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Schopenhauer
und die
Indische Philosophie
von
Max F. Hecker
Dr. phil.
BIBLIOTijEEK DER
RUKSUNIVERSITEH
UTRECHT.
Koln:
Hiibscher & Teufel.
1897.
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Herrn Prof Dr. W, Bender,
v. Professor der Philosophie an der Bonner Universitat,
gewidmet
in Verehnmg und Dankbarkeit.
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1. Einleitung.
§ 1. Morgenland und Abendland.
Die alte Asia, die ratselverschleierte, gilt als die Mutter
des Menschengeschlechtes. Unter ihren Augen durchspielten
die jungen Volker die Zeit der Kindheit -— und erst, als das
wagende Jiinglingsalter ihreHerzen mitSehnsuchtnachNeuem,
Fremden erfiillte, als die Mutter fur die Menge der Sohne
keinen Raum mehr besass, da rissen sie sich vom Mutter-
busen los, um den Lockungen unbekannter Feme zu folgen.
Westwarts pilgerten die einen durch das weite Volkerthor
zwischen Kaukasus und Schwarzem Meer, ostwarts zogen die
anderen uber die Fluten der See. Die Erde wurde voll von
ihnen. Und wenti sie auch gar bald die Heimat in Karnpf
und Wanderung vergassen, so ist es doch, als hatte, wenig-
stens bei den occidentalischen Volkern, ein stilles Heimveh,
eine tief innere Sehnsucht nach dem urheirnatlichen Orient
in ihnen fortgelebt. Das Morgenland ist seit je den abend-
landischen Volkern der Inbegriff alles Wunderbaren, Ge-
heimnisvollen gewesen, das Ziel eines schwarmerisch-phan-
tastischen Sehnens. Die Griechen, die dem makedonischen
Eroberer an die Ufer des fabelhaften Indus folgten, standen
unter dem Einflusse jenes neugierigen Verlangens nach dem
Orient als der Verwirklichung alles Uebersinnlichen; in die
Gottestrunkenheit der Kreuzfahrer mischte sich der begehr-
liche Schauer vor den Geheimnissen des Landes, von dem
jeden Morgen die Sonne des Tages ausgeht und vor Zeiten
die Sonne der Welt ausgegangen war; und noch die Fran-
zosen, die Napoleon I. nach Aegypten fiihrte, haben durch
ihre Massenbegeisterung dem Eindruck des verlockenden
Zaubers Sprache verliehen, der dem Orient und seinen
Mysterien eigen ist. Der Orient, speziell Indien, ist um die
Wende des Mittelalters und der Neuzeit das Ziel fast aller
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Entdeckungsfahrten; dem Trieb, seine reichen Wunder zu
schauen, verdankt die Welt die Entdeckung eines neuen
Continentes. — Und was immer dem Orient entstammt, hat
im Abendlande stets als geheimnisvoll, fast iibernaturlich
gegolten. Darum fanden die verschiedensten Stromungen,
die von Asien ausgingen, in Europa offene Balm; gern nahm
man hier an, was von dort geflossen kam. Orientalische Reli-
gionen treten ihren Siegeslauf um die ganze Welt an: Christen-
tum und Islam, unter asiatischem Himmel entstanden, unter-
werfen sich im Wettstreit die civilisierte Erde. Neben dem
judischen Christus Ziehen zur Kaiserzeit der persische Mithras
und der agyptische Osiris in Rom ein. Orientalische Astro-
nomic verbreitet sich in Europa. Orientalische Kunst und
Litteratur macht zu verschiedcnen Malen im Abendland ihren
Einfluss geltend. Die Tierfabel ist orientalischen Ursprungs;
das Paficatantra, in Indien verfasst, hat durch persische und
semitische Uebersetzungcn hindurch seinen Weg iiber die
Welt genommen und giebt einen betrachtlichen Bruchteil
der Fabellitteratur einer jeden europaischen Sprache ab. Und
wie im 13. Jahrhundert die buntphantastische Poesie des
Morgenlandes sich in deutschen Spielmannsepen ausserte, so
auch noch in neuer Zeit im Goetheschen »West-6stlichen
Divan«, in Platenschen Ghaselen, im Riickertschen »Weis-
heit des Brahmanen«. Und immer grossere Verbreitung
gewinnt eben in unserer Zeit der durch Helene Blavatzky
nach Europa importierte sogenannte »esoterische Buddhis-
mus«. Ueberhaupt ist es vor allem die orientalische Philo-
sophie gewesen, die sich wieder und immer wieder in der
Philosophic des Abendlandes zur Geltung brachte. Gewiss,
die griechische Philosophic ist in ihren Grundziigen durch-
aus autochthon. Die Griechen sind das einzige Volk des
Altertums, das einen offenen Sinn fur interesselose, rein
wissenschaftliche Welterklarung hatte, den besonnenen, niich-
ternen, klaren Sinn, der Bedingnis jeder wahren Philosophic
ist. Ihnen war schon der phantastische Hang zum Rein-
unsinnlichen verloren gegangen, der die Orientalen auszeichnet
und weniger der Philosophic als der Religionstiftung giinstig
ist. Dennoch aber hat sich die griechische Philosophic nicht
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ganz dem morgenlandischen Einfluss zu entziehen vcrmocht.
Pythagoras und Platon haben in Aegypten geweilt, jenem
Land, das als der Kanal zu betrachten ist, durch den be-
standig asiatische Weisheit nach Europa stromte. Demokrit
aus Abdera hat den Orient bereist, desgleichen Anaxagoras.
Ueberall da, wo in der griechischen Philosophic die Mystik
ihre geheimnisvollen Orakelspriiche raunt, ob im Kreise der
Orphiker oder unter den weissgekleideten Pythagorasjiingern
Siiditaliens, da ist asiatischer Einfluss anzunehmen; asiatischer
Einfluss ist anzunehmen vor allem da, wo mit einer pessi-
mistischen Weltauffassung die Askese Hand in Hand geht.
Das Dogma der Metempsychose, das uns bei so vielen
griechischen Philosophen entgegentritt, ist sicher gleichfalls
orientalischen Ursprungs. Wir finden es bei Empedocles,
bei Pythagoras, bei Platon.1) In exakter Wissenschaft frei-
lich hat der griechische Geist seinen Weg ziemlich unbeirrt
von fremden Einfllissen gehen diirfen, mit alleiniger Aus-
nahme der mathematisch-astronomischen. Wie gross auch
die Macht ist, die z. B. Schopenhauer der »alten Urreligion«
der Indcr auf die Entwicklung europaischen Geistes zuschreibt,
so nimmt cr doch die Logik als ein ureigenes Erzeugnis
griechischen Denkens. Die Angabe persischer Schriftsteller,
Kallisthenes habe bei den Indern eine fertige Logik vor-
gefunden und sie seinem Oheim Aristoteles iibersandt, halt
er fur unbegriindet.2) Ist doch auch die Logik eben jenes
philosophische Gebiet, auf dem die Spekulation der kritischen
Verstandesoperation ganz das Feld raumen muss. — —
Fernerhin ist dann wohl auch auf die Concipierung der
Logosidee im Neuplatonismus und, diesem folgend, im
Christentum der Gedanke des indischen Brahman nicht ohne
Einfluss gewesen.8) Die Frage, inwieweit das Christentum
uberhaupt als eine Modifikation des Buddhismus aufzufassen
sei, hielt schon 1853 der beriihmte Sanskritgelehrte Albfecht
Weber einer Untersuchung fiir wert.4)
1) Ueber den Einfluss, den umgckehrt Europa auf Asien ausgeiibt, cf. den Aufsatz
von A. Weber: Die griechischen Nachrichten von dem Indischen Hom^r, nebst Aphorismen
iib;r den griechischen und christlichen Einfluss auf Indien, Indischc Studim, Bd. II, 161.
2) W. a. W. und V. I 57. 3) Indischc Studien, ed. Weber, I'd. IX, 4/3. 4) Ind. Stud. II, 168
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Es ist hier nicht unsere Aufgabe, zu untersuchen, wo
unci wie tief der Baum orientalischer Philosophic seine Ab-
senker in die griechische getrieben habe; fur uns geniigt es,
hier besonders auf zwei Erscheinungen hinzuweisen, die selbst
in abendlandischer Gewandung ihr orientalisches Geprage
nicht verleugnen konnen, auf Mysticismus und Asketismus,
die eben dem griechischen Nationalcharakter durchaus wider-
streiten.1)
Das Christentum ist, selbst wenn auch nicht direkter
Buddhismus, mit seinen haretischen Nebenzweigen ein ur-
spriinglich orientalisches Erzeugnis.2) Und eben aus dieser
seiner Abstammung entspringt nach Schopenhauer die welt-
uberwindende Kraft des christlichen Gedankens. Mysticis-
mus, das heisst in diesem Falle die Lehre von der Ursiinde
durch Adam und von der Erlosung durch den Christus,
beides der gesamten Menschheit, sowie Asketismus den
Schopenhauer mit Recht namentlich in der Erscheinung des
Urchristentums betont,3) das sind nach ihm die unwider-
stehlichen Waffen, mit denen das Christentum sich die Stelle
einer Weltreligion errungen hat, um sich so auch durch seine
Verbreitungssphare als Nahverwandte des Buddhismus dem
Auge darzustellen. Mystik, Pessimismus und Asketik, schon
iiber 500 Jahre vor der Geburt des Christus in Indien aus-
gebildet, flossen von dort als belebendes Blut in die Adern
des neuen Organismus, um ihm eine ahnliche Gestalt zu
geben, wie sie die indischen Religionen haben, eine Gestalt,
die erst durch Verbindung mit dem weltfreudigen Judentum
und dann durch die Reformation eine Aenderung in opti-
mistischem Sinne erfuhr. Von diesem Gesichtspunkt aus
betrachtet mag der Katholicismus mit seinem Fasten, dem
Colibat und ahnlichen asketischen Institutionen mehr dem
1) cf. von Eckstein: Ueber die Grundlagen der indischen Philosophic und dercn
Zusammenhang mit den Philosophemen der westlichen Volker, in Ind. Stud. II, 369. 2) Ver-
gleiche hierzu die Ansichten Schopenhauers in »WeIt als Wille und Vorstellungv II. p. 692 ft".
Ethik, p. 241 u. 6. — Das Christentum hat nach ihm >>indisches Blut im Leibe<<. Vierfachs
Wurzel des Satzes vom zureichcnden Grunde, p. 128. Wir citieren hier und im folgenden
stets nach der Frauenstadtschen Ausgabe; »Arthur Schopenhauers samtliche Werke. Her-
ausgegeben von Julius FraucnstSdt. 2. Auflage. Leipzig: Brockhaus 1891.« 3) W, a. W.
u. V I, p. 85. W. a. W. u. V II, p. 188. ib. p. 671. ib. p. 708, ff. Parerga II, p. 332.
ib. § 164 u. 5.
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Ideal des Christentums entsprechen als der Protestantismus.
Dass aber wirklich der asketisch-pessimistische Zug dem
Bilde des Urchristentums ureigen ist, bedarf hier keiner lan-
geren Ausfuhrung. Dem Christentum ist die Welt ein
Jammerthal, Welt und Uebel sind Synonima, und die ortho-
doxen Kirchenvater stimmen mit den Haretikern in Anprei-
sung der Askese uberein; namentlich in Verdammung der
Ehe sind Justin, Origines, Tertullian und Augustin einig mit
Enkratiten, Montanisten, Manichaern und Valesiern. Die
genannten ketzerischen Sekten gingen in der Weltflucht und
Fleischestotung freilich noch weiter als das orthodox-katho-
lische Christentum, weil sie meistens in einen, wenn auch
nicht stets ausgesprochenen Gegensatz zum Judentum traten,
durch das allererst ein optimistisches Element in das Christen-
tum getragen wurde, nicht zum Vorteil des Christentums
selbst, indem die Verbindung von Altem und Neuem Testa-
ment nur eine gewaltsame sein konnte.
In der Mystik, jener wundersamen Erscheinung des mittel-
alterlichen Christentums, regte sich aufs neue der altorienta-
lische, resp. indische Geist. Namentlich ist es die Lehre
von der Vergottung, nach Joh. Tauler, von dem Aufgehen
aller Kreatur in Gott, von dem Sich-eins-wissen mit dem
All-Einen, von der unio mystica, die den Mittelpunkt dieses
mystischen Christentums bildet. Meister Ekhart, Tauler,
Heinrich Suso, der Frankforter erkennen wiederum die hei-
lige Wahrheit, die die Brahmanen vor einem Jahrtausend in
den Worten ausdriickten: »tat tvam asi.«
Ueberhaupt, wo in philosophischen Systemen des Mittel-
alters und der Neuzeit Mysticismus und Askese in Aktivitat
treten, regen sich gewissermassen indische Grundgedanken.
Damit behaupten wir natiirlich nicht ein unmittelbares Be-
einflusstwerden der jedesmaligen Philosophic durch ein be-
stimmtes indisches System, sondern nur eine Aeusserung
einer tiefst zu Grunde liegenden Wahlverwandtschaft. Wie
dieselbe zu Tage tritt, wollen wir in dieser Arbeit im Be-
sonderen in der Philosophic Schopenhauers aufzeigen. Die
Schopenhauersche Philosophic die von Anfang an den Stempel
indischen Geistes auf der Stirne tragt, .war nicht direkt von
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jenem beeinflusst. Besonders die pessimistische Weltanschau-
ung hatte sich schon friihe in Schopenhauer festgesezt, war
ihm zum unfehlbaren Dogma geworden. Desgleichen die
idealistische Weltanschauung. Erst spater, als er sich mit
den Friichten indischer Spekulation bekannt machte, stellte er
eine unmittelbare Verbindung zwischen indischem und eige-
nem Denken her.
In seine Philosophic sind so, teils bewusst, teils unbe-
vvusst, die Grundgedanken indischer Spekulation verwoben
worden — dieselben herauszuheben, ist die Aufgabe dieser
Arbeit.
§ 2. Quellen der Schopenhauersehen Philosophie.
Platon, Kant und die Veden — diese drei nennt Schopen-
hauer seine Lehrer. Er bekennt, dass er das Beste seiner
eigenen Entwickelung einmal dem Eindruck der anschaulichen
Welt verdankt, dann aber auch dem Eindruck, den eiiriges
Studium Kants, der heiligen Schriften der Hindu und dcs
Platon hinterlassen hat.1) Seine eigene Philosophie hat so
sehr die des »erstaunlichen« Kant zur Voraussetzung, dass
sie ohne genaue Kenntniss derselben gar nicht verstanden
werden kann, und hat iiberdies noch der Leser Schopen-
hauers in der Schule des gottlichen Platon geweilt, so wird
er um so besser vorbereitet und empfanglicher sein, den
Philosophen zu horen.2) In Uebereinstimmung mit Kant
fiihlt sich Schopenhauer vor allem in seiner Lehre von der
totalen Diversitat des Realen und Idealen, von dem Ding-
an-sich, von den aprioristischen Verstandesformen, von dem
Gegensatz zwischen intelligibeln und empirischen Charakter,
von dem Zusammenbestehen von Freiheit und Notwendig-
keit. Nicht ebenso ist ihm zu Bewusstsein gekommen seine
Uebereinstimmung mit Kant, so weit sich diese erstreckt auf
die Lehre vom asthetischen Wohlgefallen, als in rein kon-
templativer, willensfreier (Kant sagt: interesseloser) Anschau-
ung beruhend.3) Von Platon hat er namentlich seine Ideeen-
Jehre entlehnt. Und was von der indischen Philosophie?
1) Kritik der Kantischen Philosophic. W. a. W. u. V. I. 493. 2) Vorredc zur 1. Aufl.
der W. a. W. u. V. I. fid, XII. 3) W. a. W. u. V. II. p. 425.
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Das eben soil im folgenden dargestellt werden. Jedenfalls
nennt cr sic an unzahligen Stellen, bald in Gestalt des Brah-
manismus, bald in der des Buddhismus; er citiert ihre Aus-
spriiche und Lehren und beruft sich auf sie zur Stiitze eige-
nen Philosophierens. In seinem fur die akademische Vor-
lesung bestimmten Manuskript: »Einleitung in die Philosophic,
iiber das Studium der Philosophie« finden wir folgende Stelle:
» — die Resultate dessen, was ich Ihnen vorzutragen gedenke,
stimmen uberein mit der altesten aller Weltansichten, natn-
lich den Veda's.*1) Er freut sich, seine Lehre in »so grosser
Uebcrcinstimmung mit einer Religion zu sehen, welche die
Majoritatauf Erdenfur sich hat.«2) Gemeint ist der Buddhismus,
oder, wie Schopenhauer sagt, der Buddhaismus. Aus dem Be-
wusstsein dieser Uebereinstimmung erklart sich audi die grosse
Achtung, mit der er durchweg von der indischen Philosophic
spricht. Wie die Inder fur ihn »das edelste und alteste« Volk
sind,3) so ist das, was ihren Glauben ausmacht, eben »die Ur-
weisheit des Menschengeschlechtes,« die »alten, wahren, tiefen
Ur-Religionen.«4) Die Veden sind die »Frucht der hochsten
menschlichenErkenntnisundWeisheit«,5) «fastiibermenschliche
Conceptionen«,6) deren Urheber kaum als blosse Menschen
denkbar sind.7) Dass diese Weisheit jetzt allmahlich in Europa
bekanntwird, ist»das grosste Geschenk unseresjahrhunderts.«
Diese Weisheit, die nicht von den Begebenheiten in Galilaa
verdningt werden wird, stromt nun nach Europa und wird eine
Grundveranderung in unserem Wissen und Denken hervor-
bringen.8) Der indische Pantheismus wird zum Volksglauben
audi im Occident werden;9) das Jahrhundert ist vielleicht
jetzt schon herangeruckt, »in welchem die aus Asien stam-
menden Volker Japhetischen Sprachstammes auch die hei-
ligen Rcligionen der Heimat wieder erhalten werden.1")
Jedenfalls wird die erfreuliche Pflege indischen Studiums,
der Einfluss der Sanskrit-Littcratur nicht weniger tief in alle
Gebiete geistigen Lebens eingreifen, »als im 15. Jahrhundert
1) Schopenhaucrs handschr. Nachlass,    cii. Griscbach, Rcclam, Bd. IT, p. 3u
2) W. a. W. u. V. II, p. 186. 3) W. a. W. u. V.  1 421. 4) ib. Vierf. Wurzel p. 98. 5) W.
a. W. u. V. I 419. 6) W. a. W. u. V. II 178.     7) ib. 543. 8) W. a. W. u. V. I 420, 421
9) Parerga I p. 59. 10) Parerga II p. 242.
