Schopenhauer
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und die
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Indische Philosophie
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Max F. Hecker
Dr. phil.
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BIBLIOTijEEK DER
RUKSUNIVERSITEH UTRECHT.
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Koln:
Hiibscher & Teufel.
1897. |
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Herrn Prof Dr. W, Bender,
v. Professor der Philosophie an der Bonner Universitat,
gewidmet
in Verehnmg und Dankbarkeit.
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1. Einleitung.
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§ 1. Morgenland und Abendland.
Die alte Asia, die ratselverschleierte, gilt als die Mutter
des Menschengeschlechtes. Unter ihren Augen durchspielten
die jungen Volker die Zeit der Kindheit -— und erst, als das
wagende Jiinglingsalter ihreHerzen mitSehnsuchtnachNeuem,
Fremden erfiillte, als die Mutter fur die Menge der Sohne
keinen Raum mehr besass, da rissen sie sich vom Mutter-
busen los, um den Lockungen unbekannter Feme zu folgen.
Westwarts pilgerten die einen durch das weite Volkerthor
zwischen Kaukasus und Schwarzem Meer, ostwarts zogen die
anderen uber die Fluten der See. Die Erde wurde voll von
ihnen. Und wenti sie auch gar bald die Heimat in Karnpf
und Wanderung vergassen, so ist es doch, als hatte, wenig-
stens bei den occidentalischen Volkern, ein stilles Heimveh,
eine tief innere Sehnsucht nach dem urheirnatlichen Orient
in ihnen fortgelebt. Das Morgenland ist seit je den abend-
landischen Volkern der Inbegriff alles Wunderbaren, Ge-
heimnisvollen gewesen, das Ziel eines schwarmerisch-phan-
tastischen Sehnens. Die Griechen, die dem makedonischen
Eroberer an die Ufer des fabelhaften Indus folgten, standen
unter dem Einflusse jenes neugierigen Verlangens nach dem
Orient als der Verwirklichung alles Uebersinnlichen; in die
Gottestrunkenheit der Kreuzfahrer mischte sich der begehr-
liche Schauer vor den Geheimnissen des Landes, von dem
jeden Morgen die Sonne des Tages ausgeht und vor Zeiten
die Sonne der Welt ausgegangen war; und noch die Fran-
zosen, die Napoleon I. nach Aegypten fiihrte, haben durch
ihre Massenbegeisterung dem Eindruck des verlockenden
Zaubers Sprache verliehen, der dem Orient und seinen
Mysterien eigen ist. Der Orient, speziell Indien, ist um die
Wende des Mittelalters und der Neuzeit das Ziel fast aller
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Entdeckungsfahrten; dem Trieb, seine reichen Wunder zu
schauen, verdankt die Welt die Entdeckung eines neuen Continentes. — Und was immer dem Orient entstammt, hat im Abendlande stets als geheimnisvoll, fast iibernaturlich gegolten. Darum fanden die verschiedensten Stromungen, die von Asien ausgingen, in Europa offene Balm; gern nahm man hier an, was von dort geflossen kam. Orientalische Reli- gionen treten ihren Siegeslauf um die ganze Welt an: Christen- tum und Islam, unter asiatischem Himmel entstanden, unter- werfen sich im Wettstreit die civilisierte Erde. Neben dem judischen Christus Ziehen zur Kaiserzeit der persische Mithras und der agyptische Osiris in Rom ein. Orientalische Astro- nomic verbreitet sich in Europa. Orientalische Kunst und Litteratur macht zu verschiedcnen Malen im Abendland ihren Einfluss geltend. Die Tierfabel ist orientalischen Ursprungs; das Paficatantra, in Indien verfasst, hat durch persische und semitische Uebersetzungcn hindurch seinen Weg iiber die Welt genommen und giebt einen betrachtlichen Bruchteil der Fabellitteratur einer jeden europaischen Sprache ab. Und wie im 13. Jahrhundert die buntphantastische Poesie des Morgenlandes sich in deutschen Spielmannsepen ausserte, so auch noch in neuer Zeit im Goetheschen »West-6stlichen Divan«, in Platenschen Ghaselen, im Riickertschen »Weis- heit des Brahmanen«. Und immer grossere Verbreitung gewinnt eben in unserer Zeit der durch Helene Blavatzky nach Europa importierte sogenannte »esoterische Buddhis- mus«. Ueberhaupt ist es vor allem die orientalische Philo- sophie gewesen, die sich wieder und immer wieder in der Philosophic des Abendlandes zur Geltung brachte. Gewiss, die griechische Philosophic ist in ihren Grundziigen durch- aus autochthon. Die Griechen sind das einzige Volk des Altertums, das einen offenen Sinn fur interesselose, rein wissenschaftliche Welterklarung hatte, den besonnenen, niich- ternen, klaren Sinn, der Bedingnis jeder wahren Philosophic ist. Ihnen war schon der phantastische Hang zum Rein- unsinnlichen verloren gegangen, der die Orientalen auszeichnet und weniger der Philosophic als der Religionstiftung giinstig ist. Dennoch aber hat sich die griechische Philosophic nicht |
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ganz dem morgenlandischen Einfluss zu entziehen vcrmocht.
Pythagoras und Platon haben in Aegypten geweilt, jenem Land, das als der Kanal zu betrachten ist, durch den be- standig asiatische Weisheit nach Europa stromte. Demokrit aus Abdera hat den Orient bereist, desgleichen Anaxagoras. Ueberall da, wo in der griechischen Philosophic die Mystik ihre geheimnisvollen Orakelspriiche raunt, ob im Kreise der Orphiker oder unter den weissgekleideten Pythagorasjiingern Siiditaliens, da ist asiatischer Einfluss anzunehmen; asiatischer Einfluss ist anzunehmen vor allem da, wo mit einer pessi- mistischen Weltauffassung die Askese Hand in Hand geht. Das Dogma der Metempsychose, das uns bei so vielen griechischen Philosophen entgegentritt, ist sicher gleichfalls orientalischen Ursprungs. Wir finden es bei Empedocles, bei Pythagoras, bei Platon.1) In exakter Wissenschaft frei- lich hat der griechische Geist seinen Weg ziemlich unbeirrt von fremden Einfllissen gehen diirfen, mit alleiniger Aus- nahme der mathematisch-astronomischen. Wie gross auch die Macht ist, die z. B. Schopenhauer der »alten Urreligion« der Indcr auf die Entwicklung europaischen Geistes zuschreibt, so nimmt cr doch die Logik als ein ureigenes Erzeugnis griechischen Denkens. Die Angabe persischer Schriftsteller, Kallisthenes habe bei den Indern eine fertige Logik vor- gefunden und sie seinem Oheim Aristoteles iibersandt, halt er fur unbegriindet.2) Ist doch auch die Logik eben jenes philosophische Gebiet, auf dem die Spekulation der kritischen Verstandesoperation ganz das Feld raumen muss. — — Fernerhin ist dann wohl auch auf die Concipierung der Logosidee im Neuplatonismus und, diesem folgend, im Christentum der Gedanke des indischen Brahman nicht ohne Einfluss gewesen.8) Die Frage, inwieweit das Christentum uberhaupt als eine Modifikation des Buddhismus aufzufassen sei, hielt schon 1853 der beriihmte Sanskritgelehrte Albfecht Weber einer Untersuchung fiir wert.4) |
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1) Ueber den Einfluss, den umgckehrt Europa auf Asien ausgeiibt, cf. den Aufsatz
von A. Weber: Die griechischen Nachrichten von dem Indischen Hom^r, nebst Aphorismen iib;r den griechischen und christlichen Einfluss auf Indien, Indischc Studim, Bd. II, 161. 2) W. a. W. und V. I 57. 3) Indischc Studien, ed. Weber, I'd. IX, 4/3. 4) Ind. Stud. II, 168 I*
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Es ist hier nicht unsere Aufgabe, zu untersuchen, wo
unci wie tief der Baum orientalischer Philosophic seine Ab- senker in die griechische getrieben habe; fur uns geniigt es, hier besonders auf zwei Erscheinungen hinzuweisen, die selbst in abendlandischer Gewandung ihr orientalisches Geprage nicht verleugnen konnen, auf Mysticismus und Asketismus, die eben dem griechischen Nationalcharakter durchaus wider- streiten.1) Das Christentum ist, selbst wenn auch nicht direkter
Buddhismus, mit seinen haretischen Nebenzweigen ein ur- spriinglich orientalisches Erzeugnis.2) Und eben aus dieser seiner Abstammung entspringt nach Schopenhauer die welt- uberwindende Kraft des christlichen Gedankens. Mysticis- mus, das heisst in diesem Falle die Lehre von der Ursiinde durch Adam und von der Erlosung durch den Christus, beides der gesamten Menschheit, sowie Asketismus den Schopenhauer mit Recht namentlich in der Erscheinung des Urchristentums betont,3) das sind nach ihm die unwider- stehlichen Waffen, mit denen das Christentum sich die Stelle einer Weltreligion errungen hat, um sich so auch durch seine Verbreitungssphare als Nahverwandte des Buddhismus dem Auge darzustellen. Mystik, Pessimismus und Asketik, schon iiber 500 Jahre vor der Geburt des Christus in Indien aus- gebildet, flossen von dort als belebendes Blut in die Adern des neuen Organismus, um ihm eine ahnliche Gestalt zu geben, wie sie die indischen Religionen haben, eine Gestalt, die erst durch Verbindung mit dem weltfreudigen Judentum und dann durch die Reformation eine Aenderung in opti- mistischem Sinne erfuhr. Von diesem Gesichtspunkt aus betrachtet mag der Katholicismus mit seinem Fasten, dem Colibat und ahnlichen asketischen Institutionen mehr dem |
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1) cf. von Eckstein: Ueber die Grundlagen der indischen Philosophic und dercn
Zusammenhang mit den Philosophemen der westlichen Volker, in Ind. Stud. II, 369. 2) Ver- gleiche hierzu die Ansichten Schopenhauers in »WeIt als Wille und Vorstellungv II. p. 692 ft". Ethik, p. 241 u. 6. — Das Christentum hat nach ihm >>indisches Blut im Leibe<<. Vierfachs Wurzel des Satzes vom zureichcnden Grunde, p. 128. Wir citieren hier und im folgenden stets nach der Frauenstadtschen Ausgabe; »Arthur Schopenhauers samtliche Werke. Her- ausgegeben von Julius FraucnstSdt. 2. Auflage. Leipzig: Brockhaus 1891.« 3) W, a. W. u. V I, p. 85. W. a. W. u. V II, p. 188. ib. p. 671. ib. p. 708, ff. Parerga II, p. 332. ib. § 164 u. 5. |
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Ideal des Christentums entsprechen als der Protestantismus.
Dass aber wirklich der asketisch-pessimistische Zug dem Bilde des Urchristentums ureigen ist, bedarf hier keiner lan- geren Ausfuhrung. Dem Christentum ist die Welt ein Jammerthal, Welt und Uebel sind Synonima, und die ortho- doxen Kirchenvater stimmen mit den Haretikern in Anprei- sung der Askese uberein; namentlich in Verdammung der Ehe sind Justin, Origines, Tertullian und Augustin einig mit Enkratiten, Montanisten, Manichaern und Valesiern. Die genannten ketzerischen Sekten gingen in der Weltflucht und Fleischestotung freilich noch weiter als das orthodox-katho- lische Christentum, weil sie meistens in einen, wenn auch nicht stets ausgesprochenen Gegensatz zum Judentum traten, durch das allererst ein optimistisches Element in das Christen- tum getragen wurde, nicht zum Vorteil des Christentums selbst, indem die Verbindung von Altem und Neuem Testa- ment nur eine gewaltsame sein konnte. In der Mystik, jener wundersamen Erscheinung des mittel-
alterlichen Christentums, regte sich aufs neue der altorienta- lische, resp. indische Geist. Namentlich ist es die Lehre von der Vergottung, nach Joh. Tauler, von dem Aufgehen aller Kreatur in Gott, von dem Sich-eins-wissen mit dem All-Einen, von der unio mystica, die den Mittelpunkt dieses mystischen Christentums bildet. Meister Ekhart, Tauler, Heinrich Suso, der Frankforter erkennen wiederum die hei- lige Wahrheit, die die Brahmanen vor einem Jahrtausend in den Worten ausdriickten: »tat tvam asi.« Ueberhaupt, wo in philosophischen Systemen des Mittel-
alters und der Neuzeit Mysticismus und Askese in Aktivitat treten, regen sich gewissermassen indische Grundgedanken. Damit behaupten wir natiirlich nicht ein unmittelbares Be- einflusstwerden der jedesmaligen Philosophic durch ein be- stimmtes indisches System, sondern nur eine Aeusserung einer tiefst zu Grunde liegenden Wahlverwandtschaft. Wie dieselbe zu Tage tritt, wollen wir in dieser Arbeit im Be- sonderen in der Philosophic Schopenhauers aufzeigen. Die Schopenhauersche Philosophic die von Anfang an den Stempel indischen Geistes auf der Stirne tragt, .war nicht direkt von |
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jenem beeinflusst. Besonders die pessimistische Weltanschau-
ung hatte sich schon friihe in Schopenhauer festgesezt, war ihm zum unfehlbaren Dogma geworden. Desgleichen die idealistische Weltanschauung. Erst spater, als er sich mit den Friichten indischer Spekulation bekannt machte, stellte er eine unmittelbare Verbindung zwischen indischem und eige- nem Denken her. In seine Philosophic sind so, teils bewusst, teils unbe-
vvusst, die Grundgedanken indischer Spekulation verwoben worden — dieselben herauszuheben, ist die Aufgabe dieser Arbeit. § 2. Quellen der Schopenhauersehen Philosophie.
Platon, Kant und die Veden — diese drei nennt Schopen-
hauer seine Lehrer. Er bekennt, dass er das Beste seiner eigenen Entwickelung einmal dem Eindruck der anschaulichen Welt verdankt, dann aber auch dem Eindruck, den eiiriges Studium Kants, der heiligen Schriften der Hindu und dcs Platon hinterlassen hat.1) Seine eigene Philosophie hat so sehr die des »erstaunlichen« Kant zur Voraussetzung, dass sie ohne genaue Kenntniss derselben gar nicht verstanden werden kann, und hat iiberdies noch der Leser Schopen- hauers in der Schule des gottlichen Platon geweilt, so wird er um so besser vorbereitet und empfanglicher sein, den Philosophen zu horen.2) In Uebereinstimmung mit Kant fiihlt sich Schopenhauer vor allem in seiner Lehre von der totalen Diversitat des Realen und Idealen, von dem Ding- an-sich, von den aprioristischen Verstandesformen, von dem Gegensatz zwischen intelligibeln und empirischen Charakter, von dem Zusammenbestehen von Freiheit und Notwendig- keit. Nicht ebenso ist ihm zu Bewusstsein gekommen seine Uebereinstimmung mit Kant, so weit sich diese erstreckt auf die Lehre vom asthetischen Wohlgefallen, als in rein kon- templativer, willensfreier (Kant sagt: interesseloser) Anschau- ung beruhend.3) Von Platon hat er namentlich seine Ideeen- Jehre entlehnt. Und was von der indischen Philosophie? 1) Kritik der Kantischen Philosophic. W. a. W. u. V. I. 493. 2) Vorredc zur 1. Aufl.
der W. a. W. u. V. I. fid, XII. 3) W. a. W. u. V. II. p. 425. |
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Das eben soil im folgenden dargestellt werden. Jedenfalls
nennt cr sic an unzahligen Stellen, bald in Gestalt des Brah- manismus, bald in der des Buddhismus; er citiert ihre Aus- spriiche und Lehren und beruft sich auf sie zur Stiitze eige- nen Philosophierens. In seinem fur die akademische Vor- lesung bestimmten Manuskript: »Einleitung in die Philosophic, iiber das Studium der Philosophie« finden wir folgende Stelle: » — die Resultate dessen, was ich Ihnen vorzutragen gedenke, stimmen uberein mit der altesten aller Weltansichten, natn- lich den Veda's.*1) Er freut sich, seine Lehre in »so grosser Uebcrcinstimmung mit einer Religion zu sehen, welche die Majoritatauf Erdenfur sich hat.«2) Gemeint ist der Buddhismus, oder, wie Schopenhauer sagt, der Buddhaismus. Aus dem Be- wusstsein dieser Uebereinstimmung erklart sich audi die grosse Achtung, mit der er durchweg von der indischen Philosophic spricht. Wie die Inder fur ihn »das edelste und alteste« Volk sind,3) so ist das, was ihren Glauben ausmacht, eben »die Ur- weisheit des Menschengeschlechtes,« die »alten, wahren, tiefen Ur-Religionen.«4) Die Veden sind die »Frucht der hochsten menschlichenErkenntnisundWeisheit«,5) «fastiibermenschliche Conceptionen«,6) deren Urheber kaum als blosse Menschen denkbar sind.7) Dass diese Weisheit jetzt allmahlich in Europa bekanntwird, ist»das grosste Geschenk unseresjahrhunderts.« Diese Weisheit, die nicht von den Begebenheiten in Galilaa verdningt werden wird, stromt nun nach Europa und wird eine Grundveranderung in unserem Wissen und Denken hervor- bringen.8) Der indische Pantheismus wird zum Volksglauben audi im Occident werden;9) das Jahrhundert ist vielleicht jetzt schon herangeruckt, »in welchem die aus Asien stam- menden Volker Japhetischen Sprachstammes auch die hei- ligen Rcligionen der Heimat wieder erhalten werden.1") Jedenfalls wird die erfreuliche Pflege indischen Studiums, der Einfluss der Sanskrit-Littcratur nicht weniger tief in alle Gebiete geistigen Lebens eingreifen, »als im 15. Jahrhundert |
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1) Schopenhaucrs handschr. Nachlass, cii. Griscbach, Rcclam, Bd. IT, p. 3u
2) W. a. W. u. V. II, p. 186. 3) W. a. W. u. V. 1 421. 4) ib. Vierf. Wurzel p. 98. 5) W.
a. W. u. V. I 419. 6) W. a. W. u. V. II 178. 7) ib. 543. 8) W. a. W. u. V. I 420, 421
9) Parerga I p. 59. 10) Parerga II p. 242. |
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die Wiederbelebung der Griechischen.«*)-------Wir brauchen
diese Zeugnisse nicht zu vermehren, was iibrigens ein Leichtes
ware. Sie zeigen zur Geniige, mit welcher Ehrfurcht Schopen- hauer auf die Erzeugnisse indischen Tiefsinns blickte. Und so stand denn auch seit Beginn 1856 eine echte, tibetanische Buddhastatue auf einer Konsole in derEcke seines Zimmers;2) auf dem Tisch lag aufgeschlagen das Oupnek'hat, und vor dem Schlafengehen verrichtete er darin seine »Andacht.«3) Von der Lektiire dieses Buches sagt er: »Sie ist der Trost meines Lebens gewesen und wird der meines Sterbens sein.«4) Seinen weissen Pudel nannte er »Atman,« wodurch er, der vedintistischen Lehrc folgend, das innere Wesen in Mensch und Tier als das gleiche anerkennen wollte. — -— Die Uebereinstimmung zwischen Schopenhauer und der
indischen Philosophic, von der wir reden wollen, diese merk- wiirdige innere Verwandtschaft konnte nicht verborgen blei- ben, und Schopenhauers Jiinger studierten den Buddhismus, um den Meister besser zu verstehen. So bcrichtet dieser selbst von dem Jiinger, «den er lieb hatte«, von Adam von Doss.5) Nie auch ist es Schopenhauer eingefallen, jene tief- greifende Uebereinstimmung leugnen zu wollen.6) Das geht mit Deutlichkeit aus der oben citierten Stelle des Vorlesungs- manuskriptes hervor. Als um 1855 Karl Grauls (1814—1864) »Bibliotheca tamulica« drei tamulische Schriften zur Erliiu- terung des Vedanta brachte, las sie Schopenhauer »mit grosser Freude und wahrer Erbauung«, weil er darin seine eigene Lehre »wie in einem Spiegel« erblickte.7) Dennoch aber will er sich seine Selbstandigkeit in der Ausbildung des Systems sichern. Dass er auf demselben Wege nach demselben Ziele gelangt ist, will er nicht auf bewusste Ab- hangigkeit von der indischen Spekulation zuriickgefiihrt haben. Er behauptet, bei seinem Philosophiercn nicht unter buddhisti- schem Einfluss gestanden zu haben.8) Ebenso schreibt er 1; Vorrede zur 1. Aufl. der W. a. W. u. V. XII. Eben demselben Gedanken giebt
iibrigens auch Fr. von Schlegel AusdrucV in seiner Vorrede zu der Abhandlung: Ueber die Sprache und Weisheit der Indier. (Vermischte kritische Schriften. Bonn 1877) p. 276. 2) W. Gwinner: Schopenhauers Leben. 2. Aufl. Leipzig 1878. p. 547. 3) ib. 548. 4) Parcrga II, p. 427. 5) W. Gwinner. a. a. O. 521. 6) Andere Vorganger pflegte er bekannt- lich nicht eben freundlich zu begrussen: »pereant, qui ante nos nostra dixerunt.*' 7) Gwinner a. a. O. 582. 8) W. a. W. u. V. II. p. 186. |
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an Adam von Doss: »Ueberhaupt ist die Uebereinstimmung
mit meiner Lehre wundervoll, zumal ich 1814—1818 den ersten Band schrieb, und von dem Allen nichts wusste, noch -\vissen konnte.K1) «Nichts wusste, noch wissen konnte.« Das ist nicht
ganz richtig. In Dresden wurde, in der Zeit von 1814—1818, der erste Band des Hauptwerkes geschrieben, dessen Grund- ziige aber vor 1814 im Geiste Schopenhauers festlagen. Schon 1813 fuhlte er in Berlin unter seinen Handen oder in seinem Geist ein Werk erwachsen, »eine Philosophic, die Ethik und Methaphysik in Einem sein soll.«2) In der Zeit nun von November 1813 bis Mai 1814 hatte ihn der Orien- talist Fr. Maier in das Studium des indischen Altertums ein- gefuhrt,') und in Dresden studierte er auch den Oupnek'hat,4) jene Ueberseztung der heiligen Biicher der Inder ins Per- sische (vom Jahre 1640), in's Lateinische iibertragen 1806 - durch Anquetil du Perron. So konnte Schopenhauer, als er den ersten Band der »Welt als Wille und Vorstellung« ver- fasste, doch ganz wohl vertraut sein mit den indischen Gedanken- kreisen. Ganz unbekannt waren sie ihm auf alle Falle nicht.5) Billig miissen wir demnach Schopenhauers Versicherung, seine gesamte Philosophic unabhangig von indischen Ein- fliissen koncipiert und ausgefiihrt zu haben, bezweifeln, ohne darum jedoch seine Wahrheitsliebe verdachtigen zu wollen. Schopenhauer hatte sich fruh zu eigen gemacht, was das Dhammapada, ein buddhistischer Text, sagt: »Alle Gabe besiegt der Wahrheit Gabe; alle Siisse besiegt der Wahrheit Siisse; alle Freude besiegt die Freude an der Wahrheit.«6) »Die Wahrheit wirkt feme und lebt lange: sagen wir die Wahrheit«, schrieb er August 1818. ^ Demnach nehmen wir an, dass ihm selbst unbewusst in der steten Verschlingung von selbsteigenem Denken und Vertiefen in die Weisheit I) Schcmann: Schopcnhaucr-Briefe, p. 290. 2) FrauenstSdts Einleitung zu »A. Schopen-
hauers samtliche Werke. Leipzig 1891,* p. 158. Gwinner a. a. O. 124. Frauenstadt: Memo- rabilien 244. 3) Kuno Fischer, Gcschichte der neueren Philosophic. Bd. XIII, p. 38. 4) ib 48- 5) W. a. W. u. V. II. 583. Anmerkung (am Schluss). Vergl. auch W. a. W. u. V. I. p. 459. Anm., wo die Werke angefiihrt sind, die, die indische Philosophic betreffend, unserm Philo- sophen bei der Herausgabe der ersten Aufl. der W. a. W. u. V. bekannt waren. Darunter, an erster Stellc: xOupnek'hat. studio Anquetil du Perron.« 6) H. Oldenburg: Buddha. Berlin 1890, p. 254. 7) Vorrede zur 1. Aufl. der W. a. W. u. V. I. XV. |
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des Orients seine Gedanken eine Richtung annahmen, die
nach dcm innersten Bewusstsein zwar Ausdruck eigener Sinnesart war, im Grunde aber stark durch sein Studium bestimmt wurde.1) Im iibrigen hat fur uns, die wir uns hier mit der That-
sache einer Uebereinstimmung beschaftigen wollen, die Frage nur untergeordnetes Interesse, in wie weit diese Ueberein- stimmung auf direkte Aneignung und bewusste Anlehnung zuriickzufuhren sei. Mehr kann uns interessieren, welcher Art das Einverstandnis zwischen dem abendlandischen und den morgenlandischen Philosophcn in den Augen des erste- ren selbst ist. Da meint er denn nun, »dass jeder von den einzelnen und abgerissenen Auspruchen, vvelche die Upani- schaden ausmachen, sich als Folgesatz aus dem von ihm mit- geteilten Gedanken ableiten liesse, obgleich keineswegs auch umgekehrt dieser schon dort zu finden sei.«2) An der oben erwahnten Stelle des aus dem Nachlass verdffentlichten Manuskriptes, den Text seiner Vorlesungen enthaltend, heisst es weiter: »Doch ist dies nicht so zu verstehn, als ob, was ich lehre, dort schon stehe. Die Veda's, oder vielmehr die Upanischaden — — haben keine wissenschaftliche Form, keine nur irgend systematische Darstellung, gar keine Fort- schreitung, keine Entwicklung, keine rechte Einheit. — — Hat man jedoch die Lehre, welche ich vorzubringen habe, inne; so kann man nachher alle jene uralten Indischen Aus- spriiche als Folgesatze daraus ableiten und ihre Wahrheit nun erkennen; so dass man annehmen muss, dass was ich als Wahrheit erkenne, schon auch von jenen Weisen der Urzeit der Erde erkannt und nach ihrer Art ausgesprochen, aber doch nicht in seiner Einheit ihnen deutlich geworden war; |
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1J VergL auch, was Schopenhauer in der von Frauenstadt in seiner Einleitung zu
der 2. Aufl. der samtlichen Werke (1891) I, p. 154 mitgeteilten Stelle aus einem Dresdener Manuskript vom Jahre 1816sagt: >>Ich gestehe,dass ich nicht glaube, dass metne Lehreje hatte entstehen ktjnncn, ehe die Upanischaden, Plato und Kant ihre Strahlcn zugleich in eines Mcn- schen Geist werfen konnten.fc Aehnlich wie wir urteilt I. B. Meyer in »Arthur Schopenhauer als Mcnsch und Denlter* (Saramlung gemeinverstandlicher wisscnschaftlicher Vortriige, acraus- gegcben von Virchow und von Holtzendorff, Heft 145), p. 22; dass neben dcm Systemc Schopenhaucrs es wenig anderc geben wird, »die aus so mannigfaltigen und verschiedenar- tigen Anregungen doch mit eigener Triebkraft zusammengewachsen sind,*: 2) Vorrede zur ersten Aufiage der W. a. W. u. V. I. p. XIII. |
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so dass sie ihre Erkenntnis nur in solchen abgerissenen Aus-
spriichen, welche das Bewusstsein ihrer hellsten Augenblicke ihnen eingab, nicht aber im Ganzen und im Zusammenhang an den Tag lcgen konnten.1)* Im Grossen ist der Unterschied zwischen eigener Philo-
sophic und der des indischen Altertums von Schopenhauer klar und richtig gekcnnzeichnet: er beruht auf der systemati- schen Durchbildung des Stoffes, auf der logischen Beweis- methode. Die Jiinger sind, wie schon erwahnt, dem Meister auch in seiner Begeisterung fur die indische Philosophic ge- folgt. Man darf behaupten, dass die Teilnahme an der Spekulation der Gangesphilosophen in Deutschland nicht so weite Kreise ergriffen hatte, wenn nicht von Schopenhauer und seiner Schule ihr der Boden bereitet worden ware. Namentlich der Buddhismus ist fiir die Schopenhauerianer ein Objekt des liebevollsten Betrachtens und ungeheuchclter Be- wunderung gewesen, am meisten wohl fiir den Mann, auf dem der Geist des Meisters so treu wie auf keinem anderen geruht hat, fiir Philipp Mainlander. Mainlander bedeutet in gewissem Betracht fiir Schopenhauer dasselbe, was Aristoteles fiir Platon. Wenn Schopenhauer sich gleich dem Weisen der Akademie in die Ho hen reiner Mystik erhebt, so kehrt Mainlander wie der Stagirite auf den Boden strengster Imma- nenz zuriick; er und Aristoteles verwerfen den Gedanken einer transscendenten Existenz von Ideeen als Gattungsbegriffen, wie sie einen solchen bei ihren Lehrern vorgefunden haben, und verlegen alle Realitat in das Individuum. Sie sind beide Realisten, die den Kosmos, den ihre Meister, vom Zauber- mantel der Spekulation getragen, in kiihnem Fluge durch- messen, nur so weit erforschen wollen, als sie unter ihren Ftissen den sicheren Boden rein empirischen Wissens fiihlen. Die Immanenz, die Schopenhauer fiir seine Philosophic in Anspruch nahm, ist erst in der »Philosophie der Erlosung« seines Schiilers Mainlander der Verwirklichung nahe ge- 1) Nachlass a. a. O. p. 30. Vergl. auch die vou Gwinncr a. a. O. p. 431 mitgcteilte
Aeusscrung: »Buddha, Eckhart und ich lehren im wesentlichcn dasselbe: Eckhart in den Fesseln seiner christlichen Mythologie; im Ruddhismus liegen diesclben Gedanken unver- kiimmert dutch solchc Mythologie, daher einfach und klar, so wcit cine Religion klar sein kann; bei mir erst ist voile Klarheit.* |
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bracht worden. Die grosse Verehrung, die Mainlander sei-
nem Meister zollt, kann sein redliches Streben nach ganzer Wahrheit nicht in falsche Bahnen lenken; er darf mit Aristoteles sagen: Amicus Plato, magis amica Veritas. Das eben macht seine »Philosophie der Erlosung« und nament- lich die darin enthaltene unbefangene Kritik der Schopen- hauerschen Doktrin so ausnehmend interessant, dass sie uns die Kraft eines mannlich-klaren Geistes zeigt, der sich den verlockenden Reizen eines Mysticismus zu entziehen weiss, denen der Meister unterlegen war. Hier ist der Zauber- lehrling starker als der Lehrer gewesen. Unbedenklich aber glaubt Mainlander sein Haupt vor der »blauen Wunderblume iles Orients«, wie er sagt, vor dem Tiefsinn des Buddhis- mus beugen zu diirfen. Die Ausdriicke, mit denen er diesen i tihmt und verehrt, stehen den Lobpreisungen Schopenhauers, vie wir sie eben kennen gelernt, an Ueberschwanglichkeit
nicht nach. Nur ein Beispiel, ein besonders charakteristisches, sei angefuhrt. Er sagt: »Es ist — iiber alien Zweifel er- haben, dass Schriften des Buddhaismus — — auf gleicher Hohe mit dem Neuen Testament, der »Kritik der reinen Vernunft« und der »Welt als Wille und Vorstellung« stehen, und sonst von keinem anderen Werke des menschlichen Geistes erreicht werden; weshalb es weit besser ist, englisch ?u lernen, um in den Buddhaismus eindringen zu konnen, ils griechisch im Hinblick auf die griechische Philosophic
allein, oder lateinisch lediglich im Hinblick auf den Oupnek'hat oder auf Spinoza's Werke.«') Aber indem Mainlander sol- eher Gestalt gleich Schopenhauer den Buddhismus als die hochste Bliite denkender Vernunft preist, verfallt er in den- selben Fehler, in den sich audi Schopenhauer verstrickte: er vermag die Lehre des indischen Weisen nicht mehr als historisch gewordenes Faktum zu erfassen, er trennt eigen- machtig einen imaginaren Kern aus einer Schale, die doch zu gleicher Zeit erwachsen sein muss, und entwickelt den Buddhismus von einem Grundgedanken aus, der in Buddhas Geist nicht das treibende Agens war. Wie Mainlander |
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1) Philosophic der Er! isung. Bd. II (2. Aufl.) p. 74.
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esoterisches und exoterisches Christentum unterscheidet,1)
so auch esoterischen und exoterischen Buddhismus, und er nennt in beiden Fallen esoterisch das, was seiner Philosophic konform ist. Indes hat es ebenso wenig einen esoterischen Buddhismus als cin esoterisches Christentum gegeben; Christentum und Buddhismus siiui im letzten Keime reine Beth;itigungen des praktischen Erlosungsdranges und wenden sich darum mit ihrem einfachen, alien fasslichen Grund- gedanken an das sinnlich-naive Verstandnis der gesamten Menschheit. Hat somit Mainkinder zur Beurteilung des. Buddhismus einen kritisch nicht zu rechtfertigenden Stand- punkt eingenommen, so ist darum doch die spekulative Kraft zu bewundern, mit der, von diescm eigenmachtig angenom- menen Standpunkt aus, er das ganze System durchdringt; es ist sein Licht zwar ein gefarbtes, aber es beleuchtet das ganze Lehrgcbaude. — Mainkinder ist Individualist; vvie er die Subjektivitat seines Ichs in freier, selbstbewusster Selb- standigkeit dem Meister gegeniiber zu wahren wusste, so hat. er seiner Individuality den Buddhismus angepasst und so dem Beobachter willkommene Gelegenheit geboten zu sehen, wie der Strahl fremder Gedanken durch das Prisma eines starken, selbstandigen Geistes zu einer bunten Farbenharmonie gebrochen wird, die man in der urspriinglich weissen Einheit des Strahles nicht gesucht hiitte. § 3. Brahmanismus und Buddhismus.
Trotz der reichhaltigen Litteratur, die Schopenhauer als
ihm bekannt spjiter, in seinen letzten Lebensjahren, anfuhren konnte — er nennt nicht weniger als 26 Werke und Aufsatze, in deutscher, lateinischer, franzosischer, englischer Sprache, und 7Avar nur solche, die er empfehlen zu konnen glaubt und die sich nur auf den Buddhismus beziehen2) — konnte seine Kenntnis der indischen Philosophic noch nicht die urn- fassende, griindliche sein, die wir dank den fortgeschritteflen Studien durch Lektiire einer viel geringeren Anzahl Werke |
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l) Phil, der Erlosung. II, p. 191 ff. 2) Wilier, in der Natur, im Kapitel Sinologie,
p. 130 Anm. |
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erlangen konnen.1) Hatte doch noch Isaak Jakob Schmidt,
den Schopenhauer »entschieden fur den grundlichsten Kenner des Buddhaismus in Europa« hielt,2) den Buddhismus vor dem Brahmanismus angesetzt, so die Sache grade umkehrend.8) Er hatte den Buddhismus um wenigstens 500 Jahre zu friih daticrt, indem er seine Entstehung um das Jahr 1000 a. Chr. n. verlegt.4) Schopenhauer lernte den Buddhismus in seiner entarteten Gestalt allein kennen, den Buddhismus, wie er in Nepal, Tibet, China herrscht, wie er denn als Biographic Buddhas auch nur den Lalita vistara zu kennen scheint, der viel Legenden erzahlt, aber wenig Geschichtliches enthalt,6) eben die bei den nordlichen Buddhisten verbreitete Lebens- beschrcibung des »Siegreich-Vollendeten.« Zu einer rein- lichen Schcidung zwischen Brahmanismus und Buddhismus ist Schopenhauer nicht durchgedrungen, wodurch natiirlich die Untersuchung, was dem 'einen, was dem andern angehort, erschwcrt wird. Oft ist seine Auffassung ein Gemisch aus beiden Richtungen indischer Philosophic, und wir sind daher genotigt, auch beide in den Kreis unserer Betrachtung zu ziehen. Zudem enthalt der Buddhismus so mancherlei, das im Brahmanismus seine Wurzel hat, dass ein richtiges Ver- standnis des betreffenden ohne Riickgang auf die brahmani- schen Lehren nicht wohl zu erreichen ist. Von je her scheint das indische Volk einen unbeziihm-
baren Hang zu alles iiberfliegcnder Spekulation gehabt zu haben; es ist, als ob seine Heimatjnicht die feste Erde, sondern der blaue Aether gcwesen sei. Als unubersteigbare Mauer tiirmt sich der Himalaya auf, die Schneegipfel tiber die hochsten Wolken erhebcnd. Er schliesst das Volk der Halbinsel von jedem Verkehr mit anderen Volkern ab, er macht den lebendigen Austausch von Waren und Gedanken unmoglich. Er ist ein Bollwerk gegen feindliche Einfalle 1) Wir beziehen uns im folgenden [vorn^hmlich a if Paul Deussen: Das System
des Vedanta. Leipzig, Hrockhaus 1883. Hermann Oldenberg: Buddha, sein Lebm, seine Lehre, seine Gemcinde. 2. Aufl, Berlin bei W. Hertz 1S90. 2) Vierf. Wurzel, p. 126, 3) I. J. Schmidt- Forschungen im Gebiete der altercn religtosen, politischen und litterari- %chen Bildungsgeschichte der Volker Mittelasiens, St. Peteisburg 1824. p. 186 fT. p. 251 A) I. J. Schmidt, a. a. O. p. 177. Als Kuriosum sci ubrigers crwahnt die Anmcrkung zu pag. 24: >massn bedeutct im Mongolischcn jede schneidcnde WaTe; wem fallt dahei nicht das deutsche Messer cia?!<- 5) Oldenberg: Buddha, p. 74 ff. |
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und beraubt das indische Volk so der Moglichkeit, in frisclier
Mannerschlacht an iiberlegenem Gegner die Kraft zu erproben, den Arm zu stahlen. Das indische Volk wird auf sich selbst verwiesen; denn auch der Kampf um den taglichen Unter- halt fallt weg bei einem Klima, das Friichte und Reis in Uebermass zeitigt. So richtet sich das ganze Interesse, das gesunde Volker dem Staat und der sozialen Arbeit entgegen- bringen, bei dem Inder auf die Probleme der Meditation, der Religion. Was immer ein Volk, einen Staat wach erhalt, das fehlt unter dem Himmel Indiens — der Mensch ver- sinkt in Traume. In ungemessene Traume, in masslos phan- tastische Gedankenspiele, in eine Philosophic, die den un- hemmbaren Flug durch alle Welten unternimmt. Exotisch, wie das ganze Leben ist auch die indische Philosophic Da weht kein kiihler, erquickender Hauch; eine dumpfe, bleierne Schwere und Schwiile lastet, wie auf den Korpern, so auch auf den Gedanken. Die iiberqucllende Vegetation ist ein Bild der fruchtbaren, unerschopflichen indischen Ge- dankenwelt. Mit den Lianen um die Wette, die von Baum zu Baum ihre unentwirrbaren Ketten schlingen, ranken sich die Phantasieen ins Masslose fort. Der Acvattha-Baum senkt seine Zweige zu Boden herab, wo sic zu neuen Wurzeln werden: das,Symbol der Seelenwanderung. Und wenn in trostloser Eintonigkeit zur Regenzeit die schweren Wolken ihren Inhalt auf die Erde schiitten, Monate hindurch ohne Aufhoren, da mag wohl der Geist einem lahmenden Quie- tismus zur Beute fallen. Alles ist iibertrieben, kolossal, tropisch. Die indische Philosophic ist wie die indische Kunst, die mit zaher Geduld riesenhafte Monstren aus dem Felsen meisselt. In den vier, dreifach nach Samhita, Brahmanam und
Sutram gegliederten Veden hat die indische Spekulation ihren fruhesten Ausdruck gefunden. Die Rigveda-Samhita ist wohl die alteste litterarische Urkunde des Menschen- geschlcchtes. Sie enthalt eine daseinfrohe Naturmythologie. Kraftiger regt dann die Spekulation ihre Schwingen in den Brahmana's, den daran angefiigten Aranyaka's') und den auf 1) Waldbiicher.
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diesen beruhenden Upanishaden.1) Diese konstituieren die
umfangreiche Gedankenwelt, die wir Brahmanismus nennen, und die sich enge an den Veda2) anschliesst. Daneben stehen dann eine Reihe philosophischer Systeme, die sich entweder vom Veda emancipiert haben und demgemass als ketzerisch gelten, oder aber als orthodoxe Systeme auf die Upanishaden basiert sind. Es sind ihrer sechs, die sich auf den Veda grunden. Das orthodoxeste von diesen ist das, Ve- danta3) genannte, System des Badarayana (Zeitalter unbekannt), niedergelegt in den sog. Brahma-Sutra's,4) zu denen Cankara (um 700 oder 800 n. Chr.) einen ausfiihrlichen Kommentar geschrieben hat. Uerselbe enthalt die Dogmatik des Brah- manismus. Er allein wird in unserer Arbeit beriicksichtigt werden. Von den heterodoxen Systemen wahlen wir natiirlich den
Buddhismus. Der Buddhismus hat sich vom Veda losgelost.5) Sein Stifter, ein vornehmer Mann aus dem adligen Geschlecht der Sakya, Siddattha mit Namen, wurde um die Mitte des, 6. Jahrhunderts v. Chr. geboren, in Kapilavatthu, und starb nich lange vor oder nach dem Jahre 480 vor Chr.6) Dass der Vedanta und der Buddhismus neben vielen
gemeinsamen Ziigen ebensoviele Gegensiitze enthalten, ist a priori einxusehen. Es wird das im Verlauf unserer Unter- suchung hervortreten. Vorgreifend sei hier iiber diese Gegen- satze eine allgemeine Andeutung gemacht. Der Haupt- unterschicd zwischen beiden liegt natiirlich darin, dass der Vedanta als Dogmatik des Brahmanismus sich enge an den Veda, resp. die Upanishaden anschliesst,7) wahrend der Buddhismus tils harctisches Religionssystem seine eigenen. 1) upanishad = ->geheime Sitzung, Geheimlehre.<< 2) *Das (theologischc) Wissen<<;
stammverwandt mit videre. Rjgveda = das Wisscn der »T.icdcr*, Samaveda — das Wissen der »Gesange«. Yajurveda = das Wissen der *Opfcrspriiche«, Atharvaveda -- das Wis.sen des Atbmrvan, 3) »Ende des Veda«, 4) sutram --- faden, Lcitfadcn, verwandt mit lat suere, nahen, 5) Deussen: Das System des Vedanta, p. 20, 22, Oldenocrg: Buddha p. 185,4 6) Oldenberg, a, a, O, Erstcr .Abschnitr. Buddha's Lebcn p. 74 ff. Wir geben die buddhisti- schen Termini und Namen nach Oldenberg im Pali, in welcher Sprachc die den altcren Buddhismus allein treu bewahrenden ceyloncsischen Texte abgefasst sind, 1) Der Nama Vedanta = »Ende des Veda* kommt urspriinglich din Upanishaden zu, wcil diese an die Veden angehangt w^aren. Das von uns betrachtetc philosophischt System des Badarayana. wird cben deshalb Vedanta genannt, wcil cs auf den Upanishaden beruht, den Inhalt der^ elben dogmatisch vcrarbeiter, gewisscrmassen identisch rait seiner Quelle ist |
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Wege geht. Dementsprechend legt er kein Gewicht auf
Begriffe, die im Vedanta-System die Hauptaufmerksamkeit auf
sich ziehen. Dahin gehort der Begriff der maya, der Begriff
des brahman, der Begriff der Identitat. Brahman, das All-
Eine, wird von ihm nirgendwo in den Kreis der Betrachtung
gezogen.1) Dafiir drangt sich ein anderer Gedanke in den
Vordergrund, den der Vedanta nur streift, der Gedanke vom
Leiden. Der Pessimismus ist die Domane der Religion
Buddhas. Ueberhaupt ist der Buddhismus mehr Religion,
der Vedanta mehr Philosophic Ersterer richtet sein Augen-
merk vornehmlich auf ethische Fragen, der letztere ebenso
auf metaphysische. Ersterer ist praktisch, der letztere theo-
retisch. Daher verschmaht der Buddhismus durchweg den
schwerfalligen dogmatischen App;irat, mit dem der Vedanta
arbeitet.2) Eben dahin gehort es, dass, wjihrend in dem
Vedanta sich eine deutliche Scheidung von exoterischer und
esoterischer Lehre geltend macht, der Buddhismus eine solche
Sonderung nicht kennt: cr hat fur alle seine Anhanger nur
eine einzige Lehre. — — Als einen Unterschied mehr
ausserlicher Natur, der aber auch aus seiner Nichtachtung
des Veda entspringt, konnen wir die Verachtung der Kasten-
trennung betrachten, die den Buddhismus im Gegensatz zum
Brahmanismus beherrscht. In letzterem kann ein Cudra, ein
Angehoriger der vierten Kaste, uberhaupt der Erlosung nicht
teilhaftig werden,3) in ersterem ist das Thor der Seligkeit
jedem offen. Doch hat sich auch der Buddhismus ein ge-
wisses aristokratisches Element bewahrt: ein Buddha kann
nur in einer der zwei oberen Kasten geboren werden.4)
§ 4. Gang- der Untersuchung.
Es mag wahr sein, was Kant in der Vorrede zu »Pro-
legomena zu einer jeden kiinftigen Metaphysik« sagt: »Da 1) Oldenberg a. a. O. p. 66 Anm. Die Bedeutung dieser Begriffe ergiebt sich im
Fortgang der Abhandlung. 2) vWeil es nicht zum Heil dient, weil es nicht zum frommen Wandel, zur Loslosung vom Jrdischen, zur Vernichtung des BegehrenSt zum Aufhoren, zur Ruhe, zur Erkenntnis, zur Erleuchtung, zum Nirvana dient, deshalb hat der Erhabene es nicht offenbart.f Oldenberg a. a. O. p. 355. 3) Deussen, a. a. O. p- 64. 4) Oldenberg, a. a. O. 16S. Anm. 2. Vergieiche tibrigens auch, was Oldenberg iiber die Tendenz der Beseitigung des Kastenunterschiedes sagt, p. 164 fT. Ebenso Edmund Hardy: Ber Buddhis- mus nach iilteren Pali-Werken, MUnster 1890, p. 1 f. 2
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der menschliche Verstand iiber unzahlige Gegenstande viele
Jahrhunderte hindurch auf mancherlei Weise geschwarmt hat, so kann es nicht leicht fehlen, dass nicht zu jedem Neuen etwas Altes gefunden werden sollte, was damit einige Aehn- lichkeit hatter1) Es diirfte daher anscheinend nicht gar vielWert haben, in dem Neuen Schopenhauers die Aehnlichkeit mit dem Alten der indischen Philosophic nachzuweisen. Einmal aber liegt in diesem Falle mehr als blosse Aehnlichkeit vor: wir haben hier beinahe Identitat zu konstatieren. Ferner ist es doch immerhin von Interesse zu sehen, wie dieselben Ge- danken sich in verschiedenen Gewandern ausnehmen, ihrer verschiedenen Begriindung nachzugehen und die verschiedene Tragweite auszumessen, die der, der sie dachte, ihnen bei- legte. Endlich eroffnet eine solche Untersuchung gcwisse Tiefblicke, in wie weit solche Gedanken in dem mensch- lichen Denken iiberhaupt, in der menschlichen Natur iiber- haupt begriindet sind. Und dies ist ein Argument ganz im Sinne Schopenhauers.2) Wir behaupteten in den ersten Paragraphen, dass die-
jenigen Lehren, die sowohl in der Philosophic des Alter- tums als auch im Christentum uns indisches Geprrigc und vielleicht auch indischen Einfluss zeigten, namentlich Mysti- cismus und Asketismus seien, dieser mehr buddhistischen, jener mehr brahmanischen Ursprungs. Dass beide auch in der Schopenhauerschen Philosophic auftreten, ist bekannt. Fernerhin ist es wahr, was Schopenhauer selbst sagt: »Quie- tismus, d. i. Aufgeben alles Wollens, Askesis, d. i. absicht- liche Ertotung des Eigenwillens, und Mysticismus, d. i. Be- wusstsein der Identitat seines eigenen Wesens mit dem aller Dinge, oder dem Kern der Welt, stehen in genauester Ver- bindung; so dass, wer sich zu einem derselben bekennt, all- malig auch zur Annahme der anderen, selbst gegen seinen Vorsatz, geleitet wird.«8) Also werden wir zunacht darstellen,. wie jene Trinitas sich bei Schopenhauer in genaue Beziehung zu derjenigen in der indischen Philosophic setzt, und sodann,, 1) Schopenhauer selbst sagt: '>Im Allgemeinen —■ haben die Weisen aller Zeiten
immer das Selbe gesagt.« Parerga I p. 332. 2) W. a. W. u. V. I, p. 460. 3) W. a. W. u. V. II, p. 704. |
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wie aus der Annahme einer mystischen Metaphysik Pessi-
mismus, Quietismus und Asketik sich entwickeln. — Es ge- niigt ja nicht, die fertigen Resultate des Denkens an einander zu messen; eine wirkliche Einsicht in die Congruenz zweier Systeme erlangen wir erst dann, wenn wir den Gang des Denkens als wesentlich gleich erfassen konnen. Und da jede Philosophic in ihrer Ethik gipfelt, so richten wir unser Augenmerk vornehmlich auf diese, nicht in der Absicht, die Identitat der Schopenhauerschen und indischen Ethik erst nachzuweisen, als vielmehr um die Uebcreinstimmung zwischen beiden genau abzugrenzen und besonders um die Wege auf- zudecken, auf welchen unsere Philosophen zu ihrer iiberein- stimmenden Auffassung des Sittlichen gelangt sind. Unsere Untersuchung geht also zunachst der metaphysischen Con- gruenz nach und zeigt sodann, wie aus glcichen metaphy- sischen Voraussetzungen heraus bei den in Betracht genom- menen Denkern der ethische Prozess die gleichen Bahnen einschlagen muss. |
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II. Mysticismus.
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-A-, I>ie Welt des Objokts.
§ 5. Der Idealismus.
1. Die transscendentale Idealitat der Erscheinungs-
welt.
Die Welt, wie sie in den Formen wechselnder Mannig- faltigkeit vor den Augen des denkenden Menschen, des Philosophen sich bewegt, ist billig das Grundproblem aller Philosophic Billig beginnen wir daher unsere Untersuchung mit den Lehren, die wir bei den von uns in Betracht ge- nommenen Philosophen iiber die Aussenwelt vorfinden. In welchem Sinne die Welt real sei, dicsc Frage lassen wir uns nacheinander von dem Vedant i, vom Buddhismus und von Schopenhauer beantworten. 2-
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a. Vedanta.
Der Vedanta kennt im ganzen Universum nur ein
Seiendes, dem die Bezeichnung »Seiendes« mit Recht zu- kommt, nur ein wahrhaft und im hochsten Sinne Reales: das brahman, auch atman genannt. Ueber Zeit, Raum und Kausalitat als Ding-an-sich hinausliegend, ist das brahman frei von jeder Veranderung; neben ihm giebt es kein anderes Reales: es ist das Zweitlose. Brahman ist die absolute Ein- heit; was nicht Einheit ist, die Vielheit, ist nicht brahman, ist demnach nicht real. Wenn wir also in der Welt eine Viel- heit sehen, die in bestiindiger Veranderung begriffen ist, so ist diese veranderliche Vielheit nicht brahman und somit nicht real, nicht wirklich. Die Vielheit ist ein Sinnentrug; die Ausbreitung der Welt in mannigfaltige, dem Wechsel unter- worfene Gestaltungen ist eine Tauschung, ein Traum, ein Blendwerk. Es ist die dem Menschen angeborene avidya, »das Nichtwissen,« die ihm eine Vielheit als wirklich vor- spiegelt, wo doch eigentlich nur die Einheit des brahman ist, und einen Wechsel, wo thatsachlich nur das der Ver- anderung entruckte brahman sich finden lasst. Nichts von dem, was wir sehen, ist so, wie wir es sehen, namlich als Vieles und Veranderliches; die gesamte Erscheinungswelt ist ideal, phanomenal. Davon macht unser Korper, unsere Leiblichkeit, in der wie in einer vierfachen Hiille unser Selbst, die Seele, steckt1), keine Ausnahme; auch er ist ein Trugbild. Darum sollten wir unter seinen Schmerzen so wenig leiden, als wie wir die Schmerzen fiihlen, mit denen wir andere behaftet sehen; denn auch der Schmerz ist nur Illusion2). Doch beschrankt sich der Idealismus des Vedanta nicht
darauf, nur die Korperwelt fur blosse Erscheinung, der keine Realitat zukommt, zu erklaren. Brahman allein ist real; was wir als von ihm unterschieden auffassen, ist nichtig. Selbst unsere Seele, unser Selbst, der individuelle atman, der eben durch seine Individuation sich von brahman los- |
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1) Deussen a. a. O. 53, nach der Taittiriya-Upanishad. 2) Deussen, a. a. 0. 322.
Ueber den Schmerz als Illusion cf. § 14. |
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trennt. Daher giebt es eben so wenig im hochsten Sinne
eine Vielheit von Seelen, als es eine solche von Korpern <nebt. Die avidya, die angeborene Tauschung gaukelt uns eine solche inhaltlose Mannigfaltigkeit vor. Nichtig sind die Gotter;1) nichtig ist das aparam brahma, das »niedere brah- man*, das mit Attributen behaftet, mit Kraften ausgestattet in der apara vidya, der »niederen \Vissenschaft« als Welt- schopfer Gegenstand der frommen Verehrung ist.2) Nich" tig und hohler Schein ist Schopfer und Schopfung. Nichtig ist der samsara, der Kreislauf der wandernden Seelen. Alles das hat keine wahre Realitat, die allein dem Ding-an-sich, dem param brahma, »dem hoheren brahman« zukommt; alles ist blosse Erscheinung; die ganze Welt ist Vorstellung. Es ist der im »Nicht\vissen«, in der avidya befangene
Geist, der Welt und Seele fur an sich real nimmt, eine Meinung ahnlich der, die einen Strick fur eine Schlange, einen Baum fur einen Menschen nimmt. Dieser avidya steht die vidya, »das Wissen« gegeniiber, die den hohlen Trug der Sinne durchschaut. Die Ausbreitung der Welt in »Na- men und Gestalten« hat ihre Bedeutung nur auf dem em- pirischen »Standpunkt des Welttreibens«, vyavahara-avastha, und fallt fort auf dem »Standpunkt der hochsten Realitat«r paramartha-avastha. Die Erlosung besteht darin, dass man sich von ersterem auf letzteren erhebt. Nicht erlost aber wird und »vom Tod zu neuem Tode rennt,
Wer ein Verschiednes liier erkennt; •— Von Tod in Tod wird der verstrickt, Wer ein Verschiednes Mer erblicktc.3) Die ganze Welt ist thatsachlich nichts anderes als das
unterschiedlose, eine brahman; nur in ihm, als Einheit hat sie ein wirkliches Dasein, nicht aber in ihrer in die Sinne fallenden Vielheit: »Gleichwie, o Teurer, durch einen Thonklumpen alles, was aus Thon besteht, erkannt ist; auf Worten beruhend ist die Umwandlung, ein blosser Name, Thon nur ist es in Wahrheit«.*) Wie ein Zauberer, ein 1) cf. § 7- 2) cf. § 7. 3) Deussen, a. a. O. p. 54, nach Kathaka-Up. 4) ib. Chandogya-
Up. 6, 1, 4. |
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mayavin, einen Zaubcr, maya, »aus sicli heraussetzt«, so ist
die ganze Welt ein Gaukelkunststilck des brahman. Geho- ben wird dieser Zauber allein durch Eintritt des »Wissens«, der vidya, der »universellen Erkenntnis«, samyagdarcanam. Die vidya hebt den Schleier der maya und zeigt die wirk- liche Einheit in der bios scheinbaren Vielheit. — Dieses der brahmanische Idealismus, die Einsicht in welchen als »Un- terscheidung der ewigen und nicht-ewigen Substanz«, das heisst zwischen Ding-an-sich und Erscheinungswelt, neben dem Vedastudium als Haupterfordernis fur den zur »Wissen- schaft« Berufenen gilt.1) b. Buddhismus.
Durch Einfiihrung des Begriffs der maya als einer Folge
der dem Intellekt angeborenen Tauschung, der avidya, die das Ding-an-sich nicht zu erkennen vermag, gestaltet sich im Vedantasystem der Idealismus ziemlich einfach. Anders, verwickelter liegen die Verhaltnisse im Buddhismus. Dieser legt keinen Wert mehr auf den Begriff des Einzig-Realen, an dem gemessen die Welt der empirischcn Realitat sich als ideell herausstellen muss; ihn interessiert die metaphy- sische Frage nach dem Urgrunde aller Dinge weniger als die Thatsache, dass alles Leben Leiden ist. Daher erscheint bei ihm der Idealismus wesentlich anders basiert als im Brahmanismus. Zunachst miissen wir betonen, dass, wie er den Begriff des brahman in den Hintergrund treten oder vielmehr uberhaupt fallen lasst, er auch nicht mehr die maya, diese auf der avidya beruhende mystisch-kosmische Potenz, durch die die Welt falschlich als Seiendes erscheint, fiir den Sinnentrug verantwortlich macht. Erst in spaterer Zeit taucht diese wieder auf.2) Nach altbuddhistischer An- schauung aber — und nur diese kommt fiir uns in Betracht — beruht der Idealismus der ganzen Welt darauf, dass alle Gestalten, die in der Welt uns entgegentreten, nicht sowohl 1) Deussen, a. a. O. p. 84. 2) Oldenberg a. a. 0. p. 259. In spaterer Zeit gilt auch
der Idealismus nicht mehr unbestritten. Weber fiihrt bei Aufzahlung der vicr Gestaltungen, die der Buddhismus angenommen, als vierte die der Vaibhashikah an, die den ausseren Objekten wiikliche. unmittelbare Kxistenz zuspricht. Ind. Studien I p. 2. VergU auch Deussen, a. a. O. p. 261. |
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seiende, als vielmehr werdende und vergehende sind. \\ as
aber irgendwie Anspruch auf reale Existenz erheben will, muss sich in seinem jeweiligen Zustand behaupten konnen __ und das kann nichts nach buddhistischer Meinung. Eine
Veranderung verdrangt die andere, und nirgendwo findet sich
ein in sich beharrendes Sein. Der absolute Kausalnexus beherrscht alle Zustande und lasst keinen zu Ruhe kommen. Unter der Bezeichnung sankhara oder dhamma, synonyme Namen,1) die alien Erscheinungen in Makrokosmos und Mi- krokosmos zukommen, die von Oldenberg mit »Ordnung« und »Gestaltung« iibersetzt werden, versteht der Buddhis- mus weniger etwas Geordnetes, etwas Gestaltetes, als ein Sich-Ordnen, Sich-Gestalten.2) Nichts aber hat sich gestaltet, ist geworden und in der Zeit am Faden des Kausalitatsge- setzes entstanden, das nicht auch eben darum vergehen muss. Jede Geburt ist das Siegel des Todes. Geworden und un- bestandig, entstanden und verganglich sind durchaus gleich- bedeutende Begriffe. So lost der Buddhismus jedes schein- bare Sein in eine wirkliche Folge von Entstehen und Ver- gehen auf; nur in diesem ununterbrochenen Werde- und Vergehe - Prozess haben alle dhamma oder sankhara ihre Existenz. Es giebt keine Dauer, es giebt nur Wechsel. — So steht der Buddhismus zum Brahmanismus in dem- selben Verhaltnis wie Heraklit zu den Eleaten. Die ganze sinnfallige Welt ist nur Schein; die Vielheit existiert nicht; es existiert keine Bewegung, Realitat kommt nur dem hinter der Erscheinungswelt ruhenden Sein-an-sich zu; »das Beste kann nur Eines sein« — so lehren die Eleaten und die ve- dantistischen Philosophen. Dem gegeniiber halten Heraklit und Buddha, sein Zeitgenosse, daran fest, dass das Einzig- Seiende der Wandel ist; nach ihnen hat die Bewegung allein Realitat; »alles fliesst«. Aber der Buddhismus ist noch weiter gegangen als Heraklit. Wahrend dieser ein Substrat annimmt, an dem der Wandel vor sich geht, das Feuer, so leugnet der Buddhismus auch dieses. Er kennt nur Be- wegung, nur Wechsel, aber keine Materie, an der sich dieser Wechsel vollzieht. Eine Substanz im Sinne eines in sich 1) Oldenberg a. a. O. 272 Anm. 2. 2) Oldenberg a. a. O. 264.
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beruhenden Seins ist dcm Buddhismus durchaus frcmd. Es
giebt kein Sein, es giebt nur Werden. Der naive Mensch mag, durch die scheinbare Dauer der sankhara getauscht, eine Bestandigkeit und darum Wirklichkeit der Aussenwelt annehmen; der Weise hingegen erkennt, dass ein faktisches Sein, eine in sich geschlossene Substanz nicht vorhanden ist. Vielmehr ist alles ein Komplex von ineinandergeschlungencn Werde- und Vergehungsprozessen. Fiir den Vedanta giebt es nur keine individuelle Seele;
es giebt uberhaupt keine Seele fur den Buddhisten.1) Auch das Subjekt, das Ich, die Personlichkeit, die Seele ist ein »Haufen wandelbarer sankhara«, nichts als ein bestandiges Auf und Nieder von Entstehen und Vergehen, ein fort- wahrendes Andringen und Verschwinden von Empfindungen und Vorstellungen, das seine Einheit allein im Begriff findet. »Nicht findet sich hier eine Person.«2) Alles Dasein hat demnach nur eine existentia fluxa, die
allein durch den steten Wechsel besteht, einem Wasserstrudel vergleichbar.3) Alles Dasein ist ein ewiges Fliessen und Stromen und nichts dariiber hinaus. Es ist ein Sich-Zutragen, ein Geschehen, und was sich zutragt, ist Leiden. Eine bc- stimmte Person aber, die leidet, ist nicht zu erkennen. Der Buddhismus hat die letzte Konsequenz des Idealismus ge- zogen: selbst das »cogito, ergo sum« des Kartesius hat fur ihn keine Giiltigkeit mehr. Auch die Seele ist zum sankhara herabgedriickt worden, und findet ihre Existenz nur im Begriff. c. Schopenhauer.
1781 erschien die Kritik der reinen Vernunft, 1788 die 1) cf. § 11, 3. 2) Oldenberg a. a O. 274 ft". 3) Wahrend in der Ultcren Gestalt
des Buddhismus der Idealismus auf der ausnahmclosen Giiltigkeit des Kausalitatsgesetzes beruht, also den Objekten als solchen anhaftct, die eben nur durch ihre natiirliche Verbin- dung mit einander Uestand und Wesen haben, ist es in der spateren Gestalt der mensch- liche lntellekt, das Subjekt also, auf dem der Phanomenalismus beruht. >>Nach dieser Vor- stellungslchre beruht die Aussengestalt (nur) in dem Intellekte, und das ganze Welttreiben . . . ist nur etwas Innerlichest. Ueber die Vorstillung hinaus sind Aussendinge uber- haupt unmoglich. Die Erkenntnis wird zwar durch die Empfindung erzeugt, aber eine Vcrschicdenheit der Empfindung, wodurch eine Verschicdenhcit der Erkenntnis bedingt ware, wird nicht zugestanden. Wie bei Sinnestiiuschungen eine Fata morgana dem Ver- stande Dinge vorspiegelt, dencn keine wirklichcn Aussendinge cntsprechen, so verhalt es sich beim Erkennen uberhaupt. |
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Kritik der Praktischen Vernunft — 1788 wurde Arthur
Schopenhauer geboren. Vor allem mit Riicksicht auf seine idealistische Welt-
anschauung bekennt Schopenhauer sich als Schiiler Kants, den er nicht genug zu riihmen weiss, dass er den Bann des Realismus gebrochen. Ihm gilt der Uebergang vom Realis- mus zum Phanomenalismus als eine »geistige WiedergeburU,1) als der Austritt aus dem Alter der naiven Kindheit in das Stadium besonnener Mannlichkeit. »Sors de 1'enfance, ami, reveille-toi!« ist das Motto, das er dem ersten Buch seines Hauptwerkes vorgesetzt hat. Jede wahre Philosophic muss idealistisch sein; »ja, sie muss cs, um nur redlich zu sein.«a} Die Befahigung, die ein jeder zur Philosophic besitzt, geht grade so wcit wie seine Hinneigung zum Idealismus, und »\vcm nicht zu Zeiten die Menschen und alle Dinge wie blosse Phantome oder Schattenbilder vorkommen, der hat keine Anlage zur Philosophie«.8) Veranlassung, die indische Philo- sophic als Urweishcit des Menschengeschlechts zu riihmen, giebt ihm besonders der dort herrschende Idealismus. Un- gemein haufig sind die Stellen, in denen er Citate in Bezug auf die maya anfiihrt, die daselbst gebrauchten Bilder (vom Strick, der als Schlange, vom Sand, der als Wasser, vom Baum, der als Mensch erscheint) mitteilt, kurz, in denen er den indischcn Idealismus erwahnt. Wir nehmen in Betracht, wie er sein en Idealismus begriindet.4) »Die Welt ist meine Vorstellung.« Diesen Satz stellt
Schopenhauer als Grundwahrheit an die Spitze seines Haupt- werkes. Die Welt ist Vorstellung und zunachst nichts dar- iiber hinaus, das heisst: die Welt ist bedingt durch das an- schauende Subjekt, nur fur dieses vorhanden, ohne dieses unmoglich. Diese Thatsache, »die bloss in Europa, in Folge der wesentlich und unumgfinglich realistischen jiidischen 1) Vorredc zur 2. Aufl. der W. a. W. u. V. I, p. XXIV. 2) W. a. W. u. V. II, p. 5.
3) Frauenstadt. Aus A. Schopenhaucrs handschriftl. Nachlass, p. 295. Schon friih stand in Schop. die idealistische Grundansicht fest. cf. Gwinner a. a. O. 140. Die in obigem Citar ausgesprochene Ansicht Schopenhauers, die Ahnung von der idealistischen Beschaffenheit der Welt sei Grundbcdingung allcr philosophischen Befahigung, deckt sich zicmlich genau mit der pag. 22 angcfiihrten Forderung des Vcdanta von der Einsicht in den Unterschied der cwigen und nicht-ewigen Substanz. 4) W. a. W. u. V. II, Kap. 1, »Zur idealistischen Grundansicht*. |
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Grundansicht, paradox*;1) erscheint, wird im wesentlichen
durch drei Beweise erbracht. Erstlich. Jede Erkenntnis ist wesentlich Vorstellung.
Jede Vorstellung zerfiillt notwendigerweise in zwei Correlata: Subjekt und Objekt; zu einer jeden Vorstellung ist notig ein Vorstellendes und ein Vorgestelltes. Keines von beiden darf fehlen. Somit ist Objekt sein nichts anderes als: vom Subjekt erkannt werden, und Subjekt sein heisst nichts mehr als: Objekte haben. Subjekt und Objekt sind schlechthin untrennbar, selbst fur den Gedanken, indem jedes nur durch und fur das andere Bedeutung und Dasein hat. Insofern erscheint also jedes Objekt als abhangig vom Subjekt, ohne das es eben kein Objekt sein kann. So auch die Vorstellung der Welt. Die Welt kann nur sichtbar werden, das heisst: in die Vorstellung treten, das heisst: Objekt werden, wenn ein sehendes, vorstellendes Subjekt vorhanden ist. Nur fiir dieses ist die Welt vorhanden, nur fiir und durch ein anderes. Sie existiert nur in dieser Abhangigkeit und nicht an sich. Man kennt keine Sonne, nur ein Auge, das die Sonne sieht; keine Erde, nur eine Hand, die die Erde betastet. Erst mit dem ersten erkennenden Wesen trat die Welt als Vorstellung auf; sie muss vergehen, sobald das letzte vorstellende Sub- jekt verschwunden ist; denn ihr Bestehen ist ganz und gar relativ. »Kein Objekt ohne Subjekt.« Diese so nahe liegende unleugbare Wahrheit stellt schon an der Wurzel die Welt, das Objekt, weil es durchaus immer nur in Beziehung auf ein Subjekt da ist, als von diesem abhangig, durch dieses bedingt und daher als blosse Erscheinung dar, die nicht an sich, nicht unbedingt existiert.*) — — Diesen Beweis der Idealitat nennen wir den logischen. So leitet Schopenhauer von vornherein die Idealitat der
Aussenwelt aus der blossen Thatsache ab, dass in jeder Vor- stellung von einem Objekt nur in Beziehung auf das vor- stellende Subjekt die Rede sein kann. Die Welt als Objekt ist abhangig vom Subjekt. In noch hoherem Grade erscheint dieses durch die folgende Betrachtung begrundet. 1) Vierf. Wurzel, p. 32. 2) W. a. W- u. V. I p. 1 ft". Vicrf. Wurzel § 16. Kritik der
Kantischen Philosophic p. 514 ft*. Grisebach: A. Sch's. handschr. Nachtass Reklam. Ed. II p. 55. |
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Jede Vorstellung ist ein komplicierter physiologischer
Vorgang im grossen Gehirn.1) Der Intellekt ist eine phy- siologische Funktion des tierischen Lebens, und zwar an das Gehirn gebunden.2) Durch den Intellekt aber allein ist die gesamte Anschauung der in Raum und Zeit ausge- dehnten Aussenwelt allererst moglich. Dieselbe kommt durch das Zusammenwirken zweier Faktoren zu stande. Der erste Faktor ist der Intellekt, d. h. der Verstand, dessen alleinige Funktion in der Anwendung des a priori gegebenen Kau- salitatsgesetzes besteht. Das zweite sind gewisse Empfin- dungen in den durch Anhaufung von NervenstofF besonders sensibel gemachten Sinneswerkzeugen, die sogenannten Reize. Die Reize sind trotz ihrer verhaltnismassigen Geringfiigig- keit das alleinige Material der Aussenwelt; als formgebendes Prinzip bringt der Verstand das Kausalitatsgesetz hinzu. Der Verstand namlich fasst die Veranderungen, die der Korper als unmittelbares Objekt erleidet und die eben in den Empfindungen der Sinnesorgane, den Reizen bestehen, als Folgen auf, zu deren Ursachen er intuitiv vermittelst des angeborenen Kausalitatsgesetzes iibergeht, welche Ursachen zu gleicher Zeit in den gleichfalls a priori gegebenen Raum verlegt und dort als Korper angeschaut werden. In den Reizen, diesen durftigen Empfindungen von in den Sinnen vorgegangenen Veranderungen, liegt noch durchaus keine Andeutung auf die Anschauung; die Anschauung wird erst durch den Verstand, den Intellekt hervorgebracht. Alle An- schauung ist daher nicht sensual, sondern intellektual.3) Diese Grundwahrheit einzuscharfen, wird Schopenhauer nicht miide, und in iiberzeugender Weise thut er dar, wie z. B. die ver- wickelten Vorgange beim Sehen, das Einfachsehen des Doppelt-Empfundenen, das Aufrichten des umgekehrt aufge- nommenen Eindrucks und anderes mehr, nur dann zu er- klaren sind, wenn als Hauptvermittler der Anschauung der \ erstand zu Hilfe gcnommen wird, der die Sinnesempfin- dungen als Daten benutzt, um unter Anwendung seiner ihm |
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1) W. a. W. u. V, II p, 2'4. 2) W. a. W, u. V. II Kap. 22: »Objektive Ansicht des
lntcliekts« p. 307. Griscbach, Nachlass II p, 54. 3) »Mens videt, mens audit, cetera surda et coeca«. |
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ureigenen Thatigkeit, von der Folge auf die Ursache zuriick
zugehen, als Ursache des Sinnenreizes ein Objekt draussen im Raume anzuschauen. — Aus der Thatsache einer Anschauung der Ausserrwelt
ist also nicht zu schliessen, dass diese Anschauung als solche irgendwelche Realitat besasse; denn sie ist und bleibt sub- jektiv bedingt. Die Reize, das Material der Anschauung, sind subjcktiv, weil sie immer nur innerhalb des Organismus, unter der Haut stattfinden; das Gesetz der Kausalitat, das formelle Prinzip, ist subjcktiv als a-prioristische Gchirnfunk- tion. Die Welt als Vorstellung hat somit kein selbstandiges Dasein; sie ist nur durch und nur fiir das Subjekt da, und in dieser ganzlichen Abhangigkeit ist sie durchweg ideal.1) Wir nennen diesen Beweis der Idealitat den physiologischen. Drittens endlich. Das Kausalitatsgesctz ist einerseits
eine a priori unserem Intellekt angeborene Form, anderer- seits aber auch der Ausdruck fiir das Wesen aller moglichen Klassen der Objekte, das heisst: die besondere Art, darin der Satz vom Grunde in jeder besonderen Objektenklasse erscheint, bestimmt auch den ganzen Gehalt derselben. Am deutlichsten erscheint dies Verhjiltnis in der Zeit, riicksicht- lich der einzelnen Augenblicke, deren Gesamtheit eben die Zeit ausmacht. Hier ist jeder Moment die Folge eines vor- hergehenden, die Ursache des folgenden. Eine bestandige Succession von Zeitteilchen ist es, was die Zeit und ihr Wesen konstituiert — und eben das und nichts anderes ist es, was der Satz vom Grunde riicksichtlich der Zeit aus- sagt. Succession ist das Wesen der Zeit, Succession ist die Gestalt des Satzes vom Grunde in der Zeit. Und so auch in jeder anderen Objektenklasse. »Wer den Satz vom Grunde, wie er im blossen rein angeschauten Raum herrscht, erkannt hat, der hat eben damit das ganze WTesen des Raumes erschopft; da dieser durch und durch nichts Anderes ist, als die Moglichkeit der wechselseitigen Bestimmungen seiner Teile durcheinander, welche Lage heisst.« Und endlich ist 1) Uebcr das Sehcn und die Farben § I.' Vhrf. Wurzel, § 21, p. 51. W. a. W. u.V.
I p. 13 IF. W. a. W. u. V. 11 K.ap. 2: >>Zur Lehre von der anschauenden Oder Vcrstandes- erkenntnis*. |
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das Wesen der Materie, die den Inhalt der Formen Zeit
und Raum, ihre Wahrnehmbarkeit ausmacht, nichts weiter als die besondere Form des Satzes vom Grunde, die wir unter dem Namen Kausalitatsgesetz begreifen. Wer in den Sinn dieses Gesetzes eingedrungen ist, hat damit das Wesen der Materie erfasst. Kausalitat ist das alleinige Wesen der Materie; ihr Sein ist Wirken. Stent es nun also fest, dass der Satz vom Grunde der Ausdruck fur die Natur aller Objekte ist, so fragt es sich, was der Satz vom Grunde in seiner Gesamtheit besagt. Antwort: er ist der Ausdruck der Abhangigkeit, der Relativitat schlechthin; er besagt, dass das Eine existieren kann nur in Folge und Gemassheit des Anderen. Somit ist auch das Wesen aller Objekte nur ein relatives; das eine besteht nur, weil es vom andern bedingt wurde, aber eigenen Bestand hat es nicht und ist nichtig. Am deutlichsten springt dies in die Augen bei der Zeit. Die Vergangenheit ist gewesen, also jetzt nichtig; die Zu- kunft noch nicht erschienen, also nichtig, und die Gegen- wart ist nichts mehr als die ausdehnunglose Grenze zwischen Vergangenheit und Zukunft. Wreil der Satz vom Grunde als Gesetz der Succession die Zeit beherrscht, ist diese ohne reales Sein. Ebenso verhalt es sich mit dem Raum, in dem Begriffe wie oben und unten, rechts und links keine absolute, nur eine relative Bedeutung haben. Sind aber Zeit und Raum nichtig, so kann das, was in ihnen erscheint, nicht real, sondern nur ideal sein, namlich die Materie und die anschaulichen Objekte.1) Wir nennen diesen Beweis den metaphysischen. Neben diese drei Hauptbeweise fur die Idealitat der
Aussemvelt treten noch eine Reihe anderer, die wir hier iibergehen konnen. Auch solche a posteriori. So ist z. B. die empirische Unerforschlichkeit aller Naturwesen ein solcher Beleg a posteriori der Idealitat und blossen Er- scheinungswirklichkeit ihres empirischen Daseins. Denn wenn selbst in den einfachsten Erscheinungen ein fiir uns Unerklar- bares ubrig bleibt — und dass dies der Fall ist, lehrt die Er- fahrung ■—, wenn in alien Gestalten etwas ist, das nicht in ) Vierf. Wurzel p. 82; ib. 141 f; W. a. W. u. V. I p. 9 ff.
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die Formen unseres Verstandes eingeht, so folgt daraus, dass wir
die Wesen nicht erkennen, wie sie an sich und wirklich sind, sondern nur, wie sie uns erscheinen.1) — — Auch die ge- samte Abhandlung »Ueber das Sehen und die Farben« dient zur Stiitze der idealistischen Grundansicht, indem sie die Farben nachweisen will als Eigenschaften, die nicht den Dingen an sich zukommen, als Eigenschaften, die vielmehr vollstandig subjektiven Ursprungs sind als Thatigkeiten der Retina, als in polaren Gegensatzen erscheinende Aktionen des Auges. So gehort die objektive Welt, wie wir sie erkennen,
nicht dem Wesen der Dinge an sich selbst an, sondern ist eine blosse Erscheinung desselben, bedingt durch jene Formen, die a priori im menschlichen Intellekt liegen, da- her sie auch nichts als Erscheinungen enthalten kann.2) Selbst die elementarsten Formen, Zeit und Raum, sind nur ideal. »Wir sind nicht in der Zeit, sondern die Zeit ist in uns.« Alles Objektive ist Erscheinung, blosscs Gehirnphanomen, und das Leben, welches wir fiihren, ahnelt nicht nur einem Traum: es ist ein Traum.3) Ein Traum, der sich von dem Traum der Nacht nur dadurch unterscheidet, dass der nachtliche Traum jeden Morgen durch das Erwachen als nichtig erwiesen wird. So sagt auch Cankara, der Philosoph des Vedanta: »Der Unterschied (der als Illusion aufzufassenden Weltaus- breitung) von der Traumillusion liegt nur darin, dass die Weltausbreitung bis zur Erkenntnis der Seele als brahman fortbesteht, wahrend die Traumausbreitung taglich widerlegt wird.«4) Nun aber ist eines zu bcmerken. Wie Kant iiber Berkeley
hinausging, der den Standpunkt des absoluten Idealismus vertrat, und die Erscheinung der Welt, unbeschadet ihrer Qualitat als Erscheinung, doch auf ein Ding-an-sich zuriick- fiihrte, das sich in jener Erscheinung manifesticrt, so ist Schopenhauer seinerseits wieder iiber Kant hinausgegangen und hat das Ding-an-sich, das jeder Erscheinung zu Grunde liegt und von Kant als unerklarlich bezeichnet wurde, als 1) W. a. W. u V. II. p. 217 f. 2) Kritik tier Kautischen Philosophic p. 499. 3) W.
a. W. u. Vi I p 18 ff 4) Deusscn, a. a. O. p. 372, |
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»Willen« nachgewiesen.1) Die Erscheinung ist also nicht in
jeder Beziehung ein Phantom, ein ganz und gar inhaltloser Schatten, sondern weist zuriick auf den in ihr in die Er- scheinung tretenden Willen als das Ding-an-sich.2) Behalten wir diese wichtige Einschrankung des Idealis-
mus im Auge und vergleichen sodann den Idealismus Scho- penhauers mit dem des Buddhismus und des Brahmanismus, so macht sich zunachst die Gleichheit der leitenden Gedanken in der Begriindung bemerkbar: der von uns physiologisch genannte Beweis trrigt vedantistischen, der metaphysische buddhistischen Charakter. Denn der erste erklart den Idea- lismus aus der Beschaffenheit des menschlichen Intellekts,. der nur Erscheinungen in sich aufnehmen kann, dem die avidya, das Nichtwissen angeboren ist; im zweiten ist es, eben wie auch im Buddhismus, der Kausalnexus als der Aus- druck der ewigen Relativitat, der Abhjingigkeit der einen Erscheinung von der andcrn, der zur idealistischen Welt- ansicht fiihrt. Was aber den Idealismus als solchen anbe- trifft, so steht Schopenhauer auf dem Boden des Vedanta.. Bern Buddhismus ist jede Erscheinung der Welt eben nur Erscheinung und nichts daruber hinaus, nur eine hohle Schaumblase ohne realen Inhalt; er vertritt den absoluten Idealismus. Nicht so der Vedanta und Schopenhauer, die ihren Idealismus auf dem hochst realen Untergrund eines- Dinges-an-sich aufbauen; die Welt ist und bleibt zwar ideal und Erscheinung, doch ist sie die Erscheinung der einzig moglichen Realitat. ■— —■ 2. Erklarung des Idealismus aus den metaphysischen
Grundgedanken der Systeme. Wir haben oben die verschiedenen Begriindungen mit- geteilt, die der Idealismus in der Hauptsache von Schopen- hauer selbst erfjlhrt. Es waren dies durchweg Begriindungen, I) cf. § 6, 3. 2) \V. a. W. ii. V. I p. 142 ff. W. a. W. u. V. II p. 204. Willen in der
Natur p. 86. Parerga II 187 ff.--------Vergl. iiber das Verhaltnis von crkenntnistheoretischem
Idealismus und naturphilosophischem Realismus in der Lchre Sch's. die Darstellung des-
selbcn bei Frauenstadt in: »A. Soh. und seine Gegncrt. (Gottschall: »Unsere Zeit,« Jahr- gang 1869, p. 694) wiederholt in s liner Einleitung zur 2. Auflage der Gesamtausgabe, p. 65 ff. wit iiberhaupt jcne Einleitung zum Tcil ein wortlicher Abdruck der iiltcren Abhand-- lung in »Unstre Zeit. ist. |
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•die den letztcn Urgrund aller Dinge und Verhaltnisse unbe-
riihrt liessen und so, wenn man will, mehr ausserer Art waren. Daher mag es von Interesse sein, zu sehen, wie der Idealismus die unausbleibliche Folge der metaphysischen Urgedanken des Schopenhauer'schen Systems ist. Der Wdle ist es, der als Ding-an-sich, als Prinzip, als motorische Kraft alien Erscheinungen der Aussenwelt zu Grunde liegt. Es muss dieser Wille, wie a priori einzusehen ist, urspriinglich ein blinder, unbewusster sein; dcnn die bewusste Natur, das Reich der Tierheit, stent an Umfang hinter dem der unbewussten weit zuriick, wie es denn auch spater als die unbewusste Natur sich entwickelt hat. Und so ist denn auch thatsach- lich der Schopenhauer'sche Wille von Haus aus blind und unbewusst, ein finsteres, dumpfes Treiben.1) Dann aber er- giebt sich als unabweisbare Folgerung, dass der Intellekt nur ein zufallig Hinzugekommenes, ein Accidens ist, ein- tretend erst auf den oberen Stufen der Willensobjektivationen. Er ist also sekundarer Natur. Aber noch mehr. Der In- tellekt ist, wie die Physiologie empirisch nachzuweisen ver- mag, an das Gehirn gebunden, das Gehirn seinerseits ist durch den Korper bedingt, so dass der Intellekt eigentlich sogar erst tertiarer Art ist.2) Wie konnen nun seine Formen, Zeit, Raum und Kausalitat, nicht relativ sein, und, sind diese relativ, wie kann dem Inhalt dieser Formen, der Anschauung der Aussenwelt, ein unabhangiges, absolutes Dasein, ein Sein fur sich zugesprochcn werden? — Wir sehen, wie aus dem metaphysischen Grundgedanken, dass der Wille das Ding- an-sich sei, der Phanomenalismus sich als naturgemasse Fol- gerung ergiebt und fragen uns daher, ob in der indischen Philosophic ein gleiches Verhaltnis von Grund und Folge statt hat. Im Brahmanismus springt dieses Verhaltnis sofort in die Augen; es gestaltet sich sogar hier noch wesentlich einfacher als bei Schopenhauer. Die Dogmatik hat auf das brahman alle hochste Vollkommenhcit vereinigt, alle Wesen- heit, alles wahre Sein, so sehr, dass alles, was als von jeneni verschicden erscheint, nur als ein wesenloser Schatten sich darstellt, ja, im Grunde iiberhaupt nicht ncben brahman 1) W. a. W. u. V. 1 178 u. o. 2) Wilier, in der Natur p. 20. W. a. W. u. V. 11 p. H2.
