des kraftigen und vollen Pulses, wie bei starkerer Kopfcon- gestion, fiihlte ich den Puis schwach. Wahrend des Erbrechens war der Kopf- schmerz um Vieles gemindert. Dieser Kranke genas ubrigens vollkommen. **) Ich pflege mit kleineren Gaben von 1/i bis y3 Gran pro doBi anzufangen,
die ich mehrmals im Tage wiederholen lasse. Bei einem Tobsuchtigen kann man aber sogleich mit grosseren Mengen anfangen, und das Mittel wird dann auch besser vertragen. Durch gleichzeitigen Gebranch von Sauren, z. B. in der Form der Limonade, des Salats u. s. w., kommt es weit eher zu Uebe'keit und Er- brechen. |
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Behandlung der Mania idiopathica acuta. 145
sieht. In zwei Fallen, wo ein Irrsinniger aus Versehen eine Drachme
Tart. emet. auf Einmal bekommeu hatte, beobachtete ich weder Uebel- keit noch Diarrhoe, iiberhaupt ausser einer gewissen Schwache keine andere Erscheinung. Setzt man Abfiihrmittel irgend einer Art zu, so vertragt der Kranke das Mittel bei weitem nieht in so grosser Menge, als wenn er es unvermischt nimmt. Muss man wegen Trag- heit des Stuhles bisweilen ein Laxans geben, und kommt es nicht gerade auf eine sehr intensive Wirkung auf den Darm an, dann eignet sich am besten ein Decoct, corf, rhamni frangulae. Erbrechen tritt aucb leicbter ein, wenn der Brechweinstein ntich-
tern genommen wird. In der Regel lasse ich ihn daher nach dem Friihstuck, nach dem Mittagsessen und Abends vor Bettgehen geben, in den Zwisehenzeiten aber immer ein Stuckchen Zwieback dabei neh- men. Bei solcher Verabreichung kann man auch leichter mit der Do- sis steigen, und dabei macbt sich auch fortwahrend die eigenthiimliche beruhigende oder deprimirende Wirkung aufs Gehirn geltend, so dass der Kranke ruhiger und auch heller wird, und unter diesen giinsti- gen Veranderungen oftmals rasch der Heilung entgegen geht. In manchen Fallen, jedoch im Ganzen seltener bei Mania idio-
pathica, wird der Brechweinstein nicht vertragen, so dass alsbald Uebelkeit und Erbrechen oder Diarrhoe davon entsteht. Der Darm- kanal befindet sich dann in einem erethischen Zustande, und durch eine Emulsion oder durch andere besanftigende Mittel muss man diese Empfindlichkeit erst abzustumpfen suchen, da es nurSchaden bringen wiirde, wenn man den Brechweinstein ohne Weiteres fortgiibe. Manchmal will auch ein Irrsinniger, weil er sich fur ganz gesund
halt, gar keine Arznei nehmen. Dann kann man den Brechweinstein dem Essen oder dem Getrank zusetzen; das verlangt aber besondere Vorsicht. Hat man mit einer zu starken Dosis angefangen, so merkt es der Kranke vielleicht an der sich einstellenden Uebelkeit, oder er schmeckt es auch wohl, wenn etwa dem Trinkwasser der Zusatz ge- macht wurde; er wird dann argwohnisch und misstrauisch, halt alle Speisen und Getriinke fiir vergiftet und will gar nichts mehr nehmen, zumal wenn er bei langerem Gebrauche des Mittels den Appetit ver- loren haben sollte. Uebrigens kommt das Verweigern der Speisen mehr bei Mania sympathica vor. Bestand friiher starke Esslust, so tritt diese beim Gebrauche des
Tart. emet. immer mehr zuriick. Nur setze man das Mittel nicht so lange Zeit fort, dass die Esslust giinzlich verloren geht. Schroeder v. d. Kolk, Geisteskrankheiten. in
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146 Behandlung der Mania idiopathica acuta.
Bessert sich der Irrsinnige bei dieser Behandlung, dann nimmt
seine Toleranz gegen den Tart. emet. ab, und ohne Uebelkeit oder Er- brechen kann er lange nicht mebr die grossen Dosen vertragen, die er wahrend der friiheren Aufregung taglich und anscheinend ohne besondere Wirkung nahm. Die Regel ist demgemass folgende. Zu An- fange der Krankheit steigt man mit der Dosis jeden zweiten Tag oder auch wohl taglicb, bis sich eine Andeutung von Uebelsein kundgiebt, und dann bleibt man mit der Dosis stehen. Wird im weiteren Ver- laufe derKranke mebr berubigt, treten lucida intervalla ein, die durch wiederkehrende Accesse grosserer Lebhaftigkeit unterbrochen zu wer- den pflegen, obwobl die Krankheit fortwahrend abnimmt, so muss auch die Gabe des Brechweinsteins herabgesetzt werden, und zwar in dem Maasse, als der Kranke empfindlicher gegen das Mittel wird. Calomel mit Bad. Jalappae, wovon man bei der Hirnentziindung
der Kinder oftmals so gliinzenden Erfolg sieht, habe ich in der Regel bei Manie nicht in Anwendung gebracht. Die Gehirnaffection weicbt bier nicht so schnell wie bei Kindern, man muss das Mittel langere Zeit geben, und die etwa eintretende Salivation sah ich von einer vermehrten Congestion begleitet werden. Die weniger vortheilhafte Einwirkung dieses Mittels auf den Gesammtorganismus fiihrt ausser- dem noch einen cachektischen Zustand und ein Verfallen des Kran- ken herbei. In der Reconvalescenz sei man darauf bedacht, dass der Kranke
nicht zu schnell den Einfliissen des gesellschaftlichen Umgangs aus- gesetzt wird. Er behalt immer noch eine Zeit lang eine gewisse Er- regbarkeit, und mehrmals habe ich, weil in dieser Beziehung die no- thige Vorsicht verabsaumt worden war, einen unter Umstanden un- heilbaren Riickfall eintreten sehen. Tagliche Spaziergange an nicht gerade lebhaften Orten empfehlen sich; dagegen mussen noch einige Zeit lang lebhafte Gesellschaften, Kaffeehauser, Musik und Alles, was lebhaft aufregen konnte, vermieden werden. Im acuten Stadium der idiopathischen Manie, wenn der Kranke
sehr aufgeregt ist und eine starke Hirnreizung besteht, mussen alle Narcotica wegbleiben. In ein Paar Fallen sah ich zwar durch Digita- lis, zumal wenn sie im Infusum gegeben wurde, Ruhe eintreten in dem Maasse, als der Puis durch das Mittel herabgestimmt wurde; al- lein nach dem Aussetzen des Mittels, wenn es auch lange Zeit gegeben worden war, trat meistens ein neuer Anfall ein, so wie der Puis sich wieder hob. Im Allgemeinen schien mir die Digitalis nur ein Pallia- |
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Mania idiopathica chronica. 147
tivmittel zu sein. Gelingt es, durch Tartarus emeticus einen Kranken
zu beruhigen, so befindet er sich in der Regel auf demWege derHei- lung. Das kann man aber von der Digitalis nicht sagen. Von Opium und Morphium habe ich meistens nur nachtbeilige Wirkungen bei jener Erregung des Gefasssystems beobachtet, es stellte sich Stumpf- sinn ein oder auch eine gesteigerte Lebhaftigkeit. Bei anderen Irr- seinsformen, wo mehr das Gefiihl gesteigert ist, ohne dass die starke Aufregung im Gefasssysteme sich kundgiebt, namentlich bei sympathi- scher Manie, konnen sie freilich sehr vortheilhaft wirken. §.6.
Mania idiopathica chronica. Es gelingt nicht iminer, die acute Manie beim ersten Auftreten
zur Heilung zu bringen. Auch wird der Arzt wohl erst gerufen, nach- dem eine unzweckmassige Behandlung vorausgegangen oder auch gar nichts angewendet worden war, so dass die fiir die Herstellung geeig- netste Zeit verstrich. Manchmal ist aber auch die kraftigste Behand- lung beim ersten Auftreten der Krankheit nicht im Stande, dieFolgen der Meningitis und der Entziindung der Rindensubstanz zu verhtiten. In alien diesen Fallen tritt der Kranke, wenn er nicht unter den Er- scheiuungen der acuten Hirnentzundung erlag, mit mehr oder weniger ungiinstigen Erscheinungen in das Stadium chronicum liber. Die Heftigkeit der Krankheit ist jetzt im Abnehmen, die Tob-
sucht ist gemindert, und seltener stellen sich Anfalle von starker Auf- regung ein; aber an die Stelle des friiher wechselnden Wahnsinns, wo fast taglich neue Ideen und Plane auftauchten, ist jetzt mehr eine bestimmte einzelne Vorstellung getreten. Statt des friihereii heftigen und auffahrenden Wesens zeigen die Kranken manchmal mehr den Charakter der Narrheit, sie sind still und in ihren Vorstellungen giebt sich immer mehr eine allgemeine Verwirrtheit kund. Andere Male tritt abwechselnd noch die grossereLebendigkeit hervor, wahrend der Kranke im Ganzen von Einer Vorstellung beherrscht wird (Monoma- nia); nicht selten entwickeln sich dabei Hallucinationen, namentlich im Gehororgane (wodurch die Prognose recht ungiinstig wird), und der Kranke hort dann immer Stimmen, durch die er verfolgt wird, oder er glaubt Verwunschungen und Lasterungen zu horen, oder als Prophet empfiingt er Eingebungen von Gott und was dergleichen 10 *
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148 Mania idiopathica chronica.
mehr ist. Bei vielfachen individuellen Verschiedenheiten, worauf das
Geschlecht, die Erziehung, der Stand, die friihere Bildung und Be- schaftigung von Einfluss sind, giebt sich jedoch auch bei der chroni- schen Mania idiopathica der Hochmuth als Grundton zu erkennen, wobei nur die Ersclieinungen einen langsameren Verlauf nehmen. Auch jetzt noch lasst sich der Kranke, manchnial ganz im Wider- spruche mit seineni eigenen Vortheile, von gewissen Vorstellungen beherrschen, die er nicht niederzuhalten vermag, und alles verniinf- tige Zureden, womit ibm das Verkebrte oder Narrische seines Wahns zum Bewusstsein gebracht werden soil, hat meistens nur den Erfolg, dass er nach neuen Griinden sucht, wodurch er seinen Wahn verthei- digen kann, und dass er, statt iiberzeugt zu werden, in der Kegel nur noch mehr in diesen Wahn sich verrennt *). Wenn man diese domi- nirende Idee so wenig als moglich beriihrt und den Kranken davon abzieht, indem man seine Thatigkeit anderen Gegenstanden zulenkt, wozu vor Allem, wenn der Kranke sich dazu eignet, Arbeit und Be- scbaftigung das Ihrige beitragen kbnnen, so tragt man auf die wirk- samste Weise zur Herstellung bei, und am sichersten iordert man auf diesem Wege die Beruhigung des Geistes, gegeniiber den oftmals auf- schiessenden verwirrten Vorstellungen. Im Gesichte treten nun mehr und mehr die Zeichen der chroni-
schen Congestion oder der Meningitis auf; es hat nicht mehr eine gleichmassige tiefere Fiirbung, sondern meistens ist die Nasenspitze dunkler, und bei einem heftigeren Grade chronischer Entziindung nimmt auch die Gegend oberhalb der Augenbrauen an dieser dunkleren Far- bung Antheil (S. 51). Meistens fiihlt sich die Scheitelgegend heisser an, aber auch wohl die Stirn oder das Hinterhaupt, wahrend je nach Maassgabe des mehr oder weniger chronischen Verlaufes Hande und Fiisse kiihl sind, die Hande gleichzeitig auch wohl etwas geschwollen und bliiulich sich darstellen. Uebt man zwischen Hinterhaupt und erstem Wirbel einen Druck aus, so fiihlt der Kranke manchmal einen |
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*) Solche Kranke wissen sich bei verfanglichen Fragen oftmals reoht gut zu
helfen. Ein Kutecher versioherte mir, er sei der liebe Gott. Bald darauf fragte ich ihn, wo er geboren ware und welchen Beruf er ausgeubt habe, und diese Fragen beantwortete er ganz ordentlich. Ich sagte ihm jetzt, dass ich nicht be- greifen konne, wie er als der liebe Gott selbst es doch nicht weiter als bis zum Kutscher gebracht hatte. Seine Antwort war, er sei allerdings schon vor Adam da gewesen; Jesus sei ja aber auch in einem kleinen Dorfe geboren und sein Vater eei ein Zimmermann gewesen. |
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Mania idiopathica chronica. 149
unangenehmen driickenden Schmerz im Kopfe: es spricht diese Erschei-
nung fur eineReizung und Blutiiberfiillung der Medulla oblongata, die durch blutige Schropfkopfe im Nacken meistens abnehmen oder auch ganz verschwinden. Manchmal zeigen sich die Ohren gerothet, was von einer Congestion in der Schadelbasis und in den Wirbelschlagadern herzuriihren scbeint. Haufig wird der Kranke nocb von einem unersattlichen Hunger
beherrscht, zumal wenn er in der ersten Zeit gar nicht oder auf un- zweckmassige Weise arztlich bebandelt worden war. Wie viel Spei- sen er auch verschlingen mag, er verdaut sie in der Regel rasch und nur selten leidet er an Indigestion, was um so mehr zu verwundern ist, weil der Stuhl trage zu sein pflegt und die vorsichtige Anwendung von auflosenden und ausleerenden Mitteln verlangt. Eutzielit man dem Kranken die Speise und setzt man ibn auf eine sparsame Diat, so wird er bose, unrubig, verdriesslich; bei Fortsetzung dieser Ent- ziehung wird er schwacher und cachektisch, oder es tritt wohl auch, zumal zur Winterszeit, Zehenbrand ein*). Einmal habe ich bei einem jungen Menschen, der in heftige Wuth verfallen war, diese Gangran kritisch auftreten sehen, so dass nach derselben der Irrsinn bald schwand: es war fur hinreichende Kost gesorgt, er verlor aber an zwei Zehen die Nagelglieder. Im ferneren Verlaufe der Krankheit, zumal wenn sie sich zum
Bosen wendet, treten haufig Zeichen von Paralyse auf. Dabei fin- det man oftmals die beiden Pupillen ungleich, und es ist vielleicht ein leichter apoplektischer Anfall unbemerkt vorhergegangen; beide Augen sehen aber noch gut. Es kann diese Ungleichheit der Pupil- len schon friiher bestanden haben, vielleicht angeboren gewesen sein, und dann hat sie nichts zu bedeuten. Steht sie aber mit dem Irrsinn im Zusammenhang, dann gehort sie zu den ungiinstigsten Erschei- nungen und es steht Apoplexie zu erwarten. Sie deutet daher im |
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*) Wahrend meiner friiheren Anstellung im Amsterdamer Krankenhause, wo
die Kost oftmals viel zu wiinschen iibrig liess, desgleichen auch in der ersten Zeit zu Utrecht, wo die Irrenanstalt noch in einem bedauernswiirdigen Zustande war, als mir die arztliche Inspection iibertragen wurde, habe ich mehrmals die Pott'sche Krankheit gesehen, was mir spater bei besserer Einrichtung der Be- kostigung nicht mehr vorgekommen ist. Schon Pin el gedenkt der grossen Mortalitat, der haufigen Recidive, der grosseren Auf'regung der Irren, der todt- lichen Diarrhoen und Dysenterieen, die auftraten, als man das Speisequantum in den Irrenanstalt en zu sehr herabsetzte. |
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150 Mania idiopathiea chronica.
Allgemeinen auf Unheilbarkeit, wenngleich ich in ein Paar Fallen
doch noch Heilung beobacbtet habe. Mancbinal sind die Pupillen sehr verengt, nur Nadelkopf gross,
was immer als Zeichen starker Hirnreizung anzusehen ist*). Dazu gesellt sich auch wohl eine Storung im Sprechen. Das fangt mit einem Zucken um den Mundwinkel an, dann kann der Kranke die ersten Worte nur mit Mtihe aussprechen, und weiterhin wird das Stammeln immer starker. Eine Heilung solcher Kranken tritt nur selten ein. Die Prognose bei der chronischen Mania idiopathiea muss natiir-
lich eine ungiinstige sein. Sie ist aber um so ungiinstiger, je heftiger das fruhere Stadium auftrat, je mehr Zeichen der Meningitis friiherhin hervorgetreten waren, je kraftiger die Constitution war, je leichter das Gefasssystem in eine abnorme Thatigkeit versetzt wird, weshalb sie auch bei Mannern ungiinstiger ist. Mit der langen Dauer des lrr- seins nimmt in entsprechender Weise die Aussicht auf Genesung ab. Im hohern Alter iiber 60 und 70 Jahre pflegt die Krankheit unheilbar zu sein, zumal bei Mannern **). Bei der mehr chronischen Form sind allgemeine Blutentziehungen
nicht mehr indicirt, es miisste denn ein apoplektischer Anfall noch einen Aderlass verlangen: es tritt darnach leicht Collapsus ein oder der Kranke verfallt in ein albernes Wesen. Dauert die Gehirnconge- stion fort, wie es meistens der Fall ist, und giebt sie sich durch die obengenannten Kopferscheinungen kund, durch Rothung der Nase und der Ohren und zunehmende Verwirrung oder auch Abstumpfung des Geistes, dann sind blutige Schropfkopfe im Nacken indicirt, oder in deren Ermangelung Blutegel. Der Kranke wird meistens dadurch nach einigen Tagen heller im Kopfe, fallt aber leicht wieder in den |
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*) Bekanntlich bewirkt der Oculomotor ius die Verengerung der Pupille, und
Reizung des Sympathicus, z. B. bei Wurmern, hat eine Erweiterung zur Folge, die aber auch bei Hirndruck vorkomint. Ich habe auch eine Entfarbung der Iris beobachtet, oftmals in einem hohen Grade, und diese ist meistens ein Zei- chen von Unheilbarkeit. Manchmal sah ich auch diese Erbleichung entsprechend dem Irrsinnsgrade zu- und abnehmen. Bei Sectionen solcher Individuen fand ich in der Kegel die Merkmale starker Entziindung im Gehirne. **) Nach dem im Jahre 1848 erschienenen Berichte iiber die Hollandischen
Irrenanstalten, der sich iiber 5 Jahre verbreitet, wurden 2142 Individuen in die- sen Anstalten verpflegt, und von den iiber 70 Jahre alten Individuen wurde kein Mann geheilt, dagegen aber noch 17 Weiber. In dem die Jahre 1849 und 1850 betretfenden Berichte kommen erst zwei Fiille vor, wo Manner iiber 70 Jahre ge- heilt wurden. |
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Behandlung der Mania idiopathica chronica. 151
vorigen Zustand zuriick, so dass die namliche Cur indioirt sein kann,
zugleich wohl in Verbindung mit den friiher empfohlenen aussern Mitteln, namlich den kalten Ueberschlagen auf den Kopf, den Ganz- badeni, Fussbiidern u. s. w. Es passen dann besonders kraftige ab- leitende Mittel, Vesicatore in den Nacken, oder auch ein Haarseil, das meistens noch kraftiger wirkt. Manche empfehlen die Auten- rieth'sche Salbe, die icb ebenfalls mehrfach mit Erfolg angewendet babe. Nur verschieben die Kranken manchmal den Verband, verun- reinigen die Finger mit der Salbe und bringen sie dann an die Augen, was natiirlich scbiidliche Folgen haben kann. Uebrigens ist es mir doch so vorgekommen, als wirke dieses schmerzvolle Mittel oftmals mehr irritirend als ableitend, und deshalb habe ich es in den letzten Jabren nicht mehr angewendet. Manchmal verlangt der Zustand des Kranken das Anlegen eines Fontanells an den Waden, und ich habe gesehen, dass der genesene Patient, wenn er das Fontanell unvorsich- tiger Weise eingehen liess, ein Recidiv erlitt, welches mit Herstellung des Fontanells wiederum gehoben wurde *). Man suche ferner die Complicationen zu heben und die noch
heftige Hirnreizung und die Folgen des fruheren acuten Stadiums zu beseitigen. Fur diesen Zweck ist auch jetzt noch in erster Linie der Tartarus emeticus indicirt, bei dessen Verabreichuiig die vorhin ange- gebenen Vorsichtsmaassregeln nicht ausser Acht zu lassen sind. So grosse Dosen wie friiher kann man jetzt selten geben, man braucht es aber auch nicht. Da- bei dieser chronischen Form meistens eine zjihe Geduld und Ausdauer in Anspruch genommen wird, so darf man das Mittel nicht in solchen Dosen geben, dass der Darm dadurch zu sehr gereizt wurde. Einzelne Kranke vertragen allerdings auch gros- sere Gaben gut, und die beharrliche Verabreichung fiihrt manchmal zu einem glucklichen Ziele. In andern Fallen indessen verliert der Kranke bei Fortgebrauch dieses Mittels den Appetit, oder er leidet fortwahrend an Uebelkeit oder an Diarrhoe, fangt an abzumagern, be- kommt ein cachektisches Aussehen, und bald hier bald da treten Fu- runkeln auf, oder es bildet sich ein Ausscblag um die Lippen. Dann ist cs hohe Zeit, mit dem Brechweinstein aufzuhoren. Sind aber die |
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*) Ein Fall der Art kam in der Utrechter Anstalt vor. Ein Mann hatte frii-
her ein offenes Bein gehabt und war dabei gesund gewesen. Nach dem Zuhei- len des Beins verfiel er in Irrsinn, von dem er befreit wurde, als Fontanelle an die Waden kamen. Diese Fontanelle liess er spater wieder zuheilen, und es kam ein Recidiv des Irrsinns, welches bei Wiederherstellung der Fontanelle wich. |
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152 Behandlung der Mania idiopathica chronica.
Krankheitserscheinungen noch sehr lebhaft und ist noch fernerhin eine
die Gehirnthatigkeit herabstimmende Curmethode in Anwendung zu hringen, dann haben wir ein ausgezeichnetes und nur zu wenig ange- wendetes Mittel am Cuprum sulphuricum. Dieses wirkt ebenfalls, nur in etwas schwacherem Maasse, beruhigend aufs Nervensystem und aufsGehirn, durch seine adstringirenden Eigenschaften verhalt es sich aber noch bestimmter als ein Tonicum. Fast immer sah ich durchs Cuprum sulphuricum die Esslust wiederkehren, und die wahrend der Brechweinsteincur abgemagerten und zumCachektischen hinneigenden Kranken wurden wieder gut genahrt; auch die Geistesverwirrung ver- schwand dabei nicht selten vollstandig. Man giebt es in kleinerer Dosis als den Brechweinstein, Anfangs z. B. zu l/6 Gran einige Male taglich, und steigt darait langsam, wobei man darauf achtet, ob sich Magenschmerz oder Uebelsein dabei einstellt. In mehreren Fallen konnte ich audi grosse Dosen, selbst langere Zeit hindurch, ohne Nachtheil geben; denn es wirkt nicht auf den Stuhl und schlagt nicht durch, was der Brechweinstein so leicht thut*). Das Mittel hat nur das Unangenehme, dass man es nicht gut anders als in Pillenform geben kann, weil es den Kranken durch seinen unangenehmen Ge- schmack bald zuwider wird. Einfach mit Succus Liquiritiae verbunden wird es ohne Widerstreben genommen. In einzelnen Fallen, wo der Brechweinstein nachtheilig einwirkte,
das schwefelsaure Kupfer der Form wegen auch keine Anwendung finden konnte, die namliche Indication aber fortbestand, habe ich Zincum sulphuricum versucht. Dasselbe wirkt auch nicht auf den Stuhl, es wirkt aber auch weniger deprimirend auf das gereizte Gehirn, und deshalb habe ich nur wenig Erfolg davon gesehen. Bei einer Kranken, die gegen den Brechweinstein, bei dessen Gebrauche die Aufregung abnahm, zu empfindlich war, wurde das Zincum sulphuricum gegeben. Sie bekam vier Male taglich 2 Gran, ohne dass Uebelkeit |
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*) Einmal bin ich nach und nach bis zu der ganz ungewohnlichen Gabe von
13 Gran Cuprum sulphuricum, dreimal taglich, gestiegen. Die Kranke nahm das Mittel in dieser Gabe einen Monat hindurch, und es trat dann rasch Genesung ein. Jetzt steigerte sich aber innerhalb acht Tagen die Empfindlichkeit gegen dieses Mittel dergestalt, dass sie nicht mehr V5 Gran ohne Uebelkeit oder Magen- schmerz nehmen konnte. Die Frau blieb geheilt und gut genahrt, ohne dass nur der geringste Nachtheil von dem Mittel aufgetreten oder zuriickgeblieben ware. Man verwechselt dieses Mittel haufig mit dem Cuprum aceticum, wjlches frei- lich zu den heftigen Giften gehort. |
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Behandlung der Mania idiopathica chronica. 153
entstand; allein die Lebhaftigkeit und die Aufregung steigerten sich
wieder, und zugleich wurde der Stuhl trager, so dass Laxantia verab- reicht werden mussten. Jetzt wurde Cuprum sulphuricum gegeben, wodurch die Aufregung wieder abnahm, und die Kranke wurde ge- heilt. In einem andern Falle gab ich das Zincum sulphuricum zu 1 Gran pro dosi viermal taglich, und zwar einige Wochen lang, ohne Erfolg: der Stuhl wurde trage, die Zunge schmutzig, aber die Auf- regung des Kranken liess nicht nach. Durch Ipecacuanha sah ich zwar die Diarrhoe aufhoren, die Leb-
haftigkeit und die Aufregung der Kranken nahmen aber dabei zu. Bei manchen Kranken in diesem chronischen Zustande muss der
Arzt wegen der fortdauernden Aufregung anhaltend solche deprimi- rende Mittel geben, wobei sie dann wirklich ruhiger, stiller und fried- lieher werden, auch weniger den Qualen ihrer irren Vorstellungen unterliegen. Setzt man aber dann die Mittel aus, so kehrt die fruhere Lebhaftigkeit und Aufregung wieder zuriick. Diese Erscheinung kann sich, auch bei unheilbaren Irren, mehrmals wiederholen. Endlich bei einem ungiinstigen Ausgange lasst die Reizung und die Aufregung des Gehirns nach und die Kranken verfallen in Blodsinn oder in einen solchen im Ganzen ertraglichen Zustand, dass sie in der Anstalt wegen ihrer Folgsamkeit sich noch auf eine nutzliche und thatige Weise beschaftigen konnen. Bei manchen tritt dieser aufgeregte Zustand nur dann und wann hervor, namentlich im Friihjahre und im Herbste, und diese kehren durch die genannten Mittel meistens bald zu ihrem friiheren ruhigen Verhalten zuriick. Oftmals leiden die Kranken in dem chronischen Stadium an Ver-
stopfung und tragem Stuhle, was nach meiner Meinung mit einer Af- fection des Riickenmarkes zusammenhangt*). Das verlangt manch- |
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*) Die Neigung zum tragen Stuhl ist auch in der Regel starker, wenn die
Erscheinungen der Hirnreizung zunehmen. Sie kann daher eine Folge der Ma- nia idiopathica sein, gleichwie andererseits der trage Stuhl und die Neigung zur Verstopfung haufig zur Manie fiihren, und zwar durch Reflex aus dem Unter- leibe auf das Ruckenmark und Gehirn. Hieraus ist aber auch zu entnehmen, dass die genannte abnorme Thatigkeit des Darms, falls sie aus einer Mania idio- pathica ihren Ursprung genommen hat, ihrerseits wieder auf den Kopf zuriick- wirken kann. Aus diesem Grunde muss man auch bei Mania idiopathica immer auf den Stuhl achten. Bei heftiger localer Myelitis beobachtete ich die hart- nackigste Verstopfung. Man hat deshalb auch bei Mania chronica auf den Zu- stand des Riickenmarks zu achten. Durch blutige Schropfkopfe auf die afficirt^ Gegend kann der Stuhlgang gefordert werden. |
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154 Behandlung der Mania idiopathica chronica.