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die Wiederbelebung der Griechischen.«*)-------Wir brauchen
diese Zeugnisse nicht zu vermehren, was iibrigens ein Leichtes
ware. Sie zeigen zur Geniige, mit welcher Ehrfurcht Schopen-
hauer auf die Erzeugnisse indischen Tiefsinns blickte. Und
so stand denn auch seit Beginn 1856 eine echte, tibetanische
Buddhastatue auf einer Konsole in derEcke seines Zimmers;2)
auf dem Tisch lag aufgeschlagen das Oupnek'hat, und vor
dem Schlafengehen verrichtete er darin seine »Andacht.«3)
Von der Lektiire dieses Buches sagt er: »Sie ist der Trost
meines Lebens gewesen und wird der meines Sterbens sein.«4)
Seinen weissen Pudel nannte er »Atman,« wodurch er, der
vedintistischen Lehrc folgend, das innere Wesen in Mensch
und Tier als das gleiche anerkennen wollte. — -—
Die Uebereinstimmung zwischen Schopenhauer und der
indischen Philosophic, von der wir reden wollen, diese merk-
wiirdige innere Verwandtschaft konnte nicht verborgen blei-
ben, und Schopenhauers Jiinger studierten den Buddhismus,
um den Meister besser zu verstehen. So bcrichtet dieser
selbst von dem Jiinger, «den er lieb hatte«, von Adam von
Doss.5) Nie auch ist es Schopenhauer eingefallen, jene tief-
greifende Uebereinstimmung leugnen zu wollen.6) Das geht
mit Deutlichkeit aus der oben citierten Stelle des Vorlesungs-
manuskriptes hervor. Als um 1855 Karl Grauls (1814—1864)
»Bibliotheca tamulica« drei tamulische Schriften zur Erliiu-
terung des Vedanta brachte, las sie Schopenhauer »mit
grosser Freude und wahrer Erbauung«, weil er darin seine
eigene Lehre »wie in einem Spiegel« erblickte.7) Dennoch
aber will er sich seine Selbstandigkeit in der Ausbildung
des Systems sichern. Dass er auf demselben Wege nach
demselben Ziele gelangt ist, will er nicht auf bewusste Ab-
hangigkeit von der indischen Spekulation zuriickgefiihrt haben.
Er behauptet, bei seinem Philosophiercn nicht unter buddhisti-
schem Einfluss gestanden zu haben.8) Ebenso schreibt er
1; Vorrede zur 1. Aufl. der W. a. W. u. V. XII. Eben demselben Gedanken giebt
iibrigens auch Fr. von Schlegel AusdrucV in seiner Vorrede zu der Abhandlung: Ueber
die Sprache und Weisheit der Indier. (Vermischte kritische Schriften. Bonn 1877) p. 276.
2) W. Gwinner: Schopenhauers Leben. 2. Aufl. Leipzig 1878. p. 547. 3) ib. 548. 4)
Parcrga II, p. 427. 5) W. Gwinner. a. a. O. 521. 6) Andere Vorganger pflegte er bekannt-
lich nicht eben freundlich zu begrussen: »pereant, qui ante nos nostra dixerunt.*' 7) Gwinner
a. a. O. 582. 8) W. a. W. u. V. II. p. 186.
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an Adam von Doss: »Ueberhaupt ist die Uebereinstimmung
mit meiner Lehre wundervoll, zumal ich 1814—1818 den
ersten Band schrieb, und von dem Allen nichts wusste, noch
-\vissen konnte.K1)
«Nichts wusste, noch wissen konnte.« Das ist nicht
ganz richtig. In Dresden wurde, in der Zeit von 1814—1818,
der erste Band des Hauptwerkes geschrieben, dessen Grund-
ziige aber vor 1814 im Geiste Schopenhauers festlagen.
Schon 1813 fuhlte er in Berlin unter seinen Handen oder in
seinem Geist ein Werk erwachsen, »eine Philosophic, die
Ethik und Methaphysik in Einem sein soll.«2) In der Zeit
nun von November 1813 bis Mai 1814 hatte ihn der Orien-
talist Fr. Maier in das Studium des indischen Altertums ein-
gefuhrt,') und in Dresden studierte er auch den Oupnek'hat,4)
jene Ueberseztung der heiligen Biicher der Inder ins Per-
sische (vom Jahre 1640), in's Lateinische iibertragen 1806 -
durch Anquetil du Perron. So konnte Schopenhauer, als er
den ersten Band der »Welt als Wille und Vorstellung« ver-
fasste, doch ganz wohl vertraut sein mit den indischen Gedanken-
kreisen. Ganz unbekannt waren sie ihm auf alle Falle nicht.5)
Billig miissen wir demnach Schopenhauers Versicherung,
seine gesamte Philosophic unabhangig von indischen Ein-
fliissen koncipiert und ausgefiihrt zu haben, bezweifeln, ohne
darum jedoch seine Wahrheitsliebe verdachtigen zu wollen.
Schopenhauer hatte sich fruh zu eigen gemacht, was das
Dhammapada, ein buddhistischer Text, sagt: »Alle Gabe
besiegt der Wahrheit Gabe; alle Siisse besiegt der Wahrheit
Siisse; alle Freude besiegt die Freude an der Wahrheit.«6)
»Die Wahrheit wirkt feme und lebt lange: sagen wir die
Wahrheit«, schrieb er August 1818. ^ Demnach nehmen
wir an, dass ihm selbst unbewusst in der steten Verschlingung
von selbsteigenem Denken und Vertiefen in die Weisheit
I) Schcmann: Schopcnhaucr-Briefe, p. 290. 2) FrauenstSdts Einleitung zu »A. Schopen-
hauers samtliche Werke. Leipzig 1891,* p. 158. Gwinner a. a. O. 124. Frauenstadt: Memo-
rabilien 244. 3) Kuno Fischer, Gcschichte der neueren Philosophic. Bd. XIII, p. 38. 4) ib 48-
5) W. a. W. u. V. II. 583. Anmerkung (am Schluss). Vergl. auch W. a. W. u. V. I. p. 459.
Anm., wo die Werke angefiihrt sind, die, die indische Philosophic betreffend, unserm Philo-
sophen bei der Herausgabe der ersten Aufl. der W. a. W. u. V. bekannt waren. Darunter,
an erster Stellc: xOupnek'hat. studio Anquetil du Perron.« 6) H. Oldenburg: Buddha.
Berlin 1890, p. 254. 7) Vorrede zur 1. Aufl. der W. a. W. u. V. I. XV.
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des Orients seine Gedanken eine Richtung annahmen, die
nach dcm innersten Bewusstsein zwar Ausdruck eigener
Sinnesart war, im Grunde aber stark durch sein Studium
bestimmt wurde.1)
Im iibrigen hat fur uns, die wir uns hier mit der That-
sache einer Uebereinstimmung beschaftigen wollen, die Frage
nur untergeordnetes Interesse, in wie weit diese Ueberein-
stimmung auf direkte Aneignung und bewusste Anlehnung
zuriickzufuhren sei. Mehr kann uns interessieren, welcher
Art das Einverstandnis zwischen dem abendlandischen und
den morgenlandischen Philosophcn in den Augen des erste-
ren selbst ist. Da meint er denn nun, »dass jeder von den
einzelnen und abgerissenen Auspruchen, vvelche die Upani-
schaden ausmachen, sich als Folgesatz aus dem von ihm mit-
geteilten Gedanken ableiten liesse, obgleich keineswegs auch
umgekehrt dieser schon dort zu finden sei.«2) An der oben
erwahnten Stelle des aus dem Nachlass verdffentlichten
Manuskriptes, den Text seiner Vorlesungen enthaltend, heisst
es weiter: »Doch ist dies nicht so zu verstehn, als ob, was
ich lehre, dort schon stehe. Die Veda's, oder vielmehr die
Upanischaden — — haben keine wissenschaftliche Form,
keine nur irgend systematische Darstellung, gar keine Fort-
schreitung, keine Entwicklung, keine rechte Einheit. — —
Hat man jedoch die Lehre, welche ich vorzubringen habe,
inne; so kann man nachher alle jene uralten Indischen Aus-
spriiche als Folgesatze daraus ableiten und ihre Wahrheit nun
erkennen; so dass man annehmen muss, dass was ich als
Wahrheit erkenne, schon auch von jenen Weisen der Urzeit
der Erde erkannt und nach ihrer Art ausgesprochen, aber
doch nicht in seiner Einheit ihnen deutlich geworden war;
1J VergL auch, was Schopenhauer in der von Frauenstadt in seiner Einleitung zu
der 2. Aufl. der samtlichen Werke (1891) I, p. 154 mitgeteilten Stelle aus einem Dresdener
Manuskript vom Jahre 1816sagt: >>Ich gestehe,dass ich nicht glaube, dass metne Lehreje hatte
entstehen ktjnncn, ehe die Upanischaden, Plato und Kant ihre Strahlcn zugleich in eines Mcn-
schen Geist werfen konnten.fc Aehnlich wie wir urteilt I. B. Meyer in »Arthur Schopenhauer als
Mcnsch und Denlter* (Saramlung gemeinverstandlicher wisscnschaftlicher Vortriige, acraus-
gegcben von Virchow und von Holtzendorff, Heft 145), p. 22; dass neben dcm Systemc
Schopenhaucrs es wenig anderc geben wird, »die aus so mannigfaltigen und verschiedenar-
tigen Anregungen doch mit eigener Triebkraft zusammengewachsen sind,*: 2) Vorrede zur
ersten Aufiage der W. a. W. u. V. I. p. XIII.
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so dass sie ihre Erkenntnis nur in solchen abgerissenen Aus-
spriichen, welche das Bewusstsein ihrer hellsten Augenblicke
ihnen eingab, nicht aber im Ganzen und im Zusammenhang
an den Tag lcgen konnten.1)*
Im Grossen ist der Unterschied zwischen eigener Philo-
sophic und der des indischen Altertums von Schopenhauer
klar und richtig gekcnnzeichnet: er beruht auf der systemati-
schen Durchbildung des Stoffes, auf der logischen Beweis-
methode. Die Jiinger sind, wie schon erwahnt, dem Meister
auch in seiner Begeisterung fur die indische Philosophic ge-
folgt. Man darf behaupten, dass die Teilnahme an der
Spekulation der Gangesphilosophen in Deutschland nicht so
weite Kreise ergriffen hatte, wenn nicht von Schopenhauer
und seiner Schule ihr der Boden bereitet worden ware.
Namentlich der Buddhismus ist fiir die Schopenhauerianer ein
Objekt des liebevollsten Betrachtens und ungeheuchclter Be-
wunderung gewesen, am meisten wohl fiir den Mann, auf
dem der Geist des Meisters so treu wie auf keinem anderen
geruht hat, fiir Philipp Mainlander. Mainlander bedeutet in
gewissem Betracht fiir Schopenhauer dasselbe, was Aristoteles
fiir Platon. Wenn Schopenhauer sich gleich dem Weisen
der Akademie in die Ho hen reiner Mystik erhebt, so kehrt
Mainlander wie der Stagirite auf den Boden strengster Imma-
nenz zuriick; er und Aristoteles verwerfen den Gedanken einer
transscendenten Existenz von Ideeen als Gattungsbegriffen,
wie sie einen solchen bei ihren Lehrern vorgefunden haben,
und verlegen alle Realitat in das Individuum. Sie sind beide
Realisten, die den Kosmos, den ihre Meister, vom Zauber-
mantel der Spekulation getragen, in kiihnem Fluge durch-
messen, nur so weit erforschen wollen, als sie unter ihren
Ftissen den sicheren Boden rein empirischen Wissens fiihlen.
Die Immanenz, die Schopenhauer fiir seine Philosophic in
Anspruch nahm, ist erst in der »Philosophie der Erlosung«
seines Schiilers Mainlander der Verwirklichung nahe ge-
1) Nachlass a. a. O. p. 30. Vergl. auch die vou Gwinncr a. a. O. p. 431 mitgcteilte
Aeusscrung: »Buddha, Eckhart und ich lehren im wesentlichcn dasselbe: Eckhart in den
Fesseln seiner christlichen Mythologie; im Ruddhismus liegen diesclben Gedanken unver-
kiimmert dutch solchc Mythologie, daher einfach und klar, so wcit cine Religion klar sein
kann; bei mir erst ist voile Klarheit.*
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bracht worden. Die grosse Verehrung, die Mainlander sei-
nem Meister zollt, kann sein redliches Streben nach ganzer
Wahrheit nicht in falsche Bahnen lenken; er darf mit
Aristoteles sagen: Amicus Plato, magis amica Veritas. Das
eben macht seine »Philosophie der Erlosung« und nament-
lich die darin enthaltene unbefangene Kritik der Schopen-
hauerschen Doktrin so ausnehmend interessant, dass sie uns
die Kraft eines mannlich-klaren Geistes zeigt, der sich den
verlockenden Reizen eines Mysticismus zu entziehen weiss,
denen der Meister unterlegen war. Hier ist der Zauber-
lehrling starker als der Lehrer gewesen. Unbedenklich aber
glaubt Mainlander sein Haupt vor der »blauen Wunderblume
iles Orients«, wie er sagt, vor dem Tiefsinn des Buddhis-
mus beugen zu diirfen. Die Ausdriicke, mit denen er diesen
i tihmt und verehrt, stehen den Lobpreisungen Schopenhauers,
vie wir sie eben kennen gelernt, an Ueberschwanglichkeit
nicht nach. Nur ein Beispiel, ein besonders charakteristisches,
sei angefuhrt. Er sagt: »Es ist — iiber alien Zweifel er-
haben, dass Schriften des Buddhaismus — — auf gleicher
Hohe mit dem Neuen Testament, der »Kritik der reinen
Vernunft« und der »Welt als Wille und Vorstellung« stehen,
und sonst von keinem anderen Werke des menschlichen
Geistes erreicht werden; weshalb es weit besser ist, englisch
?u lernen, um in den Buddhaismus eindringen zu konnen,
ils griechisch im Hinblick auf die griechische Philosophic
allein, oder lateinisch lediglich im Hinblick auf den Oupnek'hat
oder auf Spinoza's Werke.«') Aber indem Mainlander sol-
eher Gestalt gleich Schopenhauer den Buddhismus als die
hochste Bliite denkender Vernunft preist, verfallt er in den-
selben Fehler, in den sich audi Schopenhauer verstrickte:
er vermag die Lehre des indischen Weisen nicht mehr als
historisch gewordenes Faktum zu erfassen, er trennt eigen-
machtig einen imaginaren Kern aus einer Schale, die doch
zu gleicher Zeit erwachsen sein muss, und entwickelt den
Buddhismus von einem Grundgedanken aus, der in Buddhas
Geist nicht das treibende Agens war. Wie Mainlander
1) Philosophic der Er! isung. Bd. II (2. Aufl.) p. 74.
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esoterisches und exoterisches Christentum unterscheidet,1)
so auch esoterischen und exoterischen Buddhismus, und er
nennt in beiden Fallen esoterisch das, was seiner Philosophic
konform ist. Indes hat es ebenso wenig einen esoterischen
Buddhismus als cin esoterisches Christentum gegeben;
Christentum und Buddhismus siiui im letzten Keime reine
Beth;itigungen des praktischen Erlosungsdranges und wenden
sich darum mit ihrem einfachen, alien fasslichen Grund-
gedanken an das sinnlich-naive Verstandnis der gesamten
Menschheit. Hat somit Mainkinder zur Beurteilung des.
Buddhismus einen kritisch nicht zu rechtfertigenden Stand-
punkt eingenommen, so ist darum doch die spekulative Kraft
zu bewundern, mit der, von diescm eigenmachtig angenom-
menen Standpunkt aus, er das ganze System durchdringt; es
ist sein Licht zwar ein gefarbtes, aber es beleuchtet das
ganze Lehrgcbaude. — Mainkinder ist Individualist; vvie er
die Subjektivitat seines Ichs in freier, selbstbewusster Selb-
standigkeit dem Meister gegeniiber zu wahren wusste, so hat.
er seiner Individuality den Buddhismus angepasst und so
dem Beobachter willkommene Gelegenheit geboten zu sehen,
wie der Strahl fremder Gedanken durch das Prisma eines
starken, selbstandigen Geistes zu einer bunten Farbenharmonie
gebrochen wird, die man in der urspriinglich weissen Einheit
des Strahles nicht gesucht hiitte.
§ 3. Brahmanismus und Buddhismus.
Trotz der reichhaltigen Litteratur, die Schopenhauer als
ihm bekannt spjiter, in seinen letzten Lebensjahren, anfuhren
konnte — er nennt nicht weniger als 26 Werke und Aufsatze,
in deutscher, lateinischer, franzosischer, englischer Sprache,
und 7Avar nur solche, die er empfehlen zu konnen glaubt
und die sich nur auf den Buddhismus beziehen2) — konnte
seine Kenntnis der indischen Philosophic noch nicht die urn-
fassende, griindliche sein, die wir dank den fortgeschritteflen
Studien durch Lektiire einer viel geringeren Anzahl Werke
l) Phil, der Erlosung. II, p. 191 ff. 2) Wilier, in der Natur, im Kapitel Sinologie,
p. 130 Anm.