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existiert, gar kein Sein ausserhalb dcs Seins in brahman be-
sitzt. Von der unendlichen Hohe des brahman aus gesehen, verschwindet die ganze Welt, die ganze Schopfung mit Einzel- seele und samsara. So verlangt auch in dem Vedanta die Metaphysik den Idealismus. — Wie aber im Buddhismus? Der Buddhismus hat eine eigentliche Metaphysik nicht aus- gebildet, er kennt kein Ding-an-sich; darum gilt der Idealis- mus, ohne Stiitze einer festen Metaphysik, wenigstens in der spateren Gestalt des Buddhismus, nicht durchgjingig.1) Wie der Idealismus der Buddhisten der altesten Zeit beschaffen, haben wir dargestellt. Er beruht im wesentlichen auf dem ewigen Fluss der Dinge, der durch das Gesetz der Kausali- tat gelenkt und beherrscht wird. Dieses also ist es, das allein im Wirbel der Erscheinungen als bleibende Macht sich behauptet. Es schwebt als standige Potenz iiber dem Hin und Her der sankhara's.*) Aber nicht als aeterna Veritas, nicht als eine transscendente Regel, der ewige Geltung zu- gesichert ist. Vielmehr ist das Kausalitatsgesetz durchaus immanent und ist abhangig vom Willen des Menschen, der, wenn er sich von der Welt abwendet, auch den Anspruch des Kausalitatsgesetzes zu nichte macht. Auf diesem imma- nenten Prinzip beruht der buddhistische Idealismus, der also auch in dieser Hinsicht in Gegensatz tritt zu dem Schopen- hauers und des Vedanta. Diese beiden nehmen zur innersten Begriindung des Phanomenalismus ihre Zuflucht zu einem transscendenten Prinzip. Wir konnen sagen: der Idealismus des Bralimanismus und Schopenhauers ist heteronom, der des Buddhismus aber autonom. — 3. Die empirische Realitat.
Weder Schopenhauer noch der Bralimanismus in der
Gestalt des Vedanta sind bei dem blossen Idealismus stehen geblieben. Beide sprechen den Erscheinungen Realitat zu, nicht die absolute des Willens oder des brahman, sondern eine empirische. Eine Hallucination mag man als solche und daher als blosses Trugbild erkennen; dass sic thatsach- lich dem Geiste vorschwebt, ist eine unbestreitbare empirische 1) cf. p. 22, Anm. 1. 2) Oldenberg a. a. O. 273.
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Thatsache. In diesem Sinne also miissen wir nach Schopen-
hauer und dem Vedanta den Erscheinungen empirische Rea- litat vindicieren. Die Realitat, die der Dogmatismus der Aussenwelt zu-
schreibt, und die in der Unabhangigkeit des Objekts vom Subjekt bestehen soil, diese Realitat ist ein Unding. Die Realitat, von der hier die Rede ist, hebt die transscenden- tale Idealitat durchaus nicht auf. Realitat ist iiberhaupt nichts anderes als der richtige Uebergang von der Wirkung auf die Ursache; sie ist Sache des Verstandes. Das durch den Verstand richtig Erlcannte ist Realitat; ihr Gegcnsatz ist der Trug des Verstandes: der falsche Schein.1) Die Realitat hat es ausschliesslich mit dem Kausalitatsgesetz zu thun, und es hat somit keinen Sinn, nach der Wirklichkeit eines Dinges ausserhalb der Kausalitat, ausserhalb seines Wirkens zu fragen. »Insofern ist also die angeschaute Welt in Raum und Zeit, welche sich als lauter Kausalitat kund giebt, vollkommen real, und ist durchaus das, wofiir sie sich giebt, und sie giebt sich ganz und ohne Riickhalt, als Vorstellung, zusammen- hangend nach dem Gesetz der Kausalitat. Dieses ist ihre empirische Realitat.« Weil das Kausalitatsgesetz es ist, das die Objekte untereinander verbindet, darum haben diese em- pirische Realitat; sie wiirden vollkommene, absolute Realitat haben wenn das Kausahtatsgesetz auch iiber das Reich der Erscheinungen hinaus die Objekte mit dem Ding-an-sich ver- bande.2)_____Da das Kausalitatsgesetz, auf dem die em- pirische Realitat beruht, selbst der Erscheinung angehort, konnen wir mit eiraem Paradoxon sagen: Die empirische Realitat der Welt besteht in ihrer Idealitat. Wir lassen hieJ" eine Stelle aus Cankara's ICommentar
folgen die auch fiir den Vedanta das Zusammenbestehen von empirischer Reabtat und transscendentaler Idealitat be- weist.
»Tedes Wesen laamlich hat seine ursprUngliche Identitat
mit brahman verges sen und halt nun das empirische »Ich« und »Mein« fur das Selbst und seine Eigenschaften. Dies ,) W. a. W. u. V. I 2»- 2) w- a. W. u. V. I p. 17. W. a. W. u. V. II p. 22. ib.
p. 8 f. Parerga I p. 89 ft". |
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ist so lange wahr, bis die Erkenntnis der Einheit mit brah-
man erwacht.— Ganz wohl, aber doch nicht dariiber hinaus! Eine Strickschlange kann doch nicht wirklich beissen, eine Luftspiegelung loscht nicht wirklich den Durst; und ebenso ist es im Traume: das getraumte Schlangengift totet nicht wirk- lich, das getraumte Wasser macht nicht wirklich nass! — Gewiss nicht! aber wie man (im Traume) die Ursache, den Schlangenbiss, das Wasser, wahrnimmt, ebenso nimmt man auch die Wirkung, das Sterben, das Nasswerden, wahr. — Aber diese Wirkung ist doch nicht real! — Die Wirkung ist nicht real, aber die Wahrnehmung derselben ist real und wird durch das Erwachen nicht aufgehoben. Denn wenn jemand erwacht, so erkennt er als Irrtum, dass die Schlange, das Wasser da waren, nicht aber, dass er sie wahrgenommen hat. So ist zwar das im Traume Wahrgenommene nicht wahr, aber die Wahrnehmung desselben ist wahr.«') Was diese Worte besagen, ist folgendes: Das ganze
Welttreiben gleicht den Bildern eines Traumes; wenn das Erwachen, in diesem Fall die Erlosung, eintritt, zerstieben sie in Nichts. Sind also in dieser Hinsicht die Traumbilder als ideal zu bezeichnen, so entbehren sie andererseits durch- aus nicht einer ganz bestimmten realen Wirklichkeit; denn sie sind thatsachlich da, so lange eben der Traum da ist. In solcher Weise besteht alles weltliche und vedische Treiben zu Recht, so lange wir unsere urspriingliche Brahman-Selbst- heit ausser Acht lassen. Die Welt ist durchaus real, so lange wir nicht ihre Idealitat kennen. Auch die individuelle Seele ist wirklich individuell und ihre Individualitat kein blosser Schein, »so lange man das eine Vielheit annehmende Nichtwissen, welches dem Halten eines Baumstamms ftir einen Menschen vergleichbar ist, nicht beseitigt und das hochste, ewige, seinem Wesen nacli schauende Selbst durch die Erkenntnis: "ich bin brahman" noch nicht erlangt hat.«2) »Und auch derKanon«, erklart Cankara, »wenn er sagt: "Denn wo eine Zweiheit gleichsam ist, da sieht einer den andern" erklart mit diesen Worten fiir den Nichterweckten das Treiben der Wahrnehmung u. s. w. fiir giiltig; hingegen fiir den Er- 1) Nach Dcussem Referat a. a. O. p. 291. 2) Deusser a. a. O. p. 200.
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weckten erklart er es fur ungiiltig, wenn es weiter heisst:
"Wo aber einem alles zum ewigen Selbste geworden ist, wie sollte da einer den anderen sehen".«x) — Die empirische Realitat gilt auf dem empirischen Standpunkt der avidya, auf dem vyavahara avastha; die absolute allein auf dem metaphysischen Standpunkt der vidya, auf dem paramfirtha- avastha. § 6. Die eigentliehe Metapbysik:.
1. In dem Vedanta.
Was ist die Welt? Von einer Seite haben wir sie im vorhergehenden Paragraphen kennen gelernt. Sie ist, sagen Schopenhauer und die indischenPhilosophen ubereinstimmend,. Vorstellung und als solche durchweg ideal und vom Subjekt abhangig. Zu gleicher Zeit aber sahen wir, dass wenigstens fiir Schopenhauer und Badarayana, den Philosophen des Vedanta, die Welt mehr als blosse Vorstellung war, dass sie die Welt betrachteten als Hiille, in der ein ganz Anderes, ein Uebersinnliches steckt wie der Gedanke in den "Worten. Was dieses sei, wird im Folgenden behandelt. — — 7 Mitten hinein in das bunte Treiben der Welt, in das Auf- und Abwogen der Gestalten, von Geburt und Tod findet sich der Mensch gestellt, umringt von tausend Ratseln, be- stiirmt von tausend Schrecknissen. Betaubt kehrt er den\ Blick in's eigene Innere, aber auch hier, wie in der ausseren Natur, schaut er auf eine wechselnde Flut, von Empfmdun- gen und Gedanken. Von geheimnisvollen Kraften fuhlt er sein eigenstes Wesen durchzogen, er erkennt sich als wie einen. Ringplatz einander feindlich gesinnter Gewalten: Trieb ringt mit Trieb, Verlangen mit Verlangen. — Mikrokosmos und Makrokosmos, beide stehen ihm so wie Fremdlinge gegen- iiber, mit Fragen auf der Lippe, die nach A-ntwort verlangen. Was bin ich? Was ist die Welt? Was bedeutet all' dies stiirmende Gedrange?--------Mit rustigen Arraen wirft sich
der denkende Mensch in die Flut, und strebt einem sicheren
Eilande zu, an dem die Brandung der Erscheinungen macht- los abprallt. Von dem ewig unbewegten Grunde aus blickt 1) ib. 122. vergl. fcrner p. 288. p. 57 Anm. 31.
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er dann auf das wogende Geschiebe und fusst auf dem
»ruhenden Pol in der Erscheinungen Flucht.« Mit dem ersten Nachdenken des Menschen iiber sich und die Welt ist die Metaphysik erwacht. Es muss etwas geben, das hinter all diesem wirren Treiben steht, unberuhrt vom Wechsel. All' diese Gestalten, die auftauchen und verschwinden, eine die andere verdrangend, miissen auf einem geheimnisvollen Ur- grund beruhen, der still und sich gleich bleibt wie die Tiefe des Meeres bei alien Stiirmen der Oberflache. Im Fluss der Dinge muss es ein Stehendes geben, im ewigen Vergehen ein ewiges Sein, gleich wie die eigene Personlichkeit dieselbe bleibt durch alien Wechsel von Kindes- und Greisenalter hindurch. Weil die Erscheinung bestJindig wechselt, kann sie nicht das Wahre sein; denn das Wahre bleibt unverander- lich. Und die ganze Welt ist dem Wechsel unterworfen; darum ist sie in der Gestalt, wie wir sie sehen, nicht, wie sie wirklich ist. Sie ist nur ein Symbol, ein Abbild, sie redet mehr, als sie sagt. Aus diesem recht eigentlich philosophi- schen Gedanken heraus bildet der Mensch die Gottergestalten der Mythologie, und die Mythologie ist die Mutter der philo- sophischen Metaphysik. Aus diesem Gedanken heraus schlos- sen die Eleaten von dem ewigen Wechsel der Erscheinungs- welt auf ein hinter dieser ruhendes ewiges Sein, bildete Pla- ton als bestandige Urbilder der unbestandigen Dinge seine Ideeen; aus diesem Gedanken heraus schuf der Inder seine mythologischen Gotter und sein metaphysisches brahman. Zwei Wege giebt es, die zur Metaphysik fiihren. Der
eine nimmt seinen Ausgang von der grossen Allwelt, der andere von der kleinen Welt des Menschengeistes. Beide fiihren zu dem gleichen Ziele: zu dem versteckten Grunde aller Erscheinung. Der Inder hat beide betreten. Urn die Elemente und ihr Walten zu erklaren, suchte und fand er seine Gotter: Indra, Agni u. s. w.; er suchte nach dem »Le- benssaft« und dem »Lebenssaft des Lebenssaftes^1) nach den Machten und ewigen Potenzen, auf denen der Weltlauf beruht. Man sucht dieErklarung der Welt zu ermoglichen durch |
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1) Oldenberg a. a. O. p. 25.
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Annahme mythologischer Wesen, die, vom reifenden Denken
immer mehr ihrcs anthropomorphen Charakters entkleidet, zu einer unpersonlichcn Einheit fiihren. Wir nennen diesen Weg zur Metaphysik den kosmologischen. — Daneben geht die metaphysische Forschung von dem Menschen selbst aus, um den Makrokosmos nach Analogie des Mikrokosmos zu deuteil. Wir nennen diesen Weg den anthropologischen. Er namentlich ist von den indischen Denkern mit Erfolg be- schritten worden. Er ist jedoch fur die Indcr ein doppelter gewesen, ein priesterlicher und ein mehr philosophischer, den nicht sowohl die zum Denken privilegierte Kaste der Brahmanen, als die der Krieger, der Kshatriya's gegangen ist.1) Ersterer fiihrtzum brahman, letztererzum atman, als dem Prinzip alles Seins —■ die Resultate beider bestehen eine Zeit lang neben einander, um endlich zusammen zu fallen und sich sodann mit den auf kosmologischem Wege gewonnenen Prin- zipien zu vereinigen. Brahman und Atman erscheinen in dem Vedanta durchaus als Wechselbegriffe, und sie sind thatsach- lich identisch, sowohl ihrem anthropologischem Ursprung als ihrer Bedeutung nach. Beide lassen sich als »Seele« an- sprechen, brahman als kosmische Weltseele, atman als psy- chische Menschenseele, und beides ist gleich. Das ist der tiefe philosophische Gehalt der indischen Philosophic, dass sie den Schliissel zum Verstandnis des Universums im Men- schen sucht, dass sie es zum klaren Bewusstsein bringt, wie das innere Wesen, das in uns, den Individuen, lebt und wirkt, nichts anderes ist als jene Gewalt, die der gesamten Natur zu Grunde liegt. Wir sehen unsern Korper die Gesetze be- folgen, nach denen sich die Erde richtet; wir miissen darum annehmen, dass das motorische Prinzip in beiden das gleiche ist. Nur so werden wir wahre Kinder dieser Welt, die glei- ches Fleisches und Blutes wie der Erzeuger sind. Das ist die Philosophic der Identitat, deren Motto lautet: »tat tvam asi«, »Das bist Du.« Nur das eine kann das philosophische Verdienst des Brahmanismus schmalern, dass er das Wesen von All und Mensch in eine Kraft setzt, die in Wirklichkeit |
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1) Beussen a. a. O. p. 18.
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diesen Vorzug zu geniessen nicht berechtigt ist, namlich in die
Geistigkeit, caitanyam, den Intellekt. Das brahman bedeutet ursprunglich die innerliche Kraft
des Gebetes, welche den Betenden iiber die Schranken der Individuality hinaushebt und ihn dadurch gewissermassen zum Uebermenschen, zum Gott macht.1) Im Brahmanismus er- scheint es selbst als Gott, als Trager des Weltalls und in philosophischem Sinne als die Ureinheit, mit einem Kanti- :schen Ausdruck: als das Ding-an-sich.2) Von ihm heisst es in der Brihadaranyaka-upanishad: »Das Korperlose, das Un- sterbliche, das Leben ist lauter brahman, ist lauter Licht.«3) Ebenso: »Des Odems Odem und des Auges Auge,
Des Ohres Ohr und des Verstands Verstand, Wer diese kennt, der wahrlich hat das brahman, Das alte, uranfiingliche erkannt.«4) Brahman ist das allein Seicnde;5) es ist die »allvissende
und allmjichtige Ursache des Entstehens, Bestehens und Vergehens der Welt.« Es ist das Leidenlose, das Zweitlose; es ist »neti, neti«, das heisst: nicht so und nicht so; es ist »nicht kurz und nicht lang, nicht grob und nicht fein.« Der atman bedeutet die elfte »unbenannte« Atemkraft,
auf die sich die iibrigen zehn Atemkrafte des menschlichen Leibes »griinden«;6) er gilt so als das Princip, auf dem alle Lebensfunktionen beruhen, als Seele, als Ich. Als Seele regiert der atman den ganzen Korper und wird dann von diesem auf die Welt iibertragen: die Einzelseele weitet sich zur Weltseele. Brahman und atman verschmelzen mit ein- ander. »Dem atman bringe man seine Verehrung, dem geistigen, dessen Leib der Odem, dessen Gestalt Licht, dessen Selbst der Ather ist, der sich Gestalten bereitet, welche er will, dem gedankenschnellen, voll rechten Wollens, voll rechten Haltens, alien Duftes, alien Saftes Ursprung, der nach alien Weltgegenden dringt, der durch dies All reicht, 1) Eine Shnlichc Entwicklnng wie sie der Bcgriff des Logos durchgemacht hat.
2) Eine genauere Darstellung des Wesens des brahman-atman sowie eine Rechtfertigung der Bezeichnung desselben als Ding-an-sich ist einem spateren § aufgehoben. Hier sollte nur die Thatsache einer metaphysischen Kraft konstatiert werdcn. 3) Deussen a. a. O. p. 209. 4) Deussen a. a. O. p. 210. 5) ib. p. 139. 6) Oldenberg a. a. O. p. 26. |
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wortlos, achtlos. So klein wie ein Korn Reis oder Gerste
oder Hirse oder ein Hirsenkern, also weilt dieser Geist im Ich; golden, wie ein Licht ohne Rauch, so ist er; weiter denn der Himmel, weiter denn der Ather, weiter denn diese Erde, weiter denn alle Wesen; er ist das Ich des Odems, er ist mein Ich (atman); mit diesem atman werde ich, wenn ich von hinnen scheide, mich vereinigen. Wer es also meint, wahrlich, da ist kein Zweifel. So sprach CandilyaK.1) Und weiter spricht Yajfiavalkya, der Weise der indischen Vorzeit, in der Brihadaranyaka-upanishad: »Er aber, der atman, ist nicht so und nicht so (neti, neti). Er ist un- greifbar; denn er wird nicht gegriffen, unzerstorbar; denn er wird nicht zerstort; unhaftbar; denn es haftet nichts an ihm; er ist nicht gebunden, er wankt nicht, er leidet keinen Schaden.» ') Gleich dem brahman ist also auch der atman unfahig, in die Formen des menschlichen Erkenntnisvermc3gens einzu- gehen. Der Mensch wird brahman und das Weltall atman. »Wem in des Lcibs abgriindlicher Befleckung
Geworden ist zum Selbste die Erweckung, Den als allmicbtig, als der Welten Schtipfer wisst, Sein ist das Weltall, weil er selbst das Weltall ist.« Von den Formen der Erscheinungswelt bleibt atman-
brahman frei: er ist erhaben iiber Raum, Zeit und Kausalitat. Er ist ewig, also iiber der Zeit; unmessbar gross, das Weltall erfullend, also jenseits der Schranken des Raumes, unzer- storbar, unwandelbar, also entnommen dem Anspruch des Gesetzes von Ursach und Wirkung. Daher, in allem, was lebt, ist es brahman oder atman was lebt; ganz und un- geteilt erscheint in jedem Wesen das brahman, dieses kos- mische Princip. Das einzig reale Sein des brahman ist die Einheit, weil es nicht beriihrt wird von Zeit und Raum, den Formen der Moglichkeit der Individuation und Vielheit. Nur der Blick, den der Schleier der maya verwirrt, kann im Nebenmenschen, im Tier, in der Pflanze nicht dasselbe Wesen erkennen, das des eigenenWesens Wesen ist. Und doch mussen wir zu allem, was da lebt, sagen: »tat tvam ask, »das bist Du«. — — Das Ding-an-sich, das brahman, der 1) ib. p. 31. 2) Deussin a. a. O. p. 211.
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atman ist das einzig Reale. Einheitlich, ohne Attribute,
ewig, unerkennbar ist das brahman allein das Seiende, dem kein Wechsel anhaftet. In uns erscheint es seinem gesamten Wesen nach; das besagen die Worte: »aham brahma asmi« = »ich bin brahman.« Auf dem brahman beruht die ganze Welterscheinung. Aber nur die Einheit des brahman ist im hochsten Sinne real; was als Vielheit erscheint, ist nicht wirklich, ein Trug. Die ganze Welt, und in ihr wir mit, ist ein solcher Trug; denn sie ist nicht einheitlich, sondern eine bestandige Kette von Ursache und Wirkung. Es giebt nur eine Seele, die nichts anderes ist als das Ding-an-sich, und wenn wir eine unendliche Zahl von individuellen Seelen zu erblicken glauben, so ist das Trug und Schein. Diese eine Seele kann, als den ganzen Raum fullend, nicht als wandernd gedacht werden, also ist auch der samsara Illusion. Also ist auch fernerhin der Unterschied zwischen Gotter-, Menschen-, Tier- und Pflanzenseelen nichtig. Das seinem Wesen nach aus reinem Sein und reiner Geistigkeit bestehende Ding-an- sich, das brahman, ist einzig und allein das Wirkliche, Wahrhaftige. Die Lehre vom »grossen, ungeborenen Selbst« ist der
Grundstein der brahmanischen Metaphysik, und diese der Grundstein des gesamten Brahmanismus. Wir sehen, wie sich unmittelbar an jene Lehre der indische Idealismus an- schliesst. Und so konnen wir aus ihr zwanglos ableiten, was immer fur das indische Denken charakteristisch ist. So den Pessimismus; so den Atheismus. So vor allem die Lehre von der Erlosung, moksha, indem diese eben in nichts anderem besteht als in der Erkenntnis des atman als Ding- an-sich, womit unweigerlich die Erkenntnis der hinfalligen Nichtigkeit dieser ganzen Welt verbunden ist, als einer Welt, der die absolute Realitat mangelt. Aber selbst im indischen Volk, das wie kaum ein zweites metaphysisch veranlagt war, ist die Lehre vom brahman als dem All-Einen nur we- nigen, nur den ganz abstrakt Denkenden ein bequemes Gebiet gewesen. So sehr sich auch das ganze Volkstum fiir philosophische Spekulation empfanglich zeigt ■—■ es war Gebrauch, dass jeder Jiingling aus den drei arischen Kasten |
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als brahmacarin, d. i. als Brahmanenschiiler den grossten
Teil der Jugend hindurch bei einem Brahmanen sich mit dem Veda vertraut machte, — so erwies sich doch fiir die breite Masse die metaphysische Lehre vom brahman als dem Ding-an-sich als zu wenig konkret. Der naive Mensch kann nur schwer iiber den Realismus hinaus, vor allem muss es ihn befremden, wenn ihm sogar der eigene Korper als ideal in das Gebiet der blossen Vorstellung verwiesen wird, und die Schmerzen, unter denen er leidet, nur illusorisch, ihn nicht treffend sein sollen. Die »hohere Wissenschaft,« die para vidya, die reine Metaphysik ist nur fiir den Philo- sophen; das Volk verlangt nach einer ihm adiiquateren Lehre, und diese bietet ihm die apara vidya, »die niedere Wissenschaft.« Was das Vedanta-System so ausnehmend interessant
macht, ist die merkwiirdige Vereinigung, in der hier eso- terische und exoterische Lehre erscheinen. Auf der einen Seite eine durchgebildete Metaphysik, auf der anderen cine fassliche Volksreligion, beide teils streng geschiedcn, teils einander voraussetzend. Die para vidya hat zum Gegenstand das param brahma, das »hohere brahman«, wie wir es als attributloses Ding-an-sich kennen gelernt; der apara vidya gehort das »aparam brahma« an, das »niedere brahman«, auch »sagunam') brahma, savicesham8) brahma* genannt. Dieses brahman ist nicht Gegenstand der Erkenntnis, sondern der frommen Verehrung. Es erscheint als mit Attributen und Bestimmungen behaftet, als personlicher Gott. Im Comentare Cankaras heisst es: »Giebt es denn zwei brah- mans, ein hoheres und ein niederes? Allerdings giebt es zwei--------Was ist denn das hohere brahman, und was das
niedere? Darauf antworten wir: wo unter Abwehr der durch
das Nichtwissen gesetzten Unterschiede von Namen und Gestalten das brahman durch die3) Ausdriicke: »nicht grob und nicht fein, nicht kurz und nicht lang« bezeichnet wird, da ist es das hohere. Wo hingegen ebendasselbe zum Be- hufe der Verehrung bezeichnet wird als unterschieden durch irgend einen Unterschied z. B. in Worten wie: »Geist ist 1) attributhaft. 2) unterschiedhaft. 3) bloss negativen.
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sein Stoff, Leben sein Leib, Licht seine Gestalt,«, da ist es
das niedere. «x) Das niedere ist gemeint, wenn es bezeichnet wird als »allwirkend, allwiinschend, allriechend, allschmeckend, das All umfassend, schweigend, unbekummert«z,) welche Bezeichnungen alle besondere Bestimmungen des brahman voraussetzen; ebenso: »Sein Haupt ist Feuer, seine Augen Mond und Sonne, die Himmelsgegenden die Ohren, seine Stimme ist des Veda Offenbarung. Wind ist sein Hauch, sein Herz die Welt, aus seinen Fiissen Erde.«s) Das hohere, attributlose, einheitliche brahman, das Ding-an-sich, ist eingegangen in die Formen menschlichen Erkennens und hat Namen und Gestalt angenommen. Im tiefsten Grande freilich ist auch das aparam brahma nichtig; die apara vidya, die niedere Wissenschaft, ist doch nur avidya, d. i. Nicht- wissen. Das einzig existierende hohere brahman wird durch die Bestimmungen, die ihm der in der avidya, im principium individuationis befangene Geist beilegt, wodurch eben es sich als niederes brahman darstellt, so wenig afficirt, wie ein Kristall dadurch in sich unklar wird, dass man ihn mit Farbe bestreicht. In der eigentlichen Metaphysik giebt es also gar kein niederes brahman; dasselbe hat in der Gestalt eines personlichen Gottes seine Geltung nur in der apara vidya, der Volksreligion. Der Vedanta kann aber als or- thodoxes, an die Autoritat des Veda gebundenes System das aparam brahma nicht vernachlassigen; er muss, weil der Veda es befiehlt, neben der Schopfung auch den Schopfer gegen sein besseres Wissen anerkennen und glaubt sich aus diesem fatalen Dilemma durch die Annahme zweier Lehren ziehen zu konnen, einer esoterischen und einer exoterischen, denen beiden Berechtigung zukommt, dieser eine relative, jener eine absolute. 2. Im Buddhismus.
Wahrend demnach der Brahmanismus ein vollstandiges Gebaude der Metaphysik aufgefuhrt hat, sehen wir uns im Buddhismus vergeblich nach einer derartigen positiven Meta- physik um. Alle die Begriffe, aus denen eine solche sich 1) Deussen a. a. O. p. 123. 2) Deussen a. a. O. p. 164 nach den Worten des Candilya
n der Chandoya-up. 3,14. 3) Deussen nach Mundaka-up. 2, 1, I. a. a, O. p. 142. |
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aulbaut, haben hier ihre Giiltigkeit verloren: Sein, Substanz,
Scele. »An eine Zweiheit, o Kaccana, pflegt diese Welt sich zu halten, an das »Es ist« und an das »Es ist nicht«. Wer aber, o Kaccana, in Wahrheit und Weisheit es anschaut, wie die Dinge in der Welt entstehen, fur den giebt es kein »Es ist nicht* in dieser Welt. Wer, o Kaccana, in Wahrheit und Weisheit es anschaut, wie die Dinge in der Welt vcr- gehen, fur den giebt es kein "Es ist" in dieser Welt*1) Fur den absoluten Idealismus Buddhas giebt es, wie wir oben ausfuhrten, nurein Geschehen, einununterbrochenesWerdenund Vergehen, und zwar von Leiden, das ubrigens an kein Substrat gebunden ist. Alle Erscheinungen der Welt, die sankhara, die »Ge- staltungen« sind fliichtig und nichtig. Eine ewige Flut von Wechsel und Veranderung — aber wo die Quelle dieser Flut liegt, darnach fragt Buddha nicht. Eine wesenlose, hin- fallige, leidenerfiillte Welt — aber wie diese Welt entstanden ist, das hat fur ihn kein Interesse. Woher das Leiden iiber- haupt in die Welt gekommen ist, erscheint ihm durchaus belanglos; sein Augenmerk richtet sich allein darauf, dass Leiden wirklich da ist. Leiden und Welt sind identisch, aber: »Ihr Jiinger, denkt nicht Gedanken, wie die Welt sie denkt: »Die Welt ist ewig oder die Welt ist nicht ewig, Die Welt ist endlich oder die Welt ist unendlich.« Wenn ihr denkt, ihr Jiinger, so mogt ihr also denken: »Dies ist das Leiden;« ihr mogt denken: »Dies ist die Entstehung des Leidens;« ihr mcigt denken: »Dies ist die Aufliebung des Leidens;« ihr mogt denken: »Dies ist der Weg zur Auf- hebung des Leidens,«'2) Fiir den praktischen Sinn des Buddhisten hat die Frage keinen Wert, ob hinter den sankhara ein wesenhaftes Prinzip ruhe. Er kiimmert sich allein um die diesseitige Welt; er kennt keine jenseitige Welt, deren fliichtiger Schatten die diesseitige sei; er schreitet nicht hinaus aus der Erscheinungsfulle zu einem Reich, wo die Wurzeln der Erscheinung lagen, wo das Ding-an-sich in bleierner Ruhe thronte.3) Ueber der Folgerung, die er 1) Oldenbarg a. a. O. p. 270. 2) Oldenberg a. a. O. p. 273. 3) Dass Nirvana nicht
das Reich des Dinges-an-sich ist, sondern mit dieser Weit durchaus nichts zu thun hat, ist § 18 ausgefiihrt worden. |
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aus seinem nackten Idealismus gezogen hat, iiber der That
sache des absoluten Pessimismus vergisst er die Frage nach dem Creditiv aller Wesen. Ueber der ethischen Frage des Pessimismus vernachlassigt er die Metaphysik. Er steht mitten in dieser Welt, so nichtig sie auch sein mag, und schaut allein auf sie als eine qualvolle, jammervolle, elende. Was er weiss, ist allein dieses: alle sankhara sind nicht Sein, son- dern nur Wechsel, und darum auch leidvoll. Da nur hort das Leid auf, wo auch die Unbestandigkeit schwindet, wo kein Wechsel, sondern ewige, selbstgenugsame Ruhe ist, im nirvana. Dieses nirvana ist das Ungestaltete, Unbewegte, ■— mit dem Reich des Bewegten hat es nichts zu thun. So wird die Welt in alien ihren Gestaltungen, mit ihrem end- losen Leiden als eine bittere Thatsache hingenommen; man fragt nicht, woher sie sei, ob eine metaphysische Kraft sie gebildet hat und erhalt. Das Wort brahman, das dem Brahmanismus alles war, ist dem Buddhisten ein leerer Schall. Diese Tendenz des Buddhismus, die ihn von aller Metaphysik abwendet, ihn zur praktischen Religion mit vor- wiegend ethischen Interessen gestaltet, ist cs also, die der Concipierung eines Dinges-an-sich hindernd in den Weg tritt. Dann aber ist ein solches uberhaupt unmoglich infolge des absoluten Phanomenalismus.1) Es giebt ja in dem ganzen Universum nichts, das nicht dhamma oder sankhara ware. Es ist ja nirgendwo ein reines, ewiges Sein zu konstatieren, sondern immer nur der anfang- und endlose Komplex des Geschehens, zusammengehalten durch das Band einer autonomen Kausalitat. Sankhara ist auch der Geist, das Erkennen, die Seele; auch der menschliche Intellekt ist ein wechselvolles Sich-gestalten, Entstehen und Schwinden.2) Es fehlt also der wichtigste Bestandteil zur Bildung eines meta- physischen Prinzips: die unwandelbare Geistigkeit. Die Welt steht nun einmal da; ihrem Ursprung und der Bedeutung ihrer fliichtigen Erscheinungen nachspiiren zu wollen, ware ein thorichtes Beginnen. Den Menschen soil nur die eine Frage interessieren, wie er dieses Dasein los werden kann, und das Komplement dieser Frage, was den Menschen an 1) Oldenberg a. a. O 268 ff. 2) ib. 274 ff.
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das Dasein festschmiedet. Und dies ist auch keine meta-
physische Kraft, sondern eine ganz und gar immanente, fass- bare, rein menschliche. »Es ist der I>urst, der von Wieder- geburt zu Wiedergeburt fiihrt.« Der Durst, das ist die Sehn- sucht nach Leben, die Freude am Leben, das Gefallen, das der menschliche Geist an dieser Welt findet und gefunden hat, nicht etwa in einer nebulosen vor- und ausserweltlichen Daseinsform, sondern eben hier, jetzt, in der Zeitlichkeit, in der Welt. Die Lust, sich schaffend und wirkend in dem Gewiihl der sankhara zu bethatigen, diese Lust fuhrt zu Thaten, die zu ihrer Siihne eine neue Geburt verlangen und dadurch den ewigen Bestand der Welt garantieren. Eine sittliche Vergeltung erkennt der Buddhismus an, aber keinen Vergelter. Denn in sich selbst tragt jede That ihre Frucht, in sich selbst die Kraft, ein neues Wesen zu gestalten. Der »Durst«, das ist der Wille zum Leben, ist die lebenspendende Macht, aber nicht als metaphysisches Urprinzip aufgefasst, sondern als moralisch-sociale Kraftbethatigung in bestimmter Form eines bestimmten Individuums. Der »Durst« bezeichnet in seiner grosseren oder geringeren Starke das umgekehrt ent- sprechende geringere oder grossere Verlangen nach Erlosung. Wo wir den Buddhismus anfassen, um ein ewiges Prin- zip, einen unbewegten Urgrund, ein Ding-an-sich zu ergreifen, da hascht unsere Hand nur den wesenlosen Schaum der sankhara, der von selbst in nichts zerrinnt. Das nirvana, jene selige Statte, wo allein Ruhe und Frieden herrscht, steht absolut iiber der Welt der sankhara, ohne irgend wie mit ihr verbunden zu sein oder sich gar, wie die Welt des brah- man gemass dem Vedanta, in der Erdenwelt zu manifestieren. Der »Durst«, der die wandernde Seele im samsara festhalt, und das »Erkennen«, das, wie wir sehen werden, die wan- dernde Seele konstituiert, beide sind nicht Ding-an-sich, son- dern gleich allem andern dhamma und sankhara. Das einzige Absolute und Konstante ist das Kausalitatsgesetz. Dieses ist nicht sankhara; denn es schwebt als Leiter iiber ihnen. Es lautet »Aus dem Nichtwissen entstehen die Gestaltungen (sankhara); aus den Gestaltungen entsteht Erkennen (viflflana); aus dem Erkennen entsteht Name |
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und Korperlichkeit1); aus Namen und Korperlichkeit ent-
stehen die sechs Gebiete2); aus den sechs Gebieten ent- steht Beruhrung8); aus der Beruhrung entsteht Empfindung; aus der Empfindung entsteht Durst (oder Begierde); aus dem Durst entsteht Haften (an der Existenz; upadana); aus dem Haften entsteht Werden (bhava); aus dem Werden entsteht Geburt; aus der Geburt entsteht Alter und Tod, Schmerz und Klagen, Leid, Kummernis und Verzweiflung. Dieses ist die Entstehung des ganzen Reiches des Leidens.«4) Dieses Gesetz enthalt zunachst nichts weiter als die Norm, nach der das Leben des einzelnen Menschen aus einer Daseins- form in die andere iibergeht. Es giebt die Kette der Ur- sachen und Wirkungen an, die zuletzt den »Durst«, von dem wir oben sprachen, herbeifiihren, und dann weiterhin die Folgen, die sich an den »Durst« anschliessen. Es ist dem- nach das ethische Gesetz, das mit jeder That ihre Vergel- tung verkniipft. Es ist das Gesetz des Mikrokosmos. Auf den Makrokosmos weiterhin beziehen kann es nur unsere Interpretation, vielleicht nicht ganz im Sinne Buddhas, der, wie mehrfach betont, kosmologischen Problemen keine Teil- nahme entgegenbringt. Wir miissen aber das ethische Grund- gesetz zu einem kosmisch - metaphysischen enveitern; denn indem es fur jede That ihre Stihne verlangt, so verlangt es eben dadurch auch einen Schauplatz, auf dem die Siihne sich vollziehen kann, namlich die Welt. So glauben wir also berechtigt zu sein, die Machtsphare des Kausalitatsge- setzes uber den Mikrokosmos hinaus auch auf den Makro- kosmos sich erstrecken zu lassen. So beherrscht also das Kausalitatsgesetz die ganze Welt; so ist dieses Gesetz die einzige Macht in der Welt, die sich behauptet. Es ist sehr bezeichnend fur den Buddhismus, dass er das Konstante nicht in einer Substanz sieht, sondern in einer Regel, nach der alles Geschehen sich richtet, die zu befolgen, das allei- nige Wesen der Erscheinungen ausmacht. Wenn wir dem 1) Die bestimmte Personlichkeit beim Akt der EmpfKngnis. Oldenberg a. a. O. p.
244 f. 2) Die Gebiete der sechs Sinne und ihrer Objekte, wobei neben den auch von uns angenommencn 5 Sinnen das Denken (mano) mit den Gedanken als seine Objekte als sechstcr Sinn gezahlt wird. ib. p. 251 f. 3) Zwischen den Sinnen und ihren Objekten- 4) ib. p. 240 ff. Ucoer die Kausalitiitsformcl cf. § 10. |
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Buddhismus irgendwie eine Mctaphysik zusprechen wollen,
so kann sie allein im Kausalitritsgesetz liegen. Aber audi so ist, wie schon oben gesagt, dieses allordnende Gesetz keine Veritas aeterna schlechthin. Zwar beherrscht die Kau- salitat den Menschen, aber umgekehrt beherrscht der Mensch auch die Kausalitat. Denn der Mensch kann ihr Einhalt ge- bieten. Wenn der Mensch den »Durst« vernichtet, wenn er aufhort zu wollen, zu begehren, dann ist der leidvolle Fluss der sankhara fiir immer gehemmt, dann hat das Kausalitats- gesetz seine Giiltigkeit verloren, dann schwindet die Welt. Der Mensch erscheint also recht eigentlich als Trager der Welt. Hier ist der buddhistische Subjektivismus bis auf den letzten Grund vertieft: weil ich es will, darum ist das Uni- versum mit Sonnen und Erden; es ist nicht, wenn ich es nicht will. Aus dem menschlichen Willen, dem mensch- lichen Begehren schopft das Kausalitatsgesetz seine Giiltig- keit und widerspruchlose Kraft. Nach dem Brahmanismus wird die Ausbreitung der Sinnenwelt in »Namen und Ge- stagen* hervorgerufen durch eine falsche Erkenntnis; nach dem Buddhismus durch einen falschen Willen. Dieser somit hat das Problem ungleich tiefer aufgefasst.l) Wir betonen es zum Schluss noch einmal, dass vor dem
buddhistischen Idealismus kein Ding-an-sich besteht. Bei alien Untersuchungen iiber das Ding-an-sich in der indischen Philosophic konnen wir uns daher nur auf die in dem Ve- danta niedergelegte Dogmatik des Brahmanismus beziehen. — 3. Bei Schopenhauer.
Wir behandeln das Problem des »Dinges-an-sich.« Scho-
penhauers Metaphysik kennt bekanntlich ein solches. Er tritt also neben den Brahmanismus. Aber in Beziehung auch zum Buddhismus. Denn was dieser »Durst« nennt und nur fiir ein dhamma nimmt, hat Schopenhauer im »Willen« zum Ding-an-sich potenziert. Was ist das »Ding-an-sich«, das ewig, unveranderlich
aller Erscheinung zu Grunde liegt? Dessen Abbild und 1) Ueber die Rolle, die die falsche Erkenntnis. des ^Nichtwissentf, die avidy& im
Buddhismus spiclt, cf. § 19. |
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Spiegel nur diese sichtbare Welt ist? Was heisst iiberhaupt
»an sich« sein? »An sich« sein, antwortet Schopenhauer, heisst unabhangig von unserer Wahrnehmung vorhanden sein;1) fur andere sein heisst vorgestellt werden, Erscheinung, Ob- jekt fur ein Subjekt sein.2) Das Ding-an-sich ist somit durch- aus nicht Erscheinung, Vorstellung, sondern toto genere von ihr verschieden,3) Wir mussen also, wenn wir zum Ding-an- sich gelangen wollen, von alle dem, was den Komplex der Erfahrung ausmacht, das abziehen, was unser Intellekt dazu gethan hat, was ureigenes Besitztum unseres Intellekts ist. Dieses Besitztum unseres Intellekts — hier spricht der Schiiler Kants — sind die aprioristischen Formen unseres Verstandes: Zeit, Raum und Kausalitat.4) Diese drei Verstandesformen sind demnach in Abzug zu bringen, wenn wir das Ding-an- sich iibrig behalten wollen. Wo aber kann das geschehen, da wir ja doch nie aus uns herauskonnen? Kant hielt in- folgedessen die Aufgabe fur unmoglich, das Ding-an-sich rein aus der Erscheinungswelt herauszudestillieren. Schopenhauer glaubt die Aufgabe gelost zu: haben. Er
hat einen neuen Weg eingeschlagen, der durch das^Innere des Menschen in das Innere der Natur fiihrt. »Der Weg,« schrieb Joh. Gottlob von Quandt 1849 an Schopenhauer, »welchen Sie vom Realen zum Idealen gefunden^haben,1 .ist eine grossere Entdcckung als die, welche von den Portu- giesen gemacht wurde, dass man iiber das Weltmeer von Europa nach Indien gelangt.«5) Schopenhauer geht aus vom Selbstbewusstsein.6) Unser
Selbstbewusstsein ist eine Vorstellung. Wie jede Vorstellung zerfiillt es somit in Subjekt und Objekt, ist also nicht schlecht- hin einfach. Das Erkennende ist hier der Intellekt, wie iiber- all, selbst nicht zu erkennen. Das Erkannte ist der Wille. Die Einheit beider, das unmittelbare Zusammenfallen von Subjekt und Objekt ist das Wunder **z e?oyr)v.7) Der Wille 1) Parr-rga II p. 96. 2) W. a. W. u. V. II. p. 8. 3) W. a. W. u. V. I p. 41, ib.
p. 131. Kritll: der Kantischen Philosophic p. 517. W. a. W. u. V. II. p. 216. Parerga II, KapitellV: Einige Retrachtungen liber den Gcgcnsatz des Dinges an sich und der Erschei- nung. 4) W. a. W. u. V. I p. 134, ib. p. 144 u. 5. 5) Wilh. Gwinner. a. a. O. p. 522. 6) W. a. W. a. V. I p. 118 f. Vierf. Wurzcl p. 140 f. 7) Vicrf. W. p. 143; W. a. W. a. V. I P. 121; ib. p. 296. W. a. W. u. V. II p. 226. 4
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nun ist das Bleibende in uns, das Erste, PrimSre, das nicht
ermiidet, nicht altert und nicht stirbt. Der Wille ist der Kern unseres Wesens. Der Korper ist die Objektitat des Willens, das heisst der in die Erscheinung getretene, sichtbar gewordene Wille.1) Willensakt und Korperaktion sind nicht etwa durch Kausalitat verbunden, sondern unmittelbar das- selbe, in dem die Korperaktion Erscheinung des Willensaktes ist und sich zu ihm verhalt wie jede Erscheinung zum Ding- an-sich. In den einzelnen Korperteilen manifestieren sich die Hauptbegehrungen des Willens; sie sind der sichtbare Ausdruck derselben. Zahne, Schlund und Darmkanal sind der objektivierte Hunger; die Genitalien der objektivierte Geschlechtstrieb; die greifenden Hande, die raschen Fiisse entsprechen dem schon mehr mittelbaren Streben des Willens, welches sie darstellen.2) In unserm Selbstbewusstsein hat Schopenhauer das er-
losende Wort gefunden, das uns die Geheimnisse des Kos- mos aufhellt. Denn ist im Menschen das Urspriingliche, Radikale der »Wille«, so muss auch der Kern des Tieres im »Willen« beruhen, so muss auch der Korper der Tiere Willensobjektitat sein. Weiterhin muss aber eben die Kraft, die den menschlich-tierischen Leib gebildet, die Tier und Mensch sich ernahren und fortpflanzen heisst, auch in Baum und Blume zum Lichte treiben; es muss dieselbe Kraft sein, die in der Pflanze Bliite, Frucht und Samen erzeugt. Nur ein Schritt von hier ist es zur Erkenntnis, dass auch die an- organische Welt vom »Willen« beherrscht wird. Wille ist die Gravitation, Wille die Elektrizitat, Wille sind alle die Naturkrafte, die auf dem weiten Felde der anorganischen Welt ihr Spiel treiben.8) Wille, das heisst: Drang und Streben, Wille zur Selbstbethatigung, zum Dasein, zum Leben. Der Wille ist das Ding-an-sich, das jeder Erscheinung zu Grunde liegt; er ist die natura naturans der Welt, im Gegensatz zur natura naturata der Erscheinung. Er selbst ist einer und un- teilbar; aber seine Objektivation oder Sichtbarkeit hat ver- 1) W. a. W. u. V. I p. 119; ib. p. 126 ff. W. a. W. u. V. II p. 277; ib. p. 280 ff.
Wille in der Natur p. 34 ff. u. 8. 2) W. a. W. u. V. I p. 129. 3) W. a. W. u. V. I § 23 p. 134. |
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schiedene Grade. Obgleich er in jeder Erscheinung ganz
und ungeteilt zugcgen ist, ist doch ein hoherer Grad von Sichtbarkeit in der Pflanze als im Stein; im Tier ein hoherer als in der Pflanze; ja, sein Hervortreten in die Sichtbarkeit, seine Objektivation, hat so unendliche Abstufungen wie zwischen der schwachsten Dammerung und dem hellsten Sonnenliclit, dem starksten Ton und dem leisesten Nachklang sind.1) Diese verschiedenen Objektivationsstufen des Willens nennt Schopenhauer die Ideeen. Eine Idee ist mit Riicksicht auf das Ding-an-sich dessen vollstandige und vollkommene Erscheinung: die adaquate Objektitat des Willens;2) mit Ruck- sicht auf die Erscheinungen ist sie deren unerreichtes Muster- bild, die ewige Form der Dinge, feststehend, keinem Wechsel unterworfen, immer seiend, nie geworden, wahrend die In- dividuen entstchen und vergehen, immer werden und nie sind.3) — — Ein Hauptunterschied in den Objektivations- stufen besteht in dem grosseren oder geringeren Hinzutreten des Intellekts. Auf den untersten Stufen waltet der Wille erkenntnislos, als blinder, dumpfer Drang, ohne erkanntes Ziel; er steigert sich mehr und mehr durch das Pflanzenreich hindurch bis zu einem Grade, dass er zur Erhellung seiner Wege eines Lichtes bedarf, einer Fackel, die er sich im ver- standigen Intellekt der Tiere anzundet, den er weiterhin im Menschen zum verniinftigen Intellekt potenziert. Alle Krafte, die im Gesamtreich der Natur herrschen, ob chemischer oder mechanischer Art, oder als Lebenskrafte, alle sind Bethati- gungen des einen Willens, der im Menschen, auf der h6ch- sten Stufe seiner Objektivation, dank der Erkenntnis zum Bewusstsein seiner selbst kommt und sich selbst erkennt.4) Der Wille ist das Urprinzip alles Lebens. David Asher,
einer der ersten Schuler Schopenhauers, wies dem Meister, eben nicht zu dessen Ergotzung, zwei Vorganger nach, den spanisch-jiidiscnen Philosophcn Salomon Ibn Gebirol, einen Neuplatoniker um 1050,6) von den Scholastikern Avicebron 1) W. a. W. u. V. I p. 152. 2) W. a. W. u. V. I p. 191; ib. § 32, p. 205: ib. p. 211.
W. a. W. u. V. II Kap. 29: Von der Erkenntnis der Ideeen. p. 415. 3) W. a. W. u. V. I p. 154 ; ib. p. 206. 4) W. a. W. u. V. II p. 329 f. Willen in der Natur p. 74 ff. 5) Uberweg. Heinze, Geschichte der Phi'.osophie II7 p. 212 fV. K. Fischer: Gcschichte dee neueren Philosophic VIII. p. 106. |
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genannt, und Madame de Stael, in ihrem Buche: De l'Alle-
magne.1) Wir konnen als Vorganger Schopenhauers in der Lehre vom Willen als Urprinzip audi Joh. Scotus Erigena nennen. Nach ihm ist das »Nicht«, das ist die Urmonas, als die Potenzialitat alles Seienden Verlangen, Willen, in's Da- sein zu treten.2) Der Wille ist das Ding-an-sich, erhaben iiber Raum, Zeit und Kausalitat, welche Formen nur seinen Erscheinungen zukommen. Nicht einmal in die allgemeinste Form der Erkenntnis: Objekt fiir ein Subjekt sein, geht das Ding-an-sich ein. Objekt fiir ein Subjekt ist nie der Wille als Ding-an-sich, sondern schon als »platonische Idee«. Und geht der Wille dann fernerhin in die jener allgemeinen Form untergeordneten Formen, in Zeit, Raum und Kausalitat ein, so stellt er sich dar als Erscheinung. Nur durch Zeit, Raum und Kausalitat ist Individuation moglich, die dem Willen an sich durchaus fremd ist. Was fiir den Vedanta das brahman ist, das ist fiir Schopen-
hauer der Wille. So sehr verschieden auch beidc Begriffe ihrem Wesen nach sind,8) so ist doch vorlaufig eine Aehnlichkeit nach zwei Richtungen hin zu konstatieren. Zunachst nehmen beide Begriffe in ihren Systemen die gleiche Stellung ein. Sie sind beide Ding-an-sich, natura naturans, hinter aller Er- scheinung liegend, das Princip aller Erscheinung, die Kraft, die aller Welt Bestand und Dasein leiht. Sodann gleichen sie sich riicksichtlich ihres anthropologischenUrsprungs. Beide sind Erweiterungen von Begriffen, die ursprtinglich auf den Menschen allein Bezug hatten. Sie sind Hypostasen der beiden Korrelata, aus denen das Selbstbewusstsein besteht, im Brahmanismus eine solche des Intellekts, im Schopen- hauerianismus eine solche des Willens. Sie haben sich von der alleinigen Beziehung auf das Innere des Menschen eman- cipiert und Beziehung auf das Innere der gesamten Natur gewonnen. ■— Naher seiner inneren Bedeutung nach als das vedantistische brahman steht dem Schopenhauer'schen Willen |
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1) D. Asher: Arthur Schopenhauer als Interpret des Goetheschen Faust, p. 9. Anm.
2) Preger: Geschichte der deutschen Mystik im Mittelalter, I p. 160. Uberweg-Heinze II7 p. 130 f. 3) cf. § 8. |
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der buddhistische »Durst«, nur ist bei diesem die Hypostase
zum Ding-an-sich nicht vollzogen worden. Die Erkenntnis, die Badarayana und Schopenhauer ab-
strakt mitteilen, die Erkenntnis von der Identitat aller Wesen im mystischen Urprincip, diese Erkenntnis lasst sich auch intuitiv erlangen — und eben hierin besteht die Erlosung oder wenigstens — so nach Schopenhauer — der Weg zur Erlosung. Umgekehrt ist die Nichterkenntnis der Identitat eben das, was die Erlosung hintertreibt. Der Vedanta be- zeichnet diese Nichterkenntnis als avidya, »Nichtwissen«. Wer in den Banden der avidya liegt, nimmt in kosmologischen und psychologischen Fragen den »Standpunkt des "Welt- treibens« ein, vyavahara-avastha; er halt dementsprechend die Schranken der Individualist fur absolute, sein eigenes Wesen fur ein durchaus anderes als das seiner Mitmenschen, als das der Tiere. Das gleiche lehrt Schopenhauer. Wer nicht in- tuitiv hinter jeder Erscheinung den einen Willen erkennt, steht auf dem empirischen Standpunkt, von dem aus gesehen die empirische Realitat der Erscheinungswelt als absolut er- scheint. Wie nach dem Vedanta ein solcher Mensch in der avidya befangen ist, so nach Schopenhauer im principium individuationis. Er sieht nicht das Wesen der Dinge, das Eines ist, sondern dessen Erscheinungen, als gesondert, ge- trennt, unzahlbar, sehr verschieden, ja entgegengesetzt; er erkennt nicht, dass das Ansich seiner eigenen Erscheinung auch das der fremden ist. Und diese metaphysische That- sache gewinnt fur Schopenhauer ein machtiges ethisches In- teresse, an das der Vedanta nicht gedacht hat. Denn fur ihn fallt die avidya zusammen mit der Erkenntnis, die allem Egoismus und aller Bosheit zu Grunde liegt. Der Egoismus basirt fur Schopenhauer durchaus auf der avidya, der Meinung namlich, dass die Individuation real und das principium in- dividuationis die Ordnung der Dinge an sich sei.1) Das eben zeichnet die Schopenhauer'sche Philosophie so sehr vor ihren Geistesverwandten Altindiens aus, dass sie weder, wie der Brahmanismus, liber der Metaphysik die Ethik, noch, wie der Buddhismus, iiber der Ethik die Metaphysik vergisst. 1) W. a. W. u. V. I § 61 p. 391. W. a. W. u. V. II p. 688 ff. Ethik p. 196 ff.
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Sie ist beides. Sie kennt keinen Gedanken, dcm sie nicht
eine ethische Bedeutung abgewonne, und weiss andererseits ihre Ethik durchaus metaphysisch zu begriinden. § 7. Der Atheismus.
1. In dem V e d a n t a.
Paul Deussen lehnt eine ^Classification des Brahmanismus, dessen Dogmatik er im System des Badarayana (nach dem Kommentare Cankaras) darstellt, unter die hergebrachten Be- griffe: Theismus, Pantheismus u. s. w. mit dem Bemerken ab, dass mit derartigen landlaufigen Bezeichnungen nichts fiir das Verstandnis des inneren Wesens der brahmanisch-vedan- tistischen Weltanschauung gewonnen ware, einer Weltan- schauung, die eben unendlich holier stehe, als dass sie mit abgeblassten Schlagworten zu erreichen ware.1) Und in der That mag es als ein missliches Bemiihen erscheinen, ein religioses oder philosophisches System mit einem einzigen Schlagwort bezeichnen zu wollen, dessen enge Begriffsphare nur selten oder nie die mannigfaltigen Beziehungen umspannt, die in den betreffenden Gedankenkreisen sich in einander ver- schlingen. Unter verschiedene Gesichtspunkte gebracht, stellt jede Weltanschauung sich vcrschieden dar, und jede Welt- anschauung will eben von verschiedenen Seiten aus betrachtet werden, wahrend ein bestimmter Begriff einseitig den Be- schauer an eine bestimmte Stelle bannt. In die Tiefe, zum innersten Kern irgend welcher Religion oder Philosophic ver- mag keine allgemeine Bezeichnung zu fiihren. Oder was ist fiir das Verstandnis z. B. des Christentums durch seine Unter- ordnung unter die theistischen Religionen gewonnen, und ist etwa der tiefste Lebensnerv des Epikuraismus durch die Be- nennung: atheistische Weltansicht getroffen? — Gleichwohl halten wir daran fest, dass, rein ausserlich, rein praktisch betrachtet, jene allgemeinen Begriffe recht wohl von einigem Nutzen sind. Lassen sie auch den Schleier vor dem Aller- heiligsten ungehoben, so fiihren sie doch gewissermassen in den Vorhof des Tempels. Und zwingen sie den Betrachter zu einer einseitigen Aufnahme des Bildes, so stellen sie ihn 1) Deussen a. a. O. p. 127.
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eben dadurch auf einen festen Punkt, von dem aus sich bald
ein gesicherter Weg eroffnet. So haben alle jene Benennungen: Atheismus, Deismus, Thcismus ihren Wert, einen relativen zwar, der aber, rein praktisch genommen, nicht allzu gering angeschlagen zu werden verdient. Sie leisten nichts oder nur sehr wenig fiir wissenschaftliche Erkenntnis und sind doch fiir aussere Zwecke unentbehrlich, als feste Unterlagen gewissermassen, auf denen das Gedachtnis seine Kenntnis aufbauen kann. Und unter dieser Einschrankung diirfen wir auch fiir Brahmanismus und Buddhismus eine allgemeine Be- nennung in Amvendung bringen: beide sind atheistisch. Nur ein gereiftes, philosophisches Denken, das mit
strengster Logik seine Grundgedanken zu verfolgen wagt, kann zum Atheismus als fester Ueberzeugung durchdringen, zu einer Weltansicht, die einem personlichen Gott keine Statte im All vergonnt und den Menschen allein auf seine eigenen Krafte stellt. Der Atheismus lasst den Halt fahren, den ein naives Gottvertrauen ergriffen hat; er verschliesst sich dem Andrang des religiosen Bediirfnisses, das nach einem menschen- ahnlichen Gott als treuen Heifer verlangt, und wendet sich an kalte Abstraktionen. — Nicht mit einem Schlage ist eine solche Weltanschauung zu erreichen. Auch die indische Philosophic ist nur schrittweise zu ihr durchgedrungen — aber, was fiir sie charakteristisch ist: sie schleppt die iiberwundenen Anschauungen wie Gefangene mit sich, von Stufe zu Stufe. Der Vedanta ist atheistisch und kennt doch eine Unzahl von Gottern — eine Erscheinung, die wir iibrigens auch in der abendlandischen Philosophic finden. Man denke an den Epikuraismus, der trotz seines ausgesprochenen atheis- tischen Charakters durch eine Hinterpforte die Gottheiten der Volksreligion einfiihrt, eben der Volksreligion zu Liebe. Ebenso gcschieht's in dem Vedanta. Hier ist es der Veda, der die Aufgabe des ganzen Gotterapparates verbietet. Erst waren diese Gotter, Indra, Agni, Aditya, Vayu, Varuna, und wie sie alle heissen, die Gestalten, die in buntem Gedrange den vedischen Himmel fiillen, die hypostasierten Naturkrafte, wie die Rigveda-Samhita deutlich erkennen lasst, die personi- ficierten Elemente, an Rang und Macht gleich, dem Menschen |
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feindlich gesinnt oder zugethan. Sie trugen menschliche Ziige;
sie hassten und liebten; sie tranken auch gern und viel vom berauschenden Somatranke. Sie forderten Gebet und Opfer; sie verhiessen Schutz und Sieg. Es ist dies die Zeit des Polytheismus.1) Aus ihr stammen die Hymnen der Rigveda- Samhita. Aus dem Polytheismus schreitet die menschliche Erkenntnis zum Henotheismus. Ueber seine Mitgotter erhebt sich ein besonderer Gott, ein vor alien andern machtiger. Er vereinigt in sich die Machtbefugnisse aller andern; die Kraft, die vorher in vielen Gcstalten zersplittert war, stromt in ihm zusammen. Er ist der Schopfer, Erhalter, Vernichter des Weltalls, der prajapati = Schopfer. Neben ihm fristen als schattenhafte, in ihrer Macht beschrankte Wesen die alten Naturgottheiten ihr Dasein fort. Sie leben kaum noch im Bewusstsein des Inders und diirfen doch auch nicht sterben; denn das Vedawort, das heilige, wahre, redet von ihnen. Das also ist die zweite Stufe: neben prajapati, dem hochsten, allmachtigen Gott und Welterhalter, eine Reihe von Gotter- schemen, die von jenem beherrscht werden, gleich den Ele- menten, deren Personification sie ursprtinglich sind. Nur einen Schritt braucht das indische Denken zu thun, urn beim ausgesprochenen Theismus anzugelangen —■ aber auch nicht viel mehr, ura mitten im Atheismus zu stehen. Und fiir diesen entscheidet es sich. Der personliche Gott, der menschlich denkt und fuhlt, der sich fiirchtet und sich sehnt, wird von seinem Throne herabzusteigen gczwungen und mischt sich unter die verschwommenen Gestalten seiner friiheren Unter- thanen. An seine Stelle tritt ein Princip, eine gestaltlose Kraft, ein transscendenter Begriff. Kein Gott mehr mit der Erdemvelt entlehnten Ziigen, sondern ein metaphysischer Ge- danke, der hoch iiber alle menschlichen Vorstellungen erhaben ist. Das ist das brahman, das die ganze Welt durchwebt, das in des Menschen Brust sich als atman, als ureigenstes Selbst kundgiebt. Kein personlicher Gott mehr, sondern das |
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1) Uber dieselbe unterrichtet sehr gut: Edmund Hardy: Die vedisch-brahmanische
Periode der Religion des alten Indiens. Miinster 1893. — Die Trimurti, die Schopenhauer mehrfach erwahnt, ist iibrigens urspriinglich nicht brahmanisch; sie wurde erst spat im Am- schluss an die Buddhagestalten des Buddhismus koncipirt. |
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»Ding-an-sich«, das hintcr dem bunten Wechsel und Trug
der Erscheinungsvvelt als ewige Weltpotenz in unbewegter Ruhe verharrt. Jenseits von Raum, Zeit und Kausalitat ist brahman-atman das einzig Reale; an ihm gemessen erscheint alles empirische Dasein als Gaukelbild, als nichtig. Es giebt keine Schopfung, keine Welt, kein individuelles Ich — alles ist brahman; brahman ist das Ding-an-sich, das Zweitlose, Selige, Leidlose, Ewige. Wer sein Wesen ganz kennzeichnen will, der muss schweigen, wie es der weise Bahva that.1) Das brahman durchwaltet das Universum; es ist identisch
mit ihm. Von diesem Standpunkt aus erscheint der Ve- danta als Pantheismus. Das brahman ist ein Prinzip, die unpersonliche Weltvernunft; von hier aus stellt er sich als atheistische Weltansicht dar. Er kennt keinen personlichen Gott, dem der Mensch vertrauend sich mit Gebet und Opfer nahen konnte. Weder fordernd noch hemmend greift das brahman in die Geschicke der Gesamtheit oder des Ein- zclnen ein; es ist weder das Prinzip der Weltschopfung noch der Weltentwicklung; denn beides findet keine Stelle in dem esoterischen Mysticismus des Vedanta. Kein ewiges, ge- rechtes, weises Walten lenkt die Erde zu immer hoherer Vollkommenheit, das Menschengeschlecht zu immer schonerer Klarheit — — in stammer Ruhe thront unbewegt das All- Eine iiber dem fliichtigen Schcin der Erscheinungswelt, »schweigend, unbekiimmert«. Der Vedantist kennt keine iiberirdische Macht, die ihm mitleidvoll die Hand entgegen- streckte; er kennt keinen barmherzigen Gott; er kennt nur das brahman, das attributlose »Ding-an-sich«, keine konkrete, vom Verstand erfassbare Gestalt, nur einen abstrakten Begriff, cine Idee, die keine guten Werke und keine Verehrung fordert, sondern die allein erkannt und begriffen werden will, begriffen als das innerste Lebensprincip im Menschen selbst. Wie aber findet sich diese metaphysische Ansicht mit
den alten Gottern, vor allem mit dem prajapati ab? Man kann sie aus Scheu vor dem unantastbaren Vedatext nicht in Nichts auflosen, man muss sie weiterschleppen, trotzdem die Vorstellung eines prajapati, eines Schopfers, hinfallig wird, 1) Deussen a. a. O. p. 227.
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wenn man eine eigentliche Schopfung leugnet. Der alte
personliche Gott, der icvara, Herr, der purusha, Mann, der prajiia, Weise, oder wie sonst ihn der Inder benennen mag, wie fiigt sich diese theistische Gestalt in das atheistische System? Sie wird in das Gebiet der apara vidya, »der niederen Wissenschaft« verwiesen, und identifiziert mit dem aparam brahma in seiner Gestalt eines personlichen Gottes. Alle Vedastellen, die vom prajapati oder purusha oder icvara handeln, werden nun auf das aparam brahma bezogen. In diesem Sinne als personlicher Gott aufgefasst, ist es das aparam brahma, »das niedere brahman«, das durch Ver- kniipfung der Werke des vergangenen Daseins mit ihrer Frucht im folgenden den samsara zu keinem Stillstand ge- langen lasst, durch dessen »Gnade« die Erlosung zu Stande kommt.1) Aber die Figur des personlichen Gottes ist real nur im Sinne der avidya, des Nichtwissens, das den Trug der Vielheit und Personlichkeit noch nicht durchschaut hat. Sie gehort durchaus in das Gebiet der Erscheinungen und hat allein jene Realitat, die einer Erscheinung zukommen kann; sie ist eine Phantasmagoric, die fur den Wissenden verschwindet.2) Die para, vidya, die hohere Wissenschaft, kcnnt keine Schopfung und keinen Schopfer (prajapati), kein zu Beherrschendes und keinen Herrscher (icvara); Schopfer und Herrscher, das sind Vorstellungen, die der apara, vidya angehoren, der exoterischen Volksreligion, dariiber hinaus aber keine Giiltigkeit haben. Nicht anders verhalt es sich mit den alten Naturgottern.
Sie wohnen im hochsten Gefilde der Herrlichkeit; sie sind noch immer geistige, mit aicvaryam (= Herrschermacht, von igvara) begabte, den Elementen entsprechende Wesen8). Sie sind »Vorsteher« der Elemente; sie sind gemeint, wenn es m Veda heisst: »Die Erde sprach«, »die Wasser sprachen« .4) Auch die Lebensorgane und -funktionen haben so ihre gott- lichen Vorsteher, das Auge, der Atem u. s. w., die alle ohne sie so unbrauchbar sind wie »die Wagen ohne Ochsen«.6) Noch immer sind die Gotter vom icvara, jetzt aparam brahma, I) Deussen a. a. O. p. 90 ff. p. 442. 2) ib. p. 293 fT. 3) ib. p. 69. 4) ib. p. 70.
5) ib. p. 364 f. |
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abhjingig, aus Furcht vor welchem sie ihre Pflicht betreiben.1)
Die alte Gottervielheit, und dennoch kein Polytheismus mehr. Wie der icvara, wie das aparam brahma haben auch diese uralten Naturgotter nur noch eine Scheinexistenz, wie die Welt uberhaupt. Diese Gotter sind dem samsara unter- worfen; denn sie sind nichts anderes als menschliche Seelen, die wegen hervorragend guter Werke auf diesen hervor- ragend herrlichen Posten gelangt sind, eine besondere Form des Euemerismus. Die Unsterblichkeit der Gotter ist daher auch nur eine relative: sie bedeutet nur ein Bestehen durch langere Zeit,2) sie dauert nur eine Weltperiode, ein kalpa, hindurch, und in der neuen Welt werden andere Seelen die Rolle der Gotter iibernehmen. So sind auch nach Demokrit die Gotter nur langer als die Menschen lebende Damonen mit bloss relativer Unsterblichkeit.8) Auch die Gotter be- diirfen der Erlosung. Weil sie sich nicht eins wissen mit dem Einzig-Realen, darum sind sie der Wanderung unter- worfen, darum ist ihre Individuality nur ein Trug, ein Produkt der maya, gleich jeder individuellen Existenx. Wahr und real im hochsten Sinne ist allein das brahman.4) Die ganze bunte Erscheinungswelt ist fliichtiger Nebel. Trotz der zahllosen Gottheiten giebt es keinen Gott; es giebt uberhaupt nichts als das All-Eine, das Ding-an-sich, das »nicht kurz und nicht lang, nicht grob und nicht fein« ist, das frei von alien Attributen nur reines Sein und Er- kennen ist. 2. Im Buddhismus.
Wie es um den Atheismus in dem Vedanta bestellt ist,
haben wir gezeigt. Der denkende Menschengeist hat sich nicht damit begniigt, die Gottheiten der Vater zuriickzu- drangen, — er hat sie in ihrer individuellen Realitat fur nichtig erklart und auf eine Stufe mit den iibrigen Er- scheinungen der Welt gesetzt. Aufgeben durfte er die Gotter nicht; das verbot ihm die Ehrfurcht vor dem hoch- 1) ib. p. 180. 2) ib. p. 179. 3) Uberweg-Heinze I' p. 89. 4) »Da«, sagt die Bri-
hadaranyaka-up. »sind die Gotter Nicht-Gotter, die Vedas Nicht-Vedastc — namlich auf dem Standpunkt des Einsseins mit brahman. (Hardy: Der Buddhismus, p. 147 Anm. 31 zu p. 11)' |
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heiligen Veda, der in seinen Hymnen ihre Namen preisend
nennt; noch immcr lasst er sie wichtige Funktionen versehcn und an Macht und Wissen den Menschen iiberragen; aber auch iiber den Gottern schwebt das attributlose brahman, das ens realissimum, und driickt ihr individuelles Dasein zu einer Schattenexistenz herab. Und nun zum Buddhismus. Die Lehre des Samana Gotama verfolgt andere Ziele als die Dogmatik des Brahmanismus. Der Gedanke, der freilich schon im Brahmanismus sein finsteres Gesicht erhob, aber doch hinter anderen Betrachtungen zuriicktrat,1) der Ge- danke, dass alles Dasein Leiden sei, dringt mit ungestiimer Gewalt im Buddhismus in den Vordergrund. Vor diesem Gedanken erscheinen die subtilsten Untersuchungen brahma- nischer Denker wertlos und abgeschmackt. Alles ist Leiden; »das ist der ewige Gesang, der jedem an die Ohren klingt; den, unser ganzes Leben lang, uns heiser jede Stunde singt;« vor diesem trubseligen Gesang verstummt jeder andere Laut. Von den tausend Betrachtungen, zu denen Natur und Geist den Menschen veranlassen, gewinnt nur eine dem Buddhisten Teilnahme ab: wie es doch so gar klaglich um die ganze Welt bestellt sei, wie sie nur Qual, nur Schmerz, nur Jammer enthalte. Die Welt ist Leiden — das steht und behauptet sich im Brennpunkt des Interesses; was sie sonst noch sei — darnach wird nicht gefragt. Die atman-brahman-Lehre tritt zuriick. Der Brahmane meditierte iiber den mystischen Satz: »tat tvam asi«; der Buddhist nur noch iiber die »vier heiligen Wahrheiten« vom Leiden, seinem Ursprung, seiner Auflosung. Der Begriff der Daseinsqual, der ja auch schon im Brahmanismus zum Ausdruck gelangte, hat im Buddhismus alle anderen verschlungcn, wjihrend das Schosskind brah- manisch-vedantistischer Spekulation, die Idee des reinen Seins, kaum noch erwahnt wird. Das auf andere Zwecke gerichtete Denken hat das brahman als zwecklos und un- wesentlich fallen gelassen. Dazu kommt noch, dass eine so abstrakte Idee, wie sie das attributlose »Ding-an-sich«, das brahma nirgunam*) oder nirvicesham3), war, nur unter ver- haltnismassig wenigen, ganz besonders metaphysisch veran- 1) cf. § 14. 2) =s »attributlos«. 3) = »unterschiedloa«.
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lagtcn Denkern in ihrer reinen Gestalt sich bchaupten konnte,.
wie sie denn auch selbst zur Bliitezeit des Brahmanismus nur der para vidya, der »hoheren Wissenschaft«, der esoterischcn Lehre eigen war, als Gegenstand der Erkenntnis, indes fur die exoterische Volksreligion das brahma sagunam1) oder savicesham2) als Gegenstand der Verehrung gait, pantheistisch als Weltseele oder theistisch als icvara gedacht. So ent- wickelt sich der Begriff des Gottes Brahma, der die Idee des brahman als Ding-an-sich verdrangt. Schon im Veda erscheint dieser Gott Brahma, freilich erst in den jiingsten Partieen3), und so ist er auch dem Cankara bekannt*). Erne- weitere Entwicklungstufe ist sodann die, dass die Unend- lichkeit des einen Gottes Brahma in cine Reihe von Brahma- Gottern auseinandergelegt wird, die in verschiedenen Brahma- Himmeln ihren Sitz haben.5) Diese neuen Gotter treten zu den alten Naturgottern und nehmen dementsprechend auch deren Charakter an. In dieser Gestalt wandern sie alle in die Vorstellung des Buddhismus hiniiber, dem besonders Brahma Sahampati6) eine vertraute Figur wird. Aber der Buddhismus tibernimmt nicht allein aus der Geistesarbeit der Vorgenerationen jene Gottervielheit, sondern auch die durchaus athcistische Grundstimmung. Einen wirklichen Gott, ein ewiges, allmachtiges, allgiitiges Wesen zu bilden, von dem das Universum geschaffen und erhalten wird, — das lag nicht in der Absicht des Buddhismus. Was sind seine Gotter? Was sind »die drei und dreissig Gotter und die Yama-Gotter, die "freudenreichen Gottheiten", die "Gotter, die eigenen Schaffens sich freuen", die "gebietenden Gotter"?« Nichts weiter als avancirte Menschenseelen, im Kreislauf der Me- tempsychose befangen. Sie begehren in ihrem Gcitterdasein noch mit gleicher Starke, als wie sie einst als Menschen oder gar Tiere begehrt haben, und darum kehren sie wieder in die Gewalt des Todes zuruck. Sie altern und kranken, sie sind leidvoll und verganglich; ihre Allmacht ist beschrankt, 1) = »attribulhaft<'. 2) m= »unterschiedhafttf. 3) Oldenberg a. a. O. p. 28 Anm. 1
4) Deussen a. a. O. p. 176. 5) Oldenberg a. a. O. p. 61 f. 6) Oldenberg a. a. O. p. 132_ Anm, 1. ^Sahampati ist bei den Buddhisten der stehende Beiname des bochsten Brahman das Wort ist nicht mit Sicherheit zu erklaren.« Vergl. uber die buddhistischen devas auch. E. Hardy: Buddhismus p. 18, 19; uber Brahma Sahampati ib. p. Anm. 50. |
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Machtiger als sie ist der Mcnsch, der Buddha, der die Er-
losung vom Tode gefunden hat; denn »in der Welt samt den Himmeln ist Niemand, der ihm gleich sei^1) Mit Neid blicken sie auf den, der die Erlosung erlangt hat; »den also Vollendeten beneiden die Gotter selbst.«2) Sie steigen aus ihren Himmeln, den Weisen zu ehren.3) Sie kommen, um der Predigt des Erhabenen zu lauschen; denn sie bediirfen der Erlosung.4) Der buddhistische Idealismus ist die Grundlage des
buddhistischen Atheismus. Wo die ganze Welt, wo jede Seele nur sankhara ist, da ist nirgendwo die geschlossene Personlichkeit eines Gottes anzutreffen. Darum ist der buddhis- tische Atheismus auch entschiedener, als der vedantistische in demselben Mass, wie sein Phanomenalismus absoluter ist als der des Vedanta. Denn seine Gotter sind wirklich nur Schein, wahrend in dem Vedanta nur die Individualisierung ein Trug ist. Wozu bedurfte iibrigens auch Buddhas Religion eines Gottes, eines nach Gerechtigkeit belohnenden und stra- fenden Wesens? Durch sich selbst kommt dem Menschen die Erlosung von dem peinvollen Druck des Daseins; in sich selbst findet er den Weg, der aus dem Irrsal der Qual in das selige nirvana fiihrt. Eigener Kraft verdankt er seine Rettung. — Vor allem miissen wir den buddhistischen Atheismus durch den Pessimismus motivieren. Trostlos schaut der Buddhismus in das Getriebe der Welt als in ein zweck- und zielloses Auf und Nieder inhaltleerer Schatten. Wie bunt auch die Erscheinungen in unendlichem Fluss sich drangen mogen, kein Ende ist abzusehen in diesem wilden Wechsel. Von Ewigkeit zu Ewigkeit wandern die Seelen, und der Thranen, die von ihnen vergossen wurden, weil ihnen zu Teil wurde, was sie hassten, und nicht zu Teil wurde, was sie liebten, der Phranen ist mehr als alles Wasser, das in den vier grossen Meeren ist. Und wozu der Jammer, wozu die Qual? »Zu nichts!« Eine entsetzliche Antwort. Kein Zweck, kein Ziel ist irgend wie abzusehen; kein Gut ist zu erlangen, kein Gliick zu gewinnen. Wer sich nicht in das 1) Oldenberg a. a. O. p. 353. 2) ib. p. 239. 3) ib. p. 132; p. 169 Anm. 1. 4) ib.
p. 143. |
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nirvana zu retten vermag, wird weiter geschleudert im mono-
tonen Kreislauf der Existenzen in alle Ewigkeit. Kein Gott, der mit gcrechten Handen das Lebenslos verteilte. Der Mensch ist sein eigener Gott, sich selbst nur fur sein Schicksal verantwortlich. Es giebt keine Weltemvicklung, kein Ziel, dem die Menschheit in froher Weltarbeit zustreben sollte, und so giebt es keine ewige Macht, die ein solches Ziel hatte setzen konnen.1) — 3. Bei Schopenhauer.