mal die Anwendung kraftiger Mittel, z. B. des Decoct. Sennae mit
Tamarinden. Neuerer Zeit habe ich gern eine Abkochung des Cortex JRhamni frangulae (1 Unze auf 8 Unzen, mit einem Syrup versetzt, 3 bis 4 Male taglich zwei Loffel voll) genommen*). Recht gut wirkt auch Extr. Aloes aquosum, am besten in Pillenform und mit einem Zusatze von Brechweinstein. Da aber letzterer in dieser Verbindung leicht Uebelkeit verursaclit, so darf er nur in kleiner Menge zugesetzt werden. Giebt man das Extr. Aloe's aquosum fur sich ohne Brechwein- stein, so muss man, um einen bleibendenErfolg zu erzielen, nach einiger Zeit die Dosis steigern und mit dieser Steigerung immer weiter gehen. Wird dagegen etwas Brechweinstein zugesetzt, z. B. 5 Gran auf 60 Pil- len, wovon 4 bis 5 Male taglich 2 bis 4 Stuck genommen werden, so nimmt die Reizbarkeit der Gedarme allmalig zu, so dass die friihere Dosis nicht mehr vertragen wird, und man muss dieGabe fortwahrend herabsetzen, bis zuletzt das Mittel gar nicht mehr nothig ist. Viele Aerzte lassen das Extr. Aloes aquosum nur am Abend, oder nur am Morgen und am Abend in grosserer Dosis nehmen; davon habe ich aber mehrmals iible Folgen gesehen. Die Aloe wirkt besonders aufs Colon und ruft hier, wie ich bei der Mania sympaihica darthun werde, krampfhafte Zusammenziehungen hervor. In Folge dieser Reizung werden dann oftmals die harten Stoffe nicht durchgelassen, und der Stuhl wird deshalb unregelmassig, indem wassrige Stiihle und Ver- stopfung mit einander abwechseln. Ich nehme zu 60 Pillen 15 Gran Extr. Aloes mit etwas Tart. emet. und der nothigen Menge eines bittern Extractes, und lasse 4 bis 5 Male taglich 2 bis 3 Stuck nehmen. Doch muss man auch damit bisweilen steigen. Wegen leicht eintretender Uebelkeit muss der Tart.emet. oftmals noch mehr herabgesetzt werden; die oben mitgetheilten Cautelen beim Gebrauche desselben haben aber auch hier noch Geltung. Die Neigung zu wassrigen Stiihlen, die mit Verstopfung wechseln,
ist eine hochst lastige, oftmals nur schwer zu beseitigende Erschei- nung. Manchmal habe ich die Verbindung des Extr. Aloes aquosum mit Cuprum sulphuricum sehr vortheilhaft gefunden, welches Mittel wohl Monate lang in kleinen Dosen fortgegeben wurde. Zum Rheum greife ich nur selten, weil es immer Verstopfung hinterlasst und da- durch manchmal schadet. *) Die Einde darf nicht von zu diinnen Aesten sein, sonst kann sie Brechen
erregen. Die Rinde von Bhamnus cathartica hat mehr soharfen Stoff und ver- ursaoht Sehmerzen in den Gedarmen. |
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Behandlung der Mania idiopathica chronica. 155
Um die Neigung des Colon descendens zu krampfhaften Zusammen-
ziehungen zu mindern, muss man bisweilen Antispasmodica zusetzen, z. B. Extr. Belladonnae. Dadurch pflegt die Wirksamkeit des Extr. Aloes aquosum zuzunehmen, so dass man letzteres in kleinerer Dosis geben kann. Auch jene Substanzen, welche besonders aufs Riicken- mark wirken, wie Extr. nucis vomicae, Chinin. sulphuricum, desgleicben Extr. Secalis cornuti aquosum, erhohen die Wirksamkeit des Extr. Aloes aquosum und wirken dadurch oftmals recht gut. Am wirksamsten habe ich aber immer das Decoctum cort. Bhamni
frangulae gefunden, was ich hiermit dringend empfohlen haben will. Es hat die Eigenschaft, ohne Bauchgrimmen oder Schmerz zu verur- sachen, eine feste Ausleerung zu beschaffen, und dabei hat es keinen widerlichen Geschmack. Wenn eine dick schleimig belegte Zunge auf eine besondere Rei-
zung der Schleimhaute des Verdauungsapparats hinweist, dann passt eine Verbindung des Extr. Aloes aquosum mit Ammon. muriat.; da- durch verschwindet diese Erscheinung meistens bhmen wenigen Tagen. Mit dem Brechweinsteine muss man dabei vorsichtig sein; er wird durch den Salmiak in der Regel zersetzt, und man hat ein starker wirkendes Mittcl. Wenn das Darmrohr sich in gereiztem Zustande befindet und die
im Colon angehauften Stoffe schwer fortgehen, so kann natiirlich auch Ricinusol gute Dienste leisten; nur darf man dieses Mittel nicht in anhaltenden Gebrauch ziehen*). Versagt ein Kranker alles Arzneinehmen, und sieht man, dass die
Verwirrung des Geistes und die Aufregung in Folge des tragen Stuh- les immer mehr zunehmen, dann kann manchmal noch das Oleum Crotonis Htilfe bringen, wenn man es in Pulverform zu 1/6 oder 1/J Tropfen, oder auch in noch grosserer Menge, dem Essen zusetzt. Frictionen des Unterleibes konnen an und fiir sich die peristaltische Bewegung der Gedarme befordern; dagegen habe ich vom Einreiben des 01. Crotonis in den Unterleib keine besondere Wirkung erfahren. |
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*) Besteht hartnackige Verstopfung und trager Stuhl, bo braucht man nicht
immer zu starken drastischen Mitteln zu greifen, die bei fortgesetzter Anwen- dung nur immer unwirksamer werden. Ich habe Falle gesehen, wo man ohne Erfolg zu ganz ungewohnlichen Gaben gestiegen war, und nachdem einige Blut- egel ad anum gesetzt worden waren, bewirkten Mittelsalze meistens eine reich- liche Entleerung, wozu es iriiher durch die starksten Mittel nicht gekommen war. |
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156 Hallucinationen.
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§.7.
Hallucinationen. Zu den unangenehmen unci storenden Erscheinungen des chroni-
sclien Stadiums gehoren die Hallucinationen oder Sinneseinbildungen, deren ich schon weiter oben kurz gedacht habe. Sie variiren je nach den verschiedenen Sinnesorganen, deren Wirkungsweise in den Ner- ven, und namentlich wohl an den centralen Perceptionsstellen, eine Stoning erleidet. Sie sind bei der sympathischen Manie nicbt aus- gescblossen, vorziiglich aber begleiten sie die idiopathische Manie und sind bier von ganz besonderer Bedeutung: meistens weisen sie auf ein tiefes, nicht zu beseitigendes Leiden und auf eine Veranderung des Gebirns bin, hervorgerufen durch weitere Ausbreitung der Me- ningitis nach der Tiefe und nach den Gehirnhohlen hin, welche mei- stens paralytische Erscheinungen hervorzubringen pflegt. Nicht alle Hallucinationen sind gleich bedeutungsvoll. Die Gesichtshallucina- tionen, wobei der Kranke irrige Vorstellungen vonPersonen und Gei- stern hat, kommen nicht gerade sehr haufig vor. Oftmals sind sie bloss durch Congestionen nach den Sehnerven oder nach den Vier- hiigeln bedingt, und dann verschwinden sie durch blutige Schropf- kopfe im Nacken oder durch andere ableitende Mittel, Obne Zweifel konnen sie aber auch mit tiefer eingreifenden und nicht mehr zu be- seitigenden Veranderungen zusammenhangen. Im Allgemeinen sah ich die Gesichtshallucinationen leichter verschwinden. Nicht so leicht zu nehnien sind die Gefiihlshallucinationen, wenn man die bekannten Empfindungen von Zucken und Ameisenlaufen in den Gliedmaassen dazu rechnet, die gewohnlichen Symptome einer Congestion zum ver- langerten Marke oder zum Gehirne, oder auch Vorboten eines apo- plektischen Anfalls. Gefiihlstauschungen im Gesichte deuten auf eine Veranderung des Trigeminus und sind in der Regel von ungiinstiger Vorbedeutung. Am haufigsten kommen die Gehorshallucinationen vor, die aber
auch die lastigsten sind, weil sie den Kranken unaufhorlich beunru- higen und seinen Irrwahn unterhalten; denn in jenen Gerauschen glaubt er meist die Stimmen von Personen und Geistern zu verneh- men, die ihn verfolgen. Man darf nicht erwarten, ihn von dem Phan- |
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Hallucinationen. 157
tastischen der Wahrnehmung zu Uberzeugen*). Eine Beseitigung der
Gehorshallucinationen halt schwer. Bestand das Leiden nicht bereits zu lange, dann gelang es mir bisweilen doch noch durch ableitende Mittel oben im Nacken, durch Schropfkopfe, Fontanelle, Haarseile, es zu heben. Manchmal kommen auch diese Hallucinationen bei Mania sympathica vor, wo sie dann meistens mit Congestionen zum Uterus und mit Menstruationsstorungen in Zusammenhang stehen, und sie sind dann nicht so anhaltend und auch leichter zu beseitigen. Im Ganzen ist es mir so vorgekommen, als ob jene Kranken, die nur ein Gefliister zu horen glauben, eher genesen, als andere, denen deutlich ausgesprochene Worte zum Ohre gelangen. Die Prognose ist um so iibler, wenn diese Hallucinationen fortwahrend und ohne alle Dnter- brechung auftreten. Bei manchen Kranken werden sie durch andere Gerausche erweckt, z. B. im Gesange der Vogel glauben sie Stimmen zu vernehmen. Nach vielen vergeblichen Versuchen, diese lastige Erscheinung zu
heben, kam ich endlich auf den Gedanken, ob bei diesen Gehorshallu- |
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*) Eine recht gebildete Frau, die unaufhorlich solche Stimmen horte und
sich von geheimen Personen verfolgt wahnte, Hess ich in's offene freie Feld ge- hen, wo Niemand im Verborgenen weilen konnte. Ich fragte sie, ob sie die Stimmen auch hier noch horte und ob sie auch bier noch an verborgene Per- sonen glauben diirfe, oder nicht vielmehr zugeben musse, dass es ein Phantasma oder ein Traum im wachen Zustande sei? Denn im Traume horten wir ja auch manchmal Personen reden, die nicht anwesend sind. Ihre Antwort war, sie konne allerdings nicht angeben, wo die von ihr gehorten Personen sich befanden, sie sei jedoch ganz bei VerBtande, und ihre eigene Wahrnehmung und ihr Bewusst- sein konne sie sich doch nicht ableugnen; es mussten demnach Personen oder Geister sein, die im Boden oder hinter den Wolken verborgen waren, und die sie zu deutlich vernahme, als dass sie sich durch Andere sollte irre machen las- sen. Eine arme Frau klagte mir ihre Noth, dass sie fortwahrend vom Teufel verfolgt wiirde, der allerlei Gotteslasterungen gegen sie losliesse, und zwar um so arger, je mehr sie sich abmiihte, nicht darauf zu achten, manchmal aber auch dann, wenn sie selber sprache und lebhafter ware. Sie war schon zum Geist- lichen gegangen, der ihr den Teufel bannen sollte, und dieser hatte die Frau verstandiger Weise an mich gewiesen. Ich fragte, in welchem Ohre der Teufel immer zu ihr redete. Sie wunderte sich uber die Frage, die sie sich selbst noch nicht aufgeworfen hatte, erkannte aber jetzt, dass die Sache immer im linken Ohre spielte. Ich erklarte ihr nun, es sei eine Gehorkrankheit, die wohl hin und wieder vorkomme, und sie wurde zweifelhaft; sie zu uberzeugen, gelang aber doch nicht, und alle angewandten Mittel blieben erfolglos. Ich kenne iibrigens nur diesen einen Fall, wo die Hallucinationen sich auf Ein Ohr beschrankten. Mir ist der Fall bekannt, dass ein Mann sein Haus in Brand gesteckt hatte, um dadurch die heimlichen Geister auszutreiben, die ihn tagtaglich durch ihre Reden quiilten. |
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158 Hallucinationen.
cinationen niclit vielleicht eine locale Congestion und ein Klopfen in
kleinen Arterien zu Grunde liegen mochte; denn bei Sectionen sol- cher Individuen hatte ich mehrmals das Vorhandensein einer Menin- gitis chronica im vierten Ventrikel erkannt. Ich versuchte deslialb ein Infusum Digitalis, um dadurch moglicher Weise die Action der Pulsadern zu beschranken, und unter alien Mitteln hat mir dieses noch die erspriesslichsten Dienste geleistet. Mehrmals trat bei fort- gesetztem Gebraucke der Digitalis eine Abnahme der Hallucinationen ein und zuletzt blieben sie ganz aus. In ein Paar Fallen kehrten die Hallucinationen wieder, wenn mit dem Mittel aufgehort wurde, sie zeigten sich dann aber wohl in einem anderen Grade. Natiirlich hat mir audi in manchen Fallen die Digitalis gar nichts geholfen. Im Allgemeinen indessen mildert sie das Leiden und macht den Zustand des Kranken ertraglicher. Nur Eines Falles will ich in dieser Bezie- hung hier gedenken. Ein Mann von 40 Jahren verfiel durch Miss- brauch von Spirituosis in Manie mit Gehorshallucinationen, was ja gar nicht so selten beobachtet wird. Ueberall glaubte er seine Freunde zu horen, die in der Anstalt versteckt sein miissten. Bei seiner Leb- haftigkeit und de-m rothen Gosichte bekam er Tartarus emeticus in steigender Dosis: er wurde dadurch ruhiger, aber die Hallucinationen hcirten nicht auf. Durch ein Fontanell im Nacken trat zwar eine Abnahme der Hallucinationen ein, doch kehrten sie zwischendurch immer wieder zuriick. Ich gab nun Datura Stramonium, das von Manchen geriihmt worden ist; es brachte aber auch keine Verande- rung hervor. Jetzt griff ich zum Infus. Digitalis und setzte es liin- gere Zeit fort: der Puis fiel dabei auf 50 Schlage und der Kranke wurde recht schwach, aber die Hallucinationen horten auf. Die Di- gitalis wurde ausgesetzt und durch andere Mittel wurden die Krafte gehoben, jene lastige Erscheinung kehrte aber nicht wieder. Der Mann war so weit gebessert, dass er wieder ins Leben eintreten konnte, wenngleich seine geistige Thatigkeit den friiheren Grad von Klarheit noch nicht wieder erreicht hatte. Auch in den iibrigen Sinnen kommen Hallucinationen vor. Im
Allgemeinen ist es ein tibles Zeichen, wenn der Kranke iiberall einen schlechten Geruch wahrzunehmen glaubt. Auch das Geschmacks- organ kann Sitz der Hallucinationen sein, und es giebt Kranke, die allerlei Abfalle und Unreinlichkeiteu, ja sogar den eigenen Koth ver- schlingen. Das ist meistens eine sehr ungiinstige Erscheinung, die |
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Ohrblutgeschwulst. 159
auf eine erhebliche Hirnaffection hiuweist. Doch babe ich ein Paar
Male auch bei solchen Kranken noch Genesung beobachtet. Unter den Ursacben der Hallucinationen ist Alles zu nennen, was
die Congestion nach dem Kopfe vermebren kann: trager Stubl, Men- struationsstorungen, Hamorrhoiden, Missbraucb von Spirituosen, und hauptsachlich auch noch Onanie. Mehrmals sah ich die bereits ge- bobenen Hallucinationen durch Onanie wieder zum Vorschein kom- men. In einem Falle hatte ich durch Massigung der Gehirncon- gestion die Hallucinationen ganz beseitigt, nach einiger Zeit aber, wahrend der Reconvalescenz, stellte sich neue Hirncongestion durch wiederbeginnende Onanie ein, der ich aber gliicklicher Weise bald ein Ziel setzen konnte. Der Kranke erzahlte mir, er babe diesmal in derselben Weise, wie er friiher die Stimmen horte, ein Sausen em- pfunden, ohne dass es weiter ging. Ich wirkte auf den Stuhl und deprimirte die Gefassaction, wodurch auch dieses Sausen verschwand. Nase und Ohren, die wahrend des Anfalls gerothet waren, bekamen in der Genesung ihre natiirliche Farbe wieder. §8.
Ohrblutgeschwulst. Mir ist diese Erscheinung vorzugsweise bei Mania idiopathica
vorgekommen. Auch habe ich sie nur bei Mannern beobachtet, was eben so von anderen Autoren bebauptet wird. Nur wenige Beobach- tungen sprecben auch fiir ein Vorkommen bei Weibern. Die Ohr- muschel schwillt bis zu einer Dicke von 1 bis l1^ Zoll und selbst wobl noch mehr an, und dadurch wird dieser Theil ganz missgestaltet. Manchmal sind beide Ohren ergriffen. Oeffnet man die Geschwulst, so fiiesst Blut aus. Spaterhin zieht sich die Ohrniuschel mehr oder weniger zusammen. Ueber die Prognose weiss ich nichts Bestimuites anzugeben.
Manche Kranke sah ich trotz der Ohrblutgeschwulst genesen, und das kam auch in einem Falle vor, wo beide Ohren ergriffen waren. Bei anderen, und das war die grossere Anzahl, bestand bereits unheilba- rer Irrsinn. Ueble Folgen habe ich nicht davon gesehen. Die Eroffnung der Geschwulst ist nicht immer geboten, obwohl
dieselbe bei grosser Spannung gute Dienste leisten kanu, und nach- theilige Folgen davon von mir wenigstens nicht beobachtet worden |
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160 Besserung der Mania idiopathica.
sind. Es tritt allmalig Resorption ein, ohne dass die Geschwulst er-
offnet wird; oder aber durch Breiumschlage kommt es zur Vereite- rung und weiterhin zum Einschrumpfen. Es kann leicht der Yerdacht entstehen, dass der Geschwulst eine
vorausgegangene Misshandlung zu Grunde liegt. Ich habe jedoch einen Fall beobaclitet, wo eine Irrsinnige diese Anklage laut werden liess, die aber durchaus unbegriindet war. Denn die Person bekam spaterhin, ohne alle Veranlassung, eine ahnliche Blutgeschwulst am anderen Ohre. §.9.
Zeitpunkt der Besserung. 1st die Mania idiopathica bereits ins chronische Stadium iiber-
gegangen, dann pflegt die Genesung nur langsam einzutreten. Das aufgeregte Wesen tritt mehr zuriick, der Kranke wird ruhiger und bringt die Nachte besser zu, Zureden und verniinftige Grunde maclien eher einen Eindruck auf denselben, er wird nicht mehr so vollstan- dig von seinen dominirenden Ideen beherrscht, auch kann er wohl wieder Aufmerksamkeit beim Lesen und im Gespraehe entwickeln, was ihm friiher nicht moglich war*). Immer haufiger treten lucida intervalla ein, wo der Kranke iiber das Verkehrte seiner friiheren Vorstellungen mit sich im Klaren ist. Die Besserung schreitet nun unmerklich fort, der Kranke tritt mit seinen verkehrten Vorstellungen weniger hervor, und es ist im Ganzen auch besser, nicht darauf zu kommen, wenn er nicht selbst davon anfangt. Manchmal ist auch das Irrsein ganz plotzlich wie durch einen Zauber verschwunden; doch kommt dieses mehr bei Mania sympathica vor, wo das Gehirn nur se- cundar leidet. Indessen nicht immer verlauft das chronische Stadium der Krank-
heit in der Weise, dass der gereizte Zustand unter der angegebenen Behandlung mehr und mehr zuriicktritt und damit die Gesundheit wieder kommt. Haufig genug treten die entgegengesetzten Verande- rungen ein. Der Kranke wird schwacher, stiller, apathisch; der Puis |
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*) Manche an chronischem Irrsinne Leidende sprechen, abgesehen von ihrer
verkehrten Idee, ganz verstandig iiber andere Dinge. Es kommt dabei auf den Grad der Hirnaffection und des Irrsinns an, die vorausgegangen sind, sowie auf den mehr oder weniger aufgeregten Zustand des Kranken. |
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Besserung der Mania idiopathica. 161
ist klein, die Hiinde kiihl, derKopf aber zeigt nochimmer eine hohere
Temperatur; die chronische active Hirnaffectiou gestaltet sich mehr zu eiper passiven, und der Kranke droht der Albernheit oder de*» Blodsinn anheira zu fallen; rnanehmal zeigen sich die ersten Anfange einer Paralyse beim Sprechen und in einem Zittern urn den Mund- winkel*). Unter solchen Umstandeu ist nun die friihere herab- stimmende Behandlung nicht mehr indicirt; fortwahrend muss aber noch fiir geregelten Stuhl Sorge getragen werden, weil Verstopfung auch jetzt noch nachtheilig auf den Kopf einwirken und somit die vielleicht noch mogliche- Heilung verhindern kann. Jetzt ist eine ex- citirende Curmethode am Platze, und namentlich passen I'lores Arni- cae. Ich gebe dieses ausgezeichnete Mittel als Infusum (\l/.2 bis 2 Drachmen auf 6 bis 8 Unzen Colatur) und setze wohl etwas Acid, sulph. dilut. zu, um die Gefasserregung zu massigen, oder nbthigen- falls auch ein Laxans, z. B. Aq. laxat. Vienn. Allmiilig wird mit der Dosis gestiegen. Vom rechtzeitigen Gebrauche dieses Mittels habe ich mehrmals die herrlichsten Erfolge gesehen. Die Kranken erwa- chen langsam aus einem schlafartigen und stumpfsinnigen Zustande, sie erscheinen lebhafter, die weniger kiihlen Hande und der bessere Radialpuls deuten auf eine mehr gleichmassige Circulation, es verliert sich der dumme Gesichtsausdruck ufid das Auge wird lebhafter, der Appetit, der vielleicht durch den langern Gebrauch des Brechwein- steins gelitten hatte, hebt sich und die Ernahrung nimmt zu, der ca- chektische Zustand mit Neigung zur Furunkelbildung verschwindet und die Genesung schreitet regelmassig fort. Ist der Kranke noch mehr geschwacht und der cachektische Zu-
stand starker entwickelt, besteht Neigung zur Diarrhoe oder ein was- sersiichtiger Zustand, collabirt der Kranke immer mehr, dann gebe ich lieber die Radix Arnicae im Decoct, lft bis 1 Unze auf 7 Unzen und davon 4 bis 5 Male taglich 2 Essloffel. Die Aerzte pflegen die- sem vorziiglichen Mittel, namentlich in der Armenpraxis, nicht die gehorige Beriicksichtigung zu schenken; das Excitirende der Flores Arnicae vereinigt sich darin mit mehr tonischen Eigenschaften. Selten hat mich dieses Mittel im Stiche gelassen, wenn eine erschopfendo Diarrhoe zu bekampfen war. Nicht minder gut wirkt es aber auch, |
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*) Manchmal lasse ich einen Kranken schreiben. Haben seine Buchstaben
jetzt ein anderes Aussehn, sind die Iiinien mehr sohief, ist die Sehrift mit einem "Worte verandert, so ist nach meiner Erfahrung die Herstellung eines soleheu Kranken nieht zu erwarten. Schroeder v. d. Kolk, Gei3te3kranklieiten. 11
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t;
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162 Besserung der Mania idiopathica.
wenn keine Diarrhoe da ist, und in manchen Fallen von chronischer
Manie ist es mir noch gelungen, den hoffnungslosen Zustand durch dieses Mittel der Besserung zuzufiihren. Auch bei solchen, die durch Onanie erschopft waren und schon
dem blodsinnigen Zustande verfallen zu sein scliienen, habe ich durch Rad. Arnicae noch Genesung eintreten sehen: es kommt nur darauf an, ob wiihrend des Verlaufs der Meningitis bereits unheilbare- Zer- storungen im Gehirne zu Stande gekommen sind. Mit Vortheil habe ich auch manchmal FJor. Arnicae und Bad. Arnicae zusammen ge- geben, wenn eine kraftigere Erregung gefordert zu sein schien. Mei- stens wird durch Radix Arnicae die Anwendung der China uberflussig gemacht, die zwar als Tonicum wirkt, dabei aber der erregenden Wirkung aufs Nervensystem eutbehrt, wodurch sich die Radix Arnicae auszeichnet. Besonders empfiehlt sich noch die Arnicawurzel wegen des niedrigeren Preises in der Armenpraxis. Bei stark entwickelter Cachexie habe ich mehrfach Flor. Arnicae und Cort. Chinae mit gutem Erfolge verbunden. Treten beim Gebrauche dieser Mittel Zeichen von Hirncongestion
und von starkerer Aufregung des Gehirns hervor, so versucht man durch blutige Schropfkopfe und andere Ableitungsmittel im Nacken entgegen zu wirken. Manchmal ist aber auch die Reizbarkeit des Kranken noch zu machtig, undes tritt grossere Aufreizung imNerven- systeme beim Gebrauche der Arnica hervor. Dann ist die chronische Meningitis noch mehr im activen Stadium, und man muss einige Zeit hindurch nochmals zur beruhigenden Curmethode zuriick kehren. Auch gegen die unfreiwilligen Stuhl- und Urinentleerungen, die
in diesem Stadium so haufig sich einstellen, ist Radix Arnicae indicirt, falls der sonstige Zustand des Kranken dem nicht entgegen steht. Zeigen sich paralytische Erscheinungen, z. B. Zucken um den Mund- winkel beim Sprechen, Stammeln, erschwertes Gehen, so kann die Arnica noch immer vortheilhaft wirken, und beobachtete ich in einigen Fallen der Art doch noch Genesung. Die Nux vomica kann beim Eintritte paralytischer Erscheinungen
auch vortheilhaft wirken und dem weiteren Fortschreiten bis zum Blodsinn Einhalt thun. Indessen habe ich von ihr doch seltener gliickliche Erfolge beobachtet als von den Flores Arnicae. Riihrt die Schwache nicht sowohl von Herabstimmung des Nerven-
systems her, als von Cachexie und von geringerer Plasticitat der Safte, die sich manchmal durch hydropischeErscheinungen kundgebenund auch |
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Besserung der Mania idiopathica. 163
neben der vom Nervensysteme ausgehenden Schwache vorkommen
konnen, dann sind Martialia amPlatze. Als Tonicum niitzt aber auch das Eisen oftmals bei Nervenaffectionen, ohne dass die Empfindlichkeit des Nervensystems durch dasselbe gesteigert wird. Auch kraftige Derivantia konnen unter solchen Umstanden in
Anwendung kommen, z. B. Ungt. Autenriethii in den Nacken oder auf den Scheitel, wobei man aber auf Eiteransammlungen unter der Haut achten muss, die sich bei langerer Anwendung dieser Salbe leicht bilden*). Auch kann man wohl eine Moxa am Schadel abbrennen, wozu sich Baumwolle mit Salpeter getrankt am meisten eignet. Mehrmals habe ich auch einen Einschnitt auf der Hcihe des Scheitels gemacht, am besten in querer Richtung, damit die Wunde besser klafft, und bis auf's Pericranium. Eine solche Incision ist nicht ge- rade sehr schmerzhaft, auch ist sie rasch gemacht. Die eintretende Blutung dient zugleich als Ableitung. In die Schnittwunde bringt man ein Paar kleine Erbsen, um die Eiterung zu unterhalten. Ein Paar Kranke habe ich dadurch noch hergestellt. Nachtheile habe ich von diesem Verfahren, zu dem ich nicht selten griff, niemals gesehen; doch muss ich bemerken, dass andere Aerzte mir versicherten, allerdings dergleichen beobachtet zu haben. Gelingt es nicht, den Kranken durch diese Mittel herzustellen,
so collabirt er allmalig immer mehr, er wird ganz albern und stupid, und meistens treten auch mancherlei paralytische Erscbeinungen auf, indem z. B. der Gang unsicher, das Gesicht abgestumpft wird. Ein apoplektischer Anfall pflegt zuletzt dem ungliicklichen Lebcn ein Ende zu bereiten. |
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*) Man muss dabei auf die Bereitungsweise dieser Salbe achten. Setzt man
WaBser zum Brechweinsteine, bevor er mit dem Futle gemengt wird oder auch wiihrend dieser Mengung, so lost er sich theilweise auf. Er ist dann feiner ver- theilt, wirkt kraftiger und wird leichter absorbirt, so dass ich von der Anwen- dung einer so bereiteten Salbe wiederholtes Erbrechen und Diarrhoe nebst gros- ser Depression des gesammten Organismus beobachtet habe. Wird der Brech- weinstein fur sich in Pulverform unter das Fett gerieben, dann tritt diese allge- meine Wirkung von der Salbe nicht leicht ein. Unter Umstanden konnte also da, wo man keine Arzneimittel eingeben kann, die erstgenannte Salbenfonn an- wendbar sein. |
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164 Stumpfsinnigkeit.