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erlangen konnen.1) Hatte doch noch Isaak Jakob Schmidt,
den Schopenhauer »entschieden fur den grundlichsten Kenner
des Buddhaismus in Europa« hielt,2) den Buddhismus vor
dem Brahmanismus angesetzt, so die Sache grade umkehrend.8)
Er hatte den Buddhismus um wenigstens 500 Jahre zu friih
daticrt, indem er seine Entstehung um das Jahr 1000 a. Chr. n.
verlegt.4) Schopenhauer lernte den Buddhismus in seiner
entarteten Gestalt allein kennen, den Buddhismus, wie er in
Nepal, Tibet, China herrscht, wie er denn als Biographic
Buddhas auch nur den Lalita vistara zu kennen scheint, der
viel Legenden erzahlt, aber wenig Geschichtliches enthalt,6)
eben die bei den nordlichen Buddhisten verbreitete Lebens-
beschrcibung des »Siegreich-Vollendeten.« Zu einer rein-
lichen Schcidung zwischen Brahmanismus und Buddhismus
ist Schopenhauer nicht durchgedrungen, wodurch natiirlich die
Untersuchung, was dem 'einen, was dem andern angehort,
erschwcrt wird. Oft ist seine Auffassung ein Gemisch aus
beiden Richtungen indischer Philosophic, und wir sind daher
genotigt, auch beide in den Kreis unserer Betrachtung zu
ziehen. Zudem enthalt der Buddhismus so mancherlei, das
im Brahmanismus seine Wurzel hat, dass ein richtiges Ver-
standnis des betreffenden ohne Riickgang auf die brahmani-
schen Lehren nicht wohl zu erreichen ist.
Von je her scheint das indische Volk einen unbeziihm-
baren Hang zu alles iiberfliegcnder Spekulation gehabt zu
haben; es ist, als ob seine Heimatjnicht die feste Erde,
sondern der blaue Aether gcwesen sei. Als unubersteigbare
Mauer tiirmt sich der Himalaya auf, die Schneegipfel tiber
die hochsten Wolken erhebcnd. Er schliesst das Volk der
Halbinsel von jedem Verkehr mit anderen Volkern ab, er
macht den lebendigen Austausch von Waren und Gedanken
unmoglich. Er ist ein Bollwerk gegen feindliche Einfalle
1) Wir beziehen uns im folgenden [vorn^hmlich a if Paul Deussen: Das System
des Vedanta. Leipzig, Hrockhaus 1883. Hermann Oldenberg: Buddha, sein Lebm, seine
Lehre, seine Gemcinde. 2. Aufl, Berlin bei W. Hertz 1S90. 2) Vierf. Wurzel, p. 126,
3) I. J. Schmidt- Forschungen im Gebiete der altercn religtosen, politischen und litterari-
%chen Bildungsgeschichte der Volker Mittelasiens, St. Peteisburg 1824. p. 186 fT. p. 251
A) I. J. Schmidt, a. a. O. p. 177. Als Kuriosum sci ubrigers crwahnt die Anmcrkung zu
pag. 24: >massn bedeutct im Mongolischcn jede schneidcnde WaTe; wem fallt dahei nicht
das deutsche Messer cia?!<-
       5) Oldenberg: Buddha, p. 74 ff.
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— 15 —
und beraubt das indische Volk so der Moglichkeit, in frisclier
Mannerschlacht an iiberlegenem Gegner die Kraft zu erproben,
den Arm zu stahlen. Das indische Volk wird auf sich selbst
verwiesen; denn auch der Kampf um den taglichen Unter-
halt fallt weg bei einem Klima, das Friichte und Reis in
Uebermass zeitigt. So richtet sich das ganze Interesse, das
gesunde Volker dem Staat und der sozialen Arbeit entgegen-
bringen, bei dem Inder auf die Probleme der Meditation,
der Religion. Was immer ein Volk, einen Staat wach erhalt,
das fehlt unter dem Himmel Indiens — der Mensch ver-
sinkt in Traume. In ungemessene Traume, in masslos phan-
tastische Gedankenspiele, in eine Philosophic, die den un-
hemmbaren Flug durch alle Welten unternimmt. Exotisch,
wie das ganze Leben ist auch die indische Philosophic
Da weht kein kiihler, erquickender Hauch; eine dumpfe,
bleierne Schwere und Schwiile lastet, wie auf den Korpern,
so auch auf den Gedanken. Die iiberqucllende Vegetation
ist ein Bild der fruchtbaren, unerschopflichen indischen Ge-
dankenwelt. Mit den Lianen um die Wette, die von Baum
zu Baum ihre unentwirrbaren Ketten schlingen, ranken sich
die Phantasieen ins Masslose fort. Der Acvattha-Baum senkt
seine Zweige zu Boden herab, wo sic zu neuen Wurzeln
werden: das,Symbol der Seelenwanderung. Und wenn in
trostloser Eintonigkeit zur Regenzeit die schweren Wolken
ihren Inhalt auf die Erde schiitten, Monate hindurch ohne
Aufhoren, da mag wohl der Geist einem lahmenden Quie-
tismus zur Beute fallen. Alles ist iibertrieben, kolossal,
tropisch. Die indische Philosophic ist wie die indische
Kunst, die mit zaher Geduld riesenhafte Monstren aus dem
Felsen meisselt.
In den vier, dreifach nach Samhita, Brahmanam und
Sutram gegliederten Veden hat die indische Spekulation
ihren fruhesten Ausdruck gefunden. Die Rigveda-Samhita
ist wohl die alteste litterarische Urkunde des Menschen-
geschlcchtes. Sie enthalt eine daseinfrohe Naturmythologie.
Kraftiger regt dann die Spekulation ihre Schwingen in den
Brahmana's, den daran angefiigten Aranyaka's') und den auf
1) Waldbiicher.
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diesen beruhenden Upanishaden.1) Diese konstituieren die
umfangreiche Gedankenwelt, die wir Brahmanismus nennen,
und die sich enge an den Veda2) anschliesst. Daneben
stehen dann eine Reihe philosophischer Systeme, die sich
entweder vom Veda emancipiert haben und demgemass als
ketzerisch gelten, oder aber als orthodoxe Systeme auf die
Upanishaden basiert sind. Es sind ihrer sechs, die sich auf
den Veda grunden. Das orthodoxeste von diesen ist das, Ve-
danta3) genannte, System des Badarayana (Zeitalter unbekannt),
niedergelegt in den sog. Brahma-Sutra's,4) zu denen Cankara
(um 700 oder 800 n. Chr.) einen ausfiihrlichen Kommentar
geschrieben hat. Uerselbe enthalt die Dogmatik des Brah-
manismus. Er allein wird in unserer Arbeit beriicksichtigt
werden.
Von den heterodoxen Systemen wahlen wir natiirlich den
Buddhismus. Der Buddhismus hat sich vom Veda losgelost.5)
Sein Stifter, ein vornehmer Mann aus dem adligen Geschlecht
der Sakya, Siddattha mit Namen, wurde um die Mitte des,
6. Jahrhunderts v. Chr. geboren, in Kapilavatthu, und starb
nich lange vor oder nach dem Jahre 480 vor Chr.6)
Dass der Vedanta und der Buddhismus neben vielen
gemeinsamen Ziigen ebensoviele Gegensiitze enthalten, ist
a priori einxusehen. Es wird das im Verlauf unserer Unter-
suchung hervortreten. Vorgreifend sei hier iiber diese Gegen-
satze eine allgemeine Andeutung gemacht. Der Haupt-
unterschicd zwischen beiden liegt natiirlich darin, dass der
Vedanta als Dogmatik des Brahmanismus sich enge an den
Veda, resp. die Upanishaden anschliesst,7) wahrend der
Buddhismus tils harctisches Religionssystem seine eigenen.
1) upanishad = ->geheime Sitzung, Geheimlehre.<< 2) *Das (theologischc) Wissen<<;
stammverwandt mit videre. Rjgveda = das Wisscn der »T.icdcr*, Samaveda — das Wissen
der »Gesange«. Yajurveda = das Wissen der *Opfcrspriiche«, Atharvaveda -- das Wis.sen
des Atbmrvan, 3) »Ende des Veda«, 4) sutram --- faden, Lcitfadcn, verwandt mit lat
suere, nahen, 5) Deussen: Das System des Vedanta, p. 20, 22, Oldenocrg: Buddha p. 185,4
6) Oldenberg, a, a, O, Erstcr .Abschnitr. Buddha's Lebcn p. 74 ff. Wir geben die buddhisti-
schen Termini und Namen nach Oldenberg im Pali, in welcher Sprachc die den altcren
Buddhismus allein treu bewahrenden ceyloncsischen Texte abgefasst sind, 1) Der Nama
Vedanta = »Ende des Veda* kommt urspriinglich din Upanishaden zu, wcil diese an die
Veden angehangt w^aren. Das von uns betrachtetc philosophischt System des Badarayana.
wird cben deshalb Vedanta genannt, wcil cs auf den Upanishaden beruht, den Inhalt der^
elben dogmatisch vcrarbeiter, gewisscrmassen identisch rait seiner Quelle ist
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Wege geht. Dementsprechend legt er kein Gewicht auf
Begriffe, die im Vedanta-System die Hauptaufmerksamkeit auf
sich ziehen. Dahin gehort der Begriff der maya, der Begriff
des brahman, der Begriff der Identitat. Brahman, das All-
Eine, wird von ihm nirgendwo in den Kreis der Betrachtung
gezogen.1) Dafiir drangt sich ein anderer Gedanke in den
Vordergrund, den der Vedanta nur streift, der Gedanke vom
Leiden. Der Pessimismus ist die Domane der Religion
Buddhas. Ueberhaupt ist der Buddhismus mehr Religion,
der Vedanta mehr Philosophic Ersterer richtet sein Augen-
merk vornehmlich auf ethische Fragen, der letztere ebenso
auf metaphysische. Ersterer ist praktisch, der letztere theo-
retisch. Daher verschmaht der Buddhismus durchweg den
schwerfalligen dogmatischen App;irat, mit dem der Vedanta
arbeitet.2) Eben dahin gehort es, dass, wjihrend in dem
Vedanta sich eine deutliche Scheidung von exoterischer und
esoterischer Lehre geltend macht, der Buddhismus eine solche
Sonderung nicht kennt: cr hat fur alle seine Anhanger nur
eine einzige Lehre. — — Als einen Unterschied mehr
ausserlicher Natur, der aber auch aus seiner Nichtachtung
des Veda entspringt, konnen wir die Verachtung der Kasten-
trennung betrachten, die den Buddhismus im Gegensatz zum
Brahmanismus beherrscht. In letzterem kann ein Cudra, ein
Angehoriger der vierten Kaste, uberhaupt der Erlosung nicht
teilhaftig werden,3) in ersterem ist das Thor der Seligkeit
jedem offen. Doch hat sich auch der Buddhismus ein ge-
wisses aristokratisches Element bewahrt: ein Buddha kann
nur in einer der zwei oberen Kasten geboren werden.4)
§ 4. Gang- der Untersuchung.
Es mag wahr sein, was Kant in der Vorrede zu »Pro-
legomena zu einer jeden kiinftigen Metaphysik« sagt: »Da
1) Oldenberg a. a. O. p. 66 Anm. Die Bedeutung dieser Begriffe ergiebt sich im
Fortgang der Abhandlung. 2) vWeil es nicht zum Heil dient, weil es nicht zum frommen
Wandel, zur Loslosung vom Jrdischen, zur Vernichtung des BegehrenSt zum Aufhoren, zur
Ruhe, zur Erkenntnis, zur Erleuchtung, zum Nirvana dient, deshalb hat der Erhabene es
nicht offenbart.f Oldenberg a. a. O. p. 355. 3) Deussen, a. a. O. p- 64. 4) Oldenberg,
a. a. O. 16S. Anm. 2. Vergieiche tibrigens auch, was Oldenberg iiber die Tendenz der
Beseitigung des Kastenunterschiedes sagt, p. 164 fT. Ebenso Edmund Hardy: Ber Buddhis-
mus nach iilteren Pali-Werken, MUnster 1890, p. 1 f.
2
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der menschliche Verstand iiber unzahlige Gegenstande viele
Jahrhunderte hindurch auf mancherlei Weise geschwarmt
hat, so kann es nicht leicht fehlen, dass nicht zu jedem Neuen
etwas Altes gefunden werden sollte, was damit einige Aehn-
lichkeit hatter1) Es diirfte daher anscheinend nicht gar vielWert
haben, in dem Neuen Schopenhauers die Aehnlichkeit mit dem
Alten der indischen Philosophic nachzuweisen. Einmal aber
liegt in diesem Falle mehr als blosse Aehnlichkeit vor: wir
haben hier beinahe Identitat zu konstatieren. Ferner ist es
doch immerhin von Interesse zu sehen, wie dieselben Ge-
danken sich in verschiedenen Gewandern ausnehmen, ihrer
verschiedenen Begriindung nachzugehen und die verschiedene
Tragweite auszumessen, die der, der sie dachte, ihnen bei-
legte. Endlich eroffnet eine solche Untersuchung gcwisse
Tiefblicke, in wie weit solche Gedanken in dem mensch-
lichen Denken iiberhaupt, in der menschlichen Natur iiber-
haupt begriindet sind. Und dies ist ein Argument ganz im
Sinne Schopenhauers.2)
Wir behaupteten in den ersten Paragraphen, dass die-
jenigen Lehren, die sowohl in der Philosophic des Alter-
tums als auch im Christentum uns indisches Geprrigc und
vielleicht auch indischen Einfluss zeigten, namentlich Mysti-
cismus und Asketismus seien, dieser mehr buddhistischen,
jener mehr brahmanischen Ursprungs. Dass beide auch in
der Schopenhauerschen Philosophic auftreten, ist bekannt.
Fernerhin ist es wahr, was Schopenhauer selbst sagt: »Quie-
tismus, d. i. Aufgeben alles Wollens, Askesis, d. i. absicht-
liche Ertotung des Eigenwillens, und Mysticismus, d. i. Be-
wusstsein der Identitat seines eigenen Wesens mit dem aller
Dinge, oder dem Kern der Welt, stehen in genauester Ver-
bindung; so dass, wer sich zu einem derselben bekennt, all-
malig auch zur Annahme der anderen, selbst gegen seinen
Vorsatz, geleitet wird.«8) Also werden wir zunacht darstellen,.
wie jene Trinitas sich bei Schopenhauer in genaue Beziehung
zu derjenigen in der indischen Philosophic setzt, und sodann,,
1) Schopenhauer selbst sagt: '>Im Allgemeinen —■ haben die Weisen aller Zeiten
immer das Selbe gesagt.« Parerga I p. 332. 2) W. a. W. u. V. I, p. 460. 3) W. a. W. u.
V. II, p. 704.
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wie aus der Annahme einer mystischen Metaphysik Pessi-
mismus, Quietismus und Asketik sich entwickeln. — Es ge-
niigt ja nicht, die fertigen Resultate des Denkens an einander
zu messen; eine wirkliche Einsicht in die Congruenz zweier
Systeme erlangen wir erst dann, wenn wir den Gang des
Denkens als wesentlich gleich erfassen konnen. Und da jede
Philosophic in ihrer Ethik gipfelt, so richten wir unser
Augenmerk vornehmlich auf diese, nicht in der Absicht, die
Identitat der Schopenhauerschen und indischen Ethik erst
nachzuweisen, als vielmehr um die Uebcreinstimmung zwischen
beiden genau abzugrenzen und besonders um die Wege auf-
zudecken, auf welchen unsere Philosophen zu ihrer iiberein-
stimmenden Auffassung des Sittlichen gelangt sind. Unsere
Untersuchung geht also zunachst der metaphysischen Con-
gruenz nach und zeigt sodann, wie aus glcichen metaphy-
sischen Voraussetzungen heraus bei den in Betracht genom-
menen Denkern der ethische Prozess die gleichen Bahnen
einschlagen muss.
II. Mysticismus.
-A-, I>ie Welt des Objokts.
§ 5. Der Idealismus.
1. Die transscendentale Idealitat der Erscheinungs-
welt.
Die Welt, wie sie in den Formen wechselnder Mannig-
faltigkeit vor den Augen des denkenden Menschen, des
Philosophen sich bewegt, ist billig das Grundproblem aller
Philosophic Billig beginnen wir daher unsere Untersuchung
mit den Lehren, die wir bei den von uns in Betracht ge-
nommenen Philosophen iiber die Aussenwelt vorfinden. In
welchem Sinne die Welt real sei, dicsc Frage lassen wir
uns nacheinander von dem Vedant i, vom Buddhismus und
von Schopenhauer beantworten.
2-
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a. Vedanta.
Der Vedanta kennt im ganzen Universum nur ein
Seiendes, dem die Bezeichnung »Seiendes« mit Recht zu-
kommt, nur ein wahrhaft und im hochsten Sinne Reales:
das brahman, auch atman genannt. Ueber Zeit, Raum und
Kausalitat als Ding-an-sich hinausliegend, ist das brahman
frei von jeder Veranderung; neben ihm giebt es kein anderes
Reales: es ist das Zweitlose. Brahman ist die absolute Ein-
heit; was nicht Einheit ist, die Vielheit, ist nicht brahman,
ist demnach nicht real. Wenn wir also in der Welt eine Viel-
heit sehen, die in bestiindiger Veranderung begriffen ist, so
ist diese veranderliche Vielheit nicht brahman und somit nicht
real, nicht wirklich. Die Vielheit ist ein Sinnentrug; die
Ausbreitung der Welt in mannigfaltige, dem Wechsel unter-
worfene Gestaltungen ist eine Tauschung, ein Traum, ein
Blendwerk. Es ist die dem Menschen angeborene avidya,
»das Nichtwissen,« die ihm eine Vielheit als wirklich vor-
spiegelt, wo doch eigentlich nur die Einheit des brahman
ist, und einen Wechsel, wo thatsachlich nur das der Ver-
anderung entruckte brahman sich finden lasst. Nichts von
dem, was wir sehen, ist so, wie wir es sehen, namlich als
Vieles und Veranderliches; die gesamte Erscheinungswelt
ist ideal, phanomenal. Davon macht unser Korper, unsere
Leiblichkeit, in der wie in einer vierfachen Hiille unser
Selbst, die Seele, steckt1), keine Ausnahme; auch er ist ein
Trugbild. Darum sollten wir unter seinen Schmerzen so
wenig leiden, als wie wir die Schmerzen fiihlen, mit denen
wir andere behaftet sehen; denn auch der Schmerz ist nur
Illusion2).
Doch beschrankt sich der Idealismus des Vedanta nicht
darauf, nur die Korperwelt fur blosse Erscheinung, der keine
Realitat zukommt, zu erklaren. Brahman allein ist real;
was wir als von ihm unterschieden auffassen, ist nichtig.
Selbst unsere Seele, unser Selbst, der individuelle atman,
der eben durch seine Individuation sich von brahman los-
1) Deussen a. a. O. 53, nach der Taittiriya-Upanishad. 2) Deussen, a. a. 0. 322.
Ueber den Schmerz als Illusion cf. § 14.