Wir sehen, trotz der Vielzahl ihrer Gotter sind das Ve-
danta-System und der Buddhismus atheistisch, ersteres als Philosophic, letzterer als Religion. Mit Genugthuung hat Schopenhauer konstatiert, dass sogar einer Religion der Be- griff des Theismus nicht wesentlich ist: »Dies bezeugt die auf Erden am zahlreichsten vertretene Religion, der uralte, jetzt 370 Millionen Anhanger zahlende, hochst moralische, ja asketische, sogar auch den zahlreichsten Klerus ernahrende Buddhaismus, indem er einen solchen Gedanken nicht zulasst, vielmehr ihn ausdrucklich perhorrescirt, und recht ex professo, nach unserem Ausdruck, atheistisch ist.»a) An vielen Stellen weist er in ahnlicher Art auf den indischen Atheismus hin.8) Ueberhaupt, was ist Atheismus ? Was ist Theismus ?
"Was ist Gott ? Theismus ist die Annahme, dass eine von aussen ordnende
Intelligenz nach Zwecken und Begriffen die Welt zu Stande gebracht habe.4) Das Wort »Gott«, ehrlicher Weise gebraucht, bezeichnet eine von der Welt als ihre Wirkung getrennte Ursache, mit Hinzufiigung der Personlichkeit.5) Wo ein solcher von der Welt getrennter personlicher Gott geglaubt wird, da ist Theismus; wo nicht — Atheismus. Darum ist aber der Atheismus noch nicht identisch mit dem Materia- lismus.6) Der Atheismus leugnet einen personlichen Gott, 1) Die indischen Religions- oder Philosophiesysteme sind atheistisch; wo aber in
spiiteren indischen Sekten der Gedanke eines einzigen personlichen Gottes auftaucht, der ausschliessliche Verehrung beansprncht, da ist christlicher Einfluss anzunehmen. Weber: Ind. Studien. I p. 423. 2) Parerga I p. 124. 3) So: Vierf. Wurzel p. 125 ff. Willen in der Natur. Kap.: Sinologie. Parerga I p. 138. Parerga II p. 238 Anmerk. u. o. 4) Kritik der Kantischen Philosophie p. 608. 5) Vierf. Wurzel p. 13. 6) Kritik der Kant. Philos. p. 608. |
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der Materialismus die Metaphysik. Materialismus ist die ab-
solute Physik. Gegen sie wendet sich Schopenhauer mit aller Entschiedenheit.1) Seine Philosophic ist atheistisch, aber nicht materialistisch. Es liegt gewissermassen im aprioristischen Begriff der
Philosophic, dass sie atheistisch ist. Denn was ist es, das die Philosophic sucht? Sie sucht Aufklarung iiber die Welt, nicht iiber Gott. Die Philosophic ist Weltweisheit; ihr Problem ist die Welt; mit dieser allein hat sie es zu thun und lasst die Gotter in Ruhe, erwartet aber dafiir, auch von ihnen in Ruhe gelassen zu werden.2) Sie kann nirgends mehr thun, als das Vorhandene deuten und erklaren ;8) sie fragt nicht nach dem Woher? undWohin? und Warum ?, sondern immcr und uberall nur nach dem Was? der Welt.4) Sie muss also Kosmologic bleiben und kann nicht Theologie werden; sie ist keine Kirche und keine Religion.5) Als Wissenschaft hat sie es durchaus nicht damit zu thun, was geglaubt werden darf, oder soil, oder muss; sondern bloss damit, was sich wissen lasst.") Wir erwahnten, dass die idealistische Weltanschauung
schon friih in Schopenhauers Gedanken festgewurzelt lag; wir werden cin gleiches von seinem Pessimismus horen, und miissen hier dasselbe von seiner atheistischen Grundansicht behauptcn. Die gleiche Meinung fiber das Verhaltnis von Religion und Philosophic, wie sie uns in den eben ange- fuhrten Citaten aus seinen Werken entgegentritt, sprach er schon 1812 als Student aus. Er horte damals in Berlin Schlciermachers Vorlesung »Ueber Geschichte der Philosophic zur Zeit des Christentums« und bemcrkte in seinem Collegien- heft zu dem Ausspruch Schlciermachers: »Die Philosophic hat mit der Religion gemein das Wissen von Gott«, als Rand- glosse Folgendes: »Dann miisste ja die Philosophic den Be- grifF eines Gottes voraussetzen, den sie vielmehr, nach dem ihr Fortgang es bringen wird, gewinnen oder verwerfen soil, 1) W. a. W. u. V. I p. 32 ff; II p. 357 ff. u. o. 2) W. a. W. u. V. II p. 209. 3) W.
a. W. u. V. I p. 320. Ethik p. 120. 4) W. a. W. u. V. I p. 323. 5) Parerga I p. 205. 6) ib. p. 155. Vergleiche iiber den Unterschied zwischen Religion und Philosophic Parerga II Kap. XV. »Ueber Religion«, sowie W. a. W. u. V. II Kap. 17. »Ueber das metaphysische Be- diirfnis de Menschen,« |
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zu beidem gleich bereit.))1) Eine andere Glosse zu der
gleichen Vorlesung lautet: »Keiner, der religids ist, gelangt zur Philosophic; er braucht sie nicht. Keiner, der wirklich philosophirt, ist religios: er geht ohne Gangelband, gefahrlich, aber frei.»2) — — Der Kosmos ist vorhanden, zweifellos. In genau be-
stimmten Bahnen kreisen die Planeten um ihre Sonnen — ihr Dasein ist unbestreitbar. Aber berechtigt das Dasein eines Dinges zu der Annahme, dass es einmal nicht vor- handen gewesen, dass es eine wie audi immer zu denkende Ursache habe, die es aus dem Nichts in's Sein gerufen? Schopenhauer verneint diese Frage. Aus folgendem Grunde. Der Begriff »Ursache« hat seine Giiltigkeit nur innerhalb des Bereiches des Kausalitatsgesetzes; dieses aber bezieht sich allein auf Veranderungen. So lange sich nichts verandert, ist nach keiner Ursache zu fragen: denn es giebt keinen Grund a priori, vom Dasein vorhandener Dinge auf deren vorheriges Nichtdasein und von diesem auf ihr Entstehen, also auf eine Veranderung, zu schliessen.8) Abstrahieren wir nun von den einzelnen Veranderungen in der Welt und nehmen die Welt im »nunc stans« als einen grossen Zu- stand, der alles begreift und daher keiner Veranderung fahig ist, so haben wir, weil sich nichts verandert, keinen Grund zu glauben, dieser Zustand sei vorher nicht dagewesen, er sei vielmehr herbeigefuhrt durch eine fremde Kraft. So ist die Welt als ewig zu betrachten, das heisst als unentstanden, unerschaffen. Der Begriff der Schopfung fallt fort und mit ihm der eines Schopfers. Richten wir andererseits unser Augenmerk auf die ein-
zelnen, einander folgenden Zustande in der Welt, so tritt dann, wie gesagt, das Kausalitatsgesetz in Kraft und lehrt, dass jede Veranderung ihre Ursache in einer anderen, ihr unmittelbar vorhergangigen hat. Das heisst: Jede Ver- anderung hat eine Ursache. Nun war die Veranderung nicht immer vorhanden, sondern tritt erst in einem bestimmt ge- gebenen Moment ein. Somit war auch das, was wir Ursache 1) Frauenstadt: A. Schopenhauer. Von ihm.. Uber ihn. p. 238. 2) ib. p. 239. 3) W.
a. W. u. V. II p. 49. 5
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nennen, nicht immer so beschaffen, dass es wirken und Ur-
sache werden konnte. In ihm ist demnach gleichfalls eine Veranderung vor sich gegangen, zu welcher Veranderung wir eine weiter zuriickliegende Ursache anzunehmen durch das Kausalitatsgesetz genotigt werden. Auch diese Ursache ist die Wirkung einer noch friiheren Ursache, diese wieder die einer anderen, nnd so fort. Das Kausalitatsgesetz ist unermiidlich; seine Wirksamkeit geht durch alle Zeit hin- durch; es ftihrt notwendigerweise auf einen regressus in in- finitum nach beidcn Richtungen. So wenig wir eine letzte Wirkung denken konnen, so wenig auch eine erste Ursache. Bei einer causa prima konnen wir unmoglich stehen bleiben; denn das Kausalitatsgesetz ist nicht »wie ein Fiaker, den man, angekommen, wo man hingewollt, nach Hause schickt.«1) »Erste Ursache« ist eine contradictio in adjecto; indem jede Ursache immer als Wirkung eine andere, vorhergangige Ur- sache erfordert. Dieses die Widerlegung des kosmolo- gischen Beweises. Die Philosophic will die Welt erklaren. Erklaren aber
heisst: eine Erscheinung begreiflich machen als Wirkung einer vorhergehenden Ursache. Jede Erklarung basiert daher auf dem Satz vom Grunde als dem Prinzip der ]\I6glichkeit der Erklarung. Dieser aber kann, wie wir gesehen haben, durchaus nicht zu einer ersten Weltursache fiihren, zunachst nicht zu einer immanenten, aber auch nicht, wie wir jetzt darthun wollen, zu einer transscendenten. Das Kausalitatsgesetz ist nach Kants herrlicher Ent-
deckung dem Menschen als angeborene Verstandesform a priori gegeben.2) Damit ist zugleich seine Giiltigkeit auf die Welt als Vorstellung beschrankt. Wie die Erscheinungen erst durch Anwendung des Kausalitatsgesetzes moglich werden, so sind auch sie allein das Gebiet, auf dem dieses Gesetz seine Herrschaft geltend machen kann und darf. Sein Anspruch erlischt an den Grenzen der empirischen Realitat; dariiber hinaus zu tragen ist es nicht im Stande. Darum kann es erklaren, warum diese und jene Erscheinung 1) VierC W. p. 38. 2) Vergleiche die je sechs Beweise fur die Aprioritat von Zeit,
Raum und Kausalitat bei Deussen: Elemente der Metaphysik p. 24 ff. |
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da ist, es kann und muss jedes Ding begreiflich machen als
Wirkung eincr vorangehenden Ursache, aber iiber das Dasein iiberhaupt der Dinge weiss es nichts zu sagen — denn diese Frage ist transscendent. Wo nicht mehr Welt als Vorstellung ist, da hurt jede Kausalitat auf, daher, was iiber jene hinaus liegt, grundlos ist. Der Satz vom Grund erklart Ver- bindungen der Erscheinungen, nicht diese selbst; daher kann Philosophic nicht darauf ausgehen, eine causa efficiens oder eine causa finalis der ganzen Welt zu suchen.1) Giebt es also keine causa efficiens, so auch keinen Gott.
Mit den natiirlichen Hilfsmitteln kann kein Mensch die Welt als Werk eines Gottes erklaren. Wohl hingegen mit iiber- natiirlichen, d. h. vermittelst der Offenbarung,2) und das darf die Theologie, aber nicht die Philosophic Auf dem Gebiet der Philosophic giebt es »keine andere Offenbarung, als die Gedanken der Weisen.«3) Auf andere Offenbarungen wird, in der Philosophic, nichts gegeben; daher ein Philosoph vor alien Dingen ein Unglaubiger sein muss.4) Die Welt ist ewig; der Begriff der Schopfung ist un-
haltbar. Nicht anders sagen unsere indischen Philosophen. So Buddha: »Die Wanderung der Wesen, ihr Jiinger, hat ihren Beginn in der Ewigkeit. Kein Anfang lasst sich er- kennen, von welchem an die Wesen, im Nichtwissen be- fangen, vom Durst nach Dasein gefesselt, umherirren und \vandern.«5) — In dem Vedanta miissen wir, wie schon mehrfach erwahnt, zwei Standpunkte unterscheiden: den »Standpunkt des Welttreibens« vyavahara-avastha, und den »Standpunkt der hochsten RealitaU, paramartha-avastha. Letzterer ist der Standpunkt des Wissens, der vidya; auf ihm fussend durchschaut der Mensch die Nichtigkeit der Weltausbreitung; es giebt auf ihm weder Schopfung noch Schopfer. Ersterer ist der Standpunkt der avidya. Hier haben wir eine Welt, einen personlichen Gott,6) auch eine Schopfung. Die individuellen Seelen freilich werden auch auf diesem Standpunkt als unerschaffen und demnach als 1) W. a. W. u. V. I p. 98. 2) Vierf. Wurzel p. 125. 3) Parerga II § 177. »Offen-
barung« p. 387 f. 4) Vorrede zur 2. Aufl. der Schrift jUber den Willen in der Natur.« p. XV, Anm. 5) Oldenberg a. a. O. p. 233. 6) cf. p. 57. 5'
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ewig, wie Gott selbst, angesehen. Nicht so die Welt der
Elemente. Diese gilt als erschaffen von einem personlichen
Gott. Aber nur der Autoritat des Veda zu Liebe. Und
selbst hier iiberwiegt der Gedanke der Ewigkeit der Welt
den des Geschaffen-worden-seins. Denn die einmalige, zeit-
liche Schopfung, wie sie vom Veda gelehrt wird, erscheint
in dem Vedanta auseinandergebreitet in eine unendliche
Reihe periodisch wiederholter Neuschopfungen, wonach die
Welt immer wieder aufs Neue in's Dasein gerufen wird,
wenn sie nach Ablauf des jeweiligen kalpa von brahman
wieder in sich zuruckgenommen worden war. Die vedan-
tistische Schopfunglehre erinnert an die der Stoiker. Hier
wie dort als gestaltendes, allem immanentes Princip die
hochste Geistigkeit, (die bei den Stoikern zugleich das
gottliche Urfeuer ist), die sich zu den Elementen umbildet und
in alien Wesen, auch in der menschlichen Seele erscheint.
Hier wie dort eine periodisch erfolgende Riickkehr der viel-
heitlichen Welt in die Einheit der Gottheit und neue Aus-
breitung in die Erscheinung, und zwar jedes Mai in derselben
Form wie friiher.1) Diese Ausbreitung ist fur den Vedanta
natiirlich real nur in empirischem, nicht im hochsten Sinne,
in welchem es ja keine Schopfung giebt. Cankara, der
Kommentator, sucht beide Lehren, die der empirisch-realis-
tischen Schopfung und der transscendenten Unmoglichkeit
aller Vielheit, durch die Behauptung zu vereinigen, die Lehre
von der Erschaffung der Welt durch brahman habe nur den
Zweck und Sinn, die Einheit der Welt mtt brahman zu
symbolisieren. Er deutet den Begriff der Kausalitat in den
der Identitat um;2) in der Wirkung sei nicht mehr enthalten
als in der Ursache. Das ist eine Absurditiit, gegen die
Schopenhauer verschiedentlich zu Felde zieht, die in ihrer
Nichtigkeit durch tagliche Erfahrung zu widerlegen ist.8)
Wie dem auch sein mag, es steht fest, dass der Vedanta
die Welt als ewig nimmt auf dem Standpunkt der avidya,
wie auf dem der vidya, einmal durch die erwahnte Amphi-
bolie, und ferner durch Annahme einer unendlichen Zahl
1) Uberweg-Heinze I' p. 255 ff. 2) Deussen, Vedanta, p. 275. 3) W. a. W. u. V.
II p. 48. Willen in der Natur, Kap. Physische Astronomic. Ethik p. 36 ff*. |
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von Neuschopfungen. Durch beides wird der ureigentliche
Sinn der Schopfunglehre verdrangt, und auch in diesem Punkte nahert sich der Vedanta der Schopenhauer'schen Philosophic Wir kehren von dieser Abschweifung iiber die Schopfung-
theorieen unserer Philosophen zur Darstellung des Schopen- hauer'schen Atheismus zuriick. Zweierlei ist vor allem, was den Begriff »Gott« ausmacht.
Seine Transscendenz und die Personlichkeit. Der Theismus giebt der geheimnisvollen Kraft, von der die Welt geschaffen und getragen wird, Personlichkeit, d. h. Intellekt und Willen im Verein, ja sogar Gestalt und Form, und riickt diese anthro- pomorphistisch ausgestattete Gottesfigur iiber die natiirliche Welt hinaus, in einen ewig seligen Himmel. Dieselbe Kraft wird von Schopenhauer als Wille entschleiert. Der Begriff des Willens ist aber weit entfernt, sich mit der Gottesidee zu decken. Denn 1) ist der Wille der Welt durchaus immanent, so sehr,
dass die einzige Welt, die wir kennen, die Welt als Vorstellung, sich genau deckt mit der Welt als Wille. Jede Erscheinung ist nur Objektivation desselben Willens; der Wille als Ding-an-sich steht nicht sowohl u b e r der Erscheinung, als viclmehr h i n t e r ihr. Ein wie auch irgend zu denkender Ueberschuss des schopferischen Willens iiber die Erscheinung wird aogelehnt. 2) mangelt dem Willen das, was zumeist Personlichkeit
moglich macht: dielntelligenz. Er ist blind, erkenntnislos. So wirkt er durchaus in der anorganischen Welt, als unbewusster Drang und Trieb, so wirkt er im Reich der Pflanzen, so noch im vegetativen Teil animalischen Lebens. Wo immer wir den Willen mit Intelligenz behaftet, also als Personlichkeit finden, da stellt sich diese dar als ein Sekundares, als ein Accidens zu dem von Haus aus blinden Willen. Der Intellekt ist ein Erzeugnis des Willens und bestimmt, den Zwecken seines Erzeugers zu dienen. Der Wille ist metaphysisch, der Intellect nur physisch; er ist, wie seine Objekte, blosse Erscheinung. — — Ja, wir sehen den Willen |
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selbst im bewussten Leben dcr Tiere sich oft blind,
ohne Leitung der Vorstellung, in Handlungen aussern,
in jenen, die wir als durch den Instinkt hervorgerufen
bezeichnen. Dann aber gelangen wir dazu, so wenig
das Haus der Schnecke einem ihr selbst fremden, aber
von Erkenntnis geleiteten Willen zuzuschreiben, als wir
glauben, dass das Haus, das wir selbst bauen, durch
einen anderen Willen als unsern eigenen ins Dasein
tritt; wir werden vielmehr beide Hauser fiir Werke des
in beiden Erscheinungen sich objektivierenden Willens
erkennen, der in uns nach Motiven, in der Schnecke
aber noch blind wirkt.1) — Der Schopenhauer'sche
Wille ist alles andere, nur nicht »Gott«.
Aber, so kdnnte man fragen, woher denn dieser Wille ?
Eine solche Frage wiirde nach Schopenhauer durchaus thoricht
sein. Sie wiirde den Satz vom Grunde von der Erscheinung,
fur die allein er als aprioristischer Satz Giiltigkeit hat, un-
berechtigter Weise auf das Ding-an-sich iibertragen. Der
Wille liegt vollig jenseits des Satzes vom Grunde: er ist
schlechthin grundlos. Ihm allein, als dem einzig Urspriing-
lichen, dem aus eigenster Urkraft und Machtvollkommenheit
Existierenden, kommt Aseitat zu; er allein ist in seinem
Sein und Wesen so wenig als in seinem Thun und Wirken
von einem Andern abhangig. —
So kennt, wie er selbst gesteht,2) Schopenhauer »keinen
gnadigen Herrn«. Bei einem Resumee seines Atheismus aber diirfen wir nicht seiner Kritik der Gottesbeweise ver- gessen. Die Art und den Gang dieser meist sehr scharf ausfallenden Kritik im Einzelnen darzustellen, wiirde uns hier zu weit fiihren; uns geniigt zu wissen, dass alle diese Be- weise in ihrer Unhaltbarkeit nachgewiesen werden.3) Aber 1) W. a. W. u. V. I p. 136. 2) Brief an Becker, bei Gwinner a. a. O. 503. 3; a. Der
ontologische Beweis des Anselm von Canterbury wird widerlegt: Vierf. W. p. 10, Kritik der Kant. Phil. p. 606 f., und in »Noch einige Erlauterungen zur Kant. Ph.« Parerga I p. 117 IF. b. Der kosmologische: Vierf. W. p. 36 ff. Parerga I p. 115. c. Der physikotheologischc, »diese blosse Amplifikation des kosmologischen* vor allem W. i. d. N. p. 55 ff". W. a. W. u. V. I p. 631, Parerga I p. 116. Neuerdings hat Dr. Eduard Loewenthal in seiner Broschure: »Grundziige des induktiven Spiritualismus nebst geschichtlicher Einleitung« Berlin bei Karl Siegismund 1889 einen neuen Gottesbeweis aufzustellen versucht, den er den kosmo- physiologischen nennt, und der folgenderraassen lautet: »Da es unmoglich ist, dass aus dem |
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Schopenhauer thut mehr. Er zeigt, wie sogar mit den Lehren
des Christentums der Theismus unvereinbar ist. Das Christen- tum lehrt: 1) den Pessimismus; damit vertragt sich nicht der Gedanke
eines allgiitigen, allweisen, allmachtigen Schopfers; 2) die moralische Verantwortlichkeit des Einzelnen fur
seine Thaten; auch damit ist der Gedanke eines Schopfers nicht in Einklang zu bringen, indem ein Wesen, das seiner existentia und darum auch essentia nach das Werk eines andern ist, fur seine aus dieser essentia sich ergebenden Handlungen nicht verantwortlich ge- macht werden kann; 3) die gottliche Vergeltung; es ist aber ein Unding zu
glauben, Gott konne Thaten, die er selbst veranlasst hat, hintennach bestrafen; 4) die Fortdauer nach dem Tode; wie kann ein Wesen,
das durch einen Andern aus dem Nichts hervorgerufen wurde, ewig sein?1) —• — — Wie in der indischen Philosophic, so findet auch bei
Schopenhauer der Atheismus eine Hauptstiitze im Pessi- mismus. Was dort zu erschliessen war, findet sich hier mit klaren, nackten Worten ausgesprochen: »Die Verantwort- lichkeit fur das Dasein und die Beschaffenheit dieser Welt kann nur sic selbst tragen, kein anderer; denn wie hatte er sie auf sich nehmen mogen?«2) Dieselbe triibselige Be- trachtung, die den Aesthetiker Friederich Theodor Vischer in seinem herrlichen Gedicht »Glaubcnsbekenntnis« zu dem Ausspruch notigt: »Wir haben keinen Liebenden Vater im Himmel«, die Betrachtung der unendlichen Qual, des namen- losen Jammers, darunter Mensch und Tier achzt, zwingt auch Schopenhauer mehr als logische Schliisse, die Annahme Niedrigeren etwas Hohergeartetes sich entwickele als das, was dem ersteren als embryonale
Potenz, als Keim innewohnt, resp. ihm urspriinglich von einer hoheren Potenz eingepflanzt ist, so u. s, w.« p. 11. Dass auch dieser kosmo-physiologische Beweis nicht das Verlangte leistet, liegt auf der Hand. Er enthalt zunachst eine petitio principii, indem er unbewiesener- massen annimmt, die »embryona!e Potenz« miisse dem Niedrigeren von einer hoheren Po- tenz eingepflanzt sein (recht naiv ist dabei das ^respective*), und zweitens wiirde er einer so gewonnenen Potenz keine Personlichkeit verleihen, die vom Gottesbegriff untrennbar ist. 1) Parerga I p. 132 ff. Ph. Mainlander, der Schiiler Schopenhauers, will sogar be- weisen, »dass das reine Christentum im tiefsten Grundc echter Atheismus und nur auf der Oberflache Monotheismus ist.« 2) W. a. W. u. V. I p. 415. |
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eines Gottes zu verwerfcn. »Wohin das Auge dringt, ist
Schuld und Leiden« sagt ein Schopenhaucrianer, der Dichter Hieronymus Lorm (Heinrich Landesmann). Wie sollte eine solche Welt das Werk der vollkommensten Giite, der strengsten Gerechtigkeit, der unbegrenzten Allmacht sein? Fur Schopenhauer ist die Welt eine Holle; Holle und Gott aber sind disparate Begriffe. —• Der Gedanke der Geschichte ist illusorisch. Es giebt keine Fortentwicklung, kein Besser- werden. Es giebt kein Ziel, dem sich das Menschengeschlecht, wenn auch langsam und unter stetem Ringen, nahern konnte. Das Wort »Vervollkommnung« ist fur unsern Pessimisten ein leerer Schall. Wer aber, wie er, ein anstrebenswertes Ziel leugnet, dem ist auch jeder Gedanke an eine ziel- setzende Macht fremd. Schopenhauer ist Atheist, weil er Pessimist ist. — — Die Erlosung aus dem leidvollen Drang ist dcs Menschen ureigenste That; fur sie braucht Schopen- hauer so wenig als seine indischen Geistesverwandten einen Gott in Bewegung zu setzen. In seiner All-Einslehre hat sich Schopenhauer dem
Pantheismus,1) in der Lehre von der Erkenntnislosigkeit des letzten Dinges dem Materialismus genahert. Beide Lehren, im Verein mit dem Pessimismus, geben die Grundpfeiler ab, auf denen sein Atheismus ruht. Wir sehen, die Aehnlichkeit der Begriindung bei ihm und in dem Vedanta ist unver- kennbar. »Alles ist leidvoll!« heisst es hier wie dort — darum ist ein Gott undenkbar. »Ich bin brahman,« sagt der Vedantist; »meinWille ist dasDing-an-sich«, Schopenhauer. Wir fanden den Atheismus der Inder in doppelter Weise
getriibt, einmal durch die Annahme einer Gottervielheit, wozu fur die exoterische Volksreligion des Brahmanismus sogar die Vorstellung eines allmachtigen, personlichen Gottes kommt, und zweitens, wenigstens fur den Vedanta, durch die Meinung, das Wesen des Dinges-an-sich bestehe in der Intelligenz. Namentlich im letzten Punkte hat Schopenhauer tiefer gedacht. Aber seltsamer Weise tauchen auch bei diesem konsequenten Denker Vorstellungen auf, die das 1) Was ihn vom Pantheismus scheidet, hat er dargestellt im Kap. »Epiphilosophie«.
W. ». W. u. V. n p. 739. |
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Alleinregiment des Atheismus zu beeintrachtigen drohen.
Sie finden sich in dem Kapitel: »Transscendente Spekulation iiber die anscheincnde Absichtlichkeit im Schicksale des Ein- zelnen« des 1. Bandes der Parerga; auch gehort hierhin das 49. Kapitel des 2. Bandes der W. a. W. u. V. »Die Heils- ordnung«. Denn hier bekennt sich Schopenhauer zu dem Glauben an eine vorhersehende Notwendigkeit, die den Menschen zur Erlosung auf eine ihm ganz individuell angemessene Art, wenn auch auf weiten Umwegen leitet. Diese Vorsehung wird in den urspriinglich blinden Willen hineinverlegt. »Sind wir nicht auf dem Wege zum Theismus?« miissen wir mit Kuno Fischer fragen.1) 8. Das Ding-an-sich.
Im Folgenden betrachten wir, welcher Art die Vor-
stellungen sind, die unsere Philosophen von dem Urgrund aller Erscheinung, dem Ding-an-sich, haben. Nach dem, was iiber die Metaphysik des Buddhismus gesagt worden ist, kommt hier nur der Vedanta zur Vergleichung mit Schopen- hauer. In § 6 ist gezeigt worden, dass ein Ding-an-sich thatsachlich angenommen wird; wir gehen dazu iiber, die Natur desselben darzustellen. a. Das Ding-an-sich ist unerkennbar.
So ist die Meinung Cankaras, so die Meinung Schopen-
hauers. Wie sie das Ding-an-sich auch nennen mogen, eine adaquate Erkenntnis kann nach beiden von ihm nicht ge- wonnen werden. Wohl lasst sich das brahman »schauen«, von dem Weisen,
im Zustande der Exstase, der seligen Versenkung, im Zu- stande des samradhanam,2) aber eine Erkenntnis, wie sie durch Worte mitteilbar ist, lasst das heilige brahman nicht zu. Worte und Gedanken miissen umkehren, ohne es zu finden. »Verschieden ist's von allem, was wir kennen, und hoher als das Ungekannte auch«. Es ist »nicht horbar, nicht fiihlbar.« Nur schweigend kann der weise Bahva das Wesen brahmans bezeichnen.*) ■— Die gleiche Unerkennbarkeit be- |
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1) a. a. O. p. 488 ff. 2) Deussen a. a. O. p. 230. ib. p. 227.
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hauptet Schopenhauer von seinem Ding-an-sich. Wenn wir
dasselbe »Willen« nennen, so ist diese Bezeichnung insofern eine unvollkommene, als der Name einer blossen Species auf das Genus iibertragen wird.1) Die Species konnen wir erkennen, nicht so das Genus. Und wie erklaren unsere Denker diese Unerkennbarkeit?
Diese Frage ist erst dann zu beantworten, wenn wir ge- sehen haben, b. was sich trotz dem von dem Ding-an-sich
aussagen lasst. 1) Gleich wie ein Salzklumpen durch und durch salzigen Geschmacks ist, so ist das brahman der indischen Philo- sophic durch und durch reine Geistigkeit, caitanyam.2) »Geist ist sein Stoff« sagt der mythische Weise Candilya. Das brahman ist das Sehende, das Horende, das Ver- stehende, das Erkennende; es ist »des Odems Odem und des Auges Auge,
des Ohres Ohr und des Verstands Verstand.« — —
Dadurch, dass der Vedantist das Wesen des Dinges-
an-sich in die reine Geistigkeit setzt, hat er dem Orga- nismus seines Systems den verhangnisvollen Tropfen Gift zugefuhrt, der dessen reines Blut verdirbt. Folge- richtig hat er gedacht, als er das Wesen des Subjekts auf das Ding-an-sich ubertrug; es war sein Fehler, das Subjekt, das Selbst einfach zu nehmen. Dass das Selbst- bewusstsein thatsachlich nicht einheitlich ist, hat Schopen- hauer gelehrt. Auch hier sondert sich, wie in jeder Vorstellung, das Subjekt vom Objekt, das Erkennende vom Erkannten. Jenes ist der Intellekt, dieses der Wille. Auf diesen beiden Faktoren in ihrer Einheit beruht die Individuality, das Selbst. Den Willen hat der Vedanta ubersehen, geblendet durch den Glanz, der vom Erkennen ausstromt. Und doch sagt er selbst, unter Bezugnahme auf die Chandogya-upanishad: »Fiir- wahr, aus Willen ist der Mensch gebildet!«8) und mit der Brihad-aranyaka-upanishad: »Der Mensch ist ganz |
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1) W. a. W. u. V. I p. 132. 2) Dcussen a. a. O. p. 164. 3) ib. p. 163
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und gar gebildet aus Begierde.K1) Dennoch hat er
das Subjekt des Selbstbewusstseins zum Ding-an-sich. gemacht, den Intellekt. Schopenhauer hingegen das Objekt, den Willen. Ihm
ist also nicht die Vernunft das Ding-an-sich, sondern das ewige, unermiidliche Streben, das wir, wo es sich in uns objektivirt, Willen nennen. Der Wille, die Be- gierde ist der innerste Kern des Menschen. Diese Er- kenntnis, die, wie eben gezeigt, auch dem Brahmanismus aufgegangen war, hat er auf das Weltall ausgedehnt und hat andererseits das Primare des Brahmanismus, die Erkenntnis, zum Sekundaren gemacht. Dass es ein Fehler war, das Ding-an-sich rein geistig
zu nehmen, haben die Vedantisten selbst gefiihlt. Als sie erklaren sollten, wie die Umwandlung des brahman in die Erscheinungswelt vor sich geht, oder, vom Standpunkt der vyavahara-avastha aus gesprochen, wie es moglich ist, dass das rein geistige brahman sich schaffend erweisen kann, da mussten sie dem Ding- an-sich neben der reinen Geistigkeit auch die cakti beilegen, eine Reihe von »Kraften«. Da musste das brahman »mit Kraften angefiillt« sein; denn »eine Akti- vitat des von Kraften entblossten Gottes ist nicht denk- bar.«2) Schopenhauer hingegen trifft auch hier wieder das Richtige; nach ihm ist der Wille selbst nie Ursache ; sondern, was einerseits Wille ist, ist andererseits Vor- stellung, Erscheinung. 2) Als weiteres Attribut legt der Vedanta dem brahman
die Existenz bei; es ist sat, das »Seiende« im hochsten Sinne. Dem entspricht es, wenn Schopenhauer dem Willen den Drang zur Selbsterhaltung beimisst;3) denn eines wie das andere entspringt unmittelbar aus dem Begriff des Dinges-an-sich. 3) Fernerhin tragt brahman in sich die Fiille der Wonne,
ananda. So namentlich gemass dem spateren Vedanta. Deussen will dieses Pradikat vornehmlich als negative Eigenschaft fassen, als Schmerzlosigkeit, die allein dem 1) ib. p. 208. 2) ib. p. 244. 3) W. a. W. u. V. II p. 338.
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»param brahma« zukommt.1) In brahman ist alles
Leid, aller Schmerz, Geburt und Sterben geschwunden.
— Ganz anders Schopenhauer. Nach ihm ist der Wille
selbst unmittelbar mit Leid behaftet, mit Schuld und
Uebel verbunden. Sein Wille ist kein zufriedener, son-
dern ein hungriger, kein reiner, sondern ein unmorali-
scher Wille von Haus aus. Dieser Gegensatz wird
wichtig werden bei Betrachtung des Pessimismus und
der Ethik.
So gehen in der Hauptsache unsere Philosophen ziem-
lich weit auseinander hinsichtlich ihrer Ansicht vom Wesen
des Dinges-an-sich. Hier die leidlose, selige Intelligenz, dort
der leidvolle, unselige Wille. Doch einigen sie sich wieder,
wenn sie von der ausseren Form sprechen. Nach beiden
ist das Ding-an-sich einheitlich und grundlos.
Der Wille, der aller Erscheinung zu Grunde liegt, ist
von aller Erscheinung ganzlich verschieden. Die Formen, in denen die Erscheinung sich darstellen muss, sind ihm durchaus fremd; denn eben das macht ihn zum Ding-an-sich. Diese Formen finden ihren Ausdruck im Satz vom Grunde. Es sind Zeit, Raum und Kausalitat. Diese Drei haben iiber den Willen als Ding-an-sich keine Gewalt; er steht iiber ihnen. Ueber Zeit und Raum —■ darum ist er ewig, einer und un- geteilt. Zeit und Raum sind das principium individuationis und machen als solches die Vielheit der Erscheinungen mog- lich. Dem Willen aber ist diese Vielheit nicht eigen; er ist einer; in jeder Erscheinung stellt er sich ganz und ungeteilt dar. Ueber der Kausalitat — darum ist er unveranderlich und schlechthin grundlos. Horen wir Schopenhauer selbst: »Der Wille als Ding-an-sich liegt ausserhalb des Gebietes des Satzes vom Grund in alien seinen Gestaltungen, und ist folglich schlechthin grundlos, obwohl jede seiner Erscheinun- gen durchaus dem Satz vom Grunde unterworfen ist; er ist ferner frei von aller Vielheit, obwohl seine Erscheinungen in Zeit und Raum unzahlig sind; er selbst ist Einer; jedoch nicht wie ein Objekt Eines ist, dessen Einheit nur im Gegen- |
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1) cf. p. 77 f.
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LfcB^
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satz der moglichen Vielheit erkannt wird; noch auch wie ein
Begriff Eins ist, der nur durch Abstraktion von der Vielheit entstanden ist; sondern er ist Eines als das, was ausser Zeit und Raum, dem principio individuationis, d. i. der Moglich- keit der Vielheit, liegt.K1) Ebenso liegt nun ;>uch das brahman des Brahmanismus
jenseits jener Formen von Zeit, Raum und Kausalitat. Die Kathaka-upanishad sagt: »Vom Guten frei und frei vom Bosen, von Ursach' und von Wirkung frei,
Frei vom Vergang'nen und Zukflnft'gen — das sage mir, was dieses sei.2) Und wir antworten mit Cankara: es ist »das unsichtbare,
ungreifbare, stammlose, farblose, was ohne Augen und Ohren, ohne Hande und Fiisse ist, das ewige, durchdringende, all- gegenwartige, sehr feine, dieses ist das Unwandelbare, wel- ches die Weisen erkennen als den Mutterschoss der Wesen.«3) »Himmlisch« sagt die Mundaka-Upanishad, »ist der Geist, der ungestaltete, der draussen ist und drinnen, ungeboren, der odemlose, wiinschelose, reine, noch hoher als das hochste Unvergangliche.«4) Nichts anders besagen alle diese Be- stimmungen, als dass brahman, wie es dem Ding-an-sich zu- kommt, iiber Zeit, Raum und Kausalitat erhaben ist.5) Jeg- liche Vielheit ist demnach im brahman-atman gehoben; selbst, wie uns die Abschiedreden Yajfiavalkyas lehren, die Zwei- heit von Subjekt und Objekt, so dass, obwohl das brahman selbst das Erkennen ist, in ihm kein Erkennen stattfindet. Darum lehrt die Dogmatik das brahman ausdrucklich als ein attributloses, nirgunam brahma, als ein unterschiedloses, nirvicesham brahma; denn durch Attribute, Bestimmungen und dergl. wiirde eine Vielheit in das brahman hineinge- tragen. Auch jene drei Attribute, die eine spatere Zeit im Ausdruck sac-cid-ananda zusammengefasst hat, gleich »Sein, Geist und Wonne«, sind nicht als drei selbstandig neben- einander bestehende Eigenschaften aufzufassen, sondern als drei Bestimmungen, die dasselbe aussagen. So kann man denn eigentlich von brahman nicht sagen, was und wie es ist, sondern nur, was und wie es nicht ist. Solche negative I) W. a. W. u. V. I. p. 134. 2) Deusscn a. a. O. p. 166. 3) ib. p. **l. 4) ib. p. 142
5) Deussen : Eleraentc der Mctaphysik p. 27. |
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Bezeichnungen sind: das sclion erwahnte »neti, neti«, gleich
»nicht so, nicht so«; oder: »nicht grob und nicht fein, nicht lang und nicht kurz.« Oder: »Er ist ungreifbar; denn er wird nicht gegriffen; unzerstorbar; denn er wird nicht zer- stort; unhaftbar; denn es haftet nichts an ihm; er ist nicht gebunden, er wankt nicht, er leidet keinen Schaden.«') Oder, wie Yajflavalkya zur Brahmanin Gargi sagt: »Es ist das, o Gargi, was die Brahmanen das Unvergangliche nennen; es ist nicht grob und nicht fein, nicht kurz und nicht lang; nicht rot (wie Feuer) und nicht anhaftend (wie Wassser), nicht schattig und nicht finster, nicht Wind und nicht Aether, nicht anklebend (wie Lack), ohne Geschmack, ohne Geruch, ohne Auge und ohne Ohr, ohne Rede, ohne Verstand, ohne Le- benskraft und ohne Odem, ohne Miindung und ohne Mass, ohne Inneres und ohne Aeusseres; nicht verzehrt es irgend was, nicht wird es verzehrt von irgend wem.«2) c. Weshalb ist das Ding-an-sich unerkennbar?
Diese Frage konnen wir nun beantworten. Zunachst ii r den Vedanta. »Wahrlich, o Gargi,« spricht Yajflavalkya, »dieses Unvergangliche ist sehend, nicht gesehen, horend, nicht gehort, verstehend, nicht verstanden, erkennend, nicht erkannt.« Und warum nicht erkannt? Einmal, weil sein Sein ein all unsere Fassung weit iiberragendes ist. Unsere Erkenntnis vermag nur das empirische Sein zu begreifen, nicht aber jenes, das »neti, neti« ist, das so ganz andere Natur als das empirische Sein hat, dass man es, von diesem aus betrachtet, ein Nicht-sein nennen konnte. Wir miissten zu seiner Erkenntnis uns aller gewohnlichen Erkenntnis- mittel entaussern; darum heisst es in der Kena-Upanishad: »Wer nicht versteht, nur der versteht es,
Und wer versteht, der weiss es nicht: Unerkannt vom Erkennenden, Erkannt vom Nichterkennenden.« Der zweite und Hauptgrund aber ist der, dass brahman
■ 1) Deussen: Vedanta p. 211. 2) ib. p. 143. vergl. auch p. 229. Ebenso sagt Scotus
Erigena, dass man das Wesen Gottes nur mit Ausdriicken bezeichnen konnc, die dessen Nicht- Tjestimmbarkeit bezetcbnen. cf. Preger: Mystik I p. 158. So iiberhaupt jeder Mysttcismus seit Philo und Plotin. So heisst es bei Nikolaus von Cusa: *>Negationes sunt verae, affir- raationes insufficientes in theo!ogicis«, d. h. in der Lthre von Gott |
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als die Potentialitat aller Erkenntnis immer Subjekt des
Erkennens ist und daher nie zum Objekt werden kann. Das Erkennen selbst ist unerkennbar, wie das Auge alles sieht, nur sich selbst nicht. Das brahman ist das Selbst und somit allem innerlich; darum kann es zwar nicht be- zweifelt werden1), weil es als Selbst an sich bekannt ist aber man kann es auch nicht beweisen; denn »es ist das- jenige, welches alle Beweismittel in Anwendung bringt.« Weil brahman das Erkennen selbst ist, darum bleibt es unerkennbar. »Nicht sehen kannst Du den Seher des Sehens, nicht horen kannst Du den Horer des Horens, nicht ver- stehen kannst Du den Versteher des Verstehens, nicht er- kennen kannst Du den Erkenner des Erkennens.« — »Durch den er dies Alles erkennt, durch wen soil er den erkennen? Den Erkenner, durch wen soil er den erkennen?« In dieser Weise kann Schopenhauer natiirlich nicht ar-
gumentieren. Auch fur ihn kann das Ding-an-sich nie Objekt einer adaquaten Erkenntnis werden, aber nicht, weil es ewig Subjekt jeder Erkenntnis, sondern eben Ding-an-sich ist, aus dessen Begriff unmittelbar sich die Unerkennbarkeit ergiebt. Denn erkannt werden, vorgestellt werden, heisst fur einen anderen da sein, als Objekt fur ein Subjekt, hin- gegen an-sich-sein bedeutet, unabhangig von anderen, durch sich selbst und fur sich selbst sein. Wiirde das Ding-an- sich erkannt werden, so ware es nicht mehr fur sich da, sondern fur etwas anderes, namlich das erkennende Subjekt. Nichts ist nachdem, was es schlechthin an und fur sich ist, erkennbar. »Denn sobald ich erkenne, habe ich eine Vor- stellung: diese aber kann, eben weil sie meine Vorstellung ist, nicht mit dem Erkannten identisch sein, sondern giebt es, indem sie es aus einem Sein fiir sich zu einem Sein fur Andere macht, in einer ganz anderen Form wieder, ist also stets noch als Erscheinung desselben zu betrachten.«2) Alle Erkenntnis giebt bloss Erscheinung — darum sind Ding-an- sich und Erkanntwerden unversohnliche Gegensatze. Nicht einmal in die allgemeinste Form der Vorstellung: Objekt fiir ein Subjekt sein, fiigt sich das Ding-an-sich, geschweige 1) Deusscn a. a. O. p. 137. 2) W. a. W. u. V. II p. 566; ib. p. 217.
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denn in die dieser untergeordneten Formen, die ihren Aus-
druck im Satz vom Grande finden. Das Ding-an-sich ist durchaus nicht Vorstellung, sondern toto genere von ihr verschieden.-------Selbst da, wo das Ding-an-sich am hellsten
vom Lichte der Erkenntnis getroffen wird, bleibt es geheim-
nisvoll, in unsl Von zwei Formen zwar, die aller ausseren Erkenntnis anhaften, Raum und Kausalitat, bleibt die innere frei, zwei Schleier hat also das Ding-an-sich abgeworfen, aber vollig nackt stellt es sich auch in der inneren Er- kenntnis nicht dar. Die Form der Zeit, sowie die allge- meinste Form aller Vorstellung, Objekt fur ein Subjekt sein, sind auch hier geblieben.1) ■—■ •--------Diese Beweisfiihrung
ahnelt jener vedantistischen, die wir an erster Stelle ange-
flihrt haben. Hier wie dort wird eine vollige Discrepanz zwischen absolutem und relativem Sein festgehalten und nur das letztere der Erkenntnis als Objekt iiberwiesen. — Trotz aller Unerkennbarkeit ist nun fur unsere Philo-
sophen das Ding-an-sich durchaus nichts Fremdes. Es ist vielmehr das Allergewisseste unserer gesamten Erkenntnis, das am genauesten Bekannte, was deshalb nicht durch ein Anderes zu erklaren ist, vielmehr allem anderen die Er- klarung giebt. Denn wir konnen es da betrachten und finden, wo es am wenigsten in die Form der Erscheinung eingegangen ist. Da erkennen wir es denn in seiner ada- quatesten Erscheinung, die uns iiberhaupt zuganglich ist, mit Schopenhauer als jenen Drang und Trieb, den wir Willen nennen. Bei jedem Hervortreten eines Willensaktes aus der dunkeln Tiefe unseres Innern in das erkennende Bewusstsein vollzieht sich ein unmittelbarer Uebergang des ausser aller Zeit liegenden Dinges-an-sich in die Erscheinung. Demnach ist der Willensakt nur Erscheinung, aber die nachste und deutlichste des Dinges-an-sich, und es folgt, dass, wenn alle iibrigen Erscheinungen ebenso unmittelbar und innerlich von uns erkannt werden konnten, wir sie fur eben das ansprechen miissten, was der Wille in uns ist. In diesem Sinne lehrt Schopenhauer, dass das innere Wesen eines jeden Dinges 1) Vergl. W. a. "W. u. V. II Kap. 18: »Von der Erkennbarkcit des Dinges-an-sich.«
p. 213 ff. |
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der Wille ist; in diesem Sinne nennt er den Willen das
Ding-an-sich.--------Gelegentlich tritt der Gedanke auf, dass
neben dem Attribut des Willens das wahre Ding-an-sich
noch andere Qualitjiten haben mag, Bestimmungen, Eigen- schaften, Daseinsweisen, die ausserhalb jeder moglichen Er- scheinung Kegen, die schlechthin unerkennbar und unfasslich bleiben.1) Doch spielt dieser Gedanke keine grosse Rolle. Schopenhauer beabsichtigt nichts mehr damit als Spinoza mit der Annahme, dass die Substanz aus der Zahl nach un- endlichen Attributen bestehe, von denen jedoch nur Denken und Ausdehnung uns bekannt sind2) — namlich das, die Substanz oder das Ding-an-sich hoch iiber alle empirische Realitat zu erheben. d. Annaherung des^Vedanta an Schopenhauer.
So mannigfache Beriihrungpunkte sich zwischen Scho-
penhauer und dem Vedanta hinsichtlich der Lehre vom Ding- an-sich ergeben, so scheinen doch alle Beziehungen abzu- reissen, sobald wir auf das Wesen selbst des Dinges-an-sich unser Auge richten. Hier Geistigkeit — dort Wille. Aber horen wir, wie Paul Deussen brahman und die Geistigkeit auffasst. Er erklart brahman (von barh = farcire), das Gebet, »als den zum Heiligen, Gottlichen emporstrebenden "Willen" des Menschen.«3) Er fasst alles Erkennen auf als »eine Reaktion gegen den Andrang der Eindriicke und somit als eine Bethatigung von Kraft,«4) und sagt demgemass: »In- dessen ist das Geistige (caitanyam), wie wir sehen werden, in unserm Systeme eine Potenz, welche aller Bewegung und Verrinderung in der Natur zu Grunde liegt, daher auch z. B. den Pflanzen zugeschrieben wird, und somit eher die allem Seienden zukommende Fahigkeit der Reaktion gegen aussere Einwirkungen bedeutet, eine Fahigkeit, welche aller- dings in ihrer hochsten Potenzierung als menschliches Er- kenntnisvermogen, als Geist sich offenbart.«s) Deussen erklart brahman also als Geisteskraft, Kraft aber ist Wille.6) Und 1) W. a. W. u. V. II p. 221. 2) Spinozas Ethik, Teil I, Def. 6. 3) Deussen a. a. O.
p. 128. 4) ib. p. 229. 5) ib. p. 62. 6) Vergl. auch Deussen: Elemente der Metaphysik, 8 184 mit Anmerkg. p. 125, wo er zu dem Schluss kommt: »dass dieses Brahman — trotz der ihm zugeschriebenen Intelligenz, im Grunde nichts andercs ist, als was wir den Willen nennen.*. 6
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in dcr That, wenn die Philosophen dcs Vedanta behaupten,
in alien Elementen sei brahman der innere Lenker, »so dass, demnach, wenn z. B. das Wasser fliesst, nicht das Wasser als solches, sondern brahman in ihm dieses bewirkt,*1) so sind sie nicht feme von der Einsicht, dass das Wesen brahmans in die Kraft zu setzen ist, in den Drang und das Streben, in das, was Schopenhauer Willen nennt. Aber von dieser Einsicht hat sie abgetrieben ein wichtiges Grund- gesetz, das fur sie unumstossliche Geltung besitzt, das Ge- setz: »ohne Erkenntnis (cetana) keine Bewegung (pravritti)!«2) ein Gesetz, gegen das sich Schopenhauer auf das energischste wendet und dessen Widerlegung das ganze Kapitel: »Physi- sche Astronomie« gewidmet ist.3) Darum muss man immer- hin dem Begriff des brahman ei*iige Gewalt anthun, wenn man ihn als den Schopenhauer'schen Willen interpretieren will. Besser stimmt zu diesem der buddhistische »Durst«, nur dass dieser vornehmlich in der Sphjire bewussten Han- delns der Menschheit seine unheilvolle Macht geltend macht. Dieser »Durst« ist ebenso wie der »Wille« eine unmorali- sche Potenz, von der sich zu befreien Gliick und Erldsung bedeutet, aber er ist kein Ding-an-sich. Ware der Buddhis- mus zu einer positiven Metaphysik durchgedrungen, er wiirde die Begier, die er so nur im Menschen sucht, auch im Weltall wiedergefunden haben, wodurch ein vollkommenes Pendant zur Schopenhauer'schen Philosophic entstanden ware, ahn- licher, als wie der Vedanta eines bietet. § 9. Die Identitatslehre.
In der Identitatslehre kulminieren Brahmanismus und
Schopenhauer'sche Philosophic In ihr ist der Gipfelpunkt erreicht. Aber er ragt in die Hohen des reinen Mysticismus. In der Identitatslehre erscheint die gesamte Metaphysik als sublimirt. »Tat tvam asi«, »das bist Du« — in diesen, von Scho-
penhauer so oft citierten Worten des Veda liegt die Iden- titatslehre beschlossen. »Aham brahma asmi«, »ich bin brahman« ist ihr Motto. Diese Worte besagen: wie bunt 1) Deussen, Vsdinta p. 255. 2) ib. p. 254, 258. 3) Willen in dcr Natur. p. 80 ff.
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und mannigfaltig auch die Erscheinungen sein mogen, so ist
doch der einzig wesenhafte Kern in alien ewig der gleiche: brahman, Willen. »Seele nur ist dieses Weltalk; »brahman nur ist dieses Ganze, das vortrefflichste;« »das, was dieses Feine ist, dessen Wesens ist dieses Weltall, das ist das Reale, das ist die Seele, das bist Du, o Cvetaketu.«]) Die uner- messliche Kraft, »die die Welten auseinanderha.lt, dass sie nicht verfliessen«, sie ist es, die in der Pflanze wirkt, im Schaft zur Sonne aufstrebt, um Bliiten zu tragen und Frucht zu zeitigen. Sie ist es, die in allem, was lebt und Speise nimmt, liebt und hasst, ihr geheimnisvolles Werk verrichtet. Auch in der unverniinftigen Kreatur, den Tieren. »Ob sie hier Tiger sind oder Lowe, oder Wolf, oder Eber, oder Wurm, oder Vogel, oder Bremse, oder Miicke«, die starksten und die geringsten, »alle diese Kreaturen haben das Seiende als Ursache, das Seiende als Stiitzpunkt, das Seiende als Grund- lage.«2) Und so auch der Mensch. Auch er ist brahman und vom Nebenmenschen nur in der Erscheinung verschieden. »Du bist das Weib, du bist der Mann, das Made-hen und der Knabe;
Geboren, wiichst du allerwarts, du wankst als Greis am Stabe.«3) Darum kann auch Sanatkumara in der Chandogya-Upa-
nishad sagen:4) »Ich bin unten und oben, im Westen und im Osten, im Siiden und im Norden- irh bin diese ganze Welt.« Und Schopenhauer stimmt ihm vollkommen bei. Aber nicht nur die Welt der organischen Wesen wird
vom brahman oder dem Willen getragen und belebt, auch die anorganische Welt. Auch iiber sie miissen wir das Weihe- wort sprechen: »tat tvam ask. Schopenhauer nimmt dem- gemass keinen Anstand, alle Naturkrafte als Willensausserungen zu bezeichnen und sie mit der Lebenskraft im Menschen zu identificieren. Ihm ist sogar die Schwere nicht bloss ein zufalliges Analogon zum menschlichen Willen, sondern ganz und unmittelbar dasselbe, mit dem einzigen, accidentellen Unterschied, dass im Menschen der Wille sich mit Intellekt und Selbstbewusstsein verbunden hat. Der Vedanta denkt bei den Wesen, deren Wesensidentitat er behauptet, in erster |
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1) Detssen a. a. O. p. 282 ff. 2) ib. p. 284, 285. 3) ib. p. 321. 4) ib. p. 216 ff.
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Linie an die erkennenden, Mensch und Tier; auch die Pflanzen
werden wohl noch herangezogen; die Konsequenzen hingegen, die Schopenhauer, wie gesagt, mit solcher Siegesgewissheit zieht, wagt oder vermag er nur anzudeuten. Dass auch die Elemente des belebenden brahman nicht nur nicht entbehren, vielmehr nur seine Erscheinungform sind, stellt er bloss mythisch dar, in der Schopfunglehre, die nur fur den »Stand- punkt des Welttreibens« gilt. So sagt er mit der Chandogya- Upanishad, dass das »Seiende, das am Anfang war, eines nur und ohne Zweites«, also brahman, aus sich die drei Ur- elemente, Glut, Wasser und Nahrung (gleich Erde) hervor- gehen liess und in dieselbe mit dem »lebenden Selbste«, d. h. mit der individuellen Seele einging. Oder, gemass der Taittiriya-Upanishad: »Wahrlich, aus diesem atman ist der akaca (= Raum, Aether) entstanden, aus dem akaca der Wind, aus dem Wind das Feuer, aus dem Feuer das Wasser, aus dem Wasser die Erde, aus der Erde die Pflanzen, aus den Pflanzen die Nahrung, aus der Nahrung das Sperma, aus dem Sperma der Mensch.*1) Eines bezieht die Kraft seines Daseins aus dem anderen, und alle zusammen aus brahman. Solche Schopfung- und Emanationtheorieen, die aus alterer, naiverer Vedazeit stammen, konnen zwar dem gereifteren philosophischen Denken nicht geniigen, aber gleichwohl darf der orthodoxe Vedanta, fur den der Veda Quell und Norm alles Wissens ist, sie nicht verwerfen. Man behauptet also, die Schopfunglehre habe keinen anderen Zweck, als die Identitat der Welt mit brahman darzuthun und deutet fur den kritischen Verstand die Kausalitat zur Identitat um, wobei das Hauptargument das Beharren der Substanz durch alle Verjinderungen hindurch abgiebt. Auf dem »Standpunkt der hochsten Realitat« aber giebt es nur noch brahman und keine Naturkrafte mehr, deren Identitat mit brahman nachgewiesen werden miisste. 1) Deussen a, a. O. p. 248. Es sei ubrigens hier nebenbei bemerkt, dass sowohl
Schopenhauer als der Vedanta die Elemente in eine gewisse Korrespondenz zu den Sinnen setzen. Nach dem Ved. wird der Aether wahrgenommen durch das Gehor, der Wind durch Gehor und Gefuhl, das Feuer durch Gehor, Gefiihl und Gesicht, das Wasser durch Gehor> Gefuhl, Gesicht und Getchmack, die Erde durch Gehor, Gefuhl. Gesicht, Geschmaek und Geruch. — Nach Schopenhauer fW. a. W. u. V. II p. 31) ist der Sinn fur die Erde das Getast, fur das Wasser der Geschmaek, fur die Luft das Gehor, fur das Feuer das Gesicht |
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Die Identitatslehre weist also hinter alien Schalen, so
bunt und verschieden sie auch sein mogen, den identischen Kern nach. Wie mannigfaltig auch, durch Zeit und Raum von einander geschieden, die Individuen sein mogen, wie gross auch dem Einzelnen die Kluft ist, die ihn unuberbrtickbar vom Nebengeschopfe zu trennen scheint, alle Unterschiede von »hier« und »dort«, »heute« und »morgen«, »ich« und »du« treffen nur das Aeussere — im tiefsten Grunde lebt in alien Wesen nur das eine, identische Ding-an-sich, ob wir es nun brahman oder Willen nennen. Hier aber, in der Identitatslehre, schlagt die Schopen-
hauer'sche Philosophic ebenso wie der Vedanta in Mysti- cismus um. Zwar gilt der Vedanta als orthodox und ist es auch
thatsachlich, sofern der heilige Veda den Untergrund seines Philosophierens abgiebt; aber er nimmt doch nicht das Wort nur als Wort. Er sucht die alten Gotterlieder zu vergeistigen; er wendet sich ab von den Formeln und Dogmen, in denen der Vedismus den religiosen Gedanken niedergeschlagen hatte. Das Opfer mit seinen verwickelten Manipulationen ist fur ihn kaum noch eine inhaltlose Ceremonie. Er sucht das Gottliche nicht mehr auf dem Opferplatz, er sucht es in der eigenen Menschenbrust. Er braucht keine positive Offenbarung mehr, er lauscht einer anderen Stimme, die aus dem Inneren des Gemiites aufsteigt. Er braucht keines Gebetes mehr, um sich dem Gottlichen zu nahern, er weiss sich vielmehr in bestandiger, innigster Gemeinschaft mit ihm, in tiefster Harmonie mit dem Urgrunde alles Daseins. Er lehrt eine ganz unmittelbare, feste, unauflosliche, innerliche Beziehung des Menschen zu dem Ewigen, eine mystische Gemeinschaft des tragenden Princips im Einzelwesen mit der Gottheit. Der Mensch ist Gott, Gott ist die Welt. Der Gesetzeskanon, die ganze Scholastik der Veden haben ihre Giiltigkeit verloren fiir den, der das heilige »tat tvam asi« begriffen, der in seinem Inneren sich selbst als urewiges Princip aller Welt erfasst hat und sich in den grundlosen Tiefen der Gottlichkeit verliert. Wie wir mystische Religionen haben, so auch mystische
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Philosophiesysteme. Ein solches ist das Schopenhauer'sche.
Sein System setzt, wie alle Mystik, das Einzelwesen in un- mittelbaren Zusammenhang mit dem Prinzip jeglichen Daseins und Wirkens, nur dass dieses von ihm nicht Gott genannt wird. Im eigenen Willen lehrt es den ewigen Willen kennen, der allmachtig das Weltall trjigt. Es erweitert die Schranken der Individualitat und verschmilzt Ich und Welt und Gott zur unio mystica. Der Gott wohnt nicht jenseits des Uni- versums; im menschlichen Selbst lasst er sich schauen, lasst er sich fiihlen, mit Han den greifen. § lO. Der Satz vom Grunde.
Wir diirfen unsere Parallele zwischen den philosophi-
schen Ansichten Schopenhauers einerseits und der indischen Weisen andererseits, die Welt des Objekts betreffend, nicht schliessen, bevor wir nicht in einigen Worten der besonde- ren Stellung gedacht, die hier wie dort, und zwar hier bei den Buddhisten, das principium rationis sufficientis einnimmt. Hier wie dort wird ihm eine besondere Wichtigkeit beibe- messen. Denn wenn auch der Buddhismus die subtilen Spitz- findigkeiten brahmanisch-dogmatischer Spekulation hinter sich lasst, sich, wie mehrfach betont, wenig kiimmert um die tief- sinnigen Gedanken des Vedanta, so ist er doch nicht so ganz bloss Verkiindigung einer reinen Moral, dass er nicht auch mit dogmatischen Begriffen arbeitete, die nicht weniger als die allgemein verstandlichen Satze vom Leiden zu seinem festen Bestand gehoren. Es sind dies Begriffe und Begriffe- verkniipfungen, von denen selbst Buddha weiss, dass sie sschwer zu erfassen sind,« die aber trotzdem solche Wichtig- keit haben, dass gerade ihre Kenntnis als das P\indament gilt, auf dem die erlosende Erkenntnis sich aufbauen kann. Es sind die Begriffe, die ihren Ausdruck gefunden haben in der »Formel vom Kausalnexus«, paticcasam-uppada, wortlich: Entstehen (des einen) durch das andere. Diese Formel tragt das ganze System Buddhas, gleich wie Schopenhauers Schrift: »Ueber die vierfache Wurzel des Satzes vom zureichenden Grunde« den Unterbau des seinigen enthalt. Und wie die |
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buddhistische Formel und die Schopenhauer'sche Schrift der
Sache nach die Vorbedingung zum weiteren Eindringen in ihre Weisheit enthalten, so sind sie auch der Zeit nach als Erstlinge dem Geiste unserer Denker entsprungen. Folgendermassen lautet die »Formel vom Kausalnexus«:
»Aus dem Nichtwissen entstehen die Gestaltungen; aus den Gestaltungen entsteht Erkennen; aus dem Erkennen entsteht Name und Korperlichkeit; aus Namen und Korperlichkeit entstehen die sechs Gebiete;1) aus den sechs Gebieten ent- steht Beriihrung;2) aus der Beriihrung entsteht Empfindung; aus der Empfindung entsteht Durst;3) aus dem Durst ent- steht Haften;4) aus dem Haften entsteht Werden; aus dem Werden entsteht Geburt; aus der Geburt entsteht Alter und Tod, Schmerz und Klagen, Leid, Kummernis und Ver- zweiflung.«5) Folgendermassen lautet die Fassung, die Schopenhauer
dem »Satz vom Grunde« als allgemeinste giebt: »Nihil est sine ratione cur potius sit, quam non sit. Nichts ist ohne Grund warum es sei.«e) Vergleichen wir diesen einfachen Satz mit dem kom-
plizierten Begriffgefuge der Formel vom Kausalnexus, so scheint der Sinn beider unvereinbar zu sein. Sehen wir aber ab von den einzelnen, zum Teil schwer erklarbaren Zwischen- gliedern, nehmen wir die Formel in ihrer Gesamtheit, so driickt sie nichts weiter aus als die strenge Gesetzmassig- keit alles Geschehens, zwar nur im Gebiet menschlichen Da- seins, aber eben das, was Schopenhauers Satz hinsichtlich alles Geschehens auf alien Gebieten behauptet. Jede Ur- sache hat dort die ihr entsprechende Wirkung, jede Wirkung die ihr gemasse Ursache. Jeder Zustand ist einerseits Wir- kung, Folge, andererseits Ursache, Grund. Alles Geschehen in der Sphare unserer Existenz ist gesetzmassig und not- wendig; dass dieser Gedanke die Anschauung Buddhas nicht weniger als die Schopenhauers beherrscht, verdient als fun- damentale Uebereinstimmung wohl hervorgehoben zu werden. Sodann stimmen beide darin iiberein, dass sie die Verkettung 1) der Shine und ihrer Objekte. 2) zwischen den Sinnen und ihren Objekten.
3) oder Begierde. 4) an der Existenz. 5) Oldenberg a. a. O. p. 240 ft". 6) Vierf. Wurzel. p. 5 |
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von Ursache und Wirkung als anfang- und endlos betrachten.1)
Und endlich weisen beide dieser Verkettung das gleiche Gebiet an. Schopenhauer namlich teilt die Welt in zwei Halften,
die im Grunde identisch sind, in die Welt als Wille, des Dinges-an-sich, und in die Welt als Vorstellung, der Er- scheinung. Nur diese ist dem Satz vom Grunde unter- worfen, jene aber seinem Anspruche entzogen. Denn der Satz vom Grunde ist eine Form unseres Intellektes, eine Funktion unseres Verstandes und als solche a priori ge- geben. Daher hat er nur fur das erkennende Bewusstsein Giiltigkeit, ist nur in dessen Bereich thatig und kann fiir das, was nie erkannt werden kann, also fiir das Ding-an-sich, nie in Betracht kommen. Er gilt nur fiir Erscheinungen, die er untereinander verkntipft, dergestalt, dass die eine sich dem Verstande als Wirkung einer vorhergehenden Ursache darstellt. Aber iiber die Erscheinung hinaus vermag er nicht zu ftihren; in der Welt als Wille erlischt sein An- spruch. Die Welt als Wille ist schlechthin grundlos, dort giebt es keine Veranderung. Zwei Welten unterscheiden auch die Buddhisten: die
Welt des leidenvollen samsara und jene des seligen nirvana. Nur die erstere ist vom sog. Kausalnexus beherrscht. Dieser ist hier das ausnahmelose Gesetz, das den jammer- lichen, qualvollen Gang der endlosen Wiedergeburten regelt, das jeden Lebenslauf mit einem vorhergehenden als unaus- bleibliche Wirkung verkniipft. Hier im samsara, verbindet das Gesetz der Kausalitat jede That mit ihrem Lohn. »Nicht im Luftreich, nicht in des Meeres Mitte, nicht, wenn Du in Bergeshohlen hinabdringst, findest Du auf Erden eine Statte, wo Du der Frucht Deiner (bosen) That entrinnen magst.«2) Denn das Kausalitatsgesetz beherrscht jede Gestalt, alle sankhara. Es besagt den unabwendlichen Untergang alles Entstandenen: »was dem Entstehen unterthan ist, ist auch dem Vergehen unterthan,« Es steht dem bestandigen 1) »Eine yordere Grenze des Nichtwissens, ihr Monche, ist nicht zu erkennen, dass
yor diesem Punkte das Nichtwissen nicht gewesen urd dass es spater entstandcn ware.« Oldenb. a. a. O. p. 263 f, p. 251. 2) Oldenberg a. a. O. p. 249. |
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Wechsel von Entstehen und Vergehen, Keimen und Welken,
Geborenwerden und Sterben vor; es gestattet keine Ruhe, es kennt kein Gliick, es bringt nur Qual. Denn Ruhe, Gliick und Frieden wohnen nur da, wo keine Veranderung mehr stattfindet, im nirvana. Dort kommt die wandernde Seele zur Ruhe und wirkt das Kausalitatsgesetz nicht mehr. Im »Ungeborenen, Ungewordenen, nicht Gemachten, nicht Ge- stalteten« hat alle Kausalitat ein Ende. Demnach hat sowohl nach Schopenhauer als nach Buddha
das Kausalitatsgesetz Gultigkeit nur in der Welt der Er- scheinung. Daraus folgt weiterhin, dass beide ihre beiden Welten nicht in kausale Beziehung setzen. Innerhalb derselben Gebiete jedoch spielt das Kausali-
tatsgesetz bei Schopenhauer eine Rolle ganz anderer Natur als bei den Buddhisten. Es ist nach Schopenhauer der Ausdruck gesetzmassigen empirischen Geschehens, sei es auf physikalischem, physiologischem oder psychologischem Felde, und nichts dariiber hinaus. In den Augen der Buddhisten hinge- gen hat die »Formel vom Kausalnexus« zunachst und vor allem eine hohere, fast mystische Dignitat als ein ethisches Gesetz, das jede That mit ihrer Siihne verkniipft und weiterhin einen Lebenslauf aus dem andern mit zwingender Notwendigkeit hervorgehen lasst. Sie bestimmt die Schicksale und den Charakter des Einzelnen und fiihrt wiederum aus dem Cha- rakter die Thaten hervor. So ist sie eigentlich nur eine Er- weiterung einer Unterart des Schopenhauer'schen Satzes vom Grunde, des Gesetzes der Motivation und hat als sitt- liche Potenz es vor allem mit dem ethisch-intellektuellen Leben des Menschen zu thun. Indem sie das jetzige Leben als Wirkung eines vorhergehenden betrachtet, nimmt sie einen wesentlich mythischen Charakter an, wahrend Schopenhauers Betrachtung rein philosophisch bleibt. B. I>ie Welt des Subjects.
§ 11. Psychologic.
Im Bisherigen sind die Ansichten mit einander verglichen
worden, die unsere Philosophen von der Aussenwelt haben. |
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Diese reiche, mannigfaltige Welt der drangenden Wesen und
. Gestalten, ist sie wirklich so, nur so, wie sie einem urteil- losen Blick erscheint? Wenn nicht, wenn wir nur eine triigende Aussenseite erfassen, was ist dann der innerste Kern aller Erscheinung, und wie ist er beschaffen? Ist die Welt ewig? Oder ist sie das Werk eines transscendenten Gottes? Und giebt es ein Gesetz, dem gemass sich alle scheinbar willkiirlichen Erscheinungen in eine feste Ordnung einfiigen, so dass nichts zufallig und alles notwendig ist? Die Ant- worten, die unsere Philosophen auf diese Fragen gegeben, sind aneinander abgemessen worden; sie haben sich zumeist als gleichlautend erwiesen. — Nun ist die Welt der Objekte nur die eine Halite der
Erscheinungswelt. Neben ihr, sie bedingend, steht die Welt des Subjekts. Das Subjekt erscheint durchaus als Individuum; dieses aber weist dem Betrachter verschiedene Seiten. Es gehort dazu ein Kdrper, ein Intellekt, ein Wille. Was davon ist das Radikale, das wahre Selbst? Diese Frage ist schon im Vorstehenden entschieden. Doch waren wir dort von aussen an sie herangetreten, hatten das menschliche Indivi- duum als ein Glied der ganzen Wesenkette, als ein Objekt unter Objekten genommen, wahrend wir nun das Ich, aus der gesamten Natur herausgegriffen, fur sich allein in seiner ganz bestimmten Wesenheit betrachten wollen, in der Ge- wissheit, auch hier merkwiirdige Beziehungen zwischen Scho- penhauer und der indischen Philosophic zu finden. 1. Schopenhauer.
Das empirische Bewusstsein, der einzige Stoff, der jeder
Philosophic gegeben ist und von dem sie somit auszugehen hat, zerfallt in das Bewusstsein des eigenen Selbstes und in das Bewusstsein anderer Dinge. Letzteres enthalt die aussere Anschauung; ersteres die innere und wird kurzweg Selbst- bewusstsein genannt.1) Beiden ist, da sie beide Erkenntnis sind, die Grundform gemeinsam: das Zerfallen in ein Er- kennendes und ein Erkanntes. Denn in jeder Erkenntnis ist neben dem Subjekt ein Objekt vorhanden — ohne diese 1) W. a. W. u. V. II p. 89.
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zwei sich gegenseitig bedingenden F'aktoren giebt es keine
Erkenntnis. Auch im Selbstbewusstsein sind sie vorhanden und streng von einander geschieden, und Schopenhauer, der durch diese seine Lehre die friihere Meinung, das Selbstbe- wusstsein sei schlechthin einfach, als falschlich darthat, wurde dadurch der Lavoisier des Selbstes; wie jener im vorher ein- iieitlich genommenen Wasser zwei Grundelemente nachwies, so Schopenhauer im Selbstbewusstsein, das erkennende Sub- jekt und das erkannte Objekt. Das Subjekt heisst Intellekt, das Objekt Willen.1) Diese beiden sind einerseits streng geschieden, andererseits aber ist das, was will, identisch mit dem, was erkennt. Diese Identitat des Subjekts des Wollens mit dem erkennenden Subjekt, dem jenes im Selbstbewusstsein als Objekt gegeniibersteht, konstituirt das »Ich«, das »Selbst«.4) Das Ich zerfallt demnach in zwei Teile: in Willen und Intellekt. Zum Willen gehort schon der Korper als seine Objektitat; indem er nichts weiter ist als der Objekt, an- schaubar gewordene Wille. Das Gehirn, an das der Intellekt, wie empirisch nachzuweisen, gebunden ist, gehort mit zum Korper. Somit ist der Intellekt das Sekundare, das Primare ist der Wille, der den Korper und in diesem das Gehirn mit seiner Funktion, dem Erkennen, hervorbringt. Der Wille ist metaphysisch, das Ding-an-sich, der Intellekt ist empirisch, physisch, Erscheinung. Der Wille ist die Substanz, der Intellekt das Accidens. Der Wille ist daher unver- anderlich und unverganglich, der Intellekt wachst und nimmt ab und stirbt — mit dem Gehirn. Es ist ein Grundgedanke der indischen Philosophic: was der Veranderung unterworfen ist, kann niemals das wahre Selbst des Menschen sein. Der- selben Meinung ist auch Schopenhauer, darum setzt er das Selbst nicht in die Erkenntnis, sondern in den Willen. Das Ich, das uns im Individuum entgegentritt, ist folglich aus zwei sehr heterogenen Bestandteilen zusammengesetzt, welche Verbindung durch den Tod gelost wird. Dem Willen, als dem Ding-an-sich, dem wahren eigentlichen Selbst ist Un- |
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I) Vierf. Wurzel p. HO; W. a. W. u. V. It 'p. 225 u, o. 2) Vierf. Wurzel p. 143.
Vergl dazu den Vedanta, Deussen a. a. O. p, 55. Anm. 28; p, 56 Anm. 30. |
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sterblichkeit gewiss; der Intellekt wird der Vernichtung
tibergeben. Nach alledem sind wir befugt, ein doppeltes Ich anzu-
nehmen, ein empirisches, das den Willen in Gemeinschaft und Verbindung mit dem Intellekt entha.lt, und ein meta- physisches, den Willen, ohne den Intellekt. Ersteres ist der Wille als Individuum, letzteres der Wille ausserhalb aller Individualitat. Wahres Ich aber ist nur dieser, und die ganze Welt ist mein wahres Ich: tat tvam asi. 2. Vedanta.1)
Das Ding-an-sich ist im Vedantasystem rein geistiger
Natur, woraus folgt, dass auch das Wesen des Menschen in die Geistigkeit zu setzen ist. Der Mensch hat eine »Seele«, ein vor allem erkennendes Princip, das den Untergang des Leibes iiberdauert. Und zwar ist es nur der »grobe Leib«, also diese ausserliche Gestalt, die im Tode zu nichte wird, indes die Seele, die an sich mit dem ewigen brahman identisch ist, aus der zerfallenden Wohnung auszieht und sich auf die Wanderung begiebt. Ein seltsames Gefolge begleitet sie, das wir betrachten wollen, weil das menschliche »Ich« aus der eigentlichen »Seele« und ihrem Gefolge besteht. Obgleich die Seele die Erkenntnis iiberhaupt ist, fiihrt
sie mit sich auf die Wanderung die besonders daneben ge- stellte Fahigkeit zum empirischen Erkennen, in Gestalt der indriya's, der »Kraftigen«.2) Es sind dies die zu besonders fur sich bestehenden Wesenheiten hypostasirten Funktionen der korperlichen Organe, des Auges, der Nase, der Hand, des Fusses u. s. w. Wahrend die ausseren Organe als Be- standteile des »groben Leibes« im Tode vergehen, bleiben die Krafte, die in ihnen ihren Sitz hatten, bestehen. Es giebt dieser indriyani zehn, von denen fiinf, die jnana-indriya's, Erkenntnisvermogen sind, die wir an dieser Stelle betrachten. Sie heissen Gesicht, Gehor, Geruch, Geschmack und Gefiihl. Sie werden regiert von einem Centralorgan, dem manas, 1) Auf die Frage nach dem »Selbst« haben die verschiedenen indischen Systeme
die verschiedensten Antworten gegeben. Dieselben werden von Cankara zusammengefasstP Deussen, a. a. O. p. 136. 2) Deussen, a. a. O. p. 356 ff. |
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dessen Aufgabe es ist, die von den jMna-indriya's gelieferten
Data zu Vorstellungen zu verarbeiten. Das manas bedeutet eben das, was Schopenhauer denVerstand nennt.1) In diesem Sinne citiert Cankara eine Stelle der Brihad-aranyaka-Upanishad- »Mit dem manas sieht man, mit dem manas h6rt man«.2) Die indriya's haben im Leben den ganzen Leib durchzogen; das manas, der Verstand, hat seinen Sitz im Herzen, und in ihm wohnt, seinen ganzen Umfang in engster Verbindung mit ihm ausfiillend, die Seele. Mit manas und indriyas, diesen rein geistigen Potenzen, bewehrt, zieht die Seele, an sich schon rein geistiger Natur (atman = brahman), aus, um imJenseitsLohn oder Strafe fur ihre Erdenthaten zu empfangen, und dann, zur Vervollstandigung der Vergeltung, auf s Neue in einen Korper einzugehen. Ein wesentlich anderes Bild als Schopenhauer bietet
uns der Vedanta. Es ist nach ihm der Intellekt, der, das Selbst des Menschen ausmachend, dem Tode entgeht und zum Keim einer neuen Existenz wird. Die Wahrheit ist zweifelsohne hierbei nicht auf Seite der Vedantisten. Der Intellekt, dieses unvollkommene, der Veranderung zugangliche,. in vielen Menschen nur rudimentarisch vorhandene Ding,, sollte das Ich des Menschen sein ? Die Vedantisten haben selbst gefiihlt, dass ein Wesen, das rein intellektueller Natur wie ihre Seele ist, unmoglich eine neue Existenz in der Korperlichkeit schaffen kann. Denn der Geist tragt in sich. allein keine schopferische. lebenspendende Kraft; diese ist dem Willen zugewiesen, In diesem Sinne nun hat der Vedanta mit der wandernden Seele noch andere upadhi's oder »Bei- legungen« verbunden, die zwar offenbar deren reine Geistigkeit triiben, aber unumganglich notig sind zum Verstandnis, wie die Seele sich einen neuen Leib zu bilden vermag. Und wunderbar — oder auch nicht wunderbar, wie man es nehmen. will, als eine Uebereinstimmung, durch Zufall oder die Natur der Sache herbeigefiihrt, — diese anderen upadhi's nahern den Begriff der Seele dem Schopenhauer'schen Willen. Zunachst stehen neben den fiinf jfiana-indriya's oder Er-
kenntnisvermogen die fiinf karma-indriya's oder Thatvermogen,. 1) Diese Deutung giebt schon Detissen. 2) Deussen, Vedanta. p. 338.