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§ 10.
Stumpfsinnigkeit. 4
Von der eigentlichen Stupiditat ist jener Zustand von Betaubtsein
und Stumpfsinnigkeit zu unterscheiden, welchen Etoc Demazy ge- nauer beschrieben hat. Der Kranke sitzt hier unbeweglich da, ohne auf eine P'rage zu antworten, er bewegt die Augen nicht, deren Pu- pillen vibrigens nicht immer erweitert sind, er wendet seine Aufmerk- samkeit keinem einzelnenGegenstande zuund scheint ganz gedankenlos zu sein. Bei hoheren Graden des Uebels wird sogar der Mund nicht immer geschlossen und der Speichel fliesst fortwahrend iiber dasKinn herab; ja selbst der Hunger scheint nicht immer gefiihlt zu werden, der doch Idioten gewohnlich noch in Unruhe versetzt. Harn und Stuhl gehen dann auch wohl unwillkiirlich ab. Etoc Demazy findet in diesem Zustande ein Oedema cerebri
und ich -will ihm nicht gerade widersprechen; doch fand ich das Gehirn nicht immer weicher, wohl aber zusammengedriickt, mit abgeplatteten Windungen Druck auf die graue Rindenschicht scheint mir daher die wesentliche Veranlassung dieses Zustandes zu sein. EinzelneKranke sahEtoc Demazy genesen, doch giebt er selbst
zu, dass seine Therapie manches zu wiinschen lasst. In der That em- pfiehlt er ohne Unterschied und in demselben Satze Purgantia, Diu- retica, Sudorifica, Sialagoga und Bevellentia. Er theilt auch einen Fall mit, wo durch ein grosses Blasenpflaster iiber den Kopf Genesung herbeigefiihrt wurde. "Wie schwer auch die Erscheinungen auftreten mogen, man darf
solche Kranke nicht mit eigentlichen Blodsinnigen verwechseln und fur unheilbar halten. Ich habe mehr denn einen Kranken der Art genesen sehen, hauptsachlich durch Incision der Kopfschwarte. In einem Falle wirkte ein Haarseil mit gleichzeitiger Ableitung durch den Darmkanal, sowie das Hervorrufen der Menstruation. Blutige Schriipfkopfe im ^Jacken konnen auch vortheilhaft wirken. §. 11.
Blodsinn und Idiotismus. Ich will mich nicht in eine ausfuhrlichere Schilderung der ver-
schiedenen Zeichen rles Blodsinns {Dementia) einlassen, aus deren Ge- |
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Blodsinn und Idiotismus. 165
8ammtheit sich deutlich entnehmen lasst, dass hier ein unlieilbarer
Zustand vorliegt. Nur darauf will ich hinvveisen, dass solche Kranke bei guter Behandlung noch reclit folgsam und niitzlich sein konnen: sie sind in der Regel die eifrigsten und arbeitsamsten Bewohner der Irrenanstalten, und bei einer sanften Behandlung lassen sie sicb ganz gut leiten und sind sehr gewillig. Je zweckmassiger mit ihrer psychi- schen Behandlung vorgegangen und je mehr dafiir gesorgt wird, dass alle Leidenschaften undAufwallungen von ihnen entfernt bleiben, desto ruhiger pflegt es in einer solchen Anstalt herzugehen. 1st Apoplexie vorausgegangen, dann treten in der Regel mehr
oder weniger entschiedene paralytische Erscheinungen auf. Bei mauchen Individuen leidet das Gedachtniss, und zwar- manchmal nur das Wort- gedachtniss: sie geben dann jedem Binge einen andern Namen, reden z. B. von einemHause, wenn sie Brot verlangen, werden dadurch ganz unverstandlich und erbossen sich wohl, wenn man nicht versteht, was sie wollen. Andere verlieren das Gedachtniss ganz und gar und leben nur noch in ihrer Jugendzeit, deren Erinnerung ihnen geblieben ist. Noch andere werden immer mehr paralytisch, oder es treten auch epi- leptische Anfalle bei ihnen auf. Ueber Idiotismus oder angebornen Irrsinn schweige ich ganzlich.
Nur eine psychische Einwirkung vermag hier bisweilen noch etwas, nicht aber eine iirztliche Behandlung. Diese Zustande fallen daher nicht in mein Gebiet. |
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B. Sympathisehes Irrsein.
§ 1-
Einleitung.
Man kann wieder einige Unterarten der Mania sympathica unter-
scheiden, je nach den verschiedenen Theilen, 'welche primarer Sitz der Krankheit sind, und von wo aus dieselbe secundar auf das Gehirn sich ausgebreitet hat. Mussen wir auch das Gehirn als das Instrument ansehen, wodurch
die verschiedenartigon Eindriicke der Seele iibergeben werden, so sind |
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166 Erkliirang des syrnpathischen Irrsinns.
doch die pathologischen Eindriicke und Wahrnehmungen je nach dem
Orte, von wo sie ausgehen, sehr von einander abweichend. 1st eg doch eben so, wenn im gesunden Zustande Eindriicke und Reize aus dem Magen, oder von den Gedarmen, oder von den Geschlechtstheilen, oder von den Brustorganen zum Bewusstsein gelangen. Dabei be- steht aber der wesentliche Unterschied, dass wir im gesunden Zustande gewbhnlich fiihlen, von wo die Reizung oder die Aufregung ausgeht, wahrend dies bei der sympathiseben Manie gar nicht oder doch in der Regel nur in einem schwachen Grade und hochst undeutlich der Fall ist. Die Erkennung des eigentlichen primaren Sitze3 der Krankheit, aus welcher das sympathische Hirnleiden hervorgegangen ist, fallt dcshalb weit schwieriger als bei der idiopathischen Manie, undmeistens lasst sich nur aus dem Charakter des Irrsinns dieser Sitz erschliessen. Nur durch fortgesetzte und wiederholte Beobachtungen an vielen Kranken kann man sich in dem Labyrinthe der verscbiedenen Er- schcinungen zurecht finden, um mit einiger Sicherheit den urspriing- lichen Sitz und den Ausgangspunkt der Krankheit zu bestimmen. Da nun aber die Kenntniss dieses primaren Krankheitssitzes fiir die The- rapie der syrnpathischen Manie von hocbster Wichtigkeit ist, so bin ich seit Jahren bemiiht gewesen; durch Vergleichung des Leichenbe- fundes mit der vorliegenden Krankengeschichte mehr oder weniger zuveidassige Kennzeichen ausfindig zu machen. §.2.
Physiologische Erkliirung der syrnpathischen Manie. Da bei dieser Art des Irrsinns das Gehirn erst secundar leidet
in Folge des Verbandes zwischen den verscbiedenen peripherischen Organen und dem Centralnervensysteme, so wird es begreiflich, dass die Geistesverwirrung dabei keinen so hohen Grad erreicht und der Verlauf der Krankheit auch ein langsamer ist. In der That pflegt die sympathische Manie mit andern Erscheinungen aufzutreten als die idiopathische. Die vom Gehirn und von dessen Hauten ausgehende Reizung cha-
rakterisirt sich durch Raschheit im Handeln, durch Lebhaftigkeit der Phantasie, auch wohl durch erhohtes Selbstgefiihl, durch ein stolzes und hoffartiges Benehmen; bei der secundaren Hirnaffection dagegen hat die Congestion einen mehr passiven oder venosen Charakter, die |
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Erklarung des sympathischen Irrsinns. 167
Hirnreizung ist dabei nicht so bedeutend, es leidet vornehmlich das
Gemiith, und manchmal zeigt sich ein Gefiihl von Druck und Schwere im Kopfe. Mit wenigen Ausnahmen erscheint der mit sympathischer Manie
Behaftete weniger aufgcregt, sondern er wird durch ein nicht niiher bekanntes Angstgefiihl bedriickt, das er nicht los werden kann. Da er den Grund dieses Gcfiihls meistens nicht im eigenen Korper zu finden vermag, sich vielmehr eben so fur gesund halt, wie ein an idio- pathischer Manie Leidender, so sucht er die Ursache seines Leidens in ganz anderen, meist aussei'halb seines eigenen Organismus gelegenen Verhaltnissen. Wir miissen nun festhalten, dass die Aeusserungen des Gehirns
nicht durch ein besonderes Gefiihl von Schmerzhaftigkeit sich kund geben, vielmehr, insofern die Oberflache des Gehirns dabei in Frage kommt, als Bilder und Vorstellungen, oder als unklare Wahrnehmun- gen und als eine eigenthumliche Stimmung des Geistes hervortreten. Bekanntlich kommen uns audi im gesunden Zustande oftmals ganz unwillklirlich mancherlei Bilder und Gedanken, selbst wahrend wir iiber anderes sprechen oder schreiben, und wir achten nicht weiter darauf, wenngleich es nicht selten schwer fallt, uns derselben zu ent- schlagen. Das wiederholt sich auch im Traume. Wenn aber dann eine mehr passive Congestion stattfindet, etwa durch ein enganliegen- des Halstuch oder durch Tiefliegen des Kopfes, so pflegen mehr angst- liche Bilder aufzutreten, wahrscheinlich in Folge der Zuriickhaltung des venosen Blutes und der verlangsamten Circulation. Ist das Gehirn starker erregt, stromt mehr arterielles Blut durch die Hirnge- fiisse, dann sind die Traume lcbhafter und die phantastischen Vor- stellungen losen einander in rascherer Folge ab, ohne dass sich etwas Aengstliches damit verkniipft. Das wiederholt sich, wie ich glaube, bei der sympathischen Manie.
Bei den meisten Formen derselben, namentlich bei den mit Schwer- muth verkniipften, besteht eine mehr venose Congestion zum Gehirne. Zuerst klagen die Kranken iiber ein besonderes Gefiihl von Warme oder iiber einen Druck in der Scheitelgegend. Der Kopf ist meistens gerothet, audi wohl etwas geschwollen, derScheitel fiihlt sich warmer an, manchmal auch der Hinterkopf, oder selbst die Stirn, was aber mehr bei idiopathischer Manie vorkommt; Hande und Fiisse dagegen sind, zumal im weiteren Verlaufe, kiihl, blaulich aufgetrieben, der Radialpuls ist klein und weich, die Carotiden klopfen starker. Alles |
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168 Erklarung des sympathischen Irrsinns.
deutet auf unregelmiissige Circulation und venose Congestion zum
Gehirne, wenngleich sich die letztere nicht immer in einem rothen, auf- getriebenen Gesichte auspriigt. Nun kommen auch hin und wieder Aeusserungen der Melancholie, und dasGesicht zeigt eine blasse gelb- licbe oder braunliche Farbung, die es entweder schon vorher hatte, oder die auch von Complicationen, z. B. mit Leberleiden, herriihren kann. Die gedriickte Gemiithsstimmung kommt aber wohl grossen- theils auf Rechnung jener venosen Congestion; es ist gleichsam ein Traum im wachen Zustande, den der Kranke vergeblich niederzuhalten sucht. Der Nachtheil solcher passiven Congestionen fiirs Gehirn scheint
aber nicht lediglich in der vermehrten Zufuhr von Blut und in der mecbanischen Ausdehnung der Gefasse zu liegen. Gleichzeitig ist auch die Circulation verlangsamt, das venose Blut verweilt langer in den Capillar en, das arterielle Blut wird weniger rasch zugefiihrt, und dar- unter muss wohl die Ernahrung oder der Stoffwechsel des Gehirns und somit auch dessen Thatigkeit und Erregung leiden. Wir wissen alle, wie belebend die reine frische Luft auf uns wirkt, so dass wir uns darin lebhafter und beweglicher fiihlen, und wie durchs Einathmen von mehr Sauerstoff alle Verrichtungen des Nerven- und Muskellebens rascher und kraftiger von Statten gehen, wahrend dagegen ein kleiner enger Raum, mit unreiner Luft erfullt. uns trage und abgestumpft macht und im tiefen Nachdenken beeintrachtigt. Aehnliches beob- achten wir bei krankhaften Zustanden. Wirkt das Blut starker reizend ein, z. B. bei Lungenphthise, wo es wegen der Abmagerung nicht zu einem Drucke aufsGehirn und zu starkerer Fiillung desselben kommt, und wo die Erregung des Herzens, die sich durch den beschleunigten Puis verrath, eine raschere Stromung durch die Hirngefasse mit sich bringt, so giebt sich eine lebhaftere Erregung, ein rascheres Denken und eine Steigerung der Phantasie kund. Engbriistige Individuen dagegen und solche, die an Asthma leiden, sind auch kleinmiithig und leicht schreckbar. Eben so wirken pathologische Veranderungen des Bluts auf unsere Stimmung ein. So bemerkt Burdach (Bau und Leben des Gehirns. Ill, S. 115), dass Scorbutische kleinmuthig und gedriickten Geistes sind. Cblorotische, wie allgemein bekannt, machen sich durch ein launisches, verdriessliches Wesen unangenehm; Gelb- siichtige sind meistens schwermiithig, matt und trage, verdriesslich. Auf die Delirien, welche im Nerven- und Faulfieber mit der verander- |
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Erklarung des sympathischen Irrsinns. 169
ten Blutmischung in engem Zusammenhange stehen, brauche ich wohl
nicht besonders hinzuweisen. DerBlutmangel in Folge von Hamorrhagieen und zu starken Blut-
entziehungen veranlasst bekanntlich audi ohnmachtsahnliche Anfalle, Convulsionen, Delirien u. s. w. Dabei kommt nicbt bloss die ge- minderte Ausdebnung der Blutgefasse in Betracht, sondern auch die langsamere Durchstiomung der Hirngefasse und die unter der Norm stehende Zufuhr arteriellen Blutes. Indessen darf man die sympathische Manie oder Melancholie
und deren Modificationen nicbt aus einer Zunahme oder Abnahme der zum Gebirne stromenden Blutroenge, nicht aus der rascberen oder trageren Circulation, nicht aus einer veriinderten Mischung dcs Blutes erklaren wollen. Die beigebrachten Beispiele sollten nur dartbun, welchen grossen Einfluss das Blut im Hirnleben iibt. Der eigentliche Grund, warum ein entfernter Theil einen pathologischen Einfluss aufs Gehirn zu iiben vermag, ist ohne Zweifel in den Nerven zu suchen, namentlich im Sympathicus oder auch im Vagus. Wenn auch nicht in alien, so doch in den meisten Fallen, scheint der Sympathicus von dem afficirten Theile aus in der Bahn des Biickenmarks reflectorisch aufs Gehirn zu wirken. Ob eine solche Wirkung auch direct durch den Sympathicusstrang zu Stande kommen kann, ist nicht ausgemacht, ja es ist sogar unwahrscheinlich, da die Reflexe vom Sympathicus auf das Riickenmark bekannt genug sind. Die Nerven vom Colon sinistrum, - von den Geschlechtstheilen, vom Uterus kommen dabei hauptsachlich in Frage. Nach der Verbreitung der auf den Hirngefassen verlaufenden
Fasern des Sympathicus in der Scbadelhohle stebt zu vermuthen, dass durch ihn hauptsachlich locale Congestionen zum Gehirne zu Stande kommen. In der That sah Brachet (Becherches sur les fonctions du systhne nerveux. Par. 1830. p. 155), als er den Halstheil des Sympa- thicus durchschnitt, nur auf der Hemisphare der gleichnamigen Seite Congestion und Exsudation eintreten. Spaterhin hat dann Bernard (Comptes rendus. 1852. 20. Mars, p. 472) dargethan, dass nach Durch- schneidung der pars cervicalis Sympathies auf Einer Seite die gleich- namige Kopfseite hoher temperirt ist, und dass die Arterien dieser Seite starker gefiillt, die Theile also blutreicher sind. Diese Conge- stion nimmt zwar in den folgenden Tagen ab, die erhohte Temperatur der betreffenden Kopfseite aber erhalt sich. Vom Ganglion cervicale |
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170 Pathologische Anatomie der Mania sympathica.
supremum aus muss also nach der Durchschneidung des Stammes eine
pathologische Reizung ausgehen. Einzelne Beobachtungen beweisen aber ganz entschieden, wie von
manchen Organen eine sympathische Einwirkung aufs Gehirn ausgehen kann, so namentlich in demFalle, welchenLarrey bei einemSoldaten mit fistuloser durch eine Kugel erzeugter Bauchwunde beobachtete (S. 79). Bei solchen Fallen muss man nothwendig an eine reflectori- sche Wirkung des Sympathicus auf das Gehirn denken, wodurch eine Congestion zu einzelnen Gehirntheilen, und wohl meistens von mehr passiver Art, zu Stande kommt. Aus dieser Congestion allein lassen sich aber die Erscheinungen nicht gut erklaren. Sie scheint sich iibri- gens, zumal in chronischen Fallen, nicht gleichmassig iiber alle Par- tieen des Gehirns auszubreiten, sondern vorzugsweise die Scheitel- gegend, oder auch den Hinterkopf zu treffen. Meistens kommt auch dabei Spinalirritation im Nacken vor, so dass ein Druck auf die obern Wirbel ein unangeuehmes Gefiihl im Kopfe hervorruft. Fande die Congestion zu alien Theilen des Gehirns statt, dann wiirden auch die Sinnesorgane leiden, namentlich das Sehorgan. Bei einer mehr allge- meinen Plethora und Congestion zum Kopfe findet sich ja wirklieh Er- weiterung der Pupillen, Funken vor den Augen, Minderung der Seh- kraft, was bei dem mehr passiven chronischen Zustande nicht vor- kommt. §.3.
Pathologische Anatomie der Mania sympathica. Kennt man die Krankengeschichte nicht, so kann es schwer fallen,
bloss mittelst der Section festzustellen, welche Theile priinar und se- cundar gelitten habeu, da von Affectionen des Gehirns und Riicken- marks eben so gut eine Riickwirkung auf die Eingeweide stattfindet, wie umgekehrt von Affectionen der Eingeweide eine Riickwirkung auf das Centralnervensystem beobachtet wird. Am haufigsten kommen Yeranderungen im Colon vor, namentlich
bei Melancholie, womit gewohnlich trager Stuhl und sogenannte Ob- structionen verbunden zu sein pflegen. Fast immer ist das Colon sini- strum der leidende Theil; es zeigen sich hier Einschniirungen und Verengungen, die man durch Aufblasen gar nicht oder nur mit grosser Miihe wegscliaffen kann. Die Stelle dieser Stricturen wechselt. Man findet sie unterhalb der Flexura sigmoidea, am Uebergange ins Rectum, |
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Pathologische Anatomie der Mania sympathica. 171
wo dann die Sformige Schlinge erweitert, verlangert und durch Gas
ausgedehnt zu sein pflegt; sie ist dabei vielleicht nach oben gedrangt, ja sie reicht wohl bis zum Colon transversum oder selbst nocb dariiber hinauf. In anderen Fallen sitzen die Stricturen iiber der Flexura sigmoidea am linken Colon: dann .ist das Colon transversum erweitert und verlangert, so dass es wohl bis ins Becken herabreicht und dann wieder bis zur Leber aufsteigt *); auch das Coecum kann dabei erwei- tert sein. Es koramen auch mehrfache Stricturen im Colon sinistrum vor, ober- und unterhalb der Flexura sigmoidea, wobei die /Sformige Biegung und der Quergrimmdarm in verschiedenem Grade erweitert sein konnen. Verengungen im Colon transversum oder im Colon ad- scendens sind mir nicht vorgekommen. Die Haute des Colon sind meistens verdiinnt und ausgedehnt, an den Stricturen aber kann der Darm bis zur Fingersdicke verengt sein. Die Schleimhaut hat auf der Innenflache meistens ein gesundes Aussehen, doch ist sie auch manch- mal an den Stricturen etwas verdickt und roth. Einige Male habe ich auch Entziindung und Ulceration vorgefuuden. In einem Falle von heftiger und unbezahmbarer Melancholie mit Neigung zum Selbst- morde war das ganze Colon auf der Innenflache stark entziindet und ulcerirt, und im Coecum fand sich sogar eine perforirte Stelle, die durch Pseudomembranen verdeckt war. In solchen Fallen bestand meistens schon langere Zeit hindurch
eine Neigung zu tragem Stuhle. Die Verlangeruugen des Colon scheinen als angeborner Zustand
vorkommeu zu konnen, da man sie schon bei Kindern angetroffen hat. Monterossi (Meckel's Archiv f. Phys. 1820. Bd. 6. S. 566. Taf. VI. u. \7II.) glaubt darin die Ursache des Todes mancher Neugeborner suchen zu dtirfen, und giebt Abbildungen dieses Vorkommens. Morgagni und Andere hatten bereits auf diese Verlangerungen
des Colon aufmerksam gemacht. Esquirol lenkte dann vorziiglich die Aufmerksamkeit auf ihr haufiges Vorkommen bei Irrsinnigen, ohne |
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*) Ein Paar Male fand ich das Colon transversum verlangert und nach oben
zwischen Leber und Zwerchfell gedrangt; die obere Leberflache war zwar nicht mit dem Colon verwachsen, hatte aber eigenthumliche Vertiefungen zur Auf- nahme des Colon transversum. In einem Falle von Melancholie, die in Manie und Blodsinn ubergegangen war, lag das Colon transversum, auch iiber der Le- ber und hatte sich unter dem Schwerdtfortsatze durch das Zwerchfell Bahn ge- brochen, eine faustgrosse Hernia phrenica bildend, fur welche das Peritonaeum und die Pleura Bruchsacke lieferten. |
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172 Pathologische Anatomie der Mania sympathica.