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trennt. Daher giebt es eben so wenig im hochsten Sinne
eine Vielheit von Seelen, als es eine solche von Korpern
<nebt. Die avidya, die angeborene Tauschung gaukelt uns
eine solche inhaltlose Mannigfaltigkeit vor. Nichtig sind die
Gotter;1) nichtig ist das aparam brahma, das »niedere brah-
man*, das mit Attributen behaftet, mit Kraften ausgestattet
in der apara vidya, der »niederen \Vissenschaft« als Welt-
schopfer Gegenstand der frommen Verehrung ist.2) Nich"
tig und hohler Schein ist Schopfer und Schopfung. Nichtig
ist der samsara, der Kreislauf der wandernden Seelen. Alles
das hat keine wahre Realitat, die allein dem Ding-an-sich, dem
param brahma, »dem hoheren brahman« zukommt; alles ist
blosse Erscheinung; die ganze Welt ist Vorstellung.
Es ist der im »Nicht\vissen«, in der avidya befangene
Geist, der Welt und Seele fur an sich real nimmt, eine
Meinung ahnlich der, die einen Strick fur eine Schlange,
einen Baum fur einen Menschen nimmt. Dieser avidya steht
die vidya, »das Wissen« gegeniiber, die den hohlen Trug
der Sinne durchschaut. Die Ausbreitung der Welt in »Na-
men und Gestalten« hat ihre Bedeutung nur auf dem em-
pirischen »Standpunkt des Welttreibens«, vyavahara-avastha,
und fallt fort auf dem »Standpunkt der hochsten Realitat«r
paramartha-avastha. Die Erlosung besteht darin, dass man
sich von ersterem auf letzteren erhebt. Nicht erlost aber
wird und
»vom Tod zu neuem Tode rennt,
Wer ein Verschiednes liier erkennt; •—
Von Tod in Tod wird der verstrickt,
Wer ein Verschiednes Mer erblicktc.3)
Die ganze Welt ist thatsachlich nichts anderes als das
unterschiedlose, eine brahman; nur in ihm, als Einheit hat
sie ein wirkliches Dasein, nicht aber in ihrer in die Sinne
fallenden Vielheit: »Gleichwie, o Teurer, durch einen
Thonklumpen alles, was aus Thon besteht, erkannt ist; auf
Worten beruhend ist die Umwandlung, ein blosser Name,
Thon nur ist es in Wahrheit«.*) Wie ein Zauberer, ein
1) cf. § 7- 2) cf. § 7. 3) Deussen, a. a. O. p. 54, nach Kathaka-Up. 4) ib. Chandogya-
Up. 6, 1, 4.
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mayavin, einen Zaubcr, maya, »aus sicli heraussetzt«, so ist
die ganze Welt ein Gaukelkunststilck des brahman. Geho-
ben wird dieser Zauber allein durch Eintritt des »Wissens«,
der vidya, der »universellen Erkenntnis«, samyagdarcanam.
Die vidya hebt den Schleier der maya und zeigt die wirk-
liche Einheit in der bios scheinbaren Vielheit. — Dieses der
brahmanische Idealismus, die Einsicht in welchen als »Un-
terscheidung der ewigen und nicht-ewigen Substanz«, das
heisst zwischen Ding-an-sich und Erscheinungswelt, neben
dem Vedastudium als Haupterfordernis fur den zur »Wissen-
schaft« Berufenen gilt.1)
b. Buddhismus.
Durch Einfiihrung des Begriffs der maya als einer Folge
der dem Intellekt angeborenen Tauschung, der avidya, die
das Ding-an-sich nicht zu erkennen vermag, gestaltet sich im
Vedantasystem der Idealismus ziemlich einfach. Anders,
verwickelter liegen die Verhaltnisse im Buddhismus. Dieser
legt keinen Wert mehr auf den Begriff des Einzig-Realen,
an dem gemessen die Welt der empirischcn Realitat sich
als ideell herausstellen muss; ihn interessiert die metaphy-
sische Frage nach dem Urgrunde aller Dinge weniger als
die Thatsache, dass alles Leben Leiden ist. Daher erscheint
bei ihm der Idealismus wesentlich anders basiert als im
Brahmanismus. Zunachst miissen wir betonen, dass, wie er
den Begriff des brahman in den Hintergrund treten oder
vielmehr uberhaupt fallen lasst, er auch nicht mehr die maya,
diese auf der avidya beruhende mystisch-kosmische Potenz,
durch die die Welt falschlich als Seiendes erscheint, fiir den
Sinnentrug verantwortlich macht. Erst in spaterer Zeit
taucht diese wieder auf.2) Nach altbuddhistischer An-
schauung aber — und nur diese kommt fiir uns in Betracht
— beruht der Idealismus der ganzen Welt darauf, dass alle
Gestalten, die in der Welt uns entgegentreten, nicht sowohl
1) Deussen, a. a. O. p. 84. 2) Oldenberg a. a. 0. p. 259. In spaterer Zeit gilt auch
der Idealismus nicht mehr unbestritten. Weber fiihrt bei Aufzahlung der vicr Gestaltungen,
die der Buddhismus angenommen, als vierte die der Vaibhashikah an, die den ausseren Objekten
wiikliche. unmittelbare Kxistenz zuspricht. Ind. Studien I p. 2. VergU auch Deussen, a.
a. O. p. 261.
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seiende, als vielmehr werdende und vergehende sind. \\ as
aber irgendwie Anspruch auf reale Existenz erheben will,
muss sich in seinem jeweiligen Zustand behaupten konnen
__ und das kann nichts nach buddhistischer Meinung. Eine
Veranderung verdrangt die andere, und nirgendwo findet sich
ein in sich beharrendes Sein. Der absolute Kausalnexus
beherrscht alle Zustande und lasst keinen zu Ruhe kommen.
Unter der Bezeichnung sankhara oder dhamma, synonyme
Namen,1) die alien Erscheinungen in Makrokosmos und Mi-
krokosmos zukommen, die von Oldenberg mit »Ordnung«
und »Gestaltung« iibersetzt werden, versteht der Buddhis-
mus weniger etwas Geordnetes, etwas Gestaltetes, als ein
Sich-Ordnen, Sich-Gestalten.2) Nichts aber hat sich gestaltet,
ist geworden und in der Zeit am Faden des Kausalitatsge-
setzes entstanden, das nicht auch eben darum vergehen muss.
Jede Geburt ist das Siegel des Todes. Geworden und un-
bestandig, entstanden und verganglich sind durchaus gleich-
bedeutende Begriffe. So lost der Buddhismus jedes schein-
bare Sein in eine wirkliche Folge von Entstehen und Ver-
gehen auf; nur in diesem ununterbrochenen Werde- und
Vergehe - Prozess haben alle dhamma oder sankhara ihre
Existenz. Es giebt keine Dauer, es giebt nur Wechsel. —
So steht der Buddhismus zum Brahmanismus in dem-
selben Verhaltnis wie Heraklit zu den Eleaten. Die ganze
sinnfallige Welt ist nur Schein; die Vielheit existiert nicht;
es existiert keine Bewegung, Realitat kommt nur dem hinter
der Erscheinungswelt ruhenden Sein-an-sich zu; »das Beste
kann nur Eines sein« — so lehren die Eleaten und die ve-
dantistischen Philosophen. Dem gegeniiber halten Heraklit
und Buddha, sein Zeitgenosse, daran fest, dass das Einzig-
Seiende der Wandel ist; nach ihnen hat die Bewegung allein
Realitat; »alles fliesst«. Aber der Buddhismus ist noch
weiter gegangen als Heraklit. Wahrend dieser ein Substrat
annimmt, an dem der Wandel vor sich geht, das Feuer, so
leugnet der Buddhismus auch dieses. Er kennt nur Be-
wegung, nur Wechsel, aber keine Materie, an der sich dieser
Wechsel vollzieht. Eine Substanz im Sinne eines in sich
1) Oldenberg a. a. O. 272 Anm. 2. 2) Oldenberg a. a. O. 264.
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beruhenden Seins ist dcm Buddhismus durchaus frcmd. Es
giebt kein Sein, es giebt nur Werden. Der naive Mensch
mag, durch die scheinbare Dauer der sankhara getauscht,
eine Bestandigkeit und darum Wirklichkeit der Aussenwelt
annehmen; der Weise hingegen erkennt, dass ein faktisches
Sein, eine in sich geschlossene Substanz nicht vorhanden ist.
Vielmehr ist alles ein Komplex von ineinandergeschlungencn
Werde- und Vergehungsprozessen.
Fiir den Vedanta giebt es nur keine individuelle Seele;
es giebt uberhaupt keine Seele fur den Buddhisten.1) Auch
das Subjekt, das Ich, die Personlichkeit, die Seele ist ein
»Haufen wandelbarer sankhara«, nichts als ein bestandiges
Auf und Nieder von Entstehen und Vergehen, ein fort-
wahrendes Andringen und Verschwinden von Empfindungen
und Vorstellungen, das seine Einheit allein im Begriff findet.
»Nicht findet sich hier eine Person.«2)
Alles Dasein hat demnach nur eine existentia fluxa, die
allein durch den steten Wechsel besteht, einem Wasserstrudel
vergleichbar.3) Alles Dasein ist ein ewiges Fliessen und
Stromen und nichts dariiber hinaus. Es ist ein Sich-Zutragen,
ein Geschehen, und was sich zutragt, ist Leiden. Eine bc-
stimmte Person aber, die leidet, ist nicht zu erkennen. Der
Buddhismus hat die letzte Konsequenz des Idealismus ge-
zogen: selbst das »cogito, ergo sum« des Kartesius hat fur
ihn keine Giiltigkeit mehr. Auch die Seele ist zum sankhara
herabgedriickt worden, und findet ihre Existenz nur im Begriff.
c. Schopenhauer.
1781 erschien die Kritik der reinen Vernunft, 1788 die
1) cf. § 11, 3. 2) Oldenberg a. a O. 274 ft". 3) Wahrend in der Ultcren Gestalt
des Buddhismus der Idealismus auf der ausnahmclosen Giiltigkeit des Kausalitatsgesetzes
beruht, also den Objekten als solchen anhaftct, die eben nur durch ihre natiirliche Verbin-
dung mit einander Uestand und Wesen haben, ist es in der spateren Gestalt der mensch-
liche lntellekt, das Subjekt also, auf dem der Phanomenalismus beruht. >>Nach dieser Vor-
stellungslchre beruht die Aussengestalt (nur) in dem Intellekte, und das ganze Welttreiben
. . . ist nur etwas Innerlichest. Ueber die Vorstillung hinaus sind Aussendinge uber-
haupt unmoglich. Die Erkenntnis wird zwar durch die Empfindung erzeugt, aber eine
Vcrschicdenheit der Empfindung, wodurch eine Verschicdenhcit der Erkenntnis bedingt
ware, wird nicht zugestanden. Wie bei Sinnestiiuschungen eine Fata morgana dem Ver-
stande Dinge vorspiegelt, dencn keine wirklichcn Aussendinge cntsprechen, so verhalt es
sich beim Erkennen uberhaupt.
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Kritik der Praktischen Vernunft — 1788 wurde Arthur
Schopenhauer geboren.
Vor allem mit Riicksicht auf seine idealistische Welt-
anschauung bekennt Schopenhauer sich als Schiiler Kants,
den er nicht genug zu riihmen weiss, dass er den Bann des
Realismus gebrochen. Ihm gilt der Uebergang vom Realis-
mus zum Phanomenalismus als eine »geistige WiedergeburU,1)
als der Austritt aus dem Alter der naiven Kindheit in das
Stadium besonnener Mannlichkeit. »Sors de 1'enfance, ami,
reveille-toi!« ist das Motto, das er dem ersten Buch seines
Hauptwerkes vorgesetzt hat. Jede wahre Philosophic muss
idealistisch sein; »ja, sie muss cs, um nur redlich zu sein.«a}
Die Befahigung, die ein jeder zur Philosophic besitzt, geht
grade so wcit wie seine Hinneigung zum Idealismus, und
»\vcm nicht zu Zeiten die Menschen und alle Dinge wie blosse
Phantome oder Schattenbilder vorkommen, der hat keine
Anlage zur Philosophie«.8) Veranlassung, die indische Philo-
sophic als Urweishcit des Menschengeschlechts zu riihmen,
giebt ihm besonders der dort herrschende Idealismus. Un-
gemein haufig sind die Stellen, in denen er Citate in Bezug
auf die maya anfiihrt, die daselbst gebrauchten Bilder (vom
Strick, der als Schlange, vom Sand, der als Wasser, vom
Baum, der als Mensch erscheint) mitteilt, kurz, in denen er
den indischcn Idealismus erwahnt. Wir nehmen in Betracht,
wie er sein en Idealismus begriindet.4)
»Die Welt ist meine Vorstellung.« Diesen Satz stellt
Schopenhauer als Grundwahrheit an die Spitze seines Haupt-
werkes. Die Welt ist Vorstellung und zunachst nichts dar-
iiber hinaus, das heisst: die Welt ist bedingt durch das an-
schauende Subjekt, nur fur dieses vorhanden, ohne dieses
unmoglich. Diese Thatsache, »die bloss in Europa, in Folge
der wesentlich und unumgfinglich realistischen jiidischen
1) Vorredc zur 2. Aufl. der W. a. W. u. V. I, p. XXIV. 2) W. a. W. u. V. II, p. 5.
3) Frauenstadt. Aus A. Schopenhaucrs handschriftl. Nachlass, p. 295. Schon friih stand
in Schop. die idealistische Grundansicht fest. cf. Gwinner a. a. O. 140. Die in obigem Citar
ausgesprochene Ansicht Schopenhauers, die Ahnung von der idealistischen Beschaffenheit
der Welt sei Grundbcdingung allcr philosophischen Befahigung, deckt sich zicmlich genau
mit der pag. 22 angcfiihrten Forderung des Vcdanta von der Einsicht in den Unterschied
der cwigen und nicht-ewigen Substanz. 4) W. a. W. u. V. II, Kap. 1, »Zur idealistischen
Grundansicht*.
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Grundansicht, paradox*;1) erscheint, wird im wesentlichen
durch drei Beweise erbracht.
Erstlich. Jede Erkenntnis ist wesentlich Vorstellung.
Jede Vorstellung zerfiillt notwendigerweise in zwei Correlata:
Subjekt und Objekt; zu einer jeden Vorstellung ist notig ein
Vorstellendes und ein Vorgestelltes. Keines von beiden
darf fehlen. Somit ist Objekt sein nichts anderes als: vom
Subjekt erkannt werden, und Subjekt sein heisst nichts mehr
als: Objekte haben. Subjekt und Objekt sind schlechthin
untrennbar, selbst fur den Gedanken, indem jedes nur durch
und fur das andere Bedeutung und Dasein hat. Insofern
erscheint also jedes Objekt als abhangig vom Subjekt, ohne
das es eben kein Objekt sein kann. So auch die Vorstellung
der Welt. Die Welt kann nur sichtbar werden, das heisst:
in die Vorstellung treten, das heisst: Objekt werden, wenn
ein sehendes, vorstellendes Subjekt vorhanden ist. Nur fiir
dieses ist die Welt vorhanden, nur fiir und durch ein anderes.
Sie existiert nur in dieser Abhangigkeit und nicht an sich.
Man kennt keine Sonne, nur ein Auge, das die Sonne sieht;
keine Erde, nur eine Hand, die die Erde betastet. Erst mit
dem ersten erkennenden Wesen trat die Welt als Vorstellung
auf; sie muss vergehen, sobald das letzte vorstellende Sub-
jekt verschwunden ist; denn ihr Bestehen ist ganz und gar
relativ. »Kein Objekt ohne Subjekt.« Diese so nahe liegende
unleugbare Wahrheit stellt schon an der Wurzel die Welt,
das Objekt, weil es durchaus immer nur in Beziehung auf
ein Subjekt da ist, als von diesem abhangig, durch dieses
bedingt und daher als blosse Erscheinung dar, die nicht an
sich, nicht unbedingt existiert.*) — — Diesen Beweis der
Idealitat nennen wir den logischen.
So leitet Schopenhauer von vornherein die Idealitat der
Aussenwelt aus der blossen Thatsache ab, dass in jeder Vor-
stellung von einem Objekt nur in Beziehung auf das vor-
stellende Subjekt die Rede sein kann. Die Welt als Objekt
ist abhangig vom Subjekt. In noch hoherem Grade erscheint
dieses durch die folgende Betrachtung begrundet.
1) Vierf. Wurzel, p. 32. 2) W. a. W- u. V. I p. 1 ft". Vicrf. Wurzel § 16. Kritik der
Kantischen Philosophic p. 514 ft*. Grisebach: A. Sch's. handschr. Nachtass Reklam. Ed. II p. 55.
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Jede Vorstellung ist ein komplicierter physiologischer
Vorgang im grossen Gehirn.1) Der Intellekt ist eine phy-
siologische Funktion des tierischen Lebens, und zwar an
das Gehirn gebunden.2) Durch den Intellekt aber allein ist
die gesamte Anschauung der in Raum und Zeit ausge-
dehnten Aussenwelt allererst moglich. Dieselbe kommt durch
das Zusammenwirken zweier Faktoren zu stande. Der erste
Faktor ist der Intellekt, d. h. der Verstand, dessen alleinige
Funktion in der Anwendung des a priori gegebenen Kau-
salitatsgesetzes besteht. Das zweite sind gewisse Empfin-
dungen in den durch Anhaufung von NervenstofF besonders
sensibel gemachten Sinneswerkzeugen, die sogenannten Reize.
Die Reize sind trotz ihrer verhaltnismassigen Geringfiigig-
keit das alleinige Material der Aussenwelt; als formgebendes
Prinzip bringt der Verstand das Kausalitatsgesetz hinzu.