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namlich die Funktionen des Gehens, Redens, Greifens, Zeu-
gens, Entleerens. Sie sind es, die im Leben die entsprechen- den Handlungen regieren. Auch sie unterstehen dem Central- organ des manas, das also hier nicht mehr als Verstand, sondern als der bewusste Wille auftritt.1) Das manas, das die von den jnana-indriya's gelieferten Empfindungen benutzt, um als Verstand Vorstellungen daraus zu konstruieren, nimmt zu gleicher Zeit in seiner Eigenschaft als bewusster Wille diese Vorstellungen als Motive, um die karma-indriya's zu den beziiglichen Werken zu veranlassen.2) So werden ihm als »Funktionen« unter anderem in der Brihad-aranyaka- Upanishad beigelegt: Wunsch (kama, eigentlich Begierde, nach Geschlechtsgenuss,)3) Furcht, Bestandigkeit, d. h. Festig- keit, Sich-aufrecht-halten bei Miidigkeit des Leibes.4) Das manas wohnt im Herzen; im Herzen koncentriert sich auch nach Schopenhauer die Kraft des Willens.5) — ■— Die karma-indriya's schliessen sich der wandernden Seele gleich- falls an. Eine blosse Annaherung an die Schopenhauer'sche Lehre ist hier gegeben, noch nicht eine wirkliche Verbesse- rung der eigenen Meinung erreicht; denn im Tode wird offenbar durch den Verlust der Erkenntnis auch der bewusste Wille unterbrochen, wahrend nach dem Vedanta der Seele der bewusste Wille in den Thatvermogen erhalten bleibt. Die zehn indriya's sind vom manas abhjingig und dieses seinerseits von dem mukhya prana, worunter die vedantisti- sche Dogmatik den »Hauptlebensodem« versteht.6) Wie die indriyani die fur sich bestehenden Hypostasen der erkennen- den und handelnden Thatigkeit, also des bewussten, anima- lischen Lebens, sind, so der mukhya prana die des unbe- wussten, vegetativen. In seinen fiinf Verzweigungen: prana, apana, vyana, samana, udana besorgt er zumeist die Regu- lierung des Atmens; so ist vyana die Kraft, die das Leben unterhalt, wenn der Atem, in Ohnmachten und dergl., zeit- weilig stockt. Samana ist das Prinzip der Verdauung. Der mukhya prana ist thatsachlich nichts anderes, als was Scho- 1) So interpretiert auch Deussen. 2) Deussen, Vedanta p. 358. 3) Nach Schopen-
hauer ist kama eine Aeusserung des unbewussten, instinktiven Willens. 4) Deussen a. a. O. p. 358. 5) W. a. W. u. V. II p. 267. 6) Deussen a. a. O. p. 359 ff. p. 366 ft". Die Deutung <Ies mukhya prana als des vegetativen Willens giebt auch Deussen. |
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penhauer den unbewussten Willen nennt, der den Organis-
mus konstituiert und erhalt. Er ist als solcher das »alteste« aller korperlichen Organe; denn seine Thatigkeit beginnt von dem Augenblick der Injektion des Sperma an;1) ohne ihn konnen die iibrigen Organe, die sich erst spater entwickeln, »nicht leben.« Er bleibt wach und wirksam, wenn die in- driyani und das manas schlafen oder sonst ihre Thatigkeit eingestellt haben; er »stiltzt, ernahrt und belebt« den ganzen Leib.2) Als sein Hauptsitz gelten die 72000 Adern, durch die das belebende Blut fliesst, und im Blute objektiviert sich nach Schopenhauer der Wille am unmittelbarsten.3) Da nun auch der mukhya prana die wandernde Seele begleitet, so sehen wir, in wiefern der Vedanta seine Anschauung von dem unsterblichen Selbst, das urspriinglich als nur intellek- tuell gedacht wird, modifiziert hat. Wie nahe man der Wahr- heit gekommen, geht daraus hervor, dass man eine Zeit lang das Selbst des Menschen eben im mukhya prana suchte, im unbewussten Willen Schopenhauers.4) Weshalb nun als ein weiterer Bestandteil — mythisch
ausgedriickt: Begleiter — der wandernden Seele noch der sukshmam cariram genannt wird, ist nicht klar.6) Es ist dies der »feine Leib,« die Gesamtheit der feinen Elemente, aus denen in der neuen Erdenexistenz der grobe Leib erwachsen soil, »der Samen des K6rpers,« und er tragt die indriya's, wie der grobe Leib die entsprechenden ausseren Organe. Nicht klar wenigstens von Schopenhauer'schem Standpunkt aus; indem ja schon der mukhya prana als unbewusster Wille einen Korper zu bilden im Stande ist. Auch in an- derer Beziehung wirkt die Einfuhrung des sukshmam cariram, storend. Er besitzt namlich, obwohl durchsichtig und daher unsichtbar, Materialitat,6) wodurch in die Vorstellung der Seele und ihres Gefolges, welch erstere als rein geistig, letzteres als ein Verein immaterieller Krafte aufzufassen ist,7) ein absolut fremdes, widersprechendes Element hineingetragen wird. Vielleicht aber diirfen wir die Annahme des materi- 1) ib. p. 360. 2) ib. p. 361, 364. 3) W. a. W. u. V. II p. 286. Diesen Gedanken
hat besonders Philipp Mainlander in d^n Vordergrund geriickt. 4) Deussen a. a, O. p. 366. 5) ib. p. 399 ff. 6) ib. p. 401. 7) Es scheineu zmveilen auch die indriya's als ungeistig be- trachtet werden zu musscn ; Deussen a. a. O. p. 260, 362, |
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ellen sukshmam cariram mit Schopenhauer interpretieren als
Ausdruck des dunkel vorhandenen Gefiihles, dass auch die Materie unseres Korpers unverganglich ist, worin, wie Scho- penhauer lehrt, eine Seite unserer Unsterblichkeit besteht.1) Uebrigens lehrt auch Scotus Erigena die Auferstehung mit einem geistlichen, aber doch aus den vier Elementen be- stehenden (geschlechtlosen) Leib.2) In dem manas durften wir den bewussten Willen, der
sich in Thaten aussert, in dem mukhya prana den unbe- wussten Willen erkennen, auf dem alles vegetative Leben beruht. Der Schopenhauer'sche Willen aber, der als das Ding-an-sich unsere Individualitat iiberdauert, ist mehr als manas und mukhya prana. Er hat nicht nur eine konstitu- tive, gestaltenbildende Bedeutung, sondern vor allem eine ethisch-moralische. Er ist zugleich der intelligible Charakter des Einzelnen, ein ausserzeitlicher Akt, der die moralische Beschaffenheit des Menschen vor der Erscheinung nach ihrer guten oder bosen Seite hin auf immer feststellt. Auch in dieser Beziehung nahert sich der Vedanta der Schopenhauer- schen Lehre, indem er als letzten Begleiter den sogenannten »karma-a.graya« der wanderaden Seele zugesellt, den »Werk- schatz«, die »moralische Bestimmtheit« der Seele.8) Es ist der durch das Leben angesammelte Schatz von Werken und findet im Jenseits und hernach auch im Diesseits seine Kom- pensierung, und zwar hier auf Erden durch die Gestalt des neuen Daseins, dessen ganze Anlage nach Geniessen und Leiden durch ihn bestimmt wird. Wir sehen, es ist ein ziemlich komplizierter Apparat,
den die Seele auf ihrer Wanderung mitschleppt, im Gegen- satz zu dem einfachen Willen, den die Philosophic Schopen- hauers Korper und Individualitat uberdauern lasst. Durch manas, mukhya prana und karma-acraya wird die Seele dem Schopenhauer'schen Willen zwar bedeutend nahergebracht, jedoch ist der Unterschied zwischen beiden nicht ganzlich zu tilgen, da die Seele an sich brahman ist und bleibt. Somit ist auch der Vedanta von dem Fehler, den Schopenhauer 1) W. a. W. u. V. II p. 539. 2) Preger, Mystik I p. 164. 3) Deuss»n a. a. O.
p. 404 ff. |
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an alien seinen Vorgangern riigt, nicht frei, indem auch er
das wahre Verhaltnis umkehrt und anstatt im Willen das Primare, im Intellekt das Sekundare zu erkennen, den In- tellekt zum Ding-an-sich, den Willen aber zur Erscheinung macht. Wohl sagt auch er: »Fiirwahr, aus Willen ist der Mensch gemacht!« — aber er nimmt diesen Satz nicht im metaphysischen Sinne, wie es Schopenhauer thut. Der Wille bleibt das Sekundare. Das geht z. B. daraus hervor, dass Verlangen, Wunsch und Entschluss unter die »Qualitaten« des manas gerechnet werden, von denen ausdriicklich gesagt wird, sie gehorten nicht zum Selbst.1) Erst, wenn das qua- litat- und eigenschaftlose brahman durch den triigenden Schleier der maya hindurch als behaftet mit den nichtigen upadhi's erscheint, wird es »allwirkend, allwiinschend« genannt; in Wahrheit ist und bleibt es »das wiinschelose.« Endlich sind manas, mukhya prana und karma-acraya, in die der einfache Wille zerlegt erscheint, nur upadhi's, un- rechtmassige »Beilegungen«, die nur fur die individuelle Seele Geltung haben und wie diese auf der avidya beruhen. Bei Schopenhauer ist umgekehrt der Intellekt ein upadhi des Willens. 3. Buddhismus.
Nach buddhistischer Anschauung setzt sich der geistig-
leibliche Komplex des Lebens, des Individuums zusammen aus folgenden fiinf »khandha's«: Korperlichkeit,Empfindungen, Vorstellungen, Gestaltungen, Erkennen. Vom Willen ist hier iiberhaupt keine Rede. Allenfalls lassen sich die »Ge- staltungen« gemass der Darstellung, die Oldenberg von diesem, etwas unklar gelassenen Begriffe giebt, als ein Sehnen, Streben, Wollen auffassen.2) Doch muss hervor- gehoben werden, dass auch die »Gestaltungen« im Tode zu nichts werden, nicht weniger, als die drei ersten khandha's, und sie somit, was die Verganglichkeit anbetrifft, auf der- selben Stufe wie die Korperlichkeit stehgn. Im Brahma- nismus ging doch nur diese, der »grobe Leib« unter. Im Buddhismus hingegen bleibt nur das funfte khandha, das Er- 1) Deussen a. a. O. p. 56. Anm. 29. 2) a. a. O. p. 267.
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kennen, vinfiana, von der Macht des Todes frei. Das Er-
kennen ist es, das beim Tode aus dem Menschen entweicht, um zu neuer Geburt im Augenblick der Zeugung sich in einen neuen Mutterleib zu senken. Das Erkennen ist das Band der einzelnen Existenzen. Bis das Erkennen restlos im nirvana erlischt, so lange dauert der miihselige Kreislauf des samsara.1) ■— Dieser Begriff des Erkennens ist jeden- falls ein Erbteil aus dem Schatze brahmanistischer Speku- lation. Wenn von ihm gesagt wird: »Das Erkennen, das Unzeigbare, das Unendliche, das Allleuchtende: das ist es, wo nicht Wasser noch Erde, nicht Feuer noch Luft eine Statte findet, in welchem Grosse und Kleinheit, Geringes und Machtiges, Schones und Unschones, in welchem Name und Korperlichkeit ganz und gar aufhort.«a) — so meinen wir einen Vedantisten von atman-brahman reden zu horen. Es ist ebenso der atman, die individuelle Seele, der nach der Dogmatik des Vedanta vermittelst des Spermas in den Mutterschoss gelangt und hier »Namen und Gestalt« (groben Leib und indriya's) entwickelt. Auch dass das Erkennen als »Zuschauer« bei jedem Erkenntnisakt gedacht wird,s) entspricht dem »Zuschauersein« des atman, so weit er pa- ramatman ist.4) Aber wahrend der Vedanta an der Vor- stellung einer Seele festhalt, die, wie sehr auch ihre Geistigkeit durch fremde Elemente getriibt werden mag, ein rein er- kennendes Prinzip ist und bleibt, ein in sich beruhendes, unwandelbares, unteilbares, ewiges Wesen, so ist der Re- ligion Buddhas ein solcher Begriff durchaus fremd. Der Buddhismus leugnet schlechtweg eine Seele. Und ebenso Schopenhauer. Hier treten der morgen- und der abendlan- dische Buddha in schroffe Opposition zum Vedantasystem. Im iibrigen haben die Wege, auf denen beide zu dieser wichtigen Gemeinschaft gelangen, nur wenig Aehnlichkeit. Wie schon mehrfach, sehen wir auch hier zwei Gedanken- reihen konvergieren, die nichts als ihren Endpunkt gemeinsam haben. Ob die Moglichkeit, denselben Gedanken auf ver- schiedene Weise zu begriinden, ein Kriterium fur seine |
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1) Oldenberg a. a. O. p. 244 ff. p. 289. 2) ib. p. 246. 3) ib. p. 252. 4) cf. p. 108.
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Richtigkeit ist, lassen wir hier dahingestellt sein — im Geiste
Schopenhauers wiirde es fraglos ein solches bedeuten. Schopenhauers Beweis der Nichtexistenz einer Seele tragt
wesentlich materialistische Farbung.1) Der Wille ist das Ding-an-sich, das Primare. Seine unmittelbare Objektivation ist der menschliche Korper. Ein Teil des Korpers ist das Gehirn. Die Funktion des Gehirns ist der Intellekt. Die Hypostasierung dieser Funktion ergiebt den Seelenbegriff. Diese Hypostasierung ist aber durchaus ungerechtfertigt, sofern sie auf ein schlechthin einfaches, immaterielles, urspriinglich erkennendes Wesen hinleitet, dem wegen seiner Einfachheit und daraus folgender Unteilbarkeit ewige Dauer und Un- sterblichkeit beizulegen ware. Ein solches Wesen giebt es nicht, ein ens rationis; es giebt kein absolutes Erkennen; sondern das Erkennen ist in gleicher Weise das Resultat der Gehirnthatigkeit wie die* Galle Erzeugnis der Leber ist. Das Gehirn »sondert« Gedanken ab, nicht weniger als die Hoden den Samen, die Nieren den Urin. Der Intellekt ist und bleibt physischer Natur; seine ganzliche Abhangigkeit vom Organismus kann durch zahlreiche Thatsachen belegt werden. Er wird geboren, altert und stirbt, und schliige man aus alien Schadeln den Gehirnbrei, so wiirde es aus mit dem Geiste sein. Also hat jene uralte, transscendente Hypostase, Seele genannt, gar keine Berechtigung; das ens rationis, das zunachst erkennt, oder sogar abstrakt denkt, und erst infolge hiervon auch will, ist ein Unding. Diese Be- zeichnung muss nach Schopenhauer auch fur das brahman gelten. Wenn wir nicht befugt sind, in dem buddhistischen »Er-
kennen« ein Analogon zu der »Seele« zu finden, so ist der Grund hiervon eine ahnliche Betrachtung der Buddhisten iiber das Erkennen, als wie sie Schopenhauer iiber den In- |
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1) Schopenhauer fiihlte eine Art von personlicher Feindschaft, wie gegen den Be-
griff des personlichen Gottes, der aus der jiidischen Mythologie stamme, so auch gegen den der Seele. Wahrend er den personlichen Gott in seinen Briefen an Frauenstadt nur den »alten Juden* nennt, dessen Aktien schlecht standen, schreibt er iiber die Seele: »Seele, Seele, Seele —• Ist ein Pfaffen- und Alte-Weiber-Wort, das man nicht gebrauchen soil, ein Unding, eine Fiktion der Spiritualisten. Aus Hass gegen dasselbe schreibe ich rigo- ristisch: Triibsalig.4 Lindner-Frauenstadt: Arthur Schopenhauer, p. 688. V
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tellekt anstellt: eine materialistische. Fur die Buddhisten
ist das Erkennen direkt materiell. Das Element des Er- kennens steht in gleicher Linie mit dem Element der Erde, des Wassers, des Feuers, der Luft, des Aethers. Mag sein Stoff auch feiner sein als der der iibrigen fiinf Elemente, hoch erhaben sein iiber die anderen, es ist und bleibt ein irdisches Element, das von Buddha neben Wasser und Erde genannt wird.1) Zum Begriff der Seele gehort aber unum- ganglich auch der der Immaterialitat. Mehr aber als diese materialistische Vorstellung des Er-
kennens giebt zur Leugnung einer Seele den Ausschlag die idealistische Ansicht von der Struktur alles Seins. Wir fuhrten § 5 aus, dass der Buddhismus alien Wesenheiten darum hochste Realitat abspricht, weil er sie alle als eine verschlungene Kette von Veranderungen betrachtet, die be- standig wechseln und keinen Zustand der Ruhe gestatten. Jedes Ding ist in jedem Augenblick anders als vorher; alle Dinge sind sankhara. Der Begriff der Substanz wird grund- satzlich verworfen und mit ihm der einer Seelensubstanz. Alles Sein ist nur ein ununterbrochenes Kommen und Gehen, Zu- und Abfliessen, so auch das Ich, die Seele. Wie unsere Physiologie lehrt und beweist, dass der menschliche Korper allein durch den bestandigen Wechsel der Materie besteht, durch die Aufnahme neuer Stoffe und das Abstossen der verbrauchten, so behauptet sich das Ich nur durch den wech- selnden Zufluss der Vorstellungen, nach buddhistischer Psycho- logic Die Seele ist wie ein Fluss, in dem Welle auf Welle sich drangt und verrinnt, wie eine Flamme, der immer neuer Brennstoff zugefiihrt wird, die nur durch diese bestandige Zufuhr Bestand hat, aber eben auch darum in jedem Augenblick eine andere ist, ob auch ein ungeiibtes Auge sie fur die gleiche halten mag. — In gleichem Sinne hat auch Herbart das Ich als einheitliche Substanz verworfen; auch er ver- wandelt es aus der einfachen Substanz in das Produkt der einzelnen Vorstellungen, das sich andert je nach den je- weiligen Vorstellungen, deren Kreuzungspunkt das Ich ist. Und so ist auch nach Schopenhauer das gesamte Be- 1) Oldenberg. a.a. O. p. 246.
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wusstsein in einem »standigen Fluss« begriffen, aber, was die
Buddhisten nicht gelten lassen, alle Vorstellungen sind zu- sammengehalten durch das Band ihrer Beziehung auf einen individuellen Willen.1) Der Buddhist hingegen kennt keine Dauer im Wechsel, ihm ist das Ich nichts weiter als ein gedanklicher Begriff, der ausserlich zusammenfasst, was in Wahrheit keine Einheit zulasst. Es fehlt also das not- wendigste Ingrediens zur Vorstellung einer Seele : die Substanz. Und da nicht weniger als der Intellekt auch die vier anderen khandhas als sankhara gelten, so giebt es nach buddhistischei Anschauung uberhaupt keine in sich geschlossene individuelle Personlichkeit. Person ist nichts denn »Name, Benennung, Bezeichnung, Ausdruck, Wort« —; »nur ein Haufe wandel- barer Gestaltungen (sankhara) ist dies; nicht findet sich hier eine Person. «8) Lasst sich aber nicht einmal hier, im Dies- seits, die gefestigte Innerlichkeit einer Person ausmachen, wie viel weniger kann man Personlichkeit und Seele im nirvana finden.3) — Eine grosse Schwierigkeit oder geradezu Unmoglichkeit liegt darin, diese Anschauung vom Erkennen mit der Metempsychosenlehre zu vereinigen: das Erkennen, dieses geistig-materielle Element, das im Grunde nur ideal vorhanden ist, dient als Verbindungsglied der einzelnen Existenzen! Nirgend hat sich die Verachtung, mit der Buddha tiber alles hinwegsieht, was nicht ethischer Natur ist, zum Schaden der Verstandlichkeit und Klarheit so geracht als eben hier.4) Sonderbar ist es, dass unter den fiinf khandha's, aus denen
die Personlichkeit, oder vielmehr das, was ein naiver Mensch fur Personlichkeit halten mag, zusammengesetzt ist, nicht die machtige Triebfeder des Willens genannt wird. Die Begierde, der »Durst« gehort dem Menschen direkt nicht an, wie sehr auch sein tiefstes Wesen davon ergriffen zu sein scheint. Man fasst den Durst als eine unselige Krankheit, von der 1) W. a. W. u V. II Kap. 14, 15. 2) Oldenbcrg a. a. O. p. 274—284. 3) ib. p.
-303 f. 4) Die Nichtigkeit der Individualist ist durchaus altbuddhistische Lehre. Main- lander durfte nicht (Philosophic der Erlosung, Bd. II p. 73 ff.) dem indischen Weisen seine eigene Ansicht von der realen Substantialitat des Ich unterschieben. Indem er diesen Ge- danken in den Mittelpunkt des Buddhismus stellte und von hier aus das gan/e System zu erklaren gedachte, hat er nur eine geistreiche, aber keine richtige Interpretation der von ihm so geschatzten Religionsphilosophie geben konnen. |
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alles Lebende ergriffen ist, die zwar vom Organismus, wie
er nun einmal gestaltet ist, unausbleiblich hervorgebracht, aber doch auch mittelst der Erkenntnis erfolgreich bekampft und vernichtet wird. Doch scheint auch hier eine Unklarheit •des Denkens obzuwalten: indess auf der einen Seite der »Durst« als die Wurzel alles menschlichen Daseins, als die Essenz alles menschlichen Wesens zu denken ist, findet er keine Erwahnung, wenn die Psychologie den geistigen Menschen in seine Bestandteile zerlegt.1) § 12. Der Intellekt.
Die im vorigen § gegebene Darstellung der Psychologie
bedarf noch einer Erweiterung; es handelt sich um die Lehre vom Intellekt. Dass die Anschauungen, die Schopenhauer einerseits, der Vedanta andererseits von ihm haben, sich nicht decken, ist genugsam hervorgehoben — sie konnten es nicht, weil wir sie vom Standpunkt der Frage nach dem Ding- an-sich betrachteten. Von diesem aber abgesehen, werden wir durchgreifende Analogien finden, und was mehr ist, wir werden finden, dass der Vedanta nicht nur, wie oben gezeigt, in seinem Ding-an-sich dem Schopenhauer'schen Willen nahe- kommt, sondern auch umgekehrt Schopenhauer in seinem Intellekt dem vedantistischen brahman. Auch will betont werden, dass in beiden Systemen dem Intellekt eine unge- meine Wichtigkeit beigelegt wird. Das lasst sich fur den Vedanta a priori an der That-
sache abnehmen, dass er im Intellekt, wie bekannt, das Ding- an-sich erkennt. Demnach giebt es fur ihn eigentlich nur Intellekt, und dass die Pflanzen Seele haben, wenigstens Empfindung, wird mit klaren Worten gesagt.2) Selbst Holz, 1) Ueberhaupt ist die buddhistische Psychologie ziemlich verwirrt. Neben der
Korperlichkeit, der Sensibilitat (= Empfindungen), dem Willen (= Gestaltungen ?) wird als weiterer Bestandteil der Individualist aufgefuhrf- die Vorstellungen und das Erkennen. Schwerlich haben wir hier ein Analogon zu Schopenhauers Verstand und Vernunft. Denn ausser Vorstellungen und Erkennen wird weiterhin noch das ^Denken* (mano) namhaft gemacht, und zwar als der sechste Sinn, dem die dhamma, die Begriffe als Objekte gegen- iiberstehen. Oldenberg a. a. O. p. 252. So gehort die Fahigkeit zum Denken direkt der Sensibilitat an. Und endiich begreift man unter dem ^Erkennen* vifmana auch den ein- zelnen Erkenntnisakt, der durch das Auge oder die iibrigen ftinf Sinne vermittelt ist, so dass verstandige und verniinftige Vorstellungen nicht unterschieden werden. ib. p. 252 Anm. 3. 2) Deussen: Vedanta p. 257, 258, 244, 393 |
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Erde u. s. w. betrachtet er (freilich im Gegensatz zum Veda,
der fur die Ungeistigkeit der Welt eintritt) als ein »umge- wandeltes« Geistiges, »dessen Geistigkeit sich unserer Wahr- nehmung entzieht, wie die des wirklich Geistigen in Schlaf und Ohnmacht.K1) Doch fehlt es auch an specielleren Be- weisen fur die Anerkennung der Wichtigkeit des Intellektes nicht. Dahin gehort, dass den Tieren unendliches Leiden, den Gottern unendlicher Genuss zugeschrieben wird,3) eine Anschauung, die, wie P. Deussen richtig bemerkt, wohl nur da sich bilden kann, »wo die Hohe der Lust nach dem Grade der Intelligenz bemessen wird, wo somit die intellek- tuellen Geniisse als die hochsten geschatzt werden.«3) Was den Buddhismus angeht, so erkennt auch er die Wichtigkeit des Intellektes durchaus an. Das Erkennen ist das Band der Existenzen; es besteht aus dem feinsten, erhabensten aller irdischen Elemente. Schopenhauer endlich kann sich nicht genug thun im Lobe des Intellektes, durch den der Wille erst die hochste Stufe seiner Objektivation erreicht. Auf dem Intellekt beruht die Moglichkeit der Welt als Vorstellung iiberhaupt, beruht im Einzelnen alles, was die Welt der Tiere von der der Pflanzen und gar erst von der anorganischen Natur so machtig unterscheidet. Und wie hoch erhebt jene Steigerung des Intellektes, die Vernunft, den Menschen iiber das nur des Verstandes teilhaft gewordene Tier. Gedachtnis, Besonnenheit, Sprache, planvolles Zusammenwirken zu ziel- bewusster Arbeit in.Staat, Wissenschaft und Kunst — das alles verdankt der Mensch der Vernunft. Und endlich das Genie, wie hoch steht es dank seiner ungemeinen Geisteskraft wieder iiber dem profanum vulgus! — Eines aber ist es vor allem, das auf die Wichtigkeit des Intellektes das hellste Licht wirft; es ist der Satz: »Aus der Erkenntnis die Er- 16sung!« Das ist der erhabene Gedanke, in dem die Philo- sophen des Ganges im Orient mit ihrem Geistesverwandten am Main im Occident, iiber den Zeitraum von Jahrtausenden hinweg, zusammenstimmen. Durch Erkenntnis allein gelang der unselige, schmerzenreiche samsara, dieser peinvolle |
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1) ib. p. 271. 2) ib. p. 258. 3) Beachtenswert ist auch die Anmerkung Deussen
zu dieser Stelle. |
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Wechsel von Geburt und Tod, mit all seinen bitteren Leiden
und triigerischen Freuden zur ewigen Ruhe. Das Wissen ist die heilende Kraft.1) So schon in altvedischer Zeit, wo nicht allein das Opfer, sondern auch das Wissen von der Macht des Opfers Erlosung brachte: »machtig wird er selbst, ohnmachtig wird der P'eind und Widersacher dessen, der solches weiss.«2) Diese kurze Zusammenstellung mag lehren, welche Rolle
die einzelnen Systeme dem Intellekte zugedacht haben. 1. Das metaphysische Erkennen.
Auf pag. 134 des ersten Bandes der W. a. W. u. V. sagt Schopenhauer von dem Willen als Ding-an-sich: »Schon die allgemeinste Form aller Vorstellung, die des Objekts fiir ein Subjekt, trifft ihn nicht; noch weniger die dieser untergeordneten, welche insgesammt ihren gemeinschaft- lichen Ausdruck im Satz vom Grunde haben, wohin be- kanntlich auch Zeit und Raum gehoren, und folglich auch die durch diese allein bestehende und moglich gewordene Vielheit.« Im 18. Kapitel des zweiten Bandes der W. a. W. u. V., wo »von der Erkennbarkeit des Dinges-an-sich« gehandelt wird, behauptet unser Philosoph, dass der Wille nur in die Form des Raumes nicht eingehe. Dennoch be- steht zwischen beiden Stellen kein Widerspruch. Wenn wir das Ding-an-sich »Willen« nennen, so ist immer daran zu denken, dass diese Bezeichnung insofern keine ganz adaquate ist, als der Name einer Species dem Genus beigelegt wird. Und so ist in der zweiten angefuhrten Stelle thatsachlich nur von der Species die Rede, die als solche in Wirklichkeit das Ding-an-sich nicht ist, wahrend das erste Citat eben dieses meint. Das Ding-an-sich in seiner wahren Wesenheit bleibt ewig unerkennbar; erkennbar ist einzig seine deut- lichste Erscheinung. Wo Schopenhauer also vom Willen spricht, ist stets darauf zu achten, ob er Genus oder Species 1) »Der ist nur ein Nichtseicnder. der brahman als nicht.seiend weiss;
Wer brahman weiss als Sciendes, heisst daduich selbst ein Seicnder.*. Deussen a. a. O. p. 140.
*Sein Name ist "hoch"; denn hoch iiber allem Uebel ist er; Hoch hebt sich iiber alles Uebel, wer solches weiss.* ib. p. 151. 2) Oldenberg a. a. O. p. 20.
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im Auge hat, will man den faktischen Sinn nicht ganz ver-
fehlen. — Eine gleiche Unterscheidung muss da statt haben, wo
vom Erkennen die Rede ist. Wir miissen unterscheiden zwischen einem absoluten erkennenden Subjekt und einem empirischen Subjekt. Ersterem steht die Welt der Objekte in unversohnlichem Gegensatz gegeniiber, so zwar, dass mit dem einen im Verhaltnis der Vorstellung auch gleich die andere gesetzt ist, und umgekehrt. Das zweite empirische Subjekt ist der Intellekt des Individuums. Dieses Subjekt schafft erst die Welt der Objekte durch seine aprioristischen Formen, Zeit, Raum und Kausalitat. *) Das erste ist ewig; das zweite verfliegt mit dem Tode des Gehirns. Das erste ist als »ewiges Weltauge« Korrelat der Ideeen, der fest- stehenden Stufen der Willensobjektivationen; das zweite vermag nur Erscheinungen und deren Relationen zu ergreifen. Das erste ist in jedem ganz und ungeteilt enthalten, so dass ein einziges erkennendes Wesen die Welt als Vorstellung in ihrer Gesamtheit fur sich allein erganzen kann; das zweite ist von der Textur des Gehirnes und anderen Zufalligkeiten (Lange des Halses) abhangig, kann verkiimmert oder zur hochsten Feinheit ausgebildet sein, wonach die Verschiedenheit zwischen Mensch und Mensch hinsichtlich ihrer intellektuellen Fahigkeiten so gross ist, »dass die zwischen Konig und Tagelohner dagegen gering erscheint,« und demgemass jeder von der Welt als Vorstellung nur so viel erfasst, als sein Intellekt gestattet. Jenes erste Subjekt ist ein metaphysisches, jenes zweite ein physisches. Das metaphysische Subjekt ist das Prius aller physischen. Im metaphysischen Subjekt des Erkennens haben wir
einen unmittelbaren Blutsverwandten des brahman. Wie dieses ist jenes a) unerkennbar.
Und was dazukommt, aus demselben Grunde. «Wahrlich,
o Gargi, dieses Unvergangliche ist sehend, nicht gesehen; |
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1) Vergleiche hierzu den Brief Schopenhauers an Frauenstadt vom 12. VII. 1852.
in Lindner-Frauenstadt: »A. Sch. Von ihm; iiber ihn.« p. 541. |
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horend, nicht gehort; verstehend, nicht verstanden; erken-
nend, nicht erkannt. Nicht giebt es ausser ihm ein Sehendes, nicht giebt es ausser ihm ein Horendes, nicht giebt es ausser ihm ein Verstehendes, nicht giebt es ausser ihm ein Er- kennendes^1) Weil brahman als Potentialitat aller Erkenntnis bei jedem Erkenntnisakt das ist, wodurch erkannt wird, weil es somit ewig Subjekt ist, wird es nie Objekt, nie selbst erkannt. — Genau desselben Beweisverfahrens wie hier Yajfiavalkya bedient sich Schopenhauer, sogar unter Be- rufung auf die Upanishaden. Er sagt: »— das vorstellende Ich, das Subjekt des Erkennens, kann, da es als notwen- diges Korrelat aller Vorstellungen, Bedingung derselben ist, nie selbst Vorstellung oder Objekt werden; sondern von ihm gilt der schone Ausspruch des heiligen Upanischad: Id- videndum non est: omnia videt; et id audiendum non est omnia audit; sciendum non est: omnia scit; et intelligendum non est: omnia intelligit. Praeter id, videns, et sciens, et audiens, et intelligens ens aliud non est. — Oupnekhat. Vol. I, p. 202. «2) Er iibersieht hierbei freilich, dass jenes »ens, quod omnia videt« das Ding-an-sich der Upanishaden ist, was jedoch mit Rticksicht auf die vorliegende Frage, ob das Erkennende selbst erkennbar sei, nicht von Belang ist. »Daher also,« so fahrt er fort, »giebt es kein Erkennen des Erkennens; weil dazu erfordert wiirde, dass das Subjekt sich vom Erkennen trennte und nun doch das Erkennen erkennte, was unmoglich ist«, Unsere Erkenntnis wird an anderer Stelle3) in einem jener gliicklichen Bilder, an denen Schopen- hauer so reich ist, mit einem gut geschwarzten Fernrohr ver- glichen; da draussen liegt grosse Helle und Klarheit — aber innen ist es finster. — — Im Vedantasystem kann das er- kennende Subjekt nicht erkannt werden, und, weil dieses zugleich das Ding-an-sich ist, auch das Ding-an-sich nicht; nach Schopenhauer kann ebenso das erkennende Subjekt nicht erkannt werden, wohl aber gewissermassen das Ding- an-sich, weil beide getrennt sind. Der Vorteil ist auf Scho- penhauers Seite. |
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1) Deussen, a. a. O. p. 144, 161, 188. 2) Vierf. Wurzel, p. 141. 3) Ethik, p. 22.
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b) Das metaphysische Subjekt steht iiber dem Satz
vom Grunde. Denn alles Begriinden geht vom Subjekt selbst aus..
Daher ist es iiber Raum und Zeit erhaben, es ist ewig und ungeteilt. Wie der Wille ist es folglich in jedem in seiner Ganzheit enthalten. So tritt neben den Willen als zweites Prinzip das der
Erkenntnis. Aber nicht in einer Weise, die den Monismus- des Systems gefahrdete und zum Kartesianischen Spiritualis- mus hiniiberfiihrte. Sondern beide principia fallen in der Weise zusammen, dass das Erkennen ein Erkennen-wollen ist. Der Wille ist Alles in Allem — also auch Erkennen. Jeder Willensakt ist im Grunde ein Erkennen-wollen; denn jeder Willensakt ist zu denken als Objektivationsstufe, iiber die der Wille zur Erkenntnis will. Fiir uns ist es hier inter- essant zu sehen, dass Schopenhauer, nachdem er das brah- man seiner Dignitat als Ding-an-sich entkleidet hat, eben dieses brahman als metaphysisches Subjekt des Erkennens neben oder besser in dem Ding-an-sich fortbestehen lasst,. als unverganglich, unteilbar, unerkennbar. 2. Das empirische Erkennen.
Wie neben dem metaphysischen Erkennen das empirische
steht, ist oben dargestellt worden. Das metaphysische Er- kennen steht iiber dem Satz vom Grunde und kann somit weder er- noch begriindet werden; das empirische Erkennen ist materialistisch zu erklaren; es vergeht im Tode. Auch in Indien gab es zur Zeit Cankara's Materialisten; sie be- haupteten, »dass das Geistige nur so lange bestehe, wie der Leib besteht«; nach ihnen sind Odem, Bewegung, Geist, Er- innerung nur Qualitaten des Leibes.1) Cankara ist natiirlich damit nicht einverstanden — aber er unterscheidet doch, wie Schopenhauer, von der hochsten Seele die individuelle Seele, vom paramatman oder mukhyatman den jivatman oder jiva. Der jiva ist nicht gleich dem paramatman alldurch- dringend und allgegenwartig, sondern wohnt, »einer Ahle Spitze gross«, im manas, dem Verstand, der, wie wir wissen,. 1) Deussen, a. a. O. p. 310.
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seinen Sitz im Herzen hat. Der jiva ist ferner nicht all-
wissend und allmachtig, wie es der paramatman ist; er ist endlich kartar und bhoktar, d. h. handelnd und geniessend, wahrend die hochste Seele weder das eine noch das andere ist, gewissermassen nur »Zuschauer« der individuellen Seele. So unterscheidet auch Cankara deutlich vom Subjekt des metaphysischen Erkennens das des empirischen; er sagt: »der von dem Thater, welcher das Objekt der Vorstellung des Ichist, verschiedene, als Zuschauer (sakshin) in alien Wesen wohnende, gleiche, eine, hochste, ewige Geist (purusha = Mann)« — ist unerkennbar.1) Die hochste Seele, die brah- man ist, verhalt sich nur zuschauend, indes der jiva selbst geniesst; so heisst es in den Upanishaden:*) »Zwei Freunde, schon befiedert, wisse
Auf einem Baum verbunden Du; Der eine isst die sfisse Beere, Der andre schaut, nicht essend, zu.« Der jiva ist aber zuletzt doch nur identisch mit dem
paramatman, mit brahman. Diese Identitat zu lehren ist eben der eingestandene Zweck des Vedanta.8) Was die Er- kenntnis der Identitat aller Seelen mit brahman hintertreibt, was den Schein einer Vielheit individueller, von brahman geschiedener Seelen bewirkt und aufrecht erhalt, ist ihre Verbindung mit den im vorigen § vorgefiihrten upadhi's. Durch die upadhi's wird der Seele Allgegenwart und All- weisheit ebenso latent, wie es das Feuer ist, das im Holze schlummert. Auch das Thatersein ist der Seele von Natur aus nicht eigen, sondern beruht darauf, »dass ihr die Quali- taten der upadhi's iibergeworfen sind.«4) — Wir vergleichen diesen jiva mit dem empirischen Erkennen Schopenhauers. a) Wesen und Form.
Was das brahman, den paramatman, zur Einzelseele
macht, ist also der Umstand, dass sich die Seele nicht von den upadhi's, wie manas, indriya's u. s. w., zu unterscheiden weiss, die doch nur auf der avidya beruhen. Durch die |
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I) Deussen a. a. O. p. 136. 2) Mundaka-TJp. und Cveta<;vatara-Up. 3) Deussen a.
a. O. p. 167. 4) Deussen a. a. O. p. 343. |
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upadhi's wird die Individuation hervorgerufen, zunachst nur
der Seelen, weiterhin aller Wesenheiten; sie sind eben das, was Schopenhauer das principium individuationis nennt. Aber wahrend Schopenhauer unter diesem Ausdruck die An- schauungsformen von Zeit und Raum begreift, die aprio- ristische Funktionen des Verstandes und also von diesem unmittelbar abhangig sind, gehort fiir den Vedanta zum principium individuationis eben dieser Verstand, in Gestalt des manas, selbst. Das vedantistische principium indivi- duationis geht nicht aus dem manas hervor, das vielmehr selbst unter diesen Begriff fallt, sondern aus der avidya, dem »Nichtwissen«, das dem Intellekt angeboren ist. Diese avidya ist der von Schopenhauer so oft citierte »Schleier der maya«; er diirfte ihn nicht direkt, wie er es thut, mit seinem principium individuationis identifizieren; man kann hochstens den in der avidya Befangenen mit dem in der Willensbejahung Befangenen unmittelbar vergleichen. — Nach Schopenhauer ist die Grundform des Intellektes
der Verstand; in dieser Form ist er auch in den Tieren vor- handen. Der Verstand besteht in der Anwendung der a priori gegebenen Formen Zeit, Raum und Kausalitat, oder,. da auch die Verhaltnisse von Zeit und Raum kausal bedingt sind, in der Anwendung des Satzes vom Grande. Die An- wendung dieses Satzes ist die einzige Funktion, die der Ver- stand vollzieht — durch sie kommt die empirische An- schauung der Aussenwelt zu Stande. — Im Menschen poten- ziert sich der Verstand zur Vernunft, die, im Gegensatz zum anschauenden, intuitiven Verstand, diskursiv verfahrt. Die Aufgabe der Vernunft, die man auch das Vermogen der Re- flexion nennt, ist es, aus den anschaulichen Vorstellungen die abstrakten Begriffe zu konstruieren, die ihrerseits wieder durch die Vernunft als das Vermogen des Schliessens in mannigfacher Weise untereinander zu Urteilen und, durch die Urteile hindurch, zu Schlussen verbunden werden. Ver- stand und Vernunft bilden also den menschlichen Intellekt, das empirische Subjekt des Erkennens. Sie sind die Ouellen aller unserer empirischen Vorstellungen. Von den Quellen unseres Wissens redet der Vedanta
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nicht; fur ihn ist ja der Veda die Fundgrube aller Erkenntnis.
Er unterscheidet nicht wie Schopenhauer verschiedene Er- kenntniskrafte. Man weiss zwar, dass die Thatigkeit des Wahrnehmens der des Urteilens vorausgehen muss;1) man weiss auch, dass ein Wort nicht nur Bezeichnung eines In- -dividuums, sondern auch der sinnfallige Ausdruck fur die Species, den Begriff ist*) — aber man ist doch nicht zu einer bewussten strengen Trennung von Anschauung und Begriff durchgedrungen. Der Vedanta kennt namlich zwei Erkennt- nisnormen, an denen alle Erkenntnis gemessen und dem- gemass klassifiziert wird, die pramana's, wortlich »Massstabe.« Es sind a) pratyaksham; was diesem Massstab entspricht, ist
das »sinnlich Wahrnehmbare,« b) anumanam; an diesem gemessen erweist sich eine
Erkenntnis als »Folgerung.« Aber das anumanam operiert nicht eigentlich mit Be-
griffen, sondern geht von einem Wahrgenommenen auf ein Nichtwahrgenommenes als Ursache oder Wirkung zuriick, was nur innerhalb des Gebietes des Verstandes moglich ist. Und andererseits ist auch der Begriff des pratyaksham nicht rein; denn als pratyaksham bezeichnet Cankara aus- driicklich den Teil des Veda, der cruti, d. h. Offenbarung ist.8) Wer so Begriff und Anschauung nicht zu trennen weiss, scheidet noch weniger Verstand und Vernunft. Auch wird ■die Fahigkeit des anumanam ebenso wie die des pratyaksham den vernunftlosen Tieren zugeschrieben.4) Die Scheidung von Verstand und Vernunft, auf die Schopenhauer so grosses •Gewicht legt, fehlt in dem Vedanta.3) b) Zweck und Sphare.
Der Intellekt ist nach Schopenhauer dem Willen dienstbar.
~Er ist gewissermassen nichts als eine Waffe, die der Wille sich bereitet, um seine hoheren Ziele zu erreichen. Er ist ein Mittel zur Erhaltung des Individuums. Und so nicht allein im Tiere, sondern auch im Menschen, wo nur deshalb 1) Deussen a. a. O. p. 59 Anm. 34. 2) ib. p. 73 ff.. 147. 3) ib. p. 93 ff. 4) ib. p
'95 Anm. 54. 5) Bass sie auch im Buddhismus fehlt wurde schon erwahnt. cf. p. 102 Anm. 1. |
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der Intellekt den tierischen um so viel mehr ubertrifft, weil
der Mensch hinsichtlich anderer Waffen, anderer Erhaltungs- mittel so sehr hinter dem Tiere zuriicksteht. Ueberall, das scharft Schopenhauer bestandig ein, ist der Intellekt bloss dazu bestimmt, den Zwecken des Willens zu dienen.1) — Die Ansicht des Vedanta iiber den Zweck der empirischen Erkenntnis fasst P. Deussen dahin zusammen, dass sie »ganz- lich im Dienste des Egoismus steht, welcher uns antreibt, Erwiinschtes aufzusuchen und Unerwiinschtes zu fliehen, und ■es macht hierbei keinen Unterschied, ob diese egoistischen Ziele, wie beim weltlichen Treiben, schon in diesem Leben, oder, wie bei den vom Veda vorgeschriebenen Werken, erst in einem jenseitigen Dasein zur Verwirklichung gelangen und somit dessen Erkenntnis voraussetzen.«2) Gemass diesen diirftigen Zwecken, die der Intellekt
seiner ganzen Anlage nach verfolgt, gestaltet sich die Sphare, innerhalb der er sich mit Erfolg bethatigen kann. Nach Schopenhauer kann er nur die Relationen der Dinge auf- fassen, er ist auf Erscheinungen beschrankt, er ist wie die Elektricitat eine »Flachenkraft«, die nicht in das Innere der Wesen eindringt. Das An-sich aller Dinge bleibt uner- kannt.3) Eben das will Cankara sagen, wenn er aus der Kathaka-Upanishad folgenden Vers citiert: »Nach auswarts hat die Hohlungen gebohrt,
Der durch sich selbst ist, darum sieht der Mensch
Nach aussen nur, nicht in die inn're Seele.«*)
»Die Sinne«, heisst es bei ihm an anderer Stelle,5)
»haben ihrer Natur nach als Objekt die Aussendinge und nicht das brahman.« — So ergiebt sich folgende beachtens- werte Uebereinstimmung zwischen Schopenhauer und dem Vedanta: Wenn das Ding-an-sich unerkennbar ist, und das ist es ja, so ist diese Unerkennbarkeit eben so sehr durch seine eigene Natur als auch durch die Beschaffenheit des menschlichen Erkenntnisvermogens begriindet. |
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1) W. a. W. u. V. II p. 224 ff. Willen in d;r Natur p. 48 ff. Parerga II p. 103, u. 6.
2) Deussen a. a. O. p. 59. 3) W. a. W. u. V. II p. 195, 322 ff. 4) Deussen a. a. O. p. 230. 5) ib. p. 102. |
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§ 13. Der KSrper.
Welche Rolle spielt der Korper bei der Konstituierung
des Individuums? Gehort er dem inneren Kern desselben an, dem wahren Ich, dem »Selbst«? Nein! antwortet die indische Philosophie.
Ja! Schopenhauer.
a) Wahrend das gemeine Volk und die Materialisten1)
behaupten: das Selbst ist bloss der mit Intelligenz versehene Leib, wird diese Anschauung von Cankara bekampft. Fiir ihn liegt das Selbst bekanntlich in der Seele, in der Geistig- keit ■— und alles, was ungeistig ist, kann demnach dem Selbst nicht angehoren. Das ureigene Wesen des Menschen stammt nicht aus dieser verganglichen Welt des samsara; es bleibt unberiihrt von der wirren Flucht der Erscheinungen und Veranderungen. Es ist ein Grundsatz aller indischen Philosophie, ein identischer Satz in ihren Augen: Was ver- anderlich ist, gehort nicht dem Selbst an, ist nicht das Selbst. Und weil der Korper veranderlich ist, weil er ein anderer ist im schwachen Kinde, ein anderer im kraftigen Manne, ein anderer im welken Greise, so folgt aus solcher Unbestandigkeit mit zwingender Notwendigkeit fiir den Inder auf die Frage: Gehort der Korper dem Selbste an? die ver- neinende Antwort. Der Leib, »wie er in der Abspiegelung im Auge, im
Wasser, im Spiegel sich darstellt«,2) er kann unmoglich das Selbst sein. Dann ware, »wenn dieser Leib hiibsch geschmiickt, schon gekleidet und geputzt ist, das Selbst ebenfalls hiibsch geschmiickt, schon gekleidet und geputzt, und ebenso ware es blind, lahm und verstiimmelt, wenn der Leib blind, lahm und verstiimmelt ist.« Dann ginge, wenn der Leib zu Grunde geht, auch das Selbst zu Grunde. »Sterblich«, so belehrt Prajapati in der Chandogya-Upanishad den Indra,* »sterblich fiirwahr, o Machtiger, ist dieser Korper, vom Tode besessen er ist der Wohnort fiir jenes unsterbliche, korperlose Selbst.« Darum heisst es: »Wenn auch der Leib zu Asche wird, so ist doch kein Vergang des Selbstes.« — — — Fiir den 1) lokayatika e= »die nach der Welt sich strecken.ft Deusscn, a. a. O. p. 136, 510.
2) Deussen a. a. O. p. 52. Hardy: Dh vedisch-brahmanisch? Pcriode. p. 219. |
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Buddhisten, der iiberhaupt kein Selbst anerkennt im samsara,
kann aus dem gleichen Grunde die ungeistige Materie des Korpers keinen Anspruch erheben, dem wahren Ich des Menschen zugezahlt zu werden. Die Korperlichkeit, die mit den Gefiihlen, Vorstellungen, Gestaltungen und dem Erkennen das irdische Individuum in seiner geistig-korperlichen Zu- sammensetzung ausmacht, ist natiirlich nur ein sankhara, und von diesen heisst es im Dhammapada: »Alle sankhara sind unbestandig, alle sankhara sind voll Leiden, alle dhamma (= sankhara) sind Nicht-Ich.*1) In dem Sutta »Von den Kenn- zeichen der Nicht-Selbstheit«2) spricht der Erhabene also: »Die Korperlichkeit, ihr Monche, ist nicht das Selbst. Ware die Korperlichkeit das Selbst, ihr Monche, so konnte diese Korperlichkeit nicht der Krankheit unterworfen sein, und man miisste bei der Korperlichkeit sagen konnen: so soil mein Korper sein; so soil mein Korper nicht sein.« Und ebenso stellt der ehrwiirdige Sariputta im Gesprache mit dem ketzerischen Monche Yamaka fest, dass der Tathagata, der Vollendete, also Buddha, nicht identisch ist mit seiner Korperlichkeit, dass diese also nicht sein eigentliches Ich darstellt oder dazu gehort.8) b) Nun aber Schopenhauer. Ftir ihn ist der Leib iden-
tisch mit dem Willen.4) — Wenn wir absehen von der ver- standigen Anschauung, in der der Leib dem Subjekt des Erkennens als Objekt unter Objekten, also ideal oder phe- nomenal gegeben ist, ist uns der Leib gegeben als »jenes Jedem unmittelbar Bekannte, welches das Wort Wille bezeichnet.« Jeder Willensakt und die entsprechende Leibes- aktion sind nicht etwa zwei objektiv erkannte verschiedene Zustande, durch das Band der Kausalitat mit einander ver- kniipft, sondern beide sind Eines und das Selbe, nur auf zwei verschiedene Weisen betrachtet: das eine Mai ganz unmittelbar, das andere Mai in der Anschauung fur den Ver- stand. Jeder Willensakt' ist gleichzeitig Leibesaktion, und umgekehrt, jede Leibesaktion, sie mag nun, wie bei den I) Oldimterg a. a. O. p. 272. Anm. 2. 2) ib. p. 229. 3) ib. p. 303. 4) W. a. W. u..
V. I 119 f. 127 ff. W. a. W. u. V. II Kap, 20. p. 277. Willn in der Natur: Kap. »Verglei- chende Anatomie» p. 34. 8
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^ar^rn
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willkiirlichen, bewussten, animalischen Bewegungen, aufMotive,
oder, wie bei den unwillkiirlichen, unbewussten, vegetativen, auf Reize erfolgen, ist nichts anderes als ein objektivirter, d. h. in die Anschauung getretener, Willensakt. Aus dieser Thatsache folgt, dass sich die Aktion zu der sie tragenden Leiblichkeit verhalt, wie ein einzelner Willensakt zu dem ihn erst moglich machenden Willen, dass also der Korper auch als Ganzes unmittelbare Objektitat des ganzen indivi- duellen Willens ist, und dieser ist das Selbst des Menschenl Die Identitat von Leib und Willen wird dann empirisch nachgewiesen. Jede heftige Gemiitsbewegung, jede ilber- massige Aufregung des Willens beeinflusst unmittelbar den Leib in seinen vitalen Funktionen, und umgekehrt bewirkt eine leibliche Affektion eine solche des Willens, wie auch Gesundheit des Korpers wohlthatigen Einfluss auf dieStimmung des Menschen ausiibt.1) Alles das lasst sich nur erklaren aus der Identitat von Leib und Willen; aus der Identitat von Leib und Willen allein lasst sich ferner erklaren die Zweckmassigkeit der leiblichen Organe; indem die Teile des Korpers den Hauptbestrebungen des Willens vollkommen entsprechen und ihr sichtbarer Ausdruck sind, der Wille aber in sich selbst nichts sich Widersprechendes enthalt, welche innere Uebereinstimmung sich dann also auch in der Korporisation ausspricht, die sogar individuell ausfallt ent- sprechend der individuellen Willensrichtung des Einzelnen.2) Der Korper gehort also zum Selbst. Aber nur mittelbar. Wenn Schopenhauer augenscheinlich, wie oben resumiert, den Leib zum Selbst zieht, so ist nicht zu vergessen, dass dieser Leib, wie schon gesagt, auch Objekt unter Objekten ist, also dem Satz vom Grunde unterworfen, nach Raum und Zeit beschrankt. Er ist zwar die Objektitat des Willens, der Vorstellung gewordene Wille — aber insofern, als Vorstellung, immer noch nicht dem wahren, tiefsten Kern des Menschen eigen; denn dieser kann als Ding-an-sich ja niemals Vorstellung werden, weshalb sogar die Bezeichnung |
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1) W. a. W. u. V. I p. 128. Willen in der Natur p. 28. Parcrga II § 316. p. 618.
2) W. a. W. u. V. I p. 129. |
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»Wille« keine im strengsten Wortsinne adaquate ist. Wir
konnen oder mussen demnach drei Stufen unterscheiden: 1) das Ding-an-sich, schlechterdings unerkennbar, wie
nach Kant, 2) der Wille, als eine nur nicht in die Raumform ein-
gegangene Vorstellung des Dinges-an-sich, 3) der Korper, eine Vorstellung des Dinges-an-sich, die
auch unter die Form des Raumes fallt. In diesem Sinne also ist der Korper zum Wesen des
Menschen zu rechnen; er erfahrt bei Schopenhauer eine ge- rechtere Wiirdigung als in der indischen Philosophic — tlbrigens ist hier noch eine gewisse Annaherung des
Vedanta an die Schopenhauer'sche Lehre zu erwahnen. Wir sehen, wie der Vedanta, um die Identitat der Ele-
mente mit brahman auf dem Boden der avidya zu erklaren, lehrte, dass brahman sich »umwandelt« in die drei Haupt- elemente Feuer, Wasser, Nahrung (oder Erde). Diese sind nur darum verschieden von einander, weil brahman mit einer »individuellen Seele,« »jiva« in sie eingegangen ist.1) Alle Dinge sind mit Uberwiegung eines dieser Urelemente aus alien dreien gemischt.2) So auch der Korper, dazu auch die Geisteskrafte, »wobei die feineren Teile, wie der Rahm bei der Milch, nach oben, die groberen nach unten« gehen. So ist also der Korper aus dem selben Stoff gebildet wie der Geist, beide sind nur »umgewandeltes« brahman, also eigentlich identisch. »Darum« so paraphrasiert Deussen,8) »wird auch der Geist des Menschen durch langeres Fasten geschwacht und durch Zusichnehmen von Nahrung wieder gekraftigt.« — —■ Zum Schluss sei hingewiesen auf die verschiedene Stelle,
die der Korper im Heilplane unserer Systeme einnimmt. In der indischen Philosophic ist der Leib der Erlosung direkt hinderlich. »Besessen wird der Bekorperte von Lust und Schmerz; denn weil er bekorpert ist, ist keine Abwehr mog- lich der Lust und des Schmerzes. Den Korperlosen aber beriihren Lust und Schmerz nicht. «4) Hingegen ist bei |
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1) Deussen a. a. O. p. 248 g. 2) ib. p. 259. 3) ib. p. 283. 4) rb. p. 53.
8-
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Schopenhauer der Leib ein willkommenes Mittel zur Morti-
fikation des Willens. Auch wird durch ihn erst eigentlich der »zweite Weg« moglich. — |
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III. Ethik. Quietismus und Askesis.
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Jk.* I>i© IVelt cles samsara.
§ 14. Der Pessimismus.
Hinsichtlich der pessimistischen Beurteilung der Welt
decken sich die drei Gedankenkreise, die wir mit einander
vergleichen, insofern nicht genau, als sie das Ubel seine
Wurzeln nicht gleich tief in die Welt schlagen lassen. 1st
die Welt von Grund aus bose? 1st sie keines wahren Gliickes,.
keiner dauernden Befriedigung fahig? Wahrend der ketze-
rische Buddhismus und mit ihm Schopenhauer unbedenklich
auf die Welt den Superlativ Pessimismus anwenden, wagt
der Brahmanismus, wie er sich auf der Grundlage des Veda,
entwickelt hat, und das orthodoxe Vedantasystem nicht, in
solch schroffer Weise eine durchaus abschatzige Wertung
des Das-eins aufrecht zu erhalten. Zwar leuchtet auch ia
dem Vedanta die matte Wintersonne des Pessimismus, in
deren fahlem Lichte alle Wesen zu grauen Schemen ver-
kummern, aber sie weicht bald einer siegenden Sommer-
sonne, die dem Lebenden Farbe und Lebenskraft verleiht-
Zwar hat auch der Vedanta den Fuss mutig in das ver-
wirrte Labyrinth weltfliichtiger Betrachtung alles Seienden,
hineingesetzt, aber er halt den Knauel fest in dei Hand, urn
sich aus dem Dunkel zum Tageslichte des Optimismus.
zuriickfiihren zu lassen.
1. Vedanta.
Schon im Veda erklingen die triibseligen Stimmen, die
vom allgemeinen Leid der Welt reden. »Ja, freudelos sind diese Welten.« Die Muhe, die Not, der Kummer, der |
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Jammer herrschen unter den vom Weibe Geborenen, die
wir hineinverflochten sind in den schrecklichen Kreislauf des samsara, des Irrsals, mit seiner unendlichen Qual, mit be- standigem Geboren-werden und Sterben. Und zwischen Geburt und Tod, welch erdriickende Fiille von Leiden aller Art! Unter immer neuen Masken fallt uns das Elend an, als Hunger und Durst, als Krankheit, als vereiteltes Streben und getauschte Hoffnung. Physisches und moralisches Ubel schlagt uns alle mit erbarmungloser Geissel. Wer diirfte das leugnen? Der Vedantist leugnet es sicher nicht. Er sieht mit klarem Blick, wie die Welt beschaffen ist, namlich so, dass kein Gott sie geschaffen haben kann, »weil er dann ungerecht und unbarmherzig ware.*1) »Diese Welt ist unrein, sofern sie ihrem Wesen nach aus Lust und Schmerz und Wahn besteht, dadurch die Ursache von Freude, Qual und Verzweiflung wird und sich durch Himmel und Holle aus- breitet.«2) Und so ist auch der Leib des Menschen »absolut unrein. «3) Nicht wenig dient die Lehre vom triigenden Schleier der maya dazu, den Pessimismus zu kraftigen. Wo alles hohle Erscheinung, flilchtiger Traum und verganglicher Schaum, eine Illusion ist, wo ware da Raum fur friedsame Ruhe und Bestandigkeit? Wo eine Statte fur dauerndes, wahrhaftes Gliick, fur Wohlsein und Befriedigung? »Gleich- wie hienieden der Genuss, den man durch die Arbeit er- worben hat, dahin schwindet, so schwindet auch im Jenseits der durch die guten Werke erworbene Genuss dahin. «4) Ungetriibte Seligkeit liegt allein in der Ruhe; darum heisst es: »Das Thun ist seinem Wesen nach ein Leiden.«5) Alle Welten, die ruhelosen, sind der ewigen Pein unterworfen; urn Himmel und Holle schlingt das Leid seine eherne Kette; voller Leid ist die Erscheinungswelt; denn »was von ihm verschieden ist, das ist leidvoll.«6) Jenes, auf das sich das »ihm« des letzten Citates be-
zieht, ist das brahman. Hier treffen wir auf eine andere Weise, dem Pessimismus Zunge zu verleihen. Nicht mit nackten Worten wird hier auf das allgemeine Weltelend hin- |
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1) Deussen, a. a. O. p. 273. 2) ib. p. 270. 3) ib. p. 274. i) ib. p. 172. 5) ib. p. 342.
*) ib. p. Hi, |
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gewiesen, nicht das Leid selbst in seiner grasslichen Gestalt
uns vor Augen gefiihrt, vielmehr durch iiberschwangliche Lobpreisungen des seligen brahman als frei von den Drang- salen irdischen Lebens wird an der Welt und ihrer Be- schaffenheit eine indirekte Kritik geiibt, die darum nicht weniger herbe ist. Der beabsichtigte Eindruck wird urn so sicherer auf einem Umwege erreicht. Durch die Hymnen,. die man dem Selig-Einen singt, verbreitet man die Atmo- sphare, in der alle Freude am Menschendasein verkiimmern muss. Man tragt das gepriesene brahman als ein Licht in die Finsternis der Erde, um all ihre Schrecken und Grauel offenbar zu machen. Auf brahman wird die Fiille der Selig- keit, die Fiille der Wonne gehauft; wem drangt sich dann nicht der bittere Vergleich mit der Erscheinungswelt auf? An brahman gemessen muss sich alles als nichtig erweisen. »Sein Name ist "hoch" (ud); denn hoch iiber allem Uebel
ist er.«") Brahman ist es, das »den Hunger und den Durst,, das Wehe und den Wahn, das Alter und den Tod iiber- schreitet.« Und wiederum ist es das »siindlose, frei vom Alter, frei vom Tod und frei vom Leiden, ohne Hunger und ohne Durst.«2) Auch der Irrtum hat keine Gewalt iiber brahman, das moralische Uebel: »sein Wiinschen ist wahr- haft, wahrhaft sein Ratschluss.«3) Brahman ist »das Furcht- lose«,4) das »Selige, Eine, Feine«; nur wer das brahman kennt, so haben die Weisen den Narada belehrt, ist iiber den Rum- mer hinaus.5) — Aus solchen und ahnlichen Ausspriichen klingt deutlich genug die Verurteilung der Welt. »Was von ihm verschieden ist, das ist leidvoll«, sagt Yajfiavalkya. Hier nun schlagt aber der Pessimismus in Optimismus
um. Denn was ist doch von brahman verschieden? Nichts! antwortet die Identitatslehre. Jeder Pantheismus muss die Welt fiir eine Theophanie nehmen, auch der Vedanta. Es ist ja nur die uns angeborene avidya, die uns eine Vielheit von brahman verschiedener Wesen vorspiegelt; diese Viel- heit ist ja nur ein trtigender Schein; es giebt weder eine »in Namen und Gestalten ausgebreitete« Welt noch einen jiva;. brahman ist alles in Wirklichkeit. Und brahman ist die 1) ib. p. 151. 2) ib. p. 172. 3) ib. p. 197, 467. 4) ib. p. 178, 198. 5) ib. p. 216.
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hochste Wonne.1) Wo wir demnach Elend und Leid zu er-
blicken glauben, ist in Wirklichkeit eitel Wonne. Der Pessi- mismus beruht auf der Unkenntnis, dass wir im Grande nichts anderes sind als das leidlose, siindlose, unvergangliche brah- man mit seiner ganzen iiberirdischen Herrlichkeit. — Das brahman ist das Furchtlose. Und was ist Furcht? Nach der Meinung Cankaras »der Gedanke an eine Schadigung der Leiblichkeit«.2) Nun ist die Leiblichkeit nichts als ein leerer Wahn; nur fur unsere im Realismus befangene Erkenntnis stellen wir uns als bekorpert dar. Daher besitzen wir in Wirklichkeit keine Leiblichkeit — wir brauchen nicht zu fiirchten, wir sind brahman, wir sind furchtlos. •— Was nicht brahman ist, ist nicht real. Ist brahman frei von Schmerz, ist der Schmerz von brahman verschieden, so ist der Schmerz nicht real, nur illusorisch. Der Schmerz, den ich in meinem Leibe empfinde, ist ebenso eine Tauschung, als wenn ich mit einem anderen zu leiden glaube.3) Das Uebel jeglicher Gestalt haftet nur am Samsaratum, und dieses ist ideal. — Wir leiden nur, weil wir, in der avidya befangen, die Seele nicht ohne die ihr scheinbar anhangenden upadhi's auf- fassen konnen; mit den upadhi's wird aber auch das Leid abgeschiittelt. Die Moglichkeit der Erlosung nicht sowohl, als die Art, wie diese gefasst wird, macht den letzten Rest des Pessimismus zu Nichte. Wir kommen darauf weiter unten zuriick, wenn wir die Erlosung, wie sich der Vedanta eine solche denkt, vergleichen mit der, die fur Buddha und Schopenhauer gilt. Hier betonen wir nur, dass der leiden- schafFende Schein intuitiv zu durchschauen ist. Dann fallt auch der Wahn zu leiden, der ja nicht weniger zu driicken pflegt als ein positives Leiden, ganzlich fort. In der »uni- versellen Erkenntnis« lost sich der Wissende korperlos in brahman auf; »den Korperlosen aber beriihren Lust und Schmerz nicht.«4) Als weitere Citate seien angefuhrt: »Wer forschend alle Wesen im eignen Selbste findet,
Fur den entweicht der Irrtum, und alles Leiden schwindet.5)
»Wo ware Irrtum, wo Kummer fur einen, der die Ein-
1) f. § 8, p. 75; Deussen p. 148 ff. 2) ib. p. 216. 3) ib. p. 322, 448. 4) ib. p. 198.
5) ib. p. 54. |
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heit schaut^1) »Hoch hebt sich iiber alles Uebel, wer sol-
ches weiss.«s) Wie duster auch das Urteil klingt, mit dem der Vedanta
die Welt als ein wechselvolles Leiden ohne Ruhe verdammt, so wird doch diese Erkenntnis von der Nichtigkeit alles Da- seins durch eine andere Erkenntnis doppelter Art aufgehoben, dass namlich 1) alles Leiden nur illusorisch ist, 2) diese Illusion wirklich intuitiv durchschaut werden kann. So geht der Ved- anta einen umgekehrten Weg, als ihn der Stoicismus ein- schlagt. Hier wendet sich der urspriingliche Optimismus zum Pessimismus und der Asketik, und als Ideal gilt der Weise in seiner Autarkie und Apathie, dort schreitet man aus dem Pessimismus zum Optimismus fort; denn als Darstellung des Einzig-Realen und Einzig-Guten ist die Welt eben schlechthin vollkommen. Bemerkenswert ist iibrigens auch, dass, im Gegensatz zu den Gottern, die fiir ewigen Genuss, und zu den Tieren, die fiir ewiges Leiden bestimmt sind, den Men- schen ein »mittleres« Schicksal erwartet.3) 2. Der Buddhismus.
So sehen wir also in dem Vedanta die fmstere pessi
mistische Weltbetrachtung vollkommen durchbrochen von den siegend-hellen Strahlen eines selbstbewussten, freudig-hoff- nungvollen Optimismus. Das Leiden ist nur ein Accidens, die Substanz ist und bleibt brahman, die Wonne, ananda. Die Erlosung ist daher keine fundamentale Umgestaltung der Welt als solcher, sondern ein intellektueller Vorgang, durch den gewissermassen dem geistigen Auge des Menschen der Star gestochen wird; die Erlosung ist moglich, nicht weil jenseits der Welt etwas durchaus Unfassbares, Uner- klarliches, sondern weil hier in der Welt etwas ganz Be- kanntes, das eigene Selbst zu finden ist, dessen Erkenntnis eben die beseligende Erlosung darstellt. 1) ib. p. 118. 2) p. 152. »Das Sankhya-System (des Kapila) unterscheidet drei Arten
von J.eiden, adhi-atmika, adhi-bhautika, adhi-daivika, — von uns selbst, von anderen, vom Schicksal verhangtes.* Deussen, Elsmente der Metaphysik, § 274, p. 229. Die Andeutung einer gleichen Einteilung giebt Schopenhauer bei Besprechung des Trauerspieles, dessen Gat- tungen sich nach den Arten des Leidens richten, die zur Darstellung kommen sollen. W. a, W. u. V. I p. 300. 3) Deussen, Vedanta p. 258, 273. |
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Ganz anders im Buddhismus.1)
Der Buddhismus ist aufs Tiefste von der herben Ueber-
zeugung durchdrungen, dass allem Leben das Leiden wesent- lich, nicht als blosses Accidens, sondern als Substanz selbst ist. Um diese Grundidee dreht sich alles Denken und Fiihlen. Offenbar mit Riicksicht auf diese Grundidee nennen die Ve- dantisten die Religion Buddhas eine Ausgeburt des Hasses gegen das Menschengeschlecht, gleichwie Tacitus von den Christen seiner Zeit, die ja auch ausgesprochensten Pessi- mismus vertraten, sagte, sie seien des Hasses gegen das menschliche Geschlecht iiberfiihrt worden. Die erste der vier »heiligen Wahrheiten« ist die Wahr-
heit vom »Leiden.« Sie lautet:2) »Dies, ihr Monche, ist die heilige Wahrheit vom Leiden: Geburt ist Leiden, Alter ist Leiden, Krankheit ist Leiden, Tod ist Leiden, mit Unliebem vereint sein ist Leiden, von Liebem getrennt sein ist Leiden, nicht erlangen was man begehrt ist Leiden, kurz das fiinf- fache Haften3) am Irdischen ist Leiden.« Der buddhistische Pessimismus, der in dieser stehenden
Formel seinen knappesten und darum machtigsten Ausdruck gefunden, lehrt uns, dass allem Leben das Leiden wesentlich ist. Fur den Menschen verdichten sich die Uebel zu drei Hauptformen: Geburt, Alter und Tod; mit beredten Worten wird die Macht dieser grausigen Trinitat geschildert, der niemand entrinnt, »kein Samana und kein Brahmane, weder ein Gott, noch Mara, noch Brahma, noch irgend ein Wesen in der Welt.« »Nicht im Luftreich, nicht in des Meeres Mitte, nicht wenn du in Bergeskliifte dringst, findest du auf Erden die Statte, wo dich des Todes Macht nicht ergreifen wird.«*) Gleich einer Flamme ergreift das Leiden alle Welt. »Die ganze Welt wird von Flammen verzehrt, die ganze l) Wie wenig einheitlich sich der Buddhismus entwickelt hat, ist vor allem daran zu
erkennen, dass die Lehre vom Leiden, ohne die der altere Buddhismus nicht zu denken ist, in der nachchristlichen »Wissensvollkommenheit« (prajna-paramita) nicht mehr gilt, wo es heisst: >>es giebt keine Leiden, keine Entstehung und Aufhebung (des Leidens) und keinen Weg« (zur Aufhebung des Leidens.) E. Hardy: Buddhismus. Anm. 1 (p. 143). Es ist dies derselbe Text, der, aus mystisch-nihilistischer Spekulation stammend, ganz im Siune des Brahmanismus die avidya fur den Trug der Sinnenwelt verantwortlich macht. Oldenberg a. a. O. p. 259. 2) Oldenb :rg a. a. O. p. 227 ff. 3) An der Korperlichkeit, den Empfin- dungen, V'orstellungen, Gestaltungen, dem Erkennen. 4) Oldenbeng a. a. O. p. 236. |
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Welt ist von Rauch umwolkt, die ganze Welt steht in Brand,
die ganze Welt erbebt.«x) Unermesslich streckt sich der Pfad des Leidens, den der Mensch zu wandern hat, so dass der Thranen, die er auf seinem Dornenwege vergossen hat, mehr sind, »als alles Wasser, das in den vier grossen Meeren ist.«*) An eine leidenerfullte Vergangenheit schliesst sich das leidenerfullte Jetzt und fiihrt uns hinein in eine leiden- erfullte Zukunft. — Der Pessimismus steht durchaus im Vordergrund derbuddhistischenWeltbetrachtung; erbeherrscht alles andere Denken. Er uberwuchert die dogmatische Spekulation; er nimmt der brahman-atman-Idee die freie Luft, so dass sie erstickt. Um Fragen wie die, ob die Welt ewig oder nicht ewig, begrenzt oder unbegrenzt ist, ob das nir- vana Vernichtung oder hochste Vollendung ist, um solche Fragen mehr soil der buddhistische Monch sich nicht kummern; er soil, so befiehlt es Buddha, sich begniigen lassen an der heiligen Wahrheit, dass alles Leben Leiden ist. Die Begriindung des Pessimismus ist im wesentlichen
eine doppelte. a) Das hochste Gliick, die reinste Seligkeit kann nach
buddhistischer Anschauung nur in der ungestorten Ruhe liegen; an jedem Werden, Entwickeln, an jeder Veranderung, Unruhe haftet unumganglich das Leiden. Leiden und Ver- anderung sind'identische Begriffe. Wir wissen aber aus der Betrachtung des buddhistischen Idealismus, dass alles Dasein nichts als eine wechselvolle Komplikation von Entstehen und Vergehen, von ununterbrochenen Veranderungen ist; alle Dinge sind ohne Ausnahme sankhara. »Alle sankhara sind unbestandig.« »AUe sankhara sind voll Leiden.«s) »Was aber unbestandig ist, ist das Leiden oder Freude?« fragt Buddha. Und seine Jiinger antworten: »Leiden, Herr.«4) So wird also der Pessimismus grade zu durch den Idealismus motivirt.8) b) Tiefer fiihrt die zweite Begriindung. Wenn nach der
Entstehung des Leidens gefragt wird, so nennt uns der Text der heiligen Wahrheiten als die Ursache aller Qual- den 1} ib. 2) it>. p. 234. 3) ib. p. 272 Anm. 2. 4) ib. p. 230. 5) Vergleiche auch
ib. p. 232, Anm, 1. |
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Durst, den in jedem Menschen wohnenden Willen, das Streben,
das Verlangen, das Begehren. Wenn aber der Wille die leidenschaffende Macht ist, so kann er das nur darum sein, weil er als ein von Grund aus unmoralischer Wille gefasst wird; und so wird er thatsachlich paraphrasirt, als ein »Durst nach Liisten.« »Blumen sammelt der Mensch; an Lust hangt sein Sinn. Den unersattlich Begehrenden zwingt der Ver- nichter in seine Gewalt,« heisst es dementsprechend im Dhammapada.1) Und der Erhabene spricht zu den Jiingern also: »Alles, ihr Jiinger, steht in Flammen. — Durch welches Feuer ist es entflammt? Durch der Begierde Feuer, durch des Hasses Feuer, durch der Verblendung Feuer ist es entflammt.*2) — Weil des Menschen Streben ein unmora- lisches ist, deshalb bringt er das unendliche Leid iiber sich und die Welt. Ein wesentlich anderes Bild des Pessimismus als in dem
Vedanta. Im Buddhismus ist der Schmerz das Realste, was uberhaupt sich denken lasst, namlich der ewige Wechsel, wahrend er dort als eine Tauschung, als nichtiger Schein aufgefasst wird, hinter dem sich im Grunde die Freude, ananda, verbirgt. Der Buddhismus erklart das Leiden mo- ralisch, der Vedanta intellektual. — Wie anders denkt der Buddhist tiber die Freude, jegliche Freude. »Aus Freude wird Leid geboren; aus Freude wird Furcht geboren«, sagt das Dhammapada.3) Ebenso im Sutta-Nipata: »Leid ist in Lust.«4) »Wer hundertfaches Liebes hat, hat hundertfaches Leid«, predigt der Erhabene.5) Hier entsteht nicht, wie in dem Vedanta, aus der ewigen Wonne das nichtige Leid, sondern die wesenlose Freude gebiert wahrhaften Schmerz.6) Demgemass gestaltet sich der Begriff der Erlosung
wesentlich anders im Buddhismus als im Brahmanismus. Was hier ein Vorgang im Intellekt ist, fasst der Buddhismus ungleich tiefer auf als eine Wendung auf moralischem Gebiet, als eine ganzliche Umgestaltung des innersten Menschen. Die moksha = Erlosung des Vedanta lasst den Kern des 1) Oldenberg a. a. O. p. 236. 2) ib. p. 197. 3) ib. p. 236. t) Hardy: Buddhismus
p. 28. 5) Oldenberg a. a. O. p. 197. 6) Vergl. auch noch das Citat aus Udana bei Olden- berg p. 315 Anm. 1. |
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Menschen durchaus unberiihrt, ihre Thatigkeit beschrankt
sich auf eine Reinigung desselben von dem umhiillenden Erdenstaub. Anders lehrt Buddha. Als ein ganz neuer Mensch taucht der Erloste aus dem Bade der Erlosung; aus dem Diirstenden, Wollenden ist ein Durstloser, Nichtwollender geworden. Die Erlosung des Brahmanismus korrigirt den Pessimismus und zeigt die Welt als »seligen Gott«; im Bu- ddhismus bleibt der Pessimismus dnrch die Erlosung intakt. Das nirvana, in das sie den Weisen fiihrt, ist ja nicht wie das brahman des Cankara eine Umwandlung zur Erscheinungs- welt; sondern nirvana und samsara sind zwei durchaus ge- trennte. Reiche, die nebeneinander ohne sich zu storen in alle Ewigkeit fortbestehen. 3. Schopenhauer.
Wie schon oben bemerkt, schliesst sich riicksichtlich
des Pessimismus Schopenhauer an die buddhistische Re- ligion an, wodurch er in den gleichen Gegensatz zum Brah- manismus tritt wie diese. Er beantwortet in gleichem Sinne wie diese die beiden Fragen: Ist das Leiden der Welt we- sentlich? und: Bedeutet die Erlosung einen Umschlag zum Optimismus? ■— erstere bejahend, letztere verneinend. Wir wissen, wie friihe schon im Geiste Schopenhauers
die Grundiiberzeugung einer verurteilenden Weltbetrachtung sich festgesetzt hatte. Hier nur wenige Zeugnisse. Dem achtzehnjahrigen Jiingling schrieb seine Mutter unter dem 19. Oktober 1806: »Ich kenne ohnehin, wie gerne du iiber das Elend der Menschen brutest.K1) 1811 that er als Student Wieland gegeniiber die bezeichnende Aeusserung: »Das Leben ist eine missliche Sache; ich habe mir vorgesetzt, es damit hinzubringen, iiber dasselbe nachzudenken.«2) Auch dem verehrten Goethe gegeniiber hat er offenbar mit seiner dtisteren Weltbeurteilung nicht zuriickgehalten; wir schliessen es aus den Versen, die dieser ihm am 8. Mai 1814 in Weimar in's Stammbuch schrieb. Es sind die bekannten: »Willst Du Dich Deines Wertes freuen,
So musst der Welt Du Wert verleihen.«3) 1) Gwinner a. a. O. p. 50. Schemann a. a. O. p. 47. 2) Gwinner a. a. O. p. 87, K.. Fischer
a. a. O. p. 29, 3) Vergl. auch Lindner-Frauenstadt: A. Sch. Von ihm. Ueber ihn. p. 225. |
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Und damals stand Schopenhauer in einem Alter, das
die weite schone Welt nur wie einen reichen Blumenanger im klaren Morgensonnenschein betrachten mag. Es war die Zeit, in der er einem verhassten Beruf den Riicken wenden,. und, dem Zuge seines Herzens folgend, der Wissenschaft,. der Philosophic die Hand reichen durfte. Es war die Zeit,, in der er schon weltbewegende Gedanken in sich keimen fiihlte, unsterblichkeitsicher. Und dennoch jener Pessimismus; denn er lag in dem Wesen Schopenhauers begriindet, wie das Leiden in dem der Welt. Wie jede Philosophic idealistisch sein muss, so auch
pessimistisch. Denn die traurige Beschaffenheit der Welt ist es zumeist, die den Geist zum Innehalten und Nach- denken veranlasst, die dergestalt zur Philosophie treibt. Es ist nach Schopenhauer ohne Zweifel das beklemmende Wissen um den Tod, und neben diesem die Betrachtung des Leidens und der Not des Lebens, was den starksten Anstoss zum philosophischen Besinnen und zu metaphysischen. Auslegungen der Welt giebt.1) Er redet von jenem »phi- losophischen Affekt der Verwunderung« des Platon und. lasst ihn aus dem Anblick des Uebels und des Bosen ent- springen.2) Und weiterhin heisst es: »Das Bose, das Uebel und der Tod sind es, welche das philosophische Erstaunen qualificieren und erhohen.«3) So erwachst jede Philosophie aus pessimistischen Grundgedanken und behalt, wie jede Pflanze das charakteristische Merkmal des Bodens, in dem sie wurzelt, zur Schau tragt, die pessimistische Farbung bei. — Der Mensch, der gedankenlos in den Tag hineingelebt hat„ wird plotzlich durch den Anblick des Leidens zur Meditation getrieben. Zu dieser Ansicht Schopenhauers stimmt sehr schon die buddhistische Legende, die uns erzahlt, wie dem im Ueberfluss des Genusses, in der Unkenntnis aller Uebel lebenden Prinzen Siddhattha durch die vier Erscheinungen eines Greises, Kranken, Toten, Monches die Augen iiber das wahre Wesen der Welt geoffnet werden, so dass er die Heimat verlasst, das gelbe Monchsgewand anlegt und Buddha |
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1) W. a. W, u, V. 11 p. 176. 2) ib. p. 189, 3) ib. p 19f>.
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wird. — So Hegt der Pessimismus im Wesen der Philosophic
begriindet, wie das Leiden in dem der Welt. Der Schopenhauer'sche Pessimismus kulminiert in dem
Gedanken, dass das Nichtsein der Welt besser sei als die Existenz auch nur jeder denkbaren Welt. Warum? Weil ihrem Wesen das Leiden unabloslich verbunden ist. Daher ist die Welt, wie wir sie kennen, die denkbar schlechteste.1) Man hat behauptet, dieser Pessimismus stehe in keiner
Beziehung zu den metaphysischen Grundgedanken des Systems. So enthalt nach dem Dafiirhalten Victor Kiy's die Schopen- hauer'sche Ethik »einen rein zufalligen Zusatz, ein individuelles Beiwerk, das dem Systeme an und fur sich fremd ist«, namlich die pessimistische Richtung, »welche Schopenhauer seiner Ethik rein willkiirlich zugewiesen.«2) Nach ihm steht der Pessimismus »sogar mit dem Principe der Schopenhauer- schen Philosophic tiberhaupt im Widerspruch.«8) Ebenso sagt Jiirgen Bona Meyer: »Die notwendige Folge seiner philosophischen Grundansicht ist jedenfalls dieser Pessimismus so wenig, dass vielmehr auf Schritt und Tritt zwischen ihm und jener Grundansicht sich unlosliche Widerspruche ergeben oder nur mit Sophistereien der Schein einer notwendigen Folgerung hervorgebracht wird.«4) Und Philipp Mainlander, dieser geistreichste und logischste aller Schiiler Schopenhauers, meint: »Der Pessimismus ist eigentlich ganz unvertraglich mit dem Schopenhauer'schen Idealismus.«5) — •— Wir hin- ge gen wollen darstellen, wie Schopenhauer seinen Pessimis- mus begriindet und daraus entnehmen, dass bei ihm Meta- physik und Pessimismus miteinander stehen und fallen. Diese Begriindung ist im wesentlichen gleicher Art wie
die im Buddhismus. a) Die idealistische Begriindung.