dass er aber eine Erklarung davon zu geben wusste. Ich habe mich
iiber diesen Gegenstand bereits ausfiihrlicher bei J. B. te Welscher (Diss, de quibusdam coli affectionibus. Traj. ad Rhenum, 1841) ausge- sprochen. Es unterliegt keinem Zweifel, dass in den meisten Fallen die Ver-
langerungen des Colon durch die vorausgegangenen krampfhaften Con- tractionen und Stricturen im Colon sinistrum zu Stande gekommen sind. Meistens litten solche Kranke schon friiber mehr oder weniger an Verstopfung, so dass sie manchmal erst nach ein Paar Tagen zu Stubl gingen. Durcb diese Stricturen werden die Kotbmassen zuriick- gehalten; dabei findet gleichzeitig Gasentwickelung statt, und das Colon transversum, vielleicht bis zum Coecum hin, dehnt sich aus, oder bei tieferer Lage der Strictur ist die Flexura sigmoidea oberhalb des Rectum der ausgedehnte Theil. Die Kotbmassen, welche durch das langere Verweilen verharten, wirken reizend auf die Stricturen ein, und durch die hierdurch zunehmende Verengerung verschliessen sie sich selbst den Durchgang*). Aus diesem Grunde passen hier die scharfen Drastica nicht, weil sie durch Reizung des Darmes nur die Stricturen vermehren, so dass die festen Massen zuriickbleiben und nur wiissrige Stiihle erfolgen. Aber nicht bloss die Dickdarmwande dehnen sich aus, sondern
auch die darin verbreiteten Blutgefiisse erfahren eine Ausdehnung und Verlangerung. Eiuige Male fand ich den Dickdarm um zwei Fuss |
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*) Die anatomischen Verhaltnisse miissen hierbei in Betracht gezogen wer-
den. Das Colon descendens oberhalb der Flexura sigmoidea ist durch ein sehr kurzes Mesocolon an die muskuloseBauchwand geheftet und wird dadurch gestiitzt. Der Anfangstheil desBeetum und dasBeckenunterhalbderl^ZexMras^mojdeastehen gewissermaassen in der namlichen Beziehung zu einander. Dagegen ist die Fle- xura, sigmoidea gleich dem Colon transvcrsum ganz frei beweglieh und nir- Sends an die Bauchwand angeheftet; es sind diese Theile weniger unterstiitzt und sie konnen sich leichter ausdehnen. Befordert wird dieses durch eine sitzende Lebcnsweise, wo die Bauchmuskeln erschlaffen und die Eingeweide, namentlich das Colon transversum und die Flexura sigmoidea, durch die Bauchwandungen weniger gedriickt und unterstiitzt werden; durch die vermehrte Gasentwickelung und die zuriickgehaltenen Kothmassen werden sie nur leichter ausgedehnt und verlangert. Es bedarf ubrigens wohl keiner umstandlichern Nachweisung, dass die Spannung der Bauchwande bei aufrechter Stellung und Korperbewegung, wobei die Bauchwande starker wirken und das Athemholen energischer von Stat- ten geht, einen vermehrten Druck auf die gegen die Bauchwand sich stiitzenden Gedarme, auf das Colon adscendens und transversum, sowie auf einen Theil des Colon descendens zur Folge haben muss, wodurch deren Contraclionen und somit das Fortbewegen ihres Inhalts gefordert werden muss. |
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Pathologische Anatomie der Mania sympathica. 173
langer als gewohnlich, ohne class er deshalb weniger bluthaltig ge-
wesen ware. Die Arteriae mesentericae haben im Verhaltniss zu ihrem grossen Verbreitungsgebiete ein kleines Lumen, woraus man schlies- sen darf, dass fiir gewohnlich die Circulation im Darme nichts weni- ger als rasch sein kann. Erfahren nun die Gedarme, und namentlich das Colon, eine starkere Ausdehnung, dann wird auch zugleich der Umfang der Pfortader vergrossert. Das Blut muss aber in der Bahn der Pfortader die Leber vollstandig durchsetzen, hier findet es mithin einen grosseren Widerstand, und die Folge davon muss sein, dass sich in den zarten Gefassen am peripherischen Anfange der Pfortader, d. h. im Colon, mehr Blut anhauft. Das Pressen bei der erschwerten Austreibung der verharteten Kothmassen tragt noch mehr zu dieser Blutanhaufung bei. Daher entstehen die Hamorrhoidalgeschwiilste, die man so haufig bei Melancholischen findet. Es ist nicht unwahrscheinlich, dass durch die trage Circulation
und durch die Anhaufung eines mehr venosen Blutes um die Zweige des Sympathicus eine nachtheilige Einwirkung auf diesen Nerven zu Stande kommt. Hieraus erkliirt es sich denn auch wohl, zum Theil we- nigstens, warum Hamorrhoirlalblutungen bei solchen Kranken so vor- theilhaft wirken konnen, eine Unterdriickung soldier Blutungen aber so nachtheilige Folgen haben kann. Dabei fragt es sich auch noch, ob die Leber bei solcher Ueberfiillung im Stande ist, im gesammten Blute die wichtigen Veranderungen und Keinigungen zu Stande zu bringen, die diesem Organ e anvertraut sind. Von besonderer Bedeutung ist es ferner, dass man den genauen
Zusammenhang zwischen Colon descendens und Geschlechtstheilen im Auge behalt, worauf die Autoren im Allgemeinen nicht genugsam ge- achtet haben. Die Anatomie lehrt uns namlich, dass die Nerven der Gebarmutter sowohl als der Samenblaschen, und eben so die Nerven der Harnblase und der Harnleiter in engster Verbindung mit dein Plexus mesentericus inferior stehen, dessen Aeste zum Colon descendens verlaufen; denn mit dem Plexus hypogastricus, der von der Aorta zum Becken hinab verlauft und nach links Aeste ans Colon sinistrum giebt, sind die Nerven fiir die Geschlechtstheile im Zusammenhange. Das Colon transversum und das Colon adscendens hingegen erhalten die Nerven aus dem Plexus mesentericus superior. Eben so versorgt die Arteriu mesenterica inferior mit ihren Aesten das Colon sinistrum und giebt zugleich Vasa haemorrhoidalia interna ab, die mit den Gefassen der Gebarmutter, der Harnblase, der Samenblaschen anastomosiren. |
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174 Pathologische Anatomie der Mania sympathica.
Es darf uns somit niclit wundern, wenn wir niclit selten das Colon
sinistrum und die Geschlechtstheile gemeinschaftlich erkrankt finden, oder wenn das Leiden des einen Apparates vom andern eingeleitet wird. So kommt bei Hysterischen ein Schmerz in der linken Seite vor, der Ton Manchen irriger Weise in die Milz verlegt wurde, der aber nur von krampfhaften Zusammenzielmngen und Stricturen ira Colon sinistrum herriihrt, und sick nicbt selten als ein unangenehmes Gefiihl von Schwere oder Druck langs des Colon transversum unter dem Magen hinzieht. Pollutionen und Neigung zur Onanie werden haufig durch Ha-
morrhoidalcongestionen unterhalten, so wie aucb umgekehrt eine Itei- zung der Geschlechtstheile oftmals auf das Colon wirkt und tragen Stuhlgang veranlasst. Mehrmals fand ich bei starken Onanisten be- deutende varicose Erweiterung der Venen um die Samenblaschen herum. Dergleichen Congestionen und Affectionen der Geschlechtstheile
berlingen nicht gar selten weiterhin Hypertrophieen und Faserge- schwiilste des Uterus, besonders aber Entartungen der Ovarien. Dabei ist es beachtenswerth, class clann, wenn der sympathische
Irrsinn von den Geschlechtstheilen ausgegangen ist, die melancholi- schen Vorstellungen eine eigenthumliche Farbung und einen besondern Character annehmen, weshalb man auch umgekehrt daraus wieder mit einiger Sicherheit auf den Sitz und auf die wesentliche Ursache der Krankheit zuriickschliessen darf. Aber auch die Lungen und die Luftwege konnen bei der sympa-
thischen Manie die hauptsachlich leidenden Theile sein. Bekannt ist es, dass Phthisis und Brustaffectionen im Allgemeinen in enger Be- ziehung zu Gehirnleiden stehen, und die Schriftsteller geben an, dass die Mehrzahl jener, die an chronischen Hirnleiden, namentlich an Hirnerweichung darniederliegen, an einem Herz- und Lungeniibel zu Grunde gehen. Mehrfach habe ich die Beobachtung gemacht, dass in jenen Familien, worm der Irrsinn erblich vorkommt, jene Glieder, welche von diesem Uebel verschont bleiben, an Phthisis zu sterben pflegen. Oftmals alterniren diese beiden Uebel mit einander, oder sie kommen gleichzeitig neben einander vor; es ist aber nicht leicht zu bestimmen, ob das Lungenleiden hier secundar entstanden ist, oder ob es auch primar auftreten und auf das Gehirn und die Medulla oblon- gata seinen Einfluss aussern konnte. Nicht selten findet man bei Irren die bedeutendste Lungenzerstorung, die sich bei Lebzeiten durch |
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Pathologische Anatomie der Mania sympathica. 175
keinebesonders auffallendenErscheinungen kund gab; derHusten fehlt
in solchen Fallen mancbmal ganz und gar, auch von Auswurf sieht man nichts, weilibnder Kranke wahrscheinlichregelmiissig verschluckt, und nur durcb Abmagerung, durch den beschleunigten Puis, durch den eigenthiimlichen Gesicbtsausdruck und durch die aussere Untersuchung der Brust kann die Lungenaffection erkannt werden. Man glaube aber ja nicht, dass die erwahnten Leiden in entfern-
teren Theilen des Korpers an und fur sich den Irrsinn hervorzurufen vermogend sind: Verlangerungen und Stricturen des Colon, Neigung zu tragem Stuble, Affectionen des Uterus, der Ovarien, der Lungen kommen haufig genug vor obne die geringste Spur von Geistesverwir- rung. Es muss noch eine besondere Disposition und eine besondere Erregtheit des Cerebralsystems dazu kommen. Es besteht eine Wech- selwirkung zwischen Gehirn, Riickenmark und Eingeweiden, wodurch es oftmals scbwer fallt anzugeben, in welchem Theile der Ursprung der Krankheit zu suchen ist. Denn auch beim idiopathischen Irrsinn kommen jene Verlangerungen und Stricturen des Colon vor, bei idio- pathiscber Manie und bei heftiger Erregung des Gehirns pflegt auch eine Aufregung im Geschlecbtsapparate zu bestehen, und trager Stubl und hartniickige Verstopfung gehoren zu den gewohnlichsten Erschei- nungen bei Entziindungen des Riickenmarks. Die Stricturen im Colon und die geschlechtliche Aufregung konnen also in manchen Fallen von einer vorausgegangenen Affection des Gehirns oder des Riickenmarks herruhren; sind sie aber einmal entstanden, so iiben sie selbst wieder einen nachtheiligen Einfluss auf die letztgenannten Theile und tragen zur Erzeugung des sympathischen Irrsinns bei. Es kommt hier darauf an, welcher Theil starker ergriffen ist und gleichsam den Grundton anschlagt, wodurch der Irrsinn seine eigenthiimliche Farbung bekommt. Der Arzt muss sich durch die vorausgegangenen und gegenwartigen Erscheinungen leiten lassen. Sitzt das Leiden wesentlich im Gehirne, dann zeigt sich mehr eine allgemeine Aufregung, der Kranke ist mei- stens weit lebhafter und in alien seinen Gesprachen tritt sein erhohtes Selbstgefuhl zu Tage, wie ich bei der Mania idiopathica angefiihrt babe. Ueberwiegt die Affection der Eingeweide, so pflegt der Kranke lange nicht so lebhaft und aufgeregt zu sein, aber alle seine Vorstel- lungen haben einen dunkeln Hintergrund. Andern Personen gegen- iiber vermag er sich noch lange dergestalt zu beherrschen, dass man ihm fast nichts anmerkt, er spricht z. B. noch ganz scharfsinnig iiber Dinge, die in keiner unmittelbaren Beziehung mit seinem Schwermuthe |
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176 Pathologische Anatomic der Mania sympathica. steben. Sein Verstand ist also nicht verwirrt. Allein unauf horlich wird
er durch einen verkehrten Wahn, durch einen angstlichen Traum be- herrscht, und seinen triiben Vorstellungen und Selbstanklagen vermag er sicb nicht zu entzieben; das Gefiihl, das Gemiitb iiben einen patho- logischen Einfluss auf seinen Verstand. Ein fremdartiger, ihm uner- klarlicher Eindruck wirkt auf sein Gehirn und auf seinen Verstand; dieser fiibrt ibu irre und reisst ibn unwiderstelilich mit sich fort. Ich babe iibrigens die Bemerkung gemacht, dass im Allgemeineii
die Sprache eine lebendigere ist, die Bewegungen und Beangstigun- gen in starkerer Auspragung hervortreten, wenn die Lungen leiden, als wenn die Krankheit vom Colon oder vom Geschlechtsapparat aus- geht. Indessen macht sich auch hierin oftmals der Einfluss der Con- stitution und des Geschlechts geltend. Bei Sectionen findet man am Gehirne in der Regel die namlichen
Veranderungen, wie bei beginnender Mania idiopathica: die Gefasse meistens ausgedehnt; die pia mater iiber den Hemispharen oftmals mit einem serbsen Exsudate bedeckt, das zwischen ihr und der Ara- chnoidea gelegen ist; wird die pia mater abgerissen, so zeigt die graue Rinde an verschiedenen Stellen abwechselnd eine bellrothe und eine blassere Far bung. Bei langerer Dauer der Krankheit ist auch die pia mater mit den Hirnwindungen verwachsen und lasst sich nur schwer abziehen. Meistens indessen ist bei Melancholie, namentlich wenn dieselbe von den Eingeweiden und den Geschlechtstheilen ausgeht, die Scheitel- und Hinterhauptsgegend starker ergriffen, und die vordere Partie der Hemispharen unter dem Stirnbeine zeigt um so weniger pathologische Veranderungen, je mehr der Kranke wahrend seiner Melancholie von allgemeiner Verstandesverwirrung frei blieb und, ab- gesehen von seiner dominirenden falschen Idee, verstandig spracb. Bei Mania idiopathica leidet mehr diese vordere Partie der Hemispha- ren. Wenn nun aber bei langerer Dauer der Melancholie die sym- pathische Gehirnaffection endlich zur idiopathischen wird, und die Melancholie in Manie oder in Blodsinn iibergeht, dann ist die Gehirn- affection nicht mehr so umschrieben, sondern es hat sich manchmal eine allgemeine chronische Meningitis ausgebildet, mit den namlichen Folgen, die bei Mania idiopathica auftreten. Nur selten gelingt es aber, in dieser Beziehung genauere und zuverlassige Beobachtungeu zu machen. In ein Paar Fallen, wo mir dies verstattet war, fand ich die Gehirnaffection mehr auf die Hohe des Scheitels beschrankt. Eine interessante hierher gehorige Beobachtung habe ich schon
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Pathologische Anatomie der Mania sympathica. 177
friiher (Nederl. Lancet, 1851. July p. 25) veroffentlicht; sie betrifft eine
Frau, die wahrscheinlich in Folge friiherer Onanie an unheilbarer Melancholie litt, wahrend sie sonst ganz richtig und scharf urtheilte, und die ibrem traurigen Leben durch einen Sprung you einer Treppe, wobei sie auf den Kopf stiirzte, ein Ziel setzte. Der Zwiscbenknorpel zwischen dem dritten und vierten Halswirbel war ganz zerrissen und das Riickenmark war plattgedriickt worden, so dass wahrend der 24 Stunden bis zum Todeseintritte das Gefuhl sowohl wie die Bewegung im ganzen Korper gelahmt waren. Wahrend dieses Zeitraums erhielt sich indessen die Melancholie und die Neigung zum Selbstmorde ganz unverandert; die Frau widersetzte sich jeder Hiilfsleistung und hatte nur ihren Aerger dariiber, dass sie sich nicht todtgestiirzt hatte. Durch die Verletzung des Riickenmarks war hier die Communication des ver- langerten und ausgedehnten Colon und des mit Fibroiden durchsetzten Uterus mit dem Gehirne abgeschnitten, nichts desto weniger aber blie- ben die melancholischen Gedanken. In der Schadelhohle fand sich chronische Entziindung der pia mater und Verwachsung derselben mit den Hirnwindungen, aber nur oben unter den Scheitelbeinen, denn die vorderen Hirnlappen unter dem Stirnbeine waren ganz gesund. Aus der sympathischen Melancholie war also hier eine idiopathische ge- worden, was auch ganz mit den Erscheinungen wahrend des Lebens im Einklange stand. Hatte sich die Reizung und die chronische Ent- ziindung auch iiber die vorderen Hirnlappen unter das Stirnbein aus- gebreitet, dann wiirden gewiss wahrend des Lebens noch andere Er- scheinungen aufgetreten sein; es wiirde dann mehr Geistesverwirrung und ein weniger verstandiges Urtheilen zu Tage gekommen sein, und es ware Melancholie und Manie oder aber Blodsinn daraus hervorge- gangen. Ich habe schon erwahnt, dass meistens auch die Medulla oblongata
an dieser Gehirncongestion Theil nimmt, und dass ein Druck auf die obersten Halswirbel in der Regel unangenehme Empfindungen im Kopfe zur Folge hat. §4.
Erscheinungen der Mania sympathica, die vom Colon
ausgeht.
Eine Geistesstorung, die von dieser Quelle herstammt, charakte-
risirt sich durch ein eigenthiimliches Gedriicktsein des Geistes, durch Schroeder v. d. Kolk, Geisteskranklieiteii. ]2
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178 Mania sympathica, vom Colon ausgehend.
Beangstigungen und dadurch, dass die Kranken sich meistens selbst
der Schlechtigkeit und Verworfenheit anklagen, entweder in der Ge- genwart oder in einer vergangenen Zeit. Die Krankheit hat einen sehr langsamen Verlauf, und meistens sind die Beangstigungen und die Selbstanklagen schon eine gewisse Zeit hindurch da gewesen, bevor noch ein Arzt befragt wurde. Anfangs bekiimpft der Kranke noch seine triiben Gedanken, und Fremden gegeniiber benimmt er sich wie ein ganz Gesunder, so dass man nichts Ungewohnliches an ihm wahr- nimmt oder vermuthet. Das kommt beim idiopathischen Irrsinne nicht vor. Der Kranke litt ferner meistens schon friiher, bisweilen schon Jahre lang, an tragem Stuhle; oftmals hatte sich erst nach mehreren Tagen Stuhlgang bei ihm eingestellt, ohne dass ihm dies aber beson- dere Beschwerden verursacht hatte. Daneben hatte sich nicht selten sehr bald eine Hiimorrhoidalanlage kund gegeben, namlich Knoten und Blutungen am After, oder auch ein heftiges Jucken an diesem Theile. Dieses Hamorrhoidalleiden aber, namentlich der Blutabgang, hatte vor dem Ausbruche der Melancholie wieder nachgelassen oder auch ganz aufgehort. Die Melancholie nimmt meistens langsam zu, wenn nicht die trau-
rige Gemiithsstimmung durch besondere Umstande starker in Anspruch genommen wird. Der Kranke sucht die Einsamkeit und versteckt sich gem in einem dunklen Winkel. Auch hat er wohl ein hochst unan- genehmes Gefiihl in den Pracordien, das sich nicht selten, zumal bei Weibern, nach links ausbreitet, und womit sich bei diesen oftmals noch hysterische Erscheinungen verbinden, namentlich wohl der sogenannte globus hystericus. Dazu kommt noch ein unbeschreibliches Angstge- fiihl, das gar nicht weicht und meistens als Gewissensbisse gedeutet wird. Wie nun bei einer solchen deprimirten Gemiithsstimmung ein Ge-
fiihl von Druck und Schwere in der Gegend des Quergrimmdarms entsteht, so wirken umgekehrt Affectionen dieses Eingeweides auch wieder auf das Gemiith zuriick und erwecken jene triibe Stimmung, von deren Entstehung aus einem krankhaften Zustande der Kranke nicht zu iiberzeugen ist, die er vielmehr fur wirkliche Gewissensbisse halt und wofiir er oftmals auch allerlei Griinde vorzubringen weiss. Die Selbstanklagen zeigen allerdings individuelle Verschiedenheiten, doch laufen sie meistens darauf hinaus, dass die Kranken als schlechte, abscheuliche Menschen ihre Verwandten und Freunde ungliicklich ge- macht oder in Armuth gestiirzt haben. Sie zeihen sich der Lieblosig- |
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keit gegen Verwandte, Ehegatten oder Kinder; sie glauben vielleicht,
ihre nachsten Verwandten seien todt und jene, die sich dafur ausgeben, seien nur fremde Eindringlinge, die sich der Kleider und GUter ihrer wahren Verwandten bemiichtigten; sie halten sich wohl fur die Ur- sache zufallig herrschender Krankheiten, denn durch ihren giftigen Athem oder durcb andere schadliche Eigenschaften, meinen sie, muss Alles sterben oder hinwelken, was in ihre Nahe kommt; durch eigene Schuld sind sie in die grosste Armuth verfallen und sie konnen nichts verbrauchen, weil sie es nicht zu bezahlen vermogen; sie fiirchten vor Gericht gezogen und der schrecklichsten Folterung unterworfen zu werden; waren sie friiher als Kiinstler, als Musiker von Ehrgeiz be- seelt, so glauben sie ihren Beruf vernachlassigt zu haben, so dass sie nun von Andern iiberflugelt werden und der Verachtung anheim fallen. Mehrmals ist es mir auch vorgekommen, dass Mutter, die durch den Verlust ihrer Kinder oder auch durch Verdruss und Misshandhmgen, die sie von den eigenen Kindern erlitten hatten, in Melancholie verfallen waren, das Verhaltniss geradezu umkehrten, so dass sie durch Sorg- losigkeit den Tod ihrer Kinder herbeigefuhrt oder deren Vermogen durchgebracht zu haben behaupteten. Oder eine Tochter war trostlos geworden, weil sie in der Pflege der kranken Mutter eine Kleinigkeit iibersehen und dadurch ihren Tod herbeigefuhrt hatte. In einemFalle, wo die kranke Mutter genesen war, jammerte die Tochter fortwahrend dariiber, dass sie den Tod der Mutter hatte verschulden konnen, weil sie es einmal verabsaumt hatte, derselben zur bestimmten Stunde die verordneten Arzneimittel zu geben. Zur belehrenden Erliiuterung theile ich folgenden Fall ausfuhr-
licher mit, da man nur selten Gelegenheit hat, die ganze Kette der Ursachen und Wirkungen so genau zu verfolgen und das Gemiithslei- den so griindlich zu erforschen, wie hier. Er betrifft eine Frau von 50 Jahren, Wittwe mit 5 Kindern, von zartem Korperbau und sensibe- ler Constitution, die ihres angenehmen Wesens und ihres hervorragen- den Verstandes wegen allgemein geachtet war. Schon seit mehreren Jahren betrauerte sie den Verlust ihres Gatten, der als hoherer Offi- cier im spanischen Kriege umgekommen war. Spater hatte sie eine Stiitze an ihrem altesten Sohne. Dieser war ihr in alien Dingen Rath- geber, Heifer und treuer Freund, und er that nichts ohne Mitwissen der Mutter, gleichwie diese auch immer seine Ansichten und seinen Beirath sich zu Nutze machte. Obgleich etwas hoch hinaus gehend, wurde dieser Sohn durch ein Madchen bethort, das sich durch Schon- 12*
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heit auszeichnete und in sittlicher Beziehung untadelhaft dastand, aber
doch unter seinem Stande war. Als die Mutter dies horte, missbilligte sie diese Neigung aufs Entschiedenste und erklarte, sie werde niemals ihre Zustimmung zu dieser Verbindung geben. Der Sohn, dem diese Aeusserung zu Ohren kam, stellte die Sache, um der Mutter keinen Verdruss zu bereiten, in Abrede, sei es nun, dass er sich von dem Madchen losmachen oder bessere Zeiten abwarten wollte. Die Mutter vertraute dieser Versicherung des Sohnes und war ganz beruhigt, der Sohn aber schmachtete in Liebesgram dahin und verfiel bald in eine rasch und heftig verlaufende Lungenphthise. Die Mutter wich nicht vom Bette des geliebten Solmes und pflegte ihn mit aller miitterlichen Sorgfalt und Ziirtlichkeit, immer in Angst und Furcht wegen der raschen Fortschritte der Krankheit und wegen der Krai'teabnahme. Eines Tages empfing sie von jenem Madchen einen Brief mit der flehentlichen Bitte, ihren Geliebten vor dem Tode noch einmal sehen zu diirfen. Beim Lesen dieses Briefes wurde die Frau dermaassen erschiittert, dass sie ohnmachtig zusammen stiirzte und zuerst ganz verwirrt zu sein schien: zum ersten Male sah sie sich von ihrem gelieb- ten Sonne getauscht, der die ganze Sache gegen sie in Abrede gestellt hatte. Beim Zustande des Kranken war nicht daran zu denken, dass die Bitte des Madchens gewahrt wurde. Nachdem die ungliickliche Mutter durch ihre anderen Kinder wieder aufgerichtet und beruhigt worden war, kehrte sie zum Krankenbette zuriick, wo sie jetzt unter einer doppelten Folter litt: sie konnte gegen den geliebten Sohn kein Wort iiber die Sache fallen lassen, ja durfte nicht einmal darauf hin- deuten, da ihm jede Gemuthsaufregung erspart werden musste, und mit dem tiefen Kummer in der Brust sollte sie ihn noch aufrichten und selbst moglichst ruhig erscheinen. Das war fur sie zu schwer, dann und wann verliess sie das Zimmer und brach in heftige Thranen aus, bis sie wieder Kraft fiihlte, den innern Kampf niederzuhalten. Nach ein Paar Wochen schien sie allerdings etwas beruhigt zu sein; allein die tiefe Betrubniss iiber das immer naher riickende Ende des Sohnes und das gezwungene Schweigen iiber jene sie so tief beriihrende Angelegenheit iiberwiiltigten sie endlich, so dass sie fiinf Wochen nach Empfang jenes Briefes in vollstandige Melancholie und Geistesver- wirrung verfiel. Sie wurde rasch aus dem Hause geschafft und zu einer Verwandten gebracht, so dass dem Kranken das Ungliick der Mutter verborgen blieb. Aber das Schicksal forderte noch mehr! Das jiingste Kind, ein schones und liebenswiirdiges Madchen, litt nicht nur |
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(lurch den kranken Bruder und die kranke Mutter, sondern auch durch
Liebesgram iiber einen treulosen Geliebten. Sie bekam einen heftigen Blutsturz, und dieser fiihrte zu galoppirender Schwindsucht. Sie starb binnen wenigen Wochen und bald folgte ihr auch der Bruder nach, vor dem man die Krankheit der Mutter verborgen gehalten hatte. Schon 5 Wochen nach dem Ausbruche des Irrsinns bei der Mutter sanken beide ins Grab. Die ungliickliche Mutter klagte in ihrem Wahnsinne nicht den Sohn an, sondern sich selbst, dass sie den mit dem Tode Ringenden verlassen hatte, obwohl man ihrem Begehren, ihn zu sehen, nicht hatte nachkommen konnen; sie hielt sich fur das schlechteste Geschopf, von ihr gingen alle Uebel in der Welt aus, und namentlich auch die damals (1826) herrschende Groninger Fieberepi- demie, wovon sie sprechen horte. Nach einiger Zeit stellte sich eine Intermittenz der Melancholie ein, so dass die Kranke heute in tiefster Verzweifelung undvollstandigerGeistesverwirrung sich befand, morgen aber vollkommen bei sich war und iiber Alles verstandig sprach. Da- bei wusste sie am guten Tage nichts vom vorigen melancholischen. Ihr Arzt gab ohne Erfolg China, Belladonna und andere Narcotica, so wie Nervina. Sie kam daher in die Behandlung eines anderen Arztes, und dieser liess die Ader offnen, wodurch allerdings eine ge- wisse Ruhe eintrat. Jetzt erfuhr sie den Tod ihrer beiden Kinder, den man ihr zwei Wochen lang sorgfaltig verborgen gehalten hatte, und sie wollte die Sache Anfangs gar nicht glauben. Durch eine zweite Aderlasse wurde sie neuerdings wieder mehr beruhigt. Von da an hielt sie sich fur die einzige Ursache des Todes ihrer beiden Kinder; in ihrem Irrwahne hielt sie sich dergestalt fiir entartet, dass Alles, was sie beriihrte, alsbald in ein fiir alle Menschen todtliches Gift umge- wandelt wurde. Die Melancholie hielt aber ohne Unterbrechung an, und der Zustand erlitt im Verlaufe mehrerer Monate beim Gebrauche von Narcoticis und Nervinis keine Aenderung, so dass sich die Aerzte endlich entschlossen, die Krankheit der Natur zu iiberlassen. Im Juli 1827, fast ein Jahr nach dem Ausbruche des Irrsinns, wurde ich zu der Kranken gerufen, die ich in gesunden Tagen recht gut gekannt hatte. Ich erfuhr, dass die monatliche Reinigung zur gewohnlichen Zeit aufgehort hatte, und dass die Frau friiherhin mehrfach an Ha- morrhoiden litt, die aber spater verschwunden waren. Der Stuhlgang war sehr trage und Arznei wollte die Frau durchaus nicht nehmen. Ich versuchte daher, Brechweinstein in Speisen und Getrank beizu- bringen, und hoffte auf diesem Wege in so weit eine Besserung zu |
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182 Mania sympathica, vom Colon ausgehend.