Der Verstand namlich fasst die Veranderungen, die der
Korper als unmittelbares Objekt erleidet und die eben in den
Empfindungen der Sinnesorgane, den Reizen bestehen, als
Folgen auf, zu deren Ursachen er intuitiv vermittelst des
angeborenen Kausalitatsgesetzes iibergeht, welche Ursachen
zu gleicher Zeit in den gleichfalls a priori gegebenen Raum
verlegt und dort als Korper angeschaut werden. In den
Reizen, diesen durftigen Empfindungen von in den Sinnen
vorgegangenen Veranderungen, liegt noch durchaus keine
Andeutung auf die Anschauung; die Anschauung wird erst
durch den Verstand, den Intellekt hervorgebracht. Alle An-
schauung ist daher nicht sensual, sondern intellektual.3) Diese
Grundwahrheit einzuscharfen, wird Schopenhauer nicht miide,
und in iiberzeugender Weise thut er dar, wie z. B. die ver-
wickelten Vorgange beim Sehen, das Einfachsehen des
Doppelt-Empfundenen, das Aufrichten des umgekehrt aufge-
nommenen Eindrucks und anderes mehr, nur dann zu er-
klaren sind, wenn als Hauptvermittler der Anschauung der
\ erstand zu Hilfe gcnommen wird, der die Sinnesempfin-
dungen als Daten benutzt, um unter Anwendung seiner ihm
1) W. a. W. u. V, II p, 2'4. 2) W. a. W, u. V. II Kap. 22: »Objektive Ansicht des
lntcliekts« p. 307. Griscbach, Nachlass II p, 54. 3) »Mens videt, mens audit, cetera surda
et coeca«.
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ureigenen Thatigkeit, von der Folge auf die Ursache zuriick
zugehen, als Ursache des Sinnenreizes ein Objekt draussen
im Raume anzuschauen. —
Aus der Thatsache einer Anschauung der Ausserrwelt
ist also nicht zu schliessen, dass diese Anschauung als solche
irgendwelche Realitat besasse; denn sie ist und bleibt sub-
jektiv bedingt. Die Reize, das Material der Anschauung,
sind subjcktiv, weil sie immer nur innerhalb des Organismus,
unter der Haut stattfinden; das Gesetz der Kausalitat, das
formelle Prinzip, ist subjcktiv als a-prioristische Gchirnfunk-
tion. Die Welt als Vorstellung hat somit kein selbstandiges
Dasein; sie ist nur durch und nur fiir das Subjekt da, und in
dieser ganzlichen Abhangigkeit ist sie durchweg ideal.1) Wir
nennen diesen Beweis der Idealitat den physiologischen.
Drittens endlich. Das Kausalitatsgesctz ist einerseits
eine a priori unserem Intellekt angeborene Form, anderer-
seits aber auch der Ausdruck fiir das Wesen aller moglichen
Klassen der Objekte, das heisst: die besondere Art, darin
der Satz vom Grunde in jeder besonderen Objektenklasse
erscheint, bestimmt auch den ganzen Gehalt derselben. Am
deutlichsten erscheint dies Verhjiltnis in der Zeit, riicksicht-
lich der einzelnen Augenblicke, deren Gesamtheit eben die
Zeit ausmacht. Hier ist jeder Moment die Folge eines vor-
hergehenden, die Ursache des folgenden. Eine bestandige
Succession von Zeitteilchen ist es, was die Zeit und ihr
Wesen konstituiert — und eben das und nichts anderes ist
es, was der Satz vom Grunde riicksichtlich der Zeit aus-
sagt. Succession ist das Wesen der Zeit, Succession ist
die Gestalt des Satzes vom Grunde in der Zeit. Und so
auch in jeder anderen Objektenklasse. »Wer den Satz vom
Grunde, wie er im blossen rein angeschauten Raum herrscht,
erkannt hat, der hat eben damit das ganze WTesen des Raumes
erschopft; da dieser durch und durch nichts Anderes ist,
als die Moglichkeit der wechselseitigen Bestimmungen seiner
Teile durcheinander, welche Lage heisst.« Und endlich ist
1) Uebcr das Sehcn und die Farben § I.' Vhrf. Wurzel, § 21, p. 51. W. a. W. u.V.
I p. 13 IF. W. a. W. u. V. 11 K.ap. 2: >>Zur Lehre von der anschauenden Oder Vcrstandes-
erkenntnis*.
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das Wesen der Materie, die den Inhalt der Formen Zeit
und Raum, ihre Wahrnehmbarkeit ausmacht, nichts weiter
als die besondere Form des Satzes vom Grunde, die wir
unter dem Namen Kausalitatsgesetz begreifen. Wer in
den Sinn dieses Gesetzes eingedrungen ist, hat damit das
Wesen der Materie erfasst. Kausalitat ist das alleinige
Wesen der Materie; ihr Sein ist Wirken. Stent es nun also
fest, dass der Satz vom Grunde der Ausdruck fur die Natur
aller Objekte ist, so fragt es sich, was der Satz vom Grunde
in seiner Gesamtheit besagt. Antwort: er ist der Ausdruck
der Abhangigkeit, der Relativitat schlechthin; er besagt,
dass das Eine existieren kann nur in Folge und Gemassheit
des Anderen. Somit ist auch das Wesen aller Objekte nur ein
relatives; das eine besteht nur, weil es vom andern bedingt
wurde, aber eigenen Bestand hat es nicht und ist nichtig.
Am deutlichsten springt dies in die Augen bei der Zeit.
Die Vergangenheit ist gewesen, also jetzt nichtig; die Zu-
kunft noch nicht erschienen, also nichtig, und die Gegen-
wart ist nichts mehr als die ausdehnunglose Grenze zwischen
Vergangenheit und Zukunft. Wreil der Satz vom Grunde
als Gesetz der Succession die Zeit beherrscht, ist diese
ohne reales Sein. Ebenso verhalt es sich mit dem Raum,
in dem Begriffe wie oben und unten, rechts und links keine
absolute, nur eine relative Bedeutung haben. Sind aber
Zeit und Raum nichtig, so kann das, was in ihnen erscheint,
nicht real, sondern nur ideal sein, namlich die Materie und
die anschaulichen Objekte.1) Wir nennen diesen Beweis den
metaphysischen.
Neben diese drei Hauptbeweise fur die Idealitat der
Aussemvelt treten noch eine Reihe anderer, die wir hier
iibergehen konnen. Auch solche a posteriori. So ist z. B.
die empirische Unerforschlichkeit aller Naturwesen ein
solcher Beleg a posteriori der Idealitat und blossen Er-
scheinungswirklichkeit ihres empirischen Daseins. Denn wenn
selbst in den einfachsten Erscheinungen ein fiir uns Unerklar-
bares ubrig bleibt — und dass dies der Fall ist, lehrt die Er-
fahrung ■—, wenn in alien Gestalten etwas ist, das nicht in
) Vierf. Wurzel p. 82; ib. 141 f; W. a. W. u. V. I p. 9 ff.
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die Formen unseres Verstandes eingeht, so folgt daraus, dass wir
die Wesen nicht erkennen, wie sie an sich und wirklich sind,
sondern nur, wie sie uns erscheinen.1) — — Auch die ge-
samte Abhandlung »Ueber das Sehen und die Farben« dient
zur Stiitze der idealistischen Grundansicht, indem sie die
Farben nachweisen will als Eigenschaften, die nicht den
Dingen an sich zukommen, als Eigenschaften, die vielmehr
vollstandig subjektiven Ursprungs sind als Thatigkeiten der
Retina, als in polaren Gegensatzen erscheinende Aktionen des
Auges.
So gehort die objektive Welt, wie wir sie erkennen,
nicht dem Wesen der Dinge an sich selbst an, sondern ist
eine blosse Erscheinung desselben, bedingt durch jene
Formen, die a priori im menschlichen Intellekt liegen, da-
her sie auch nichts als Erscheinungen enthalten kann.2) Selbst
die elementarsten Formen, Zeit und Raum, sind nur ideal. »Wir
sind nicht in der Zeit, sondern die Zeit ist in uns.« Alles
Objektive ist Erscheinung, blosscs Gehirnphanomen, und das
Leben, welches wir fiihren, ahnelt nicht nur einem Traum:
es ist ein Traum.3) Ein Traum, der sich von dem Traum
der Nacht nur dadurch unterscheidet, dass der nachtliche
Traum jeden Morgen durch das Erwachen als nichtig erwiesen
wird. So sagt auch Cankara, der Philosoph des Vedanta:
»Der Unterschied (der als Illusion aufzufassenden Weltaus-
breitung) von der Traumillusion liegt nur darin, dass die
Weltausbreitung bis zur Erkenntnis der Seele als brahman
fortbesteht, wahrend die Traumausbreitung taglich widerlegt
wird.«4)
Nun aber ist eines zu bcmerken. Wie Kant iiber Berkeley
hinausging, der den Standpunkt des absoluten Idealismus
vertrat, und die Erscheinung der Welt, unbeschadet ihrer
Qualitat als Erscheinung, doch auf ein Ding-an-sich zuriick-
fiihrte, das sich in jener Erscheinung manifesticrt, so ist
Schopenhauer seinerseits wieder iiber Kant hinausgegangen
und hat das Ding-an-sich, das jeder Erscheinung zu Grunde
liegt und von Kant als unerklarlich bezeichnet wurde, als
1) W. a. W. u V. II. p. 217 f. 2) Kritik tier Kautischen Philosophic p. 499. 3) W.
a. W. u. Vi I p 18 ff 4) Deusscn, a. a. O. p. 372,
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»Willen« nachgewiesen.1) Die Erscheinung ist also nicht in
jeder Beziehung ein Phantom, ein ganz und gar inhaltloser
Schatten, sondern weist zuriick auf den in ihr in die Er-
scheinung tretenden Willen als das Ding-an-sich.2)
Behalten wir diese wichtige Einschrankung des Idealis-
mus im Auge und vergleichen sodann den Idealismus Scho-
penhauers mit dem des Buddhismus und des Brahmanismus,
so macht sich zunachst die Gleichheit der leitenden Gedanken
in der Begriindung bemerkbar: der von uns physiologisch
genannte Beweis trrigt vedantistischen, der metaphysische
buddhistischen Charakter. Denn der erste erklart den Idea-
lismus aus der Beschaffenheit des menschlichen Intellekts,.
der nur Erscheinungen in sich aufnehmen kann, dem die
avidya, das Nichtwissen angeboren ist; im zweiten ist es,
eben wie auch im Buddhismus, der Kausalnexus als der Aus-
druck der ewigen Relativitat, der Abhjingigkeit der einen
Erscheinung von der andcrn, der zur idealistischen Welt-
ansicht fiihrt. Was aber den Idealismus als solchen anbe-
trifft, so steht Schopenhauer auf dem Boden des Vedanta..
Bern Buddhismus ist jede Erscheinung der Welt eben nur
Erscheinung und nichts daruber hinaus, nur eine hohle
Schaumblase ohne realen Inhalt; er vertritt den absoluten
Idealismus. Nicht so der Vedanta und Schopenhauer, die
ihren Idealismus auf dem hochst realen Untergrund eines-
Dinges-an-sich aufbauen; die Welt ist und bleibt zwar ideal
und Erscheinung, doch ist sie die Erscheinung der einzig
moglichen Realitat. ■— —■
2. Erklarung des Idealismus aus den metaphysischen
Grundgedanken der Systeme.
Wir haben oben die verschiedenen Begriindungen mit-
geteilt, die der Idealismus in der Hauptsache von Schopen-
hauer selbst erfjlhrt. Es waren dies durchweg Begriindungen,
I) cf. § 6, 3. 2) \V. a. W. ii. V. I p. 142 ff. W. a. W. u. V. II p. 204. Willen in der
Natur p. 86. Parerga II 187 ff.--------Vergl. iiber das Verhaltnis von crkenntnistheoretischem
Idealismus und naturphilosophischem Realismus in der Lchre Sch's. die Darstellung des-
selbcn bei Frauenstadt in: »A. Soh. und seine Gegncrt. (Gottschall: »Unsere Zeit,« Jahr-
gang 1869, p. 694) wiederholt in s liner Einleitung zur 2. Auflage der Gesamtausgabe, p. 65 ff.
wit iiberhaupt jcne Einleitung zum Tcil ein wortlicher Abdruck der iiltcren Abhand--
lung in »Unstre Zeit. ist.
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•die den letztcn Urgrund aller Dinge und Verhaltnisse unbe-
riihrt liessen und so, wenn man will, mehr ausserer Art
waren. Daher mag es von Interesse sein, zu sehen, wie der
Idealismus die unausbleibliche Folge der metaphysischen
Urgedanken des Schopenhauer'schen Systems ist. Der Wdle
ist es, der als Ding-an-sich, als Prinzip, als motorische Kraft
alien Erscheinungen der Aussenwelt zu Grunde liegt. Es
muss dieser Wille, wie a priori einzusehen ist, urspriinglich
ein blinder, unbewusster sein; dcnn die bewusste Natur, das
Reich der Tierheit, stent an Umfang hinter dem der unbewussten
weit zuriick, wie es denn auch spater als die unbewusste
Natur sich entwickelt hat. Und so ist denn auch thatsach-
lich der Schopenhauer'sche Wille von Haus aus blind und
unbewusst, ein finsteres, dumpfes Treiben.1) Dann aber er-
giebt sich als unabweisbare Folgerung, dass der Intellekt
nur ein zufallig Hinzugekommenes, ein Accidens ist, ein-
tretend erst auf den oberen Stufen der Willensobjektivationen.
Er ist also sekundarer Natur. Aber noch mehr. Der In-
tellekt ist, wie die Physiologie empirisch nachzuweisen ver-
mag, an das Gehirn gebunden, das Gehirn seinerseits ist
durch den Korper bedingt, so dass der Intellekt eigentlich
sogar erst tertiarer Art ist.2) Wie konnen nun seine Formen,
Zeit, Raum und Kausalitat, nicht relativ sein, und, sind diese
relativ, wie kann dem Inhalt dieser Formen, der Anschauung
der Aussenwelt, ein unabhangiges, absolutes Dasein, ein Sein
fur sich zugesprochcn werden? — Wir sehen, wie aus dem
metaphysischen Grundgedanken, dass der Wille das Ding-
an-sich sei, der Phanomenalismus sich als naturgemasse Fol-
gerung ergiebt und fragen uns daher, ob in der indischen
Philosophic ein gleiches Verhaltnis von Grund und Folge
statt hat. Im Brahmanismus springt dieses Verhaltnis sofort
in die Augen; es gestaltet sich sogar hier noch wesentlich
einfacher als bei Schopenhauer. Die Dogmatik hat auf das
brahman alle hochste Vollkommenhcit vereinigt, alle Wesen-
heit, alles wahre Sein, so sehr, dass alles, was als von jeneni
verschicden erscheint, nur als ein wesenloser Schatten sich
darstellt, ja, im Grunde iiberhaupt nicht ncben brahman
1) W. a. W. u. V. 1 178 u. o. 2) Wilier, in der Natur p. 20. W. a. W. u. V. 11 p. H2.
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existiert, gar kein Sein ausserhalb dcs Seins in brahman be-
sitzt. Von der unendlichen Hohe des brahman aus gesehen,
verschwindet die ganze Welt, die ganze Schopfung mit Einzel-
seele und samsara. So verlangt auch in dem Vedanta die
Metaphysik den Idealismus. — Wie aber im Buddhismus?
Der Buddhismus hat eine eigentliche Metaphysik nicht aus-
gebildet, er kennt kein Ding-an-sich; darum gilt der Idealis-
mus, ohne Stiitze einer festen Metaphysik, wenigstens in der
spateren Gestalt des Buddhismus, nicht durchgjingig.1) Wie
der Idealismus der Buddhisten der altesten Zeit beschaffen,
haben wir dargestellt. Er beruht im wesentlichen auf dem
ewigen Fluss der Dinge, der durch das Gesetz der Kausali-
tat gelenkt und beherrscht wird. Dieses also ist es, das
allein im Wirbel der Erscheinungen als bleibende Macht sich
behauptet. Es schwebt als standige Potenz iiber dem Hin
und Her der sankhara's.*) Aber nicht als aeterna Veritas,
nicht als eine transscendente Regel, der ewige Geltung zu-
gesichert ist. Vielmehr ist das Kausalitatsgesetz durchaus
immanent und ist abhangig vom Willen des Menschen, der,
wenn er sich von der Welt abwendet, auch den Anspruch
des Kausalitatsgesetzes zu nichte macht. Auf diesem imma-
nenten Prinzip beruht der buddhistische Idealismus, der also
auch in dieser Hinsicht in Gegensatz tritt zu dem Schopen-
hauers und des Vedanta. Diese beiden nehmen zur innersten
Begriindung des Phanomenalismus ihre Zuflucht zu einem
transscendenten Prinzip. Wir konnen sagen: der Idealismus
des Bralimanismus und Schopenhauers ist heteronom, der
des Buddhismus aber autonom. —
3. Die empirische Realitat.
Weder Schopenhauer noch der Bralimanismus in der
Gestalt des Vedanta sind bei dem blossen Idealismus stehen
geblieben. Beide sprechen den Erscheinungen Realitat zu,
nicht die absolute des Willens oder des brahman, sondern
eine empirische. Eine Hallucination mag man als solche
und daher als blosses Trugbild erkennen; dass sic thatsach-
lich dem Geiste vorschwebt, ist eine unbestreitbare empirische
1) cf. p. 22, Anm. 1. 2) Oldenberg a. a. O. 273.
3
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npj^gQP- ......                          ....-..— — — — •—                 .—■—.—-. ■-^,
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Thatsache. In diesem Sinne also miissen wir nach Schopen-
hauer und dem Vedanta den Erscheinungen empirische Rea-
litat vindicieren.
Die Realitat, die der Dogmatismus der Aussenwelt zu-
schreibt, und die in der Unabhangigkeit des Objekts vom
Subjekt bestehen soil, diese Realitat ist ein Unding. Die
Realitat, von der hier die Rede ist, hebt die transscenden-
tale Idealitat durchaus nicht auf. Realitat ist iiberhaupt nichts
anderes als der richtige Uebergang von der Wirkung auf
die Ursache; sie ist Sache des Verstandes. Das durch den
Verstand richtig Erlcannte ist Realitat; ihr Gegcnsatz ist der
Trug des Verstandes: der falsche Schein.1) Die Realitat hat
es ausschliesslich mit dem Kausalitatsgesetz zu thun, und es
hat somit keinen Sinn, nach der Wirklichkeit eines Dinges
ausserhalb der Kausalitat, ausserhalb seines Wirkens zu fragen.