Seinen schroffesten Ausdruck findet der Schopenhauer-
sche Pessimismus in der Ablcugnung jeglicher Entwicklung, 1) W. a. W. u. V. II p. 669. 2) Kiy: Der Pessimismus und die Ethik Schopen-
"hauers, Berl. 1866. p. 4, 3) ib. p. 75. i) J. B. Meyer: >A. Sch. als Monsch und Dcnker.« Heft 145 der »Sammlung gemeinverstandlicher wissenschaftlicher Vortrage. herausg. von Virchow & Fr. von HoltzendoriTft p. 44. 5) Mainlander: »Philosophie der Erlosung* Bd. II -(2. Aufl.) p. 483. ' • |
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jeglichen Fortschreitens, uberhaupt der Geschichte des
Menschengeschlechtes. Nirgendwo hat Schopenhauer, selbst bei Anhangern, grosseren Widerspruch erfahren als in seiner Lehre von der Nichtigkeit der Geschichte;1) Kuno Fischer nennt geradezu das »das Grundgebrechen des Systems«, »dass die ungeheure Thatsache der Weltgeschichte in ihre Begriffe nicht passt.« Mit Unrecht haben alle Angriffe grade die Leugnung der Entwicklung sich zum Hauptgegner er- koren; denn sie ist nichts als der zu Ende gedachte Idea- lismus; will man ein Grundgebrechen haben, so ist es der Idealismus. Die Welt ist der in immer hoheren Stufen sich objek-
tivierende Wille. Die hochste Stufe ist im Menschen er- klommen. Wie der Wille selbst, so liegen auch die Stufen seiner Objektivation ausserhalb der Vorstellung und ihren Formen. Es sind ausserzeitliche Willensakte, als solche die ewigen, unveranderlichen Urbilder aller Dinge, die Platonischen Ideeen. Alle Entwicklung nun muss nach dem Satz vom Grunde vor sich gehen, muss in der Zeit erfolgen, muss Ursache und Wirkung erkennen lassen. Dadurch verfallt sie aber unumganglich der blossen Vorstellung, fur die allein der Satz vom Grunde Geltung hat; es ist ihr durchaus keine absolute Realitat zuzusprechen. Das wirklich Reale in jeder Erscheinung ist der in ihr erscheinende Wille auf der ent- sprechenden Objektivationsstufe, die Idee, diese aber ist zeitlos, raumlos, unveranderlich, und keine Entwicklung vermag iiber sie hinauszufiihren. Wie mannigfach, den Umstanden angemessen, auch die einzelnen Erscheinungen sein mogen, so ist doch die Idee, die ihnen alien zu Grunde liegt und relative Berechtigung verleiht, ein und dieselbe; denn sie rsteht iiber dem Satz vom Grunde und dem principium indi- viduationis. Das Gedrange der Begebenheiten, die vielge- stalteten Formen des menschlichen Lebens in verschiedenen Landern und Jahrhunderten — das alles gehort nicht der 1) Hier vor allem ist Mainlander iiber seinen Lehrer hinausgegangen; seiner Kritik
der Schopenhauer*schen Lehre vom Wert der Geschichte, der Schopenhaner'schen Staats- theorie und Politik setzt er freimiitig das dem Meister s;Ibst entnommene Citat als Motto voran: »Jeder, auch das grosste Genie, ist in irgend einer Sphiire der Erkcnntnis entschieden .hornirt.« |
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Idee an, sondern allein der Erscheinung, unci ist der Idee
selbst so fremd, unwesentlich und gleichgiiltig, wie den Wolken die Figuren, die sie darstellen, dem Bach die Gestalt seiner Strudel und Schaumgebilde, dem Eise seine Blumen und Baume. Die Erscheinung ist nichtig; die Idee allein, als die adaquate Objektitat des Willens, hat Realitat. Die Zeit kann nichts wahrhaft Neues bringen; denn was sie auch bringen mag, ist eine Auseinanderbreitung dessen, was schon in der Idee liegt, gewissermassen eine Paraphrase der Idee. Ein thatsiichlicher Fortschritt ist also undenkbar; alles ist ja nur Erscheinung des ausserzeitlichen, daher unverjinderlichen und einheitlichen Dinges-an-sich. Die Geschichte der Volker ist wie ein Kaleidoskop, das bei jeder Wendung eine neue Konfiguration zeigt, wahrend wir eigentlich immer das Selbe vor Augen haben. Nur Namen und Jahreszahlen wechseln, der wesentliche Inhalt bleibt derselbe von Ewigkeit zu Ewigkeit. Alle Entwicklung ist Schein und Trug. Es wird Nichts besser, aber auch Nichts schlechter.1) Wenn Schopenhauer in seinem Pessimismus so weit
geht, alle reale Entwicklung zu leugnen, so zwingt ihn dazu der metaphysische Grundgedanke, dass einem realen, unver- anderlichen Ding-an-sich eine phanomenale, dem Satz vom Grunde unterworfene Erscheinungswelt gegenuber steht. b) Die moralische Begriindung.
Setzt man, wie der Vedanta thut, das Wesen des Dinges-
an-sich in die Erkenntnis, so muss, auch nach Schopenhauers Meinung, sein Wesen eben dadurch ananda, Wonne, sein, (wodurch, wie wir gesehen haben, der Pessimismus unmog- lich wird); denn Schopenhauer selbst sagt: »Erkenntnis ist, an sich selbst, stets schmerzlos.«2) Ist aber das Wesen des Dinges- an-sich Wille, so ist es eben dadurch der Qual verfallen. Wer die richtige Erkenntnis vom Ding-an-sich gewonnen hat, der wird Pessimist. |
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1) W. a. W. u. V. I p. 213 f. p. 455. II Kap. 38. »Ueber Geschichtc« 2) Parerga.
IT p. 319. Das Erkinnen sei an und fur .sich schmerzlos und heitcr, heisst es W. a. W,. u. V. II p. 435. Auch wird der iisthctische Gcnuss nur moglich, weil das Erkenncn allein. im Menschen wirksam bleibt. |
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»Wer erfreute sich des Lebens,
Der in seine Tiefen blickt.« lasst Schiller die trojanische Seherin sagen.
o) Das Ding-an-sich ist Wille. »Die Basis alles Wollens
ist Bediirftigkeit, Mangel, also Schmerz, dem es folglich schon urspriinglich und durch sein Wesen anheimfallt.« — Das schmerzliche Gefiihl des Mangels begleitet jedes Streben so lange, bis dasselbe sein Ziel erreicht hat, bis es befriedigt ist. Im Bewusstsein des erlangten Gutes lost sich das Wollen und Wiinschen und mit ihm das Leiden auf — bei einem empirischen Wollen, endlichen Wiinschen. Nicht so bei dem Willen als Ding-an-sich. Dieser ist, weil Streben sein alleini- ges Wesen ist, iiberhaupt keiner Befriedigung fahig; er geht in's Unendliche.1) Aus Mangel entsprungen, ohne dauernde Befriedigung — so stellt sich der Wille als Ding-an-sich dar. Was Wunder, wenn die Welt ist, »wie sie ist.« f) Dieser Wille ist weiterhin ein unmoralischer. Eben
das sagten, mit Beschrankung auf den menschlichen Willen, auch die Buddhisten. Fur Schopenhauer ist die vollstandige Siindhaftigkeit des Willens ein oft betontes Faktum.2) Als freier Wille, dem Aseitat und daher Selbstbestimmung zu- kommt, konnte er sich vor aller Zeit zur Bejahung oder zur Verneinung entscheiden; er hat sich zur Bejahung gewandt, er wollte das Leben, die Lust — nun findet er das Leiden. Sein Drang, in die Erscheinung zu treten, ist krankhaft, un- natiirlich, unmoralisch, darum wir und die Welt etwas sind, das nicht sein sollte. Jede Individualitat ist ein specieller Irrtum, ein Fehltritt, der besser nicht ware. Am vollkom- mensten offenbart sich die Siindhaftigkeit, die dem sich be- jahenden Willen anklebt, im menschlichen Egoismus; denn dieser, aus dem alle Siinde, alle Schuld entspringt, ist eben nichts als der das Innerste des Menschen konstituierende Wille zum Leben urn jeden Preis, der Trieb zur Selbster- haltung. »Wer etwas tiefer zu denken fiihig ist, wird bald absehn, dass die menschlichen Begierden nicht erst auf dem Punkte anfangen konnen, siindlich zu sein, wo sie, in ihren 1) W. a. W. 11. V. I § 29, p. 193. 2) Hingeg mi heisst es wieder an ander*r Stelle
(W. a. W. u. V. I p. 1S6): »Nicht im Wollen, sindern im Wollen mit Erkenntnis liegt die. Schuld.« 9
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individuellen Richtungen einander zufallig durchkreuzend,
Uebel von der einen und Boses von der anderen Seite ver- anlassen; sondern dass, wenn Dieses ist, sie auch schon ur- spriinglich und ihrem Wesen nach siindlich und verwerflich sein miissen, folglich der ganze Wille zum Leben selbst ein verwerflicher ist.«-1) »Dass unser Dasein selbst eine Schuld impliciert, beweist der Tod.«8) Hier wird also eines der grossten Uebel unmittelbar aus der unmoralischen Beschaffen- heit alles Lebens abgeleitet; und so ist aller Grauel und Jammer, davon die Welt voll ist, bloss das notwendige Re- sultat der Willensqualitat, der blosse Kommentar zur Be- jahung des Willens zum Leben. Kann der Pessimismus besser begriindet werden?8) y) Der Wille, dieses Prinzip alles Lebens, ist nun
weiterhin in einem unversohnbaren inneren Widerstreit be- fangen, in einer Selbstentzweiung, die in den verschiedenen Objektivationsstufen, den Ideeen, in immer hellerem Lichte hervortritt. Naturkraft ringt mit Naturkraft, Tier mit Tier, Mensch mit Mensch in bestandigem bellum omnium contra omnes. Dieser unaufhorliche Streit ist die vorzuglichste Quelle alles Leidens, das dadurch auf die gesamte Welt iibertragen wird. Denn wie Schopenhauer das ewige Drangen und Streben, das in den einzelnen Naturkraften bis herab zur Schwere sich aussert, als identisch mit jener Kraft er- kennen lehrt, die in uns als Wille unermildlich thatig ist, so fasst er auch dort, wo die gegenseitige Hemmung der feindlichen Krafte noch nicht vom Lichte der Erkenntnis beleuchtet wird, in der anorganischen Natur, die wechselseitige Durchkreuzung als Leiden, das man vorher nur sensitiven Wesen zugeschrieben. Jetzt leidet nicht mehr allein Mensch und Tier, jetzt leidet das ganze Weltall, und selbst die Materie ist wegen ihres ewig erfolglosen Drangens zum Mittelpunkt, dem ein gleich starker Widerstand in Gestalt der Undurchdringlichkeit entgegenwirkt, mit ewigem Leiden behaftet.4) 1) Parerga II p. 336, § 165. 2) ib. p. 337. 3) Die nahere Ausfuhrung hiervon § 16.
4) An andercr Stelle (Parerga II p. 319) heisst es hingegen: »Der Schmerz trifft allein den Willen und besteht in der Hemmung, Hinderung, Durchkreuzung desselben; dennoch ist dazu erfordert, dass diese Hemmung von der Erkenntnis begleitet sei.« |
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Am entschiedensten zeigt sich dieses, auf dem Streit
des Willens gegen sich selbst beruhende Leiden natiirlich in der Menschenwelt. Weil die Lebenskraft einen fortdauernden Kampf gegen die Naturkrafte zu unterhalten hat, die ihr die Leibesmaterie streitig machen, ist schon der vegetative Teil unseres Lebens mit einem leisen Leiden bestandig verkniipft.1) Und zuletzt bleiben sie doch Sieger, die Natur- krafte, im Todel Grasslich aber, schlimmer als der Krieg des Menschen gegen die Machte der Natur, ist der erbar- munglose Kampf, den Mensch mit Mensch fiihrt, in dem alle Waffen Recht sind, die schleichende Heimtiicke und die offene Gewalt. Da stiirzt sich die Wut des Egoismus auf wehrlose Opfer und fahrt lachend iiber das zertretene Gliick harmloser Mitmenschen dahin. Den Gipfel erreicht der Ausdruck dieser Selbstentzweiung des Willens da, wo das Individuum sich selbst den Krieg erklart, im Selbstmord.*) Die Hauptbegriindung des Pessimismus ist also bei
Schopenhauer, ebenso wie bei Buddha, moralischer Art. Eine weitere Stiitze erhalt derselbe durch c) die Begriindung aus der Betrachtung des Begriffes
Gliick.3)
»AUe Befriedigung, oder was man gemeinhin Gliick nennt,
ist eigentlich und wesentlich immer nur negativ und durch- aus nie positiv. Es ist nicht eine ursprunglich und von selbst auf uns kommende Begliickung, sondern muss immer die Befriedigung eines Wunsches sein. — Daher kann die Be- friedigung oder Begliickung nie mehr sein, als die Befreiung von einem Schmerz, von einer Not.« Der Schmerz hingegen ist immer das Positive, das Urspriingliche, die Vorbedingung fiir jedes Gliick, dessen ganze Natur weiter nichts ist als die Negation des Schmerzes. An sich kann es also gar kein Gliick geben. Das, was wir Gliick nennen, kann sich daher auch niemals von selbst ankiindigen; dass wir jemals jene herrlichsten Giiter Jugend, Gesundheit, Freiheit besessen haben, merken wir erst, wenn sie fiir uns verloren sind. Fernerhin macht die negative Natur des Gliickes jede dauernde I; W. a. W. u. V. I p. 174. 2) ib. p. 472. 3) ib. p. 376 ff.
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Befriedigung unmoglich. Denn mit der Befriedigung hort
der Wunsch auf, und mit ihm als durch ihn bedingt der Genuss. — Auf diese seine Lehre von der negativen Natur des Gluckes im Gegensatz zu der positiven des Leidens legt Schopenhauer grosses Gewicht und wiederholt sie an ver- schiedenen Stellen.1) Auf den dargelegten Betrachtungen beruht im wesent-
lichen der Schopenhauer'sche Pessimismus. Aber nicht in der farblosen, niichternen Weise, wie ein Resume gleich dem unseren es verlangt, sind sie ausgefiihrt; viel mehr mit all der Kraft und Eindringlichkeit, iiber die er verfiigt, mit all der Zaubermacht seines Stiles, der sich bis zu wuchtigem Pathos steigert, hat der Philosoph seine herbe Weltanschauung zur Darstellung gebracht, wie sie in erschiitternder und zu- gleich iiberzeugenderer Weise von keinem seiner Nachfolger gegeben worden ist.a) Wohl selten hat ein Menschengeist das grauenvolle Chaos von Schuld und Uebel, das Welt und Menschenleben heisst, in gleich schonungloser Nacktheit gezeigt, wohl selten mit gleich grosser Meisterschaft die Harfe geruhrt, deren Saiten Jammer und Qual sind. Dem Leben ist das Leiden wesentlich; die Natur des
allschaffenden Willens als des Dinges-an-sich ist die unver- siegbare Quelle, aus der sich die Flut des Uebels iiber alles Lebende ergiesst. Dieser Pessimismus wird nicht durch eine optimistische W'endung durchbrochen. K. Fischer glaubt freilich einen Umschlag zum Optimismus nachweisen zu konnen. Er findet ihn in der Ansicht Schopenhauers, dass die Welt eben so eingerichtet sei, dass sie zur Weltverneinung fiihren muss, wie sie vor allem im Kapitel »Heilsordnung« des 2. Bandes der W. a. W. u. V. dargestellt ist.3) Die zum summum bonum leitende Welt muss doch daher eigent- lich die beste aller moglichen Welten sein. Wir aber meinen zunachst mit E. von Hartmann, dass die bestmogliche Welt 1) So: W. a. W. ii. V. II p. 659 ff. Ethik p. 210. 2) Ungemcin eindringlich, weil
auf wenigen Seiten gegeben, ist die Mainlander'sche Darstellung der traurigen Weltbeschaffen- heit. Philosophic der Eri'vsung I p. 203 ff. Dr. Eduard Loew;nthal sagt in seiner 1889 in Berlin bei Siegismund erschienenen Broschiire »Grundziige des induktiven Spiritualismus* auf p. 7: »Mainlander wnsste dem Pessimismus einen formlich verlockenden Beigeschmack abzugewinnen.« 3) K. Fischer, a. a. O. p. 476. |
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darum noch nicht gut sein muss; als bestmogliche kann die
Welt noch herzlich schlecht sein.1) Ferner aber hat Fischer nur dann Recht zu seiner Auffassung, wenn er sich auf den transscendenten Standpunkt des Dinges-an-sich und seiner •mystischen Vernichtung in der Resignation stellt; von hier aus gesehen mag die Welt wohl als bestmogliche sich dar- stellen, nicht aber, wenn man die der Schopenhauer'schen Philosophic eigene immanente Betrachtungweise beibehalt. Hier stellt sich vielmehr die beriihrte Eigenschaft der Welt als eine Heilsordnung eben als der krasseste Ausdruck des Pessimismus dar, gewissermassen als die selbsteigene Ver- urteilung der Welt, als die von ihr selbst ausgesprochene Erklarung ihres ganzlichen Unwertes. Es ist richtig, dass die Welt die ErlQsung herbeifuhrt, aber die Erlosung und ihre Moglichkeit machen bei Schopenhauer nicht wie in dem Vedanta den Pessimismus zu Schanden. Wir sehen den Gegensatz, in den Schopenhauer zum
Vedanta tritt. Bei ihm ist der Schmerz dem innersten Nerv alles Lebens und Daseins unmittelbar eigen, er haftet an dem Ding-an-sich, nicht, wie in dem Vedanta, an der Erscheinung. Jener erklart den Schmerz fur eine Illusion, der fur Schopen- hauer — wie auch fur die Buddhisten — das Reale, Positive ist; er verlegt die »Wonne« in das brahman, indes Schopen- hauer, gleich den Buddhisten, das Gliick, die Befriedigung, die Wonne als das Negative in das Reich der Erscheinung verweist. Auf der einen Seite der in die Maske des Pessi- mismus verhullte Optimismus, auf der anderen der ernste, wahre Pessimismus, aufs Tiefste von der fiirchterlichen Er- kenntnis durchdrungen, dass Leben und Leiden identische Begriffe sind und der Gedanke eines »seligen Lebens« einen Widerspruch enthalt.2) Bezeichnend fur die Denkweise beider Systeme ist, dass das eine, der Vedantisten, mit der Steige- rung des Intellekts die Lust, das andere, Schopenhauers, den Schmerz wachsen lasst. Nach Cankara namlich sind die Gotter zu ewigem Genusse berufen, weil sie die Fiille des Erkenntnisvermogens besitzen, und aus dem gleichen Grunde |
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1) Hartmann: Philosophic des Unbewussten 2. Aufl. p. 556. 2) W. a. W. it V I,
1. p08. |
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muss nach Schopenhauer das Genie herbere Qualen dulden
als der gewohnliche Alltagsmensch.1) Umgekehrt: die Tiere leiden nach Schopenhauer am wenigsten, nach dem Vedanta am meisten. Wichtig wird die Betrachtung des Schmerzes als einer Illusion oder als des eigentlich Positiven vor allem* in der Ethik, wie wir sehen werden.--------Thatsachlich ist
also der Schopenhauer'sche Pessimismus ein vollkommener;
er kommt zu dem triibseligen Schluss, dass die Welt, wie sie nun einmal ist, die denkbar schlechteste sei,1) dass die oft beklagte Kiirze des Lebens eigentlich seinen grossten Vorzug ausmache,3) ein Gedanke, den auch Platen in einem seiner schonsten Ghasele folgendermassen ausdriickt: »Und ware nicht das Leben kurz, das stets der Mensch vom Menschen
erbt,
So gab's Beklagenswerteres auf diesem Erdenrunde nichts.« Dass aber die Erlosung den Pessimismus nicht aufhebt,
ist darum gewiss, weil der Schmerz seine Wurzel im Ding- an-sich selbst hat. Darum wird nicht, wie in dem Vedanta, die Erlosung durch eine bewusste Riickkehr in den Mutter- schoss aller Wesen gewonnen. Vielmehr muss der Wille selbst ein ganz anderer werden, in sein Gegenteil umschla- gen, aus einem Wollen ein Nicht-Wollen werden. Wie eine solche totale Umgestaltung in dem iiber dem Satz vom Grunde stehenden und somit aller Veranderung entriickten Ding-an-sich vor sich gehen kann, ist eine vollig transscen- dente Frage, die iiber den Horizont menschlicher Erkenntnis hinausliegt, wie das Ding-an-sich eigentlich ja auch. Jeden- falls fiihrt uns die Erlosung in eine ganz andere Welt, oder vielmehr Nicht-Welt, wo das Nicht-Wollen herrschen wird, aber die Welt des leidenschaffenden Wollens bleibt darum doch bestehen. Der Vedanta zeigt uns das Dasein, wie es wirklich ist, nach seiner Ansicht, namlich leidlos, und diese Erkenntnis ist des Menschen Erlosung; Schopenhauer und der Buddhismus zeigen uns auch das Dasein, wie es wirklich ist, nach ihrer Ansicht, namlich gliicklos — mit diesem gliick- losen empirischen Dasein hat die Erlosung nichts zu schaffen, |
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1) Parerga II § 154. 2) W. a. W. u. V. I p. 382 u. 8. 3) W. a. W. u. V. I p. 383.
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sie redet von einem ganz anderen, das absolut unerkennbar
bleibt. — § 15. Die Frauen.
Nebenbei seien die Ansichten dargelegt, die unsere
Denker von den Frauen und dem weiblichen Wesen sich zu eigen gemacht haben. Sind dieselben natiirlich auch nicht ein wichtiger Bestandteil ihrer Systeme, so sind sie doch in so direkter Weise Ausfliisse des grosseren und geringeren Pessimismus, dass sie ein unmittelbares Licht auf diesen zu- riickwerfen; weshalb dieser § nur als Erlauterung des vor- hergehenden zu gelten hat. Denn der Pessimismus, der alle Giiter, Freuden und
Geniisse dieser Welt gewogen und zu leicht erfunden hat, der sich, wenn auch nicht immer praktisch, so doch stets theoretisch, von jeder Lust abwendet, hat zu alien Zeiten vornehmlich die Geschlechtsliebe und den Geschlechtsgenuss als hohlen Schein nachzuweisen gesucht, wenn er nicht so- gar — aber das thut er zumeist — in samtlichen geschlecht- lichen Beziehungen den Ftinftelsaft aller Unmoral erblickt. Da der Geschlechtstrieb nun seine normale Befriedigung nur unter zwei Individuen verschiedenen Geschlechts finden kann, so muss dem Pessimisten, je nach seinem Geschlecht, das andere als eine bestandige Aufreizung zu dem verab- scheuten Genusse erscheinen, wodurch es seiner Verachtung verfallt. Die Philosophie, auch die pessimistische, wird meist von Mannern gemacht, daher die Frauen eine pessimistische Beurteilung zu erfahren haben; die Manner miissten sich eine gleiche abschatzige Wertung gefallen lassen, wenn von dem weiblichen Geschlecht einmal die Philosophie ausginge. Was nun den Brahmanismus anbetrifft, so heisst es zwar
im Aitareya-Brahmanam: »Eine Tochter ist ein Jammer, ein Sohn ein Licht am hochsten Himmel,*1) wie denn auch die (von Schopenhauer angefuhrte2) Vorschrift aus dem Gesetz- buch des Manu bekannt ist, wonach das Weib bestandig unter Vormundschaft zu halten sei; dennoch aber scheint, in Gemassheit seines verkappten Optimismus, der Brahma- 1) E. Hardy: Vedisch-brahmanische Periode. p. 182. Vergl auch Zimmer: Altindisch.es
Leben. Berl. 1879 p. 332. 2) Parerga II p. 277, 660. |
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.nismus der Frau eine gewisse Gleichstellung mit dem Mann
eingeraumt zu haben.1) Wenigstens mit Riicksicht auf die hochste menschliche Angelegenheit, »das Wissen«. Jeden- falls steht die Frau iiber dem Cudra, der ausdriicklich von der erlosenden Erkenntnis ausgeschlossen wird, weil ihm die Quelle der Erkenntnis, der Veda, verschlossen bleibt. Daher stehen neben den Brahmanen die Brahmaninnen. Unbedenklich teilt Yajnavalkya seinem Weibe Maitreyi die tiefe Lehre vom atman mit,2) und auch die weise Gargi wird von ihm belehrt iiber das »Unvergangliche«, »worin das Vergangene, Gegenwartige und Zukiinftige eingewoben und angewoben ist.«s) Viel entschiedener tritt Buddha den Frauen gegeniiber,*) Sie sind fur ihn »die vielgewitzten Rauberinnen, bei denen Wahrheit schwer zu finden ist, denen die Luge ist wie die Wahrheit und die Wahrheit wie die Liige.« Ihr Wesen ist unergriindlich verborgen, wie im Wasser der Weg des Fisches; man soil ihren Anblick ver- meiden; man soil nicht zu ihnen reden; man soil in ihrer Gegenwart wachsam iiber sich selbst sein. Der Leichnam Buddhas wird durch ihre Thranen befleckt. Lange hat sich der Erhabene, ganz im Gegensatz zu dem Brahmanen Yaj- navalkya, gestraubt, den Frauen seine Wissenschaft und Lehre mitzuteilen, und als er endlich, dem Drangen seiner Stiefmutter und Tante Mahapajapati nachgebend, einen Frauenorden einrichtet, thut er es mit der Gewissheit, dass nun in Lehre und Orden heiliges Leben nicht lange gedeihen werde, statt lOOOJahre nur 500 lang; denn der Einfluss des Weibes auf heiliges Leben ist gleich dem des Mehltaus auf ein Reisfeld.5) Ananda, Buddhas Lieblingsjiinger, der die Bitte Mahapajapatis unterstiitzt hatte, musste sich dieserhalb auf dem ersten Concil der Theras nach des Erhabenen Tode heftigen Tadel gefallen lassen.6) — Da nun aber die Gemeinde der Nonnen vorhanden ist, wird sie in demiitiger Unter- werfung unter den Monchsorden gehalten. *) Als bezeichnend |
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l) Uebcr die Stellung der Frau in vedischer Zeit vergl. Zimmer a. a. O. p. 317 flf.
2) Deussen a. a. O. p. 186. 3) ib. p. 143. Oldenberg, a. a. O. p. 32, 64. 4) Oldenberg, a. a. O. p. 176 ff. 5) Oldenberg, a. a. O. 178. 6) Hardy: Buddhismus p. 87. 7) Oldenberg, a. a. O. p. 405. |
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fur diese Unterwerfung und Unterordnung sei die erste der
acht, fur alle Nonnen durchaus bindenden »hohen Ordnungen« angefiihrt: »Eine Nonne, wenn sie auch seit hundert Jahren ordinirt ist, muss vor jedem Monch, wenn er auch erst an diesem Tage ordinirt ist, die ehrfurchtsvolle Begriissung vollziehen, vor ihm aufstehen, die gefalteten Hande erheben, ihn nach Gebiihr ehren. Diese Ordnung soil sie achten, heilig halten, bewahren, ehren und ihr Leben lang nicht iibertreten.« Auch in ihrer Gemeinde selbst ist die spon- tane Thatigkeit der Nonnen beschrankt, so dass sie keinen wichtigeren Akt des Gemeinderechts vornehmen diirfen, ohne erst von der Gemeinde der Monche dazu autorisirt worden zu sein. — Dass Schopenhauer der wiitendste Misogyn war, ist
hinlanglich bekannt. Seine Verachtung des weiblichen Ge- schlechts ist unbegrenzt und hat sich in einem eigenen Ka- pitel »Ueber die Weiber« Luft gemacht.1) Auch seine Briefe enthalten gar manche Ausfalle gegen die »Weiber«, wobei der Ton oft in's Cynische umschlagt. An Schopenhauer ist so recht die Genesis des Weiberhasses aus dem Pessimismus zu erkennen. Denn urspriinglich hat Schopenhauer als eine leidenschaftliche, stark sinnliche Natur mehr denn einmal dem machtigen Zuge Folge geleistet, der den Mann zur Mannin zieht. Was K. Fischer davon in Erfahrung bringen konnte, hat er nicht ohne ein gewisses Behagen zusammen- gestellt.2) Aber war wohl eine solch peinlich genaue Auf- zahlung der Liebeshandel unseres Philosophen notig, da er es selbst gestanden hat, nicht nur seinem Vertrauten Frauen- stadt brieflich, »dass er arg nach den Weibern gewesen,«3) sondern auch offentlich, der ganzen Welt, in seinen Werken, indem er sagt: »Wir alle leben, wenigstens eine Zeit lang, meistens aber immer, in Polygamie?«4) Auch den Prinzen Siddhattha hatte vor seiner Flucht aus dem Elternhause der reizende Harem indischer Grossen umgeben. An sich selbst hat demnach Schopenhauer erfahren, mit wie festen Banden die Geschlechtsliebe den Menschen an diese Welt der Lust I) Parerga II Kap. 27. 2) Fischer a. a. 6. p. 64, 136. 3) Lindn^r-Prauenstadt: A.
Sch. Von ihm. Ueber ihn. p. 270. 4) Parerga II p. 659. |
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kettet, wie machtig, wie ruhestorend und sinnverwirrend der
Zauber ist, den das Weib auf den Mann auszuiiben vermag. Und noch lange nachher, als langst sein Pessimismus die Scheinwerte der Welt durchschaut und langst jeder Genuss ihm seine negative Natur offen dargelegt hatte, in Italien und Dresden, hat er dem Damon der Geschlechtslust opfern miissen, bis auch in ihm der Widerwille vor den verlocken- den Reizen erwachte, und er nun, als ein Renegat vom Kultus der Frauenschonheit, in der den Renegaten eigenen Weise, um so heftiger gegen seinen fruheren Glauben eifert. Masslos sind die Anklagen, die er gegen das Weib schleu- dert; selbst die aussere Schonheit, die einst so verehrte, wird ihm abgesprochen. *) Ganz wie Buddha, zeiht er es vor allem der Luge und Verstellung: Falschheit, Treulosigkeit, Verrat, Undank, das sind Fraueneigenschaften. Wir wollen hier keine Bliitenlese seiner Invektiven geben, noch weniger unter- suchen, wie weit dieselben berechtigt sind. Wir stellen nur seinen Weiberhass als Faktum hin, dem gemass ihm theore- tisch, wie den Buddhisten einst praktisch, das weibliche Ge- schlecht ein sexus sequior in jeder Hinsicht ist. Nur zogernd gesteht er ihm den Vorrang vor dem Mannergeschlecht in der Tugend der Menschenliebe zu,!) deren opferfreudige Bethatigung auch Buddha gar wohl an den Frauen zu schatzen wusste, wie sein Verkehr mit der freigebigen Matrone Visakha von Savatthi beweist.3) § 16. Die moralische Bedingtheit der Welt.
Wir sahen im § 14, dass Schopenhauer sowohl als
Buddha die klagliche Beschafifenheit der Welt besonders mo- ralisch begriindeten; was aber dort unter dem Gesichtspunkt des Pessimismus auftrat, als begriindender Faktor neben anderen Faktoren, soil nun um seiner selbst willen betrachtet werden, als ein Grundgedanke, der uns in den Kern der be- trachteten Systeme fiihrt. Bei Systemen, die organischen Zusammenhang haben, lasst sich selten eine einzelne Lehre so sauber herausnehmen, dass sie nicht mit zahen Fasern sich an eine andere festhakte. Haben wir also schon er- 1) Lindner-Frauenstadt a. a. O. p. 576. 2) Ethik p. 215. 3) Oldenberg a. a. O. p. 179
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vvahnen miissen, dass das Weltelend verschuldet ist, so wolleri
wir hier doch noch im allgemeinen darstellen, wie nach der Ubereinstimmenden Meinung unserer Philosophen die physi- sche Weltordnung auf eine moralische zuriickgeht, eine solch fundamentale Uebereinstimmung, dass sie wohl mit beson- derer Starke betont zu werden verdient. Der Gedanke einer moralischen Bedingtheit der Welt verfolgt nun seinerseits zwei Richtungen, die wiederum so sehr einander bedingen, dass eine reinliche Scheidung nicht vollkommen zu erreichen ist. Gemeint ist die Lehre vom karman und von der Seelen- wanderung. 1. Die Lehre vom karman.
a) in dem Vedanta. Karma heisst wortlich »That«, und die Lehre vom karma, eine der tiefsinnigsten aller indischen Philosophic, besagt, dass jede That, sie sei bose oder gut, ihre Vergeltung fordert, und zwar, wie die Dogmatik des Brahmanismus in dem Ve- dantasystem lehrt, eine doppelte: einmal im Jenseits, als Lohn im freundlichen Lichtreiche des Mondes oder Strafe in den sieben Hollen Yamas, andererseits im Diesseits durch eine neue Verkorperung der Seele, die sich giinstig gestaltet, wenn das »Werk« gut war, aber ungiinstig, wenn das Werk ein boses. Es ist ein Grundgedanke, nicht nur des Vedanta, sondern samtlicher Systeme Indiens, dass mit jeglicher That ihre Siihne unabwendlich verkniipft ist, dass aus jeder That der entsprechende Lohn erwachst. So lange auf Erden Thaten gethan und Werke verrichtet werden, so lange wirkt das karman, in seiner Kraft ungeschmalert, fort. Wir haben in der Lehre vom karman aus alter Vorzeit ein moralisches Pendant zu dem physikalischen Gesetz von der Erhaltung der Kraft unseres Jahrhunderts. ■— Dass das karman die wandernde Seele auch zu Himmelswonnen oder Hollenqualen fiihrt, ist fur uns hier von keiner Wichtigkeit; wir bleiben auf dem Boden fasslicher Realitat und sehen, wie das karman ein neues Erdendasein hervorbringt. ■' Wenn der Mensch dem Tode verfallen ist, so zieht
seine Seele aus dem zum Staub zuriickkehrenden »groben |
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Leibe« aus, gefolgt, wie wir sahen, von den upadhi's, darunter
der karma-acraya, das moralische Substrat, das aus dem Schatz im Leben vollbrachter Werke besteht. Dieser Werk- schatz wird die Ursache der Wiederverkorperung, weil er abgebiisst werden muss; er bestimmt mit zwingender Not- wendigkeit den kiinftigen Lebenslauf nach alien Verhaltnissen -hin, nach Handeln und Geniessen. Die Thaten aber, die ein Mensch vollbringt, sind ein Ausfluss seines Wesens, seines Charakters; denn also heisst es in der Brihad-aranyaka- Upanishad: »Der Mensch ist ganz und gar gebildet aus Begierde (kama); je nachdem seine Begierde ist, danach ist sein Wille (kratu); je nachdem sein Wille ist, danach thut er das Werk (karman); je nachdem er das Werk thut, danach ergeht es ihm.«x) Sonach ruht das Schicksal des Menschen in seiner eigenen Hand; »darum moge man trachten nach (gutem) Willen.«8) Das Wesen der That wird also ganz richtig in die Gesinnung, aus der sie entspringt, gesetzt und erklart aus der sittlichen Veranlagung des Thaters, aus seinem Charakter. Und dadurch, dass die That als der Same des kiinftigen Daseins aufgefasst wird, schreibt man ihr jene moralische Bedeutung iiber dieses Leben hinaus zu, die ihr thatsachlich anhaftet. Nach alien seinen Verhaltnissen hin wird der neue Erdenlauf durch unsere That, das heisst also durch unsere ethische Kraft, bestimmt, er ist so ganz die ausgereifte Frucht unseres moralischen Verhaltens in einem abgelaufenen Leben, dass thatsachlich unsere ganze Indivi- dualist als moralisch bedingt erscheint. Die Wirkung des karman geht nun aber nicht nur iiber
den Tod des Individuums hinaus, sondern iiberdauert auch — und das ist wichtig — den Untergang der gesamten Weltperiode, das ganze kalpa. Wenn am Ende eines kalpa die Welt in brahman zuriickkehrt, so bestehen, wie die Ele- mente, auch die individuellen Seelen samenartig, potentiell in brahman fort, auch hier mit der moralischen Bestimmtheit bekleidet. Das Werk verlangt seine Siihne auch iiber den Weltuntergang hinaus, und, zwecks dieser Siihne, muss brahman aufs Neue die Welt »ausgiessen.« Aufs Neue |
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1) Deussen a. a. O. p. 208. 2) ib. p. 163.
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bildet sich die Weltscheibe, von brahman so geordnet, dass:
die Siihne sich restlos vollziehen kann. Um ein Gleichnis zu gebrauchen, so verfahrt brahman wie der Dichter, der nicht allein Wesen und Charakter der dramatischen Personen und ihre Schicksale bis in's Einzelne feststellt, sondern auch die engere und weitere Scene bestimmt und so einrichtet, dass das Geschick seiner Helden sich in gewollter Weise entwickeln mag. Alle die Formen und Gestalten der Welt und ihre mannigfaltigen Beziehungen ordnen sich demgemass. so gegeneinander, dass einem Jeden sein pradestiniertes Los. werden kann, wie es ihm sein karman, dem Leben im fruheren kalpa entsprechend, auferlegt. Dann kann dem Menschen nichts widerfahren, weder von Mitmenschen noch. von Naturkraften, weder Gutes noch Boses, das er nicht als- Frucht eigenen fruheren Handelns anzusehen hat: die Welt ist im Grunde des Menschen eigenes Werk. Sie ist »die- der Seele aufgebiirdete Frucht ihrer Werke«, sie ist »Ver- geltung der That am Thater« (kriya-karaka-phalam) und also durchweg moralisch bestimmt. — Einerseits wird durch das karman der Kreis genau umgrenzt, den wir mit unserer empirischen Personlichkeit ausfiillen — »welche nun hier einen erfreulichen Wandel haben, fur die ist Aussicht, dass sie in einen erfreulichen Mutterschoss eingehen, einen Brah- manenschoss oder Kshatriyaschoss oder Vaicyaschoss; die aber hier einen stinkenden Wandel haben, fiir die ist Aus- sicht, dass sie in einen stinkenden Mutterschoss eingehen,. einen Hundeschoss oder Schweineschoss oder (gar) in einen CandalaschossjK1) andererseits ist eben dasselbe karman nicht nur Veranlassung zur neuen Weltperiode, sondern auch das- regulative Princip, das alle Dinge in ihren wechselseitigen Beziehungen festsetzt. Die ganze Welt ist somit Lohn unserer Thaten, sie ist »bhogyam,« das zu Geniessende (oder zu Leidende), wahrend die Seele »bhoktar,« Geniesser ist- Und so erstreckt sich in endlosem Wechsel von That und Siihne der samsara aus, kalpa reiht sich an kalpa in rast- loser Flucht, bis endlich die moksha, die Erlosung, alle Thaten des Wissenden zu nichte macht. Dann ist fiir eine |
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1) Deusscn a. a. O. p. 393.
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neue Geburt kein Same mehr vorhanden, dann hat das karman
sich rein ausgelebt, dann geht, gelost von Name und Gestalt, der Weise ein zum gottlich-grossen Geiste.--------Die Vor-
stellung, dass es Gott ist, der icvara, jene Personification
des aparam brahma auf dem Boden der avidya, der das Werk mit seiner Vergeltung verkniipft, kann hier iibergangen werden. b) im Buddhismus.
Die Lehre vom karman als der den samsara konstitu.
ierenden Potenz wirkt im Buddhismus fort.1) Was Yajfia. valkya einst in vedischer Zeit dem Artabhaga verkundet, die Lehre von der »That«: »Je nachdem einer handelt, je nachdem er wandelt, darnach wird er geboren; wer Gutes that, wird als Guter geboren, wer Boses that, wird als Boser geboren; heilig wird er durch heiliges Werk, bose durch boses ;«2) diese Lehre hat fur die Buddhisten noch nichts von ihrer geheimnisvollen Wahrheit verloren. Auch hier wirkt •das karman3) mit zwingender Naturnotwendigkeit; mit jeder That ist ihre Vergeltung im kiinftigen Dasein unlosbar ver- bunden. »Nicht im Luftreich«, sagt das Dhammapada, »nicht in des Meeres Mitte, nicht wenn du in Bergeshohlen hinab- •dringst, findest du auf Erden eine Statte, wo du der Frucht ■deiner bosen That entrinnen magst«. Diese Frucht ist auch fur Buddha eine zwiefache. Sie besteht zunachst in Lohn im Jenseits, wo den Guten »seine guten Werke, wie die Ver- wandten den heimkehrenden Freund empfangen«, oder in Strafe, Hollenqualen in den Reichen, iiber die Konig Yama herrscht, fur den Bosen,*) dann aber in entsprechender Neu- verkorperung auf Erden. Darum heisst es: »meine That ist •der Mutterleib, der mich gebiert.« Das kamma weist der neugeborenen Seele ihre ganz bestimmte Stelle im Weltge- triebe an; auch der Korper ist durch das kamma bedingt. »Nicht, ihr Jiinger, ist dies euer Korper noch der Korper der Anderen: als die That der Vergangenheit muss dies be- trachtet werden, die zur Gestaltung gewordene, durch das 1) Oldenberg a. a. O. p. 248 ff. 2) ib. p. 51, Deussen a. a. O. p. 208. 3) Im Pali
rkamma. 4) Oldenberg a. a. O. p. 250. |
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Denken verwirklichte, fuhlbar gewordene.« So hat denn der
Mensch die Art seines kiinftigen Daseins vollstandig in seiner Hand. Wer bei sich denkt: »Wohlan, mochte ich, wenn mein Leib zerbricht, im Tode der Wiedergeburt teilhaftig werden in einem machtigen Fiirstengeschlecht,« oder auch in einer der Gotterklassen, wer diesen Gedanken denkt, bei diesem Gedanken verweilt, diesen Gedanken nahrt, und, fiigen wir hinzu, diesem Gedanken nachlebt, dem wird die gewiinschte Daseinsform zu Teil werden.1)--------Fur die
buddhistische Anschauung aussert sich das kamma unmittelbar
nur in der Regulierung des bewussten Lebens personlicher Wesen, wie wir eine gleiche Beschrankung auch bei der Kausalitatsformel sahen. Ueber dieser engeren Beziehung auf den Umlauf individueller Seelen tritt jene weitere, die wir in dem Vedanta neben der engeren fanden, in den Hinter- grund, nach der das karman auch das ganze Universum, auch den Makrokosmos neben dem Mikrokosmos regelt und ordnet. Der Buddhismus vernachlassigt ja oft iiber ethischen Problemen die kosmischen. Aber diese zweite weitere Be- deutung des karman liegt implicite in der ersten, engeren beschlossen. Denn die Kraft, die das Leben des Menschen nach vorgefasstem Plane verlaufen lasst, muss auch die ausseren Umstande bestimmen konnen, an denen das Menschen- geschick sich entwickelt; sie kann unmoglich den Gang eines Daseins festsetzen, ohne zugleich die Umgebung in ihrer Gewalt zu haben, durch welche Umgebung eine Existenz erst zu der wird, die sie sein soil. So ist der Mensch nicht allein Urheber seiner eigenen Lebensform, sondern auch mittelbar der aller Lebensformen, der ganzen Welt. Und darum ist, wie wir zeigten, die Welt der Tummelplatz un- zahliger Uebel, weil der Willen des Menschen, aus dem alle seine Thaten entspringen, ein unmoralischer, siindhafter Wille ist. c) bei Schopenhauer.
Was die indische Philosophic nur mythisch darstellen konnte, wie namlich die physische Weltordnung auf eine moralische zuruckgeht, was sie erklaren konnte allein durch 1) Oldenberg a. a. O. p. 267.
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Zuhulfenahme eines neben der Seele bestehenden mora-
lischen Princips, des karman, zu dessen Erfassung wir mehr des Gefiihles als der Vernunft bediirfen, das hat Schopen- hauer klar und iiberzeugend dargethan, nicht mythisch, sondern strengphilosophisch, durch verni.inft.iges, rein abstraktesDenken. Ein Mythos ist nie die ganze Wahrheit, nur ihr Kleid, das ihr niemals ganz passen wird. Die mythische Losung eines Problems Avird niemals fur alle Fragen, die sich dabei auf- werfen, eine Antwort haben. Was das karman ist und be- deutet, ist annahernd klar; aber durch welche geheimnisvolle Kraft es seine Wirksamkeit in Konstituierung eines neuen Lebens ausiiben kann, wird nicht gesagt. Man scheint dieser Frage naher getreten zu sein. Wie die apara, vidya des Vedanta sie zu losen gesucht hat, wurde oben angedeutet: durch die Annahme eines personlichen Gottes, der iiber die wandernde Seele ihr neues Schicksal verhangt, indem er sich dabei nach dem moralischen Verdienst des vergangenen Lebens richtet. Doch da die Gestalt eines personlichen Gottes, als auf dem Boden der avidya erwachsen, nicht im hochsten Sinne real ist, so bleibt jene Frage offen, die Schwierigkeit der Erklarung ungehoben. Hier nun springt die VortrefHichkeit des Schopenhauer-
schen Systemes unmittelbar in die Augen, das insofern aus einem Guss erscheint, als Metaphysik und Ethik in unauf- loslicher Verbindung stehen. Denn, ist die in der Natur treibende und wirkende Kraft identisch mit dem Willen in uns, so tritt wirklich die moralische Weltordnung in direkten Zusammenhang mit dem das Phanomen der Welt her- vorbringenden Princip. Der Wille, der das Ding-an-sich aller Erscheinungen ist, enthalt zu gleicher Zeit ihren Charakter, so dass Dasein und Beschaffenheit zusammenfallen. Der Wille ist nicht nur ein konstitutives, sondern auch ein ethi- sches Princip; er hat neben seiner Bedeutung als hochste Realitat auch eine moralische Bedeutung; denn jcder Wille ist ein Wille nach etwas, ein ganz bestimmtes Streben, dessen Richtung und Ziel eben den moralischen Wert normieren. Alle Wesen sind demnach Aeusserungen einer ausserzeit- lichen Willensentscheidung; sie verdankcn dieser nicht allein |
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ihre existentia, sondern auch ihre essentia. Sie sind nicht
nur, sie sind auch eben so, weil der Wille sie so und nicht anders wollte. Die physische und die moralische Weltord- nung bedingen sich wechselseitig. Im tiefsten Grunde aber ist der Wille ein verderbter,
ein unmoralischer. Daher fallt alles Leiden seinem siind- haften Streben zur Last. Alle Qualen der Welt, Schuld und Uebel, sind Willensausserungen, sind Darstellungen dessen, was der Wille will. Was immer den Menschen treffen mag, hat er selbst heraufbeschworen; er ist der Schopfer seiner eigenen Individualitat. Seine Schuld, die er im Leben abzubiissen hat, ist seine ausserzeitliche Willens- richtung, die sich fur das Leben entschied. Die grosste Schuld des Menschen ist, dass er geboren ward. Und ein- mal im Leben, wird er das Leben durch immer neues Streben, durch immer neue Thaten bejahen; die bestandige Willensbejahung ist sein karman, das ihn voranpeitscht durch Siinde und Qual zahlloser Existenzen. Was die Inder karman nennen, deckt sich im wesentlichen mit dem Begriff der »ewigen Gerechtigkeit« bei Schopenhauer; nach beiden Lehren ist das malum poenae unloslich mit dem malum culpae verbunden; was sie beide unterscheidet, ist die ver- schiedene Ansicht iiber den Zeitpunkt des Eintritts der Siihne, den die indische Philosophic erst in ein kommendes Dasein verlegt, Schopenhauer mit dem Zeitpunkt der Schuld direkt zusammenfallen lasst. Die Welt ist der Spiegel des Willens; nur darum ist
die Welt jenes grauenerregende Pandamonium von Schuld und Uebel, weil der Wille, der sich in ihr ausspricht, ein verkehrter und unseliger ist. Die natiirliche Weltbeschaffenheit wurzelt also in einer moralischen — eben wie in der in- dischen Philosophic Aber es ist zu merken: <*) Die Verbindung von natiirlicher und moralischer
Weltordnung ist in dem Vedanta eine einseitige, bei Schopen- hauer eine doppelte. Der Vedanta lasst allein dem karman gemass die Welt sich gestalten, begriindet also die natiir- liche Weltordnung moralisch, indess Schopenhauer daneben auch noch die moralische Weltordnung natlirlich erklaren
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kann, eben dadurch, dass bei ihm das Princip aller Moral
aiich Princip aller Natur und umgekehrt ist. Was irgend besteht in der Natur, hat irgend eine Beziehung zur Moral, einen Charakter, und was irgend einen Charakter hat, muss thatsachlich in der natiirlichen Weltordnung gegebeh sein. — Auch der Buddhismus kennt nur die einseitige Begriiridung der Natur durch die ethische Veranlagung. p) Nach dem Vedanta entscheidet iiber das Geschick
der Welt, wie gezeigt, das karman. Jedes Handeln beruht aber nach ihm auf einer falschen Meinung, der avidya; nur durch diese erscheint die mit upadhi's falschlich behaftete Seele sich selbst als kartar und bhoktar, das heisst handelnd und geniessend. In Wahrheit ist die Seele das ewige brahman selbst, das weder handelt noch geniesst. Dem Ding-an-sich ist von Natur aus das Thatersein absolut nicht eigen, und darurri fuhrt die moralische Bedingtheit der Welt nicht bis in das Ding-an-sich und kann es nicht, weil dieses ttur Er- kenntnis ist. Die Urschuld wlirde demnach in eine falsche Erkenntnis zii setzen sein, aber diese kann, rein als solche genommen, nie eine Schuld involvieren. — Bei Schopen- hauer hingegen enthalt das Ding-an-sich selbst die Vor- bedingung jeder That, das Wollen und Streben, dessen Ob- jektivation die That unmittelbar ist. Die Urschuld ist daher ein falsches Wollen. Hier fallt die moralische Verantwort- lichkeit direkt auf das Ding-an-sich, wahrend sie in dem Vedanta so wenig an diesem haftet, dass sie sogar einer Potenz zur Last liegt, die im Grunde gar nicht ist. — Der Buddhismus kann leider riicksichtlich dieser Frage nicht in Betracht kommen. Zwar ist es auch bei ihm die innerste Natur des Menschen, aus dem die That und das karman sich ergiebt; aber er hat weder wie Schopenhauer den Willen, noch wie der Vedanta die Erkenntnis zum Ding- an-sich hypostasiert. 2. Die Lehre von der Seelenwanderung.
Es wurde schon erwahnt, dass die Lehre von der Seelenwanderung mit der vom karman in enge Verbindung tritt. Das karman ist sowohl das regulative, als auch das |
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motorische Princip der Wanderung. Keine That, und sei
sie die moralisch beste, kann der Wanderung der Seele Einhalt thun und zur Erlosung fiihren; denn weil jede That endlich ist, kann auch ihr Lohn nur ein endlicher sein, wahrend die moksha oder Erlosung der unendlich-ewige Lohn ist, nicht einer That, sondern der intuitiven Erkenntnis, des samyag-darcanam.1) So kommt auch durch wahrhaft gute Thaten der samsara nicht zum Stillstand. Das karman setzt also den Umlauf der Seele in Gang, erhalt ihn und weist ihm Richtung und Ziel an. Beide Lehren, die von der Seelenwanderung und die vom karman, sind mythische Einkleidungen fur dieselbe Wahrheit, fur die Wahrheit der »ewigen Gerechtigkeit«. Als eine solche mythische Einkleidung behalt aber die
Seelenwanderunglehre nach Schopenhauer einen grossen Wert. Er sucht ihre Vortrefflichkeit und relative Wahrheit e consensu, non omnium, sed multarum gentium zu erweisen. »Wir finden namlich«, sagt er,2) »die Lehre von der Metem- psychose, aus den uraltesten und edelsten Zeiten desMenschen- geschlechts stammend, stets auf der Erde verbreitet, als den Glauben der grossen Majoritat des Menschengeschlechts, ja, eigentlich als Lehre aller Religionen, mit Ausnahme der jiidischen und der zwei von dieser ausgegangenen; am subtilsten jedoch und der Wahrheit am nachsten kommend--------im
Buddhaismus.« Er erwahnt ihre Verbreitung unter Aegyptern
und Griechen (bei den Orphikern, Pythagoras, Platon), unter den nordischen Volkern (wo sie in der Vflluspa auftritt) unter den Druiden Galliens, den Indianern Amerikas, den Negern Afrikas, den Papuas Australiens. Er fiihrt an, dass auch viele ketzerische Sekten des Urchristentums vom Glauben an Metempsychose durchdrungen waren; selbst Bibelstellen erhalten »einen verniinftigen Sinn nur dann, wenn man sie als unter Voraussetzung des Dogmas der Metempsychose gesprochen versteht,« von denen eine, Math. 16, 13—-15, angefiihrt wird.3) Auch moderne Denker haben sich zu 1) >»universelle Erkenntnis.« 2) W. a. W. u. V. II p. 577. 3) Andere solcher Stellen
verzeichnet P. Deussen: Elemente der Metaphysik p. 198. Vergl. iibrigens das Schriftchen von Hiibbe-Schleiden: »Karma im Christentum.* Braunschweig bei C. A. S.chwetschke & Sohn 94. 10"
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diesem Dogma mehr oder weniger bekannt, so Lichtenberg,
Lessing, Hume. Daher gilt fur unseren Philosopher! der Seelenwanderungglaube »als die natiirliche Ueberzeugung des Menschen, sobald er, unbefangen, irgend nachdenkt,« als ein Dogma, das jedem, der zum ersten Mai davon hort, sogleich einleuchtet. Ihm ist dieser Mythus ein Postulat der praktischen Vernunft, dessen ungemein hoher Wert darin liegt, dass er ein Surrogat jener grossen, aber dem gemeinen Verstand unfassbaren Wahrheit ist, der Wahrheit von der ewigen Gerechtigkeit, nach der alle Leiden, die einMensch iiber Mensch oder Tier verhangt, von ihm selbst erlitten werden mtissen, nach der das malum culpae mit dem malum poenae unzertrennlich verbunden ist. Der Qualer und der Gequalte sind eines — das zu erkennen, wird ganzliche Erhebung iiber die Individualitat und das Princip ihrer Moglichkeit erfordert, welcher Forderung die grosse Masse nicht wird nachkommen konnen. Deshalb wird die Wahrheit, freilich zum Schaden ihres pragnanten Ausdrucks, in einen Mythus gekleidet, und »nie hat ein Mythos und nie wird einer sich der so Wenigen zuganglichen, philosophischen Wahrheit enger anschliessen, als diese uralte Lehre des edelsten und altesten Volkes, bei welchem sie, so entartet es auch jetzt in vielen Stiicken ist, doch noch als allgemeiner Volksglaube herrscht und auf das Leben entschiedenen Einfluss hat, heute so gut, wie vor vier Jahrtausenden.*1) Aus Europa hat zwar das Judentum diesen trostlichen Urglauben der Menschheit verdrangt; aber »es steht noch dahin auf wie lange.«8) Was nun diese »uralte Lehre« selbst betrifft, so hat
Schopenhauer richtig erkannt, dass sie im Brahmanismus in anderer Fassung auftritt als bei den Buddhisten.8) Die erstere nennt er Metempsychose, die letztere Palingenesie, welche Ausdriicke wir beibehalten.4) Die brahmanisch-vedantistische Metempsychose besteht in
einem Uebergang der gesamten Seele mit alien ihren Kraften |
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1) W. a. W. u. V. I p. 421. 2) W. a. W. u. V. II p. 580. 3) Man ist ubrigens jetzt
geneigt, die erste Conception der Metempsychosenlehre der vorarischen Bevolkerung Indicns zuztischreiben. Hardy: Der Buddhismus, Anm, 42 fzu p, 16); Oldenberg a. a. Ot lasst die Frage unentschieden; p. 46 Anm. 1. 4) W. a, W. u. V. II p. 576. Parerga II p. 293. |
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und Funktionen aus einem sterbenden Leib in einen anderen,
ungeborenen, zu neuer Geburt. Dass die Seele, der jiva- •atman, auf seiner Wanderung von dem vollstandigen Kom- plex der Geistes- und Willensorgane begleitet wird, haben wir in § 11 gesehen. Beim Tode gehen die zehn indriya's, fiinf Erkenntnis- und ftinf Thatorgane, in ihr Zentralorgan, ■das manas, ein, dieses mit den indriya's in den mukhya prana, den unbewussten Willen, dieser in die mit der »mo- ralischen Bestimmtheit« behaftete Seele, endlich diese in den »feinen Leib«, den sukshmam cariram.1) Der »grobe Leib« wird zu Staub, aber was immer die Seele als ein Geistiges, Organisches von dem unorganischen Leib trennt, vereinigt sich im Herzen, um vereinigt auf einer der 101 Hauptadern .auszuziehen und die Wanderung anzutreten, entweder zum Monde iiber verschiedene Stationen, oder in die Holle. Wenn dann die zur Erdenwelt zuriickkehrende Seele durch die Speise in den Leib des Vaters eingegangen ist, tritt sie bei der Zeugung mittelst des Spermas in den ihren Werken entsprechenden Mutterschoss und bildet sich hier, aus dem Blute der Mutter, den neuen »groben Leib«, wobei sich die psychischen Organe, die auf der Wanderung »zusammenge- rollt« waren, aufs Neue entfalten. Der Tod ist also, in der Sprache des von Schopenhauer so eifrig bekampften Kartesianischen Spiritualismus zu reden, die Trennung von Geist und Korper, die Geburt eine neue Verbindung beider, wobei nur der Korper ein anderer, der Geist in seiner To- talitat unverandert geblieben ist. Diese Auffassung muss gleichfalls von Schopenhauer bekampft und verurteilt werden. Der Buddhismus aber, sagt Schopenhauer, lehrt »eine viel schwerer fassliche Palingenesie, die in grosser Uebereinstim- mung steht mit meiner Lehre vom metaphysischen Bestande •des Willens, bei der bios physischen Beschaffenheit und dieser entsprechenden Verganglichkeit des Intellekts.«2) Aber nicht, wie er meint, allein der esoterische Buddhismus. Eine Scheidung, wie sie von P. Deussen fur den Vedanta nach- gewiesen worden ist, eine Scheidung zwischen exoterischer und esoterischer Lehre hat nicht statt in Buddhas Religion, 1) Deussen a. a. O. p. 396 ff. 2) Parerga II p. 293.
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wenigstens nicht in ihrer altesten fiir uns erreichbaren Form.1)
Gegen die Annahme einer solchen Scheidung hat noch un- langst Max Miiller seine gewichtige Stimme erhoben.2) Kurz vor seinem Tode spricht der Erhabene zu seinem Liebling Ananda: »Ich habe die Lehre verkiindet, Ananda, und habe keinen Unterschied gemacht zwischen drinnen und draussen.«8) Es giebt keinen esoterischen Buddhismus, wie Schopenhauer falschlich glaubt,4) und die Lehre der Palingenesie gilt flir alle, die sich bekennen und »ihre Zuflucht nehmen zu Buddha, der Lehre und der Gemeinde.« Aber was wichtiger ist, auch der Begriff der Palingenesie trifft so, wie ihn Schopenhauer fasst, mit der buddhistischen Seelenwanderunglehre nur sehr unvollkommen zusammen. Schopenhauer erklart die Palin- genesie »als Zersetzung und Neubildung des Individui, indem allein der Wille beharrt und, die Gestalt eines neuen Wesens annehmend, einen neuen Intellekt erhalt.« Nun hat es zwar mit der Zersetzung des Individuums seine Richtigkeit. Dieses ist, wie wir wissen, »zusammengebiindelt« aus den fiinf khandha's: Korperlichkeit, Empfindungen, Vorstellungen, Gestaltungen, Erkennen. Die Vereinigung lost sich im Tode, und vier khandhas, und darunter auch solche geistiger Art,, werden vernichtet. Aber was iibrig bleibt, ist nicht Wille, und was zu Grunde geht, ist nicht der gesamte Intellekt* Von Willen (Durst) ist iiberhaupt bei den khandha's nicht die Rede, und jene Kategorie, die wir vielleicht als ein Streben und Wiinschen ansprechen diirfen, die Gestaltungen sind gleich der rohen Korperlichkeit verganglich. Was hingegen dem Tode entgeht, ist grade das Erkennen, vififlana. Dieses entflieht dem sterbenden Leibe, dieses wandert zu Himmels- lust oder Hollenqual, dieses senkt sich zu aeuer Geburt in einen neuen Mutterschoss, in dem sich die neuen Qualitaten der Vorstellungen, Empfindungen, Gestaltungen, sowie der neue Leib bilden. So lehrt der Buddhismus von seiner 1) Hardy: Buddhismus p. 49. 2) >Esoterischer Buddhismus« in »Die Zukunft«, 3ier-
ausgeg. von M. Harden, Nummer vom 21. April 1894. 3) Oldenberg a. a. O. p. 214. 4) and wie <rr Philipp Mainiiinder; cf. » Philosophic der ErIosung«, Bd. II (2. Aufl. 1894) 4. Essay: Der fiuddhaistnus p. 71. Die Geheimlehre des Buddhismus beschrankt sich allein auf den Vinaya, der nur die Ordensregeln enthalt und der keinem Laien, selbst nicht den Novizen^ mitgeteilt iverden dttrfi aber nicht auf den Dhamma, die eigentlichen Lehren des Buddhismus. Oldenberg p. 398 und Anm. |
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Palingenesie grade das Gegenteil, als was Schopenhauer davon
glaubt. Aber sollte das Bild, das sich Schopenhauer ept- worfen hat, nicht mit seinem Objekt wenigstens eine gewisse Aehnlichkeit erhalten, wenn wir dieses vielleicht in eine andere Beleuchtung riicken? Da das Erkennen ein blosses sankh&ra ist, besitzt es nicht jene feste Realitat, die das Band der Existenzen doch haben sollte.1) Es wandert nicht eigentlich das Erkennen; — denn dieses hat ja absohit keine hohere metaphysische Geltung selbst iiber den nur immate- rjellen Leib hinaus — sondern das karman, die Schuld, also eine moralische Potenz. Und da die Schuld von einem Willen nicht zu trennen ist, wandert in ihr, potentiell, die ethische Veranlagung des Individuums mit. Parum heisst es auch: »Dann (namlich auf der Wanderung), sage ich, hat (das Dasein der Wesen) den Durst als das Substrat, an welchem es haftet; denn der Durst, o Vaccha, ist zu der Zeit sein (des wandernden Wesens) Haften.«2) Hier wird also ausdrticklich der Wille als die den Tod iiberdauernde Kraft genannt. Wir diirfen aber hierin nicht mehr erblicken als eine inkonsequente Abweichung von der allgemein giiltigen Fassung der Lehre, wie wir sie oben gegeben haben. Darum deckt sich, Schopenhauers eigenem Zeugnis zuwider, die Seelenwanderunglehre des Buddhismus nicht durchweg mijt der Form, in der er seinerseits eine Wanderung des kopsti- tutiven Princips aus einem Individuum in das andere, nicht als blossen Mythus, sondern als positiven Bestandteil seiner Metaphysik, lehrt. Der Tod ist eine Zersetzung der Indiyidualitat in Wjljjen
und Intellekt, von welchen Bestandteilen der Intellekt als physisch, der Erscheinung angehorig, dem Korper in dj,e Vernichtung folgt, der Wille hingegen, als das metaphysische Ding-an-sich selbst, unzerstorbar bleibt und Keim und Kern eines ganz neuen individuellen Daseins wjrd, indem er sich zu erneuter Erdenlaufbahn mit einem neuen InteHekt versiehj, was unzahlige Male hintereinander sich ereignet, so lange namhch, bis das karman sich ausgelebt hat, der Wjlle sich nicht mehr bejaht. Das Primare lasst Schopenhauer wie J) Oldon^erg a. a. O. p. £80, Anm. 1. ft ib. ,f, 255 mit Anm. J.
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der Vedanta vom Vater, das Sekundare von der Mutter aus-
gehen, nur dass beide sowohl unter dem Primaren als dem Sekundaren etwas anderes verstehen. Wir haben nach alle dem folgende drei Stufen in der
Entwicklung der Wanderunglehre zu unterscheiden: a) die Metempsychose des Vedanta. Eine Trennung der
geistig-moralischen Krafte des Menschen findet nicht statt; es wandert die ganze »Seele«, wobei das ethische Moment durch den karma-acraya vertreten ist. b) die Palingenesie des Buddhismus. Die Scheidung
zwischen geistiger und sittlicher Potenz ist nicht rein durch- gefiihrt. Es wandert auch hier im allgemeinen das Geistige; doch tritt schon der Wille mehr und mehr als Bindeglied der Existenzen in den Vordergrund. c) die Palingenesie Schopenhauers. Die Scheidung ist
vollstandig vollzogen: der Wille wandert, der Intellekt stirbt. Ihren wahren Wert, ihre eigentliche Bedeutung erhalt
die Palingenesie fur Schopenhauer freilich in einem anderen Zusammenhang der Gedanken, als den wir hier verfolgen, namlich bei Betrachtung der Welt als eines Heilplanes. Soil die durchgangige moralische Bedingtheit der Welt in das rechte Licht gestellt werden, so tritt an die Stelle der Wanderunglehre das Dogma von der »ewigen Gerechtigkeit.« Denn bei Annahme einer Palingenesie steht Schopenhauer, um einen Terminus des Vedanta zu gebrauchen, auf dem »Standpunkt des Welttreibens,« vyavahira-avastha. Nur wer auf diesem fusst, glaubt, wie Cankara richtig ausfiihrt, eine Vielheit gesonderter Individualitaten zu erblicken, die ein- ander in der Zeit succedieren; die Vorstellung einer Palin- genesie und Metempsychose ist auch nach Schopenhauer nicht ohne Zeitbegriffe durchfiihrbar. Auf dem »Standpunkt der hochsten Realitat« aber, paramartha-avastha, auf dem man vollkommen von dem principium individuationis abstrahirt, giebt es weder Raum noch Zeit noch Individualitaten, nur die unmittelbare Einheit des Dinges-an-sich, ob dieses nun brahman oder Willen genannt wird. Hier lasst der Vedanta seine Metempsychose, Schopenhauer seine Palingenesie fallen. Die Metempsychose verlegt, weil an die Form der Zeit |
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gebunden, in die Zukunft, was immer und ewig jetzt ist.
»Der moralische Sinn der Metempsychose--------ist nicht
bloss, dass wir jedes Unrecht, welches wir veriiben, in einer
folgenden .Wiedergeburt abzubiissen haben; sondern auch, dass wir jedes Unrecht, welches uns widerfahrt, ansehen miissen als wohlverdient, durch unsere Missethaten in einem friiheren Dasein.*1) Seine Quintessenz ist also der Begriff der ewigen Gerechtigkeit, den wir jetzt in der Kiirze ent- wickeln wollen. Dem im principium individuationis befangenen Verstande
wird freilich die ewige Gerechtigkeit, die das ganze Welt- treiben reguliert, nicht sichtbar. Er sieht den einen unter der niederdriickenden Last anscheinend unverdienter Uebel achzen, den anderen, den Bosewicht, dessen Schandthaten nach Suhne schreien, unangefochten durch die Welt und aus der Welt gehen. Da wird die Vergeltung ein Postulat der praktischen Vernunft. Die Forderung einer Vergeltung ist so stark, dass der Kantische Gottesbeweis daraus die That- sache einer vergeltenden Macht ableitet, die im Jenseits belohnt oder bestraft. Der Inder verlegt die Suhne in ein kiinftiges Erdendasein, um dem Konflikt mit der Erfahrung auszuweichen. Aber dem Blick, der hinter den mannigfachen Hiillen der Erscheinung den einen Willen zu entdecken vermag, dem intuitiven Blick, der die Einheit und Identitat aller Wesen erkennt, enthiillt sich die ewige Gerechtigkeit. Die Verschiedenheit der Individualist, nach der derjenige, der Leiden verhangt, und der, der Leiden dulden muss, grundandere Wesen sind, ist nur Phanomen und trifft nicht den in alien identischen Willen, vielmehr: der Qualer und der Gequalte sind unmittelbar Eines. In sein eigenes Fleisch schlagt der Wille seine gierigen Zahne; sich selbst verletzt er nur; denn ausser ihm existiert Nichts. Nur in der Er- scheinung sind Qualer und Gequalter verschieden, aber die Erscheinung ist nichtig, Trug der maya. Wie aber der Qualer im Irrtum ist, wenn er sich nicht der Qual teilhaft glaubt, so der Gequalte, wenn er sich der Schuld entnommen meint. Denn alles Bose, das auf der Welt veriibt wird oder 1) Parerga II 9 189, p. 430. W. a. W. u. \. I p. 420. W. a. W. u. V. I § 63 (p. 414).
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ward, fliesst aus jenem Willen, der auch des Gequalten
Wesen ausmacht. So lange der Mensch diesen Willen festhalt, ihn in Thaten bejaht, so lange wird ihn jede Qual treffen, die auf Erden moglich ist, so lange muss er alle Schuld auf sich nehmen, die je begangen werden kann. Das ist der tiefe Sinn der ewigen Gerechtigkeit, die absieht von der triiglichen Verschiedenheit der Individuen und un- mittelbar auf das Ding-an-sich zuriickgeht. Sie lehrt, wie mit dem Uebel der Schuld das Uebel der Strafe unzertrennlich verbunden ist, ohne Irrtum, unfehlbar, fest und sicher. Sie ist der Ausdruck, der vollkommenste Ausdruck, frei von allem mythischen Beiwerk, der Thatsache der moralischen Bedingtheit der Welt. »K6nnte man alien Jammer der Welt in eine Wagschale legen, und alle Schuld der Welt in die andere, so wiirde gewiss die Zunge einstehen.« Fiir die Leiden ist die Rechtfertigung die, dass der Wille auch auf diese Erscheinung sich bejaht, und diese Bejahung ist gerechtfertigt und ausgeglichen dadurch, dass der Wille die Leiden tragt. Die Bejahung des Willens zum Leben ist die Urschuld, die durch Leiden und Tod abgetragen werden muss, und bei der Zeugung wurde sie kontrahiert. Die Seelenwanderunglehre der indischen Philosophic
enthalt den BegrifF einer zeitlichen Gerechtigkeit; sie kann nur vermittelst der Zeit die schlimme That mit der schlim- men Folge ausgleichen: sie ist Vergeltung im strengen Wort- sinn. Die »ewige Gerechtigkeit« Schopenhauers ist keine vergeltende, sie hat keinerlei Bezug auf die Zukunft, sondern ist immer, in jedem Augenblick mit ihrem unbestochenen Richterspruch da: ihr Wesen, wie das des Willens selbst, ist ewige Gegenwart. Strafe und Vergehen, die in der indi- schen Philosophic getrennt sind, fallen bei Schopenhauer in Eines. Aber abgesehen von diesem Unterschied besagen beide Lehren dasselbe: dass jedes Menschenschicksal ein nach Lust und Qual genau normiertes ist, dass die aussere, physische Weltordnung auf einer inneren, moralischen ak» ihrer Basis beruht. |
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§ 17. Die Willensfpeiheit.
Das Schicksal des Menschen ist gemass der Lehre vom
karman abhangig von seiner That. Auf die That haben wir also fernerhin unser Augenmerk zu richten. Steht es im Belieben des Einzelnen, Thaten zu thun, wie es ihm gut- diinkt? Oder sind diese notwendige Folgen aus dem Zu- sammentrefFen verschiedener Faktoren, als welche natiirlich nur der Wille und die Motive in Frage kommen? Mit an- deren Worten: ist der Wille frei? Buddha scheint diese Frage bejaht zu haben. Denn fur
ihn ist die Lehre desjenigen indischen Philosophen, der Ver- treter des Determinismus ist, namlich des vorbuddha'schen Dialektikers und Sophisten Makkhali Gosala, eben das unter alien indischen Systemen, was ein harenes Gewand unter alien gewebten Gewandern ist, namlich die schlechteste.1} Bestimmend war wohl hierbei fiir ihn die thatsachliche Mog- lichkeit einer freien Selbstvernichtung des Willens, in der Ertotung des »Durstes«, wahrend sein System eigentlich die Unfreiheit des Willens verlangt. Die Kausalitat beherrscht ja alle sankhara, also auch die Thaten. »Wenn Dies ist, ist auch Jenes; wenn Dies entsteht, entsteht auch Jenes; wenn Dies nicht ist, ist auch Jenes nicht; wenn Dies vergeht, vergehtauch Jenes.« Die Thaten entspringen also mit Notwendigkeit dem Willen, dem Durst nach Liisten, nach Werden, nach Macht. Und dieser selbst ist eine unumgangliche Folge des »Nicht- wissens.« Der Vedanta dagegen lehrt in der That, dass jede Hand-
lung mit Notwendigkeit aus dem Charakter des Menschen hervorgeht, dass der Mensch durch sein eigenstes Wesen ge- zwungen ist, so und nicht anders zu handeln. In der jje- weiligen sittlichen Veranlagung hat die That ihren Ursprung; nur wer »guten Willen« hat, kann gute Thaten thun.2) »Je nachdem sein (des Menschen) Wille ist, darnach thut er das Werk.w3) Das Werk ist also durch den Willen bestimnat; nur dieses Werk kann aus diesem Willen hervorgehen, oder umgekehrt, der Wille kann nur dieses Werk vollbringen; er ist unfrei. — Der Charakter wird aufgefasst als eine Kraft,. 1) Oldenberg a. a. O. p. 71, 188. 2) Deusscn a. a. O. p. 163. 3) ib. p. 208.
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^akti, indem die Seele als »verbunden mit Fehlern wie Liebe
and Hass« erscheint.1) Diese Kraft, die, was bemerkens- wert ist, fur den jedesmaligen Lebenslauf unveranderlich die- selbe bleibt, reagiert auf die nimitta's, die Motive, und bringt so die Handlungen aus sich hervor. Die Handlungen sind folglich durchaus durch die beiden Korrelata: cakti und nimitta's, bestimmt, so strenge bestimmt, wie die Art der Pflanze durch die Qualitat des Samens, aus dem sie auf- schiesst.2) — —■ Dann aber wird die Unfreiheit des Willens auf theologische Weise begriindet, indem die Thaten als von Gott abhangig gedacht werden, was wohl angeht, da beide Begriffe, Gott und That, nur auf dem Boden der apara vidya, des »niederen Wissens« gelten. Dem gemass heisst es: »denn er allein lasst das bose Werk thun den, welchen er abwarts fiihren will.«3) Sind aber die Thaten gebunden, so kann der Wille nicht frei sein. Gott macht eben nach An- schauung des Vedanta den Willen eben so wollen, dass aus ihm diese oder jene vorbestimmte That hervorgeht. Gott selbst aber handelt bei solcher Aufbiirdung guter oder schlechter Werke nicht frei; denn er richtet sich dabei nach der von der Seele in ihrem friiheren Leben »vollbrachten Anstrengung im Guten und B6sen.« Der Lebenslauf eines Menschen im kommenden Dasein, die kiinftige Summe aller seiner Thaten und Leiden muss von Gott pradestiniert werden genau dem Einfiuss gemass, den der friihere Lebenslauf als Motiv auf Gottes Gerechtigkeit als seinen Charakter austibt. So lehrt auch Spinoza: »Die Dinge konnten auf keine andere Weise und in keiner anderen Ordnung von Gott hervorgebracht werden, als sie hervor- gebracht sind.«4) Der gottliche Wille selbst ist also nach dem Vedanta nicht frei; auf die Thaten des menschlichen Willens wirkt er, wie Cankara sagt, gleich dem Regen, der da macht, dass der »nach Qualitat verschiedene Same als Busch oder Strauch, als Reis oder Gerste wachst«. Er ist, wie Schopenhauer sagen wiirde, Gelegenheitursache fur die im Samen schlummernde Kraft; er bringt die dem Samen 1) ib. p. 347. 2) ib. p. 301. 3) ib. p. 348. 4) Spinozas Ethik, I. Lehrs. 33. Ausg.
von Kirchmann, p. 37. |
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genau entsprechende Pflanze hervor, vermag aber dessen
besondere Qualitat nicht zu andern. — Aus alledem ergiebt sich, dass der Vedanta sich fiir die Unfreiheit des Willens entschieden hat. Das gleiche Problem hat Schopenhauer behandelt,1) und
zwar unter Aufbietung seiner ganzen, so betrachtlichen philo- sophischen Besonnenheit, seines subtilen Scharfsinns, seiner uberzeugend-eindringlichen Darstellungweise. Bei ihm er- scheint das Problem ungleich tiefer gefasst und gelost denn in der indischen Philosophie. Was Buddha anscheinend nicht: vermochte, die empirische Gebundenheit des Willens mit seiner transscendenten Freiheit, die in der spontanen Selbst- aufhebung sich aussert, zu vereinigen, das hat der Schiiler Kants, an seinen Meister sich anlehnend, in glanzender Weise zu Stande gebracht; er hat gezeigt, wie Freiheit und Not- wendigkeit einander nicht ausschliessen. Was ist iiberhaupt unter Notwendigkeit zu verstehen?
Der Begriff der Notwendigkeit tragt seinen ganzen Inhalt vom Satz vom zureichenden Grunde zu Lehen. Sein Ursprungv seine alleinige Bedeutung liegt im Verhaltnis des Grundes zur Folge, indem es keine andere Notwendigkeit giebt als. die der Folge, wenn der Grund gesetzt ist, und es keinen Grund giebt, der nicht mit Notwendigkeit die Folge herbei- fiihrte. Also bedeutet Notwendigkeit nichts anderes als Unausbleiblichkeit der Folge nach gegebenem Grunde.2) Grund und Folge giebt es aber nur im Reiche der bios empirischen Realitat; das principium rationis sufficients, das als aprioristische Erscheinungform unserem Intellekte anhaftet, hat nur im Gebiete der Objekte Wert und Giiltigkeit; es beherrscht nur die Vorstellungen, Erscheinungen. Nur diesen kommt daher Notwendigkeit zu — was hingegen jenseits der Machtsphare des Satzes vom Grunde liegt, kennt Notwendigkeit nicht, es ist absolut, schlechthin grundlos und frei. Das ist: eben das Ding-an-sich; grundlos und frei ist der Wille als Ding-an-sich. Der Wille ist auch das An-sich des Menschen; 1) Die wichtigsten Stellen, an denen das Problem behandelt wird, sind: Die gekronte
Preisschrift »Ueber die Freiheit des Willens,« in »Die beiden Grundprobleme der^Ethik.ft p. 1» W. a. W. u. V. I s 55 p. 337. Ethik: »Grundlage der Morak § 10 p7T7Tf|Parerga I p. 132^ II p. 252. 2) Vierf. Wurzel p. 91, 153. W. a. W. u. V. I p. 88, 338 u. 8. |
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als solches, als Wille, der im Menschen eine ganz bestimmte
Richtung eingeschlagen hat zum Guten oder Bosen, nennen wir ihn, den determinirten Willen, den intelligibeln Charakter. Dieser intelligible Charakter ist das Ding-an-sich, ausser- zeitlich, unveranderlich, (was, wie oben gesagt, auch der Vedanta vom Charakter behauptet,)1) grundlos und frei. Alles, weil er nicht dem Reich der Objekte angehort und dem daselbst herrschenden Gesetz unterthan ist. Nun aber hat sich der Wille objektiviert, hat einen Korper als seine unmittelbare Objektivation geschaffen, ist zum Objekt ge- worden und verfallt so dem unerbittlichen Anspruche des Satzes vom Grunde, der Notwendigkeit. Der ausserzeitliche, einfache und ungeteilte Willensakt, der intelligible Charakter, zieht sich zeitlich aus einander: er wird zum empirischen Charakter, der sich zum intelligibeln verhalt wie Erscheinung zum Ding-an-sich. Der intelligible Charakter oder Wille ist als Erscheinung unfrei, dem Gesetz der Motivation mit strengster Notwendigkeit unterworfen. Die einzelnen Thaten, in denen er sich aussert, sind bis in's Kleinste hinein bedingt, einmal durch den in ihnen zu Tage tretenden Charaktei, dann durch die von aussen kommenden Motive, auf die der Wille unbedingt hin reagieren muss, wenn sie iiberhaupt nur solche sind, dass sie auf den individuellen Willen Einfluss haben konnen. Die Motive wirken mit der gleichen Not- wendigkeit wie nur irgend eine Ursache in der Mechanik; sie sind wie mechanische Ursachen und Reize lediglich Pormen derKausalitat; sie sind wie diese lediglich Gelegenheit- ursachen, das heisst, sie geben Gelegenheit, dass die bestimmte Willenskraft in die Erscheinung tritt, was aber jedes Mai geschehen muss, wenn die entsprechende Ursache, fur den Charakter Motiv genannt, vorhanden ist. An sich ist der Wille, das Ding-an-sich, grundlos und frei; in die Erscheinung eingegangen ist er als solche durchaus begriindet und unfrei. 1) Schopenhauer sagt; >Auch die Brahmanen ihrerseits driicken die unveranderliche
Bestimmtheit des angeborenen Charakters mythisch dadurch aus, dass sie sagen, Brahma habe, bei der Hervorbringung jedes Menschen, sein Thun und sein Leiden, in Schriftzeichen .auf seinen Schadel gegraben, denen gemass sein Lebenslauf ausfallen miisse. Als diese Schrift weisen sie die Zacken der Suturen der Schadelknochen nach. Der Inhalt derselben sei eine Folge seines vorhergegangenen Lebens und desscn Thuns.& Parerga II p. 243. |
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Daher sind die einzelnen Thaten zwar streng notwendig, die
einzelne Willensausserung ist immer necessitiert, aber nicht so das 'gesamte Wollen, die bestimmte Willensrichtung im allgemeinen; diese ist frei; denn sie ist der intelligible Charakter. Darum ist der Mensch fur jede einzelne That verantwortlich, so sehr er auch dazu gezwungen wird, durch die Motive; denn die That ist Ausfluss seines empirischen Gharakters, der seinerseits wieder den intelligibeln vollkomrnen treu darstellt. Das Handeln ist zwar gebunden, aber das Sein ist frei, das So-Sein; denn es ist ein ausserzeitlicher Willensakt, der auch ganz anders hatte ausfallen konnen. Das Dasein iiberhaupt eines Objekts, sowie die Art seines Daseins, d. h. die Idee, die in ihm sich offenbart, oder mit anderen Worten, sein Charakter ist unmittelbare Aeusserung des freien Willens als des Dinges-an-sich. Dementsprechend konnte also jedes Objekt anders sein oder auch nicht sein — das ist die Freiheit; nun es aber einmal so ist, diesen Charakter hat, miissen dessen Aeusserungen dem inneren Wesen gemass notwendig so ausfallen und nicht anders. Die Freiheit ist transscendent, die Notwendigkeit empirisch. Die Freiheit liegt im esse, im Sein und Wesen; die Not- wendigkeit im operari; denn operari sequitur esse. Dass von solch tiefsinniger Auffassung des Problemes
der Willensfreiheit der Vedanta keine Ahnung hat, braucht nicht betont zu werden. Dass im iibrigen die empirische Unlreiheit des Willens bei ihm in derselben Weise motiviert wird als wie bei Schopenhauer, springt in die Augen. Hier wie dort sind es die nimitta's, die den Charakter, der hier wie dort als unveranderliche Kraft, cakti, aufgefasst wird, unbedingt zu den entsprechenden Handlungen auslosen. Auf eines sei noch aufmerksam gemacht. Bei unseren
Handlungen kommt alles auf unsern Charakter an, und dieser ist uns nach der Meinung Schopenhauers sowohl als des Vedanta angeboren, so dass Niemand als »moralische Null« auf die Welt kommt. Dennoch miissen wir zwischen beiden einen gewichtigen Unterschied konstatieren. Der Charakter ist bei Schopenhauer das Primare, Urspriingliche; er stammt von einem friiheren Individuum und hat sich nur zu neuer |
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Individuality mit einem anderen Intellekt verbunden; im
letzten Grunde fiihrt er direkt auf das Ding-an-sich zuriick. Er ist also soweit erklart als eben moglich. Anders in dem Vedanta. Hier stellt sich der Charakter dar als ein blosses Adventitium zu der rein erkennenden Seele, und wird zwar auch die moralische Veranlagung des Menschen als eine angeborene gelehrt, so werden doch ihre Wurzeln nicht weiter zuriick verfolgt als bis in das vorhergehende empirische Dasein mit seinen Werken, die den neuen Charakter bedingen. Diese bedingenden Werke hatten sich wieder nach dem damaligen Charakter gerichtet, dieser nach den Werken eines noch weiter zuriickliegenden Lebens, und so fort ■--------wie
aber die verschiedenen Qualitaten »der Liebe und des Hasses«
sich der Seele haben urspriinglich zugesellen konnen, bleibt unaufgeklart. — Schlussbemerkung. Dieser Abschnitt iiber die Welt
des samsara sollte nicht eher abgeschlossen werden, als bis auch das Verhalten des Menschen im samsara, eben das,, was Schopenhauer »Bejahung des Willens zum Leben« nennt, naher dargestellt ware. Doch um Wiederholungen so viel als moglich zu vermeiden, wollen wir diese Darstellung erst dann geben, wenn zugleich dargethan wird, wie die Bejahung durch die Verneinung aufgehoben wird, im §, der von der Erlosung handelt. |
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13. I>ie> ~Welt cless niry^na.