Stande zu bringen, class dann auch noch andere Mittel in Anwendung
kommen konnten. Die Ausfiihrung war aber schwer. Erst im Monat October erfuhr ich, dass der Brecliweinstein jetzt regelmassiger in An- wendung kame, dass er aber leiclit Uebelkeit und Erbrechen verur- sacbte, wesbalb ich die Gabe desselben herabsetzen liess. Nachdem das Mittel regelmassiger in Anwendung gekommen war, lautete der Bericht dabin, dass die Kranke sicli wohl von iliren Vorstellungen ab- bringen liesse und dass man jetzt auch iiber andere Dinge mit ihr sprechen konnte. Nach einiger Zeit wurde sie aber wieder von einer andern Vorstellung beherrscht. Sie klagte von Zeit zu Zeit iiber Kolikschmerzen und iiber eine Schwere unten im Leibe und bildete sich ein, dass sie schwanger sei und dass jeden Angenblick die Geburt eintreten konnte, weshalb sie das Haus nicht verlassen diirfte. Dieser Gedanke peinigte sie aufs schmerzlichste. Die Veranlassung zur Schwangerschaft wusste sie sich zwar nicht anzugeben, sie war aber fest von deren Bestehen iiberzeugt und verfluchte sich selbst wegen der grossen Schande, wodurch die ganze Familie entehrt wurde. Ich hatte gleich von Anfang an gewiinscht, Blutegel ad anum zu appli- ciren, konnte es aber nicht durchsetzen. Ebenso musste ich, weil die Kranke keine Arzneien nalim, vom Extr. Aloes aquosum abstehen, welches mir in diesem Falle um so mehr indicirt zu sein schien, weil der Brechweinstein eher Uebelkeit erzeugte, als dass er auf den triigen Stuhl wirkte. Endlich gelang es, die Kranke zum Einnehmen von Pillen aus Extr, Aloes zu bringen, indem man ihr vorstellte, diese Pillen wtiren gut gegen die Uebelkeit, sie starkten den Magen und wirkten sehr vortheilhaft bei Schwangeren. Im Monat December mel- dete mir einer der Sohne, dass seit dem Gebrauche der Pillen der Zustand der Kranken sich sehr gebessert hatte. Es waren grosse Massen entleert worden und der Stuhl war regelmassig geworden, die Kranke fing von sich selbst an, mit Andern iiber dies und jenes zu reden, ja sie stimmte wohl auch ins Lachen mit ein. Sie ass auch nicht mehr so viel wie friiher, der Schlaf aber war noch immer un- ruhig. Durch den Besuch des Sohnes (denn sie wohnte jetzt auf dem Lande) war sie nicht mehr in Betriibniss und Verz weiflung versetzt worden, wie friiher, wosieaufeinvernunftigesZureden ganz und gar nicht horte. Indessen hielt sie sich noch fiir schwanger, sprach aber weniger davon und verwunderte sich manchmal dariiber, dass die Schwangerschaft sich so lange hinzoge. Die Dosis der Pillen wurde allmalig gesteigert, bis zwei oder drei ordentliche Stiihle taglich eintraten. Im folgen- |
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den Marz bekam ich wieder Nachricht, dass beim Fortgebrauche der
Pillen der Zustand sicb sehr auffallend gebessert habe. Von der Schwangerschaft war gar nicht mehr die Rede. Den Tod ihres gelieb- ten Sohnes und ihrer Tochter schob sie indessen noch itnmer auf ibre Abwesenheit, denn durcb verdoppelte Sorge hatte sie diesen Tod ver- htiten konnen. Gleichwohl sprach sie nicbt mebr so ganz verzweif- lungsvoll davon wie friiher, wo sie nur mit Handeringen und unter einer Thranenfluth daran batte denken konnen. Sie hatte hellere Augen und war ruhiger. Den Tod einer geliebten Schwester vernahm sie zwar mit Betriibniss, aber docb mit Gelassenbeit. Sie verfertigte sicb eigenhandig Trauerkleider und batte immer weibliche Arbeiten vor, wovon sie friiber nicbts hatte wissen wollen. Den Grund oder die Ursacbe ibrer Gewissensbisse und ihrer
Scbuld finden solche Melancholiscbe in diesem oder jenem manchmal hochst unbedeutenden Ereigniss, das aber nicht wieder ungeschehen gemacbt werden kann. Demnach ist ihre Schuld nicht zu tilgen, an ein Wiedergutmachen ist nicht zu denken, und es ist eine vergeblicbe Miihe, wenn man die Elenden wahrend der Heftigkeit der Krankheit durch Vernunftgriinde zu besserer Einsicht bringen will. Alles dieses treibt denn auch die Unglucklichen zum Selbstmorde an. Manchmal ist die Esslust sehr gesteigert und die Kranken haben
fortwahrenden Hunger. Dem Arzte, der sie vom Kranksein iiberzeu- gen will, fiihren sie diesen guten Appetit als Beweis ihrer vollkomme- nen Gesundheit vor. Deshalb widersetzen sie sich auch gewohnlich dem Einnehmen von Arznei, wodurch die arztliche Behandlung im eigenen Hause meistens sehr erschwert, wenn nicht geradezu unmog- lich gemacht wird*). In anderen Fallen fehlt aber auch die Esslust ganz und gar, und
das deutet meistens darauf hin, dass sich in den Gedarmen Massen angehauft haben, die entfernt werden miissen. Damit verbindet sich nicht selten ein ubelriechender Athem. In Fallen der Art glauben die Kranken gar keiner Speisen zu bediirfen, oder sie sind auch kei- |
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*) Bei der Melancholie mit vermehrter Esslust beobachiete ich meistens auch
gleichzeitig eine starkere Reizung der Medulla oblongata, so dass ein Druck oben im Nacken nicht vertragen wurde. Wahrscheinlich riihrt diese starkere Ess- lust, wie bei Mania idiopathica, von vermehrter Empfindlichkeit, von einem ge- reizten Zustande am Ursprunge des Vagus her. |
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184 Mania sympathica, vom Colon ausgehend.
ner Speisen wiirdig, oder sie suchen in der Enthaltung von Speisen
ein Mitte], ihrem Leben ein Ziel zu setzen*). Es wechseln diese Erscheinungen auch nach Alter und Geschlecht.
So sind die Manner moistens stille vor sich hin, scheu und zuriick- haltend; Frauen dagegen pflegen unter grosser Beweglichkeit an- haltend zu klagen. Meistens ist die Circulation dabei unregelmassig: Hande und
Fiisse meistens kiilil, manchmal blaulich gefarbt, der Radialpuls klein und eingezogen, der Kopf dagegen mehr heiss, namentlich am Schei- tel und am Hinterkopfe, das Gesicbt oftmals gerothet, die Nase blau- lichrotb und gescbwollen. Zu Anfang und wenn die Krankheit star- ker bervortritt, klagen die Kranken iiber ein Gefiihl von Leicbtigkeit oder aucb iiber einen Druck, meistens in der Scheitelgegend, oder sie haben Ohrensausen, oder beim Schliessen der Augen und im Dun- keln seben sie Funken vor den Augen. Die Carotiden klopfen stark und verhalten sich insofern ganz anders als die Radialis. Lesen und jede geistige Anstrengung greift solche Kranke an,
die sebr vergesslich sind. Ein ferneres Zeicben der Hirnreizung ist der scblaflose Zustand. Sie konnen gar nicht einschlafen, oder sie werden in der Nacbt oder am friihen Morgen munter und bringen dann die iibrige Zeit noch im Bette zu unter furchtbarer Angst und selbstqualerischen Anklagen, da sie nicht, wie am Tage, durch andere Gegenstande abgezogen werden; sie sind aber auch schwer dazu zu bringen, dass sie das Bett verlassen. Manche leiden besonders in denMorgenstunden und Abends ist der Zustand ertraglicher, bei An- deren ist es gerade umgekehrt. Treten die Erscbeinungen der Hirn- reizung sehr ausgepragt hervor, dann verbindet sich auch meistens ein gewisser Grad von Spinalirritation damit, so dass ein Druck oben |
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*) Bei einer Melancholie mit vollstandigem Mangel der Esslust und entschie-
dener Abstinenz musste die Nasensonde in Anwendung gezogen werden, die sich aber nur mit Muhe durch den Oesophagus einfuhren liess. Bei der Section fand sich eine Ulceration der Schilddriise, die versteckt geblieben war. Der Eiter war seitlich ausgebrochen, war langs des Oesophagus in die Brusthohle gedrungen, ja er war durch's Ostium oesophageum in die Bauchhohle gelangt und hatte sich langs der Wirbelsaule bis zu den Nieren hin gesenkt. Oben am Eingange in die Brust fand ich beide Vagi entzundlich gerothet und erweicht, und dadurch war wohl das Hungergefiihl geschwunden, denn auch in anderen Fallen von Dyspha- gie mit Entziindung dieses Nerven beobachtete ich die ganzliche Abwesenheit des Hungergefiihls. Dergleichen Beobachtungen beweisen meines Erachtens weit mehr, als eine Menge Vivisectionen, dass der Vagus das Hungergefiihl vermittelt. |
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Therapie der vom Colon ausgehenden Manie. 185
im Nacken die unangenehmen Empfmdungen im Kopfe steigert. Manch-
mal sind auch tiefere Stellen des Riickens empfindlich. Zeigen sich dabei Erscheinungen von Menstruatio difjicilis, oder ist zugleich eine Congestio uterina vorhanden, dann offenbart sich die Spinalirritation oftmals in der Lendengegend; desgleichen auch, wenn etwa weisser Fluss vorhanden ist. In einigermaassen acuten Fallen ist der Urin meistens sehr dunkel und sedimentirend. Alle diese Erscheinungen erklaren sich aus der Affection des Co-
lon und dessen Reflexen auf den oberen Theil des Riickenmarks, aufs Gehirn und selbst auf die Nieren. Bei starker Pracordialangst ist zumal das Colon transversum erweitert, auch wohl mit stockenden Massen erfiillt. Der Stuhlgang ist dann meistens trage, und das Angstgefiihl steigert sich mit der Verhaltung des Stuhls. Seltener klagen die Kranken iiber ein unangenehmes Gefiihl in der rechten Seite und in der Lebergegend, § 5.
Therapie der vom Colon ausgehenden Mania sympathica. Eine rationelle Behandlung muss vor Allem aus das Colon ins
Auge fassen, die Congestion zur Medulla oblongata und zum Gehirne nebst den anderen Reflexerscheinungen diirfen aber auch nicht iiber- sehen werden. Alle Mittel, die heftig reizend auf das Colon wirken, die sogenann-
ten Drastica, tragen nur zur Vermehrung der Stricturen bei, sie ver- mehren die Empfindlichkeit des Colon und die Blutanhaufung in dem- selben und veranlassen wasserige Stiihle, wobei die festen Massen in den oberen Theilen des Dickdarms sitzen bleiben. Die Unruhe, die Aufregung und das Angstgefiihl des Kranken nehmen dabei zu, die Krafte aber ab, wenn diese Mittel langere Zeit fortgegeben werden; die Circulation wird mehr und mehr unregelmassig, der Radialpuls wird klein und die Gliedmaassen werden kiihl. Die Regulirung des Stuhls ist bei solchen Kranken oftmals der
schwierigste Punkt, und dabei kommt viel auf die Wahl der Mittel an. Sennesblatter, Tamarinden und die Mittelsalze wirken mehr auf die diinnen Gedarme, und erzeugen leicht wasserige Stiihle oder Krampfe in den Gedarmen. Auch Jalappe scheint mehr auf die diinnen Ge- darme zu wirken. Ein Infusum Sennae mit Tamarinden und einem |
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186 Therapie der vom Colon ausgehenden Mame.
Mittelsalze oder etwas Brechweinstein fand ich ofters recht wirksam,
wenn vorerst angehaufte Stoffe wegzuschaffen waren und vom Gehirne abgeleitet werden musste. Spater gab ich dann meistens ein De- coct von Rhamnus frangula, dem auch wohl etwas Brechweinstein zu- gesetzt wird, da dieses Mittel nicht so wasserige Stiihle macht und keine Kolik verursacht. Bei langereni Gebrauche wirkt es tonisch und reizend. Das Extr. Aloes aquosum wirkt mehr auf den Dickdarm als auf
den Diinndarm; es scheint einen starkeren Blutzufluss zur Schleim- haut und eine vermehrte Secretion derselben zu bewirken, weshalb es auch Haraorrhoiden erwecken und den Hamorrhoidalfluss in Gang bringen kann. Giebt man es nun in grosserer Dosis auf Einmal, wie es z. B. viele Aerzte Abends in Pillenform nehmen lassen, dann wirkt es leicht zu stark reizend aufs Colon, die Stricturen treten noch mehr hervor und ein unregelmiissiger Stuhl ist die Folge, namlich wasse- rige Stiihle abwechselnd mit Verstopfung, wobei die Unruhe desKran- ken zunimmt. Wird es dagegen in wiederholten kleinen Gaben ge- gebeii, etwa funfmal taglieh oder selbst alle zwei Stunden, so bekommt man reichliche lehmartige oder breiige Stiihle, manchmal dunkel ge- farbt und hdchst widerlich riechend; zwischendurch gehen auch wohl hartere anders gefarbte Massen zur grossen Erleichterung des Kran- ken ab. Ich erwalmte aber bereits oben, dass ein kleiner Zusatz von Brechweinstein sehr gut ist, weil dieser die eigenthiimliche Wirkung der Aloe noch mehr sichert und dabei noch den Vortheil schafft, dass man die Dosis der erlangten zusagenden Wirkung nicht weiterhin noch zu steigern braucht, vielmehr allmalig herabsetzen muss, weil die Empfindlichkeit des Darmes gegen dieses Mittel mehr und mehr zu- nimmt*). Ein starkerer Zusatz von Brechweinstein bewirkt Reizung |
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*) Vielfach habe ich mich davon iiberzeugen konnen, dass das Extr. Aloes
bei dieser Krankheit nicht bloss durch das Wegschaffen angehaufter Kothmassen vortheilhaft wirkt, sondern auch durch die im Colon gesetzte Secretion. Die ei- genthiimliche und reichliche Entleerung hochst fbtider Massen halt unter dem Gebrauche dieses Mittels manchmal Wochen lang an, so dass die Menge des Entleerten die Menge des Aufgenommenen iibertrifft, und zwar unter deutlicher Verbesserung aller Erscheinungen, namentlich des qualenden Angstgefiihls. Nur einen Fall will ich vorfiihren, wo sich die Wirkung dieses Mittels aufs Glan- zendste bewilhrte. Eine sensible, plethorische junge Frau, Mutter von zwei Kin- dern, verfiel in Melancholie mit Neigung zum Selbstmorde. Um ihren Mann nicht zu betriiben, verschloss sie ihre Gedanken moglichst lange bei sich, bis sie endlich in einem Anfalle tiefster Traurigkeit ihren triiben Zustand und ihre Ge- |
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Therapie der vom Colon ausgehenden Manie. 187
der Schleimhaut, unci durch die vermehrte Congestion kommt es dann
zu wasserigen Stiihlen; es ist nicht leicht, hierin das rechte Maass zu treffen. Manchmal wird der Brechweinstein gar nicht vertragen, in- dem er schon in sehr kleinen Dosen wasserige Stiihle liervorruft. In solchen Fallen, namentlich bei mehr chronischen Zustanden, habe ich dem Extr. Aloes aquosum kleine Mengen von Cuprum sulphuricum zu- gesetzt, welches als Tonicum die wasserigen Stiihle zuriickhalt. |
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wissensbisse demselben anvertraute. Det Arzt verordnete Mittel gegen den tra-
gen Stuhl, ohne dass aber daduroh eine Aenderung im Psychischen eintrat. Dar- auf wurde ich mit zu Rathe gezogen. Ich verordnete Extr. Aloes aquosum mit etwas Brechweinstein, und nach ein Paar Tagen war die Kranke, nachdem sie viele Massen entleert hatte, ruhiger geworden. Es war aber die monatliche Rei- nigung schon zweimal weggeblieben, so dass moglicher Weise auch Schwanger- schaft da sein konnte, und da die Frau bei einem fruheren Abortus und ebenso auch wahrend der Schwangerschaft sehr zu Blutungen geneigt gewesen war, so wurden wir doch wegen Fortgebrauchs der Aloe bedenklich, und es sollte des- halb versucht werden, durch andere Mittel das vorgesteckte Ziel zu erreichen- Die Kranke bekara abwechselnd Rhabarber, Senna, Mittelsalze, und hatte davon tiigliche, nicht mehr so fotide Stiihle; ihr schwermiithiger und gedruckter Zu- stand trat aber dabei wieder in starkerem Grade hervor. Im dritten Monate trat ein starker Blutabgang ein, der uns einen Abortus befurchten liess: derBlut- abgang wurde aber gestillt, und es trat kein Abortus ein, weshalb wir am Be- Btehen der Schwangerschaft zweifelhaft wurden. Nach einiger Zeit gaben wir deshalb von Neuem das Extr. Aloes aquosum mit Brechweinstein, und die Folge war, dass die hoch gestiegene Melancholie und das Angstgefuhl wiederum ab- nahmen und die Kranke sich eher von ihren Gedanken ablenken liess. Nach eini- ger Zeit waren wir aber iiber die wirklich vorhandeneSchwangerschaftimKlaren. Von der Aloe eine neue Hamorrhagie befiirchtend, versuchte ich noch einmal Rha- barber, Jalappe und andere Abfiihrungsmittel, denen ich auch etwas Brechwein- stein zusetzte. Es stellte sich dadurch taglich Stuhlgang ein, allein die Melan- cholie trat wieder lebhafter hervor, und wir mussten wieder zum Extr. Aloes aquosum greifen. Dadurch wurde denn auch eine vollkommene Heilung erreicht, und zwar noch vor der Niederkunft, die ganz gliicklich verlief. ■ Zwolf Jahre spater kam ein frischer Anfall von Melancholie, und ich wurde wieder zur Con- sultation berufen. Es wurde das namliche Mittel verordnet, nachdem die hef- tige Congestion durch blutige Schropfkopfe gemindert worden war, und unter dem Abgange vieler Massen trat alsbald ein Nachlass in der Melancholie ein. Beim Eintritte der Periode liess der Arzt das Mittel weg; da steigerte sich auch die Melancholie alsbald wieder, und ich fand die Kranke eine Woche spater in einem sehr gedriickten Zustande. Das Extr. Aloes aquosum leistete auch jetzt seine Dienste wieder, die Kranke genas schnell, und ich liess das Mittel noch einige Zeit in kleinerer Dosis fortnehmen. Der plotzliche Tod eines Kindes, der ein Paar Wochen spater eintrat, veranlasste zwar neuerdings Aufgetriebenheit des Bauches, Tragheit des Stuhls und eine melancholische Stimmung; allein alle diese Erscheinungen verschwanden wieder nach ein Paar Tagen, als die Aloe in der fruheren Gabe genommen wurde. |
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188 Therapie der vom Colon ausgehenden Manie.
Vom Rhabarber habe ich selten viel Gutes geseben; er scheint
zu beftig auf die Muskulatur und auf die Stricturen des Colon zu wir- ken, ruft mebr wasserige Stuhle hervor, die mit Verstopfung wecbseln, und hinterlasst bekanntlich gewbhnlich Verstopfung. Das Decoct, rhamni frangulae erzeugt keine Kolik, die so leicbt
von der Senna auftritt, und der Stuhl geht mebr in fester Form ab. Das Mittel eignet sich desbalb manchmal recbt gut zu einer langeren Anwendung. Vom Extr. Aloe's aquosum unterscheidet sich Bhamnus frangula durch seine mebr tonische Wirkung, desgleichen auch da- durch, dass die austretenden Massen nicbt so zah, dunkel gefarbt und fbtid sich darstellen, wie man sie zur grossen Erleichterung des Kran- ken beim Gebraucbe der Aloe abgeben sieht. Wenn daher auch Bhamnus frangula in vielen Fallen recht gut wirkt, so muss ich doch dem Extr. Aloe's aq., mit etwas Brechweinstein verbunden und in wie- derholten kleinen Gaben gereicht, den Vorzug geben, falls es vertra- gen wird. Ich recline auf 60 Pillen 4 bis 5 Gran, und lasse fiinfmal tiiglich 2 bis 4 Stuck nehmen. Uebcr den Zusatz von krampfwidrigen und anderen Mitteln zum
Extr. Aloes aquosum babe ich mich schon oben ausgesprocben. Dass bei tragem Stuhle und starken Stricturen des Colon oder
auch bei Hamorrhoidalbeschwerden Blutegel ad anum sehr gut wirken konnen, das bedarf wobl keiner weiteren Auseinandersetzung. Mei- stens wirken dann Laxantia weit besser, so dass man schon mit klei- nen Gaben ausreicht, wenn vorher grossere Gaben oder auch Drastica vergebens gereicht worden waren. Mehrmals sah ich dann schon ein Mittelsalz wirken. Die Blutegel bewirken auch eine starke Ableitung vom Kopfe. Am besten ist es, der Kranke lasst nach dem Abfalleii der Blutegel auf dem Nachtstuhle Wasserdampfe einwirken *). |
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*) Noch neuerdings consultirte mich ein Apotheker wegen Melancholie mit
beginnender Neigung zu Selbstmord. Das rothe Gesicht wies offenbar auf pas- sive Congestion hin. Wegen Eingenommenheit des Kopfes konnte der Mann sein Geschaft niclit mebr versehen, ja nicht einmal einen Brief mehr Bohreiben. Friiher hatte er viel Nasenbluten gehabt, spaterhin traten wiederholt fiiessende Hamorrhoiden auf, die aber seit langerer Zeit ausgeblieben waren. Wegen Trag- heit des Stuhles hatte der Arzt Pillen verordnet, und zwar auf 60 Pillen 2 Scru- pel Extr. Aloes aq. und 14 Gran Tart, emet., zweimal taglich 3 bis 4 Stuck zu nehmen. Er hatte davon meist wasserige Stuhle ohne alle Erleichterung. Ich liess Blutegel ad anum setzen und unter Zuleitung von Wasserdampfen stark nachbluten, wornach der Kranke den Kopf alsbald weit leichter fuhlte, so dass er wieder denken konnte. Zur Forderung des Stuhls verschrieb ioh ebenfalls 60 Pillen, wozu aber nur 3 Gran Tart. emet. und 12 Gran Extr. Aloes aquosum |
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Therapie der vom Colon ausgehenden Manie. 189
Manchmal hangt der trage Stuhl mit einer Affection des Riicken-
inarks zusammen, so dass sich die Gedarme gleichsam in einem pa- ralytischen Zustande befinden; dann passt wohl Extr. nuc. vomicae, verbunden mit Extr. Aloes aquosum. Handelte es sich aber um eine chronische Myelitis oder wenigstens um einen stark congestiven Zu- stand, dann wird die Wirkung der Laxantia durch blutige Schropf kopfe am Riicken gefordert werden. Sind viele Massen im Colon angehauft, was sich wohl durch Auf-
treibung des Unterleibes und durch ein eigenes Gefiihl von Schwere und von Druck in der Gegend des Colon transversum zu erkennen giebt, dann ist 01. Ricini ein vortreffliches Mittel, welches wegen der sicheren und dabei sanften Wirkung vor alien anderen den Vorzug verdient. Doch nehmen manche Kranke dieses Mittel nur ungern. Manche Kranke widersetzen sich hartnackig jedem Einnehmen
von Arzneien. In der Privatpraxis kann man dann den Tart. emct. unvermerkt den Speisen und dem Getranke zusetzen lassen, um da- durch den Stuhl zu reguliren. Nur merken es die Kranken leicht, werden dann misstrauisch, dass man sie vergiften wolle, und versagen wohl hartnackig die Aufnahme von Speise und Getrank. Statt des Tart. emet. habe ich auch wohl '/4 Tropfen 01. Crotonis
den Speisen zusetzen lassen und davon bei hartnackiger Verstopfung Erfolg gesehen. Vom Einreiben des 01. Crotonis in den Unterleib sah ich dagegen keinen anderen Erfolg, als den auch das blosse Reiben des Unterleibes gehabt haben wtirde. Man begegnet auch wohl besonderen Idiosynkrasieen. So ver-
suchte ich bei einem Melancholiker vergebens durch Extr. Aloes aquo- sum auf den tragen Stuhl zu wirken; seinZustand besserte sich nicht bei dieser Behandlung. Spater bekam er anhaltend Senna mit Ta- marinden, dabei wurde der Stuhlgang regelmassig und der Kranke genas. Vielleicht war das Extr. Aloes aq. in diesem Falle ein zu starker Reiz fur die Stricturen des Colon. Von Helleborus albus und niger habe ich niemals einen besonde-
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kamen; davon sollte er funfmal taglich 3 Stuck nehmen. Er konnte es nicht
begreifen, dass diese Dosis ausreichen sollte. Aber schon am zweiten Tage ka- men vier breiartige Stiihle, und wegen der starken Wirkung musste die Pillen- zahl bald auf die Hiilfte herabgesetzt werden. Nach 10 Tagen horte er ganz da- mit auf, weil tagliche reichliche Stiihle da waren. Nach 14 Tagen kam er ganz hergestellt zu mir, mit so verandertem Gesichte , dass ich inn zuerst kaum er- kannte. |
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190 Therapie der vom Colon ausgehenden Manie.