»Insofern ist also die angeschaute Welt in Raum und Zeit,
welche sich als lauter Kausalitat kund giebt, vollkommen
real, und ist durchaus das, wofiir sie sich giebt, und sie giebt
sich ganz und ohne Riickhalt, als Vorstellung, zusammen-
hangend nach dem Gesetz der Kausalitat. Dieses ist ihre
empirische Realitat.« Weil das Kausalitatsgesetz es ist, das
die Objekte untereinander verbindet, darum haben diese em-
pirische Realitat; sie wiirden vollkommene, absolute Realitat
haben wenn das Kausahtatsgesetz auch iiber das Reich der
Erscheinungen hinaus die Objekte mit dem Ding-an-sich ver-
bande.2)_____Da das Kausalitatsgesetz, auf dem die em-
pirische Realitat beruht, selbst der Erscheinung angehort,
konnen wir mit eiraem Paradoxon sagen: Die empirische
Realitat der Welt besteht in ihrer Idealitat.
Wir lassen hieJ" eine Stelle aus Cankara's ICommentar
folgen die auch fiir den Vedanta das Zusammenbestehen
von empirischer Reabtat und transscendentaler Idealitat be-
weist.
»Tedes Wesen laamlich hat seine ursprUngliche Identitat
mit brahman verges sen und halt nun das empirische »Ich«
und »Mein« fur das Selbst und seine Eigenschaften. Dies
,) W. a. W. u. V. I 2»- 2) w- a. W. u. V. I p. 17. W. a. W. u. V. II p. 22. ib.
p. 8 f. Parerga I p. 89 ft".
■ ■ —'■! I"' mm
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ist so lange wahr, bis die Erkenntnis der Einheit mit brah-
man erwacht.— Ganz wohl, aber doch nicht dariiber hinaus!
Eine Strickschlange kann doch nicht wirklich beissen, eine
Luftspiegelung loscht nicht wirklich den Durst; und ebenso ist
es im Traume: das getraumte Schlangengift totet nicht wirk-
lich, das getraumte Wasser macht nicht wirklich nass! —
Gewiss nicht! aber wie man (im Traume) die Ursache, den
Schlangenbiss, das Wasser, wahrnimmt, ebenso nimmt man
auch die Wirkung, das Sterben, das Nasswerden, wahr. —
Aber diese Wirkung ist doch nicht real! — Die Wirkung
ist nicht real, aber die Wahrnehmung derselben ist real und
wird durch das Erwachen nicht aufgehoben. Denn wenn
jemand erwacht, so erkennt er als Irrtum, dass die Schlange,
das Wasser da waren, nicht aber, dass er sie wahrgenommen
hat. So ist zwar das im Traume Wahrgenommene nicht wahr,
aber die Wahrnehmung desselben ist wahr.«')
Was diese Worte besagen, ist folgendes: Das ganze
Welttreiben gleicht den Bildern eines Traumes; wenn das
Erwachen, in diesem Fall die Erlosung, eintritt, zerstieben
sie in Nichts. Sind also in dieser Hinsicht die Traumbilder
als ideal zu bezeichnen, so entbehren sie andererseits durch-
aus nicht einer ganz bestimmten realen Wirklichkeit; denn
sie sind thatsachlich da, so lange eben der Traum da ist.
In solcher Weise besteht alles weltliche und vedische Treiben
zu Recht, so lange wir unsere urspriingliche Brahman-Selbst-
heit ausser Acht lassen. Die Welt ist durchaus real, so
lange wir nicht ihre Idealitat kennen. Auch die individuelle
Seele ist wirklich individuell und ihre Individualitat kein
blosser Schein, »so lange man das eine Vielheit annehmende
Nichtwissen, welches dem Halten eines Baumstamms ftir
einen Menschen vergleichbar ist, nicht beseitigt und das
hochste, ewige, seinem Wesen nacli schauende Selbst durch
die Erkenntnis: "ich bin brahman" noch nicht erlangt hat.«2)
»Und auch derKanon«, erklart Cankara, »wenn er sagt: "Denn
wo eine Zweiheit gleichsam ist, da sieht einer den andern"
erklart mit diesen Worten fiir den Nichterweckten das Treiben
der Wahrnehmung u. s. w. fiir giiltig; hingegen fiir den Er-
1) Nach Dcussem Referat a. a. O. p. 291. 2) Deusser a. a. O. p. 200.
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weckten erklart er es fur ungiiltig, wenn es weiter heisst:
"Wo aber einem alles zum ewigen Selbste geworden ist, wie
sollte da einer den anderen sehen".«x) — Die empirische
Realitat gilt auf dem empirischen Standpunkt der avidya,
auf dem vyavahara avastha; die absolute allein auf dem
metaphysischen Standpunkt der vidya, auf dem paramfirtha-
avastha.
§ 6. Die eigentliehe Metapbysik:.
1. In dem Vedanta.
Was ist die Welt? Von einer Seite haben wir sie im
vorhergehenden Paragraphen kennen gelernt. Sie ist, sagen
Schopenhauer und die indischenPhilosophen ubereinstimmend,.
Vorstellung und als solche durchweg ideal und vom Subjekt
abhangig. Zu gleicher Zeit aber sahen wir, dass wenigstens
fiir Schopenhauer und Badarayana, den Philosophen des
Vedanta, die Welt mehr als blosse Vorstellung war, dass
sie die Welt betrachteten als Hiille, in der ein ganz Anderes,
ein Uebersinnliches steckt wie der Gedanke in den "Worten.
Was dieses sei, wird im Folgenden behandelt. — —
7 Mitten hinein in das bunte Treiben der Welt, in das
Auf- und Abwogen der Gestalten, von Geburt und Tod findet
sich der Mensch gestellt, umringt von tausend Ratseln, be-
stiirmt von tausend Schrecknissen. Betaubt kehrt er den\
Blick in's eigene Innere, aber auch hier, wie in der ausseren
Natur, schaut er auf eine wechselnde Flut, von Empfmdun-
gen und Gedanken. Von geheimnisvollen Kraften fuhlt er
sein eigenstes Wesen durchzogen, er erkennt sich als wie einen.
Ringplatz einander feindlich gesinnter Gewalten: Trieb ringt
mit Trieb, Verlangen mit Verlangen. — Mikrokosmos und
Makrokosmos, beide stehen ihm so wie Fremdlinge gegen-
iiber, mit Fragen auf der Lippe, die nach A-ntwort verlangen.
Was bin ich? Was ist die Welt? Was bedeutet all' dies
stiirmende Gedrange?--------Mit rustigen Arraen wirft sich
der denkende Mensch in die Flut, und strebt einem sicheren
Eilande zu, an dem die Brandung der Erscheinungen macht-
los abprallt. Von dem ewig unbewegten Grunde aus blickt
1) ib. 122. vergl. fcrner p. 288. p. 57 Anm. 31.
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er dann auf das wogende Geschiebe und fusst auf dem
»ruhenden Pol in der Erscheinungen Flucht.« Mit dem ersten
Nachdenken des Menschen iiber sich und die Welt ist die
Metaphysik erwacht. Es muss etwas geben, das hinter all
diesem wirren Treiben steht, unberuhrt vom Wechsel. All'
diese Gestalten, die auftauchen und verschwinden, eine die
andere verdrangend, miissen auf einem geheimnisvollen Ur-
grund beruhen, der still und sich gleich bleibt wie die Tiefe
des Meeres bei alien Stiirmen der Oberflache. Im Fluss der
Dinge muss es ein Stehendes geben, im ewigen Vergehen
ein ewiges Sein, gleich wie die eigene Personlichkeit dieselbe
bleibt durch alien Wechsel von Kindes- und Greisenalter
hindurch. Weil die Erscheinung bestJindig wechselt, kann
sie nicht das Wahre sein; denn das Wahre bleibt unverander-
lich. Und die ganze Welt ist dem Wechsel unterworfen;
darum ist sie in der Gestalt, wie wir sie sehen, nicht, wie
sie wirklich ist. Sie ist nur ein Symbol, ein Abbild, sie redet
mehr, als sie sagt. Aus diesem recht eigentlich philosophi-
schen Gedanken heraus bildet der Mensch die Gottergestalten
der Mythologie, und die Mythologie ist die Mutter der philo-
sophischen Metaphysik. Aus diesem Gedanken heraus schlos-
sen die Eleaten von dem ewigen Wechsel der Erscheinungs-
welt auf ein hinter dieser ruhendes ewiges Sein, bildete Pla-
ton als bestandige Urbilder der unbestandigen Dinge seine
Ideeen; aus diesem Gedanken heraus schuf der Inder seine
mythologischen Gotter und sein metaphysisches brahman.
Zwei Wege giebt es, die zur Metaphysik fiihren. Der
eine nimmt seinen Ausgang von der grossen Allwelt, der
andere von der kleinen Welt des Menschengeistes. Beide
fiihren zu dem gleichen Ziele: zu dem versteckten Grunde
aller Erscheinung. Der Inder hat beide betreten. Urn die
Elemente und ihr Walten zu erklaren, suchte und fand er
seine Gotter: Indra, Agni u. s. w.; er suchte nach dem »Le-
benssaft« und dem »Lebenssaft des Lebenssaftes^1) nach
den Machten und ewigen Potenzen, auf denen der Weltlauf
beruht. Man sucht dieErklarung der Welt zu ermoglichen durch
1) Oldenberg a. a. O. p. 25.
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— 38 —
Annahme mythologischer Wesen, die, vom reifenden Denken
immer mehr ihrcs anthropomorphen Charakters entkleidet,
zu einer unpersonlichcn Einheit fiihren. Wir nennen diesen
Weg zur Metaphysik den kosmologischen. — Daneben geht
die metaphysische Forschung von dem Menschen selbst aus,
um den Makrokosmos nach Analogie des Mikrokosmos zu
deuteil. Wir nennen diesen Weg den anthropologischen.
Er namentlich ist von den indischen Denkern mit Erfolg be-
schritten worden. Er ist jedoch fur die Indcr ein doppelter
gewesen, ein priesterlicher und ein mehr philosophischer,
den nicht sowohl die zum Denken privilegierte Kaste der
Brahmanen, als die der Krieger, der Kshatriya's gegangen
ist.1) Ersterer fiihrtzum brahman, letztererzum atman, als dem
Prinzip alles Seins —■ die Resultate beider bestehen eine Zeit
lang neben einander, um endlich zusammen zu fallen und sich
sodann mit den auf kosmologischem Wege gewonnenen Prin-
zipien zu vereinigen. Brahman und Atman erscheinen in dem
Vedanta durchaus als Wechselbegriffe, und sie sind thatsach-
lich identisch, sowohl ihrem anthropologischem Ursprung als
ihrer Bedeutung nach. Beide lassen sich als »Seele« an-
sprechen, brahman als kosmische Weltseele, atman als psy-
chische Menschenseele, und beides ist gleich. Das ist der
tiefe philosophische Gehalt der indischen Philosophic, dass
sie den Schliissel zum Verstandnis des Universums im Men-
schen sucht, dass sie es zum klaren Bewusstsein bringt, wie
das innere Wesen, das in uns, den Individuen, lebt und wirkt,
nichts anderes ist als jene Gewalt, die der gesamten Natur
zu Grunde liegt. Wir sehen unsern Korper die Gesetze be-
folgen, nach denen sich die Erde richtet; wir miissen darum
annehmen, dass das motorische Prinzip in beiden das gleiche
ist. Nur so werden wir wahre Kinder dieser Welt, die glei-
ches Fleisches und Blutes wie der Erzeuger sind. Das ist
die Philosophic der Identitat, deren Motto lautet: »tat tvam
asi«, »Das bist Du.« Nur das eine kann das philosophische
Verdienst des Brahmanismus schmalern, dass er das Wesen
von All und Mensch in eine Kraft setzt, die in Wirklichkeit
1) Beussen a. a. O. p. 18.
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— 39 —
diesen Vorzug zu geniessen nicht berechtigt ist, namlich in die
Geistigkeit, caitanyam, den Intellekt.
Das brahman bedeutet ursprunglich die innerliche Kraft
des Gebetes, welche den Betenden iiber die Schranken der
Individuality hinaushebt und ihn dadurch gewissermassen zum
Uebermenschen, zum Gott macht.1) Im Brahmanismus er-
scheint es selbst als Gott, als Trager des Weltalls und in
philosophischem Sinne als die Ureinheit, mit einem Kanti-
:schen Ausdruck: als das Ding-an-sich.2) Von ihm heisst es
in der Brihadaranyaka-upanishad: »Das Korperlose, das Un-
sterbliche, das Leben ist lauter brahman, ist lauter Licht.«3)
Ebenso:
»Des Odems Odem und des Auges Auge,
Des Ohres Ohr und des Verstands Verstand,
Wer diese kennt, der wahrlich hat das brahman,
Das alte, uranfiingliche erkannt.«4)
Brahman ist das allein Seicnde;5) es ist die »allvissende
und allmjichtige Ursache des Entstehens, Bestehens und
Vergehens der Welt.« Es ist das Leidenlose, das Zweitlose;
es ist »neti, neti«, das heisst: nicht so und nicht so; es ist
»nicht kurz und nicht lang, nicht grob und nicht fein.«
Der atman bedeutet die elfte »unbenannte« Atemkraft,
auf die sich die iibrigen zehn Atemkrafte des menschlichen
Leibes »griinden«;6) er gilt so als das Princip, auf dem alle
Lebensfunktionen beruhen, als Seele, als Ich. Als Seele
regiert der atman den ganzen Korper und wird dann von
diesem auf die Welt iibertragen: die Einzelseele weitet sich
zur Weltseele. Brahman und atman verschmelzen mit ein-
ander. »Dem atman bringe man seine Verehrung, dem
geistigen, dessen Leib der Odem, dessen Gestalt Licht,
dessen Selbst der Ather ist, der sich Gestalten bereitet, welche
er will, dem gedankenschnellen, voll rechten Wollens, voll
rechten Haltens, alien Duftes, alien Saftes Ursprung, der
nach alien Weltgegenden dringt, der durch dies All reicht,
1) Eine Shnlichc Entwicklnng wie sie der Bcgriff des Logos durchgemacht hat.
2) Eine genauere Darstellung des Wesens des brahman-atman sowie eine Rechtfertigung der
Bezeichnung desselben als Ding-an-sich ist einem spateren § aufgehoben. Hier sollte nur
die Thatsache einer metaphysischen Kraft konstatiert werdcn. 3) Deussen a. a. O. p. 209.
4) Deussen a. a. O. p. 210. 5) ib. p. 139. 6) Oldenberg a. a. O. p. 26.
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wortlos, achtlos. So klein wie ein Korn Reis oder Gerste
oder Hirse oder ein Hirsenkern, also weilt dieser Geist
im Ich; golden, wie ein Licht ohne Rauch, so ist er; weiter
denn der Himmel, weiter denn der Ather, weiter denn diese
Erde, weiter denn alle Wesen; er ist das Ich des Odems,
er ist mein Ich (atman); mit diesem atman werde ich, wenn
ich von hinnen scheide, mich vereinigen. Wer es also
meint, wahrlich, da ist kein Zweifel. So sprach CandilyaK.1)
Und weiter spricht Yajfiavalkya, der Weise der indischen
Vorzeit, in der Brihadaranyaka-upanishad: »Er aber, der
atman, ist nicht so und nicht so (neti, neti). Er ist un-
greifbar; denn er wird nicht gegriffen, unzerstorbar; denn er
wird nicht zerstort; unhaftbar; denn es haftet nichts an ihm;
er ist nicht gebunden, er wankt nicht, er leidet keinen Schaden.» ')
Gleich dem brahman ist also auch der atman unfahig, in
die Formen des menschlichen Erkenntnisvermc3gens einzu-
gehen. Der Mensch wird brahman und das Weltall atman.
»Wem in des Lcibs abgriindlicher Befleckung
Geworden ist zum Selbste die Erweckung,
Den als allmicbtig, als der Welten Schtipfer wisst,
Sein ist das Weltall, weil er selbst das Weltall ist.«
Von den Formen der Erscheinungswelt bleibt atman-
brahman frei: er ist erhaben iiber Raum, Zeit und Kausalitat.
Er ist ewig, also iiber der Zeit; unmessbar gross, das Weltall
erfullend, also jenseits der Schranken des Raumes, unzer-
storbar, unwandelbar, also entnommen dem Anspruch des
Gesetzes von Ursach und Wirkung. Daher, in allem, was
lebt, ist es brahman oder atman was lebt; ganz und un-
geteilt erscheint in jedem Wesen das brahman, dieses kos-
mische Princip. Das einzig reale Sein des brahman ist
die Einheit, weil es nicht beriihrt wird von Zeit und Raum,
den Formen der Moglichkeit der Individuation und Vielheit.
Nur der Blick, den der Schleier der maya verwirrt, kann im
Nebenmenschen, im Tier, in der Pflanze nicht dasselbe
Wesen erkennen, das des eigenenWesens Wesen ist. Und doch
mussen wir zu allem, was da lebt, sagen: »tat tvam ask,
»das bist Du«. — — Das Ding-an-sich, das brahman, der
1) ib. p. 31. 2) Deussin a. a. O. p. 211.
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— 41 —
atman ist das einzig Reale. Einheitlich, ohne Attribute,
ewig, unerkennbar ist das brahman allein das Seiende, dem
kein Wechsel anhaftet. In uns erscheint es seinem gesamten
Wesen nach; das besagen die Worte: »aham brahma asmi« =
»ich bin brahman.« Auf dem brahman beruht die ganze
Welterscheinung. Aber nur die Einheit des brahman ist
im hochsten Sinne real; was als Vielheit erscheint, ist nicht
wirklich, ein Trug. Die ganze Welt, und in ihr wir mit, ist
ein solcher Trug; denn sie ist nicht einheitlich, sondern eine
bestandige Kette von Ursache und Wirkung. Es giebt nur
eine Seele, die nichts anderes ist als das Ding-an-sich, und
wenn wir eine unendliche Zahl von individuellen Seelen zu
erblicken glauben, so ist das Trug und Schein. Diese eine
Seele kann, als den ganzen Raum fullend, nicht als wandernd
gedacht werden, also ist auch der samsara Illusion. Also
ist auch fernerhin der Unterschied zwischen Gotter-, Menschen-,
Tier- und Pflanzenseelen nichtig. Das seinem Wesen nach
aus reinem Sein und reiner Geistigkeit bestehende Ding-an-
sich, das brahman, ist einzig und allein das Wirkliche,
Wahrhaftige.