§ 18. Charakteristik des nirvana.
Es konnte nicht in der Absicht dieser Arbeit liegen, den
vielfaltigen Verzweigungen nachzugehen, in die sich die drei in Vergleichung gezogenen Systeme spalten, in jeder Einzel- heit das Bild wiederzugeben, das uns von der Welt ent- worfen wird. Unsere Arbeit beschrankt sich darauf, jene Ziige herauszugreifen, die, bei aller Verschiedenheit im Ein- zelnen, doch eine thatsachliche Aehnlichkeit im Ganzen auf- weisen, eine Familienahnlichkeit, die alle drei Systeme er- weist als Tochter derselben Mutter, des Ueberdrusses am Leben, des Verlangens nach Erlosung. — In den vorher- |
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gehenden §§ ist diese Aehnlichkeit des Naheren aufgezeigt
worden, so weit die empirische Welt, ihr Wesen und was in ihr zur Erscheinung gelangt, in Frage kommt. Dieser Abschnitt beschaftigt sich mit der Moglichkeit, sich von dieser empirischen Welt zu befreien, mit der Erlosung, moksha. Ehe wir aber die Art und Weise betrachten, mit der die moksha sich vollzieht, lenken wir unsern Blick auf das Ziel der moksha, auf das selige Land, in das die Erlosung fiihrt. Wir untersuchen das Wesen des nirvana. A priori ist klar, dass dieses nirvana das kontradiktori-
sche Gegenteil des samsara sein muss, dass es jener Ort ist, auf den auch kein Schatten der leidenvollen Vergang- lichkeit fallen kann. Demzufolge definiert der Commentar Cankaras das nirvana also: »Jenes im absoluten Sinne reale, allerhochste, ewige, wie der Aether alldurchdringende, aller Ver- anderlichkeit entruckte, allgenugsame, ungeteilte, seiner Natur nach sich selbst als Licht dienende (Sein), in welchem kein Gutes und kein Boses, keine Wirkung, keine Vergangenheit, Gegenwart oder Zukunft statt hat, dieses unkorperliche (Sein) heisst die Erlosung.*1) Nirvana ist eben das brahman selbst, das Ding-an-sich, das aller Kausalitat entriickt ist. In brah- man lost sich der Erloste auf; er kehrt zuriick in den Ur- grund aller Dinge, den Mutterschoss aller Wesen, in das hochst reale Sein, die absolute Geistigkeit, die vollkommenste Wonne. Nirvana ist das param brahma, das unterschiedlose »hohere brahman« und schliesst in sich die grosste Gewiss- heit ein, die es iiberhaupt giebt. Nirvana ist das absolute Sein. — Anders steht die Sache im Buddhismus. Der Buddhismus weiss nichts von einem hinter der triigenden Erscheinungswelt stehenden Ding-an-sich, von einem Urgrund, in den die Seele zuriickfallen konnte. Er kennt kein abso- lutes Sein, weder auf Erden noch in alien Himmeln; wessen Schoss soil die erloste Seele aufnehmen? Die Seele, die da Kummer und Trubsal durchirrt hat, ist ja selbst nichts Reales, nur ein Haufen wandelbarer sankharas. Die Erlosung muss konsequenter Weise in's Nichts hiniiberleiten.2) Freilich horen wir die Buddhisten reden: »Es giebt, ihr Jiinger, ein Unge- 1) Deussen a. a. O. p. 433. 2) Oldenberg a. a. O. p. 295 f.
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borenes, Ungewordenes. nicht Gemachtes, nicht Gestaltetes,«
eine Statte, »wo weder Kommen noch Gehen noch Stehen, weder Sterben noch Geburt/*1) so meinen wir wohl im buddhistischen das nirvana des Vedanta oder des Brahma- nismus iiberhaupt erblicken zu diirfen. Mit Unrecht. Jene Worte sollen nur die Moglichkeit der Erlosung besagen, feststellen, dass das Kausalitatsgesetz ein Ende erreichen kann, die Gewissheit erwecken, dass der Glaubige dem Wer- den und Gestalten, dem Kommen und Gehen, dem Geboren- werden und Sterben entrinnen wird. Da aber das Kausali- tatsgesetz alles nur denkbare Sein beherrscht, so fallt die Seele, die sich seinem Anspruch entzogen hat, unbedingt aus dem Sein in das Nichts. — Ebenso bei Schopenhauer. Obgleich er zwar im Gegensatz zum Buddhismus ein Ding- an-sich konstatiert, so ist ihm doch nicht, wie dem Vedanta, das Ding-an-sich der Ort des nirvana. Denn Schuld und Leiden sind unmittelbar Aeusserungen des AU-Willens, der daher selbst aufgehoben werden muss und dann nichts an- deres zuriicklassen kann als das absolute Nichts. Mit einer blossen Riickkehr zum Urgrund alles Daseins kann bei Schopenhauer nicht wie in dem Vedanta die Erlosung ge- wonnen werden, weil er unselig und unmoralisch ist. Das nirvana kann mit ihm nichts zu thun haben, und da der Wille Alles ist, muss nirvana Nichts sein. So sehen wir einen tiefen Abgrund klaffen zwischen der Meinung und Lehre des Vedanta einerseits, der Lehre Schopenhauers und Bu- ddhas andererseits. Ist von keiner Seite aus versucht worden, diesen Abgrund zu uberbrlicken? Antwort: sogar von beiden Seiten aus. 1. Seitens des Vedanta.
Das »Sein«, das denErlosten erwartet, kann mit gleichem
Recht ein Nichtsein heissen. Haben wir ja doch den Begriff des Seins abstrahiert allein aus der Anschauung der anschau- baren Welt, der darum ein rein empirischer ist und wegen seines Ursprungs streng genommen auf die Welt des nirvana nicht angewendet werden darf. In diesem Sinne wird brahman 1) ib. p. 305.
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auweilen ein »Nichtseiendes« genannt, wodurch ausgedriickt
werden soil, dass es so hoch iiber dem samsara steht, dass unser Intellekt, nur fiir Verhaltnisse des samsara geeignet, •es in keiner Weise ergreifen und verstehen kann.1) 2. Seitens des Buddhismus und Schopenhauers.
Aus gleichem Grunde glauben diese Beiden ihr »Nichts«
•ein Sein nennen zu konnen. Auch fiir sie ist das Nichts,
das den Erlosten aufnimmt, nur relativ, ist in anderem,
.hoherem Sinne als »Sein« zu bezeichnen. Am liebsten weisen
sie freilich die Frage nach der Natur des niryana als eine
transscendente ab. Vor allem erklart die officielle Kirchen-
lehre des Buddhismus ausdriicklich, dass iiber die Frage, ob
•das Ich ist, ob der vollendete Heilige nach dem Tode lebt
oder nicht lebt, der erhabene Buddha nichts gelehrt habe.
Diese Ablehnung wird rein praktisch motiviert. Wozu
transscendente Spekulationen iiber das nihil des nirvana an-
stellen, da doch das Eine feststeht, dass dort die Fessel des
Schmerzes nicht mehr erklirrt, unter der hier alles Lebende
.seufzt?2) Ist das nicht die Hauptsache? Wo aber Buddha
und Schopenhauer sich iiber das, was ubrig bleibt, wenn
der Erloste zur Ruhe geht, aussern, da geht ihre Meinung,
wie gesagt, dahin, dass das in Aussicht stehende Nichts kein
absolutes sei. Wenn es im Sutta-Nipata heisst: »Wo es
kein Etwas giebt, wo es kein Haften giebt, die Insel, die
einzige: das nirvana nenne ich sie, das Ende von Alter und
Tod,«3) so besagen diese Satze und andere mehr, dass auf
jene erhoffte Statte der Seligkeit, jenes Land des Friedens
alle die Bestimmungen keine Anwendung finden, die zur
Bezeichnung der unseligen, friedelosen Welt des samsara
dienen. Nirvana ist Nichts, wenn man den samsara als das
Etwas nimmt, nur dann. »Es giebt ein Ungeborenes, Un-
gewordenes, nicht Gemachtes, nicht Gestaltetes.« Dem Geiste,
der allein ein Geborenes, Gemachtes zu fassen vermag, dem
muss freilich das Ungeborene, Nicht-Gemachte als ein Nichts
erscheinen, aber auch nur diesem. Kein Konig hat »einen
Rechner, einen Miinzmeister oder einen Znhlbeamten, der
1) Deusseji a. a. O. p. 139. 2) Oldenberg a. a. O. p. 298. 3) Oldenberg a. a. O. p. 307.
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das Wasser im grossen Ocean zu messen vermochte, der
sagen konnte: so viele Mass Wasser oder so viel Hunderte oder Tausende oder Hunderttausende von Massen Wasser sind darinnen«, und so ist auch der Vollendete »frei davon, dass. sein Wesen mit den Zahlen der Korperwelt zahlbar ware; er ist tief, unermesslich, unergriindlich wie der grosse Ocean. Dass der Vollendete jenseits des Todes ist, trifft nicht zu; dass der Vollendete jenseits des Todes nicht ist, trifft auch nicht zu; dass der Vollendete jenseits des Todes zugleich ist und nicht ist, trifft auch nicht zu; dass der Vollendete jenseits des Todes weder ist noch nicht ist, trifft auch nicht zu.*1) Pasenadi, der Konig von Kosala, liess sich an dieser Argumentation der Nonne Khema, geniigen; wir miissen das Gleiche thun und daraus entnehmen, dass fur den Buddhisten nirvana ein unergriindliches Mysterium ist, dem der BegrifF desSeins nicht zukommt, aber auch nicht der des xNichtseins.*2) Nicht viel anders, nur abstrakter, redet Schopenhauer, im letzten Paragraphen seines Hauptwerkes.8) Er behauptet da, es gabe iiberhaupt kein absolutes Nichts; denn von einem hoheren Standpunkt aus gesehen, miisste jedes Nichts sich als ein Etwas ausweisen. So lange wir der Wille zum Leben selbst sind, kann das Gegenteil desselben von uns freilich nur als negativ erkannt und bezeichnet werden. Und weshalb fiirchten wir denn so sehr das Nichts? »Dass wir so sehr das Nichts verabscheuen, ist nichts weiter, als ein anderer Ausdruck davon, dass wir so sehr das Leben wollen, und nichts sind, als dieser Wille, und nichts kennen, als. eben ihn.« Da wir von dem Ding-an-sich nichts weiter kennen, als seine Natur in der Willensbejahung, sind wir darum berechtigt, diesen Willen in seiner Bejahung allein Etwas zu nennen, und alles das, was uns am Ding-an-sich unerkennbar blieb, jene fur uns ganzlich unfassbaren Daseins- weisen,4) die nach Aufhebung der Bejahung iibrig bleiben^ ein Nichts? Sicher nicht. »Hinter unserem Dasein namlich steckt etwas Anderes, welches uns erstdadurch zuganglich wird, 1) Oldenberg a. a. O. p. 301 f. 2) Vergl. die Auffassung Schopenhauers vom
buddhistischen nirvana. W. a. W. u. V. II p. 698. 3) W. a. W. u. V. I p. 483. 4) W. a. W. u. V. II p. 221. |
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■dass wir die Welt abschiitteln^1) Und somit bekennt Scho-
penhauer frei: »Was nach ganzlicher Aufhebung des Willens iibrig bleibt, ist fur alle Die, welche noch des Willens voll sind, allerdings Nichts. Aber auch umgekehrt ist Denen, in welchen der Wille sich gewendet und verneint hat, diese xinsere so sehr reale Welt mit alien ihren Sonnen und Milch- strassen — Nichts !«2) Noch eine Stelle sei, als besonders -deutlich, angefiihrt.3) »Gegen gewisse alberne Einwiirfe be- merke ich, dass die Verneinung des Willens zum Leben keineswegs die Vernichtung einer Substanz besage, sondern ■den blossen Aktus des Nichtwollens: das Selbe, was bisher gewollt hat, will nicht mehr. Da wir dies Wesen, den Willen, als Ding-an-sich bloss in und durch den Aktus des Wollens kennen, so sind wir unvermogend zu sagen oder zu fassen, was es, nachdem es diesen Aktus aufgegeben hat, noch ferner sei oder treibe; daher ist die Verneinung fiir uns, die wir die Erscheinung des Wollens sind, ein Ueber- gang in's Nichts.« — So hatte auch der von Schopenhauer als kongenial erkannte Mystiker Eckhardt gelehrt, das »Wesen«, das heisst der Urgrund aller Dinge sei ein »Nicht«, •das nattirlich an sich ein »Icht« sei.4) Sehen wir, ob der Abgrund, von dem wir oben sprachen,
hinsichtlich der Lehren liber die Natur des nirvana, auf dessen einer Seite der Vedanta, auf dessen anderer Schopenhauer und der Buddhismus stehen, wirklich uberbriickt ist. Der Vedanta lasst sein nirvana, zwar meist als Sein, aber auch als Nicht-Sein gelten; Buddha und Schopenhauer nehmen ihr nirvana als bloss empirisches Nichts, das thatsachlich ein durchaus unfassbares Etwas ist. Aber diese Ueberbriickung ist doch nur scheinbar. Denn das vedantistische nirvana ist xind bleibt, selbst als Nicht-Sein bezeichnet, der Urgrund aller Dinge, wahrend das Schopenhauer'sche nirvana, auch als Sein genommen, gerade das Gegenteil dessen darstellt, aus dem einst der nun Erloste hervorging, das Gegenteil namlich des sich bejahenden Willens. Der Mensch ist, um ein Bild zu brauchen, nach dem Vedanta gleich dem Sohne, 1) W. a. W. u. V. I p. 479. 2) ib. p. 487. 3) Parerga II p. 334. 4) Preger,
Mystilt, I p. 374. |
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der das Elternhaus verlasst, um, von der lieblosen Fremde
abgestossen, in die friedliche Seligkeit des alten Heimes zu- riickzukehren; nach Schopenhauer verlasst er die Heimat, in der ihm nur Qual und Jammer zu Teil wurde, verlasst sie auf immer, um nie zuruckzukehren. Zwar findet auch er das Gliick und den Frieden, aber niemand weiss wo. Der Erloste geht in dem Vedanta in das Gewisseste ein; bei Schopenhauer in ein ganzlich Unbekanntes. Der praktische Vorteil ist nicht auf Schopenhauers Seite. Weshalb scheute er sich, die Erlosung in ein wirkliches, absolutes Nichts ein- miinden zu lassen, worauf doch der ganze Gang seiner Philo- sophic hindrangt? Nur aus Furcht vor jenen Einwiirfen, die er selbst albern nennt. Die alte Forderung, keine Philosophic diirfe atheistisch sein, verlachte er; auf Vorwiirfe, die ihm wegen seines Quietismus gemacht werden konnten, blickte er mit Verachtung herab; aber dass eine redliche Philosophic nicht unbedingt positives Endziel haben miisse, dass sie auch zu totaler Weltvernichtung leiten konne, trug er Bedenken zu gestehen, aus Furcht vor der Anklage des Nihilismus.. Da musste denn jenes mystische, vollstandig aller Erfahrung entzogene, undefinierbare Etwas als Ziel der Weltentwicklung herhalten, wodurch die ganze Immanenz seiner Philosophie durchbrochen wird. — Ehrlicher hat Mainlander das Resultat,, zu dem die Schopenhauer'sche Philosophie leiten muss, zum Ausdruck gebracht. Das Nichts, das den Weisen aufnimmt,, ist nach ihm ein absolutes; die ganze Entwicklung der Welt ist von dem Drange getragen, in den seligen Schoss eines totalen Nichtseins hinabzutauchen, so dass der Wille zum Leben nur ein verkappter Wille zum Tode ist. § 19. Die definitive ErlOsung'.
Je lebhafter ein philosophisches System von dem Ge-
danken an die unselige Beschaffenheit der Welt durchdrungen ist, um so starker muss sich zu gleicher Zeit dessen notwendiges- Komplement in den Vordergrund drangen. Jede Religion muss, wenn anders sie diesen Namen zu Recht tragen will, dem Menschen die Erlangung eines summum bonum gewahr- leisten; vor allem aber ist hierzu eine pessimistisch gefarbte |
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Religion verpflichtet. Eine Philosophie hingegen, auch eine
pessimistische, ist nur soweit gebunden, die Frage nach der Moglichkeit der Erlosung zu ventilieren, als eine Befreiung aus den Banden der Endlichkeit sich empirisch nachweisen lasst. Da nun aber eine solche thatsachlich aus dem Leben der Heiligen zu belegen ist, wird auch die Philosophie um so eifriger ihr Augenmerk auf die Erlosung und den Weg dazu richten, je diisterer ihre Ansicht von dem Wert des Erden- lebens ist. Wir sehen also nicht allein in der von Buddha ge- stifteten Religion, sondern auch in dem mehr philosophisch gehaltenen System des Vedanta sowie in Schopenhauers Philosophie den Gedanken der Erlosung in den Mittel- punkt treten. Dieser Gedanke ist der Kern, an den alle anderen Spekulationen anschiessen; er wirkt auf das iibrige Denken wie der Magnet auf Eisenspane. Die Art, wie unsere Denker den Erlosungprocess vor sich gehen lassen, giebt alien ihren iibrigen Ausftihrungen die charakteristische Farbung, die fast an der geringfiigigsten Einzelheit sich wiederfindet. Was Buddha von seiner Lehre sagt: »Wie das grosse Meer, ihr Junger, nur von einem Geschmack durchdrungen ist, vom Geschmack des Salzes, also ist auch, ihr Junger, diese Lehre und diese Ordnung nur von einem Geschmack durchdrungen, vom Geschmack der Erlosung,*1) das gilt in gleichem Masse von den beiden anderen Ge- dankenkreisen, des Vedanta und Schopenhauers. Fragen wir nun, wovon die Erlosung uns befreien soil,
so empfangen wir von alien drei Seiten die gleiche Antwort: von der Individualitat. Mit der Befreiung von der Individualitat ist unmittelbar die Befreiung von Schuld und Leiden gegeben. Wir wollen uns den einzelnen Systemen zuwenden. 1. Der Vedanta.
»Aus der Erkenntnis die Erlosung.«2) In diesen wenigen Worten liegt das ganze mystische Geheimnis eingeschlossen, das so sehr Geist und Phantasie des brahmanischen Denkers beschaftigt. Richtiger ware zu sagen: die Erkenntnis ist die Erlosung. 1) Oldenberg a. a. O. p. 288. E. Hardy: Buddhismus, p. 50. 2) Deussen a. a. O.
p. 290. |
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Wir sahen, was den samsara zu keinem Stillstand ge-
langen lasst, was in endlosen Wiedergeburten die wandernde Seele mit Qual und Jammer belastet, ist die verhangnisvolle Macht des karman, die Essenz aus den Erdenwerken. Die Werke, die Thaten, welcher Art sie auch sein mogen, sie sind es, die der Erlosung hindernd in den Weg treten. Aber nicht aus sich selbst tragen die Thaten ihre Erlosung- hindernde Kraft in sich; diese fiiesst vielmehr aus dem falschen Wahne, als sei die Seele iiberhaupt zu Thaten be- rufen, der seinerseits wieder identisch ist mit dem Truge einer Individualitat. Die inhaltleere Ueberzeugung von einer Vielheit individueller Seelen, der thorichte Glauben an eine Vielheit von »Namen und Gestalten«, sie sind unmittelbar die den samsara konstituierenden Potenzen. Wohl ist jede Seele identisch mit brahman, und dieses ist das »Eine ohne Zweites«, so dass fur eine Vielheit nirgendwo Raum ist, aber jeder Seele ist das »Nichtwissen«, die avidya, angeboren, das Nichtwissen um diese thatsachlich vorhandene Einheit. Das Nichtwissen tauscht die Seele iiber ihre wahre Natur, es verleiht ihr die upadhi's, diesen Komplex der Individua- lisation, vermoge der die Seele zu sehen, zu fiihlen, zu er- kennen, zu handeln, zu leiden glaubt. Das Nichtwissen macht die Seele zur Einzelseele. So lange die Seele, durch das Nichtwissen getauscht, sich fur individuell halt, so lange dauert der samsara, so lange muss der Mensch durch die furchtbaren Schrecknisse der Nacht der Unwissenheit zitternd sich durchtappen — bis endlich das Sonnenlicht des Wissens, die vidya, die finsteren Schatten verscheucht. Von der Erkenntnis allein hangt also das Schicksal des
Menschen ab. Eine falsche Erkenntnis ist es, die uns von Geburt zu Geburt irren heisst. »Vom Tod zu neuem Tode rennt,
Wer ein Verschied'nes hier erkennt. — Von Tod in Tod wird der verstrickt, Wer ein Verschied'nes hier erblickt «l) Nicht aber ist es eine moralische Verschuldung, dcren unheil-
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1) Deussen a. a. O. p. 54, 210, 215, 289.
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voile Siihne die Wanderung ware. Darum besteht die
Erlosung nicht in einer Versittlichung des Menschen, in einer moralischen Umkehr, sondern in einer Erkenntnisberichtigung, vermoge der die angeborene Tauschung iiber die wahre Natur der Seele durchschaut wird. Die Erlosung erwachst aus dem samyag-darcanam, der »universellen Erkenntnis«, die den Wahn der avidya in sein Nichts auflost. Das »Wissen« vernichtet die Individualitat, indem es die upadhi's, die eine jede Seele von brahman und den anderen Seelen trennten, als nichtig nachweist, Das »Wissen« fiihrt zur Erlosung, oder ist vielmehr die Erlosung; denn es zeigt, dass es keine wandernde, leidende Einzelseele giebt, dass alles vielmehr das leidlos-selige brahman ist. Die Erlosung besteht also in der unmittelbaren Erkenntnis, dass alle Vielheit Trug und Schein ist, in dem intuitiven Auffassen der Identitatslehre. Dem gemass sagt die Schrift: »Wer forschend alle Wesen im eignen Selbste findet,
Fiir den entweicht der Irrtum, und alles Leiden schwindet.«l)
oder:
»Ist Gott erkannt, so fallen alle Bande,
Die Plagen schwinden, nebst Geburt und Sterben; Wer ihn erkennt, geht nach des Leibs Abtrennung Zur Freiheit ein, zur seligen Erl8sung.«2) oder:
»Den grossen Geist, jenseits der Dunkelheit
Wie Sonnen leuchtend, habe ich gesehen; Wer diesen schaut, dem wird Unsterblichkeit, Nicht giebt es einen andren Weg zum Gehen.«c3) oder, nach dem Mahabharatam:
»Wer, aller Wesen Selbst geworden, Tollig durchschauet die Natur,
Des Pfad die Getter selbst verlieren, verfolgend des Spurlosen Spur.**) Also besteht die moksha in der Erkenntnis eines schon
langst Vorhandenen, das aber durch die avidya verborgen war, in der Erkenntnis vom Brahmansein der Seele. Sie ist die im Intellekt vollzogene mystische Erhebung des Geistes iiber die nichtige Erscheinungform der Vielheit hinaus zum unmittelbaren Bewusstsein der All-Einheit. Sie ist die lebendige Gewissheit, dass mein Selbst das Selbst aller Wesen 1) Deussen a. a. O. p. 54. 2) ib. p. 92. 3) ib. p. 337. 4) ib. p. 462.
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ist, dass Ich brahman bin. Darum sagt Cankara: »Wenrt
durch Bezeichnungen der Nichttrennung, wie tat tvam asi; die Nichttrennung erkannt worden ist, dann ist das Wanderer- sein der Seele und das Schopfersein des brahman ver- schwunden.K1) Wer die Erkenntnis der Nichttrennung, die Gewissheit der AU-Einheit erlangt hat, von dem heisst es: »Brahman ist er, und in brahman lost er sich auf.«2) »Ich bin brahman, aham brahma asmi« — diese Erkenntnis ist die Erlosung. Die Erlosung ist Selbsterkenntnis! Es muss auf's Nachdriicklichste betont werden, dass die
Erlosung des Vedanta ein reiner Akt des Intellektes, ein Erkenntnisakt ist. Darum wird dem, der schwaches Geistes ist, die Erlangung der Seligkeit schwieriger als dem Klugen, Einsichtigen. Sie wird in der Praxis durch die Meditation erreicht, durch die andachtige Betrachtung des heiligen VedaAVortes, durch aufmerksame Versenkung infden Sinn des kanonischen »tat tvam asi«, und diese Meditation muss vom denkuntiichtigen Geist so lange fortgesetzt werden, bis aus jenem Satze die Erkenntnis hervorspringt, wie das Korn aus den Aehren durch fleissiges Dreschen gewonnenf wird. Keineswegs aber wird die Erlosung durch moralische Lauterung hervorgebracht. Die Moglichkeit einer solchen Erlosung wird geradezu verneint. Denn jede Versittlichung jSchliesst den Begriff des Werdens, der Veranderung ein; .der jiva atman aber, der im Grunde paramatman ist, und dessen Erlosung es gilt, ist aller Veranderung unzuganglich. Wenn daher die Kathaka-Upanishad sagt: »Nicht, wer nicht ablasst von der Frevelthat,
Nicht, wer unruhig ist und ungesammelt, Nicht, wer im Herzen ohne Frieden ist, Kann durch Erkenntnis jenen Geist erlangen«,3) und also offenbar die beseligende Erkenntnis von einer
Charakterwendung abhangig macht, so ist dies nicht die von Cankara durchgangig festgehaltene Ansicht. Konsequenter Weise vielmehr miisste dem Vedanta gemass nach erlangter Seligkeit der Erloste die grosste Siindenschuld auf sich laden konnen, ohne seine Erlosung zu gefahrden, vorausgesetzt 1) ib. p. 114. 2) ib. p. 209. 3) ib. p. 162.
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nur, dass er sich das »Wissen« bewahrt; so wenig beruht
die Erlosung auf ethischer Grundlage. Freilich ist dies ein unmoglicher Fall. Denn thatsachlich tritt ein moralischer Umschwung ein, aber erst nach Erlangung des Wissens, nur per accidens, als ein durchaus nebensachliches Moment im Gefolge der vidya, ohne weiteren Einfluss auf die Seele und ihr Geschick zu haben. Wer die erlosende Erkenntnis besitzt, wendet sich namlich von alle dem ab, was er fruher angestrebt. »Wahrlich,« sprach schon Yajfiavalkya zu Kahola, »nachdemsie diese Seele gefunden haben, stehen die Brahmanen ab vom Verlangen nach Kindern und Verlangen nach Besitz und Verlangen nach der Welt und wandern umher als Bett- ler.*1) Und ebenso zu Janaka: »Darum, wer solches weiss, der ist beruhigt, bezahmt, entsagend, geduldig und gesam- melt; nur in dem Selbste sieht er das Selbst; nicht iiber- windet ihn das Bose, er iiberwindet alles Bose; nicht ver- brennt ihn das Bose, er verbrennet alles Bose; frei von Bosem, frei von Leidenschaft und frei von Zweifel wird er ein brahmana, er, dessen Welt das brahman ist.«2) Aus diesen Stellen erhellt, dass es die Erkenntnis ist, die intuitive Erkenntnis der unmittelbaren Einheit der nur scheinbar in- dividuellen Seele mit brahman, was direkt die Erlosung be- wirkt, dass die Ertotung alles Verlangens erst nachtraglich erfolgt, als eine bloss zufallige Wirkung der Seligkeit. Dem widersprechen nicht Stellen wie dieses von Cankara ange- fuhrte Upanishad-Citat: »Wenn alle Leidenschaft verschwunden,
Die in des Menschen Herzen nistend schleicht, Dann hat der Sterbliche Unsterblichkeit gefunden, Dann hat das brahman er erreicht.«3) Oder wenn es heisst, dass nur dessen Lebensgeister nicht
zu neuer Geburt ausziehen, nur der brahman, d. h. erlost ist, der »ohne Verlangen, frei von Verlangen, gestillten Ver- langens, selbst sein Verlangen ist.«*) Denn hier wird die Ver- nichtung der Leidenschaft, die Aufgabe des Verlangens nicht als Ursache der Unsterblichkeit vorhergangig gedacht, son- dern als Kennzeichen gefasst, in dem sich die durch Er- 1) Deussen a. a. O. p. 154. 2) ib. p. 211. 3) ib. p. 209. 4) ib. p. 461.
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kenntnis erlangte Erlosung aussert. Die Erlosung ist und
bleibt samyag-darcanam, »universelle Erkenntnis,« Wissen, nicht ein Wissen, wie es Sokrates als hochste Tugend pries, -ein abstrakt-begriffliches, sondern ein intuitives, unmittelbares, dessen Objekt die AU-Einheit, die unio mystica ist. Sie wird erreicht durch Umgestaltung der Erkenntnis, nicht des ■Charakters. 2. Der Buddhismus.
Bedeutend tiefer hat der Buddhismus das Wesen der
Erlosung gefasst. Wenn, wie der Vedanta annimmt, das eigentliche Selbst des Menschen durch den Intellekt gesetzt ist, so muss freilich die Erlosung als fundamentale Umge- staltung in einer Wandelung des Intellekts, in einem durch Inspiration bewirkten Fortschritt von verkehrtem zu richtigem Wissen bestehen. Der Buddhismus ist hingegen durchaus von dem Gedanken durchdrungen, dass der Kern des Men- schen in seiner moralischen Richtung liegt, die entweder zu Siinde oder zu Abkehr von der Siinde fiihrt. Damit ist auch der Erlosung ihre Natur angewiesen; sie beruht, im direkten Gegensatz zum Brahmanismus und dem Vedanta, in einem moralischen Umschlag, in einer totalen Charakteranderung. Im Kampfe um samsara oder nirvana spricht das letzte, •entscheidende Wort der Wille. Das karman ist bei den Buddhisten eben so gut bloss
phanomenal als in dem Vedanta und doch wieder in ganz anderer Weise. Es ist ein blosser Sinnentrug, nach dem Vedanta, weil es durchaus keinen Anteil hat an der allein existierenden Realitat des brahman, nach dem Buddhismus, weil diese Welt iiberhaupt und in keinem Teile wahrhafte Realitat in sich schliesst. Innerhalb aber dieser ganzlich idealen Erscheinungswelt ist das karman allein dasjenige, dem man eine gewisse reale Daseinsform zuschreiben konnte. Denn es findet seinen adaquaten Ausdruck in der Kausalitats- formel, deren Herrschaft iiber alles Seiende alles Seiende zur Erscheinung herabdriickt, so dass es als Princip aller Er- .scheinung eigentlich selbst nicht Erscheinung ist. — Das karman ist bei den Buddhisten so gut wie in dem Vedanta |
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die leidenschaffende Potenz, vermoge der die Seele in den
unaufhorlichen samsara verflochten ist; aber wahrend der Vedanta das karman aus einer falschen Meinung entstehen lasst, wurzelt es bei den Buddhisten im »Durste«, und die Thaten sind Aeusserungen eines verkehrten Willens, nicht einer verkehrten Erkenntnis. Der »Durst« ist also der letzte Grund alles Handelns und Leidens. »Dies, ihr Monche, ist die heilige Wahrheit von der
Entstehung des Leidens: es ist der Durst (nach Sein), der von Wiedergeburt zu Wiedergeburt fiihrt, samt Lust und Begier, der hier und dort seine Lust findet: der Durst nach Liisten, der Durst nach Werden, der Durst nach Macht.« Diese Worte bediirfen keiner weiteren Ausfiihrung; es
geht klar aus ihnen hervor, dass wir es hier mit dem Willen des Menschen zu thun haben, mit dem Willen, der das Leben will. Von diesem Durst gepeinigt, trinkt der Mensch aus. alien Schalen, die ihm das Leben darbietet. »Aus den sechs Gebieten entsteht Beriihrung;1) aus der Beriihrung entsteht Empfindung; aus der Empfindung entsteht Durst.« Der Durst erwachst also aus der Beziehung des Menschen zur Aussenwelt; diese ist es, nach der der Durst diirstet, die der Wille will. Wir wollen uns in der Welt bethatigen, wir wollen wirken, schaffen. Wir jagen der Freude nach, wir schmachten nach Lust und Genuss. Wir streben nach Gliick und Wohlsein. Die Welt gaukelt uns des Verlangens- werte Ziele vor, und weil wir nicht ahnen, dass in ihr nur das Leiden heimisch ist, regen und miihen wir uns und er- greifen doch nur triigende Schatten. Mit dem Trachten nach Besitz und Gewinn ist darum unmittelbar der Kummer und die Not verknupft. Wie aus der Wurzel der Baum, so bricht aus dem Durste das Leiden hervor. »Wen er bezwingt, der Durst, der verachtliche, der an der Welt festhaftende, dessen Leid wachst, wie das Gras wachst.«2) Darum, wollen wir dem Leiden entfliehen, die Erlosung gewinnen, so miissen wir den Durst radikal vernichten. »Dies, ihr Monche, ist die heilige Wahrheit von der
Aufhebung des Leidens: die Aufhebung des Durstes durcb 1) zwischen den sechs Sinnen und ihren Objekten. 2) Oldenberg a. a. O. p. 253.
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ganzliche Vernichtung des Begehrens, ihn fahren lassen, sich
seiner entaussern, sich von ihm losen, ihm keine Statte ge- wahren.« — Und ebenso spricht Buddha unter dem »Baume der Erkenntnis:« »— Nah' ist der Geist
Ewigem Frieden, da des Begehrens diirstendem Drang
er ganz sich entzog.«l)
und weiterhin zu dem Schlangenkonig Mucalinda:
»Selig, wem jede Leidenschaft, alles Wiinschen ein Ende nahm.«2)
Das ist in der That eine tief-innerliche Umwalzung.
Friiher, welch ein heisses Drangen und Streben, welch ein rastloses Ringen um die Genilsse des Lebens! Die Welt verfiihrte den Menschen zur immer erneuten Anstrengung, sich ihrer zu bemachtigen. Er wirkte und schuf, er arbeitete von friih bis spat, sein Dasein zu bereichern. Er liebte und hasste, er floh, wo er Ungliick ahnte, er nahte sich begierig, wo er Gliick vermutete. Er schwebte bestandig zwischen Furcht und Hoffnung, denn das Begehren liess ihn nicht zu Ruhe kommen.8) —• Nun aber ist alles Begehren ertotet; der Mensch wendet sich ab von den triigerischen Freuden der Welt; er will nichts mehr von alle dem, das sein Verlangen sonst so machtig in Aufruhr brachte. Er »wendet sich ab von der Korperlichkeit, wendet sich ab von Empfindung und Vorstellung, von Gestaltung und Erkennen. Indem er sich davon abwendet, wird er frei von Begehren; durch das Auf- horen des Begehrens gewinnt er die Erlosung.«*) — Hier ist also das Aufhoren des Begehrens das entscheidende Moment; die Erlosung beruht auf der vollstandigen Abkehr von alle dem, was immer den naturlichen Menschen reizen kann. Die Neigung, der Wille sind in ihren tiefsten Tiefen umge- staltet; an nichts haftet mehr das Begehren des Weisen, und »durch Aufhoren des Haftens wurde seine Seele von allem siindigen Wesen erlost.«5) Unsere ganze Individuality ist Verlangen, darum muss sie vernichtet werden. »Ueberwinden der Ichheit Trotz wahrlich ist hochste Seligkeit.«6) Er wird iiberwunden durch Ertotung des Willens, durch Aufgabft |
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1) E. Hardy: Buddhismus p. 30. 2) ib. p. 31. 3) Oldenberg a. a. O. p 235. 4) ib.
p. 231. 5) ib. p. 255. 6) Hardy: Buddhismus p. 31. |
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des Durstes nach Sein und Lust. So ist also die Erlosung
kein intellektualer Vorgang, sondern ein wahrhaft ethischer. Sie ist nicht Selbsterkenntnis, sondern Selbstverleugnung. Es ist aber klar, dass eine solche ethische Umgestaltung des Menschen nicht von selbsl, ohne jeglichen Anlass von aussen her sich vollziehen kann; denn nach buddhistischer Anschauung steht jeder Vorgang unter dem Kausalitats- gesetze. Fragen wir also, woher die fundamentale Ver- anderung der Willensaufgabe moglich ist, so antwortet die buddhistische Dogmatik: aus der Erkenntnis, dem Wissen, vijja. Das ist derselbe Terminus, dem wir in dem Vedanta begegnet sind, ja er stammt offenbar aus dem Brahmanismus und ist ubrigens auch noch anderweitig in die indischen Philosophiesysteme mannigfaltigster Art eingegangen.1) Nichts desto weniger liegen im Buddhismus die Verhaltnisse gerade umgekehrt als in dem Vedanta: was hier Hauptsache ist, ist dort Nebensache. Wahrend in dem Vedanta die Erlosung eben im Wissen besteht und in nichts anderem, ist im Buddhismus das Wissen nur Mittel zur Erlosung, die selbst allein durch die morali- sche Selbstentausserung zu Stande kommt, welch moralischer Umschlag fur den Vedanta zwar als eine immerhin unausbleib- liche, aber doch nur als eineFolge der Erlosung gilt. Der Unter- schied ist klar und gross. Das »Wissen« betrachtet der Buddhis- mus also nur als eine Bedingung zur Erlosung, wenn freilich auch als eine unerlassliche. Und zudem ist bei ihm das Objekt des »Wissens« ein ganz anderes geworden. Es ist nicht mehr die iiber alles empirische Denken erhabene Erkenntnis der All-Einheit, sondern, gemass der praktischen Tendenz des Buddhismus, das hochst reale Wissen um die vier heili- gen Wahrheiten, diesen Kanon, in dem der Erhabene seiner Lehre die knappeste Form gegeben.2) »Das Leiden nicht kennen, Freund, die Entstehung des Leidens nicht kennen, die Auihebung des Leidens nicht kennen, den Weg zur Auf- hebung des Leidens nicht kennen: das, o Freund, wird Nicht- wissen genannt.« Und da der Hauptinhalt der vier heiligen Wahrheiten die Lehre vom Leiden ist, wie Leiden entsteht und aufzuheben ist, so durfen wir wohl als das die Erlosung 1) Oldenberg a. a. O. p. 262 u. Anm. 1. 2) Oldenberg a. a. O. p. 261 ff.
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bewirkende »Wissen« allgemein die intuitive Erkenntnis auf-
fassen, dass allem Leben das Leiden wesentlich ist.1) Wenn sich der Mensch dieser Erkenntnis verschliesst, so nimmt er das Leben als etwas Lebenswertes, so scheint ihm die Welt fur Glfick und Erfiillung der Wiinsche Raurn zu haben. Dann ringt und arbeitet er, lasst seinen Begierden die Ziigel schiessen und schafft sich das karman, das ihn von Wieder- geburt zu Wiedergeburt fiihrt. In diesem Sinne leitet die Kausalitatsformel den Durst aus dem Nichtwissen her. Ist hingegen das Nichtwissen durch das Wissen verdrangt, sind die vier heiligen Wahrheiten erkannt worden, das heisst, ist der Mensch sich durchaus im Klaren iiber die betrubsame Thatsache, dass alles Leben Leiden und nur dieses ist, dass er also nicht hoffen darf, irgend welche Befriedigung, Ruhe oder Gliick hier zu finden, so wendet er sich vom Leben ab, hort auf, zu verlangen und zu streben, hdrt auf, nach einem Dasein zu diirsten, das, wie er weiss, ihm nur Qual und Not bescheren kann. Darum heisst es in der Kausa- litatsformel: »Wird aber das Nichtwissen aufgehoben unter ganzlicher Vernichtung des Begehrens«, so wird auch der Durst ertotet. Und ist der Trieb zu Thaten geschwunden und werden folglich keine Thaten mehr gethan, so erlischt das karman, »gethan ist der heilige Wandel, vernichtet die Wiedergeburt«. »Dieses ist die Vernichtung des ganzen Reiches des Leidens.« 3. Schopenhauer.
Was Buddha »Durst« nannte, eben das nennt Schopen-
hauer die »Bejahung des Willens zum Leben.«2) Der Wille bejaht sich selbst, besagt: nachdem dem Willen als Ding- an-sich in seiner Objektitat, das ist in Welt und Leben, sein eigenes Wesen als Vorstellung vollstandig und deutlich ge- geben ist, hemmt diese Erkenntnis sein Wollen keineswegs; sondern eben dieses erkannte Leben wird auch als solches 1) Vergl. hierzu Oldenberg a. a. O. p. 343. 2) Er gebraucht geradezu den Ausdruck
>Durst«, so: Wollen und Streben sind »einem unloschbaren Durst ganzlich zu vergleichen.« W. a. W. u. V. I p. 367; »WiIIensdurst« ib. p. 386; »Durst des Egoismustf ib. p. 430; »der grimmige Durst des Eigenwillenstf, ib. p. 461; »Dnrst nach Daseintf. W. a. W. u. V. II p 533 u. 546 u. 6. |
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von ihm gewollt, wie bis dahin ohne Erkenntnis, als blinder
Drang, so jetzt mit Erkenntnis, bewusst und besonnen.1) Wir, die wir dieser Wille zum Leben sind, wollen leben, wollen dasein, wollen geniessen. Wir klammern uns fest an die Welt, sie sei wie sie sei, weil wir nichts anderes sind als Manifestation des Dranges zur Existenz. Und wie, nach buddhistischer Lehre, der »Durst« durch die Beriihrung mit der Aussenwelt und die daraus entstandene Empfindung ge- weckt wird, so werden, so lange der Wille zum Leben sich selbst bejaht, die Objekte der Aussenwelt immer auf s Neue zu Motiven, die den Willen erregen. Wie der »Durst« das karman erzeugt, wodurch Wiedergeburt in unendlicher Folge sich an Wiedergeburt reiht, so muss der sich bejahende Wille bestandig in neue Individuen eingehen; denn »dem Willen ist das Leben gewiss«, indem es ja nur seine Ob- jektivation, seine Sichtbarkeit ist. Wie der »Durst« mit dem Leiden untrennbar verbunden ist, weil er nie befriedigt wer- den kann, so beschwort auch der Wille das masslose Leiden herauf, das ja eben ein Durchkreuzen des Willens bedeutet. Daher ist Erldsung vom Leiden nur moglich, wenn die Willensbejahung aufgehoben wird. Wie geschieht das? »Die Erkenntnis ist die *Erl6sung,« heisst es in dem
Vedanta; »die Erkenntnis dient als Mittel zum Zweck der Erlosung«, im Buddhismus. Wie der Buddhismus sagt auch Schopenhauer: »die Erlosung ist bedingt durch die Erkennt- nis.« — Die Erkenntnis des Vedanta ist die Erkenntnis der Identitat aller Wesen; die Erkenntnis des Buddhismus ist die Einsicht in das der Welt wesentliche Leiden; die Erkenntnis Schopenhauers ist beides vereint. Zunachst. Die Erkenntnis, die nach Schopenhauer der
ErlQsung den Weg bereitet, ist vornehmlich die, dass ein Leben ohne Leiden nicht denkbar ist, dass der Wille zum Leben, vor allem dank seinem inneren Widerstreit, mit dem Leiden unausbleiblich behaftet ist. Also eben die buddhistische vidya. Dieselbe ist auf zwei Wegen zu erlangen, von denen wir den von Schopenhauer an zweiter Stelle angefiihrten der Vollstandigkeit wegen hier kurz vorausnebmen. Es ist 1) W. a. W. u. V. I p. 336.
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der sogenannte SsuTEpo? rcXou?.1) Das selbstempfundene Leiden
hat in diesem Fall die vidya, herbeigefiihrt. Der eigene, iiberschwangliche Schmerz, den das Geschick iiber einen Aermsten der Armen verhangt hat, offnet diesem die Augen iiber den wahren Inhalt und Wert des Lebens. Eigenes Ungliick, eigene Verzweiflung sind die harten Lehrmeister, die ihm die bittere, aber heilsame Erkenntnis beibringen: alles Leben ist Leiden. Dieser schauerliche Weg zu dem Erlosung-bringenden Wissen ist allein Schopenhauer eigen. Die indische Philosophic kennt ihn nicht, ja, nach der Theorie des Vedanta ist er sogar unmoglich; denn wir sahen, dass fur diesen jeglicher Schmerz eine blosse Fiktion ist, ohne irgend welche Realitat. — Die andere Art, zu dem »Wissen« um die Schmerzhaftigkeit alles Daseins zu gelangen, hat es bloss mit dem erkennenden Bewusstsein zu thun. Es handelt sich hierbei bloss um das erkannte Leiden. Denn auch derjenige, der das relativ glucklichste Leben geniesst, muss, falls er nur offenen Blicks in die Welt schaut, gar bald inne werden, wie es mit allem Dasein beschaffen ist. Das also ist das buddhistische Element der Schopenhauer'schen vidya. Zu ihm gesellt sich als vedantistisches Element die Identitats- lehre. Der Mensch erkennt intuitiver Weise die Formen aller Individualitat als nichtig, er sieht durch den Schleier der maya hindurch, dass alle Individualitat ein upadhi ist, das dem Kern des Menschen nicht anhaftet, er erschaut unmittelbar hinter der triigenden Vielheit die Einheit des Einzig-Realen. Er weiss, dass das innerste und wahre Selbst in alien Wesen das gleiche ist, dass demnach der Unterschied zwischen Qualer und Gequaltem auf der avidya, auf einem Truge beruht, und jedes Leiden jede Willenserscheinung in gleichem Masse trifft. Dieser Mensch muss daher die. end- und zahllosen Leiden alles Lebenden als die seinen betrachten, die ihn unausgesetzt qualen; er muss den Schmerz der ganzen Welt sich aneignen. »Ihm ist kein Leiden mehr fremd. 1) W. a. W. u. V. I p. 463 ff. So klar der hier in Rede stehende Vorgang ist, so
soil nicht verschwiegen werden, dass Schopenhauer nicht immer in gleicher Weise davon redet: Einmal wird die ErKenntnis auf diese Weise berichtigt, wie im Text oben dargestellt wird, ein anderes Mai aber der Wille unmittelbar, mit Umgehung des Intellektes, afficirt, »gebrochen«. |
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Alle Qualen Anderer, die er sieht und so selten zu lindern
vermag, alle Qualen, von denen er mittelbar Kunde hat, ja die er nur als moglich erkennt, wirken auf seinen Geist wie seine eigenen.*1) Dieses also ist nach Schopenhauer die intuitive, nicht etwa abstrakte, Erkenntnis, die zur Erlosung ftihrt. Sie setzt sich zusammen aus der buddhistischen An- schauung, dass alles Leben Leiden ist, potenziert durch die vedantistische Identitatslehre. Sie heisst die ethisch-geniale, weil sie unter Erhebung iiber das principium individuationis sich zur Anschauung der Idee des Lebens, zur Erkenntnis des wahren Wesens der Welt aufschwingt. Diese Erkenntnis nun wirkt auf den Willen als Quietiv:
sie beschwichtigt das Wollen und hebt es auf. Was den Willen zu immer neuen Begierden aufstachelte, das waren die Objekte der Aussenwelt, die Motive fur ihn wurden, Ziele seiner Bestrebungen. Diese Objekte haben aber nun vollstandig ihre Wirksamkeit verloren, indem das Medium aller Motive, die Erkenntnis, eine total andere geworden, aus der empirischen zur ethisch-genialen fortgeschritten ist. Diese neue Erkenntnis macht es den Objekten der Aussen- "welt unmoglich, in der alten Weise den Willen zu beeinflussen; denn sie belehrt den Willen, dass er bei alien seinen Aeusserungen niemals das erstrebte Wohlsein, aber immer das unerwiinschte Leid erreichen wird. Nun werden zwar die ausseren Objekte ebenso erkannt wie friiher, aber der Wille reagirt nicht mehr darauf. Zur erschreckenden Deut- lichkeit ist ihm geworden, was das sei, das er .so lange schon gewollt hat, und er will es auf diese Erkenntnis hin nicht mehr. Er wendet sich vom Leben ab; ihm schaudert nun vor dessen Genussen, in denen er die Bejahung des Lebens erkennt. Jedes Verlangen schlaft ein, um nie mehr zu erwachen; der Wille schwindet, er hebt sich selbst auf: die Verneinung des Willens zum Leben tritt ein. Es ist genau das derselbe Vorgang, den Buddha mit der Ertotung des »Durstes« meint: der ganzliche Umschlag aus dem velle in das nolle. Darum auch eine Wandelung in •ethischer Sphare. Das Korrelat der empirischen Erkennt- 1) W. a. W. u. V. I § 68, p. 446 ff.
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nis der Motive war der empirische Charakter, das der
ethisch-genialen Erkenntnis ist der intelligible, dieser wahre und eigentliche Kern des Menschen. Der intelligible Cha- rakter, von Haus aus eine ganz bestimmte Willensrichtung, ein genau modificiertes Streben, wird durch die befreiende Erkenntnis zuriick gedrangt und vollstandig aufgehoben, so dass ein ganz Anderes an seine Stelle tritt: ein Nichtwollen. Nach aussen hin erscheint diese vollkommene Willenlosig- keit als freiwillige Entsagung und Resignation, in wahrer Gelassenheit und Demut. Ein durchaus neuer Mensch ist an die Stelle des alten getreten, ein Mensch, der nicht mehr vom grimmen Willensdrang gepeinigt wird, sondern nur als rein erkennendes Wesen tibrig geblieben ist, als ungetriibter Spiegel der Welt, deren Gaukelbilder ihn nicht mehr zu angstigen vermogen, weil sie nicht mehr Motive fur ihn werden konnen. Worauf sollten sie auch wirken? Der Wille, der intelligible Charakter, ist ja nicht mehr; er hat sich selbst frei aufgehoben.--------Es braucht die Ueber-
einstimmung dieser Gedanken mit den buddhistischen nicht
besonders hervorgehoben zu werden; es ist evident, dass hier wie dort von einer transscendenten radikalen Aenderung auf moralischem Gebiet die Rede ist, so dass die Erlosung durch die Selbstverleugnung herbeigefiihrt wird oder viel- mehr in ihr liegt. Dadurch ist auch der Gegensatz zum Vedanta gegeben, der, wie wir sahen, die Erlosung in die Selbsterkenntnis setzt, mit der Willensverneinung erst im Gefolge. Daran schliesst sich unmittelbar der im vorigen Paragraphen dargestellte Widerspruch unserer Systeme hin- sichtlich der Natur des nirvana. Wir wollen zum Schluss noch zweier Probleme gedenken,
die bei der Erlosunglehre aufgeworfen werden konnen,' und die bei alien unseren Philosophen zu gleichem Resultate fiihren. a) Der Mensch erlost sich selbst.
Die Erlosung ist durchaus eine freie That des Menschen
selbst. Wir sahen ja, dass aus den hier betrachteten Systemen die Vorstellung eines allmachtigen, allgiitigen Gottes verbannt |
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ist. Von sich selbst kommt jedem Erdensohne das Heil;
in ihm selbst ruht die erlosende Kraft. Also spricht Buddha zu dem Asketen Upaka: »Aus eigner Kraft besitze ich die Erkenntnis; wen sollte ich meinen Meister nennen?*1) Ebenso heisst es im Dhammapada: »Selbst sind des Bosen Thater wir, selbst die Quelle des Leids; auch nur
durch uns selbst
Bleibt ungethan das Bose, gereinigt werden wir durch uns selbst. Ob du rein
Bist oder unrein, hangt von dir selbst ab, keiner den andern reinigen kann.«2) Buddha ist fur seine Anhanger nicht das, was der
Christus fur die Christusglaubigen ist, ein Gott, der aus iiberschwanglicher Liebe das Versohnungopfer fur alle Kreatur bringt. Unabhangig von irgend welcher Gottheit schreitet die Welt in das nirvana hiniiber, ein jeder unab- hangig vom anderen. Buddha kann nur den Weg zeigen, den jeder Mensch fur sich allein Schritt um Schritt zu durch- messen hat, nicht von einer himmlischen Macht getragen. »Nicht wahr, ihr Monche, was ihr selbst erkannt, selbst ge- schaut, selbst eingesehen habt, das redet ihr?«8) — Auch in der atman-brahman-Lehre des Vedanta ist das brahman nicht der Erloser; denn es ist die unbewegte AU-Einheit, die mit der trugenden »Ausbreitung in Namen und Gestalten« als solcher nichts zu thun hat und keineswegs in ihre Entwick- lung oder das Schicksal des Einzelnen eingreift. Es ist nicht der Erloser, weil in seiner Erkenntnis die Erlosung besteht. Bei dieser Erkenntnis ist das brahman Objekt, aber als Princip alles Erkennens ist es auch Subjekt. Die erlosende Erkenntnis enthalt also ein Mysterium, vom Verstande schlechterdings nicht zu erfassen. Um dieses Mysterium einigermassen dem Menschen zu deuten, lasst der Vedanta die Erlosung auf den Willen des icvara zu Stande kommen,4) die also eine Gnade Gottes ist, wobei Gott dem Arzte ver- glichen wird, der dem Geblendeten die Sehkraft wiedergiebt. Schon die Kathaka-Upanishad spricht von solcher gottlichen Gnade: |
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1) Oldenberg a. a. O. p. 353: E. Hardy. Buddhismus p. 32. 2) Hardy: Buddhismus
p. 129. 3) ib. Anm. 132 (zu p. 60): Oldenberg a. a. O. p. 349, 350. 4) Deussen a. a. O. p. 90, 440 ff. |
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»NJcht durch Belehrung ist er zu erlangen,
Nicht durch Verstand noch Schriftgelehrsamkeit: Nur wen er wahlt, von dem wird er empfangen; Ihm oft'enbart er seine Wesenheit.« Dabei ist aber festzuhalten, dass die Vorstellung des
icvara nur auf dem Boden der avidya gilt, also keine wahr- hafte Realitat aufweist, so dass recht eigentlich der Gott durch Herbeifuhrung der Erkenntnis, die ihn selbst auflosen wird, sich selbst vernichtet. Ebenso lasst nun auch Schopen- hauer den Mythus der Gnade gelten, weil die erlosende Er- kenntnis iiber den Menschen vollig ohne sein Zuthun, un- erwartet, wie ein gnadenvolles Geschenk des Himmels kommt.1) In Wahrheit aber tragt auch nach ihm der Mensch in eigener Hand sein Geschick. »So wenig eine jiussere Macht diesen Willen (des Menschen) andern oder aufheben kann, so wenig kann auch irgend eine fremde Macht ihn von den Qualen befreien, die aus dem Leben hervorgehen, welches die Er- scheinung jenes Willens ist. Immer ist der Mensch auf sich selbst zuriickgewiesen, wie in jeder, so in der Hauptsache. Vergebens macht er sich Gotter, um von ihnen zu erbetteln und zu erschmeicheln, was nur die eigene Willenskraft her- beizufiihren vermag. — Des Menschen Wille ist und bleibjt es, wovon Alles fiir ihn abhangt.«2) Und anders kann es ja auch nicht sein; denn der Mensch ist ja ein Produkt seines eigenen Willens. Der Mensch ist sein eigener Gott, er hat nicht andere Gotter neben sich. — b) Der Mensch erlost die Welt.
Grossartig ist der Gedanke, dass der Mensch sich selbst
erlost, noch grossartiger aber ist der, dass er in und mit sich auch die ganze Welt erlost. Bei Buddha ist er zwar noch nicht zu voller Deutlichkeit hindurchgedrungen. Denn bei ihm sind die Individuen thatsachlich von einander ge- trennt, ohne durch ein metaphysisches Band innerster Wesens- identitat vereinigt zu werden. Wir diirfen aber wohl eine 1) W. a. W. u. V". I p. 478. — Dagegen will Mainlander, der den Atheismus wissen-
schaftlich zu begriinden gedenkt, den Gedanken der Gnadenwirkung nicht einmal in der Form des Mythus gelten lassen. 2) W. a. W. u. V. I p. 384. |
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Ahnung jenes Gedankens in den Worten Buddhas finden:
»Aber ich verkiindige euch, dass in diesem beseelten Leibe, der nur klaftergross ist, die Welt wohnt und die Entstehung der Welt und die Aufhebung der Welt und der Weg zur Aufhebung der Welt.*1) Deutlicher finden wir ihn im Brah- manismus ausgesprochen. Schon Schopenhauer interpretiert in diesem Sinne einen Vers der Chandogya-Upanishad: »Gleichwie hienieden hungrige Kinder um ihre Mutter her- sitzen, so sitzen alle Wesen um das (vom Brahma-Wissenden dargebrachte) Feueropfer,«2) welche Interpretation von P. Deussen gebilligt wird.3) Seine bewusste Ausbildung er- reicht jener Gedanke aber erst bei Schopenhauer.4) Und es ist klar, wenn der Wille, das Ding-an-sich in alien Erscheinun- gen, in einer derselben vernichtet worden ist, so muss er auch in den samtlich iibrigen verschwinden, wodurch die Erlosung der gesamten Menschheit und Welt bewirkt wird. § 20. Zeitweiligre, unvollstandig-e ErlOsung-.
Als eine merkwiirdige Uebereinstimmung zwischen Scho-
penhauer und den Philosophen des Brahmanismus, also auch des Vedanta, kann es gelten, dass von beiden Seiten eine zeitweilige Erlosung vom leidvollen Drang des Irdischen an- erkannt wird, die, weil aus ihr der Mensch auf's Neue nach kurzer Seligkeit in die Atmosphare des Schmerzes zuriick- sinkt, nicht als eine vollstandige zu betrachten ist. Das Medium freilich, in dem hier und dort diese unvollkommene Erlosung vor sich geht, ist ein ganz verschiedenes, wie aus folgendem erhellen wird. 1. Dem brahmanischen Denker ist dieses Medium der
traumlose Tiefschlaf.5) Den Tiefschlaf beschreibt Yajfiavalkya als jenen Zustand, wo der Geist, »eingeschlafen, keine Be- gierde mehr empfindet und kein Traumbild schaut. Das ist die Wesensform desselben, in der er iiber das Verlangen erhaben, vom Uebel frei und ohne Furcht ist. — Das ist die Wesensform desselben, in der er gestillten Verlangens, selbst sein Verlangen, ohne Verlangen ist und vom Kummer 1) Oldenberg a. a. O. p. 286. 2) W. a. W. u. V. I p. 450. 3) P. Deussen: Elements
der Metaphysik. p. 112. 4) W. a. W. u. V. I p. 449. 5) Deussen, Vedanta p. 205. |
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geschieden. — Dann ist Unberiihrtheit vom Guten und Un-
beriihrtheit vom Bosen, dann hat er iiberwunden alle Qualen seines Herzens.« Wie kommt der Mensch zu dieser Be- freiung von allem Uebel? Die Seele, die ja nur durch ihre Verbindung mit den upadhi's zur Individualseele geworden ist, welche Verbindung der Erlosung, dem Einssein mit brah- man entgegensteht, lost sich im Tiefschlaf von dem manas, dem Centralorgan der indriya's, wodurch eben die Erlosung bewirkt, die Einzelseele zur Weltseele wird. Aber eben nur fur die beschrankte Zeit des traumlosen Tiefschlafes, aus dem sie beim Erwachen in erneuter Verbindung mit dem sie auf- nehmenden manas als die alte Einzelseele hervorgeht. Ja, eigentlich ist iiberhaupt diese Erlosung nicht wirklich, weil im Grunde die individuellen Unterschiede der Seele forfbe- stehen, namlich potentiell, eben wie beim Weltuntergang, wenn die Seele zum grossen Tiefschlaf auf eine Zeit in brah- man zuriickkehrt.1) 2. Bei Schopenhauer liegt die zeitweilige Befreiung von
aller Qual und Pein auf dem Gebiete der asthetischen An- schauung. Wenn der Intellekt, dem Frohndienst des Willens sich entziehend, nicht mehr, wie es ihm seiner Natur nach eigen ist, der durch den Satz vom Grunde bedingten Auf- fassung von Einzeldingen als solchen folgt, wenn er sich vielmehr zur Anschauung der in jedem Einzelwesen immanenten allgemeinen Idee aufschwingt, so muss der Wille sich be- sanftigen und ganz aus dem Bewusstsein schwinden. Denn angeregt kann er nur durch Motive werden, diese aber liegen in den Einzeldingen, niemals in den Ideeen, die nicht begehrt werden konnen. Diese Erkenntnisweise ist die asthetisch- geniale, eine Schwester der ethisch-genialen, von der im vorigen Paragraphen die Rede war.2) Sie geht nicht mehr den Relationen nach, die ein Objekt zum anderen oder zum individuellen Willen des Beschauers haben mag, sondern ruht in der festen Kontemplation des dargebotenen Objekts, richtet sich auf das Wesentliche desselben, erkennt damit |
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1) Deussen a. a. O. p. 373. 2) Ueber das Verhaltnis von Genialitat und Heiliglceit
und sein Pendant im Sankhya-System. resp, im Vedantasara vergl. Deussen: Elemente der Metaphysilc § 208. p. 148. |
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die ganze Gattung, der es angehort, d. h. seine Idee. Sie
betrachtet die Welt sub specie aeternitatis, um einen Ausdruck Spinozas zu gebrauchen. Der asthetisch anschauende Mensch steht nun da als das »reine Subjekt des Erkennens«, als un- getriibtes »Weltauge«, als »willensfreies Erkennen«, und das vollstandige Zuriickweichen des Willens, des Verlangens, der Begier fiihrt unmittelbar als solches jenen seligen Zustand reinen Gliickes herbei, der einer wahrhaften Erlosung so nahekommt, von dieser sich eigentlich nur durch seine nur zu kurz bemessene Dauer unterscheidet.1) So grundverschieden also auch die Wege sind, die bei
Schopenhauer und im Brahmanismus zu einer quasi-Erlosung fuhren, so verdient doch die Thatsache einer Moglichkeit einer solchen zur Vervollstandigung der Parallele angefiihrt zu werden. Und betrachten wir diese quasi-Erlosung bei Schopenhauer, so finden wir, dass sie der eigentlichen Er- losung, der moksha, des Vedanta ziemlich nahe kommt. Denn hier wie dort werden vom Intellekt alle individuellen Unterschiede abgestreift, so dass nichts iibrig bleibt als das metaphysische Erkennen, das raum- und zeitlos ist, in dem nur ananda, d. h. Wonne liegt. Als einziger, freilich ge- wichtiger Unterschied zwischen beiden Lehrmeinungen bleibt bestehen, dass das metaphysische Erkennen des Vedanta iiberhaupt kein Objekt mehr sich gegeniiber stehen hat, wahrend es bei Schopenhauer immer als sein Korrelat die raum- und zeitlose Idee fordert. § 21. Fortdauer des Lelbes ttber die ErlSsung1 hinaus.
Die Erlosung ist eine Thatsache. Es ist aber ferner
eine nicht minder gewisse Thatsache, dass der Augenblick der Erlosung nicht mit dem Augenblick des Todes zusammen- fallt, vielmehr der beseelte Leib iiber jenen hinaus fortdauert und fortlebt. So verheisst der »Vollendete« in seiner ersten Predigt im Wildpark Isipatana bei Benares den Jungern: »Ihr werdet noch in diesem Leben die Wahrheit selbst erkennen und von Angesicht zu Angesicht schauen.«2) Ebenso verkiindet das Dhammapadam: 1) W. a. W. u.V. I§ 34 ff., p. 209. 2) Oldenberg a. a. O. p. 138.
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»Hat seine Wurzeln in der Erkenntnis Boden tief eingesenkt das GemUt,
Fesseln den Weisen keinerlei Dinge mehr und ist er der Ledigkeit froh, Kennt er, von Licht erfiillt, die Begierde nicht mehr: dann ist er hier schon erlost.«'')
Das nirvana kann also schon auf Erden erlangt werden.
»Der Jiinger, der Lust und Begier von sich abgethan hat, der weisheitreiche, er hat hienieden die Erlosung vom Tode erreicht, die Ruhe, das nirvana, die ewige Statte.«2) Es ist das nur die Konsequenz der Erlosungtheorie; denn diese lehrt, dass die Erlosung in der Ertotung des »Durstes« liegt, in der Ueberwindung aller Leidenschaft, in der Abstreifung aller Bande, die uns in Wiinschen und Wollen an die leiden- volle Welt kniipfen. »Der Untergang der Lust, der Unter- gang des Hasses, der Untergang der Verwirrung: das, o Freund, wird nirvana genannt.«3) Der Leib des Erlosten besteht dann, »abgeschnitten vom Strome des Werdens.«*) Fiir den Buddhisten liegt darin eigentlich nichts Problematisches. Er kennt ja kein Ding-an-sich, dessen in irgend welcher Weise auch zu denkende Erscheinung der Leib sei, und das irgendwie durch die Erlosung afficiert wlirde. Er nimmt den Leib als durch den »Durst« eines friiheren Lebens hervor- gebracht; die Vernichtung des »Durstes« kann ihren Einfluss nur auf die Zukunft, nicht auch auf die Vergangenheit er- strecken. Darum werden auch die bosen Werke nicht, wie es gemass dem Vedanta geschieht, in der Erlosung aufge- hoben, sie miissen vielmehr auch nach dieser abgebiisst werden, wenn auch die Strafe sich gelinder gestalten mag.5) So muss denn der Leib weitergetragen werden, bis die Stunde kommt, da der Fluss der sankhara's, eingeleitet durch den »Durst« eines friiheren Lebens, abgelaufen ist. Dann zerbricht auch der Leib, und weder Gotter noch Menschen werden den Erlosten wieder schauen. — Das Fortbestehen der Leiblichkeit ist also fiir den
Buddhismus kein Problem; er nimmt diese Thatsache hin wie jede andere, wie die Thatsache des Bestehens der Welt. Um so mehr ist es aber ein solches fiir den Vedanta und 1) E. Hardy: Buddhismus p. 58. 2) Oldenberg a. a. O. p. 286. 3) ib. p. 287 Anm. 1.
4) ib. p. 2S9. 5) ib. p. 249 Anm. 6. |
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Schopenhauer. Denn was den ersteren anbetrifft, so ist der
Leib als Ausdruck einer Individuality auf der falschen Err kenntnis basirt, der avidya, die in der Erlosung, dem samyagdarcanam, der universellen Erkenntnis schwindet und demnach eigentlich den Leib nach sich ziehen miisste; und bei Schopenhauer ist der Korper Objektitat des Willens — wie aber kann eine Willenserscheinung fortbestehen, wenn der Wille selbst vergangen ist? Wir wollen sehen, wie hier und dort das Problem gelost worden ist. 1. Wir wissen, dass jedes Dasein genau vorherbestimmt
ist durch die in einem vergangenen Lebenslauf veriibten. Werke, durch die Thaten, als deren Siihne wir das augen- blickliche Leben mit seinen gesamten Verhaltnissen be- trachten miissen. Jedes Werk ist wie ein Samenkorn, aus dem als Frucht seine Vergeltung schiesst. Die Erlosung jedoch »verbrennt den Sam en der Werke«, und was der Mensch friiher gethan, ist nun, »als hatte er es nicht gethan«; es. braucht in keiner Weise mehr gesiihnt zu werden. Jene Werke nun aber, sagt der Vedanta, deren Samen schon aufgegangen ist, die sich bereits in Frucht verwandelt haben, die kann die Erlosung nicht mehr verbrennen; es sind das eben jene Werke, die den Leib »gezimmert«, den Korper und seine Besonderheiten hervorgebracht haben. Diese miissen daher sich selbst ausleben, sich selbst abtragen. Ihre Frucht, die Leiblichkeit, wird daher so lange bestehen, der Mensch so lange leben, bis auch die dem Leib zur Unterlage dienenden Werke durch das Leben selbst verzehrt worden sind. Bekannt ist das, auch von Schopenhauer aus dem Veda angefiihrte und geruhmte,1) Bild, das das Leben der Topferscheibe vergleicht, die, gemass dem fruher (durch das karman) erhaltenen Stosse, auch dann noch zu wirbeln fortfahrt, wenn auch das Gefass, dem sie zur Unterlage diente (die Erlosung), vollendet ist. — Das Problem des Fortbestehens der Korperlichkeit wird also zu losen versucht durch die Unterscheidung von zwei Arten zu siihnender Werke, von solchen, deren Suhnung noch nicht begonnen hat — diese werden durch die Erlosung vernichtet —, und 1) W. a. W. u. V. I p. 452, Anm. Lindner-Frauenstadt a, a. O. p. 180.
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von solchen, deren Vergeltung bereits eingetreten ist, in der
Korporisation, die also durch die Erlosung nicht mehr hintertrieben werden kann, sondern fernerhin getragen werden muss. Nur das eine kann die Erlosung erreichen, dass der Leib gleich alien anderen Gestalten der Welt als Tauschung erkannt wird. Ist also die Illusion, die dem Erlosten eine Leiblichkeit vorspiegelt, von ihm nicht zu heben, so wird sie ihn doch nicht weiter anfechten. Ja, wer immer noch seines Leibes Schmerzen fiihlt, dem ist die erlosende Erkenntnis noch nicht mit der ganzen Fiille ihres Lichtes aufgegangen. So lebt denn der Asket sein Scheinleben fort, mitten im Gedrange der Welt in selbstgentigsamer Einsamkeit, »als war' er blind und taub und ohne Sinn.« Tag fur Tag sieht er mit stiller^Zufriedenheit seinen Leib, die Ernte friiherer Thaten, mehr abwelken, dahinsterben, bis endlich der letzte Schein versinkt: »brahman ist er und in brahman lost er sich auf.« »Wie StrSme rinnen, und im Ocean,
Autgebend Name und Gestalt, verschwinden, So geht, erlost von Name und Gestalt, Der Weise ein sum gottlich-hochsten Geiste.«l) 2. Schopenhauer lost das in Rede stehende Problem
einfacher und griindlicher, freilich nicht ohne dabei in einen gewissen Widerspruch mit sich selbst zu geraten. Wahrend namlich im Ganzen seine Meinung dahingeht, dass in der Erlosung der Wille total aufgehoben wird, und der Mensch also »nur noch als rein erkennendes Wesen, als ungetriibter Spiegel der Welt (ibrig«2) ist, erklart er an anderen Stellen oder sogar [in jgleichem Atem, der Wille sei »ganzlich er- loschen, bis auf jenen letzten glimmenden Funken, der den Leib erhalt und mit diesem erloschen wird.«s) Der Wille ist also thatsachlich nicht ganzlich erloschen, es bleibt viel- mehr »ein schwacher Rest, der als Belebung dieses Leibes erscheint.«4) Die ganzliche Verneinung des Willens ist dem- nach noch einer Steigerung fahig, bis zu dem Grad, »wo selbst der zur Erhaltung der Vegetation des Leibes, durch 1) Deussen, a. a. O. p. 459 ff. 2) W. a. W. u. V. I p. 462. 3) W. a. W. u. V. I
p. 461. 4) ib. p. 452. |
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Aufnahme von Nahrung, notige Wille wegfallt.*1) Der Wille
schwindet darum vollstandig erst mit dem Leibe, den er als letzte Spur belebte,2) und die wahre Erlosung sollte daher eigentlich mit dem Tode zusammenfallen. Und so sagt denn auch Schopenhauer selbst: »dass mit dem Leben dieses Leibes auch der Wille, dessen Erscheinung er ist, sich aufhebt.«s) Mit diesem Widerspruch hangt ein anderer zusammen,
in Beurteilung der Frage namlich, ob die einmal erlangte Erlosung als unanfechtbares Gat, unantastbares Besitztum gilt oder durch bestandigen Kampf erhalten werden musse. Zwar sagt Schopenhauer von dem Erlosten: »Ihn kann nichts mehr angstigen, nichts mehr bewegen,«4) aber im Ganzen meint er doch, es bediirfe eines steten Ringens, um den. Zustand des leidlosen Nichtwollens aufrecht zu erhalten.6) Und mit Recht. Denn wenn auch nur der kleinste Funke des Willens fortglimmt, so ist immer die Moglichkeit ge- geben, dass er zu neuem Brande anwachsen kann. Von einem solchen Kampfe weiss der Vedanta nichts. »Darum,, wer solches weiss, der ist beruhigt, bezahmt, entsagend, ge- duldig und gesammelt; nur in dem Selbste sieht er das Selbst, alles sieht er an als das Selbst; nicht iiberwindet ihn das B6se, er iiberwindet alles B6se; nicht verbrennt ihn das Bose, er verbrennt alles Bose, frei von Bosem, frei von Leiden- schaft und frei von Zweifel wird er ein brahmana, er, dessen Welt das brahman ist.«^ Der Buddhismus hingegen tritt auch hier wieder an Schopenhauers Seite, indem er seinen Jungern in alien Dingen die Wachsamkeit auf sich. selbst zur vor- nehmsten Pflicht macht. Wir erkennen hier, wie sich die Art des Erlosunggedankens selbst in mehr untergeordneten Fragen zur Geltung bringt. Ist die Erlosung wirklich das Ueber- winden der Unwissenheit durch die Wahrheit, so ist nicht ein- zusehen, wie man dieser einmal errungenen besseren Er- kenntnis verlustig gehen konnte; wohl aber kann ein Trieb, obgleich schon einmal erstickt, auf s Neue in ganzer Starke erwachen. 1) ib. p. 474. 2) ib. p. 486. 3) ib. p. 449. 4) lb. p. <62. 5) ib. p. 463. 6) Deussen,.
Vedanta, p. 211. |
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§ 22. Die Tier-welts.
AlS einen Uebergarigparagraphen zu der im folgeriden
Kapitel aus ihrer metaphysischen Grundlage zu entwickelnden eigentlichen Ethik unserer Philosophen geben wir dieseh Ab- Schnitt, der sich mit der Stellungnahme der betrachteten Systeme zu den Tieren und ihren ethischen Vorschrifteri be- schaftigt, die das Verhaltnis des Menschen zu den unver- hiinftigen Mitwesen regeln sollen. Die mitfuhlende Teilnahme, die zarte Schonung, mit der
hian in Indien bis auf den heutigen Tag den Tieren ent- gegenkommt, ist bekannt. Aus dem tiefempfundenen Be- wusstsein, dass die Kluft zwischen Mensch und Tier nicht bis zum eigentlichen Kern ihres Wesens sich erstreckt, dass in Mensch und Tier vielmehr das absolut identische Sein lebt und leidet, fliesst jene Grundiiberzeugung, die Mensch und Tier auf die gleiche Stufe stellt. So wird schon im Rigveda zwischen beiden ein genereller Unterschied nicht gemacht. In eihen Ausdruck werden da »zwei- und vier- fiissige Tiere« zusammengefasst; neben Ross, Rind, Schaf und Ziege gilt der Mensch als das hochste Opfertier.') Da- her betrachtet man es schon in vedischer Zeit geradezu als ein Verbrechen, ein Tier zu toten, sogar beim Opfer,2) wes- halb das Gesetz vorschreibt, das Opfertier vor dem Schlach- ten um seine Einwilligung hierzu zu bitten.3) Mit der Auf- nahme der Identitatslehre nun schwinden die Grenzen zwischen Mensch und Tier vollstandig. Ueber jedes Tier muss nun der Anhanger des Brahmanismus die heiligen Worte »tat tvam asi« sprechen, »das bist Dul« Dazu gesellt sich das Dogma der Metempsychose. Die Seele, die sich in dem einen Dasein als Mensch verkorpert hatte, kann irii kunftigen in einem Tierleib wiedergeboren werden. Da wird eine vbllkommene Schonung aller Tiere zu selbstverstandlicher Pflicht. Und die Erkenntnis von der Identitat des innersten Wesens in alien Geschopfen wird begleitet von einer solchen, die eine Uebereinstimmung auch in untergeordneteren Dingen statuiert. Man weiss, dass der tierische Intellekt ebenso wie |
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I) Zimmer: Altindisches Leben p. 72. 2) Deussen, Vedanta p. 427. 3) ift p. 324.
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der menschliche im Dienste des Egoismus steht,1) dass
letzterer nur eine Steigerungform des ersteren ist. Man weiss, dass die einzelnen Tiere durch die Bande von Zu- neigung und Liebe mit einander verkniipft sind,2) eben wie die Menschen. Man betrachtet alles in allem die Tiere als Seinesgleichen und muss sogar geneigt sein, ihnen ein grosseres Mass des Mitleids zuzuwenden als selbst den Menschen, weil sie, des Vermogens der geistigen Lust entbehrend, mehr leiden als jene. Erwahnt mag iibrigens im Vorubergehen werden, dass der Vedanta an generatio aequivoca glaubt, erwahnt deshalb, weil auch Schopenhauer an der Moglich- keit einer solchen festhalt. Beide sind namlich der Ansicht, dass die niederen Tiere, das Ungeziefer, von dem Vedanta svedaja, d. h. Schweissgeborene genannt, ohne Zeugung ent- stehen.3) Auch meint der Vedanta, dass aus dem nicht- geistigen Mist der geistige Mistkafer geboren werde.*) Aus dem Brahmanismus ist die innige Tierfreundschaft
auch in die heterodoxen Systeme iibergegangen.5) Auch in diesen finden wir ein liebevolles Sich-Einswissen mit den un- verniinftigen Mitwesen, die vollkommenste Anerkennung der Anspriiche, die auch das unterste Geschopf auf Leben und Wohlsein hat. Gilt auch die Identitatslehre nicht mehr, so schlingt doch die Lehre von der Seelenwanderung das feste Band um alles, was da lebt, sei es Mensch oder Tier. Dem Buddhisten nicht am wenigsten wird den Tieren gegeniiber Wohlwollen und Schonung anempfohlen. Ein Zeugnis statt vieler. Die erste der fiinf Ordnungen, aus denen die fiinf- fache Rechtschaffenheit, die conditio sine qua non des Bu- ddhisten, besteht, gebietet, kein lebendes Wesen zu toten. »Ein ordinierter Monch darf nicht wissentlich ein Wesen des Lebens berauben, auch nicht einen Wurm oder eine Ameise.«6) Wer sich gegen dieses Gebot vergangen, hat eben dadurch seine Jiingerschaft verwirkt, sich selbst aus der Gemeinde ausgestossen. Der Buddhismus ist aber iiber diese bloss theoretische Anerkennung der Rechte der Tiere zu positiv- 1) Deussen a. a. O. p. 59. 2) ib. p. 258. 3) W. a. W. u. V. I p. 173. ib. II p. 372.