ren Erfolg beobachtet, wesbalb ich diese Mittel schon langst babe
ganzlich fallen lassen. In ein Paar Fallen von habitueller Versto- pfung, wo in der Regel eine Aenderung der Arzneimittel wieder eine Zeit lang gut tbut, fand icb aucb Scammoniwm zwischendurcb wirksam, doch kann ich demselben keinen Vorzug vor anderen Mitteln ein- raumen. Bei herabgekommenen Individuen mit unregelmassigem Stuhl-
gange fand ich mehrfach das Decoct, rod. Arnicae, mit einer geringen Menge Aq. laxativa Viennensis oder mit einem anderen Abfiihrmittel verbunden, recht wirksam. In solchen Fallen kann auch die China passen, wenn man damit milde Abfiihrmittel verbindet, oder wenn man danelten kleine Mengen von Extr. Aloes aq. in Pillenform giebt. Mehr- mals beobachtete ich, namentlich wenn zugleich Mad. Arnicae gege- ben wurde, class der Stuhl sich regulirte und die Melancholie wich. Bei Kranken mit Hamorrhoidalanlage sah ich auch vom fortge-
setzten Gebrauch der Flores sulphuris, mit oder ohne Cremor tartari, recht guten Erfolg. Man muss das Mittel aber am Morgen nehmen lassen, weil manche Individuen an Schlaflosigkeit leiden, wenn sie das- selbe am Abend bekommen. Endlich sind auch Klystire zur Beforderung des Stuhles sehr
wirksam. Nur vergesse man nicht, dass der oftmals empfindliche Dickdarm direct dadurch gereizt wird. Zur Unterstiitzung der Ab- fiihrmittel sind gewohnliche Klystire ausreichend. Taglich wiederholte Klystire mit Sapo hispanicus, oder mit Seife und Oel, oder auch mit kaltem Wasser bewahren sich bei starken Congestionen und als Tonicum. Gar nicht selten besteht bei Melancholie eine heftige Reizung des
Gehirns und eine solche Aufregung des Kranken, dass die Hirner- scheinungen die wichtigste Rolle spielen. Dann passt meistens der anhaltende Gebrauch des Tart, cmeticus in kleinen Gaben, um den Kranken mehr zu beruhigen und den Stuhl zu reguliren. Man muss aber wohl unterscheiden, ob die grossere Lebhaftigkeit nur die Folge erhohter Sensibilitat ist, die bei zarteren Constitutionen sich findet, oder ob starkere Congestion zum Gehirne dabei zu Grunde liegt. Nur im letztern Falle ist Tart, cmeticus indicirt, mit oder ohne blutige Schropfkopfe: es passt hier die namliche Behandlung, wie bei Mania idiopathica. Bisweilen besteht gleichzeitig Verhartung und Vergrosserung der
Leber und der Milz, die sich durch Aufgetriebenheit und Harte des Unterleibes kund geben. In solchen Fallen fand ich Jodkalium sehr |
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Vom Geschlechtsapparate ausgehende Melancholia. 191
wirksam; bei dessen Gebrauche scliwand die Aufgetriebenheit und
Harte des Leibes nicht nur, sondern auch die chronische Melancholie. In mehreren Fallen von Melancholie mit tragem Stuhle und so-
genannten Verstopfungen babe ich das Kissinger Wasser an der Quelle sehr wirksam gefunden, einige Male auch das Wasser von Homburg. Das verschickte Wasser leistete sehr wenig; es scheint durch den Transport an Kraft zu verlieren. Doch mag auch die Reise an einen fremden Ort und die Zerstreuung an einem solchen zur Herstellung beitragen. Nicht selten werden Kranke bei dieser Form der Melancholie zu
Selbstmordsversuchen getrieben, oder sie wollen durchaus keine Speise oder keine Arznei nehmen. Die Abstinenz hort zwar meistens nach einigenTagen auf; in manchen Fallen diirfte es aber gar nicht gerathen sein, langere Zeit zu warten. Dann hat mir das durch die Nase ein- zufiihrende Alimentationsrohr, dem vermittelst Charniere jede Art von Biegung, die man wiinscht, gegeben werden kann, immer geholfen. Oftmals geniigte schon ein einmaliges Einfuhren, die Kranken davon zu iiberzeugen, dass sie auf diesem Wege ihr Ziel nicht erreichen konnten, und sie widersetzten sich der Aufnahme von Speisen oder von Arznei nicht langer. §6-
Die vom Geschlechtsapparate ausgehende Melancholie. Diese Melancholieform stimmt zwar in manchen Beziehungen mit
jener iiberein, die vom Colon ausgeht, und es sind auch beiderlei Formen oftmals mit einander in Verbindung. Gleichwohl unterscheiden sich die beiden Formen meistens durch bestimmte Kennzeichen deut- lich genug von einander. Ich habe bereits oben (S. 173) auf den genauen Zusammonhang
der Blutgefasse und Nerven des Colon sinistrum mit denen des Uterus und der Scheide bei der Frau, mit denen der Samenblaschen beim Manne aufmerksam gemacht und darauf hingewiesen, dass demgemass Congestionen zum Mastdarme und zum Colon sinistrum eben so zu Onanie Veranlassung geben konnen, wie umgekehrt Onanie wieder Congestionen zum Colon, Stricturen desselben und tragen Stuhl mit alien Folgen des letztern hervorrufen kann. Die Affection des Ge- schlechtsapparates, namentlich die Onanie, iibt nun einen entschiedenen |
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19'2 Vom Geschlechtsapparate ausgehende Melancholie.
Einfluss auf den ganzen Verlauf der Melancholie und in therapeuti-
scher Hinsicht verdient sie die vollste Beachtung. Die psychische Grundlage dieser Melancholieform ist zwar auch
die Schwermuth, das Niedergedriicktsein, die Selbstanklage, wie bei der vom Colon sinistrwm ausgehenden Form; dabei zeigt sich aber doch noch etwas Eigenthiimliches. Der Dickdarmmelanclioliker hat es mit eingebildeten Missethaten zu thun, er ist ein schlechterMensch, der Alles durchgebracht hat oder vor dem Richter erscheinen soil; der andere hingegen halt sich fur siindhaft, er ist von Gott verlassen, der ihm niemals seine Missethaten vergeben kann, und in Ewigkeit verloren." Mit einem Worte, die gedriickte Gemiithsstimmung geht hier in Melancholia religiosa iiber, alle Beangstigungen haben einen religiosen Anstrich. Diese Eigenthumlichkeit habe ich in meiner langen Erfahrung so
oft und bestandig beobachtet, dass ich die Ueberzeugung aussprechen darf, man werde nur hochst selten irren, wenn man bei einer Melan- cholia religiosa den Geschlechtsapparat, sei es durch Onanie oder durch andere Ursachen, betheiligt annimmt. Bei den mit Melancholia religiosa Behafteten in der Utrechter Anstalt habe ich durch genaue Nach- forschung oft genug die Ueberzeugung gewinnen mtissen, dass die strengglaubigen Ansichten, denen sie friiherhin zugethan waren, keines- wegs einer wahren Frommigkeit entstammten, die Kranken vielmehr der Onanie sich ergeben hatten oder auch mit andern Gebrechen der Geschlechtssphare behaftet gewesen waren. Mehrmals gelang es mir bei jugendlichen Individuen, die an Melancholia religiosa litten, die friiher geiibte und noch bestehende Onanie zu constatiren, wenn auch bei der ersten Untersuchung von Seiten der Eltern oder auch der Kranken die Sache ganz und gar in Abrede gestellt worden war. Indessen folgt der Onanie nicht immer Melancholia religiosa nach
und man darf auch nicht umgekehrt folgern, dass da, wo die Melan- cholie nicht den religiosen Anstrich hat oder keine Neigung zu Schwarmerei besteht, keine Onanie vorausgegangen sein konne; in allerdings nur seltenen Fallen kommt bei Onanisten ein Irrsinn vor, worin sich keine besondere religiose Farbung ausspricht. In solchen Fallen riihrt die Onanie manchmal von vorausgegangener Mania idio- pathica und Reizung der Medulla oblongata her. Wieder in andern Fallen wird durch haufiges Onaniren ein erregter maniakalischer Zu- stand hervorgerufen, der weiterhin, wenn die Ursache nicht aufhort, in Melancholia religiosa oder auch wohl in Blodsinn ubergeht. |
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Vom Geschlechtsapparate ausgehende Melancholie. 193
Manchmal waren Onanie, Amenorrhoe und andere krankhafte Zu-
stande erst secundar aufgetreten, nachdem Congestionen zum Mast- darme und zum Colon vorausgegangen waren, in anderen Fallen dagegen hatte die bestandige Aufregung und Reizung der Geschlechts- theile den tragen Stuhl, Molimina haemorrhoidalia und die Congestionen zum Colon hervorgerufen. Weit seltener fehlte die Verstopfung. Die Melancholia religiosa stellt sich zwar bei verscbiedenen Indi-
viduen je nach Alter und Gescblecbt uud nach der Verscbiedenartigkeit der Ursachen, wodurch die Affection des Geschlecbtsapparates herbei- gefiihrt wurde, etwas verscbieden dar; der Grundton indessen ist uberall der naniliche. Die allerhaufigste Ursache ist die Onanie, auf die man nicbt sorg-
sam genug achten kann, und wobei man sicb wobl zu hiiten hat, dass man nicht durch dreistes Laugnen von der recbten Spur abgelenkt wird *). Wenn man bei einem jungen Menseben eine gewisse Scbeu, einen
ausweichenden und niedergescblagenen Blick, ein triiges, unentschlos- senes Wesen wahrnimmt, wozu sich bald Stumpfsinnigkeit, Einge- nommenheit des Kopfes und Gedachtnissschwache gesellen, dann bat man immer an dieses traurige Laster zu denken. Dazu kommt noch eine Unbestandigkeit des Charakters und ein sehr ungleiches Benehmen, jenachdem der ungliicklichen Neigung ohne Riickhalt gefrohnt oder aber einigermaassen ein Ziel gesteckt wird. Alle Onanisten bleiben des Morgens gern im Bette liegen. Auch Menschenfurcbt tritt meistens hervor: sie meinen, dass Jedermann unterwegs sie ansiebt, beklagen sicb wobl dariiber und lassen sich zu allerlei Argwobn und verkehrten Einbildungen verleiten. Kommen dazu noch schwarmerische Vorstel- lungen und Selbstbeschuldigungen, dann kann man kaum mehr an der Onanie zweifeln. Man findet meistens auch eine unregelmassige Cir- culation, kiihle und dabei mit Scbweiss bedeckte Hande, Hitze am Kopfe, besonders im Nacken und am Hinterkopfe oder am Scheitel. Das Abbeissen der Niigel und das Klauben an den Fingern, wodurch mehrfache kleine Abschilferungen entstehen, kommt zwar auch bei |
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*) Man vertraue ja nicht zu leiehtgliiubig den Versicherungen der Kranken,
die oftmals aus Soham laugnen. So gestand mir einmal ein anstandiges Miid- chen ohne weitere Naehfrage, dass sie Onanie getrieben hatte; sie versicherte zugleich auf s entschiedenste ihre Reue, und ich durfte mich ganz darauf ver- lassen, dass es nicht mehr vorkame. Nichtsdestoweniger entdeckte ich spater, dass das Madchen noch taglich dem traurigen Laster i'rohnte. Sch roeder v. d. Kol k, firistcskranklieiten. 13
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194 Vom Geschlechtsapparate ausgehende Melancholic
andern Formen der Melancholie vor, am haufigsten aber doch bei
Onanisten. Der trage Stuhl gehort auch mit zu den Erscheinungen der Onanie. Mancbe zahlen Abmagerung unter den unausbleiblichen Folgen
der Onanie auf, aber mit Unrecht: solche Individuen bekommen durch die cbronische Congestion nach dem Kopfe oftmals etwas Aufgetrie- benes im Gesicbte. Dagegen ist der matte Blick meistens recht cbarakteristisch. Die Abnabme der geistigen Krafte geht zuletzt in Blodsinn fiber. Diese geistige Abstumpfung schreitet in der Regel bei jugendlichen Individuen rascher vor; auch pflegt sie beim mann- lichen Gesclilechte rascher und intensiver aufzutreten. Ich babe sogar Madchen gesehen, die dem Laster in ungezugeltem Maasse und lange Zeit hindurch frohnten, und bei denen keine entsprechende geistige Abstumpfung eingetreten war, sondern mehr etwas Launenhaftes, Bi- zarres und Fremdartiges im Charakter. Allein auch bei ihnen bleiben weiterhin die traurigen Folgen der Onanie nicht aus. Der blodsinnige Zustand oder die Dementia von Onanie zeigt sich
iibrigens verschieden von dem gleichen Zustande nach Mania idio- pathica und Meningitis, und ihre Unterscheidung ist von "Wichtigkeit. Durch die anhaltende venose Congestion werden die Gefasse erweitert, es bildet sich ein mehr passiver Zustand und ein Druck aufs Gehirn nebst Exsudation aus, die graue Substanz aber degenerirt nicht so rasch. Ich habe deshalb den durch Onanie entstandenen Blodsinn in erheblichem Maasse wieder schwinden sehen, sobald nur die veran- lassende Ursache bei einer zweckmiissigen Behandlung aufhorte. Bei Mania idiopathica dagegen stellt sich eine mehr acute Entziindung der Gehirnhaute ein und der Blodsinn wird dadurch unheilbar. Sehr haufig kommen auch Hallucinationen, namentlich des Gehors, als Folgen der Onanie vor. Treten sie gleich zu Anfang der Krankheit auf, wo sie im Ganzen seltener vorkommen, dann ist die Prognose ziemlich ungiinstig. Auch Epilepsie ist weit h'aufiger eine Folge der Onanie, als man
im Allgemeinen anzunehmen pflegt. Sehr haufig musste ich die Ent- stehung dieses. Leidens auf vorausgegangene Onanie zuriickfiihren. Bei der Inspection der Hollandischen Irrenanstalten, wenigstens zu der Zeit, wo dieselben sich meistens noch in einem traurigen Zustande be- fanden, weil die nothige Beaufsichtigung fehlte, habe ich mehrfach die Beobachtung gemacht, dass die Anzahl der Epileptiker in den einzelnen Anstalten in einem correspondirendenVerhaltniss zurMenge |
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Vom Geschlechtsapparate ausgehende Melancholie. 195
der Onanisten darin stand, da ja jenes Laster beim Mangel jeder Auf-
sicht in einzelnen Anstalten auf die grasslichste Weise im Schwunge war. Seit der bessern Einricbtung der Holliindischen Irrenanstalten finden sich aucb nicht mehr so viele Epileptiker darin. Die Behandlung der Onanie ist ein sehr undankbares Geschaft,
weil es oftmals fast unmoglich ist, der Uebung des Lasters durch sorg- faltige Aufsicht auf die Dauer vorzubeugen. Man bewegt sich dann in einem Cirkel, der nicht leicht zu durchbrechen ist. Die sich immer wiederholende Aufregung der Geschlechtstheile setzt fortwahrend er- neuerte Congestionen zu denselben, und die Anhaufung des Blutes in den zuletzt habituell ausgedehnten Gefassen bewirkt neue Aufregung und Neigung zum Onaniren, der zu widerstehen auch die besten Vor- satze des Kranken oftmals nicht ausreichend sind, so dass er, gleich dem Trinksiichtigen, unrettbar in's Verderben gestiirzt wird. Hat er aber auch noch Kraft genug, sich dem Triebe zu entziehen, dann treten nicht seltenhaufige nachtlichePollutionen ein, denen er doch vielleicht erliegt, wenn nicht eine vorsichtige Behandlung hier Schranken setzt. Vor Allem aus muss man zu ermitteln suchen, was zur Onanie
Veranlassung gegeben hat, oder wodurch die starkere Aufregung des Geschlechtstriebes unterhalten wird. Nicht immer liegt schlechtes Beispiel, tible Lecture und Verfiihrung zu Grunde, oftmals sind auch Hamorrhoidalcongestionen daran Schuld, oder Plethora und gereizter Zustand der Medulla oblongata. Wenn eine Hamorrhoidalcongestion sich auf die Gefasse der
Samenblaschen ausbreitet, wo dann meistens der Stuhl trage ist, so passen leichte Eesolventia, manchmal Blutegel ad anum und noch mehr ad perinaeum, kalte Waschungen und Sitzbader, auch wohl Flores sulphuris*)- 1st die Onanie erst im Anfange, dann wirkt auch wohl |
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*) Ein merkwiirdiger Fall ist mir bei einem Prediger vorgekommen, der
schon als Student mit der Onanie kampfte und aus diesem Grunde mit zu einer fruhen Ehe sieh entschlossen hatte. Obschon er Vater von funf Kindern war, vermochte er doch dem fortwahrend anstiirmenden onanistischen Triebe nicht zu widerstehen und war dem Laster wieder ganz anheimgefallen. Er hatte, wie er glaubte, die Liebe zu Frau und Kindern verloren, schloss sich am liebsten allein in seinem Studirzimmer ein, war nicht mehr im Stande, seine Geschiifte zu verrichten, und kam so rathlos und verzweiflungsvoll zu mir, da er sich auch von Gott verlassen glaubte, und da er, ein solches Scheusal, nicht mehr den Gottesdienst versehen diirfte. Ich horte den unghicklichen M3nn geduldig an, untersuchte seinen Korper und fand, dass Hamorrhoidalanlage und trager Stuhl dem Uebel zu Grunde lagen. Durch kalte Waschungen, namentlich am Hinter- 13*
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der fortgesetzte Gebrauch von Acid, sulpliuricum dilutum, und dancben
sparsame Diat, namentlich Abends. Kann man in solchen Fallen die Hamorrhoidalcongestion mindern oder ganzlich zum Schweigen bringen, dann feblt der Hauptreiz, der zur Onanie treibt, und der Ungliickliche vermag der Verfiihrung leichter zu widersteben. Manchmal liegt die Veranlassung zur Onanie mehr in Congestionen
zur Medulla oblongata. Ich habe oben erwahnt, dass bei Mania idio- patMca, wenn das Gehirn und das verlangerte Mark gereizt werden, meistens ein sehr reger Geschlecbtstrieb vorhanden ist. Ich beob- acbtete ferner bei einem Epileptischen, dass durch wiederholte blutige Schropfkopfe, denen spater einHaarseil im Nacken folgte, diehaufigen Pollutionen zugleich mit den epileptischen Anfallen aufhorten. An- dererseits iibenaber auch Erregungen der Geschlechtstheile und Onanie einen Reflex auf die Mcdtdla oblongata, der sich durch erhohte Tem- peratur im Nacken oder am Kopfe unci durch Spinalirritation, nament- lich beim Druck auf die obersten Halswirbel, haufig genug kund giebt. Blutige Schropfkopfe, kalte Waschungen und Douchen im Nacken, die letztern namentlich Abends vor Schlafengehen, konnen hierbei sehr vortheilhaft wirken. Viele Autoren schreiben dem Kampher eine besondere beruhigende
Wirkung zu. Mir hat er bei Aufregung des Geschlechtstriebes oder bei Onanie keinerlei Dienste geleistet, und ich habe ihn bei Melancholia religiosa mit Affection des Geschlechtsapparates vergebens angewendet. Nur bei grosser Erregung des Nervensystems, wenn nicht gleichzeitig eine stiirkere Gefassaction sich kund giebt, kann Kampher recht vor- theilhaft wirken. In hartnackigen Fallen kommt oftmals sehr viel darauf an, dass
die ungliickliche Neigung zur Onanie ein Paar Wochen lang darnieder gehalten wird. Gelingt dies, dauu bessert sich die Constitution einiger- maassen und der Kranke fangt an, sich wieder zu beherrschen. Wollte dies nicht gelingen, so legte ich einen schmalen Vesicatorstreifen spiralformig um das Praputium und unterbielt die Eiterung; dabei musste aber noch fortwahrend die Zwangsjacke in Anwendung kommen. So wurde hin und wieder auch noch Besserung erzielt. |
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kopfe, die mehrmals taglich _wiederholt wurden, durch Resolventia, durch Flo-
res sulphuris und sparsame Diiit gelang es, diesen Kranken vollstiindig zu hei- len, so dass er sich wieder als Mensch, als Gatte und Vater gliicklich fiihlte und durch gelehrte Abhandlungen den Beweis lieferte, dass er wieder im vollen Be- sitze seiner Geisteskrafte war. |
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Vom Geschlechtsapparate ausgehende Melancholie. 197
Spermatorrhoe, die nach Lallemand so haufig vorkommen soil,
scheint in Holland wenigstens weit seltener beobachtet zu werden. In dem einzigen Falle, der in meine Wahrnehmung fiel, brachte die Cauterisation nach Lallemand keinen Nutzen. Bei Madcben und bei Frauen ist die Onanie durcbaus nicbt ganz
ungewohnlich, dabei ist sie oftmals sehr hartnackig und wobl mit hy- sterischen Erscbeinungen vergesellschaftet. Meistens ist Fluor albus dabei, in Folge der haufigen Reizung. Liegt dem aufgeregten Ge- seblecbtstriebe und der Nymphomanie eine Amenorrboe und Plethora uteri zu Grunde, dann passen Blutegel an die Scbamlippen oder oben an die Schenkel. Mancbmalkommen sie aber auch besser weiter unten an die Scbenkel. Sonst hat man bier die allgemeinen Indicationen im Auge zu behalten*). Bei recht hartnackigen Fallen hat man auch die Cauterisation
der Clitoris empfohlen. Ich habe dieses Mittel einmal bei einem Madchen in Anwendung gezogen, aber obne Erfolg. Es musste zur Amputation der vergrosserten Clitoris geschritten werden, die von einer starken Hamorrhagie begleitet war; darnacb minderte sich aber die onanistische Neigung und blieb endlich ganz weg. Zu den vorziiglichsten Hiilfsmitteln bei Onanie gehort die an-
baltende arbeitsmassige Beschaftigung. Nur kann man dieses Mittel meistens desbalb nicbt in Anwendung bringen, weil dieOnanisten sehr trage sind und sich nicbt zu anstrengender Arbeit bequemen. War einmal die onanistische Neigung durch zweckdienliche Mittel
beseitigt worden, zeigten sich die Kranken aber noch matt und schwach, jedoch frei von Gehirncongestion, wodurch die Anwendung von Reiz- mitteln unriithlich geworden wiire, und schien so der Uebergang in Blodsiun befiirchtet werden zu miissen, dann haben mir einige Male Flores Arnicae und Eadix Arnicae, vielleicht mit China verbunden, die besten Dienste geleistet. Ich verband damit arbeitsmassige Be- schaftigung, so dass die Kranken ermiideten und am Abend bald ein- schliefen. Bei einem jungen Menschen von ganz blassem Aussehen wurde
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*) Bei einer vollbliitigen verheiratheten Fran, wo hartnackige Verstopfung
und Plethora coli bestand, trat heftige Nympbomanie mit unbezwingbarer Ona- nie auf. Durch Extr. Aloes aquosum wurden viele Kothmassen entleert und es trat rasche Heilung ein. Im Ganzen aber passt Aloe hier weniger, weil da- durch leicht die Hamorrhoidalcongestion zunimmt. |
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198 Vom Geschlechtsapparate ausgehende Melancholic
die onanistische Neigung durch kalte Waschungen, durch Ableitunge
im Nacken und durch BeseitiguDg der Stuhlverhaltung gehoben; von seinen falschen religiosen Vorstellungen aber wurde er weiterhin durch Martidlia befreit. Er schien Anfangs ganz in Blodsinn ver- fallen zu wollen, ist aber vollstandig hergestellt worden. Bei den Hallucinationen der Onanisten passen ableitende Mittel,
namentlich ein Haarseil im Nacken, in acuten Fallen auch wohl blutige Schropfkopfe. Bei melancholischen Frauen und Madchen kommt nicht selten
ein ziemlich hartnackiger Fluor albus vor,der von Onanie herriihren kann, aber auch von Plethora uteri oder von andern Ursachen. Ein solcher weisser Fluss hat eine ganz deprimirende Wirkung und tragt zur Verstarkung der Melancholia religiosa bei; es stellen sich dabei Congestionen zum Kopfe, sbwie Eingenommenheit und Betiiubung ein. Riihrt die Melancholie von Verstopfung oder von Plethora uteri her, so wird die Niedergeschlagenheit doch nicht leicht friiher oder doch nur voriibergehend aufhoren, so lange nicht der weisse Fluss beseitigt ist. Meistens verbinden sich damitmehr oder weniger heftigeLenden- schmerzen, die durch Reflex auf den untern Theil des Riickeumarks zu Stande kommen. In einzelnen Fallen ist dann die Affection des Ruckenmarks eine primiire und verlangt ableitende Mittel und blutige Schropfkopfe. Bekanntlich nutzt beim weissen Flusse haufiges Waschen mit kaltem Wasser, dem auch wohl Aqua Goulardi zugesetzt werden kann. In langwierigen und hartnackigen Fallen bewahrten sich mir aber Injectionen von Hollensteinauflosung am besten. Mir ist noch kein Fall vorgekommen, wo das Uebel nicht alsbald durch diese Injectionen zumSchweigen gebracht worden ware, so lange noch keine Desorganisationen eingetreten waren. Ist etwas Syphilitisches dabei im Spiele, dann nehme ich Sublimatauflbsung zu den Injectionen. Eine andere gar haufig spielende Quelle der Melancholie ist die
Menstruatio suppressa oder irregularis. In manchen Fallen riihrt aber die Amenorrhoe von einer allgemeinen Affection her, oder sie ist krampfhaften Ursprungs. Der Zusammenhang zwischen Menstruation und Melancholie lasst sich meistens daraus entnehmen, dass die Me- lancholie vor oder wahrend der Periode starker hervortritt. Gar nicht selten weicht aber auch die Melancholie oder die Manie, bevor die Periode wieder eintritt, und letztere bleibt daher wohl im Zeitraume der Reconvalescenz von selbst wieder weg. Daher kommt es, dass Amenorrhoe nicht immer mit Melancholia
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Vom Geschlechtsapparate ausgehende Melancholic 199
religiosa sich verkniipft, sondern oftmals auch bei andern Arten von
Manie beobachtet wird. Allein bei Melancholia religiosa steht die Amenorrhoe meistens in einem ursachlichen Verbande mit der Krank- heit, und der Wiedereintritt der Periode ist dann auch in der Eegel der Anfang der Genesung. Dagegen ist es als ein ungiinstiges Zeichen anzusehen, wenn die Periode wieder eintritt und einen regelmassigen Verlauf nimmt, ohne dass eine Aenderung des Irrsinns sich einstellt: die Krankheit geht dann meistens in unheilbaren Blodsinn iiber. Steht die Amenorrhoe in Beziehung zur gesammten Krankheit,
dann werden die Kranken durch fortwahrende Furcht vor ewigen Strafen gequalt, und ungeachtet ihres religiosen Benehmens und der Angst vor der Zukunft suchen sie durch Selbstmord den Lebensfaden abzuschneiden; dabei glauben sie sich aber nicht selten bereits in der Holle und fiihlen nach ihrer Versicherung die ewige Pein. Solche Kranke miissen sorgfaltig iiberwacht werden, und die Behandlung im eignen Hause hat daher ihre bedenkliche Seite, weil hier die Aufsicht nicht so sorgfaltig zu sein pflegt als in einer Anstalt. Meistens treten die Erscheinungen vor oder nach der Periode mit grosserer Heftig- keit auf. Manche Kranke wahnen sich in Folge der Plethora uteri schwan-
ger und jammern iiber die Schande, die dadurch iiber sie kommt; mit der Wiederkehr der Periode schwindet aber dieser Irrwahn. Entsteht die Melancholia religiosa in den klimakterischen Jahren,
dann ist die Prognose sehr ungiinstig; es bilden sich dann meistens unheilbare Leiden des Uterus aus, die Plethora uteri und die davon herriihrenden Reflexerscheinungen dauern fort und machen die Krank- heit unheilbar. Die Behandlung der vom Geschlechtsapparate ausgehenden Me-
lancholie ist oftmals schwierig und langdauernd. Allgemein schad- liche Ursachen miissen selbstverstiindlich beseitigt werden. Bei Chlo- rotischen wirken Eisenmittel oftmals am besten zur Beseitigung der Melancholie. Manchmal verbindet sich mit der Verstopfung und der Plethora coli Amenorrhoe, durch krampfhaften Zustand der Gebar- mutter bedingt. Dann passen die bereits erwahnten Mittel haupt- sachlich. Manchmal hat roir das Pulv. Doveri und besonders Morphium bei Melancholie, bei Manie oder auch bei Nymphomanie Hysterischer gute Dienste gethan. Die Unruhe, die Schlaflosigkeit verschwanden, die Geistesverwirrung nahm bald eine bessere Gestalt an und die Pe- riode stellte sich wieder ein. Ueber den Nutzen der Opiate habe ich |
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mehrfache Erfahrungen; ich sah die Menses suppressae dadurch wieder
in Fluss kommen. Auch bei Vivisectionen habe ich die excitirende Wirkung des Opiums auf den Geschlechtsapparat und auf die Harn- organe beobachtet. Ein Pferd, dem 6 Drachmen Extr. Opii aquosum in die Jugularis gespritzt worden waren, harnte ein Paar Stunden lang fortwahrend, und zwar 64 Male in der Stunde. Andere Male schien die Gesehlechtslust dadurch erweckt zu werden. Opium wirkt aber auch erregend aufs Iliickenmark, nur anders als Nux vomica; denn wahrend die Wirkung der Nux vomica am intensivsten im Len- dentheile des Riickenmarks hervortritt, trifft jene des Opium mehr den obern Theil des Riickenmarks. Ueber keine Abtheilung von Arzneimitteln ist man so sehr im
Unklaren, wie in Betreff der Emmcnagoga. Die meisten darunter scheinen ganz wirkungslos zu sein. Manche dazu gerechnete Mittel, wie Sabina, Secale cornutum, wirken mehr auf die Muskelfaser der schwangeren Gebarmutter und erwecken Contractionen derselben; zweifelhaft ist es aber, ob sie auch auf die ungeschwangerte Gebar- mutter einwirkon. Bekanntlich muss nun eine Reizung und ein Con- gestionszustand der Ovarien vorausgehen, wenn der Monatsfluss ein- treten soil, wie ja auch nach Exstirpation der Ovarien die Menstrua- tion ausbleiben soil; Mittel, die speciell auf die Muskelfasern der Ge- barmutter wirken, diirften deshalb als Emmenagoga so gut wie un- wirksam sein. Bei Amenorrhoe von Unthatigkeit des Gefasssystems soil die Sabina nachPereira's Angaben als Reizmittel auf die Gefasse ■wirken: ich habe indessen in keinem einzigen Falle einen bestimmten Erfolg von Sabina gesehen. Bei fortgesetzter Anwenclung des Borax sah ich mehrmals die Periode eintreten; ob aber daran allemal der Borax Schuld war, muss ich dahin gestellt sein lassen, weil dieses Mittel nicht selten auch ganz erfolglos gegeben wurde. Ueber Tinct. Cantharidum habe ich keine eigne Erfahrung. Vom Extr. Aloes wiuosum habe ich auch keine sichere emmenagogischo Wirkung beob- achtet. Uebrigens kann es durch seine Wirkung aufs Colon und durch das Fortschaffen verharteter Kothmassen den Monatsfluss befordern, denn nach Entfernung solcher Massen tritt oftmals von selbst die Periode ein und damit zugleich eine Besserung der Melancholie. Einige Male sah ich auch den glanzendsten Erfolg von blutigen Schropf- kopfen in der Lendengegend, zumal wenn hier Spinalirritation statt- fand; in einem Falle trat die Periode bereits eine halbe Stunde nach dem Setzen der Schropfkopfe ein. Die Application des Elektro- |
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magnetismus, namentlich durch den Rotationsapparat, in der Lenden-
gegend kanu ebenfalls bei Torpiditat vortheilhaft sein. In einigen Fallen von Paralyse der untern Gliedmaassen, wo der Elektromagnetis- mus taglich in Anwendung kam, entstand ein so copioser Blutabgang, dass ich das Mittel aussetzen musste. Ebenso kenne ich aber auch Falle von Amenorrhcie, wo ich den Elektromagnetismus mit gutem Erfolge am Riicken oder am Halse und an den Beinen appliciren liess. Einmal trat sogar die Periode dadurch ein, nachdem der Junod'sche Apparat erfolglos angewendet worden war. Blutegel an die Scham- lippen oder oben an die Schenkel wirken in solclien Fallen auch recht gut, wenn man dazu greifen darf. Desgleichen audi Dampfbader an die Geschlechtstheile, falls der weisse Fluss dadurch nicht zu sehr be- fordert wird. Zu den kraftigsten Mitteln gehort dann auch der Junod'sche Schropfstiefel; ich beobachtete bei dessen Anwendung raschen Eintritt der Periode und ein Verschwinden der Melancholic Nur ist seine Anwendung, zumal in der Privatpraxis, keine leichte. Vielleicht konnte man den Stiefel dadurch einigermaassen ersetzen, wenn man kurze Zeit eine festeBinde um den Schenkel legte und da- durch das Blut in den Beinen zuriick hielte. Fussbader gehoren endlich zu den empfehlenswerthesten Unterstutzungsmitteln. Natiirlich wird man bei der Auswahl dieser Emmcnagoga in Be-
tracht zu ziehen haben, ob durch Congestion und Reizung des Uterus oder des Riickenmarks, mit oder ohne gleichzeitige Affection des Colon sinistrum, eine Betentio mensium spasmadica hervorgerufen wird, oder ob andererseits eine zu schwache Gefassthatigkeit oder ein chloroti- scher Zustand zu Grunde liegt. Bei der Melancholia religiosa, gleichwie bei jeder andern sympa-
thischen Manie, muss man auf die Congestion zum Gehirne und die Hitze im Nacken, so wie auf das Gefiihl von Schwere und von Druck iin Kopfe achten. Denn die freilich nur secundiire Affection des Ge- hirns ist doch die nachste Ursache der Geistesverwirrung, und von ihrer Beseitigung hangt die Herstellung ab. Wird das Gehirn zu heftig gereizt, so dass es zu chronischer Meningitis kommt, dann geht die Melancholie in Manie oder in Blodsinn iiber, d. h. die graue Rindenschicht atrophirt, und damit schwindet die Aussicht auf Wieder- herstellung. Zur Verhiitung dieses ungliicklichen Ausganges muss dafiir gesorgt werden, dass die Hirnaffection nicht zu sehr hervortritt. Das erreicht man durch blutige Schropfkopfe im Nacken, durch Blut- egel, durch kalte Ueberschltige. Mit andern Worten, neben der An- |
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202 Vom Geschlechtsapparate ausgehende Melancholie.