Die Lehre vom »grossen, ungeborenen Selbst« ist der
Grundstein der brahmanischen Metaphysik, und diese der
Grundstein des gesamten Brahmanismus. Wir sehen, wie
sich unmittelbar an jene Lehre der indische Idealismus an-
schliesst. Und so konnen wir aus ihr zwanglos ableiten,
was immer fur das indische Denken charakteristisch ist.
So den Pessimismus; so den Atheismus. So vor allem die
Lehre von der Erlosung, moksha, indem diese eben in nichts
anderem besteht als in der Erkenntnis des atman als Ding-
an-sich, womit unweigerlich die Erkenntnis der hinfalligen
Nichtigkeit dieser ganzen Welt verbunden ist, als einer Welt,
der die absolute Realitat mangelt. Aber selbst im indischen
Volk, das wie kaum ein zweites metaphysisch veranlagt war,
ist die Lehre vom brahman als dem All-Einen nur we-
nigen, nur den ganz abstrakt Denkenden ein bequemes
Gebiet gewesen. So sehr sich auch das ganze Volkstum
fiir philosophische Spekulation empfanglich zeigt ■—■ es war
Gebrauch, dass jeder Jiingling aus den drei arischen Kasten
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- *■■—4.
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als brahmacarin, d. i. als Brahmanenschiiler den grossten
Teil der Jugend hindurch bei einem Brahmanen sich mit
dem Veda vertraut machte, — so erwies sich doch fiir die
breite Masse die metaphysische Lehre vom brahman als dem
Ding-an-sich als zu wenig konkret. Der naive Mensch kann
nur schwer iiber den Realismus hinaus, vor allem muss es
ihn befremden, wenn ihm sogar der eigene Korper als ideal
in das Gebiet der blossen Vorstellung verwiesen wird, und
die Schmerzen, unter denen er leidet, nur illusorisch, ihn
nicht treffend sein sollen. Die »hohere Wissenschaft,« die
para vidya, die reine Metaphysik ist nur fiir den Philo-
sophen; das Volk verlangt nach einer ihm adiiquateren
Lehre, und diese bietet ihm die apara vidya, »die niedere
Wissenschaft.«
Was das Vedanta-System so ausnehmend interessant
macht, ist die merkwiirdige Vereinigung, in der hier eso-
terische und exoterische Lehre erscheinen. Auf der einen
Seite eine durchgebildete Metaphysik, auf der anderen cine
fassliche Volksreligion, beide teils streng geschiedcn, teils
einander voraussetzend. Die para vidya hat zum Gegenstand
das param brahma, das »hohere brahman«, wie wir es als
attributloses Ding-an-sich kennen gelernt; der apara vidya
gehort das »aparam brahma« an, das »niedere brahman«,
auch »sagunam') brahma, savicesham8) brahma* genannt.
Dieses brahman ist nicht Gegenstand der Erkenntnis, sondern
der frommen Verehrung. Es erscheint als mit Attributen
und Bestimmungen behaftet, als personlicher Gott. Im
Comentare Cankaras heisst es: »Giebt es denn zwei brah-
mans, ein hoheres und ein niederes? Allerdings giebt es
zwei--------Was ist denn das hohere brahman, und was das
niedere? Darauf antworten wir: wo unter Abwehr der durch
das Nichtwissen gesetzten Unterschiede von Namen und
Gestalten das brahman durch die3) Ausdriicke: »nicht grob
und nicht fein, nicht kurz und nicht lang« bezeichnet wird,
da ist es das hohere. Wo hingegen ebendasselbe zum Be-
hufe der Verehrung bezeichnet wird als unterschieden durch
irgend einen Unterschied z. B. in Worten wie: »Geist ist
1) attributhaft. 2) unterschiedhaft. 3) bloss negativen.
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sein Stoff, Leben sein Leib, Licht seine Gestalt,«, da ist es
das niedere. «x) Das niedere ist gemeint, wenn es bezeichnet
wird als »allwirkend, allwiinschend, allriechend, allschmeckend,
das All umfassend, schweigend, unbekummert«z,) welche
Bezeichnungen alle besondere Bestimmungen des brahman
voraussetzen; ebenso: »Sein Haupt ist Feuer, seine Augen
Mond und Sonne, die Himmelsgegenden die Ohren, seine
Stimme ist des Veda Offenbarung. Wind ist sein Hauch,
sein Herz die Welt, aus seinen Fiissen Erde.«s) Das
hohere, attributlose, einheitliche brahman, das Ding-an-sich,
ist eingegangen in die Formen menschlichen Erkennens und
hat Namen und Gestalt angenommen. Im tiefsten Grande
freilich ist auch das aparam brahma nichtig; die apara vidya,
die niedere Wissenschaft, ist doch nur avidya, d. i. Nicht-
wissen. Das einzig existierende hohere brahman wird durch
die Bestimmungen, die ihm der in der avidya, im principium
individuationis befangene Geist beilegt, wodurch eben es
sich als niederes brahman darstellt, so wenig afficirt, wie
ein Kristall dadurch in sich unklar wird, dass man ihn mit
Farbe bestreicht. In der eigentlichen Metaphysik giebt es
also gar kein niederes brahman; dasselbe hat in der Gestalt
eines personlichen Gottes seine Geltung nur in der apara
vidya, der Volksreligion. Der Vedanta kann aber als or-
thodoxes, an die Autoritat des Veda gebundenes System
das aparam brahma nicht vernachlassigen; er muss, weil der
Veda es befiehlt, neben der Schopfung auch den Schopfer
gegen sein besseres Wissen anerkennen und glaubt sich aus
diesem fatalen Dilemma durch die Annahme zweier Lehren
ziehen zu konnen, einer esoterischen und einer exoterischen,
denen beiden Berechtigung zukommt, dieser eine relative,
jener eine absolute.
2. Im Buddhismus.
Wahrend demnach der Brahmanismus ein vollstandiges
Gebaude der Metaphysik aufgefuhrt hat, sehen wir uns im
Buddhismus vergeblich nach einer derartigen positiven Meta-
physik um. Alle die Begriffe, aus denen eine solche sich
1) Deussen a. a. O. p. 123. 2) Deussen a. a. O. p. 164 nach den Worten des Candilya
n der Chandoya-up. 3,14. 3) Deussen nach Mundaka-up. 2, 1, I. a. a, O. p. 142.
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aulbaut, haben hier ihre Giiltigkeit verloren: Sein, Substanz,
Scele. »An eine Zweiheit, o Kaccana, pflegt diese Welt
sich zu halten, an das »Es ist« und an das »Es ist nicht«.
Wer aber, o Kaccana, in Wahrheit und Weisheit es anschaut,
wie die Dinge in der Welt entstehen, fur den giebt es kein
»Es ist nicht* in dieser Welt. Wer, o Kaccana, in Wahrheit
und Weisheit es anschaut, wie die Dinge in der Welt vcr-
gehen, fur den giebt es kein "Es ist" in dieser Welt*1) Fur den
absoluten Idealismus Buddhas giebt es, wie wir oben ausfuhrten,
nurein Geschehen, einununterbrochenesWerdenund Vergehen,
und zwar von Leiden, das ubrigens an kein Substrat gebunden
ist. Alle Erscheinungen der Welt, die sankhara, die »Ge-
staltungen« sind fliichtig und nichtig. Eine ewige Flut von
Wechsel und Veranderung — aber wo die Quelle dieser
Flut liegt, darnach fragt Buddha nicht. Eine wesenlose, hin-
fallige, leidenerfiillte Welt — aber wie diese Welt entstanden
ist, das hat fur ihn kein Interesse. Woher das Leiden iiber-
haupt in die Welt gekommen ist, erscheint ihm durchaus
belanglos; sein Augenmerk richtet sich allein darauf, dass
Leiden wirklich da ist. Leiden und Welt sind identisch,
aber: »Ihr Jiinger, denkt nicht Gedanken, wie die Welt sie
denkt: »Die Welt ist ewig oder die Welt ist nicht ewig,
Die Welt ist endlich oder die Welt ist unendlich.« Wenn
ihr denkt, ihr Jiinger, so mogt ihr also denken: »Dies ist
das Leiden;« ihr mogt denken: »Dies ist die Entstehung des
Leidens;« ihr mcigt denken: »Dies ist die Aufliebung des
Leidens;« ihr mogt denken: »Dies ist der Weg zur Auf-
hebung des Leidens,«'2) Fiir den praktischen Sinn des
Buddhisten hat die Frage keinen Wert, ob hinter den
sankhara ein wesenhaftes Prinzip ruhe. Er kiimmert sich
allein um die diesseitige Welt; er kennt keine jenseitige
Welt, deren fliichtiger Schatten die diesseitige sei; er schreitet
nicht hinaus aus der Erscheinungsfulle zu einem Reich, wo
die Wurzeln der Erscheinung lagen, wo das Ding-an-sich
in bleierner Ruhe thronte.3) Ueber der Folgerung, die er
1) Oldenbarg a. a. O. p. 270. 2) Oldenberg a. a. O. p. 273. 3) Dass Nirvana nicht
das Reich des Dinges-an-sich ist, sondern mit dieser Weit durchaus nichts zu thun hat,
ist § 18 ausgefiihrt worden.
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aus seinem nackten Idealismus gezogen hat, iiber der That
sache des absoluten Pessimismus vergisst er die Frage nach
dem Creditiv aller Wesen. Ueber der ethischen Frage des
Pessimismus vernachlassigt er die Metaphysik. Er steht mitten
in dieser Welt, so nichtig sie auch sein mag, und schaut
allein auf sie als eine qualvolle, jammervolle, elende. Was
er weiss, ist allein dieses: alle sankhara sind nicht Sein, son-
dern nur Wechsel, und darum auch leidvoll. Da nur hort
das Leid auf, wo auch die Unbestandigkeit schwindet, wo
kein Wechsel, sondern ewige, selbstgenugsame Ruhe ist, im
nirvana. Dieses nirvana ist das Ungestaltete, Unbewegte,
■— mit dem Reich des Bewegten hat es nichts zu thun. So
wird die Welt in alien ihren Gestaltungen, mit ihrem end-
losen Leiden als eine bittere Thatsache hingenommen; man
fragt nicht, woher sie sei, ob eine metaphysische Kraft sie
gebildet hat und erhalt. Das Wort brahman, das dem
Brahmanismus alles war, ist dem Buddhisten ein leerer Schall.
Diese Tendenz des Buddhismus, die ihn von aller
Metaphysik abwendet, ihn zur praktischen Religion mit vor-
wiegend ethischen Interessen gestaltet, ist cs also, die der
Concipierung eines Dinges-an-sich hindernd in den Weg tritt.
Dann aber ist ein solches uberhaupt unmoglich infolge des
absoluten Phanomenalismus.1) Es giebt ja in dem ganzen
Universum nichts, das nicht dhamma oder sankhara ware.
Es ist ja nirgendwo ein reines, ewiges Sein zu konstatieren,
sondern immer nur der anfang- und endlose Komplex
des Geschehens, zusammengehalten durch das Band einer
autonomen Kausalitat. Sankhara ist auch der Geist, das
Erkennen, die Seele; auch der menschliche Intellekt ist ein
wechselvolles Sich-gestalten, Entstehen und Schwinden.2) Es
fehlt also der wichtigste Bestandteil zur Bildung eines meta-
physischen Prinzips: die unwandelbare Geistigkeit. Die Welt
steht nun einmal da; ihrem Ursprung und der Bedeutung
ihrer fliichtigen Erscheinungen nachspiiren zu wollen, ware
ein thorichtes Beginnen. Den Menschen soil nur die eine
Frage interessieren, wie er dieses Dasein los werden kann,
und das Komplement dieser Frage, was den Menschen an
1) Oldenberg a. a. O 268 ff. 2) ib. 274 ff.
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das Dasein festschmiedet. Und dies ist auch keine meta-
physische Kraft, sondern eine ganz und gar immanente, fass-
bare, rein menschliche. »Es ist der I>urst, der von Wieder-
geburt zu Wiedergeburt fiihrt.« Der Durst, das ist die Sehn-
sucht nach Leben, die Freude am Leben, das Gefallen, das
der menschliche Geist an dieser Welt findet und gefunden
hat, nicht etwa in einer nebulosen vor- und ausserweltlichen
Daseinsform, sondern eben hier, jetzt, in der Zeitlichkeit, in
der Welt. Die Lust, sich schaffend und wirkend in dem
Gewiihl der sankhara zu bethatigen, diese Lust fuhrt zu
Thaten, die zu ihrer Siihne eine neue Geburt verlangen und
dadurch den ewigen Bestand der Welt garantieren. Eine
sittliche Vergeltung erkennt der Buddhismus an, aber keinen
Vergelter. Denn in sich selbst tragt jede That ihre Frucht,
in sich selbst die Kraft, ein neues Wesen zu gestalten. Der
»Durst«, das ist der Wille zum Leben, ist die lebenspendende
Macht, aber nicht als metaphysisches Urprinzip aufgefasst,
sondern als moralisch-sociale Kraftbethatigung in bestimmter
Form eines bestimmten Individuums. Der »Durst« bezeichnet
in seiner grosseren oder geringeren Starke das umgekehrt ent-
sprechende geringere oder grossere Verlangen nach Erlosung.
Wo wir den Buddhismus anfassen, um ein ewiges Prin-
zip, einen unbewegten Urgrund, ein Ding-an-sich zu ergreifen,
da hascht unsere Hand nur den wesenlosen Schaum der
sankhara, der von selbst in nichts zerrinnt. Das nirvana,
jene selige Statte, wo allein Ruhe und Frieden herrscht, steht
absolut iiber der Welt der sankhara, ohne irgend wie mit
ihr verbunden zu sein oder sich gar, wie die Welt des brah-
man gemass dem Vedanta, in der Erdenwelt zu manifestieren.
Der »Durst«, der die wandernde Seele im samsara festhalt,
und das »Erkennen«, das, wie wir sehen werden, die wan-
dernde Seele konstituiert, beide sind nicht Ding-an-sich, son-
dern gleich allem andern dhamma und sankhara. Das
einzige Absolute und Konstante ist das Kausalitatsgesetz.
Dieses ist nicht sankhara; denn es schwebt als Leiter
iiber ihnen. Es lautet »Aus dem Nichtwissen entstehen
die Gestaltungen (sankhara); aus den Gestaltungen entsteht
Erkennen (viflflana); aus dem Erkennen entsteht Name
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und Korperlichkeit1); aus Namen und Korperlichkeit ent-
stehen die sechs Gebiete2); aus den sechs Gebieten ent-
steht Beruhrung8); aus der Beruhrung entsteht Empfindung;
aus der Empfindung entsteht Durst (oder Begierde); aus dem
Durst entsteht Haften (an der Existenz; upadana); aus dem
Haften entsteht Werden (bhava); aus dem Werden entsteht
Geburt; aus der Geburt entsteht Alter und Tod, Schmerz
und Klagen, Leid, Kummernis und Verzweiflung. Dieses ist
die Entstehung des ganzen Reiches des Leidens.«4) Dieses
Gesetz enthalt zunachst nichts weiter als die Norm, nach
der das Leben des einzelnen Menschen aus einer Daseins-
form in die andere iibergeht. Es giebt die Kette der Ur-
sachen und Wirkungen an, die zuletzt den »Durst«, von dem
wir oben sprachen, herbeifiihren, und dann weiterhin die
Folgen, die sich an den »Durst« anschliessen. Es ist dem-
nach das ethische Gesetz, das mit jeder That ihre Vergel-
tung verkniipft. Es ist das Gesetz des Mikrokosmos. Auf
den Makrokosmos weiterhin beziehen kann es nur unsere
Interpretation, vielleicht nicht ganz im Sinne Buddhas, der,
wie mehrfach betont, kosmologischen Problemen keine Teil-
nahme entgegenbringt. Wir miissen aber das ethische Grund-
gesetz zu einem kosmisch - metaphysischen enveitern; denn
indem es fur jede That ihre Stihne verlangt, so verlangt es
eben dadurch auch einen Schauplatz, auf dem die Siihne
sich vollziehen kann, namlich die Welt. So glauben wir
also berechtigt zu sein, die Machtsphare des Kausalitatsge-
setzes uber den Mikrokosmos hinaus auch auf den Makro-
kosmos sich erstrecken zu lassen. So beherrscht also das
Kausalitatsgesetz die ganze Welt; so ist dieses Gesetz die
einzige Macht in der Welt, die sich behauptet. Es ist sehr
bezeichnend fur den Buddhismus, dass er das Konstante
nicht in einer Substanz sieht, sondern in einer Regel, nach
der alles Geschehen sich richtet, die zu befolgen, das allei-
nige Wesen der Erscheinungen ausmacht. Wenn wir dem
1) Die bestimmte Personlichkeit beim Akt der EmpfKngnis. Oldenberg a. a. O. p.
244 f. 2) Die Gebiete der sechs Sinne und ihrer Objekte, wobei neben den auch von uns
angenommencn 5 Sinnen das Denken (mano) mit den Gedanken als seine Objekte als
sechstcr Sinn gezahlt wird. ib. p. 251 f. 3) Zwischen den Sinnen und ihren Objekten-
4) ib. p. 240 ff. Ucoer die Kausalitiitsformcl cf. § 10.
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Buddhismus irgendwie eine Mctaphysik zusprechen wollen,
so kann sie allein im Kausalitritsgesetz liegen. Aber audi
so ist, wie schon oben gesagt, dieses allordnende Gesetz
keine Veritas aeterna schlechthin. Zwar beherrscht die Kau-
salitat den Menschen, aber umgekehrt beherrscht der Mensch
auch die Kausalitat. Denn der Mensch kann ihr Einhalt ge-
bieten. Wenn der Mensch den »Durst« vernichtet, wenn er
aufhort zu wollen, zu begehren, dann ist der leidvolle Fluss
der sankhara fiir immer gehemmt, dann hat das Kausalitats-
gesetz seine Giiltigkeit verloren, dann schwindet die Welt.