Willen in der Natur p. 56. Parerga II p. 160. Lindner-Frauenstadt a. a. O. p. 168. Deussen, Vedanta, p. 259. 4) Deussen, a. a. O. p. 295. 5) E. Hardy: Buddhismus. Ann. 41 zu p. 15- 6) Oldenberg a. a. O. p. 377. |
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praktischer Thatigkeit und Fiirsorge fiir Wohl und Gesund-
heit leidender Geschopfe aus der Tierwelt hinausgeschritten: bekannt ist, dass Konig Asoka (263—222) durch sein ganzes Reich Tierhospitaler anlegen liess, wie solche noch jetzt in Indien, z. B. in Bombay, unterhalten werden. — Wenn im Juni die Regenzeit beginnt, so unterbricht noch heute, gemass dem Gebote Buddhas, das nun alter als 2000 Jahre ist, der buddhistische Mooch sein Wanderleben, weil jeder Schritt auf feuchtem Wege ein junges Tierleben vernichten wurde. Schopenhauer geht zwar nicht so weit wie seine indischen
Geistesverwandten, dem Menschen das Recht, Tiere zu toten, iiberhaupt abzusprechen. Durch Entbehrung der tierischen Nahrung wiirde der Mensch, besonders im Norden, mehr leiden als das Tier durch seinen Tod, den man aber rasch und ohne Qualerei eintreten lassen soil.1) Auch leidet ein Insekt durch seinen Tod noch nicht so viel wie ein Mensch durch dessen Stich.2) Im iibrigen aber hat sich die Moral auch auf die Tiere zu erstrecken, in denen dasselbe Wesen lebt wie im Menschen. Mensch und Tier gehoren zusammen; mit scharfen Worten wirft Schopenhauer dem Christentum vor, zwischen diesen beiden Blutsverwandten eine unnatiir- liche Kluft aufgerissen zu haben.3) Er erkennt vielmehr in den Tieren unsere »unverniinftigen Briider;«4) ihm ist der Mensch »das verniinftige Tier mit individuellem Charakter.«5) Ausgehend von der Thatsache der Wesensidentitat fordert er fiir die Tiere nicht Erbarmen, sondern Gerechtigkeit,0) wird er der etfrige Vorkampfer der segenreichen Tierschutz- vereine, die sich eine Aufgabe gestellt haben, an der die Religion leider voriibergegangen ist. Der liebenswerten Ziige in Schopenhauers Charakter
mogen nicht viele gewesen sein; hier, in seiner Tierfreund- schaft, finden wir ihrer einen, der mit vielem versohnen kann. Wir wissen aus seiner Biographie von Gwinner, wieviel auf- merksame Teilnahme er den Tieren entgegenbrachte. »Keine Gelegenheit, das Tierleben zu beobachten, wurde versaumt, Menagerien und zoologische Garten zahlten ihn zu ihren 1) Ethik p. 245. 2) W. a. W. u. V. I p 440 Anm. 3) Parerga II p. 396 ff. 4) W.
a. W. u. V. I p. 43. 5) ib. p. 340. 6) Ethik p. 238 ff. |
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besten Kunden.«x) Wie oft, wie wohlthuend spricht uns aus
seinen Werken die liebevolle Vertiefung in die Natur der Tierwelt an. Bis hinab auf die Raupen erstreckte sich seine wohlwollende Anteilnahme an tierischem Leben.2) Vor allem waren die Hunde seine Freunde. Sein Zimmer schmtickten sechzehn Hundebildnisse unter Glas und Rahmen; als sein standiger Begleiter hat der weisse Pudel Atman, dessen Nach- folger sogar im Testament nicht vergessen wurde, eine ge- wisse Beriihmtheit erlangt. Zu Frauenstadt ausserte er ein- mal: »Wenn es keine Hunde gabe, mochte ich nicht leben.«s) — In der ausgesprochenen Tierfreundschaft, die einst Franz von Assisi, »diese wahre Personification der Askese und Vorbild aller Bettelmonche«, in so riihrender Weise gezeigt, sieht Schopenhauer ein Hervortreten der »Verwandtschaft desselben mit dem indischen Geiste.«*) Das berechtigt uns, von ihm selbst aus gleichem Grunde Gleiches zu behaupten. Dieses auch die Veranlassung, auf diese Frage mehr specieller Natur einzugehen. — Uebrigens diirfen wir nicht verschweigen, dass Schopen-
hauers Vorliebe fur die Tiere oft einen nicht eben forder- lichen Bund mit seiner sattsam bekannten pessimistischen Menschenverachtung eingeht. Wenn er die moralischen und intellektuellen Eigenschaften z. B. der Hunde preist, an denen man fast allemal Freude und Befriedigung erlebe, so ge- schieht es selten, ohne dass dabei ein richtender Seitenblick auf das Geschlecht der Bipedes fallt, deren Qualitaten solche Freude zu verleihen eben nicht im Stande sind. So heisst es an einer Stelle: »— Woran sollte man sich von der end- losen Verstellung, Falschheit und Heimtiicke der Menschen erholen, wenn die Hunde nicht waren, in deren ehrliches Gesicht man ohne Misstrauen schauen kann?«5) Oder anders- wo: »Wie vorteilhaft sticht doch diese, ihm (dem Hunde) von der Natur eingegebene Begriissung (durch das ausdrucks- volle, wohlwollende und grundehrliche Schwanzwedeln) ab, gegen die Bucklinge und grinsenden Hoflichkeitsbezeugungen der Menschen, deren Versicherung inniger Freundschaft und 1) Gwinner a. a. O. p. 603. 2) W. a. W. u. V. II p. 555. 3) Lmdner-FrauenstaQt
a. a. O. p. 170. 4) W. a. W. u. V. II p. 705. 5) Parerga II p. 225. 13
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Ergebenheit es an Zuverlassigkeit, wenigstens fur die Gegen-
wart, tausend Mai iibertrifft.*1) In gleicher Weise verherr- lichte Schopenhauers Bruder im Pessimismus, Lord Byron, auf Kosten der Menschen seinen treuen Hund in der be- kannten Grabschrift »Inscription on the monument of a Newfoundland dog.« — Indisch ist diese Wendung der Tier- freundschaft kaum. — —■ |
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IV. Metaphysik und Asketik.
§ 23. Binleitung-: sociale und asketische Moral und
Ihre Begrundung:. Wenn Schopenhauer meint, die Moralsysteme aller Zeiten
und Volker hatten im wesentlichen das Selbe gelehrt, so ist diese Ansicht doch nur in sehr bedingter Weise als wahr anzuerkennen. Wie gross ist z. B. die Kluft zwischen der Hedonik des Aristipp und der christlichen Ethik in ihrer hehren Lauterkeit. Ueberhaupt sehen wir bei einem Ueber- blick iiber die sittlichen Anforderungen, wie sie von Philo- sophen oder Religionstiftern an ihre Anhanger gestellt worden sind, zwei fundamental geschiedene Gruppen aus- einandertreten, wobei zwar das Objekt in beiden das gleiche bleibt: der menschliche Wille in Trieb und Affekt — aber das Ziel, das diesem als summum bonum vorgestellt wird, ein grundverschiedenes ist, so dass der ganze sittliche Process in anderen Bahnen verlaufen muss. Nur innerhalb der ein- zelnen Gruppen kann mit Schopenhauer von einer Ueber- einstimmung der Moralphilosophen gesprochen werden. Deut- lich unterscheidet sich die natiirliche, sociale Moral von der pessimistischen, asketischen, quietistischen. Nach der socialen Moral erwiichst die Sittlichkeit allein aus den zahlreichen Wechselbeziehungen, die ein Band gemeinsamer Interessen um alle Menschen schlingen, soweit sie Glieder einer weiteren oder engeren socialen Gemeinschaft sind; die social-natiir- liche Moral fasst das Individuum als Glied der Gesamtheit 1) W. a. W. u. V. II p. 108. Vergl. auch Parerga II p. 618.
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und will die vielfachen Verhaltnisse regulieren, die sich aus
Staat und Gesellschaft ergeben. Ihre Aufgabe ist demnach, eine derartige Entwickelung der alien Menschen einwohnenden Triebe zu fordern, dass ein Konflikt derselben in den ver- schiedenen Individuen nach Moglichkeit vermieden werde oder doch eine solche Gestalt annehme, dass die Erhaltung des Gemeinwesens nicht gefahrdet wird; in dieser Erhaltung erkennt sie ihr vornehmstes Ziel. — Die asketische Moral hingegen isoliert den Einzelmenschen, lost ihn aus dem grossen Verbande, in den ihn ja nur aussere, zufallige Um- stande versetzt haben, und weist ihn auf sich selbst zuriick. Sie stellt iiber die aussere Arbeit, die als Pflicht des Staats- biirgers zu leisten ist, eine andere, ungleich wichtigere, die innere Arbeit an sich selbst, am eigenen Ich, die Heiligung der Person, die Gesinnungbildung. Nach ihr besteht der sittliche Process nicht, wie gemass der socialen Moral, in geordneter Bethatigung menschlich-naturlicher Krafte zum Zweck einer Verbesserung und Ausgestaltung gegebener weltlicher Verhaltnisse, sondern in der totalen Abkehr von alien diesen, die durch eine pessimistische Wertung aller natiirlichen Bedingungen als nichtig, ja direkt als unmoralisch betrachtet werden. Sie wendet sich ab von alien Aufgaben eines thatigen, schaffensfrohen Lebens und befiehlt uns, das Unrecht zu unterlassen, nicht, weil es storend in den Verlauf des Ganzen eingreifen wiirde, sondern weil es ein Hemmnis der eigenen Vervollkommnung bedeutet. Von einer Be- kampfung desselben, so weit es durch andere ausgeiibt wird, zum Besten des Gemeinwohles, ist nur in sehr bedingter Weise die Rede; der asketischen Moral ist die Welt nichts, das eigene Seelenheil alles. Der sittliche Process wird vom Boden der Aussenwelt in das Innere des einzelnen Individuums iibertragen, das in bewusster Autarkie vom Wohl und Wehe des Nebenmenschen absieht und, um die Versittlichung des eigenen Ich zu fordern, in asketischer Selbstzucht jede Forderung natiirlicher Triebe unterdrii-kt. — Wo wir nun im Lauf der mensciilichen Entwicklung,
die Jahrhunderte hindurch, die asketisch< F.thik zu Ungunsten der natiirlichen in den Vordergrund tret en sehen, da verdankt 13*
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sie diese bevorzugte Stellung einer vorgefassten transscendentr
metaphysischen Weltanschauung. Jegliche Ethik muss be- griindet sein; der Moralphilosoph, der die Gesetze sittlichen Handelns entwickelt, muss eine Quelle namhaft machen, aus der er alles wahre Wohlverhalten fliessen lasst. Das trifft zu fiir die beiden Formen der Ethik, fur die sociale sowohl als fiir die pessimistisch-antisociale. Wir finden nun, dass da, wo der Mensch nur als Mensch gilt, ausgestattet mit bestimmten naturlichen Bestrebungen, als Erdenbiirger, dessen wahre Heimat in der fasslichen Realitat dieser Welt und nicht in einer transscendenten Daseinsform liegt, die Ethik sich, wie nicht anders moglich, nur auf die jedem Menschen angeborenen Triebe und Veranlagungen stutzt, dass man alles Wohlverhalten moralischer Art rein aus der menschlichen Natur heraus erklart und die Moralitat streng anthropologisch bedingt sein lasst. In wiefern eine Philosophic in dieser Weise jeder Metaphysik entraten kann, ohne dem krassesten Materialismus anheimzufallen, das ist hier nicht zu unter- suchen; wir behaupten hier nur, dass eine Moral, die durchaus der Metaphysik sich entschlagt, notwendig die sociale Form annehmen muss, wie wir es thatsachlich bei den, jeder Metaphysik schroff entgegentretenden Systemen des Materialis- mus sehen. Und es bedarf keines Beweises: wo eine im wahrsten Sinne des Wortes immanente Philosophic Welt und Mensch im allgemeinen aus sich selbst heraus erklart, und demnach die ethische Disciplin im besonderen nicht anders verfahren darf und kann, da muss, gleichwie in der sichtbaren Natur und Erde die Wurzeln des Menschen liegen, auch Ziel und Aufgabe seines Handelns auf diese Natur und Erde beschrankt bleiben. Wo das sittliche Thun zuriickgefuhrt wird auf anthropologisch nachweisbare Triebfedern, da empfangt es den Stempel moralischen Wertes durch seine Uebereinstimmung mit den naturlichen Gesetzen, an denen jede menschliche Gesellschaft, im hochsten Sinne der Staat erwachst. Wer die Ethik anthropologisch begriindet, wird dadurch unumganglich zu der socialen Form derselben geleitet, wie umgekehrt, alle sociale Moral sich nur aus der rein naturlichen Veranlagung des Menschen entwickeln kann- |
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Das Hier ist des Menschen Heimat, das Hier das Feld seiner
Thatigkeit. — Mit einem Schlage aber wird die Unbefangenheit, mit
der ein sittlicher Mensch die naturlichen Daseinsbedingungen betrachtet, zerstort, wenn eine metaphysische Weltbetrachtung eine uniibersteigbare Kluft zwischen Natur und Uebernatur aufreisst. Dann geht ein nie zu versohnender Gegensatz durch alles Leben, alles Denken, alles Handeln; wie man auch die geschiedenen Pole nennen mag: Gott und Welt, Geist und Natur, Ding-an-sich und Erscheinung, es bleibt bestandig der Gegensatz zwischen der Welt des siindigen Diesseits und der jenseitigen Welt der Heiligkeit; auf der einen Seite Verwirrung, Schuld und Leid, auf der anderen Rune, Seligkeit, Klarheit. Die diesseitige Welt erscheint als durchaus schlecht, verwerflich, verachtlich, die jenseitige Welt als durchaus gut, vollkommen, erstrebenswert. In jeder Metaphysik liegt der Pessimismus im Keime vorbereitet und muss sich wenigstens in einer philosophischen Disciplin aus- wachsen, wenn auch nur, wie bei den Eleaten, auf erkenntnis- theoretischem Felde. Dann erscheint der Mensch als ein Doppelwesen: mit dem besseren Teile seines Ich haftet er in der metaphysischen Gotteswelt; seine naturlichen Triebe aber, die, wie sie sich bestandig an der Natur entziinden, auch aus dieser stammen, gelten als siindlich und beflecken das ubernatiirliche Ich, diesen verirrten Funken des ausser- weltlichen Guten. Und weil wegen der absolut unmoralischen Beschaffenheit alles empirisch-natiirlichen Daseins eine Er- tiichtigung desselben von vornherein als ausgeschlossen betrachtet werden muss, kann der sittliche Process nicht in der Bethatigung rein-menschlicher Funktionen zur harmonischen Organisation der Welt gesucht werden, sondern vielmehr in der Abkehr von alle diesem, in der bewussten successiven Ertotnng der naturlichen, also unlauteren Triebe. Die Auf- gabe, die jedem Einzelnen zufallt, und die er nur in und fur sich leisten kann, ist es, dem in seiner Seele ruhenden Gottlichen die Riickkehr aus der unmoralischen Erdenform zu ermoglichen, das versprengte Gute aus der Welt des Uebels herauszuziehen, indem er den schlechteren Teil seines |
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Wesens, den materiellen, sinnlichen, von sich abstreift, sich
emancipiert von alien Forderungen seiner menschlichen Natur. Alle Verhaltnisse des Diesseits werden als siindhaft betrachtet; ein sittlich gutes Handeln kann daher absolut zu diesem in keiner Beziehung stehen —■ die Folge ist der Quietismus. Das sittliche Streben besteht vielmehr in dem unablassigen Ringen nach der Einheit der Einzelseele mtt der gottlichen Allseele, die in der inneren Heiligung, der hochsten Verklarung des Ich erreicht wird. Der ethische Process ist also nicht mehr die Bethatigung der Personlichkeit in der Gemeinschaft zu deren sittlicher Ausgestaltung, sondern ein interner Process der Gesinnungbildung, die die moralische Vervollkommnung des Einzelnen sich zum Ziele setzt; in sich selbst hat das Individuum die hochste menschliche Auf- gabe zu erfiillen. Und diese asketisch-quietistische Auffassung des Sittlichen tritt eben uberall da ein, wo, wie zur Erklarung und Begriindung des ganzen Weltdaseins, ebenso auch zum Fundament des Sittlichen die transscendenten Krafte der Metaphysik in Thatigkeit gesetzt werden, so dass Schopenhauer Recht hat, wenn er in dem zu Anfang dieser Arbeit ange- fiihrten Citat sagt: »Quietismus, d. i. Aufgeben alles Wollens, Askesis, d. i. absichtliche Ertotung des Eigenwillens, und Mysticismus, d. i. Bewusstsein der Identitat seines eigenen Wesens mit dem aller Dinge, oder dem Kern der Welt, stehen in genauester Verbindung; so dass wTer sich zu einem derselben bekennt, allmalig auch zur Annahme der andern,, selbst gegen seinen Vorsatz geleitet, wTird.«*) So schroff nun auch die hier unterschiedenen Formen
des Sittlichen einander gegeniiber treten, so thun sie dies doch eigentlich nur fur die theoretische Betrachtung. Denn wo die eine oder die andere praktisch in die Erscheinung tritt, vermag sie sich selten vollkommen frei von Einfliissen ihres- Gegenparts zu erhalten, so dass wir Fusionen beider nicht eben selten begegnen. Und zwar findet eine solche Fusion meist in der Art statt, dass eine urspriinglich sociale Moral,, die als solche thatsachlich anthropologisch begriindet wird, durch den Einschlag irgend einer Metaphysik in die asketische 1) W. a. W. u. V. II p, 704.
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umgebogen wird und diese dann recht eigentlich als Kronung
des ethischen Gebaudes erscheint. Als an ein klassisches Beispiel hierfiir sei an die Ethik Platons erinnert, der seine sittlichen Forderungen, so weit sie Konstituierung und Er- haltung seiner Republik abzwecken, nicht nur auf die Natur des Menschen im allgemeinen, sondern sogar auf die bestimmte Veranlagung einzelner Stande begriindet, dann aber, durch Einfuhrung des Gedankens der transscendenten Idee des Guten-an-sich, zur asketischen Sittlichkeit fortschreitet und die Moralitat in die Erhebung tiber die Welt der Erscheinung zur Welt der Ideeen setzt. Und wenn wir nun im letzten Teile unserer Abhandlung darstellen wollen, wie aus der vorgefiihrten Metaphysik unserer drei Gedankenkreise die ihnen eigentiimliche Ethik erwachst, so werden wir auf ahn- liche Vorgange stossen. Zunachst aber bedarf die Darstellung der innigen Beziehung zwischen Metaphysik und Quietismus in wenigen Worten noch einer Erweiterung. Es ist namlich nicht durchaus erforderlich, dass die Ethik, um in die asketische Form einzugehen, sich an eine positive Metaphysik anlehnt, nach der, wie z. B. in dem Vedanta, das schlechthin Eine, das Ding-an-sich, auch das schlechthin Gute ist, viel- mehr kann auch eben in den Quell aller empirischen Er- scheinung auch der Ursprung alles Uebels verlegt werden, und so geschieht es, wie wir bei Betrachtung des Pessimismus sahen, bei Schopenhauer. Der sittliche Process ist aber hier wie dort der gleiche, nur dass er in letzterem Falle in der Abkehr nicht nur von der Erscheinung, d. h. der Welt besteht, sondern eben so sehr in der Abkehr von dem Fundament der Erscheinung und so nicht mehr zwischen empirischem und absolutem Dasein, sondern zwischen Sein und Nichtsein spielt.1) — § 24. Metaphysik und Asketik in dem Vedanta.
Wir wiesen schon mehrfach darauf hin, dass der Vedanta,
wie er von Badarayana in den Brahma-Sutra's niedergelegt 1) Vergl. hierzu W. Bender: »Metaphysik und Asketik. Ein Beitrag zur Geschichte
der Moralphilosophiefc in dem Archiv fiir Geschichte der Philosophic, hrsg. von L. Stein. Bd. VI p. 1 ff. Die folgenden Paragraphen unserer Abhandlung konnen eine gewisse Ver- voHstandigung der Bender'schen Arbeit bieten. |
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und von Cankara einer eingehenden Erlauterung unterzogen
worden ist, zwei mehr oder weniger deutlich zu scheidende Stromungen erkennen lasst, von denen die eine, aus dem naiven Glaubensbediirfnis altvedischer Zeit stammend und an dem unverwiistlichen Verlangen der breiten Masse nach der vertrauten Gestalt eines anthropomorph gedachten Gottes sich starkend, eine exoterische Volksreligion darbietet, wah- rend die andere, ihrem Ursprung nach jiinger, die Lehren jener Religion in mystischer Weise umdeutet und eine eso- terische Philosophic enthalt, die in der Ueberwindung alles Theismus ihren Gipfelpunkt in dem Gedanken des AU-Einen erreicht. Die orthodoxe Pietat gegen die Herzensmeinungen der Altvordern tritt dabei in schroffen Gegensatz au den gelJiuterten Ergebnissen eigener Speculation und kann nur auf gewaltsame Weise mit dieser zu einem wunderlichen Gemische amalgamiert werden, das einer organischen Einheit nicht sehr ahnlich sieht. Und selbst in den theistischen An- schauungen liegen die Resultate des Denkens verschiedener Zeiten ubereinander, indem, wie wir bei der Darstellung des Atheismus ausfiihrten, der rohe Polytheismus der vedischen Urzeit nicht ganz durch den reineren Monotheismus einer spateren Epoche verdrangt worden ist. Demgemass be- hauptet sich auch in der Moral die Geistesarbeit friiherer Geschlechter neben derjenigen eines jiingeren Zeitalters; die Aufgaben, die eine stark ausserliche Auffassung des ethischen Verdienstes aus vergangenen Jahrhunderten dem sittlichen Leben stellte, muss die wiirdigere Erkenntnis der eigenen Gegenwart neben den ihrigen gelten lassen. Wir finden eine Ethik dreifacher Art, wie sie nacheinander aus dem Poly- theismus, dem Monotheismus (Henotheismus), dem Atheismus der Identitatslehre entsprungen ist. Der Vedanta beriick- sichtigt drei verschiedene Kategorieen von Glaubigen und Sittlich-Guten: 1. die Anhanger des altvedischen Opferkultus, 2. die frommen »Verehrer« des als Personlichkeit gedachten »niederen brahman«, 3. die Wissenden, die das »hohere brahman« als All-Einheit »erkannt« haben —• und hat fur die Vertreter dieser drei Klassen je ein besonderes Los in Bereitschaft, wie er auch in jeder Klasse den Schwerpunkt |
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des Sittlichen in ein anderes Verhalten des Menschen setzt.
Wie aber der Atheismus der Identitatslehre die Vollendung der Metaphysik enthalt, so gilt auch die Sittlichkeit seiner Bekenner als die Sittlichkeit par excellence, wahrend dem Wohlverhalten, das sich aus dem, wenn nicht praktisch, so doch sicher theoretisch iiberwundenen, Poly- und Monotheis- mus ergiebt, nur ein vorbereitender Wert zuerkannt wird, als dem Vorhofe, aus dem man in das Allerheiligste des aus- gesprochensten Quietismus gelangt. Diese Reste einer friiher herrschenden Auffassung der Moralitat, die also durchaus nicht als gleichwertig mit der Moralitat der brahma-vidya betrachtet wird, miissen wir vorerst kurz darstellen, ehe wir uns zu jener wenden. —■ 1. Was zunachst die Verehrer des altvedischen Opfer-
kultus anbelangt, fur deren ungelauterte Auffassung des Gott- lichen das Pantheon der Vedahymnen noch nichts von seiner Realitat eingebiisst hat, so giebt iiber ihren sittlichen Wert ihr Handeln, ihre That den Ausschlag; es werden gute und bose Werke unterschieden, so dass, wer Boses veriibt hat, in die qualenreiche Holle verwiesen wird,1) wohingegen der Gute, der verdienstliche Handlungen verrichtet, auf dem so- genannten pitriyana (sc. pantha), dem »Vaterweg« zum Monde emporsteigt, um dort zur Belohnung den Umgang mit den seligen Gottern zu geniessen.2) Diese Ethik ist vollkommener Eudamonismus; sie wendet sich an den Egoismus des Men- schen, nicht ausdriicklich mit Worten, aber der That nach. Dies springt um so deutlicher in die Augen, als wir mit der guten That weiterhin eine neue Erdengeburt unter giinstigen Umstanden verbunden sehen, und demnach ein erfreulicher Lebenslauf, irdisches Wohlsein durch sittliches Wohlverhalten garantiert wird. Um die Moralitat zu fordern, appelliert diese Ethik also durchaus an das natiirliche Verlangen des Menschen nach grosstmoglichem Gluck, nach hochster Be- friedigung. Wir finden sie mithin mit der machtigsten Trieb- feder des Menschen innig verkniipft, mit dem jedem Leben 1) Deussen, Vedanta p. 412 ff. Bose sind: »Thoren, Taumelnde, durch Reichtums
Blendung BIinde.« — Die Vorstellung des *dritten Ortestf, Deussen a. a. O. p. 394, 414 kann hier iibergangen werden. 2) Deussen, a. a. O. p. 390 ff. |
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ureigenen Egoismus, aus dem heraus das sittliche Werk voll-
bracht wird, wenn hier iiberhaupt von Sittlichkeit die Rede sein kann. Um diese Pseudosittlichkeit zu erklaren und ihre Anspriiche zu begriinden, wendet sich der Vedanta thatsach- lich an die Eigenliebe, wenn auch dahin gestellt sein mag, wie weit er sich dieses Verfahrens bewusst geworden istr so dass die Ethik in des Wortes vollster Bedeutung anthropo- logisch basiert wird. Zwar finden wir sie schon mit der im Rig-veda noch unbekannten1) Lehre vom samsara verbunden;, dennoch ist von einer durchgebildeten, eigentlichen Meta- physik hier noch nicht die Rede, nach der der Mensch iiber seinem empirischen, physischen noch ein transscendent-meta- physisches Dasein besasse. — Trotzdem nun aber diese Ethik rein anthropologisch begriindet wird, glauben wir sie doch nicht eine sociale im strengsten Wortsinn nennen zu diirfen. So gewiss es ist, dass handgreifliche Verletzungen bestehen- der socialer Ordnungen, wie Mord, Diebstahl, Ehebruch, Verrat, zu den sittlich verwerflichen Handlungen gerechnet wurden, so lage doch hier nur eine negative sociale Moral vor, die zur Behauptung des Vorhandenseins ihres positiven Gegenstiicks nicht berechtigt. Denn dem Naturmenschen liegt sociale Arbeit zur Konstituierung von Staat und Gesell- schaft als solche fern, und das Interesse an derartigen In- stitutionen wird weit uberwogen durch die Rticksichtnahme auf das personliche Wohl, das sich freilich nicht nur auf das unmittelbare Ich, sondern sogleich auch auf den weiteren Kreis der P'amilie bezieht. Dass aber die Zugehorigkeit zu einem Stamme ebenso lebhaft empfunden wird als die zur Familie, dass sich die Peripherie schaffender Teilnahme auch iiber diesen hinaus erweitert, dazu braucht es einer hoheren Kulturentwickelung hinsichtlich der rechtlichen Begriffe, zu der das indische Volk bei all seinen sonstigen kulturellen Errungenschaften nie sich aufgeschwungen hat. Ist doch die wahre sociale Moral in ihrem Kern erst durch die Ihering- sche Lehre vom Kampf urn's Recht festgelegt worden. Dazu kommt, dass jedenfalls auch Werke rituellen Charakters als |
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1) ib. p. 385.
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moralisch lobenswert betrachtet wurden;1) diesen aber wird
stets ein gewisser asketischer Zug eigen sein, der sich im Almosenspenden und namentlich im Fasten aussert. Und endlich wirkt die rein asketische Sittlichkeit des Quietismus, die wir weiterhin als die eigentliche Sittlichkeit des Vedanta finden werden, vermittelst ihrer unmittelbaren Nahe zu machtig, als dass sich eine wirkliche sociale Ethik frei ent- wickeln kijnnte. 2. Die zweite Klasse sittlicher Naturen wird durch die
Vertreter der »niederen Wissenschaft«, der apara vidya ge- bildet, von jenen tiefer und reiner denkenden Bekennern eines ausgesprochenen Monotheismus, der die alte Gotter- vielheit durch einen allmachtigen Weltschopfer und Welt- erhalter ersetzt hat. Dieser Gott ist nichts anderes als das »niedere«, »attribut-
hafte« brahman, soweit es die Formen einer Personlichkeit angenommen hat, wie wir aus der Darstellung des Atheismus wissen. Wir haben es hier also schon mit Anhangern der brahma-
Lehre zu thun, aber mit solchen, die das Gottlich-Ewige noch nicht im eigenen Selbst, atman, erfasst haben, sondern das- selbe aus sich heraus projiciert und seine immanente Kraft zu einer ausser- und iibermenschlichen Individualist ver- dichtet haben. Der Gott, den sie so ausser sich suchen und finden, muss zwar von einem hoheren Standpunkt aus als nichtig bezeichnet werden, nicht weniger als die Gotterschar der Rigveda-samhita; fur seine Glaubigen jedoch, die sich zur Mystik der Identitatslehre nicht erheben konnen, hat er durchaus Realitat als der icvara, der Herr, der, mit alien hochsten Vollkommenheiten ausgestattet, die Welt in's Leben ruft und im Leben erhalt. Um so viel reiner dieser Monotheismus als der Polytheismus der Vedaglaubigen ist, um so viel subtiler wird sich die Auffassung des Sittlichen gestalten, und wirklich finden wir den sittlichen Process von aussen nach innen verlegt und die That als solche ihrer 1) Der Unterschied zwischen Werkeu, die im Jenseits, auf dem Monde, und solchen,.
die im Diesseits, durch eine neue Geburt vergolten werden, deckt sich keineswegs mit dem Unterschied zwischen rituellen und moralischen Werken. Deussen a. a. O. p. 421. |
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«thischen Bedeutung entkleidet. Man sollte nun denken, dass
liber sittliches Verdienst jetzt eben jene Potenz das ent- scheidende Wort sprechen wiirde, die wir als Norm alles Wohlverhaltens anzunehmen gewohnt sind, die innere sitt- liche Veranlagung namlich, die moralische Richtung des Einzelnen, sein Charakter, sein Wille, dessen blosses Symptom jede That ist. Und ein solcher Fortschritt in's Innere des Menschen nach dieser Richtung hin ist zu sehr von der Natur der Sache geboten, als dass man ihn nicht gethan hatte. So sagt schon der mythische Weise Candilya in der schon verschiedentlich citierten Stelle der Chandogya-Upanishad: »Furwahr aus Willen (kratu = Gesinnung) ist der Mensch ge- bildet; wie sein Wille ist in dieser Welt, darnach wird der Mensch, wenn er dahingeschieden ist; darum moge man trachten nach gutem Willen.*1) Dennoch hat diese Vorstellung die Herrschaft nicht errungen; vielmehr entscheidet iiber den ethischen Wert des Menschen unmittelbar die Beziehung, in der er sich zu seinem Gotte weiss, das mehr oder weniger innige Verhaltnis, in das er sich zu diesem setzt, der grossere oder geringere Glaube, von dem er beseelt ist, die grossere oder geringere Verehrung, die er dem icvara zollt. Hier liegt schon im Keime die quietistische Sittlichkeit der Identitatslehre, die mit der intuitiven Gottesschau zusammen- fallt, die das hochste moralische Verdienst in der unio mystica sucht. Gut ist nicht mehr, wer gut handelt oder guten Willens ist, sondern wer den wahren Glauben hat. — Bei alledem ist diese Ethik nicht weniger als die eben be- trachtete einer roheren Zeit Gliickseligkeitslehre und fusst durchaus im Egoismus. Weil der Lohn des beseligenden Glaubens vor allem darin besteht, nicht mehr wiedergeboren zu werden, so fallt zwar die Aussicht auf ein gliickliches Erdendasein infolge neuer Geburt fort, dafiir aber ist es das eben laufende Leben, das sich dank der Gottesverehrung zu einem gedeihlichen und ungetriibten gestaltet. Wenn dann beim Tode die Seele des Glaubigen durch die Kopfader auszieht,2) so steigt sie iiber den devayana (patha,), d. i. Gotterpfad,3) zu dem geglaubten Gott empor, in das Reich 1) Deussen, Vedanta, p. 163. 2) ib. p. 409 ff. 3) ib. p. 470 ff.
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des attributhaften brahman, wo sie ein Gliick geniesst, das,,
in wesentlich sinnlichen Freuden bestehend, sich nur wenig von der Seligkeit unterscheidet, die Mohammed seinen An- hangern verheisst, und in dem selbst der Geschlechtsgenuss mit jedem gewiinschten Weibe nicht fehlt. Und endlich wird hier die Seele Gelegenheit finden, sich der »universellen Er- kenntnis«, der erlosenden vidya zu bemachtigen, wodurch eben ihre Wiedergeburt verhindert wird. Diese Art der Erlosung nennt die Dogmatik kramamukti, d. i. Stufenerlosung, weil vermittelt durch die Zwischenstufe der himrnlischen Herrlichkeit. Dreifach ist also der Lohn, den die upasana oder Verehrung des aparam brahma mit sich bringt, je nach dem Grade der Intensitat der Verehrung: irdisches Gliick, himmlisches Gliick und kramamukti. So wird also die Ver- ehrung durch die Riicksicht auf das eigene, individuelle Wohl geboten, und als Fundament der Sittlichkeit erscheint offen- kundig auch hier der blosse Egoismus, wodurch die Ethik wiederum eine anthropologische Begriindung erfahrt. Und anders kann sie auch fur den Menschen auf dieser Stufe der apara vidya, nicht begriindet werden. Denn ebensowenig als auf der Stufe des Polytheismus gilt hier die Seele als ein Fremdling auf Erden, der seine ursprungliche, aber ver- scherzte Heimat in einer seligen Einheit mit dem Gottlichen hat. Die einzelnen Seelen sind vielmehr eben so ewig als brahman selbst und auch seit Ewigkeit her von ihm ge- schieden. Aber noch weniger als vorhin sind wir befugt, die immerhin anthropologisch basirte Moral dieser Bekenner des niederen brahman eine sociale zu nennen. Bleibt ja doch das moralische Verdienst auf den rein innerlichen Vorgang des Glaubens und Verehrens beschrankt, so dass der sittliche Process in der Wechselbeziehung zwischen Gott und dem Einzelnen aufgeht, ohne eine solche zwischen Mensch und Mensch festzusetzen. Daher tritt das Sittliche nach aussen auch nur in Werken rituellen Charakters in die Er- scheinung, in Beten, in Fasten, in frommer Meditation, die als Mittel zur Vertiefung des religiosen Gefiihles zu betrachten sind. Denn, wie schon gesagt, die Ethik des Vedanta reisst in ihrem Zuge zu der asketisch-quietistischen Form auch jene |
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anderen sittlichen Bestrebungen mit, die, hatten sie sich frei
entwickeln diirfen, aus ihrer anthropologischen Begriindung heraus bei der socialen Ethik angelangt waxen. — 3. Es ist eine streng logische Deduktion aus den meta-
physischen Grundbegriffen, die das Vedantasystem bei dem nackten Quietismus ankommen lasst. Wir wissen, dass in seiner esoterischen Lehre, von der wir jetzt handeln, der Vedanta einen schroffen Dualismus aufgestellt hat, nicht zwischen Gott und Welt, oder Geist und Materie, sondern zwischen hochster Realitat und Nichtrealitat, Ding-an-sich und Erscheinung, d. h. Wahrheit und Trug. Brahman ist das allein Reale — was immer neben ihm zu existieren scheint, die ganze Ausbreitung der Welt in »Namen und Gestalten«, scheint eben nur zu sein und ist ein Trug. Daraus folgt unmittelbar, dass brahman nicht allein das allein Reale in metaphysischem, sondern auch in ethischem Betracht ist: es ist nicht bloss das allein Wirkliche, sondern auch das allein Gute, wohingegen die Welt als Trug der maya auch in moralischer Beziehung keinen Wert bean- spruchen darf. Alles Handeln ist nur dann als sittlich zu bezeichnen, wenn es sich direkt auf brahman bezieht und muss unumganglich verwerflich sein, wenn es sich auf Ver- haltnisse der nichtigen und wahrhaft unmoralischen Welt der Erscheinung richtet. Durch solche Betrachtung muss alle sociale Moral im Keim erstickt werden. Dazu kommt, dass der Pessimismus jede Kraftbethatigung in der leidvollen Welt dem Fluche der Verganglichkeit und Erfolglosigkeit preis- giebt. Denn wenn wir auch den Pessimismus des Vedanta als eine blosse Schale nachgewiesen haben, hinter der sich eigentlich der Optimismus verbirgt, so hat er doch eben nur unserem kritischen Blick diese seine wahre Natur enthiillt, wahrend nicht zu bezweifeln steht, dass der Vedantist den Pessimismus an den seltenen Stellen, wo er ihn zu Worte kommen lasst, in ganzer Tragweite als vernichtendes Urteil iiber den Wert der Welt auffasst. Aber noch mehr ergiebt sich aus jenem Dualismus:
-nicht allein die Ablehnung alles socialen Thuns, sondern die jeglichen Thuns uberhaupt: der vollkommene Quietismus. |
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Brahman ist absolut von der Welt verschieden, und alle
Pradikate, die dieser zukommen, miissen von ihm ausge- schlossen bleiben, vor allem die Veranderlichkeit, deren Be- griff sich unmittelbar mit dem der Verganglichkeit, also Nichtigkeit deckt. Jegliches Thun aber hat als Ziel eine Veranderung seines Objekts, darum kann also brahman selbst nie Objekt irgend eines Handelns werden, d. h. im Thun jeglicher Art kann nimmermehr das sittliche Wohlverhalten bestehen. Aber auch nicht in der Gesinnung; denn auch diese ist undenkbar ohne eine Thatigkeit, eine solche des Willens namlich. So bleibt von alien menschlichen Grund- kraften allein das Erkennen, zu dessen Resultaten man ohne eigenes Zuthun zu gelangen scheint, weil sie vom Objekt •der Erkenntnis ausgehen. Das Wesen der Sittlichkeit wird daher in einen Erkenntnisakt gesetzt, dessen Objekt brahman ist, in die mystische Intuition, vor der die Welt der Er- scheinung schwindet und die All-Einheit sich darstellt. Der sittliche Process vernichtet den Trug, dem gemass brahman ■sich selbst als eine Vielheit von Individualseelen erschien, und lasst in gelauterter Erkenntnis alle Unterschiede im Selig-Einen untergehen. Der Begriff der Erlosung iiberhaupt ist undenkbar ohne
jenen metaphysischen Dualismus zwischen brahman und der Welt der maya. Erst in Folge dieses Gegensatzes muss die empirische Welt als Statte der Entzweiung und Nichtig- keit erscheinen, erst in Folge dieses Gegensatzes kann der Seele die Aufgabe erwachsen, sich von den Banden der Vielheit zu befreien und die Einheit mit brahman anzustreben. Alles wahrhaft moralische Verhalten hat dieses Ziel vor Augen und empfangt eben daher seinen specifisch ethischen Charakter. Die Identitatslehre im besonderen driickt der Sittlichkeit ihren bestimmten Stempel auf, den des Quietis- mus. Eine jede Seele ist brahman ganz und ungeteilt, und brahman ist das Ding-an-sich, darum weder kartar noch bhoktar, weder handelnd noch geniessend (leidend), weil so- wohl Handeln als Geniessen Vielheit und Veranderlichkeit voraussetzt, indes brahman iiber diese Formen der bloss em- pirischen Realitat hinausliegt. Daher ist also auch die Seele |
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an sich weder handelnd noch geniessend, wie Cankara sagt:
»Das Thatersein kann der Seele nicht von Natur eigen sein, weil dann keine Erlosung moglich ware. Denn ware der Seele das Thatersein von Natur eigen, so gabe es davon keine Befreiung, wie fur das Feuer keine von der Hitze; ohne Befreiung vom Thatersein aber ist die Erreichung des Zieles des Menschen nicht moglich; denn das Thun ist seinem Wesen nach ein Leiden. «x) Erst durch ihre triigerische Ver- einzelung zur Individualseele vermittelst der auf dem Nicht- wissen, der avidya, beruhenden upadhi's oder »Beilegungen« erscheint sich die Seele als kartar und bhoktar. Also beruht alles Handeln, das Thatersein der Seele wie die gesamte Individualitat auf der avidya: »nur der Wahn ist es, der zu allem Thun antreibt,«2) das nur dadurch zu Stande kommt, dass ich meinen Leib, der doch als verganglich nicht mein Selbst ist, dennoch fur mein Selbst halte, ihn und die von ihm getragenen Sinnesorgane.3) Es ist folglich nichtig, wie die Ziele, denen es zustrebt. Der Vedanta kennt daher kein wertvolles Handeln, keine Arbeit, die um ihrer selbst willen zu thun ware, keine kraftfrohliche Gestaltung weltlicher Ver- haltnisse, ihm ist das alles auf dem Truge der maya basirt. Aber auch das rituelle Werk hat keinen wahrhaften Wert. Opfer, Almosengeben, Vedastudium, die gesamten vom Schriftkanon vorgeschriebenen Pflichten haben Bedeutung und Wirksamkeit nur innerhalb des samsara,4) weshalb sie denn auch nach erlangter Erlosung wegfallen. Die Erlosung selbst, auf die der sittliche Lebenswandel abzielt, ist daher nimmer durch irgend welches Werk zu erlangen;5) denn sie ist die Erlosung von der Individualitat, in der jede That unumganglich wurzelt. Sie ist die ewige Frucht der vidya, des Wissens, des samyagdarcanam, der »universellen Er- kenntnis,« wahrend die That, als endlich, nur endlichen Lohn zeitigen kann. In diesem Sinne heisst es: » Gleichwie hienieden der Genuss, den man durch die Arbeit erworben hat, dahin- schwindet, so schwindet auch im Jenseits der durch die guten Werke erworbene Genuss dahin.«6) Ja, der Glaube, 1) Deussen, a. a. O. p. 342. 2) ib. p. 324. 3) ib. p. 58, 192 ff. 4) ib. p. 449.
5) ib. p 434. 6) ib. p. 172. |
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durch Werke der Erlosung teilhaftig werden zu konnen, ist
dieser direkt hinderlich: »In blindes Dunkel fahrt, wer im Nichtwissen lebte,
In blinderes wohl noch, wer nach Werkwissen strebte.«l)
Auch moralische Lauterung wird abgewiesen.2) Die Erlosung
besteht eben in nichts anderem als in dem Innewerden der von Urbeginn bestehenden Identitat der Einzelseele mit dem wonnevollen brahman; im Augenblick der Erkenntnis ist die Erlosung vollbracht.3) — Ist nun durch die heilende vidya die moksha zu Stande
gekommen, so werden alle friiher gethanen Werke vernichtet, d. h. sie, von denen im Zustande des samsara infolge der Lehre vom karman das zukiinftige Geschick des Menschen abhing, werden nun als leere Schatten nachgewiesen, als Gaukelbilder ohne irgend welche Realitat, als durchaus nichtig. Sie haben alle Bedeutung verloren und sind, als ob sie nie gewesen waren. Wie das zugeht, erklart Cankara wie folgt: »Das brahman, welches der von mir friiher fur wahr gehaltenen Naturbeschaffenheit des Thaterseins und Geniesserseins entgegengesetzt ist und seiner Naturbeschaffen- heit nach in aller Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft Nicht-Thater und Nicht-Geniesser ist, dieses brahman bin ich, und darum war ich weder vordem Thater und Geniesser, noch bin ich es jetzt, noch werde ich es jemals sein.«4) Alle friiher begangenen Handlungen zerstieben wie Schaum- blasen, losen sich auf, wenn die moksha den Erlosten mit dem ewigen brahman vereinigt hat, wie schon der — auch von Schopenhauer riibmend citierte5) — Vers der Mundaka- Upanishad besagt: »Wer jenes Hochst-und-Tiefste schaut,
Dem spaltet sicli des Herzens Knoten,6) Dem losen alle Zweifel sich, Und seine Werke werden nichts.< oder ein Vers der Bhagavad Gita:
»Wie Feuers Glut das Holz in Asche wandelt,
So der Erkenntnis Feuer alle Werke.* 1) Deussen, a. a. O. p. 209. 3) ib. p. 435. 3) ib. p. 440. 4) ib. p. 456. 5) W. a^
W. u. V. II p. 697. 6) d. h. der Knauel der upadhi's. 14,
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Alle Werke, nicht nur siindhaftes,1) auch gutes Werk.2)
»Wer solches weiss,« sagt die Brihadaranyaka-Upanishad, »den iiberwaltigt beides nicht, ob er darum (weil er im Leibe war) das Bose gethan hat, oder ob er das Gute gethan hat; sondern er iiberwaltigt beides; ihn brennet nicht, was er gethan und nicht gethan hat.« Wir haben also gesehen, a) worin der sittliche Process besteht, der den Menschen
zur Erlosung fiihrt, nicht namlich in der Lauterung siind- hafter Triebe zu moralischer Vollkommenheit, die sich in Thaten der Gerechtigkeit oder Menschenliebe aussert, son- dern allein in der Erreichung einer intuitiven Erkenntnis, deren Objekt brahman als die absolute All-Einheit ist; b) wie die Erlosung durch Beseitigung aller vorher be-
gangenen Handlungen den Wissenden von den Flecken aller Werke, auch der guten, reinigt, und fragen weiterhin, c) wie der Erloste sich das Bewusstsein seiner Identitat
mit brahman erhalt? Und da ist es a priori klar: wie keine Werke die Erlosung herbeifiihren konnten, so konnen sie auch nicht ihren Besitz garantieren — wodurch der Quietis- mus seinem Gipfelpunkt entgegengefuhrt wird. Fur den Er- losten giebt es durchaus kein Gesetz mehr, wie ein von Cankara angefiihrter Vers der smriti8) sagt: »Der Mann, der an dem Selbst sich freut,
Am Selbste sein Gentige findend
Und seinen Frieden in dem Selbst,
Far den ist keine Pflicht mehr bindend.«4)
Alle die Aufgaben also, die dem Menschen das Leben,
die Allgemeinheit stellen mag, existieren fiir den Erlosten aicht mehr. Er streift alle Bande von sich ab; alle Gebote und Verbote fallen weg fiir den Seligen, der das samyag- darcanam erreicht hat.5) Das ist eben sein »Schmuck und Stolz, dass nach Erkenntnis der Seele als brahman alles Thun-sollen aufhort, sowie auch alles Gethan-haben.«6) Die Familie hat fiirderhin keinen Anspruch mehr an ihn: »Wozu 1) Deussen, a. a. O. p. 455. 2) ib. p. 457. 3) smriti ra Tradition. Dazu rcchnet
<,'ankara vor allem die weltlichen Epen, wie das Mahabharatam nebst dessen Episode der IShagavadgita, und das Gesetzbuch des Manu. 4} Deussen, a. a. O. p. 448. 5) ib. p. 323. <6) ib. p. 87, u. 6. |
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brauchen wir Nachkommen, wir, deren Seele diese Welt
ist?«J) Namentlich sind unter den Geboten, die nunmehr ihre Verpflichtung eingebusst haben, die Forderungen des rituellen Gesetzes verstanden. Cankara sagt dariiber: »Da das Wissen (allein) die Ursache ist, durch welche das Ziel des Menschen erreicht wird, so sind, nach Erlangung dieses Zieles durch das Wissen, die Werke der acrama's8) wie Feueranziinden u. s. w. nicht (weiter) zu beobachten.«3) Der Weise mag nun thun oder lassen, was ihm beliebt,4) die Erlosung ist ein unantastbares Gut, das uber alies irdische Wesen hoch hinausliegt, das auch durch keine Frevelthat mehr geschmalert werden kann. Auch hierfiir seien Belege angefuhrt, ein Spruch der Maitri-Upanishad: »Wie zu dem Berge, der in Flammen steht,
Gazelle nicht, noch Vogel geht, So naht die Siinde, wie man sie auch nennt, Dem Manne nicht, der brahman kennt,«5) und der von CJankara angefiihrte Vedaspruch:
»Das ist des Brahmanfreundes ew'ge Majestat,
Dass er nicht wachst durch Werke und nicht minder wird;
Man folge ihrer Spur, wer sie gefunden hat,
Der wird durch bose Werke weiter nicht befleckt;«6)
denn, »wie an dem Blatte der Lotosbliite das Wasser nicht
haftet, so haftet keine bose That an dem, der Solches weiss.«7) Sonach zeitigt die Erlosung keine Frucht, die auch vom Nachsten mitgenossen werden konnte; sie bringt keine Thaten der Menschenliebe hervor, sie lasst den Heiligen nicht seine Krafte in den Dienst der Allgemeinheit stellen, um die Not der Mitgeschopfe zu lindern. Sie ist ein Zustand, der seine Bedeutung nur fur den Besitzer hat. Und sie wird nicht erlangt durch die natiirliche Sittlichkeit, der gemass der Mensch verliehene Gaben ausbildet und anwendet in freudi- ger Arbeit um weltlich-greifbare Lebenszwecke, nicht durch die positive Sittlichkeit, die sich Ausgestaltung des Daseins zur Aufgabe setzt, die uns im lebendigen Wechselverkehr mit 1) ib. p. 438 f., 448. 2) Ueber die vier grama's, = Uebungstadien, cC Deusscn a.
a. O. p. 17. 3) ib. p. 88 Anm. 49, p. 449. 4) ib. p. 438. 5) E. Hardy: Vedisch-brahma- nische Periode p. 228. 6) Deussen, a. a. O. p. 211. 7) ib. p. 455. 14'
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Unseresgleichen unser Tagewerk treu erfullen heisst, damit
das Geschlecht der Nachgeborenen den Boden geebneter, das Leben leichter finden moge —■ nein, sie wird er- reicht durch die asketische Sittlichkeit des Quietismus, jene verneinende Sittlichkeit, der die Loslosung von der Welt und ihrer Pflicht als einzig erstrebenswertes Ziel er- scheint und das Individuum aus dem allgemeinen Menschen- verband heraushebt. Diese Sittlichkeit heftet den Blick, vor dem jedes kulturelle, sociale Schaffen als nichtig zer- stoben ist, in unverriickbarer Starrheit auf jenes Eine, Unbewegliche, das keiner Aenderung, keiner Entwicklung fahig ist. Der Quietismus lasst die Gestalten der Welt teilnamelos an sich voriiberziehen, ohne sich ihrer zu be- machtigen. In seine Selbstgeniigsamkeit dringt kein Ton werkthatiger Liebe, opfermutigen Mitleids. Da driickt eine schwere, schwiile Luft alle Willensbewegung darnieder, eine todliche Miidigkeit liegt auf allem Wollen, nirgend erhebt sich eine frische, kiihlende Brise, die fur einen befreienden Atemzug Raum schiife. Der lebendige Quell des Blutes, der den Gliedern Kraft verleiht, stockt und versumpft und versiegt. Und das Alles infolge der Verquickung der Ethik mit der Metaphysik. Weil der Vedanta die Seele unmittelbar an der ganzenNatur des ausserweltlichen brahman participieren lasst, muss er das Verstandnis fur immanente Moralitat ver- lieren und alle Bedingungen einer solchen hinter sich lassen. Die Seele und brahman sind schlechthin identisch, von Natur aus, darum kann der sittliche Process nur auf einen in- tellektuellen Vorgang zuriickgehen und sein Ziel, die hochste Bliite aller Moralitat dann erreichen, wenn durch plotzliche Erleuchtung des Intellekts der Schleier der maya durchschaut und die All-Einheit erkannt wird. Brahman selbst ist durch- weg reine, vollkommene Geistigkeit; infolge einer unbegreif- lichen Triibung seiner Geistesklarheit durch die avidya erscheint es sich selbst als in die Vielheit individueller, der Qual anheimgegebener Seelen zersplittert; aber jene Triibung muss wieder der richtigen Erkenntnis weichen, was allein durch einen rein geistigen Akt mSglich ist, durch den Ueber- gang vom Nichtwissen zum Wissen. Ein solcher Uebergang |
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1st nicht zu erzwingen, nicht zu befehlen; »das Nichtwissen«,
sagt Cankara, »wird getilgt durch Belehrung allein,« wahrend alle Befehle, alle Gesetze socialer oder ritueller Art die erlosende Intuition nicht herbeizufiihren vermogen.1) Durch die von der Metaphysik stipulierte innige Verbindung der Seele mit dem rein geistigen, niemals wollenden, niemals handelnden brahman wird der Ethik ihr bestimmter Charakter angewiesen, durch den transscendenten Gedanken der un- bewegten AU-Einheit der Quietismus begriindet. — Die Arbeit, die der Mensch an und in sich zu leisten hat, besteht in der Reinigung seiner Erkenntnis, nicht seines Charakters, in einer intellektuellen, nicht einer moralischen Ertiichtigung.2) Wir wiesen im Paragraphen fiber die Erlosung darauf hin, dass die moksha nicht abhangig gedacht wird von dem, was Schopenhauer »Verneinung des Willens« nennt, dass diese vielmehr als ein blosses Accidens der Erlosung auftritt. Demi infolge ihrer metaphysischen Identitat mit dem nur aus Geistigkeit bestehenden brahman ist die Seele ebenso wenig wollend als handelnd, daher von einer Ertotung un- sittlicher Leidenschaften iiberhaupt keine Rede sein kann, sondern alles vom Erkennen abhangig bleibt. § 25. Metaphysik und Asketlk im Buddhismus.
Die Millionen, die seit Buddhas Auftreten sich zu ihm,
zu seiner Lehre, zu seiner Gemeinde bekannten, haben sich von je uber zwei streng gesonderte concentrische Kreise verteilt, iiber den inneren Kreis der Monche, der Asketen, samana's, und iiber den ausseren der Laien, Verehrer, upasaka's. Wahrend fur den Monch nach dem Vorbilde des brahmanischen Weisen die vollstandige Aufgabe der Heimat und aller hauslichen Bequemlichkeiten und Verpflichtungen, das ziellose Wandern, das Bettelleben conditio sine qua non Avar, verblieben die upasaka's in den natiirlichen Schranken burgerlichen Lebens und berufmassiger Thatigkeit, ohne jedoch von der Forderung monchisch-asketischer Selbstzucht ganzlich frei zu bleiben, so dass wir sie dem Stande der sogenannten Tertiarier vergleichen konnen, die sich den 1) Deussen, a. a. O. p. 225 ff. 2) lb. p. 435.
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christlichen Monchsorden der Franziskaner als weiterer Ring
mit minder strengen Lebensformen anschlossen. Die upasaka's bilden fur die Gemeinde der bhikkhu1) oder Bettler gewisser- massen die Basis, auf der sich jene erhebt; die Gesamtheit wie der Einzelne kann ihrer nicht entraten; denn wenn die Gesamtheit sich vor allem am Zuzug aus den Kreisen der »Verehrer« stiirkt, so bedarf der einzelne Bettler des ein- zelnen Wohlthaters, der ihm Speise und Kleidung reicht und den Erkrankten mit Arzenei versorgt. Die buddhistische Ethik muss demnach auch diese »Hausbewohner«, diese Laienjiinger beriicksichtigen, ihretwegen muss der Quietismus zu einer Art socialer Moral erweitert werden, zu einer An- erkennung gesellschaftlicher Tugenden und Pflichten, wobei man sich freilich hiitet, diese natiirliche Moralitat als gleich berechtigte Schwester neben die asketische zu setzen. Vielmehr hat die natiirliche Sittlichkeit nur soweit Wert, als sie die Grundlage der naturfliichtigen bildet; sie lautert sich zu der Moral der Bettler und Quietisten, der allein wirkliche Be- deutung zukommt. Das Feuer, das diese Lauterung bewirkt, ist die Metaphysik. Die sittlichen Vorschriften des Buddhismus laufen vor
allem auf die Anempfehlung dreier Tugenden hinaus: Recht- schaffenheit, Versenkung und Weisheit.8) Von diesen drei Kardinaltugenden enthalt nur die erste das Wesen der socialen Moralitat, die Rechtschaffenheit, die ihrerseits wieder drei Klassen tugendhafter Handlungen begreift: die ftinffach ge- gliederte eigentliche Rechtschaffenheit (d. h. die Rechtlich- keit), das Wohlwollen und die Wohlthatigkeit. Wir finden also neben den Rechtspflichten auch die Tugendpflichten vertreten, welch letztere in dem Vedanta keineswegs die ihnen gebiihrende Betonung erhalten haben. Demgemass verlangt die Rechtlichkeit die Anerkennung fremden Eigen- tums durch das Verbot des Diebstahls; sie schiitzt die Ehe durch das Verbot des Ehebruchs; sie will Treu und Glauben, diese notwendige Basis alles socialen Zusammenlebens, er- halten und fordern durch das Verbot der Luge; sie erkennt das Recht aller Wesen auf das Dasein an und verbietet den 1) Sanskrit: bhikshu. 2) Oldenberg a. a. O. p. 310 ff.
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Mord, auch den der Tiere. Dann schreitet die Ethik von
den in der fiinffachen RechtschafFenheit oder Gerechtigkeit liegenden Rechtspflichten zu den Tugendpflichten fort und predigt das Wohlwollen gegen alle Geschopfe, die Eintracht, die Toleranz, die freundliche Gesinnung, die sich in der Mildthatigkeit vollendet. Eben diese Tugend ist es, der vor allem die Loblieder der Monchsdichter erklingen, deren Be- thatigung seitens der Laien die besitzlosen Bettler natiirlich auch am meisten schatzen mussten. Offenbar haben wir hier mehr als blosse Ansatze einer socialen Moral, wie denn der Buddhismus trotz seiner Verachtung der Kastenunter- schiede gewisse sociale Bedingungen des Lebens respektierte: die Monchsweihen durften keinem erteilt werden, der sich durch seinen Eintritt in den Orden anderweitigen natiirlichen Pflichten zu entziehen suchte, keinen Soldaten, Leibeignen, Schuldnern, keinen Minderjahrigen, die der Einwilligung der Eltern nicht teilhaft waren.1) Auch in die Zahl der Laien- jiinger wurden Handler mit Waffen, Gift, geistigen Getranken nicht aufgenommen.*) — Fragen wir nun, wo das Fundament dieser socialen Moral liegt, wie man die Anspriiche der natiirlichen Pflichtenlehre motiviert, so ftihrt uns die Antwort zum krassesten Eudamonismus. Ein jeder vollbringt das Gute, weil es zu seinem eigenen Besten dient, weil er von seiner Pflichterfiillung eine unmittelbare Forderung eigenen Wohlseins, eigenen Gliickes erwartet. Was wir fur die Rudimente einer vergangenen Aurfassung des Sittlichen im Vedanta-systeme hochstens erschliessen konnten, thut der Buddhismus naiv, offen, ohne daraus das geringste Hehl zu machen: er begriindet alle Sittlichkeit durch die uns so un- sittlich diinkende Triebfeder des nackten Egoismus. Er weiss, dass man das Gute thut um des Lohnes willen, und das Bose unterlasst aus Furcht vor der Strafe. »Es gehort«,. sagt Oldenberg, »zu den wenigst erfreulichen Ziigen der alt- buddhistischen Literatur, dass sich in ihr eine ganze Samm- lung von Erzahlungen findet (Vimanavatthu), welche das Thema vom Wohlthun als der vorteilhaftesten Kapitalanlage in unermudlicher Wiederholung, genau nach einem und dem- 1) Oldenberg a. a. O. p. 371. 2) ib. p. 411 Anm. I.
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selben Schema von uniibertrefflicher Plumpheit variieren oder
vielmehr nicht variieren.*1) In eben diesem Sinne heisst es im Cariya Pitaka: »Ein Landmann, der ein fruchtbares Feld sahe und keinen Samen darauf streute, wiirde nicht nach Frucht trachten. So auch ich, der ich nach dem Lohn guter Werke begehre, wenn ich ein herrliches Feld des Handelns sahe und nicht Gutes thate, wiirde nicht nach dem Lohn der Werke trachten. «2) Und worin der Gewinn oder Verlust besteht, den man durch sein Thun erlangt, mdge folgende Stelle lehren: »Fiinffach, ihr Hausbewohner, ist der Verlust eines, der Uebles thut aus Mangel an Gerechtigkeit. Erstens gerat er in grosse Armut durch seine Saumseligkeit, zweitens hat er uberall einen bosen Namen, drittens wagt er kaum unter die Menschen zu gehen, viertens ist er voller Angst im Augenblicke des Todes und funftens nach dem Tode wird er in einem unseligen Zustande des Leidens und des Wehes wiedcrgeboren. Fiinffach ist aber auch der Gewinn eines, der Gutes thut durch Ausiiben der Gerechtigkeit. Erstens erwirbt er grosses Vermogen durch seinen Fleiss, zweitens hat er uberall einen guten Namen, drittens getraut er sich in jede Gesellschaft der Menschen zu gehen, viertens stirbt er ohne Angst und schliesslich nach dem Tode wird er in einem seligen Zustande im Himmel wiedergeboren.«8) -— Alles moralische Handeln, soweit es sich in der Welt kund giebt, lasst der Buddhismus daher aus dem Egoismus hervorgehen, wodurch die weltliche Moral wiederurn anthro- pologisch begriindet wird, durch den machtigsten Trieb, der uns alien gemeinsam ist. Unbekummert darum, ob ein solches Handeln im vollsten Sinne ein moralisches zu nennen ist, halt der Buddhismus daran fest, dass naturgemasses Streben nach personlichem Vorteil Quell und Ursprung alles Rechttuns sei. Und diesem Eudamonismus der socialen Moral werden wir in der asketischen wiederbegegnen, aber in ganz besonderer Form. — Die sociale Moral dient, wie schon gesagt, der quietisti-
schen zur Basis; denn ihre Gebote haben im Grunde auch fur den Monch verbindliche Kraft. Aber gleich wird die 1) ib. p. 315 Anm. 2. 2) ib. p. 311. 3) E. Hardy: Buddhismus p. 59.
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flinffache Rechtschaffenheit der Laienjiinger zu einer zehn-
fachen erweitert, indem zu den fiir die upasaka's geltenden Geboten noch fiinf andere hinzugefiigt werden, die dem bhikkhu die Verachtung auch der unschuldigen Freuden des Lebens, der Freude an Musik und Gesang, Kranzen und Wohlgeriichen zur Pflicht machen, sowie auch die Verach- tung aller Annehmlichkeiten, wie eine solche z. B. durch die Ruhe auf bequemem Lager entsteht. Und wenn nun noch dazukommt, dass das Verbot des Ehebruchs durch das Ver- bot jeglichen Geschlechtsgenusses iiberhaupt verdrangt wird, so sehen wir die Rechtschaffenheit in ganz asketischer Weise umgedeutet; die Moral wandelt sich unmittelbar, nachdem sie auf die Monche bezogen wird, aus der socialen in die asketische um. Wir diirfen daher wohl annehmen, dass sie schon in ihrer natiirlichen Form den Keim zu der welt- fltichtigen Askese in sich trug; wie dem in der That auch ist. Wenn die sociale Sittlichkeit auch, wie wir sahen, anthropologisch begriindet ist, so liegt die Gefahr, in die anti-sociale umzuschlagen, ihr darum so nahe, weil sie auf dem Egoismus, auf eben diesem Punkte der menschlichen Natur und auf keinem anderen fusst. Denn dadurch wird eine Kluft des rein praktischen Interesses zwischen der Aussenwelt und dem eigenen Selbst aufgerissen, und alles Handeln innerhalb nattirlicher Grenzen geschieht nicht der Welt, sondern dem eigenen Ich zu Liebe. Die Welt mit ihren Verhaltnissen tritt gegen das Ich in den Hintergrund; sie ist nicht um ihrer Selbst willen Gegenstand der Be- arbeitung, sondern eine jede That, auch wenn sie sich auf Objekte socialer Art richtet, hat nur so viel Bedeutung, als sie zur Forderung und Ausgestaltung des eigenen Ich bei- tragt. Der Ertrag des socialen Handelns fiir den Neben- menschen beschrankt daher seinen Wert auf den eines opus superrogationis und gewinnt bald den Charakter eines Adia- phoron. Von da aber ist es bis zur ganzlichen Verwerfung aller natiirlichen Thatigkeit nicht mehr weit, und der Fort- schritt dazu ist dem Masse, in dem der Egoismus das Ich in den Vordergrund drangt, direkt proportional. Gesellt sich dann noch eine pessimistisch-nihilistische Metaphysik hinzu, |
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die alle weltlichen Daseinsbedingungen dem Lose unaufhor-
lichen Leidens iiberantwortet, so ist der Quietismus vollendet. Wenn wir also den Keim der asketischen Moral schon
in der natiirlichen Ethik entdecken, so wird es uns nicht wundern, auch diese hier und dort asketisch gefarbt zu finden. Ja, wir wiirden selbst dann eine solche Farbung wahrnehmen, wenn jener Keim nicht in der natiirlichen Sitt- lichkeit verborgen lage, darum, weil ohnehin von der weitaus wichtigeren quietistischen Ethik ein verwirrendes Licht auch auf die sociale fallt. So soil auch der »Hausbewohner«, der Laie, der upasaka fasten, keine Kranze tragen, keine Wohl- geriiche lieben, nicht auf bequemem Bette ruhen. Auch er soil eheliches Leben meiden, »als ob's ein Haufen gliih'nder Kohlen war'«, und die Ehe ist nur ein Zugestandnis fiir den Beklagenswerten, der sich zu schwach fiihlt, »zu gehn auf reinen Wegen.x1) Mehr aber als solche Bestimmungen direkt asketischer Art spricht fiir das Vorhandensein einer Atmosphare quietistischer Sittlichkeit in und iiber der natiirlichen Moral das eine, dass der ethische Trieb nicht als eine positive, gestaltende, sondern als eine negative, verhindernde Kraft aufgefasst wird. Dem gemass sind der Verbote mehr als der Gebote; statt: du sollstl heisst es in der Regel: du sollst nicht I Man drangt mehr darauf hin, dass das Bose unter- lassen, als dass das Gute gethan werde. Auch das Gebot des Wohlwollens muss unter dem Gesichtspunkt einer ver- neinenden Sittlichkeit betrachtet werden. Wenn das Christen- tum als hochstes Gesetz aufstellt, den Feind durch Wohlthaten zu iiberwinden, ihn zu lieben, so verbietet der Buddhismus zwar, den Feind zu hassen, ohne aber iiber dieses rein negative Verbot zu einer positiven Norm schaffensfreudiger Liebe hinauszugehen.2) Wir werden auf diesen negativen Zug der socialen Moral, wenn man iiberhaupt jetzt noch von einer solchen sprechen kann, noch einmal zuriickkommen. Als der Buddhismus bei der anthropologischen Be-
griindung seiner socialen Moral ungliicklicher Weise grade auf den Egoismus als das sittlich-verbindende Moment geriet, stellte er dadurch nicht allein die wirklich ethische Bedeutung 1) Hardy: Buddhismus p. 85. 2) Oldenberg a. a. O. p. 312 ff.
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seiner Moralitat in Frage, sondern legte auch den Keim,
aus dem die quietistische Sittlichkeit, den schwachen Neben- schossling der natiirlichen iiberwuchernd, zu vollster Bliite heranwachsen konnte, indem er von vornherein durch Ein- fuhrung des rein praktischen Interesses einen fundamentalen Unterschied zwischen der Person des Subjekts und der Welt des Objekts, zwischen Ich und Aussenwelt zu Ungunsten der letzteren konstituierte. Zu diesem Unterschied tritt ein weiterer, wichtigerer, den die Metaphysik selbst einfiihrt, der niemals auszusohnende Gegensatz zwischen nirvana und samsara. Die Metaphysik hat richtig erkannt, dass alle Zu- stande unter der direkten Einwirkung des Kausalnexus stehen, aber, diese Erkenntnis unberechtigter Weise bis in ihre letzten Konsequenzen verfolgend, hat sie alle Objekte in einen bestandigen Fluss sich folgender Zustande restlos auf- gelost, so dass in ewiger Veranderung sich nichts dauernd erhalt und alles sankharaist, ein Sich-Gestalten, kein Gestaltetes. Und diese Anschauung wird sofort bei ihrem Auftreten pessimistisch ausgebeutet; durch den ruhelosen Wechsel aller Erscheinungen wird ein nie gestilltes Leid und unaufhorliche Qual iiber alle Welt getragen; denn Gliick kann nur im un- gestorten Genuss eines dauernden Gutes liegen, indes in Wirklichkeit sich jeder Genuss unter den Handen verfliichtigt. Die Struktur des Seins begriindet unmittelbar dessen eudamonologische Beschaffenheit, und der Pessimismus steht und fallt mit der Kausalitatsformel. In dem Vedanta wurde durch die metaphysische Idee des brahman die ganze Welt in alien Verhaltnissen zum Schein und Trug herabgedruckt und dadurch das auf die Welt gerichtete Handeln als nichtig erwiesen; im Buddhismus ist dieselbe Welt infolge der un- umschrankten Geltung eines metaphysischen Gesetzes leidvoll, und leidvoll muss daher auch jedes natiirliche Handeln sein. Der Egoismus, der alles Leid flieht, kann daher unmoglich seine Zustimmung zu socialer That geben. Nun tritt das Reich des nirvana in einen schroffen Gegensatz zum Reich des samsara. Gleichviel, ob wir nirvana als das absolute Nichts oder das Sein im hochsten Sinn betrachten, so viel steht fest, dass es das Land der vollkommenen Seligkeit, |
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der stillsten Ruhe, des ungetriibten Friedens ist, in dem das
Kausalitatsgesetz keine Macht mehr hat. Alles Handeln, soweit iiberhaupt von Handeln die Rede sein kann, muss sich demnach auf nirvana beziehen; der sittliche Process muss im nirvana auslaufen und darin bestehen, dass der Mensch sich von den peinigenden Fesseln des samsara mehr und mehr befreit. Er basirt daher im letzten Grunde immer noch auf dem Gliickseligkeitsbedurfnis des Einzelnen, auf dem Egoismus, der aber hier von einem empirischen zu einem transscendenten erweitert wird und nicht mehr, wie beim natiirlichen Handeln, immanentes, sondern metaphysisches Gliick und Wohlsein anstrebt. Das Ich bleibt durchaus im Vordergrunde stehen. In jener oben angefiihrten Trinitat der Kardinaltugenden werden neben der vorbereitenden socialen Tugend der Rechtschaffenheit die eigentlich sittlichen, d. h. quietistischen Tugenden der Versenkung und der Weisheit genannt. Aber zu diesen kann nur der gelangen, der vorher die Pflicht der sittlichen Arbeit an sicb selbst zu Ende gefiihrt hat.1) Diese ist recht eigentlich die Vorhalle, durch die man aus der profanen socialen Moral in das Heiligtum der asketischen gelangt. Auch diese Pflicht erscheint dreifach gegliedert, sie gebietet 1. Beherrschung der Sinne, 2. Wachsamkeit und Aufmerksamkeit, 3. Bediirfnislosigkeit. Hier liegt erst der wahre Angelpunkt, um den die gesamte buddhistische Ethik sich dreht: die Vernichtung des »Durstes«, die ErtQtung des Verlangens, die Verneinung des Willens. In rastloser, un- ermiidlicher Selbstzucht soil man jede Regung natiirlicher Triebe ersticken, angstlich die Thore der Sinne bewachen, dass nichts durch sie eingehe, das irgendwie siindige, qual- bereitende Leidenschaften aufregen konnte. Denn die That als solche ist bloss ausserliches Symptom; ihre wahre Be- deutung gewinnt sie durch den treibenden Willen. Das Be- gehren ist die eigentlich unsittliche Potenz, mit dem, wie die zweite heilige Wahrheit lehrt, das unermessliche Leiden verbunden ist, weil es nach der Welt begehrt, der Statte ewigen Kummers. Der Wille, der an den verganglichen Liisten haftet, der Wille ist es, der sich der wahren Selig- 1) Oldenberg a. a. O. p. 328 ff.
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keit entgegenstellt — in bestandiger Arbeit am eigenen Ich
muss er daher bekampft und unterdriickt werden. Daher sagt Buddha zu dem Versucher Mara: »Wer das Leiden er- kannt hat, woher es stammt, wie mag der Mensch sich dem Begehren zuwendcn? Wer da weiss, dass irdisches Leben eine Fessel ist in dieser Welt, der Mensch moge iiben, was ihn davon frei macht.x1) Weil demnach der Wille ein un- moralischer von Haus aus ist, deshalb sahen wir auch, dass in der socialen Moral die Verbote die Gebote weit iiber- wiegen. Denn der Mensch gilt von Natur als untiichtig zum Guten, und die Sittenlehre muss vor allem darauf hinaus- gehen, seine unsittlichen Triebe zu ziigeln. Es nimmt nicht Wunder, dass Schopenhauer mit einer solchen Auffassung durchaus einverstanden ist. Er sagt, diese prohibitive Moral riihmend: »Die Buddhaisten gehn, in Folge ihrer tieferen, ethischen und metaphysischen Einsichten, nicht von Kar- dinaltugenden, sondern von Kardinallastern aus, als deren Gegensatze, oder Verneinungen, allererst die Kardinaltugenden auftreten.«2) Darum kann auch die buddhistische Ethik das Wohhvollen gegen alle Wesen, das sie verlangt, zu einer werkthatigen Liebe nicht verklaren; denn auch die Liebe ist ein »Haften«, eine Regung des Durstes, des Willens, und als solche unmoralisch und zu unterdriicken. Gelassenheit, Gleichmut —• Stumpfheit ist das buddhistische Ideal. »Die mir Schmerz zufiigen und die mir Freude bereiten, gegen Alle bin ich gleich; Zuneigung und Hass kenne ich nicht. In Freude und Leid bleibe ich unbewegt, in Ehren und Un- ehren; iiberall bin ich gleich. Das ist die Vollendung meines Gleichmuts.«3)--------In Selbsterkenntnis und Selbstpriifung,
in Selbstbewachung und Selbstherrschaft wird der schweren
Pflicht der Arbeit am eigenen Ich geniigt. »Durch dein Ich sporne dein Ich an; durch dein Ich erforsche dein Ich; so wirst du dein Ich wohl bewahrend und wachsam in Seligkeit leben, o Monch. Denn des Ich Schutz ist das Ich; des Ich Zuflucht ist das Ich; deshalb halte dein Ich im Zaum, wie der Handler ein edles Ross.«4) Um die Erforschung de& 1) ib. p. 336. 2) Parerga II § 111 p. 217. 3) Oldenberg a. a. O. p. 321. cf. auch
ib. p. 315 Anm. 1. 4) ib. p. 329. |
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Ich allein dreht sich auch der ganze Kultus, weshalb er auch
so diirftig ausgefallen ist. Alles in allem haben wir hier es sicher, im Gegensatz zum Vedanta, mit einer moralischen Umgestaltung des Charakters zu thun: »Ueberwinden der Ichheit Trotz wahrlich ist hochste Seligkeit.*1) In dieser Umgestaltung liegt der eigentliche sittliche Process; aber es ist nicht zu verkennen, dass er dem Gltickseligkeitbedurfnis des Menschen dient. Nirvana wird nur darum angestrebt, weil es iiber Geburt und Sterben, Alter und Krankheit, Leid und Kummer hinausliegt, also aus Egoismus, aus Riicksicht auf das Ich, das Selbst. Seligkeit, Gliick, Leidlosigkeit, Sitt- lichkeit sind identische Begriffe. Und doch wissen wir, dass es gar kein Ich, kein Selbst giebt. Einerseits wird also an- empfohlen, das Ich alien Ernstes zu suchen, zu bewachen, zu vertiefen; andererseits wird seine Annahme als unstatthaft verworfen. Vier Grundtibel giebt es, die zu iiberwinden hat, wer die hochste Stufe der Vollendung erreichen will: neben der Sinnlichkeit, der Tauschung, der Unwissenheit die Indi- vidualist.2) Und ist nicht das Selbst ein Trug? Ist die Personlichkeit nicht nur ein »Haufen« wandelbarer sankhara's? So bekampft der Buddhismus die Sonderexistenz aus Egois- mus, und seine Ethik lehrt selbstsiichtige Selbstlosigkeit. Wie dem auch sein mag, gewiss ist, dass die buddhistische
Ethik sich im vollkommensten Quietismus vollendet. Durch die Anerkennung der unumschrankten Herrschaft des Kausalitatsgesetzes giebt man die ganze Welt einer pessimisti- schen Beurteilung preis, die durch den Gegensatz zum leid- losen nirvana noch verscharft wird. Der sittliche Wert des Menschen, sein Charakter, seine natiirlichen Triebe konnen sich einer gleichen Wertschatzung nicht entziehen. Darum darf die Sittlichkeit nicht im Handeln liegen, im Handeln, das weltliche Objekte zum Ziel und menschliche Krafte, ausserer oder innerer Art, zur Bedingung hat. Die Sittlichkeit muss vielmehr darin bestehen, dass man, alles wirkliche Wirken unterlassend, sich von der Welt abkehrt, was seiner- seits nur durch gewaltsame Unterdriickung aller Triebe und Affekte moglich ist. In dieser Unterdriickung besteht also 1) ib. p. 129. 2) Hardy; Buddhismus p. U.
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der sittliche Process, der zwischen samsara und nirvana
statthat, den Menschen jenem entfuhrend, diesem annahernd. Das Motiv zu solcher Selbstentausserung wird direkt in die lebendig erfasste, intuitive Erkenntnis des Leidens alles Da- seins gesetzt, so dass es fur den Buddhisten keine hohere Aufgabe giebt, als fur sich dieser Erkenntnis nachzutrachten. Alle Anforderungen weltlicher Lebensbedingungen sind da- gegen nichtig, verschwinden vor dem Auge dessen, der allein auf eigene Heiligung sein Streben richtet. »Ihr Junger,« spricht Buddha, »ich bin von alien Banden gelost, von gott- lichen und menschlichen. Auch ihr seid von alien Banden gelost, ihr Jiinger, von gottlichen und menschlichen.*1) Weib und Haus verlasst der Asket, um als Bettler zu leben, von den Almosen frommer Laien, nicht von dem Ertrage redlicher Arbeit mit Kopf oder Hand. Ackerbau ist verboten: »ein Monch, welcher die Erde grabt oder graben lasst, ist der Busse schuldig.«2) — Die hochsten Tugenden des Monches, durch die er sich der Heiligkeit versichert, sind Versenkung und Weisheit.8) In die Einsamkeit geht er hinaus, in den Wald, den Buddha lobt, in die Bergeshohle, indes Regen- strome den Pfad der Lufte fiillen, und hier, in Weltabge- schiedenheit, halt er Einkehr in das Innere und ruht nicht eher, als bis der Geist, in starrer Kontemplation auf nirvana gerichtet, sich alles realen Inhalts entaussert hat. Und die Weisheit endlich, die Krone, der Siegerpreis alles sittlichen Strebens, ist die Erkenntnis der heiligen Wahrheiten, eine Erkenntnis, die allein dem Wissenden Frucht tragt, die zwar abstrakt, durch Worte anderen mitzuteilen, aber nimmermehr wirklich zu iibermitteln ist. Durch die ausschliessliche Richtung der Sittlichkeit auf
nirvana ist also auch dem Buddhismus der Gedanke an den ■Segen schaffender, freier Thatigkeit verwehrt. Auch fur ihn ist die Welt kein Objekt der Bearbeitung, aber auch nicht eigentlich ein Gegenstand der Verachtung, des Abscheus; •denn dieses wiirde den »Durst« zur Bedingung haben. Die Welt ist ihm gleichgiiltig. Gewiss hat neben religiosen -Motiven diese Indifferenz weltlichen Verhaltnissen gegeniiber 1) Oldenberg a. a. O. p. 142. 2) ib. p. 382. 3) ib. p. 337 ff.