wendung der Mittel, wodurch die Ursachen der sympathischen Manie
beseitigt werden, setzt man die bei der Mania idiopathica angegebene Curmethode ins Werk. Hallucinationen kommen in solchen Fallen ebenfalls vor*).
In hartnackigen, meist veralteten Fallen iindert diese Melancholie
manchmal den Charakter, es bildet sich eine bestimmte Vorstellung aus und wir haben es mit Demonomania zu thun. Die Kranken klagen dann iiber ein eigenthiimliches Gefiihl im Bauche, mit kolikartigen Schmerzen, und das schreiben sie Teufeln zu, die sich in ihrem Bauche verbergen. Esquirol fand in einem derartigen Falle die Gedarme |
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*) Einer der interessantesten Falle, die mir vorgekommen sind, betrifft eine
junge Banftmiithige, dabei aber plethorisohe Frau. Als sorgsame Mutter traf sie das Ungliick, dass sie, die schon einige Zeit an tragem Stuhl und Verstopfung gelitten hatte, ihr halbjahriges Kind auf dem Schoosse dureh Krampfe sterben sah. Die heftige Erschiitterung machte sie zunachst gleichgiiltig, und sie machte sich diese Gleichgiiltigkeit selbst zum Vorwurfe; nach einiger Zeit aber glaubte sie gestorben zu sein. Sie 8ah die Laden schliessen, horte die Menschen iiber ihren Tod reden und erwartete nun jeden Augenblick in den Sarg gelegt zu werden." Nun folgte eine Wahnvorstellung der andern. Sie befand sich in der Holle, ihr Kind war nicht an Krampfen gestorben, sondern sie selbst hatte es aufgegessen"; sie schreckte daher zusammen, wenn sie von Fleisch oder von Fleischspeisen reden horte, und wollte deshalb kein Fleisch geniessen. Eine Zeit lang kostete es sogar Miihe, sie iiberhaupt zum Essen zu bewegen, sie war ja todt und bedurfte keiner Speise, Ihr Mann und ihre anderen Anverwandten waren durch sie gestorben, und die Personen, die sich dafiir ausgaben,,, waren bose Geister, die sie dadurch qualten, dass sie sich in die Kleider ihres Mannes und ihrer Sohwestern steckten; Alles war nur Schein, selbst die Sonne'war nicht mehr die wahre Sonne, sondern eine falsche". Die Menschen erschienen ihr ent- weder mit grauem Gesicbte, oder sie waren glanzend und hatten auch wohl feu- rige Augen. Die Sinne der Frau, namentlich das Gehor, waren ungemein scharf. Als sie endlich in die Utrechter Anstalt aufgenommen wurde, besserte sich ihr Zustand unter der Anwendung blutiger Schropfkopfe, kalter Umschlage und Tropfbader auf den Kopf, sowie durch Extr. Aloes aquoswm mit Tart, emeticus, wodurch viele verhartete Massen abgingen, und es entstanden ihr Zweifel iiber ihre Vorstellungen; nur den Gedanken konnte sie nicht fahren lassen, dass Bie Bich einer schweren Missethat schuldig gemacht hatte. Endlich schien dieses niederdriickende Gefiihl sie auf Einmal zu verlassen und sie war ganz gliicklich. Nun sah sie aber einen Lichtglanz, eine Art Heiligenschein um alle Menschen, und deshalb glaubte sie sich plotzlich im Himmel. Doch dauerte dieser Wahn nur ein Paar Tage. Dann war sie vollkommen genesen, und sie sprach nun fort- wahrend von den Hallucinationen, die sie so sehr beangstigt hatten. Die Pe- riode war ausgeblieben, stellte sich aber ein Paar Wochen nach der Genesung auch wieder ein. Die hohe Scharfung des Gehors und die Gesichtshallucina- tionen waren jetzt ganz weg. Gegenwartig erfreut sich die Frau der besten Ge- sundheit und ist als Mutter und als Hausfrau gliicklich. |
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Vom Geschlechtsapparate ausgehende Melancholie. 203
ganz untereinander verwachsen, und ich habe das in einem Falle eben
so gefunden, Es scheint demnach, dass pathologische Empfindungen von veralteten Adhasionen der Baucheingeweide zu solchen Vorstel- lungen Veranlassung geben, wozu dann noch vernachlassigte Erziehung, geringe Aufklarung und Aberglaube das Ihrige beitragen mogen. Im Ganzen kommen dergleichen Falle seltener und meistens bei Frauen niederen Standes vor. Die Prognose ist im Allgemeinen ungiinstig. Die vom Geschlechtsapparate ausgehende Melancholie kann sich
nun aber wieder verschiedenartig gestalten, je nach der Constitution und nach den besondern Zustanden des Kranken. Insbesondere gilt dieses von der Mania puerperalis, wobei nicht selten die heftigste Aufregung und Tobsucht mit religiosen Vorstellungen und mit Melan- cholie abwechselt. Dabei hat man, ausser auf die Constitution, auch auf das vorausgegangene Wochenbett zu achten. Meistens stellte sich schon ein Paar Tage nach der Niederkunft grosse Lebhaftigkeit und ein aufgeregtes Wesen ein. Manchmal wurde der Ausbruch durch einen Schreck oder durch eine andere unvorhergesehene Einwirkung herbeigefiihrt. Manchmal horen die Lochien auf; die Milchabsonderung kann fortgehen oder nachlassen. Der Puis ist beschleunigt, und die Aufregung des ganzen Organismus fiihrt meistens zum Ausbruche heftigster Wuth. Die Kranken zerreissen ihre Kleider, sie beleidigen ihre Anverwandten und verlieren nicht selten alles Schamgefuhl. Der Schlaf fehlt. Die Angst treibt die Unglucklichen manchmal zu Flucht- versuchen und sie suchen durch Ertranken ihr Leben zu endigen. Meistens sind religiose Vorstellungen mit im Spiele, und bei langerer Dauer geht der Zustand in Melancholia religiosa iiber. Die Mania puerperalis wird bei zweckmassiger Behandlung der
Heilung am raschesten entgegen gefiihrt. Doch ist auch hier die Entfernung aus der eigenen Wohnung und die Aufnahme in eine gute Heilanstalt manchmal dringend geboten, oder doch wenigstens ein sehr wirksames Heilungsmittel, weil die Kranken gleichsam in eine neue Welt kommen, dadurch abgelenkt werden und eher zu der Rube gelangen, welche der Herstellung vorausgehen muss. Die starke Hirnreizung verlangt zuerst Tart, emeticus in oft wiederholten Gaben, bei Vollbliitigkeit oder starkerer Congestion blutige Schropfkopfe in den Nacken und kalte Ueberschlage auf den Kopf. Auf den Stuhl hat man nach Umstanden durch Extr. Aloes aquosum oder durch Bhamnus frangula zu wirken. Sind die Kranken mehr nervos, dann konnen auch Opiate mit Vorsicht gegeben werden. In ein Paar Fallen |
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204 Vom Harnapparate ausgehende Manie.
babe icb aucb von grossen Dosen Kampher mit Nitrum guten Erfolg
geseben, § 7-
Die vom Harnapparate ausgebende Manie, Ein Paar Fade sind mir wenigstens vorgekomraen, wo der Irrsinn
mit Nieren- und Blasenleiden im Zusammenhange zu steben scbien. Ein Kaufmann aus Liverpool, der sich einige Tage hindurch sehr
erhitzt und dabei whisky getrunken batte, bekam einen Catarrhus vesicae mit scbmerzhaftem und miihsamem Harnabgange; der Harn war ganz dick und wurde nur tropfenweise entleert. Die Behandlung war gegen Vergrosserung der Prostata gerichtet. Der Katbeter verursachte heftigen Schmerz und starker erscbwertes Harnlassen, so dass zwischen- durch vollstiindige Anurie eintrat. Dazu kamen heftige nervose Er- scheinungen, Hallucinationen des Gehors, und weiterhin auch des Gesicbts, ferner heftige Schmerzen bis zu den Fusssoblen biaab. Der Kranke bekam grosse Dosen Opium und Klystire, und in der Damm- gegend wurde eine Salbe aus Extr. Delladonnae eingerieben. Spater kam er in Brodie's Bebandlung, erhielt von diesem Brechmittel mit Cicuta und weiterbin Acid, nitricum dilutum. Da der Zustand sich nur verschlimmerte, kam der Kranke nach Hodand in meine Beband- lung. Bei der Aufnahme in die Anstalt suchte man zuvorderst durcb sanftes Zureden die Aufregung des Kranken zu beruhigen. Wegen Tragheit des Stuhls wurde 01. Bicini verordnet, dann aber Decoct. Al- thaeae mit Senna und mit Extr. graminis. Der Harn war ganz dick und entbielt viel Schleim, und wegen des Blasenleidens bekam der Kranke Kalkwasser mit Extr. Cicutae, sowie zwischendurch ein Decoct, sem. lini. Bei dieser Behandlung nahmen die Erscheinungen des Blasenkatarrbs rasch ab, der Harn wurde heller und trat leichter aus. Dabei erwachte aber der Kranke gleichsam wie aus einem Traume; er war sich bewusst, dass seine friihern Vorstellungeu irrige gewesen waren, und scbien ganz gesund zu sein. Nach einer kleinen Spazier- fahrt stellte sich eine Orchitis bei ihm ein und er wurde wieder etwas verwirrt; XJngt. mercuriale c. Opio beseitigte die Geschwulst. Im weiteren Verlaufe der Krankenbehandbing stellte sich noch einmal eine kleine Verschlimmerung des Blasenkatarrhs ein und sogleich waren auch die Hallucinationen wieder da. Alle Erscheinungen |
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Manie und Brustleiden. 205
schwanden aber rasch beim Fortgebrauche von Aqua calcis und durch
Unterhaltung eines geregelten Stuhls; nach 2 Monaten verliess der Mann die Anstalt ganz geheilt, d. h. frei von alien Harnbescbwerden und frei von jeglicher Geistesverwirrung. Ein Jahr nach seiner Ent- lassung erfuhr icb, dass er seitber ganz gesund geblieben war. Bei einer durch Onanie veranlassten Melancholia religiosa beob-
achtete ich ferner einen heftigen und hartnackigen Blasenkatarrh, so dass der dicke, manchmal eiterig sedimentirende Harn miihsam und mit Schmerzen entleert wurde. Der Zustand besserte sich ebenfalls durch Decoct, lini mit Aq. calcis und etwas Morphium (spiiter wurde Extr. secalis cornuti zugesetzt), und der Kranke trat genesen aus der Anstalt. Sich selbst uberlassen, kehrte er aber zumLaster der Onanie zuriick, und so kam er mit einem heftigeren Blasenkatarrh und mit starkerem Irrsinn behaftet in die Anstalt zuriick. Die fruher ange- wandten Mittel brachten jetzt nur eine Minderung des Katarrhs zu Wege, vermochten ihn aber nicht ganz zu heben, wozu auch die Wider- spenstigkeit des Kranken gegen alle Arzneimittel das Ihrige beitrug. Es trat noch ein Nierenleiden hinzu und der Mann starb blodsinnig. Auch in diesem Falle steigerte sich die Geistesverwirrung allemal zu- gleich mit der Zunahme des Blasenkatarrhs. In Betreff des Extr. secalis cornuti will ich nur noch bemerken,
dass ich bei Enuresis nocturna, die bei Geisteskranken im Stadium der Dementia so haufig vorkommt, dieses specifisch auf die Blase wirkende Mittel mehrfach mit dem grossten Erfolge angewendet habe. Auch beim Bettpissen der Kinder habe ich es mehrfach wirksam gefunden. §8.
Manie und Brustleiden. Eine engere Beziehung zwischen Irrsinn und Brustleiden gehort
keineswegs zu den ganz seltenen Vorkommnissen. NachNasse (Zeit- schrift f. psych. Aerste. 1818. Heft 1. S. 44) soil Irrsinn haufig in einem ursachlichen Zusammenhange mit Herzleiden stehen, was ich aber nicht bestiitigen kann. Hypertrophic des Herzens und Klappenfehler fiihren eher zu Apoplexie als zu Irrsinn; wo man sie bei Irrsinnigen findet, da mochte ich sie eher durch die heftigen Gemiithsbewegungen entstanden glauben, als dass sie primar aufgetreten waren. Anders verhalt es sich dagegen mit Lungenaffectionen, mit Phthisis und Pneu- |
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206 Manie und Brustleiden.
monie; namentlich die Lungenphthise schien mir sehr hiiufig in ge-
nauerer Verkntipfung mit Irrsinn zu stehen. Auffallend ist es, wenn in der namlichen Familie einige Kinder
an Manie oder Melancholie leiden, die Briider und Schwestern aber, die von diesen Krankheiten verschont bleiben, an Phthise zu Grunde gehen. Ich habe das so viele Male beobachtet, dass ich nicht einen blossen Zufall darin zu finden vermag. Mancbmal alterniren auch Phthise und Manie: die Phthise scheint zu sistiren, so lange der Irr- sinn anhalt, und brioht nach dessen Beseitigung mit neuer Kraft hervor. Beide Krankheiten bestehen aber auch wohl gleichzeitig neben einander. Der Husten ist dann bei weitem nicht so heftig und der Auswurf meistens massiger oder ganz fehlend, woran wohl auch das Verschlucken der Sputa Theil hat. Ueberhaupt sind die phthisischen Erscheinungen, ungeachtet der zunehmenden Abmagerung, weniger hervortretend, und das hektische Fieber pflegt nicht gar heftig ent- wickelt zu sein. Mehrmals sah ich bei Kranken, die keine besondere Disposition
zu Brustaffectionen erkennen liessen, ganz plotzlich einen heftigen Blutsturz auftreten. Bei einem plethorischen irrsinnigen Miidchen war der Blutsturz so copibs, dass Erstickung davon drohte; darnach verschwand aber die Manie innerhalb weniger Tage. Beim Wieder- eintritt der letztern nach Jahresfrist kam keine neue Brustaffection, und es erfolgte der Uebergang in unheilbaren Blodsinn. Bei einer Melancholia religiosa mit grosser Aufregung und Neigung
zu Selbstmord, wo friiher der Geschlechtstrieb sehr entwickelt.gewesen war, trat durch Tart, emeticus, Blutegel in den Nacken und kalte Ueberschlage auf den Kopf Reconvalescenz ein, so dass der Mann von dem Irrigen seiner friiheren Vorstellungen ganz iiberzeugt war und voilkommen verniinftig redete. Er hatte friiher nie an der Brust ge- litten, besass einen starken Korperbau und konnte Strapazen ertragen. Eines Tages sass er plaudernd mit einem Freunde zusammen, und indem er eine Cigarre anziindete, fiel er todt zu Boden. Ich drang wegen des ganz unvermutheten Ereignisses auf die Section, und fand die ganze Trachea und die Luftrohrenaste mit Blut angefullt, obwohl in den Lungen keine Spur von Tuberkeln oder von Vomicae, ja nicht einmal Adhasionen der Pleura zu finden waren. Wahrscheinlich hatte sich das Blut in dem Augenblicke ergossen, wo der Mann seine Cigarre anziindete, so dass durch's Lufteinziehen das Blut nach innen ge- trieben worden war, denn es war auch nicht ein Tropfen Blut heraus |
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Manie und Brustleiden. 207
gekommen. Die Stelle, wo das Blut herausgekommen war, vermochte
ich nicht ausfindig zu machen, weil die Gefasse nicht injicirt wurden. Es musste aber wohl ein grosses Gefiiss geborsten sein, so dass sich in ein Paar Augenblicken viel Blut in den Luftwegen ansammeln konnte. Die rechte Herzkammer war ganz leer. Das Gebirn er- schien blass und anamisch. Ein junger Mann litt an sogenannter Mania attonita, so dass er
wahrend dreier Jahre meist auf dem namlichen Flecke stand und, ohne den Mund aufzutbun, vor sicb bin stierte. Es gelang mir indessen, ihn vollstandigherzustellen. Ein Jabr darnach heirathete er. Zum Zeichen seiner Dankbarkeit wollte er mir mit seiner jungen Frau sogleich einen Besucb abstatten, und so kam er zwei Tage nach der Hochzeit zu mir. Hier bekam er starkes Blutspucken, das sich taglich in immer star- kerem Grade wiederholte. Ich machte den Arzt alsbald darauf auf- merksam, dass dies kein gewohnliches Blutspucken war, weil der Zustand unter antiphlogistischer Behandlung sich immer mebr ver- schlimmerte. Eine eigenthiimliche Veranderung des Gesichts und der stinkende Athem liessen micb eine Gangraena pulmonum localis dia- gnosticiren, es wurde deshalb ein starkes Decoct- Chinae mit Acid, sulph. dilutum verordnet, und zu meiner Verwunderung trat Genesung ein. Ein Jahr spater entwickelte sich aber Lungenphthise, die zum Tode fiihrte. Die Schwester des jungen Mannes verfiel ebenfalls in Manie, wurde geheilt, erlitt aber dann ein Recidiv und jetzt endigte ebenfalls Lungenphthise ihr Leiden. Auch Phthisis laryngea ist mir bei Irrsinnigen vorgekommen. Bei
einer mit Daemonomanie behafteten Frau, die immer sehr unruhig war und laut schrie, stellte sich endlich Phthisis laryngea mit vielem Hu- sten ein, so dass selbst die Epiglottis verloren ging und das Schlucken sehr erschwert wurde; endlich erlag sie dem Kehlkopfsleiden. Als der Husten und die Phthisis laryngea anfingen, hatte sich der Irrsinn bei dieser Frau verloren. Entscheidend sind die Falle, wo die Lungenphthise neben Manie
oder Melancholie besteht oder damit alternirt. Mehr denn einmal habe ich die Beobachtung gemacht, dass eine weit vorgeschrittene Lungenphthise, die rasch zum Tode fiihren zu wollen schien, ganz unvermuthet stillstand, so dass alle phthisischen Erscheinungen, der Husten, das hektische Fieber u. s. w. in kurzer Zeit aufhorten, dafiir aber eine Manie oder auch eine Melancholie auftrat, wobei die Kran- ken, die eben erst wegen des heftigen Hustens und des starken Aus- |
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208 Manie und Brustleiden.