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hauptsachlich dazu beigetragen, dass der Kastenunterschied
keine Beachtung mehr erfuhr, wie andererseits die gleiche Indifferenz den Buddhismus hinderte, die ihm wohl zuge- schriebene Rolle eines socialen Reformators zu iibernehmen. Erhob doch sogar auf ethischem Gebiet die Gemeinde der Monche keinen Einspruch gegen argerliches Leben ihrer eigenen upasaka's.1) Bezeichnend fur den buddhistischen Quietismus ist die Erzahlung, wie Mara, der buddhistische Satan, den Siegreich-Vollendeten dadurch dem Leben und sich wiederzugewinnen sucht, dass er ihm den Gedanken nahelegt, als ein machtiger Konig zu regieren »mit Gerechtigkeit, ohne dass er totet oder toten lasst, ohne dass er Bedriickungen iibt oder iiben lasst, ohne dass er Schmerz leidet oder Anderen Schmerz zufugt« — welchen Gedanken abcr Buddha, mit Entriistung von sich weist.2) Der innere Gewinn, den er fiir sich aus seiner Selbstgeniigsamkeit zieht, und die Hoffnung, durch seine Predigt auch andere zu gleicher Welt- abgewandtheit erziehen zu konnen, steht ihm hoher als der Segen, der sich aus gerechter Regierung iiber ein gliickliches Volk ergiesst. Der socialen Moral will man iiberhaupt bloss: einen vorbereitenden Wert zuerkennen; sie schliesst den Ring der Wanderung nicht auf. Die Bliite aller Moralitat bleibt die Selbstverneinung, und nur ein Monch kann arhat, d. i. Heiliger werden.s) Die weltlichen Tugenden, die man dem upasaka vorschreibt, haben fiir den Monch keine Ver- pflichtung mehr, aber, da man das doch wohl nicht offen eingestehen mag, schiebt man ihnen eine verwandte, asketische unter. So verzerrt man z. B. die sociale Pflicht der Wohl-- thatigkeit zur asketischen Selbstaufopferung, die bereit ist, nicht nur Weib und Kind dem bettelnden Brahmanen hin- zugeben,4) sondern auch das Leben selbst, wie es beides Buddha in seinen Vorexistenzen that, ersteres als Prinz. Vessantara, letzteres als ein Haslein,6) wo er mit seinem Fleisch den Hungrigen speiste. Zum Schluss sei hier noch einer besonderen Seite der
buddhistischen Ethik gedacht, die ihr ebensowenig zum beson- 1) Oldenberg a. a. O. p. 411. 2) ib. p. 336. 3) ib. p. 344, 345. 4) ib. p. 326^
5) ib. p. 327. |
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deren Ruhme gereichen kann als ihre innige Verbindung mit
dem Eudamonismus, des sittlichen Pedantismus namlich, der ihr durchgangig anhaftet und zu jenem in unmittelbarer Be- ziehung steht. Weil man die Willensregungen samt und sonders verdammt und zu ersticken sich beeifert, so ist fur Thaten wirklichen Mitleids und freier Gerechtigkeit nicht eine Triebfeder unwillkiirlicher Gutherzigkeit anzunehmen, nicht ein instinktiver Drang zu helfen, zu schonen, sondern allein die verntinftige Ueberlegung, so dass alles gute Handeln nach vorgefassten Maximen sich entwickelt. »A11 unser Wesen hangt an unserem Denken; das Denken ist sein Edelstes; im Denken hat es sein Dasein.*1) Die grundlose Selbsthingabe in den Akten werkthatiger Liebe ist darum vollkommen aus- geschlossen; wer edel handelt, der weiss, dass solches zum eigenen Besten geschieht, wie sehr bezeichnend die Geschichte vom verstandigen Knaben Lebelang darthut.2) Namentlich aber die oben erwahnte Pflicht der Wachsamkeit auf sich selbst soil in so pedantischer Weise betrieben werden, dass es uns wahrhaft lacherlich anmuten wiirde, wenn nicht eben jenen kleinlich-peinlichen Vorschriften der Aufmerksamkeit auf jeden, selbst den unbedeutendsten Vorgang innerhalb des leiblich-geistlgen Lebens, wie z. B. auf Aus- und Ein- atmen, durch das angstliche Streben nach wahrem Heile ein Heiligenschein fast riihrender Gewissenhaftigkeit verliehen wiirde. Dem gemass verlauft das ganze Leben des Monches in streng geregelten Normen: »So musst du herzugehen, so musst du fortgehen, so musst du hinblicken, so musst du umher- blicken, so musst du deine Glieder einziehen, so musst du sie ausstrecken, so musst du Gewand und Almosenschale tragen.«s) Aus eben diesem Pedantismus heraus wird die Ernsthaftigkeit riihmend eingescharft: »Ernstliafter Sinn zur Ewigkeit leitet, Leichtsinn das Thor des Todes.
erschliesst,
Frei sind vom Sterben ernsthaft Gesinnte, Leichtsinn'ge kaum noch ausser dem Grab.«l)
Eben dahin gehort ferner die durchgangige Katalogisierung
und Klassificierung ethischer Begriffe: vier Grundiibel miissen 1) OMenberg, a. a. O. p. 332. 2) ib. p. 316. 3) ib. p. 384. 4) Hardy: Buddhismus p. 62.
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vermieden, zehn Fesseln gesprengt, fiinf Arten geistiger
Knechtschaft gebrochen, fiinf Arten geistiger Diirre iiber- wunden werden.1) Fiinffach ist die Rechtschaffenheit des Laien, zehnfach die des Monches. Der Gedankensiinden giebt es drei, der Wortsunden vier, der Thatsiinden drei.2) — Auch die Stufen der Versenkung werden methodisch fest- gestellt. Ueberall macht sich ein bewusstes Ausgehen vom Gedanken, vom Begriffe geltend — unmittelbares sittliches Handeln, instinktives Wohlwollen wird verworfen. — Aus unserer Darstellung ergiebt sich, dass die Sittlich-
keit nicht unbedingt ein Verhaltnis zwischen dem weltabge- kehrten Asketen und einem positiven Urprincip aller Er- scheinung konstituieren muss, um die asketische Richtung einzuschlagen; wir wissen, dass der Buddhismus einen meta- physischen Quell alles Seins nicht kennt. Wenn daher der Vedanta sein nirvana in brahman verlegen kann, in das be- stimmtest Nachweisbare, das Ding-an-sich, so muss dagegen der Buddhismus ein solches bloss postulieren, ohne auch nur den geringsten Aufschluss iiber seine Natur geben zu konnen. Das aber hat fur die Entwicklung der Ethik zum Quietismus keine Bedeutung; fur diese ist das eine ausschlaggebend, dass einer nichtigen oder unmoralischen Welt des Diesseits eine selige, lautere Welt des Jenseits iibergeordnet wird, zwischen denen der sittliche Process spielt. Wie im ubrigen jene Welt des Jenseits gedacht wird, ob sie als das Reich des Dinges-an-sich dem der Erscheinungen zu Grunde liegt oder ob sie gar ein Reich des vollkommenen Nichts ist, ist von keinem Belang. — § 26. Metaphysik und Asketik bei Schopenhauer.
In wohl keinem anderen philosophischen Systeme lasst
sich die Behauptung, dass jede sociale Moral anthropologisch begriindet wird, sie dann aber, wenn als letzter Erklarungsgrund die Metaphysik herangezogen wird, unausbleiblich und augen- blicklich in die quietistischeWeltfluchtumschlagt, so einleuchtend erweisen als in der Philosophie Schopenhauers, nicht allein aus dem inneren Grunde ihresGedankenganges, sondern auch infolge 1) ib. p. 61. 2) ib. p. 66.
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des rein ausserlichen Umstandes, dass Schopenhauer seine
Ethik vornehmlich an zwei Stellen dargestellt hat und zwar jedes Mai von ganz verschiedenen Gesichtspunkten aus, so dass, was in der einen Darstellung die Hauptaufmerksamkeit auf sich ziehen soil, in der anderen kaum gestreift wird. In seinem Hauptwerk kam Schopenhauer von seinen meta- physischen Voraussetzungen, auf denen er synthetisch die Ethik aufbauen konnte, weshalb diese in volliger Weltver- neinung und ausgesprochenem Quietismus ihre Vollendung findet, ohne der weltlichen Moral die ihr gebiihrende Stellung zu gonnen; die Preisschrift: »Ueber das Fundament der Moral« hingegen muss, von keinerlei Metaphysik unterstutzt, direkte Thatsachen der Menschennatur zu Grunde legen und gelangt dank dieser anthropologischen Begriindung zur socialen Moral oder wenigstens zu einer nahverwandten Schwester der socialen Moral, den Quietismus kaum erwahnend. — Wir wenden uns zunachst zu der Behandlung der Ethik in der genannten Preisschrift, um zu zeigen, wie Schopenhauer alien Ernstes seine sociale Sittlichkeit anthropologisch erklart, um dann zu sehen, wie diese sich zur asketisch-quietistischen aus- wachst, sobaid das urspriinglich Begrtindende selbst als ein Zu- Begriindendes, metaphysisch Zu-Begriindendes aufgefasst wird. Trotz aller Einwendungen, sagt Schopenhauer, die immer die Skepsis gegen die Annahme einer wirklich vorhandenen Moralitat erheben kann,1) giebt es unbedingt Handlungen von specifisch moralischem Werte. Es ist das ein unum- stossliches Faktum fur ihn; ja, es ist sogar ein Faktum, »dass, trotz der grossen Religionsverschiedenheit auf Erden, der Grad der Moralitat, oder vielmehr Immoralitat, durchaus keine jener entsprechende Verschiedenheit aufweist, sondern, im wesentlichen so ziemlich iiberall derselbe ist.«2) — Wenn wir also das Vorkommen moralischer Handlungen aner- kennen, so geht unsere nachste Frage dahin, was es denn sei, das diese Handlung zur guten, moralischen, und jene zur schlechten, unmoralischen stempelt, und jedenfalls muss, eben wie nach Buddha, diese entscheidende Potenz in der Gesinnung liegen, aus der die Handlungen entspringen, in 1) Ethik § 13, p. 186 ff. 2) ib. p. 233.
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der Absicht, dem treibenden Motiv. — Moralisch ist nun
nach Schopenhauer jede That nur dann, wenn sie nicht aus dem Egoismus entspringt. Er sagt: »Als das Eigentiimliche und Charakteristische derselben (der guten Handlungen) finden wir die Ausschliessung derjenigen Art von Motiven, durch welche sonst alle menschliche Handlungen hervorgerufen werden, namlich der eigenniitzigen, im weitesten Sinne des Wortes.K1) Egoismus und moralischer Wert einer Handlung schliessen einander schlechthin aus. — Hier sehen wir einen grossen, fundamentalen Unterschied zwischen Schopenhauer und der indischen Philosophic, namentlich dem Buddhismus. Dieser letztere lasst, wie wir gesehen haben, die Selbstsucht das richtende Wort iiber die sittliche Bedeutung einer That sprechen, als hatte er sich zu Nutze gemacht, was Schopen- hauer iiber die Entstehung des Begriffs des Guten sagt, dass wir ursprimglich gut eben nur das nennen, was unserem in- dividuellen Willen dienlich ist.2) Schopenhauer hingegen will durch die Entdeckung eines egoistischen Motivs, wenn es das einzige war, den moralischen Wert einer Handlung ganz aufgehoben, und wenn es accessorisch wirkte, ihn geschmalert wissen. —- Aber sollte dieser Unterschied nicht ein bloss ausserlicher sein, wahrend der Kern der Sache der gleiche ist? Wir werden auf diese Frage die iiberraschende Antwort erst am Schlusse geben und halten uns zunachst an die vorab nicht zu missdeutenden, klaren Worte Schopenhauers, nach denen jeder Eudamonismus keinen sittlichen Wert bean- spruchen darf und kann. — Das negative Kennzeichen aller Moralitat ist also: volliger Ausschluss der egoistischen Motive, woraus sich als positives Merkmal ergiebt, dass moralisches Verdienst nur dann erworben wird, wenn der aktive Teil bei seinem Handeln oder Unterlassen ganz allein das Wohl und Wehe eines Anderen im Auge hat. Es »kann die mo- ralische Bedeutsamkeit einer Handlung nur liegen in ihrer Beziehung auf Andere: nur in Hinsicht auf diese kann sie moralischen Wert oder VerwTerflichkeit haben und demnach eine Handlung der Gerechtigkeit oder Menschenliebe, wie auch das Gegenteil beider sein.«3) Alle Moral oder Unmoral 1) ib. p. 204. 2) W. a. W. u. V. I p. 425 ff. 3) Ethik p. 206.
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ist daher altruistisch und so recht eigentlich social und nur die-
ses, indem sie das friedliche Zusammenwohnen der Menschen bezweckt resp. verhindert, die Basis des erspriesslichen Zusam- menwirkens. Alle Moral ist social; ja, Schopenhauer geht sogar so weit zu behaupten, dass nur da von Immoralitat zu reden sei, wo ein Anderer wirklich geschjidigt wird — dort, wo der Nachste keine greifbare Beeintrachtigung erfahrt, hat sich nichts Unmoralisches ereignet. Fiir unreine, niedrige, boshafte Gedanken und Wiinsche ist nach Schopenhauer der Mensch nicht verantwortlich; sie diirfen sein Gewissen nicht belasten.1) Denn, so heisst es an anderer Stelle,3) sie deuten bloss an, was der Mensch iiberhaupt, nicht was das den Wunsch fiih- lende Individuum zu thun fahig ware. »Daher beschweren, bei gesundem Gemiite, nur Thaten das Gewissen, nicht Wiinsche und Gedanken.« Damit setzt sich Schopenhauer nun in offenbaren Widerspruch zu der sonst von ihm mit Eifer vertretenen Ansicht, dass nur Wunsch, Streben, Ge- sinnung iiber den moralischen Wert des Menschen entscheiden, wenn er z. B. sagt: »Weil in der Moral der Wille, die Ge- sinnung der Gegenstand der Betrachtung und das allein Reale ist, gilt ihr der feste Wille zum zu veriibenden Un- recht-------------dem wirklich verubten Unrecht ganz gleich,
und sie verdammt den solches Wollenden als ungerecht vor
ihrem Richterstuhl.«3) Dieser Widerspruch lasst sich nicht dadurch beseitigen, dass man einen Unterschied zwischen augenblicklichem Affekt und bestandiger Willensrichtung macht, der unbedingt fundamental sein miisste, wogegen aber die Thatsache spricht, dass jeder Affekt, er sei von noch so kurzer Dauer, in sich selbst die Kraft tragt, zu un- ausrottbarer Leidenschaft anzuwachsen —■ weshalb auch er als siindhaft zu beklagen ist, und so geschieht es denn oft genug vom Gewissen sittlich sensitiver Menschen, auch bei »ge- sundem Gemiite«. Wie dem aber auch sein mag, wir sehen, dass Schopenhauer zuweilen geneigt ist, nur der verletzen- den That, nicht dem verletzenden Gedanken moralische Be- deutsamkeit beizumessen, wodurch die Moral, als im fak- |
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1) Ethik p. 169. 2) W. a. W. u. V. I p. 354. 3) ib. p. 406.
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tischen Verkehr der Menschen allein hervortretend, socialeri
Charakter annimmt. Die Moral nun, deren Handlungen durch ihre blosse
Definition, wie wir sehen, als sociale gedeutet werden, muss nun nach Schopenhauer anthropologisch begriindet werden. Alle Begriffe, so ist seine Meinung, die nicht eine gultige Beglaubigung aus dem Wesen der menschlichen Natur oder dem der objektiven Welt beigebracht haben, die irgend aus anderer Quelle geschopft sind, etwa aus der theologischen Moral und dem Dekalog, sind in der philosophischen Ethik Fremdlinge und werden hinausgewiesen. Dazu kommt, dass die moralische Triebfeder, weil sie den ihr entgegenstehen- den Egoismus bekampfen soil, ebenso real wie dieser sein muss, von dem wir wissen, dass er mit dem innersten Kern des Menschen auf's festeste verbunden, ja sogar mit ihm identisch ist. Demgemass weist Schopenhauer als Fundament alles Wohlverhaltens einen unmittelbaren Grundtrieb der menschlichen Natur nach: im Mitleid. Das Mitleid ist nach ihm keine aus der Luft gegriffene Behauptung, keine aprio- ristische Seifenblase gleich dem Kantischen Sittengesetz, sondern es ist »eine unleugbare Thatsache des menschlichen Bewusstseins, ist diesem wesentlich eigen, beruht nicht auf Voraussetzungen, Begriffen, Religionen, Dogmen, Mythen, Erziehung und Bildung; sondern ist urspriinglich und un- mittelbar, liegt in der menschlichen Natur selbst, halt eben deshalb unter alien Verhaltnissen Stich, und zeigt sich in alien Landern und Zeiten; daher an dasselbe, als an etwas in jedem Menschen notwendig Vorhandenes, iiberall zuver- sichtlich appelliert wird, und nirgends gehort es zu den "fremden G6ttern". Hingegen nennt man Den, dem es zu mangeln scheint, einen Unmenschen; wie auch "Menschlich- keit" oft als Synonym von Mitleid gebraucht wird.«') In Wirklichkeit ist aber, so verschieden auch die moralische Veranlagung der Menschen sein mag, keiner unter alien ganz vom Mitleid entblosst.2) Wohl ist der Vorgang des Mitleids ein Mysterium, und doch ein alltaglicher,8) so dass er seine entschiedene und wahrhaft wundersame Wirksamkeit »zu 1) Ethik. p. 213. 2) ib. p. 201, 252 u. 5. 3) ib. p. 229.
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alien Zeiten, unter alien Volkern, in alien Lagen des Lebens,
auch im gesetzlosen Zustande, auch mitten unter den Graueln der Revolutionen und Kriege, und im Grossen wie im Kleinen, jeden Tag und jede Stunde«') aussert. — Wenn also Schopenhauer die Bahnen, in denen der sittliche Process verlauft, durch die natiirliche Veranlagung des Menschen bestimmt sein lasst, und in Sonderheit alles Wohlverhalten auf die Triebfeder des Mitleids zuriickfiihrt, so hat er da- durch, wie er sich mit Befriedigung bewusst ist, die Ethik anthropologisch begriindet, die eben deshalb eine sociale zu nennen ist, indem sie das Verhalten des Menschen zum Nebenmenschen normiert. Zwei Tugenden gehen unmittelbar aus dem Mitleid hervor: die freie Gerechtigkeit und die Menschenliebe. Die nahere Ausfiihrung, wie diese Tugenden sich aus dem Mitleid entwickeln, konnen wir hier iibergehen; es ist klar, dass das Mitleid nicht allein mich abhalt, einem Anderen Unrecht zuzufiigen, sondern auch, diesen negativen Charakter durch einen positiven iiberwindend, mich antreibt, dem Notleidenden thatkraftige Hiilfe angedeihen zu lassen. Die Gerechtigkeit achtet aus rein moralischem Antrieb das Eigentum eines Jeden im weitesten Sinne und bildet so die Basis, auf der sich allererst der Verkehr der Menschen unter- einander nach alien Richtungen hin entfalten kann; die Menschenliebe sucht offenkundige Leiden zu lindern und ist in unermudlicher Arbeit bestrebt, das Los der Gesamtheit dadurch zu bessern, dass sie moglichst vielen Individuen die Biirde des Jammers erleichtert. Auf menschlich-reale Zwecke gerichtet, aus menschlich-realen Grundkraften entsprungen, spielt der sittliche Process lediglich zwischen dem Menschen und Menschen. Die sociale Ethik ist anthropologisch be- griindet. — Die Schopenhauer'sche Ethik, auf diesem Standpunkt
mit der indischen verglichen, muss fraglos vor dieser den Preis davon tragen. Der riihrende Zug des Mitleids, aus dem Schopenhauer alle Handlungen von sittlichem Wert hervorgehen lasst, ist bei den Indern ohne Bedeutung. Der Vedanta erklart jedes Leid fur nichtig, jede Qual fur illuso- 1) ib. p, 235.
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risch; wie konnte er daher dem Mitleid diese Schopenhauer-
sche fundamentale Wichtigkeit beimessen? Ihm ist es ein Wahn zu leiden, wenn andere leiden;1) ihm wird die in jedem Schmerz liegende Tauschung besonders dann deutlich, wenn der Schmerz iiber den Leib hinausgeht, bei dem Anblick der Leiden selbst von eigenen Kindern und Freunden.2) Und auch das buddhistische »Wohlwollen gegen alle Wesen« ist weit davon entfernt, sich mit dem wahren Mitleid zu decken. Dieses wird vielmehr als ein unsittlicher Trieb aufgefasst; denn es gehort den Regungen des »Durstes« an. Demge- mass heisst es im Sutta Nipata: »Wer mit Freunden und Vertrauten Mitleid hat, verliert (seinen) Vorteil (aus den Augen), indem er einen gefesselten Geist hat.«3) Von lauterer Menschenliebe ist keine Rede; das Dhammapada verlangt geradezu: »Vermeide Liebe filr irgend etwas zu hegen, dessen, Verlust
Schmerzt allezeit. Wer Liebe und Hass nicht kennt, nur der steht fessellos da.«4)
Der Buddhismus leitet, wie wir wissen, alle Moralitat
allein aus der verniinftigen Ueberlegung ab, und eben gegen diese Verbindung von Tugend und Reflexion erklart sich Schopenhauer auf das Entschiedenste, indem verniinftig han- deln noch bei weitem nicht tugendhaft handeln ist.5) Er verwirft die bekannte Forderung Kants, dass jede moralische Handlung aus reiner iiberlegter Achtung vor dem Gesetz und nach dessen abstrakten Maximen, kalt und ohne, ja gegen alle Neigung geschehen solle,6) und muss daher auch den Pedantismus der buddhistischen Ethik verwerfen. Be- griffe und Grundsatze betrachtet er nur als ein Reservoir, in das sich die Quelle aller Moralitat ergiesst,7) aus dem vollig vernunftlosen, instinktiven Gefuhle des Mitleids heraus. Auf das Mitleid als ihr Fundament hat also Schopen-
hauer die Moral zuruckgefuhrt; dieses ist ihm, wie er mit einem von Goethe entliehenen Ausdruck sagt, das Ur- phanomen. Aber doch nur Phanomen, d. h. empirische Er- |
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1) Deussen, Vedanta, p. 448. 2) ib. p. 322. 3) E. Hardy: Buddhismus, Anm. 59
(zu p. 23). 4) ib. p. 64. 5) W. a. W. u. V. I p. 69; p. 434 ff. p. 320; W. a. W. u. V. II p. 163 ff. Ethik p. 150 ff. u. o. 6) W. a. W. u. V. I p. 623 ff. 7) Ethik p. 214. |
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scheinung, die als solche weiterhin einer metaphysischen
Deutung fahig und bediirftig ist. Wird diese Deutung ge- geben, so wird alle Moral metaphysisch begrOndet und muss, wie sie es weiterhin thatsachlich thut, in Weltflucht und Quietismus auslaufen. — Mehrfach betont Schopenhauer, dass, wie z. B. die Naturwissenschaft zur Erklarung der als qua- litates occultae bei allern empirischen Forschen zuletzt stehen bleibenden Krafte der Metaphysik nicht entraten kann, so auch die ethische Disciplin erst dann ihre Aufgabe vollstandig gelost hat, wenn die zu aller Moralitat treibende, ihrem eigentlichen Wesen nach aber immer noch unbekannte Kraft des Mitleids eine rein metaphysische Deutung erhalt. Nach ihm »muss in der Philosophic das ethische Fundament, wel- ches es auch sei, selbst wieder seinen Anhaltspunkt und seine Stiitze haben an irgend einer Metaphysik, d. h. an der gegebenen Erklarung der Welt und des Daseins iiberhaupt; indem der letzte und wahre Aufschluss uber das innere Wesen des Ganzen der Dinge notwendig eng zusammen- hangen muss mit dem uber die ethische Bedeutung des menschlichen Handelns, und jedenfalls dasjenige, was als Fundament der Moralitat aufgestellt wird, wenn es nicht ein blosser abstrakter Satz, der, ohne Anhalt in der realen Welt, frei in der Luft schwebt, sein darf, irgend eine, entweder in der objektiven Welt, oder im menschlichen Bewusstsein ge- legene Thatsache sein muss, die, als solche, selbst wieder nur Phanomen sein kann und folglich, wie alle Phanomene der Welt, einer ferneren Erklarung bedarf, welche dann von der Metaphysik gefordert wird.s1) Und urn so mehr, als nach Schopenhauer in jeder wirklich moralischen Handlung etwas liegt, das uber diese empirische Welt hinausdeutet. Eben dadurch erhalt eine That ihren ethischen Charakter, dass sie sich iiber das erscheinende Dasein hinaus erstreckt, der Ewigkeit angehort und mit dem ganzen Dasein der Welt und dem Lose des Menschen in engster Beziehung steht.8) —■ Schon in dieser Auffassung der Ethik sehen wir ihre Wendung zu einer weltfliichtigen Sittlichkeit vorbereitet. Denn wahrend der socialen Moral die That sich nur durch ihre 1) Ethik p. 109. 2) ib. p. 260ff.
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Beziehung auf die reale Welt und deren Verhaltnisse als
sittlich dokumentiert, nimmt nach der asketischen Ethik das Sittliche seinen specifischen Charakter aus einer anderen Welt als der der Erfahrung, auf die es keinen Bezug hat — wie es Schopenhauer eben von jeder Moralitat verlangt. Der Vedanta konstruierte einen vollkommenen Gegen-
satz zwischen empirischem, relativem Dasein einerseits und transscendentem, absolutem Dasein andererseits; der Buddhis- mus einen solchen zwischen Dasein uberhaupt und Nicht- Dasein; Schopenhauer hat beide Gegensatze in seiner Philo- sophic vereinigt und unterscheidet 1. die Welt in ihrer bloss empirischen Realitat von der Welt des Dinges-an-sich, wie der Vedanta, und 2. die Welt der Willensbejahung von der Welt der Willensverneinung, also wie der Buddhismus das Dasein uberhaupt von dem Nichtsein uberhaupt. Im Gegen- satz zur Willensverneinung besagen Willensbejahung, Ding an-sich, Welt der Erscheinung dasselbe, sind sogar identisch, indem wir das Ding-an-sich, den Willen gar nicht anders als sich bejahend denken konnen, wodurch die Welt der Er- scheinung sofort gesetzt ist, unter sich aber treten sie wieder in zwei schroffe Gegensatze auseinander, in die Welt der Erscheinung, der die Vielheit, und die Welt des Dinges-an- sich, der die Einheit eignet, indes die Bejahung Charakte- ristikon beider ist. Daher also der doppelte Gegensatz, der drei iibereinanderstehende Stufen erzeugt: Sein in der Viel- heit, Sein in der Einheit, Nichtsein (oder Sein in einer uns total unbekannten und nie zu ergreifenden Form). Der Gegensatz der ersten und zweiten Stufe ist der vedantistische, der der zweiten und dritten der buddhistische. Dieser dop- pelte, an sich rein metaphysische Gegensatz wird nun ethisch verwertet, der Art, dass das Mitleid, die Quelle aller so- cialen Moral, aus dem Gefiihl des ersten, die Askese, die Sittlichkeit des Quietismus, aus dem des zweiten Gegensatzes entspringt, wie wir nun im Einzelnen zeigen wollen. 1. Dem Ding-an-sich, dem Willen, steht die Erscheinung
gegeniiber. Wahrend der Wille nur Eines ist, ist die Er- scheinung, weil sie erst durch den Intellekt und das prin- cipium individuationis moglich wird, eine vielheitliche. Der |
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Wille ist nur Eines, aber seine Erscheinungen sind gesondert,
getrennt, unzahlbar, sehr verschieden, ja entgegengesetzt, und jede von ihnen muss, sobald sie nur mit Bewusstsein verbunden ist, sich allein fur real halten. Denn einmal ent- halt sie sowohl den ganzen Willen als auch den ganzen In- tellekt, dann aber sind ihr die iibrigen Erscheinungen eben nur als solche gegeben, so dass sich jedes Individuum seiner selbst ganz unmittelbar, aller anderen Individuen aber bloss mittelbar, gewissermassen als schattenhafter Phanomene be- wusst ist. Aus dieser irrigen Betrachtungsform entspringt der Egoismus. Jeder will nun alles fiir sich, will alles be- sitzen* wenigstens beherrschen, und was sich ihm widersetzt, mochte er vernichten; denn jeder glaubt in seiner Person die gesamte Realitat vereinigt zu haben.1) Und doch sind die anderen Individuen in metaphysischem Sinne nicht nur ebenso real wie er selbst, sondern sogar vollstandig identisch mit ihm. In alien Individuen steckt ja nur der eine, ewig gleiche Wille als Ding-an-sich, das ureigenste Wesen des Einen ist genau dasselbe wie das des Anderen, und die Trennung der Individuation, die der Egoist fiir absolut wirk- lich halt, ist faktisch nicht vorhanden. »Tat tvam asi!« Wer nun die Thatsache der Wesensidentitat nicht im tiefsten Ge- mote erfasst, muss unumganglich egoistisch, d. h. unmoralisch handeln, und wird, um dem Uebel, dem Leiden am eigenen Ich zu entgehen, das Bose nicht scheuen, indem er Leiden am fremden Ich verursacht. Nicht so der Gute. Dieser, im principium individuationis nicht mehr befangen, erkennt intuitiv hinter der nichtigen Vielheit der Individuen die tief- innerliche Identitat, erkennt sich in allem wieder. Und wie er theoretisch-intuitiv sein Ich mit alien fremden identificiert,. so auch praktisch im Akte des Mitleids, das eine ganz un- mittelbare Teilnahme am Leiden des Nebenmenschen ist„ weil dieses im Grunde ihn selbst trifft. — Schopenhauer er- klart also die wunderbare Thatsache des Mitleids unmittel- bar durch die transscendentale Wesensidentitat, und alle Moral beruht folglich nach ihm auf dem intuitiven Durch- schauen des principiums individuationis, das in seiner Intensitat 1) W. a. W. u. V. I p. 391 ff.; II p. 688 ff. Ethik p. 197.
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gar verschiedene Grade durchlaufen kann, vor allem aber
zwei Stufen deutlich unterscheiden lasst: a) Wer das principium individuationis so weit durch-
schaut, oder mit anderen Worten, wer so weit dem Mitleid zuganglich ist, dass diese Erkenntnis, seinem Egoismus ent- gegenwirkend, ihn abhalt, Leiden iiber andere zu verhangen, um sein eigenes Wohlsein zu vermehren, besitzt darin die Tugend der Gerechtigkeit, deren Grundsatz lautet: neminem laede. Hier wirkt das Mitleid negativ. b) Wer das principium individuationis in noch hoherem
Grade durchschaut, in noch hoherem Grade fur das Mitleid empfanglich ist, so dass er zum Wohlwollen und Wohlthun, zur Menschenliebe sich gedrangt fiihlt, besitzt die hohere Tugend der caritas, der christlichen Nachstenliebe, deren Grundsatz lautet: omnes, quantum potes, iuva. Hier wirkt das Mitleid positiv.1) 2. Die wahre Sittlichkeit liegt aber in den Tugenden
der Gerechtigkeit und Menschenliebe noch nicht beschlossen; diese gehoren immer noch dem Reiche der Bejahung an, wenngleich schon ein Abglanz der iiberirdischen Herrlichkeit auf sie fallt, die ausgeht von der nicht nur einzig ethischen, sondern auch iiberhaupt einzig existierenden That der Willens- verneinung. Wir gehen hier zu der Darstellung der Ethik im Hauptwerk iiber, wo Schopenhauer, synthetisch ver- fahrend, die Ethik aus der Metaphysik ableitet. Demgemass finden daselbst die socialen Tugenden der Gerechtigkeit und Menschenliebe, denen die ganze Abhandlung iiber das Fun- dament der Moral gewidmet war, eine verhaltnismassig sum- marische Erledigung im Gegensatz zum Quietismus, dessen Darstellung den breitesten Raum einnimmt. Das Mitleid, in jener Preisschrift das Urphanomen, wird im Hauptwerke nur beilaufig erwahnt.2) Wahrend die »bloss moralischen Tugen- den*3) eine Verbindung zwischen den Erscheinungen und ihrem gemeinsamen Ursprung setzen, fuhrt die hochste sitt- liche That aus dem Gebiet dieses Ursprungs alles Daseins in ein vollkommen andersgeartetes Reich, das in alle Ewig- i) W. a. W. u. V. I p. 437 ff. Ethik 212 ff. 2) W. a. W. u. V. I, § 67, p. 443.
3) Parerga II, p. 336. |
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keit uns schlechthin unbegreiflich bleiben wird. Diese That
ist das Uebergehen des Willens als Ding-an-sich in einer seiner Erscheinungen aus der Form der Bejahung in die der Verneinung, wodurch, da Bejahung sein eigentliches Wesen ist, er sich selbst aufhebt, sich selbst vernichtet. Hier ist die hochste Form des Quietismus erreicht: das die Welt konstituierende Princip giebt sich selbst auf, im Hinblick auf einen besseren Zustand, vielleicht des Nicht-Seins. Diese Selbstvernichtung kann darum im einzelnen Individuum vor sich gehen, weil ein solches ja den ganzen Willen zum Leben enthalt. Ihr Anlass ist der deutliche Einblick des Willens in das eigene Wesen, das von Grund aus verderbt und darum unendlichem Leiden ausgesetzt ist; das Mittel zur Erreichung ihres Zieles die bestandige Unterdriickung im Willen des Einzelnen durch diesen selbst. Die hochste sitt- liche Aufgabe ist es also, den vollkommen unmoralischen Urwillen seiner Vernichtung entgegenzufiihren, weil nur durch diese eine Befreiung von aller Siinde und allem Leiden mdg- lich ist. Da aber gemass der Identitatslehre der Urwille auch immer der Wille des Einzelnen ist, so ergiebt sich fur diesen als einzig sittliche Verpflichtung, seinen personlichen Willen zu unterdriicken, in hartnjickiger Selbstzucht alles Verlangen, Streben, Sehnen, Hoffen zu ersticken, alle Triebe zu dampfen. Damit geht die Abkehr von der als unlauter und unselig erkannten Welt Hand in Hand; die sociale Ar- beit gilt als unmoralisch, als sittlich allein die Arbeit am Ich, die Lauterung des Selbstes von alien natiirlichen Leiden- schaften. Der ethische Process spielt sich somit im Inneren des Einzelnen ab und bezweckt die Abkehr von der Natur zu einer vollkommen verschleierten Uebernatur, von der man nur weiss, dass in ihr Ruhe winkt. So steht zuletzt, nach- dem der Kern seines Wesens geschwunden ist, der Mensch als inhaltleere Hiilse da, die beim Tode zerbricht und zer- staubt — wohin? Es giebt keine Antwort auf solche Frage. Wir sehen, Schopenhauer ftihlt nicht den faustischen Mut in sich »— sich in die Welt zu wagen,
Der Erde Weh, der Erde Gliick zu tragen,
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Mit Stilrmen sich herumzuschlagen,
Und in des Schiffbruchs Knirschen nicht zu zagen,« —
er sagt vielmehr, in echt indischem Quietismus befangen,
geradezu: »Ohne Ruhe ist durchaus kein wahres Wohisein moglich.K1) Und an anderer Stelle: »In einer solchen Welt, wo keine Stabilitat irgend einer Art, kein dauernder Zustand moglich, sondern Alles in rastlosem Wirbel und Wechsel begriffen ist, Alles eilt, fliegt, sich auf dem Seile, durch stetes Schreiten und Bewegen, aufrecht erhalt, — lasst Gliick- seligkeit sich nicht einmal denken. Sie kann nicht wohnen, wo Platon's "bestandiges Werden und nie Sein" allein Statt findet.«2) Das ist wirklich echt buddhistisch gesprochen. Und so behauptet er weiter, dass keine Philosophie das Thema des Quietismus dahingestellt sein lassen darf; dass jede Philo- sophie, die diese ganze Denkungsart verwirft, schon dieser- halb notwendig falsch sein muss.3) Er ist der Ansicht, dass im Quietismus nicht, »wie optimistische Plattheit es gern be- hauptet, eine Verschrobenheit und Verriicktheit der Gesin- nung, sondern eine wesentliche und nur durch ihre Trefflich- keit sich selten hervorthuende Seite der menschlichen Natur sich ausspricht«,4) und findet den Beweis hierfiir vornehmlich in der Uebereinstimmung, zu der nicht nur durch Zeit und Raum, sondern auch durch ihre sonstigen Dogmen weit ge- trennte Weise indischen, christlichen, muhammedanischen Glaubens in der Lehre vom Quietismus und der Askese zu- sammentreffen.6) Die ethisch-geniale Erkenntnis, die das principium indi-
viduationis, den Schleier der maya durchschauende Erkenntnis, die den Unterschied zwischen eigener und fremder Indi- vidualist aulhebt und sich der Einheit des Wesens in alien Erscheinungen bewusst wird, wodurch denn weiterhin jedes nur irgend mogliche Leiden als wirklich und jeden Menschen unausbleiblich mit derselben Schwere treffend erkannt wird, diese Erkenntnis wirkt als Quietiv auf den Willen, so dass er in freier Selbstauf hebung sich selbst vernichtet, sich selbst verneint. Alles Streben, alles Wollen, alles Verlangen ist 1) W. a. W. u. V. I. p. 231. 2) Parerga II p. 304. 3) W. a. W. u. V. II p. 707.
■4) W. a. W. u. V. I p. 460. 5) W. a. W. u. V. II p. 702. |
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nun beendigt, beschwichtigt; an seine Stelle tritt vollkommene
Resignation. Der Vedanta Hess nach erlangter Erldsung alle friiher begangenen Werke zu nichte werden; es ist das der mythische Ausdruck fur die Thatsache, die auch Scho- penhauer betont, dass die friiheren Missethaten das Gewissen nicht mehr angstigen,1) wie auch dafur, dass durch die Er- losung die Verschiedenheit der Charaktere durchaus ausge- glichen wird.2) — Der Quietismus aussert sich zunachst in der freiwilligen, vollkommenen Keuschheit, die der erste Schritt in der Askese oder der Verneinung des Willens zum Leben ist,3) sodann in absichtlicher Armut, die um ihrer selbst willen freudig ertragen wird,4) in der Verschmahung aller Freuden, Bequemlichkeiten, Annehmlichkeiten des taglichen Lebens, kurz, was brahmanische und buddhistische Asketen praktisch iibten, wird von Schopenhauer theoretisch an- empfohlen. Weiterhin werden aber auch alle anderen For- derungen natiirlich-socialer Sittlichkeit unerfiillt gelassen. Wie Buddha mit dem Hass auch die Liebe als unmoralischen Trieb verwarf, so braucht auch der Schopenhauer'sche Heilige keine That der Menschenliebe zu iiben; er hort vielmehr auf, »irgend etwas zu wollen, hiitet sich, seinen Willen an irgend etwas zu hangen, sucht die grosste Gleichgiiltigkeit gegen alle Dinge in sich zu befestigen.«5) Eben das verlangte auch die buddhistische Ataraxie. Ein Zusammenwirken vieler zur Konstituierung und Erhaltung socialer Gemeinwesen ist un- moglich, ja, wir miissen mit Schopenhauer den Staat als eine direkt unmoralische Institution ansehen, in welcher Ansicht die Verdammung aller socialen Sittlichkeit ihren Hohepunkt erreicht. Denn wir wissen, dass dem Handeln nur dann der sittliche Glorienschein zukommt, wenn es, aus reinem Mit- leid entspringend, von alien egoistischen Motiven frei bleibt. Der Staatsvertrag ist aber ein von dem allgemeinen, ver- niinftig verfahrenden Egoismus ersonnenes und mit der Zeit vervollkommnetes Mittel, alien den Schmerz des Unrecht- Leidens zu ersparen, dadurch, dass man alle dem durch 1) W. a. W. u. V. I p. 464. 2) ib. p. 477. — Der gem eigener Beobachtung und
Einsicht folgende Mainlander stellt dieses letztere durchaus in Abrede. Philosophie der Er- Josung I p. 221. 3) W. a. W. u. V. I p. 449. 4) ib. p. 451. 5) ib. p. 449. |
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Unrechtthun erreichbaren Genuss zu entsagen zwingt.1) Nach
rein egoistischen Gesichtpunkten eingerichtet kann also der Staat durchaus keinen sittlichen Wert fur sich in Anspruch nehmen, sodass Legalitat und Moralitat streng geschieden werden. Erstere lasst sich erzwingen, letztere nicht.2) Die Legalitat hat es mit dem ausseren Erfolg zu thun, die Mo- ralitat mit der inneren Gesinnung, die wir hier, wie fast durchgangig bei Schopenhauer — Ausnahmen wurden oben erwahnt —•, das entscheidende Gewicht in die Wagschale des moralischen Urteils werfen sehen. Er meint: »dass die Absicht allein iiber moralischen Wert oder Unwert einer That entscheidet, weshalb dieselbe That, je nach ihrer Ab- sicht, verwerflich oder lobenswert sein kann.«s) Alle Thaten, opera operata, sind bloss leere Bilder, und allein die Ge- sinnung, die zu ihnen leitet, giebt ihnen moralische Bedeut- samkeit.4) Daher haben auch die Begriffe Recht und Unrecht urspriinglich nur Beziehung auf die innere Bedeutung des. Handelns, nicht auf dessen ausseren Erfolg.3) Erstere gehort der Moralitat, letzterer der blossen Legalitat an. Durch diesen Unterschied oder Gegensatz also zwischen Legalitat und Moralitat wird dem Handeln nach den Gesetzen des. Staates der sittliche Wert abgesprochen, weil es aus Furcht vor Strafe, also aus Egoismus geschieht, wie iiberhaupt die ganze Staatsform, als aus dem Egoismus entsprungen, wirklich unsittlich ist. Dann aber kann der Staat, der durch geord- netes, gemeinschaftlich auf dieselben Ziele gerichtetes Wollen grosser Massen erst moglich ist, auch eben darum nicht Gegenstand der Ethik sein. Nicht das Thun der Volker,, des Einzelnen Thun ist Stoff der Ethik. »Nicht vom Thun und Erfolg, sondern vom Wollen handelt es sich in der Ethik, und das Wollen selbst geht stets nur im Individuo vor. Nicht das Schicksal der Volker, welches nur in der Erscheinung da ist, sondern das des Einzelnen entscheidet sich moralisch. Die Volker sind eigentlich blosse Abstraktionen,. die Individuen allein existieren wirklich. «6) Hier sehen wir, wie der Quietismus den sittlichen Process in das Individuum 1) ib. p. 404 ff. W. a. W. u. V. II p. 682 ff. Ethik p. 194. 2) Ethik p. 202, 255. 3) ib».
p. 134. 4) W. a. W. u. V. I p. 436. 5) ib. § 62 p. 393. 6) W. a. W. u. V. II p. 678. |
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verlegt und den erzieherischen Wert socialer Arbeit voll-
kommen verkennt. Hier sehen wir auch, in welchem Sinne jene Tugenden der Gerechtigkeit und Menschenliebe als sociale bezeichnet werden diirfen: sie konstituieren zwar ein sittliches Verhaltnis zwischen den einzelnen Menschen, aber ohne Riicksicht auf den grossen Verband einer socialen Ge- meinschaft. Nur der Tugend der Gerechtigkeit kann man eine solche unterlegen, indem das ihr zu Grunde liegende Mitleid uns antreibt, dem Unrecht auch da entgegenzutreten, wo nicht andere von uns, sondern von andern andere bedroht werden. Aber diese Tugend ist dafur auch nur die unterste Stufe auf der Leiter der Moralitat, die in der Willens- verneinung als hochster sittlichen That auslauft. Diese That,, diese auf Erkenntnis seines Wesens eintretende Selbstauf- hebung des Dinges-an-sich, ist iiberhaupt die einzige Begeben- heit von wahrhaftem Wert, die der Weltlauf zeitigen kann. Alle anderen Begebenheiten sind, wie wir bei Darstellung des Pessimismus gesehen haben, unwesentlich. Wie konnte es daher die Sendung des Menschen sein, die Krafte des Korpers oder Geistes in diesen wertlosen, ja nichtigen Welt- angelegenheiten zu bethatigen? Wie konnte auf Entwickelung und Ausgestaltung der Welt hingearbeitet werden, da durch die ewig unveranderlichen Ideeen oder Willensobjektivationea infolge ihrer Starrheit eine Entwickelung durchaus unmoglich ist. In diesem Sinne stellt Schopenhauer die Geschichte der Heiligen weit tiber die sogenannte Weltgeschichte. Fur ihn,, den Philosophen, der die ethische Bedeutung der Handlungen zum Massstab nimmt, ist die grosste, wichtigste und bedeut- samste Erscheinung nicht der Welteroberer, sondern der WeltiAberwinder. Fur ihn sind Lebensbeschreibungen heiliger, sich selbst verleugnender Menschen, und waxen sie voll des. krassesten Aberglaubens, durch die Bedeutsamkeit des, Stoffes ungleich belehrender und wichtiger als selbst Plutarch, und Livius.1) — — — Schopenhauer setzt wie der Vedanta dem Reich der-
Einheit das Reich der Vielheit gegenuber, von denen das: letztere eben durch seine innere Zersplitterung sich als, 1) W. a. W. u. V. I p. 456.
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unmoralisch darstellt. Daher besteht die Sittlichkeit in einem
Akt, der die Vielheit in sich selbst zur Einheit versohnt. Wie der Vedanta lasst Schopenhauer den Kern des Menschen unmittelbar mit der Einheit, dem Ding-an-sich identisch sein, daher ist bei ersterem das Grundwesen des Menschen Intelligent, bei letzterem Wille. Also liegt bei jenem das sittliche Verdienst auf intellektualem, bei diesem auf wirklich moralischem Gebiet. Schopenhauer geht aber noch weiter als der Vedanta. Er zeigt, warum jene Zersplitterung un- moralisch ist, darum, weil das Ding-an-sich selbst, das in ihr zur Erscheinung gelangt, der Wille selbst ein unlauterer, unheiliger ist. Daher kann es nicht geniigen, sich bloss, wie nach dem
Vedanta, uber die Erscheinung zu erheben, was in den Thaten der Gerechtigkeit und Menschenliebe geschieht, son- dern die wahre sittliche Vollendung ist erst dann erreicht, wenn man sich vom innersten Kern seines Wesens, vom Willen selbst, lossagt, was in der Willensverneinung, der Willensertotung geschieht. Jene Thaten bloss moralischer Tugenden gehoren im Grunde immer noch der Willensbe- jahung an, ihre sittliche Bedeutung empfangen sie erst da- her, dass sich der Bejahung ein gewisses Element der Ver- neinung beimischt. Denn die Form der Bejahung ist die Individuation, daher der Egoismus, iiber den sich der morali- sche Mensch in gewissem Grade erhebt und sich auf diese Weise der Verneinung nahert. Daher werden auch die socialen Tugenden in asketischer Weise umgedeutet. »Die Gerechtigkeit selbst ist das harene Hemd, welches dem Eigener stete Beschwerde bereitet, und die Menschenliebe, die das Notige weggiebt, das immerwahrende Fasten.*1) Wie wir den Buddhismus der natiirlichen Tugend der Wohlthatig- keit die asketische Pflicht der Selbstaufopferung unterschieben sahen, so wandelt sich auch fur Schopenhauer der Begrift der Menschenliebe unter den Handen in den der Entsagung um. Er sagt: »Je nachdem nun teils jene unmittelbare Teil- nahme lebhaft und tief gefiihlt, teils die fremde Not gross und dringend ist, werde ich durch jenes rein moralische 1) W. a. W. u. V. II p. 697.
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Motiv bewogen werden, ein grosseres oder geringeres, Qpijier
dem Bediirfnis oder der Not,des Andern zubringen, welches, in der Anstrengung meiner leiblichen oder geistigen Krafts fur ihn, in meinem Eigentum, in,, meiner. Gesundheit, Frei- heit, sogar in meinem Leben.bestehen kann.x1) Oder: »Man -wird njir zugestehen, dass mancher hilft und giebt, leistet und entsagt, ohne. in seinem Herzen, eiae weitere Absichtt zu,:j haben, als, dass dem. Andern. •—■ — geholfen.werde..«2) Begonders haufig. werden.wir einen splchen Umschlag in der, Darstellung der Kthik im. Hauptwerke finden, weil Schopen- hauer hier von seinen metaphysischen Axiomen selbst her- kam. So wird daselbst als Beispiel eines Mitleidigen ein Mensch vorgefiihrt, »der et.wa eio betrachtliqh.es Einkommen besitzt, von diesem. aber nur wenig fiir sich benutzt und alles Uebrige den Notleidenden giebt, wahrend er selbst viele Geniisse und Annehmlichkeiten entbehrt.«3) Wir brau- chen diese Belege nicht zu haufen;4) aus den angefiihrten geht deutiich genug hervor, wie fliissig fiir Schopenhauer die Grenze zwischen socialer Mildthatigkeit und asketischer Selbst-. aufopferung ist. — Die moralischen Tugenden sind durchaus nicht Selbstzweck, sie sind nur Mittel zur Ertotung deg. Willens, ein Durchgangspunkt. Sie begleiten den Menschen als eine Leuchte auf seinem Wege zur Verneinung.5) Diese, die endgiiltige Unterdriickung alles Verlangens, ist die Sitt- lichkeit par excellence, die vollstandige Abkehr von der. Welt. Die Welt mit ihren natiirlichen Verhaltnissen, die. an tausend Punkten durchgreifender Bearbeitung harrt, ist dem Heiligen ein Gegenstand des Abscheus, als die stets bereit. liqgende Veranlassung zu erneuter Willensbejahung, der Teufel, mit dem der Mensch bestandig um, das Gut des seligen Friedens streitep muss,6) So war auch dem Buddhismus die Verlockung der Welt, die den Erlosten aus dem sicheren, windstillen Hafen seiner Abges.chiedenheit schmeicheln will, in Mara personificiert, dem Bosen, dem buddhistischen Satan,7) woher dem Asketen eben die Pflicht bestandiger Wachsam- keit erwuchs. — — — Nebenbei sei erwahnt, dass nach 1) Ethik p. 227. 2) ib. p. 203. 3) W. a. W. u. V. I p. 439. 4) cf. noch ib. p. 438
440. 5) W. a. W. u. V. II p. 698. 6) W. a. W. u. V. I p. 462. 7) OUenberg a. a.O. p. 333! 16"
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Schopenhauer die Verneinung des Willens nicht durch die
Verneinung des irdischen Daseins, durch den Selbstmord zu erlangen ist, der vielmehr als die krasseste Bejahung des Willens zum Leben angesehen werden muss, daher er nicht nur vergeblich,1) sondern sogar unmoralisch ist.2) Schopen- hauer ist somit kein Hegesias Peisithanatos, wenn gleich der Titel der Schrift des Hegesias: »Apokarteron« eine Bezeich- nung fur den Schopenhauer'schen Weisen extremster Rich- tung abgeben kann, »der seiner Geduld ein Ende Setzende«, worunter man in alexandrinischer Zeit einen Asketen ver- stand, der durch freiwilligen Hungertod dem Leben ein Ende machte, welches freiwillige Ende besonderer Art Schopen- hauer als moralisch vom unmoralischen Selbstmord geschieden wissen will.3) — Auch der Vedanta verwarf den Selbstmord, gemass dem Spruch der Bhagavad Gita: »Denn welcher allerorts den hochsten Gott gefunden,
Der Mann wird durch sich selbst sich selber nicht verwunden.«l)
Der Buddhismus dagegen nimmt zur Frage des Selbst-
mords keine Stellung. Er verdammt ihn keineswegs,5) so dass sich Falle wirklich ereigneten, wo Asketen mit eigener Hand ihrem irdischen Dasein ein Ziel setzten, wie z. B. noch zu Lebzeiten Buddhas der ehrwiirdige Ghodika,6) aber er rat ihn auch durchaus nicht an, wie es die Schwestersekte der Jaina's that, die dem Monche nahelegte, Gift zu nehmen, wenn er anders seiner Leidenschaften nicht Herr werden konnte.7) In diesem Zusammenhange seien auch noch einige wenige Worte iiber die engere Askese gesagt, iiber die Kasteiungen, die in der Regel als Begleiterscheinungen der Mystik auftreten, die selbstgewahlte biissende Lebensart zur anhaltenden Mortifikation des Willens. So gait sie besonders in der christlichen Mystik des Mittelalters, indem diese der Ansicht war, dass, obgleich Christus Genugthuung fur alle Siinden der Menschheit gethan, doch die leidende Nachfolge Jesu, die Nachbildung seiner Schmerzen am eigenen Leibe unerlassliche Bedingung fiir die Aneignung des Verdienstes 1) W. a. W. u. V. I p. 433, 330 ff. 2) ib. p. 471 ff. — Anders iiber den Selbstmord
hat Mainlander gedacht, hat aber auch seine Meinung durch seinen freiwilligen Tod prak- tisch bethatigt. 3) ib. p. 474. 4) Deussen: Vedanta, p. 61 Anm. 36. 5) Oldenberg a. a. O. p. 287. 6) ib. p. 289. 7) E. Hardy: Buddhismus p. 96. |
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Christi sei. — Die engere Askese des Vedanta vollzog sich
namentlich in den vier acrama's oder Uebungstadien, in denen das Leben eines jeden Ariers verlaufen sollte.1) Das erste Stadium war die Zeit des brahmacarya, die Zeit der Lehre des Wortes bei einem Brahmanen, eine zwolfjahrige Priifungzeit, namentlich im unbedingten Gehorsam, eine Zeit der Kasteiung, der Enthaltsamkeit, vor allem in geschlecht- licher Beziehung, so dass der Ausdruck brahmacarya, d. i. Lebensweise eines Brahmanenschiilers geradezu die Bedeutung von Keuschheit erhielt.2) Es folgte die Zeit des grihastha, des Hausvaters, an die sich im Alter der Stand des Ein- siedlers, vanaprastha, anschloss, bis zuletzt auch die einsame Hiitte im Walde aufgegeben werden musste und die Wanderungen des Bettlers, des bhikshu begannen, der sich von Almosen nahrte und mit den Lumpen bekleidete, die er auf den Begrabnisstatten auflas. Fasten und Kasteiung musste dabei bestandig betrieben werden. Man wollte durch alles das die Frucht friiherer Werke zu nichte machen,8) weshalb nach erlangter Erlosung alle engere Askese fortfiel.4) Auch fur den Buddhisten war asketische Lebensweise Be- dingnis. Auch er musste die Heimat verlassen und bettelnd umherziehen, ohne irgend welchen Besitz, in vollkommener Keuschheit. Sein Gewand sollte aus Lumpen bestehen, seine Lagerstatte unter den Baumen des Waldes, seine Medicin der stinkende Urin der Kiihe sein.5) Aber Buddha hatte einst selbst erkannt, dass von Kasteiungen das Heil nicht kommen kann.6) Daher ist seine Religion duldsamer den Bedurfnissen des Leibes und der menschlichen Schwachheit gegeniiber, so dass die strenge Lebensordnung uberall durch eine mildere Praxis durchbrochen wird, in einer Weise, die •den Spott der streng asketischen Jaina's wachrief7) und selbst unter den eigenen, rigoristisch denkenden Anhangern Anstoss erregte, bis sogar zum Ausbruch offenen Aufruhrs.8) In seiner ersten Predigt zu Benares sprach der Siegreich-Vollendete: »Zwei Enden giebt es, ihr Monche, denen muss, wer ein geistliches Leben fiihrt, fernbleiben. Welche zwei Enden 1) Deussen Vedanta p. 17. 2) Zimmer: Altindisches Leben p. 210. 3) Deussen a.
a. O. p. 89, 170. 4) ib. p. 88. 5) Oldenberg p. 376. 6) ib. p. 117. 7) ib. p. 190. 8) ib. p. 171 f |
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•sind dag? Das eine 1st ein Leben'in Liisten, der Lust urki
*dem Genuss ergeben; das ist hiedrig, unedel, ungeistlidh, urrwiirdig, nichtig. Das andere ist ein Leben der Selbst- peirtigung; das ist trifbselig, uriwurdig, nichtig. «*) Und ^so heisst es im Dhammapada: »mclctheit des Kfjfpers nicht, nicht gefloclitenes Haar,
"Xuch nicht Schmutz, nicht Hunger urid Durst, Nicht atif'dem Boden liegen, im Staub sich walzen, Auch niclit bewegunglos stehen, Reinigung bringt dem Sterblichen, der hicht sich Der Begierden Herrschaft entwand.«2) Was ertdlich Schopenhauer anbetrifft, so halt er dafiir,
dass nrit Kecht von vielen »die Askese im allerengsten Sihhe, lalso das Aufgeben jedes Eigentums, das absichtlidie Atif- suchen des UnangeneHmen und Widerwaftigen, die Selbst- ^peiniguhg, xlas Fasten, das harene Hemd und die Kasteiufrg, ials 'iiberftussig verworfen« wird. Denn hach ihm bringt die blosse Ausiibung der rnoralischeh Tugenden s6 viele Ent- "sagung mit sich, Armut, Entbehrurigen und eigenes Leiden vielfacher Aft, dass es zur Mortifikatidn des Wilferis keirier Geissel and keines Dornenlagers bedarf.8) Er steht also rrn wesentlichen auf dem Standpunkt des Buddhismus, und ef- kennt es als e'inen Vorzug des'selben vcrr dem Brahrharfislrius •an, dass er frei von jeder strengen und iibertfiebenen Askese ist, 'die dort erne so grosse Rolle spielt. Er selbst aber liat, indem er die Abweisung der engeren Askese m diesef WeiSe •m'otiviert, dadurch die socialen Tugenden der GereChtigkeit und Menschenliebe asketisch ifmgededtet. Wir haben also gesefien, wie Schopenhauer zur Er-
klarung 'des von uns social genannten Sittfichen die meta- physische Thatsache der Wesensidentitat herbeizieht, indeVn er aus dem lebendig erkannten Gefiihl dieser Tdetfritat das Mitleid als das anthropologische Fundament alter waftren Moral hervorgehen lasst. Wir haben aber zugleich gesetien, dass ihm diese sociale Moral unter der Hand in eine aske- tiSche sich umwandelt, und wie er vor aliem alles staatliefte 1) ib. p. 138. 2) Hardy: Buddhismus, Anm. 26 (zu p. 10). 3) W. a. W. u. V. II
p. 696 ff. |
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iiMayr^Tfrii h ii ft^"fa~d—
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Handeln als egpistischer Natur jedes sittlichen Wertes ent-
kleidet. Der somit schon in der weltlichen Ethik vorbe- reitete Quietismus erringt sodann die Oberherrschaft, sobald der Pessimismus die Wurzel des Weltelends in das Dihg-an- sich selbst verlegt, wodurch ein Gegensatz desselben zum nirvana der Willensverneinung hervorgerufen wird. tDieser Gegensatz muss, auf die Ethik bezogen, die hochste sittliche That in die Abkehr von der Daseinsform des Dinges-an-sich setzeh, in die Zuwendung zu einer noch jenseits des Dinges- an-sich liegenden Daseinsform, die wir aber niemals verstehen werden, die wir hochstens das Nichts nennen konnen. Im hoffnungvollen Ausblick auf das Nichts wendet sich der Asket, der sich schon in Thaten des Mitleids. von der Er- scheinung emancipiert hatte, in der Willensertotung von jedem, irgend moglichen Leben ab, wie es ahnlich auch Buddha lehrte, wodurch der Quietismus des Vedanta, der doch noch im brahman, dem Ding-an-sich, Halt machte, weit iibertroffen wird. Hiermit ware also a.uch an und fur Scho- penhauer der Beweis erbracht, dass eine Verquickung des ethischen Processes mit der Metaphysik ersteren immer notigt, in Weltflucht und Quietismus zu enden.. Urn nun die Parallele zwischen der Ethik Schopenhauers und Buddhas zum Ab-
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schluss zu bringen, fiigen wir eine kurze Untersuchung an,
in wie weit es Schopenhauer gelurigen ist, seine Ethik von allem, Eudamonismus frei zu halten. ,. ^ Wahre Moral und Eudamonismus sind nach Scho'pen-
hauer, wie e,r vielfach betont, durchaus disparate Begriffe. Die Abwesenheit aller egoistjscfyen Motivation ist eben das Kriterium einer Handlung. von moralischem Wert, die viel- mehr aus dem Mitleid entspririgen muss, aus der 'gan^.un- mittelbaren, von alien anderen Rucksichten unabharigigen Teilnahme zunachst am Leiden des anderen und.dadurch an der Verhinderung oder Aufhebung dieses Leidens,. ajs worin zuletzt alle Befriedigung und alles Wohlsein und Gliipk be- steht.1) Wir untersuchen hier nicht, ob das Mitleid. wirklich aller Gerechtigkeit und Menschenliebe zu Grunde liegen kann,2) i:; tdji Bthi^B-iaOfi ;2)iVfa« vertteint wird von Kober: Das Mitleid als die moralische
Triebfeder. Leipziger Dissertation 1878. |
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wir fragen nur, ob Mitleid und Egoismus vollkommen ent-
gegengesetzte Krafte sind, wie es Schopenhauer behauptet, und mussen diese Frage verneinen, sowohl auf Grund der wirklichen Natur des Mitleids als auch gemass der Erklarung, die unser Philosoph selbst von ihm giebt. Wenn wir Zeugen werden eines entsetzlichen Ungliicks, der Todesnot eines Menschen, wohl gar eines teuern Freundes oder Verwandten, durch welchen Anblick unser ganzes Mitgefiihl auf's tiefste aufgeriittelt und der lebhafteste Wunsch zu helfen, zu retten in uns erweckt wird, so wird an diesem Wunsche neben dem Verlangen, den Leidenden rein um seiner selbst willen von der Qual zu befreien, ebenso sehr ein ganz bestimmtes per- sonliches Missbehagen Anteil haben, das wir ganz deutlich empfinden, das sogar bloss asthetischer Art sein kann. Wir selbst werden unmittelbar in unsern Gefuhlen unangenehm, schmerzlich afficiert, und es wird sich schwerlich ein Fall ermitteln lassen, wo der empirische Akt des Mitleids ganz frei ist von egoistischen Regungen. Deshalb werden wir fast ebenso sehr eilen, durch schleunige Hiilfe unserm eigenen unbehaglichen Zustande ein Ende zu machen als, dem Nachsten zu Liebe, der Not des andern. Ware dem aber nicht so, so wiirde das Mitleid doch unrettbar dem Egoismus zur Beute fallen, weil Schopenhauer selbst es ihm ausliefert, durch seine Erklarung gemass der Identitatsiehre. Hiernach ist es wirklich dasselbe Wesen, das in alien Erscheinungen leidet und die Schmerzen, die es in dem einen Individuum ftihlt, aus Egoismus durch die Liebeswerke eines anderen zu stillen sucht. Und wenn dieses Wesen zur Linderung der Oual in dem Einen den Anderen entsagen macht und ihn Entbehrungen auf sich nehmen heisst, so gleicht es dabei vollkommen einem Menschen, der, um den Schmerz in dem einen Gliede zu iibertauben, sich selbst im anderen solchen bereitet. Wenn ich dem Nachsten helfe, so helfe ich mir, denn ich bin er. Freilich haben wir es in diesem Falle nicht mit dem
empirischen Egoismus zu thun, der nur dem Individuum an- haftet, sondern mit einem Egoismus hoherer Art, den wir den transscendenten nennen k5nnen, weil ihn der Wille als |
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■das Ding-an-sich empfindet, der ja stets nach Wohlsein
trachtet. Ja, transscendenter Egoismus ist auch die Willens- verneinung, indem der Wille, infolge der Erkenntnis des ihm unabwendlich drohenden Leidens, aus Mitleid mit sich selbst, aus offenbarem Egoismus also, zum letzten, einzigsten Mittel greift, dem Leiden fiir immer zu entgehen, zur Selbstver- nichtung, zum transscendenten Selbstmord. Schopenhauer verwirft es als egoistisch, folglich unmoralisch, nach Wolfischen Principien, an seiner eigenen Vervollkommnung zu arbeiten;1) aber verlangt er nicht eben dieses in der Forderung der Willensbezahmung und -ertotung, da Willenlosigkeit hochste Sittlichkeit ist? In den Thaten der Gerechtigkeit und Menschenliebe wird nur der empirische Egoismus iiberwunden, weil der Wille, in transscendentem Egoismus befangen, ein lohnenderes Ziel vor Augen hat als jene nichtigen Freuden der Erdenwelt. Er giebt vergangliches Gliick fiir ewiges dahin. Das Paradoxon, das wir auf den Buddhismus an- wandten, gilt auch fiir die Schopenhauer'sche Ethik: sie be- kampft den Egoismus aus Egoismus, sie ist selbstlose Selbstsucht. Wie wenig Schopenhauer seine Ethik vom Eudamonismus
befreit hat, zeigt sich auch in einer Reihe einzelner Ziige. Dahin gehort z. B., dass er als ein Merkmal, an dem die Moralitat unserer Handlungen zu erkennen ist, die durchaus richtige Thatsache aufstellt, »dass sie eine gewisse Zufrieden- heit mit uns selbst zuriicklassen, welche man den Beifall des Gewissens nennt.«8) Ferner. Der »wahre, reine Gehalt aller Moral,« der »einfachste und reinste Ausdruck der von alien Moralsystemen einstimmig geforderten Handlungsweise,« der »letzte wahre Zielpunkt aller Moral und alles Moralisierens« ist die Maxime: »neminem laede, immo omnes, quantum potes juva.«3) Diese Maxime ist nach Schopenhauer die Konklusion aus der Pramisse: »quod tibi fieri non vis, alteri ne feceris,« und dieser Satz wird von ihm selbst als auf dem Egoismus basierend nachgewiesen. Ferner. Er stellt die Formel auf: »Die Grosse der Ungerechtigkeit ist gleich dem Schaden, den ich einem Andern zufuge, dividirt durch die Grosse 1) Ethik p. 207. 2) ib. p. 204, 327. 3) ib. p. 15», 162, 137.
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Jneines VorteiTs.K1) Gemass dieser Fdrmel wird bei gleich
gro'ssem "Divident und Divisor, d.,Ji. wenn eigener Vorleil und frenider Schacle 'eiriander die Wage halteh, .die Unge- [fechtiglceit zwar meat a 0, aber doch =='t, wodurch 'die Mogiicnkeit gegefjen ist, bei ribch so grossem Scnaden; den ein anderer durch iiiich erjeidet, die TJngerechfigkeit meiner Ftahdlurig auf ein genriges Mass hefabzu'driicken. Ich brauche nur eirien jtiitzen aus meiner zu ziehen, der ebehso gross ist als der Schaden des Arideren! Ferner. Die Reue
wird erklart durch die Erkerinthis, dass man, durch falsche Begrirfe geleitet, etwas Anderes getnan, als dem Willen gemass war.'2) Ferner. Das Weinen wird erklart als 'Mtleid friit sich s'elbst, und doch gilt 'es als Beweis eines reinen tlerzens.8)— SoTcher Zuge, die fiir die Thats^ctie sprechen, dais's aiich Scho'penhauers Ethik, gegen seine, Versicnerung, im Egoismus stecken geblieben ist, liessen sich hoch mehr anfiihren; dpch mag es bei diesen sein Bewehden haben. Tedenialls gilt von ihm, was er von Kant benauptet:4) er hat den Eudamonismus mehr scheinbar als wirklich aus der Ethik verbannt. Dass aber uberhaupt eine soTcne V erbannun'g nicht mog-
lich set, von diese'm Gedanken ist die Mainlander'scne Ethik "getragen; von diesem Gedanken aus hat Mainlander eine schatzbare Erweiterung der Schb'penhauer'scnen Doktrin ge- geben, Seine Ethik ware interessant genug, sie einer ein- geheriden Betrachturig zu untefzieheh, die wir uns aber leider an dieser Stelle versagen miissen. Das Thema unseres B'uches gestattet uris hur erne, kiirze Abscnweifurig, anriangs- weise eine gedr'ahgte Uhtersuchung, in. wie weit die Wechsel- bezienurig zwisch'eh Metaphysik und Asketik einerseits, lm- rnVhehz und socialer Moral ander'erseits aiich bei dem Schiiler Schopenhauers stattnat'. Wie Mairilander unter dem Einnuss Schopenhauer'scher
Gruridgedariken stent, so stent und — leidet er unter dem gleichen Schicksal, das einst.seinen Lenrer betroffen, unter dem Schicksal uhverdienter Nichtbeachtung. Und doch ist 1) Ethik p. 219.^2) W. a. W. u. V. I p. 349, II p. 681. 3) W. a. W. u. V. I p. 444,
II p. 679. 4) Ethik p. 118. |
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seine Lehre rriehr als eine blosse 'Urn- und Fortibildurig der
SVhopenhauer'schehThilosdphie; sie ist'eine selbstandige und selbstb'ewUsste Fortbildung der Philosophic iiberhaupt, sie 1st eine ktihne Fackeltragerin, die manches bis jetzt tiber- hdtipt nbch nicht betfeterie Gebi'et im Reiche philbsophischer "Erkerihtnis efleuclttet. Schdn darum ist die » Philosophic der Erldsung« beachten'sWert, Weil sie eine Hochst merkwiifdige VersChrnelzuhg der Vers'chiedeh'sten Systeme darstellt; Kant, Schopenhauer, Buddha, Locke, die Stbiker, Spinoza, Hobfres liefern die Steine, a\is denen ein geschickter Baurheister dem Erlosunggedanken eln stattliches Haus efrichtet hat. Die Maihlahder'sche Phildsophie »verwirit die Anrianrhe
elner verbdrgeneh einfachen Eihheit in, fiber oder hinter der Welt. Sie kenht hur urizahlige Ideeen, d. h. iridividuelle Willen ziirh Lebeh, die, in Hirer Gesamtheit, eine test in sich geschldsseiie Colfectiv-Eitiheit bMen.«') Sie vertritt durcn- aii's das Formalpriricip der Immanenz und kennt demgeniasfs fitir Individuen; hur solclie will sie gelten iass'eh. Dem ln- "dividUiim 's'elfie zerrisserien uhd zertre'tenen vRecn'te wiedejr- ztigeben, ist ilir 'eirtgestahd'en'er 'Zw'e'ck. Dafaus ergiebt s'ich 'ztniachst, dass sie, im Gegensatz zii der Schop'enhau'erfschen Lehre', nicht 'fiber den Eudamohismus in der Ethik hinaiis- strebt. Denn das Individuum ist das aliem Reale; das afreih Reale ist der Selbsterhaltufrgtrieb des Eirlzelneh, der Egois- mus. DieseV also 1st das Fundament der Moral, nicht aber 'dMs Mitleid. Das Mitleid ist kemesWegs, wk S'chop'ehiiau'er a'h'fiahm, em'durchaus'altruistischer Trieb; vielmehr empfindeh Mr im Mitleid »eih positives Leid in uhs; es ist ein tiefes Gefiihl "de'r Uhlust, 'das uhser Fterz zer'reisst.«2) Dafaus fdlgt weiterhin, 'dass alle Moral social seih rriiiss'; der etniscfie Process katin hur zWischen'den all'eih real'en Individuen sta'tt- hab'en. Aiif den Staa't richte't sich allein das sittliche Han- delh. Mairilahd'er vertritt so sehr die sociale Moral, dass "er sogar Socialist 1st. Aber doch schlagt aucn be! ihm die so'ciEtle Moral in die asketise'h'e tim, die in der Ariempfehl'uhg absbluter Keuschheit gipfelt. Dehn Maihlander hat, seTher Versitherung zum Trotz, die Imrh'ahehz nicht vdllkornnieh. 1) Philosophie der Erlosung I p. 199. 2) S, p. 218.
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aufrecht zu erhalten vermocht; auch bei ihm spielt zur Be-
grtindung des hochsten ethischen Vorgangs die Metaphysik, die transscendente Idee eine Hauptrolle. Er will nur Indi- vidual kennen und nimmt kaum weniger als Schopenhauer <he menschliche Gattung, die Menschheit als eine reale Idee, als ein wirklich, in und fur sich bestehendes Wesen, das eine Existenz noch iiber den Einzelwesen besitzt. Nach ihm kann der Einzelne, so selbstherrlich das Individuum in totaler Aseitat sonst erscheint, nur in der Menschheit wurzeln, nur in ihr und durch sie sich im Leben erhalten.1) Jeder lebt fort in seinen Kindern — der mystische Gedanke der Wesens- identitat ist nicht zu vertreiben. Man hore folgenden Satz: »Wie wir in der Physik gesehen haben, findet der Mensch im Tode absolute Vernichtung; trotzdem wird er nur scheinbar vernichtet, wenn er in Kindern weiterlebt; denn in diesen Kindern ist er bereits vom Tode auferstanden; er hat in ihnen das Leben neuerdings ergriffen und es fur eine Zeitdauer bejaht, die unbestimmbar ist.«2) Die Gattung Mensch wird also wie bei Schopenhauer offenkundig hyposta- .siert, die Immanenz vollkommen durchbrochen. Die Idee ist nicht mehr der individuelle Wille, sondern Idee im pla- tonischen oder Schopenhauer'schen Sinne: die Metaphysik tritt in ihre Rechte. Nun spielt sich der sittliche Process nicht mehr zwischen den urspriinglich als allein real gedach- ten Individuen, sondern bezieht sich auf die zu besonderer Wesenheit erhobene Gattung. Die Moral bleibt aber auch hier Eudamonismus; sie fusst auf einem Egoismus, den Main- lander den gelauterten nennt, der aber besser als trans- scendenter zu bezeichnen ist. Wie der einzelne Mensch nach Gliick und Wohlsein strebt, so erst recht die mystische Gattung. Kann aber das Individuum nur selten wahre Be- friedigung auf Erden erreichen, so erst recht nicht die Idee; denn diese Welt steht unter dem Fluche ewigen Jammers und vollkommener Nichtigkeit. Daher ist eine andere Welt, oder besser ein anderer Zustand zu fordern — auf diesen richtet sich, weil er leidlos und selig gedacht werden muss, das Streben der Menschheit; von hier aus empfangt es seine 1) ib. p. 214, 217. 213. 2) ib. p. 219.
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moralische Weihe. Mainlander durchbrichttfiier zum anderen-
Male die Immanenz und es verschlagt nichts, ob er jenen vollkommenen Zustand in das absolute Nichts setzt, das nach Ablauf einer zeitlichen Entwicklung die gesamte Mensch- heit erwartet; er stellt der Welt des Daseins die Welt des Nichtseins entgegen, und letztere ist das Ziel alles rein sitt- lichen Verhaltens. Die Menschheit bewegt sich aus dem gesetzlosen Zustand in den Staat, aus dem Staat in den »idealen Staat« (sociale Moral), aus dem idealen Staat oder dem Sein in das Nichtsein (asketische Moral). Der Ueber- gang in das Nichtsein vollzieht sich mit Hillfe der Virginitat. Die Immanenz seiner Philosophic muss Mainlander zum anthropologischen Fundament der Moral und dadurch zur socialen Form derselben fiihren. Da er aber als Schiiler Schopenhauers die asketische Ethik festhalten will, muss die Immanenz der Transscendenz weichen; nicht mehr zwischen Individuen spielt der sittliche Process, sondern zwischen der Menschheit im Sein und dem Nichtsein. Metaphysik und1 Asketik sind unzertrennlich. |
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^elilu sswort.
Wir stehen am Ende unserer Parallele zwischen der
Schopenhauer'schen und der indischen Philosophie, bei der wir nur die fundamentale Uebereinstimmung beider in den Grundziigen zeigen wollten, wahrend andere Punkte unter- geordneter Art iibergangen vvurden, selbst solche, die Schopenhauer jedenfalls mit Freuden als Beleg fur die Wahrheit seiner Philosophie begriisst hatte. Er hatte z. B. sicher nicht verfehlt, im Kapitel »Sinologie« der Schrift »Ueber den Willen in der Natur« die legendarische Erzahlung des Buddhismus anzufiihren, nach der Buddha, dem Tode nahe, das Leben durch seinen Willen fest hielt,1) als einen Beweis der domi- nierenden Kraft des Willens — wenn sie ihm bekannt gewesen oder aufgefallen ware. — Aber abgesehen von dem kleinen 1) Oldenberg a. O. p. 213, 214. Ebenso die legendarischen Berichte des Buddhismus -
tiber magische Fernwirkung des Willens, ib. p. 172, 323. |
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Detail hat sich die durchgangige Congruenz, der Philosophie,
Schopenhauers und der Inder als eine wahrhaft uberraschend§ herausgestellt, als eine so durchgreifende Analogie, dass Schopenhauer wahrscheinlich selbst diese unbewusste Ab- hangigkeit missliebig aufgenommen hatte. Und zwar ist die, Schopenhauer'sche Philosophie durchweg eine Synthesis von. Brahmanismus, in Gestalt des Vedanta, und Buddhismus, deren Lehren in seinem Systeme zu hoherer Einheit verbunden ^worden sind. Wie Platon die Heraclit'sche Grundanschauung mit der des Parmenides in seiner Ideeenlehre verschmolzen hat, so Schopenhauer den brahmanischen und buddhistischen Idealismus. In der Lehre vom Willen als Ding-an-sich fliessen ebenfalls Vorstellungen des Brahmanismus und des Buddhismus zusammen, desgleichen in der Lehre von der Erlosung. Und wenn Schopenhauer im Jahre 1813 schrieb: »Unter meinen Handen und vielmehr in meinem Geiste erwachst ein Werk, eine Philosophie, die Ethik und Meta- physik in Einem sein soll« —, so sehen wir jetzt, dass diese Metaphysik wesentlich brahmanisches, die Ethik buddhisti- sches Geprage aufweist. Seine Metaphysik ist die pantheistische Identitatslehre des Vedanta, seine Ethik die »Vernichtung des Durstes«, die Buddha lehrt. —■ »Ich ordne an, ihr Jiinger,« sagt Buddha, »dass ein Jeder in seiner eigenen Sprache das Wort Buddhas lerne*1) — das Abendland kann sie in der Sprache Arthur Schopenhauers lernen. |
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1) Oldenberg p. 192.
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Inhaltiibersicht.
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I. Einleitung.
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§ 1. Morgenland und Abendland, p. 1.
§ 2. Quellen der Schopenhauer'schen Philosophie, p. 6.
§ 3. Brahmanismus und Buddhismus, p. 13.
§ 4. Gang der Untersuchung, p. 17.
II Mysticismus
A. Die Welt des Objekts.
§ 5. Der Idealismus, p. 19.
§ 6. Die eigentliche Metaphysik, p. 36.
§ 7. Der Atheisraus, p. 54.
§ 8. Das Ding-an-sich, p. 73.
§ 9. Die Identitatslehre, p, 82.
§ 10. Der Satz vom Grunde, p. 86.
B. Die Welt des Subjekts.
§ 11. Psychologie, p. 89.
§ 12. Der Intellekt, p. 102. § 13. Der Korper, p. 112. Ill Ethik.
A. Die Welt des samsara.
§ 14. Der Pessimismus, p. 116.
§ 15. Die Frauen, p. 135.
§ 16. Die moralische Bedingtheit der Welt, p. 138,
§ 17. Die Willensfreiheit, p. 155.
B. Die Welt des nirvana.
§ 18. Charakteristik des nirvana, p. 160.
§ 19. Die definitive Erlosung, p. 166.
§ 20. Zeitweilige, unvollstandige Erlosung, p. 183.
§ 21. Fortdauer des Leibes Uber die Erlosung hinaus,
p. 185.
§ 22. Die Tierwelt, p. 190. IV. Metaphysik und Asketik.
§ 23. Sociale und asketische Moral und ihre Begriindung,
p 194.
§ 24. Metaphysik und Asketik in dem Vedanta, p. 199. § 25. Metaphysik und Asketik im Buddhismus, p. 213. § 26. Metaphysik und Asketik bei Schopenhauer, p. 226. Schlusswort P. 253.
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Pruck der W. De'manzoschen Buchdruckerei, Stolp i. Pom..
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J
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Druckfehlerverzeichnis.
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pag. 4 Zeile 16 v. o.
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lies ein Komnia nach Asketismus
— Svnonvma statt Svnonimn |
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festgesetzt
Metaphysik
Ubersetzung -
Oldenberg
Ausspriichen
Siddhattha
nicht
der-selben
zunachat
genommen
Commentare -
Potentialitiit -
des
Resume
gelangt
Deussens
MaterieUen
ein Semikolon -
Dividend .
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festgesezt
Methaphvsik
Uberseztung
Oldenburg
Ausprtichen
Siddatthn
nich
der-elben
zuniicht
genommen
Comentare
Potenzialitat
de
Resumee
gelang
Deussen
im materiellen
eines Komma
Divident
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„ab'* nach Individuen.
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Ausserdem lies ein c statt eines z in folgenden Worten (die erste
Zahl bezeichnet die pag., die zweite die Zeile von oben gerechnet): speziell 1, 31 : sozial 15. 7: Elektrizitat SO, 28: modifiziert 95, 15 : klassifiziert 110, 11: Zentralorgan 149, 6: identifiziert 58. 6 ; 109. 15 ; kompliziert 87, 21: 96. 28; Prozess 19, 17; 23, 21 ; 24, 8: |
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potenziert 51, 24; 109, 26-27:
Prinzip 27, 15; 28, 10: 32. 6: |
48, M: 179, 7;
33, 22; 33, 26: 38, 14; 38, V, |
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38. 30; 44. 30: 45, 32; 46, 17: 46, 22; 51, 30; 52. 3: 57, 12: 57, 18:
66. 22; 86, 3: 94, 34: 98, 25; 107, 7; 130, 14. |
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