wurfs kaum sprechen konnten, frei und tief athmeten, ohne Husten
anhaltend sprachen, ja selbst schrieen. Verschwand dann die Manie, so kam die Phthise unmittelbar wieder zum Vorschein und fiihrte wohl zum Tode. Manchmal alterniren das Husten und der Irrsinn auch mehrmals mit einander, wie folgender von Guislain berichtete Fall darthut. Eine Frau verfiel in Folge eines heftigen Schrecks in stille Melancholie, die vier Jahre hindurch anhielt. Dann stellte sich ein heftiger Husten ein, der die Frau ungemein qualte; dabei horte aber die Melancholie auf und nach einem halben Jahre war die gei- stige Thatigkeit eine ganz normale. Nach Verlauf zweier Jahre wurde die Frau wieder aufgeregt und verfiel von Neuem in Melancholie, wo- bei dann der Husten alsbald nachliess. Im nachsten Jahre kehrte der Husten wieder zuriick und die Melancholie schwand, bis auch er wie- der durch den Irrsinn aus dem Felde geschlagen wurde. Ein solcher Uebergang von Husten oder von Phthise in Manie
oder in Melancholie scheint auf eine wechselnde Empfindlichkeit der Vagi und der Medulla oblongata.hinzudeuten, wie ich schon in meiner Abhandlung iiber Ursprung und Bildung der Lungentuberkel (Nederl. Lancet 1852. July en Aug.) bemerkte. Manchmal namlich kann der Husten und vielleicht auch die Lungenphthise als eine excentrische Erscheinung oder als die Folge einer Affection der Medulla oblongata und der Vagi auftreten. Es kommt aber nicht immer zum Alterniren zwischen Brustleiden
und Irrsinn. Einige Male sah ich Melancholie und galoppirende Schwindsucht neben einander bestehen, so dass die Kranken rasch dahin starben. Bisweilen gelang es mir, Geisteskranke der Heilung zuzufuhren,
bei denen die Erscheinungen einer vorgeschrittenen Lungenphthise in sehr drohender Weise hervortraten, und zwar durch Emollientia (z. B. Decoct. Athaeae mit Hyoscyamus) und durch Leberthran. Unter dieser Behandlung trat nicht nur der Irrsinn zuriick, sondern es hor- ten auch die Symptome des Brustleidens auf und die Kranken gena- sen vollkommen. So kenne ich einen solchen Kranken, der jezt seit langer denn 10 Jahren als Prediger fungirt und zwar ohne die ge- ringste Anfechtung. Auch kenne ich noch mehrere Falle, wo Indivi- duen, die bereits ganz abgezehrt waren, bei dieser blanden Behand- lung nicht nur hergestellt, sondern auch weiterhin ganz dick wurden. So konnte ich bei einem Manne von 26 Jahren, der an Mania here- ditaria litt, die grosse Aufregung und Wildheit nur mit Miihe durch |
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Mania erethica sensilis. 209
grosse Gaben Brechweinstein etwas bandigen, und erst durch Cuprum
sulphuricum stellte sich noch etwas mehr Rulie ein. Dann cntwickelte sich aber starke Salivation, die man nicht selten bei Maniacis beob- achtet, auch obne dass sie Quecksilber bekommen haben; derKranke bekam heftigen Husten mit purulentem Auswurfe, gorothete Backen mit hektischem Fieber, Diarrhoe, und zumUeberfluss wurde der trau- rige Zustand noch schlimmer durch das Ausbrechen zahlreicher Fu- runkeln, wodurch sich die bestehende Dyskrasie noch bestimmter charakterisirte. Trotz der grossen Abmagerung und unerachtet aller ungiinstigen Erscheinungen genas der Kranke vollkommen, indem er Decoct. Althaeae c. Hyoscyamo bekam, welches der Diarrhoe halber dann und wann mit Decoct. Salep c. Opio vertaltscht, spater aber durch Leberthran ersetzt wurde. Er verliess die Utrechter Irrenanstalt nach 9 Monaten ganz gut erniihrt und kraftig, und ohne eine Spur von Brustkrankheit oder von Gcistesverwirrung. Ich habe mehrfach die Bemerkung gemacht, dass Kranke, bei de-
nen der Irrsinn mit Brustleiden zusammenfallt, lebhafter und starker aufgeregt sind, nicht nur wenn sie an Manie leiden, sondern auch im Falle einer Melancholie, wo sie dann unaufhorlich gegen Andere von ihrem Gemiithsleiden Mittheilung machen. Ausnahmen davon fehlen aber nicht, und man trifft auch derartige Kranke, die kein Wort sprechen. Vom Brechweinstein sah ich in solchen Fallen selten gute Wirkung, ja manchmal schadete er offenbar. Milde Narcotica, z. B. Hyoscyamus, eignen sich am besten, um die grosse Empfindlichkeit und Le&haftigkeit herab zu stimmen. §.9.
Mania erethica sensilis. Mit diesem Namen belege ich eine Form der Manie, die sich durch
eigenthumliehe Charaktere auszeichnet und noch am meisten mit man- chen Fallen von Mania puerperalis Aehnlichkeit hat. Die Reizung des Gefasssystems tritt dabei weniger entschieden in den Vorder- grund: Hitze im Kopfe und die anderen Zeichen von Congestion sind nur in geringem Maasse entwickelt, wenn sie nicht ganz fehlen; das Antlitz ist nicht sehr gerothet, und die Nasenspitze zeigt nicht jena dunkle Farbung, die fiir die chronische Hirncongestion so charakte- ristisch ist; der Stuhl ist meistens normal, oder es besteht selbst Nei- Schroederv. d. Kolk, Geisteskrankheiten. 14
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210 Mania erethica sensilis.
gung zu Diarrhoe. Dabei zeigt sich aber erne anhaltende Unruhe des
ganzen Korpers, die sich bis zur Wuth steigern kann; die N.achtruhe ist unvollkommen oder fehlt auch ganz; bei heftigeren AnMlen dauert das Sprecben, Singen oder Schreien olme Unterlass fort. Meistens ist mir diese Form von Manie bei zarten, sensibeln, hy-
sterischen Madchen vorgekommen; doch kann man sie auch, mehr oder weniger durch die Constitution modificirt, bei Mannern beobach- ten. Selten befallt sie das hohere Lebensalter. Fiir den Arzt ist es von besonderer Wichtigkeit zu wissen, dass solche Kranke gegen Ab- fiibrmittel und Brecliweinstein sehr wenig tolerant sind: schon klei- nere Gaben verursachen alsbald Erbrechen oder Diarrhoe, wobei die Krankheitserscbeinungen zunehmen und die Aufregung sich steigert. Bei dieser Krankheitsform ist nach meiner Erfahrung Kampher
indicirt, meistens in Verbindung mit Nitrum. Man giebt den Kam- pher zu 8 bis 10 Granen in 24 Stunden, steigt auch wohl nach Um- st'anden allmalig mit der Dosis, und dabei werden die Kranken mei- stens ruhiger. Besteht eine starkere Reizung des Gefiisssystems, dann wirkt der Kampher mehr aufregend und die Congestion verstarkend, und in gleicher Weise wirkt er auch, wenn Verstopfung eine Forde- rung des Stuhls indicirt. Bei MelanchoUe mit stummem Schweigen und Gedriicktsein des Geistes hat mir Kampher ebenfalls nichts ge- niitzt; die gedriickte, triibe Stimmung nimmt wohl dabei noch mehr zu. Bei einem irrsinuigen Manne indessen, der ganz trage und nie- dergeschlagen war und den Brecliweinstein auch nicht in kleinen Do- sen vertrug, erzeugten 12 Grane Kampher in 24 Stunden grossere Munterkeit, die sich wieder beruhigte, als 16 Grane gegeben wurden. Ich stieg dann bis auf 18 Grane in 24 Stunden; dabei wurde der Kranke ganz rubig und der Genesung zugefiihrt. In einem Falle war ich bei einer Kranken bis auf 26 Grane in
24 Stunden gestiegen, und es trat dabei ein epileptiformer Anfall ein: die fruherhin aufgeregte Kranke wurde ganz still und stumpfsinnig und sprach nicht mehr. Spaterhin wurde sie aber doch noch geheilt durch Extr. Aloes aquosum c. Tartaro emetico, welches Mittel sie recht gut vertrug. §. 10.
Mania intermittens. Nicht selten beobachtet man, namentlich bei Mania idiopathica, dass der Kranke jeden zweiten Tag sich besser befindet, so dass mehr |
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Mania intermittens. 211
oder weniger deutlich erne Pyrexie und eine Intermission unterschie-
den werden konnen. Uiese Intermittenz habe ich fast immer als eine ungiinstige Erscheinung kennen gelernt; sie deutet meistens auf ein tieferes Leiden des Nervensystems, und dass die Krankheit hartuackig sein wird. Man darf diese Intermissionen nicht mit lucida intervalla verwechseln, die meistens mehr unregelmassig hervortreten und die bevorstehende Genesung andeuten. In manchen Fallen von Manie sowohl wie von Melancliolie tritt
der Typus tertianus mit grosster Deutlichkeit hervor. Die Verschlim- merung stellt sich manchmal immer zu einer ganz bestimmten Stunde ein. In einem Falle, wo ganz offenbar ein chroniscbes Uebel zu Grunde lag, wahrscheinlich Entziindung oder Tuberkeln in der Medulla oblongata, trat die Pyrexie sogar mit kalten blaulichen Fingern, einem kleinen, raschen und zusammengezogenen Pulse ein, worauf dann eine starke Gefassaufregung mit bedeutender Gebirncongestion folgte, so dass Alles auf eine Intermittens larvata hinzuweisen schien. Die Aerzte pflegen daher auch in solchen Fallen zum Chinin zu
greifen. Icb habe das Mittel auch vielfach versucht, aber niemals eine Heilung, sondern nur nachtheilige Folgen davon beobachtet. Der intermittirende Charakter andert sich wohl dabei, aber der Kranke verfallt in einen Zustand anhaltender Aufregung, ja selbst in Wuth, und deshalb muss ieh dringend vor der Anwendung des Chinins warnen. Wie hartnackig diese Form sein kann, mag aus folgendem Falle
erhellen. Eine Dame hatte vor 7 Jahren den Schrecken gehabt, dass ihr Kind ertrank, und bald nachher war sie von periodischer Melan- cholic befallen worden, die wochentlich 2 bis 3 Anfalle machte. Das dauerte 4 Jahre fort, so dass die Anfalle immer am dritten Tage ka- men. Ein Jahr darauf trat Schwangerschaft ein, und die intermitti- rende Melancholie anderte sich dabei nicht; nur nach der Niederkunft war die Kranke drei Tage lang befreit geblieben. Sie nahm nun meine Hiilfe in Anspruch und ich iiberzeugte mich, dass sie immer an dem einen Tage ganz gesund war, am andern Tage aber von tiefer Melancholie befallen wurde, ohne sonst eine Storung, als Tragheit des Stuhles. Chinin war schon mehrfach in grossen Dosen gegeben wor- den, und der Zustand hatte sich dabei nur verschlimmert. Ich ver- ordnete Pillen aus Eoctr. Aloes aquosum c. Tartaro emetico, so wie Blut- egel ad anum, und dabei minderte sich die Heftigkeit der Anfalle und die Periode trat wieder ein. Die Frau brauchte aber die Mittel nicht regelmassig fort und die Krankheit nahm wieder zu. |
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212 Mania intermittens.
In einem anderen Falle von Mania intermittens verfiel der Kranke
jeden andern Tag, etwa um die Mittagszeit, in grosse Aufregung und zuletzt in formliehe Wutb, und gegen Abend beruhigte er sich dann wieder. So blieb er dann auch den nachsten Tag rubig und zeigte bloss Spuren von Verwirruug, da er iiber viele Dinge ganz gut spracb. Wegeu des typischen Eintrittes, der so bestimmt eine Febris larvata vorspiegelte, gab ich darin nach, dass noch einmal ein Ver- such mit Chinin angestellt wurde, machte aber den Arzt docb auch auf die mogliche schadliche Wirkung dieses Mittels aufmerksam. Meine Besorguiss bestiitigte sich insofern, als aus der Mania intermit- tens eine Mania continua wurde. Das Mittel wurde deshalb nur we- nige Tage gegeben. Es trat dann allmalig das Periodisclie wieder bervor, so dass wir es nacli ein Paar Wochen wieder mit einer Mania intermittens zu thun batten. Da der Fall so hartuackig war, wollte ich mit Arsenik, als kraftigem Febrifngum, einen Versuch machen. Allein beim Gebrauche der Tinctura Fowler i nahm dieManie wiederum den continuirlichen Typus an, und nach einer Wocbe bereits stellte sich Diarrhde und Kolik ein, weshalb damit ausgesetzt werden musste. Der durch die lange Dauer der Krankheit geschwachte Mann verfiel nun rasch, binnen eiuigen Wochen war er ganz blodsinuig geworden und bald trat der Tod ein. Am Gehirne fanden sich die Zeichen einer allgemeinen chronischen Meningitis. Wo sich auch eine deutliche Intermittenz in den Anfiillen heraus-
stellte, da sah ich gleichwohl von wiederholter Anwendung blutiger Scbropfkopfe im Nacken, vom Haarseile und vom inneren Gebrauche des Tart, emeticus oder der Digitalis noch den meisten Nutzen. Selbst in den Fallen, wo eine vollkommene Herstellung wegen eines orgaui- schen Leidens der Medulla oblongata unmoglich war, sah ich das Pe- riodisclie dadurch schwinden und einen gleichbleibenden ruhigen Zu- stand eintreten. Chinin, ganz zu Anfang gegeben, hatte auch hier nachtheilig gewirkt und musste alsbald ausgesetzt werden. Ein anderer Fall ist der, wenn ein mit Manie Behafteter von Fe-
bris intermittens befallen wird. Mehrmals habe ich beobachtet, dass der Irrsinn durch jeden Fieberanfall gebessert wurde. Ohne drin- gende Noth habe ich daher in solcben Fallen nicht zum Chinin ge- griffen, um nicht das heilsame Walteu der Natur zu storen. In einem Falle war die Besserung des Irrsinns durch die Fieberanfalle so auf- fallig, dass man auf eine baldige Beseitigung desselben hoffen durfte. Da blieb das Fieber, ohne dass irgcnd ein Mittel dagegen in Anwen- |
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Nervina und Narcotica. 213
dung gekommen war, auf Einmal weg. Die Manie hatte sich zwar
sehr gebessert, war aber doch noch nicht gauz gehoben; der Kranke brachte nocb ein Paar Monate in der Anstalt zu, bis er vollstandig geheilt war. |
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§.11.
Wirkung der Nervina und Narcotica. Ich kenne nur wenige Arzneimittel, deren Indication so unsicber
und schwankend ware, als es oftmals mit Kampher der Fall ist. Manchmal wird er nicht vertragen, weil er zu sehr reizt, und doch kann man dieses nicht mit Sicherheit vorher wissen. Ist er Iibrigens indicirt, dann leistete er mir oftmals die besten Dienste. Die Un- gleichmassigkeit seiner Wirkung scheint mir dadurch bedingt zu sein, dass der Kampher das Gefiisssystem reizt, namentlich dann, wenn dasselbe schon in einem erregten Zustande sich befindet, zugleich aber auch berubigend aufs Nervensystem wirkt. Ich mochte ihn des- halb mit Chloroform, Aether und anderen Nervinis zusammenstellen. Bei bestehender Gefiissaufregung wirkt er soiuit erhitzend und da- durch nachtheilig; andem Falles vermag er allerdings die erhohte Sensibilitiit herabzustimmen und dadurch Ausgezeichnetes zu leisten. Die Gabe darf aber nicht zu klein genommen werden, weil kleine Do- sen eher erregend als besanftigend wirken*). In dergleichen Fallen fand ich auch Opium sehr wirksam, na-
mentlich bei Melancholie mit grosser Priicordialangst, anhaltender Agitation, Schlaflosigkeit, wenn zugleich der Darmkanal sehr empfind- lich ist und leicht Diarrhoe entsteht. Ich gab dann Abends 7, bis 1 Gran Extr. Opii aquosum und liess diese Gabe auch wohl am Mor- gen wiederholen. In einem Falle, wo neben der Empfindlichkeit des Darms auch Congestionen zum Kopfe da waren, verschwanden diese Congestionen durch Opium und die Kranke genas. Ich denke mir, dass das Opium in solchen Fallen die Empfindlichkeit des Symjpathi- u* v\Be\e^ ia h°h6m Grade aufgeregtenManne, der Tag und Nacht unauf-
horhch schne, hatte ioh Blutegel, Abfiihrmittel, kalte Ueberschlage vergebens yenucht Durch Opium steigerte Sich die Aufregung noch mehr und der Puh stzeg auf 100. Jetzt verschrieb ich 1 Scrupel Kampfer auf 24 Stunden, in Ver- bmdung mitNitrum. Dadurch sank der Puis auf 60 Schlage, der Kranke wurde runig und der Irmnn horte ganz auf. |
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214 Nareotica.
cus, namentlich im Bereiche des Darmes, herabstimmt, dadurch den
Reflex auf Gehirn und Riickenmark mindert, also durch Beseitigung der Congestion zur Heilung beitragt. Man muss aber dabei im Auge behalten, dass das Opium, wie mehrfache Beobachtungen und eben so Versuche an Thieren (S. 200) gelehrt haben, erregend auf die Ge- schlechtstheile wirkt. Bei einer jungen, plethorischen, lebhaften Frau, die an Mania hysterica mit Schlaflosigkeit und Menstruatio parca litt, wurde durch »/« Gran Morphium, Abends genommen, allemal der auf- geregte und verwirrte Zustand beseitigt, ein amleres Mai aber, als die Reinigung schon am zweiten Tage aufhorte, trat dieselbe durch Pulvis Doveri bereits am dritten Tage wieder ein; bald darauf war die Frau in der Genesung. Spaterhin konnte ich einen drohenden Anfall alle- mal durch eine Gabe Morphium des Abends coupiren; es stellte sich Schlaf ein und der Geist wurde frei. Auch in diesem Falle wurde der Brechweinstein schwer vertragen; schon von '/4 Gran entstand Er- brechen. Nachdem die Frau iiber ein halbes Jahr sich einer guten Gesundheit erfreut hatte, stellten sich wieder Aufregung und Anlalle von Manie ein, und jetzt brach ein Paar Stunden nach der gleichen Gabe Morphium ein heftiger Wuthanfall los, obwohl dem Morphium eine Blutentziehung vorausgeschickt worden war. Wahrscheinlich waren Gefasssystem und Geschlechtstheile jetzt zu sebr aufgeregt, da, wie ich mich iiberzeugte, Onanie vorausgegangen war. Morphium habe ich haufig fiir sich allein, oder auch in Verbindung mit Tart, emet. gegeben und Erfolg davon gesehen; doch hat sich mir das Extr. Opii aquosum als das beste Sedativum bewahrt. DerZusatz von Mor- phium zuin Brechweinstein bewirkte in manchen Fallen, aber durehaus nicht constant, ein rascheres Auftreten von Uebelkeit. Uebrigens vergesse man nicht, class Opium in sehr kleinen Dosen meistens mehr irritirt, indem die sedative Wirkung nicht die Oberhand gewinnt; das geschieht eher durch grossere Dosen. Besteht eine mehr idiopathische Hirnreizung oder eine chronische Meningitis, dann wirkt Opium nach meiner Erfahrung schadlich, indem es die Hirnreizung steigert. Das Extr. JBelladonnae habe ich mehrfach mit gutem Erfolge
als Antispasmodicum angewendet. Es wirkt besonders auf den Sym- pathicus des Darmes, zumal in Verbindung mit Extr. Aloes aquosum. Als allgemeines Narcoticum hat sich mir Belladonna so wenig als Strammonium bewahrt; eher konnte ich ihnen eine uachtheilige Wirkung zuschreiben. Die Strobuli humuli lupuli verdienen unter den sedativen
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Narcotica. 215
Mitteln alle Beachtung. Ich lasse ejn paar Drachmen mit 6 bis 8
Unzen Wasser infundiren. Das Mittel wird gut genommen, es befordert den Schlaf und retardirt nicht den Stubl, wie Opium. Dass das Lupulin auf die Geschlechtsthatigkeit einen herabstimmenden Einfluss iibe, wie manche Autoren anfiihren, ist mir n0ch sehr zweifelhaft. Opium da- gegen wirkt allerdings erregend auf die Geschlechtsthatigkeit, und darin mochte wohl ein grosser Uuterschied zwischen diesen beiden Mitteln liegen. Uebrigens wirkt der Hopfen doch auch aufs Gefass- system: ich beobachtete wiederholt sine Zunabme der Kopfcongestionen bei dessen Gebrauche, so dass darn.it ausgesetzt werden musste. Ich lasse gern ron dem Infusum Abends ein Paar Male einige Loffel nehmen; die Nacht ist dann ruhiger, und es kommt nicht so leicht zu Con- gestionen, als wenn man das Mittel 4 bis 5 Male im Tage nehmen lasst. Auch der Hyoscyamus hat sich mir manchmal als Beruhigungs-
mittel bewahrt, und er hat wohl selbst Genesung bewirkt, namentlich dann, wenn gleichzeitig ein Brustleiden vorhanden war. Dagegen habe ich Aq. Laurocerasi wegen seiner Unsicherheit nur selten ge- geben. Die Schlaflosigkeit, die bei Mania idiopathica eine so gewohnliche
Erscheinung ist, darf man nicht durch Narcotica bekampfen wollen, die nur schadlich wirken konnen. Nur da passen Narcotica sedativa, wo die Schlaflosigkeit ein Residuum erhohter Sensibilitat ist, ohne dass das Gefasssystem in seiner Thatigkeit gesteigert erscheint. Ein Paar Male habe ich auch Chloroform innerlich in Gummi-
wasser oder in Zuckerwasser nehmen lassen. Es tritt dadurch nicht in gleichem Maasse eine heruhigende und betaubende Wirkung ein, als wenn das Chloroform geathmet wird. Indessen sah ich doch ein Paar Male bei Hysterischen nach 15 bis 20 Tropfen, die am Abend gegeben wurden, Ruhe und Schlaf eintreten. Fur die Dauer passt es aber nicht, weil man mit der Dosis immer holier steigen musste *). |
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*) Bei einer Dame, die an veralteter und unheilbarer Melancholia religiosa
litt und alle Hiilfe zuriickwiess, drilngte Bich die Frage auf, ob vielleicht Carci- noma uteri da ware. Eine Untersuchung ware nur unter grossem Widerstreben und unter einem Wuthausbruche mogliob. gewescn. Ich rieth daher, die Frau zu chloroformiren; sie verfiel in Sohlaf und konnte nun ohne Miihe untersucht werden. Merkwurdiger Weise war sie beim Erwachen ganz bei Sinnen: sie wusste, dass sie krank war und dem verkehrten Antriebe keinen Widerstand ent- gegen zu stellen vermochte, und verlangte Hiilfe. Nach ein Paar Stunden war sie aber wieder in den alten Zustand verfallen. Ein zweiter Versuch hatte den namlichen Erfolg, aber leider auch nur von kurzer Dauer. |
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216 Bader.
Vom Nutzen der Digitalis bei Hallucinationen habe ich schon
friiher (S. 158) gesprochen. Mehrmals habe ich aber die Digitalis auch mit Erfolg gegeben, ran die starke Aufregung herabzustimmen, zumal wenn Tart, emeticus nicht gut vertragen wurde. Der fortgesetzte Ge- brauch eines Infusum Digitalis, welches nach meiner Erfahrung mehr als dasPulver beruhigend wirkt, erzeugte wohl bei grosser Aufregung, die sich durch kein anderes Mittel besiinftigen liess, Ruhe und eine Herabsetzung der Pulsschliige, freilich wohl auch mit voriibergehender Narkose, Kopfeingenommenheit und taumelndem Gange, welche Er- scheinungen aber nach ein Paar Tagen wieder verschwanden. Doch ist es mir vorgekommen, als ob die Beruhigung der Kranken nur so lange anhielt, als der Puis durch Wiederholung des Mittels auf 50 bis 60 Schlagen stehen blieb, und dass beim Aussetzen des Mittels nicht nur die Pulssehlage sich wieder vermehrten, sondern auch der vorige aufgeregte Zustand sich wieder einstellte. Seltener kommt es beim Brechweinsteine vor, dass die erzielte Beruhigung nach dem Aussetzen des Mittels wieder verloren geht. Insofern scheint die Digitalis oft- mals nur palliativ zu wirken. Doch kommt dabei viel auf die Form der Krankheit und auf den Zustand des Kranken an. Denn man ch- in al ist atfch die durch D-igitalis erzielte Besserung eine nachhaltige. § 12-
Aeusserliche Mittel. Bei der Therapie der verschiedenen Irrsinnsformen ist wiederholt
von ausserlichen ableitenden Mitteln-die Rede gewesen, von Schropf- kopfen, Blutegeln, Fontanellen, Haarseilen, Incisionen der Kopfschwarte, und will ich darauf nicht wieder zuriick kommen. Dagegen habe ich eines kraftigen Heilmittels noch niiher zu gedehken, der Bader nam- lich, die als warme und laue Bader, als Douche, als Tropf- und Sturz- bader in Anwendung kommen. In der Privatpraxis sind Bader freilich wohl schwer herzustellen;
es sind aber diese so kraftig auf die Haut wirkenden Mittel von solcher Bedeutung,dass sie in manchen Fallen durchaus nicht verabsaumtwerden diirfen. Bei manchen Kranken ist die Hautausdunstung gestort und die Hautganz trocken; dann wirken laue Bader sehr vortheilhaft durch Ab- leitung auf die Haut. Verbindet man aberdamit noch ein kaltesTropf- bad auf den Kopf, so wirkt man auf doppelte Weise ein, um die Congestion |
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Bader. 217
void Kopfe abzuleiten. Nur darf das Bad nicht zu heiss, sondern nur
lau sein. Neuerer Zeit hat Brierre de Boistnont auf 6, 8, 10 Stunden
ausgedehnte laue Bader empfohlen, nm dadurch die Wutli der Irren zu besanftigen, und ich will gerne glauben, dass ein so ausgedehntes warmes Bad ersclilaffen und die Thatigkeit des ganzen Gefiisssystems herabstimmen muss. Der Anwendung solcber Bader stellen sich aber Schwierigkeiten entgcgen, z. B. sehon die, das Wasser wahrend der ganzen Zeit auf der namlichen Temperatur zu erhalten, und sie diirften deshalb nur selten Anwendung finden konnen. Uebrigens besitzen wir andere ausserliche Mittel, z. B. Schropfkopfe, sowie auch inner- liche Mittel, wodurcb man auf eine einfacliere Weise den aufgeregten Irren zu beruhigen ira Stande ist. Auch kalte Bader konnen in Anwendung kommen, die eine kraftige
Reaction in der Haut hervorrufen und deren Function wieder her- stellen konnen. Bei Neigung zu Congestionen und zu Meningitis, und eben so bei Epilepsie konnen sie jedoch Schaden briugen. Auch bei Onanie babe ich das kalte Bad als Heilmittel und als Zwangsmittel mit Nutzen angewendet. Auch zur blossen Reinigung verdienen Bader alle Beachtung bei
Irren, wo ja Unreinlichkeit eine nicht seltene Erscheinung ist. |
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