Der Mensch erscheint also recht eigentlich als Trager der
Welt. Hier ist der buddhistische Subjektivismus bis auf den
letzten Grund vertieft: weil ich es will, darum ist das Uni-
versum mit Sonnen und Erden; es ist nicht, wenn ich es
nicht will. Aus dem menschlichen Willen, dem mensch-
lichen Begehren schopft das Kausalitatsgesetz seine Giiltig-
keit und widerspruchlose Kraft. Nach dem Brahmanismus
wird die Ausbreitung der Sinnenwelt in »Namen und Ge-
stagen* hervorgerufen durch eine falsche Erkenntnis; nach
dem Buddhismus durch einen falschen Willen. Dieser somit
hat das Problem ungleich tiefer aufgefasst.l)
Wir betonen es zum Schluss noch einmal, dass vor dem
buddhistischen Idealismus kein Ding-an-sich besteht. Bei
alien Untersuchungen iiber das Ding-an-sich in der indischen
Philosophic konnen wir uns daher nur auf die in dem Ve-
danta niedergelegte Dogmatik des Brahmanismus beziehen. —
3. Bei Schopenhauer.
Wir behandeln das Problem des »Dinges-an-sich.« Scho-
penhauers Metaphysik kennt bekanntlich ein solches. Er tritt
also neben den Brahmanismus. Aber in Beziehung auch
zum Buddhismus. Denn was dieser »Durst« nennt und nur
fiir ein dhamma nimmt, hat Schopenhauer im »Willen« zum
Ding-an-sich potenziert.
Was ist das »Ding-an-sich«, das ewig, unveranderlich
aller Erscheinung zu Grunde liegt? Dessen Abbild und
1) Ueber die Rolle, die die falsche Erkenntnis. des ^Nichtwissentf, die avidy& im
Buddhismus spiclt, cf. § 19.
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Spiegel nur diese sichtbare Welt ist? Was heisst iiberhaupt
»an sich« sein? »An sich« sein, antwortet Schopenhauer,
heisst unabhangig von unserer Wahrnehmung vorhanden sein;1)
fur andere sein heisst vorgestellt werden, Erscheinung, Ob-
jekt fur ein Subjekt sein.2) Das Ding-an-sich ist somit durch-
aus nicht Erscheinung, Vorstellung, sondern toto genere von
ihr verschieden,3) Wir mussen also, wenn wir zum Ding-an-
sich gelangen wollen, von alle dem, was den Komplex der
Erfahrung ausmacht, das abziehen, was unser Intellekt dazu
gethan hat, was ureigenes Besitztum unseres Intellekts ist.
Dieses Besitztum unseres Intellekts — hier spricht der Schiiler
Kants — sind die aprioristischen Formen unseres Verstandes:
Zeit, Raum und Kausalitat.4) Diese drei Verstandesformen
sind demnach in Abzug zu bringen, wenn wir das Ding-an-
sich iibrig behalten wollen. Wo aber kann das geschehen,
da wir ja doch nie aus uns herauskonnen? Kant hielt in-
folgedessen die Aufgabe fur unmoglich, das Ding-an-sich
rein aus der Erscheinungswelt herauszudestillieren.
Schopenhauer glaubt die Aufgabe gelost zu: haben. Er
hat einen neuen Weg eingeschlagen, der durch das^Innere
des Menschen in das Innere der Natur fiihrt. »Der Weg,«
schrieb Joh. Gottlob von Quandt 1849 an Schopenhauer,
»welchen Sie vom Realen zum Idealen gefunden^haben,1 .ist
eine grossere Entdcckung als die, welche von den Portu-
giesen gemacht wurde, dass man iiber das Weltmeer von
Europa nach Indien gelangt.«5)
Schopenhauer geht aus vom Selbstbewusstsein.6) Unser
Selbstbewusstsein ist eine Vorstellung. Wie jede Vorstellung
zerfiillt es somit in Subjekt und Objekt, ist also nicht schlecht-
hin einfach. Das Erkennende ist hier der Intellekt, wie iiber-
all, selbst nicht zu erkennen. Das Erkannte ist der Wille.
Die Einheit beider, das unmittelbare Zusammenfallen von
Subjekt und Objekt ist das Wunder **z e?oyr)v.7) Der Wille
1) Parr-rga II p. 96. 2) W. a. W. u. V. II. p. 8. 3) W. a. W. u. V. I p. 41, ib.
p. 131. Kritll: der Kantischen Philosophic p. 517. W. a. W. u. V. II. p. 216. Parerga II,
KapitellV: Einige Retrachtungen liber den Gcgcnsatz des Dinges an sich und der Erschei-
nung. 4) W. a. W. u. V. I p. 134, ib. p. 144 u. 5. 5) Wilh. Gwinner. a. a. O. p. 522.
6) W. a. W. a. V. I p. 118 f. Vierf. Wurzcl p. 140 f. 7) Vicrf. W. p. 143; W. a. W. a. V. I
P. 121; ib. p. 296. W. a. W. u. V. II p. 226.
4
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nun ist das Bleibende in uns, das Erste, PrimSre, das nicht
ermiidet, nicht altert und nicht stirbt. Der Wille ist der
Kern unseres Wesens. Der Korper ist die Objektitat des
Willens, das heisst der in die Erscheinung getretene, sichtbar
gewordene Wille.1) Willensakt und Korperaktion sind nicht
etwa durch Kausalitat verbunden, sondern unmittelbar das-
selbe, in dem die Korperaktion Erscheinung des Willensaktes
ist und sich zu ihm verhalt wie jede Erscheinung zum Ding-
an-sich. In den einzelnen Korperteilen manifestieren sich
die Hauptbegehrungen des Willens; sie sind der sichtbare
Ausdruck derselben. Zahne, Schlund und Darmkanal sind
der objektivierte Hunger; die Genitalien der objektivierte
Geschlechtstrieb; die greifenden Hande, die raschen Fiisse
entsprechen dem schon mehr mittelbaren Streben des Willens,
welches sie darstellen.2)
In unserm Selbstbewusstsein hat Schopenhauer das er-
losende Wort gefunden, das uns die Geheimnisse des Kos-
mos aufhellt. Denn ist im Menschen das Urspriingliche,
Radikale der »Wille«, so muss auch der Kern des Tieres
im »Willen« beruhen, so muss auch der Korper der Tiere
Willensobjektitat sein. Weiterhin muss aber eben die Kraft,
die den menschlich-tierischen Leib gebildet, die Tier und
Mensch sich ernahren und fortpflanzen heisst, auch in Baum
und Blume zum Lichte treiben; es muss dieselbe Kraft sein,
die in der Pflanze Bliite, Frucht und Samen erzeugt. Nur
ein Schritt von hier ist es zur Erkenntnis, dass auch die an-
organische Welt vom »Willen« beherrscht wird. Wille ist
die Gravitation, Wille die Elektrizitat, Wille sind alle die
Naturkrafte, die auf dem weiten Felde der anorganischen
Welt ihr Spiel treiben.8) Wille, das heisst: Drang und Streben,
Wille zur Selbstbethatigung, zum Dasein, zum Leben. Der
Wille ist das Ding-an-sich, das jeder Erscheinung zu Grunde
liegt; er ist die natura naturans der Welt, im Gegensatz zur
natura naturata der Erscheinung. Er selbst ist einer und un-
teilbar; aber seine Objektivation oder Sichtbarkeit hat ver-
1) W. a. W. u. V. I p. 119; ib. p. 126 ff. W. a. W. u. V. II p. 277; ib. p. 280 ff.
Wille in der Natur p. 34 ff. u. 8. 2) W. a. W. u. V. I p. 129. 3) W. a. W. u. V. I § 23
p. 134.
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schiedene Grade. Obgleich er in jeder Erscheinung ganz
und ungeteilt zugcgen ist, ist doch ein hoherer Grad von
Sichtbarkeit in der Pflanze als im Stein; im Tier ein hoherer
als in der Pflanze; ja, sein Hervortreten in die Sichtbarkeit,
seine Objektivation, hat so unendliche Abstufungen wie
zwischen der schwachsten Dammerung und dem hellsten
Sonnenliclit, dem starksten Ton und dem leisesten Nachklang
sind.1) Diese verschiedenen Objektivationsstufen des Willens
nennt Schopenhauer die Ideeen. Eine Idee ist mit Riicksicht
auf das Ding-an-sich dessen vollstandige und vollkommene
Erscheinung: die adaquate Objektitat des Willens;2) mit Ruck-
sicht auf die Erscheinungen ist sie deren unerreichtes Muster-
bild, die ewige Form der Dinge, feststehend, keinem Wechsel
unterworfen, immer seiend, nie geworden, wahrend die In-
dividuen entstchen und vergehen, immer werden und nie
sind.3) — — Ein Hauptunterschied in den Objektivations-
stufen besteht in dem grosseren oder geringeren Hinzutreten
des Intellekts. Auf den untersten Stufen waltet der Wille
erkenntnislos, als blinder, dumpfer Drang, ohne erkanntes
Ziel; er steigert sich mehr und mehr durch das Pflanzenreich
hindurch bis zu einem Grade, dass er zur Erhellung seiner
Wege eines Lichtes bedarf, einer Fackel, die er sich im ver-
standigen Intellekt der Tiere anzundet, den er weiterhin im
Menschen zum verniinftigen Intellekt potenziert. Alle Krafte,
die im Gesamtreich der Natur herrschen, ob chemischer oder
mechanischer Art, oder als Lebenskrafte, alle sind Bethati-
gungen des einen Willens, der im Menschen, auf der h6ch-
sten Stufe seiner Objektivation, dank der Erkenntnis zum
Bewusstsein seiner selbst kommt und sich selbst erkennt.4)
Der Wille ist das Urprinzip alles Lebens. David Asher,
einer der ersten Schuler Schopenhauers, wies dem Meister,
eben nicht zu dessen Ergotzung, zwei Vorganger nach, den
spanisch-jiidiscnen Philosophcn Salomon Ibn Gebirol, einen
Neuplatoniker um 1050,6) von den Scholastikern Avicebron
1) W. a. W. u. V. I p. 152. 2) W. a. W. u. V. I p. 191; ib. § 32, p. 205: ib. p. 211.
W. a. W. u. V. II Kap. 29: Von der Erkenntnis der Ideeen. p. 415. 3) W. a. W. u. V. I
p. 154 ; ib. p. 206. 4) W. a. W. u. V. II p. 329 f. Willen in der Natur p. 74 ff. 5) Uberweg.
Heinze, Geschichte der Phi'.osophie II7 p. 212 fV. K. Fischer: Gcschichte dee neueren
Philosophic VIII. p. 106.
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genannt, und Madame de Stael, in ihrem Buche: De l'Alle-
magne.1) Wir konnen als Vorganger Schopenhauers in der
Lehre vom Willen als Urprinzip audi Joh. Scotus Erigena
nennen. Nach ihm ist das »Nicht«, das ist die Urmonas, als
die Potenzialitat alles Seienden Verlangen, Willen, in's Da-
sein zu treten.2) Der Wille ist das Ding-an-sich, erhaben
iiber Raum, Zeit und Kausalitat, welche Formen nur seinen
Erscheinungen zukommen. Nicht einmal in die allgemeinste
Form der Erkenntnis: Objekt fiir ein Subjekt sein, geht das
Ding-an-sich ein. Objekt fiir ein Subjekt ist nie der Wille
als Ding-an-sich, sondern schon als »platonische Idee«. Und
geht der Wille dann fernerhin in die jener allgemeinen Form
untergeordneten Formen, in Zeit, Raum und Kausalitat ein,
so stellt er sich dar als Erscheinung. Nur durch Zeit, Raum
und Kausalitat ist Individuation moglich, die dem Willen an
sich durchaus fremd ist.
Was fiir den Vedanta das brahman ist, das ist fiir Schopen-
hauer der Wille. So sehr verschieden auch beidc Begriffe
ihrem Wesen nach sind,8) so ist doch vorlaufig eine Aehnlichkeit
nach zwei Richtungen hin zu konstatieren. Zunachst nehmen
beide Begriffe in ihren Systemen die gleiche Stellung ein.
Sie sind beide Ding-an-sich, natura naturans, hinter aller Er-
scheinung liegend, das Princip aller Erscheinung, die Kraft,
die aller Welt Bestand und Dasein leiht. Sodann gleichen
sie sich riicksichtlich ihres anthropologischenUrsprungs. Beide
sind Erweiterungen von Begriffen, die ursprtinglich auf den
Menschen allein Bezug hatten. Sie sind Hypostasen der
beiden Korrelata, aus denen das Selbstbewusstsein besteht,
im Brahmanismus eine solche des Intellekts, im Schopen-
hauerianismus eine solche des Willens. Sie haben sich von
der alleinigen Beziehung auf das Innere des Menschen eman-
cipiert und Beziehung auf das Innere der gesamten Natur
gewonnen. ■— Naher seiner inneren Bedeutung nach als das
vedantistische brahman steht dem Schopenhauer'schen Willen
1) D. Asher: Arthur Schopenhauer als Interpret des Goetheschen Faust, p. 9. Anm.
2) Preger: Geschichte der deutschen Mystik im Mittelalter, I p. 160. Uberweg-Heinze II7
p. 130 f. 3) cf. § 8.
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der buddhistische »Durst«, nur ist bei diesem die Hypostase
zum Ding-an-sich nicht vollzogen worden.
Die Erkenntnis, die Badarayana und Schopenhauer ab-
strakt mitteilen, die Erkenntnis von der Identitat aller Wesen
im mystischen Urprincip, diese Erkenntnis lasst sich auch
intuitiv erlangen — und eben hierin besteht die Erlosung
oder wenigstens — so nach Schopenhauer — der Weg zur
Erlosung. Umgekehrt ist die Nichterkenntnis der Identitat
eben das, was die Erlosung hintertreibt. Der Vedanta be-
zeichnet diese Nichterkenntnis als avidya, »Nichtwissen«. Wer
in den Banden der avidya liegt, nimmt in kosmologischen
und psychologischen Fragen den »Standpunkt des "Welt-
treibens« ein, vyavahara-avastha; er halt dementsprechend die
Schranken der Individualist fur absolute, sein eigenes Wesen
fur ein durchaus anderes als das seiner Mitmenschen, als das
der Tiere. Das gleiche lehrt Schopenhauer. Wer nicht in-
tuitiv hinter jeder Erscheinung den einen Willen erkennt,
steht auf dem empirischen Standpunkt, von dem aus gesehen
die empirische Realitat der Erscheinungswelt als absolut er-
scheint. Wie nach dem Vedanta ein solcher Mensch in der
avidya befangen ist, so nach Schopenhauer im principium
individuationis. Er sieht nicht das Wesen der Dinge, das
Eines ist, sondern dessen Erscheinungen, als gesondert, ge-
trennt, unzahlbar, sehr verschieden, ja entgegengesetzt; er
erkennt nicht, dass das Ansich seiner eigenen Erscheinung
auch das der fremden ist. Und diese metaphysische That-
sache gewinnt fur Schopenhauer ein machtiges ethisches In-
teresse, an das der Vedanta nicht gedacht hat. Denn fur
ihn fallt die avidya zusammen mit der Erkenntnis, die allem
Egoismus und aller Bosheit zu Grunde liegt. Der Egoismus
basirt fur Schopenhauer durchaus auf der avidya, der Meinung
namlich, dass die Individuation real und das principium in-
dividuationis die Ordnung der Dinge an sich sei.1) Das eben
zeichnet die Schopenhauer'sche Philosophie so sehr vor ihren
Geistesverwandten Altindiens aus, dass sie weder, wie der
Brahmanismus, liber der Metaphysik die Ethik, noch, wie
der Buddhismus, iiber der Ethik die Metaphysik vergisst.
1) W. a. W. u. V. I § 61 p. 391. W. a. W. u. V. II p. 688 ff. Ethik p. 196 ff.
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Sie ist beides. Sie kennt keinen Gedanken, dcm sie nicht
eine ethische Bedeutung abgewonne, und weiss andererseits
ihre Ethik durchaus metaphysisch zu begriinden.
§ 7. Der Atheismus.
1. In dem V e d a n t a.
Paul Deussen lehnt eine ^Classification des Brahmanismus,
dessen Dogmatik er im System des Badarayana (nach dem
Kommentare Cankaras) darstellt, unter die hergebrachten Be-
griffe: Theismus, Pantheismus u. s. w. mit dem Bemerken
ab, dass mit derartigen landlaufigen Bezeichnungen nichts fiir
das Verstandnis des inneren Wesens der brahmanisch-vedan-
tistischen Weltanschauung gewonnen ware, einer Weltan-
schauung, die eben unendlich holier stehe, als dass sie mit
abgeblassten Schlagworten zu erreichen ware.1) Und in der
That mag es als ein missliches Bemiihen erscheinen, ein
religioses oder philosophisches System mit einem einzigen
Schlagwort bezeichnen zu wollen, dessen enge Begriffsphare
nur selten oder nie die mannigfaltigen Beziehungen umspannt,
die in den betreffenden Gedankenkreisen sich in einander ver-
schlingen. Unter verschiedene Gesichtspunkte gebracht, stellt
jede Weltanschauung sich vcrschieden dar, und jede Welt-
anschauung will eben von verschiedenen Seiten aus betrachtet
werden, wahrend ein bestimmter Begriff einseitig den Be-
schauer an eine bestimmte Stelle bannt. In die Tiefe, zum
innersten Kern irgend welcher Religion oder Philosophic ver-
mag keine allgemeine Bezeichnung zu fiihren. Oder was ist
fiir das Verstandnis z. B. des Christentums durch seine Unter-
ordnung unter die theistischen Religionen gewonnen, und ist
etwa der tiefste Lebensnerv des Epikuraismus durch die Be-
nennung: atheistische Weltansicht getroffen? — Gleichwohl
halten wir daran fest, dass, rein ausserlich, rein praktisch
betrachtet, jene allgemeinen Begriffe recht wohl von einigem
Nutzen sind. Lassen sie auch den Schleier vor dem Aller-
heiligsten ungehoben, so fiihren sie doch gewissermassen in
den Vorhof des Tempels. Und zwingen sie den Betrachter
zu einer einseitigen Aufnahme des Bildes, so stellen sie ihn
1) Deussen a. a. O. p. 127.
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eben dadurch auf einen festen Punkt, von dem aus sich bald
ein gesicherter Weg eroffnet. So haben alle jene Benennungen:
Atheismus, Deismus, Thcismus ihren Wert, einen relativen
zwar, der aber, rein praktisch genommen, nicht allzu gering
angeschlagen zu werden verdient. Sie leisten nichts oder
nur sehr wenig fiir wissenschaftliche Erkenntnis und sind
doch fiir aussere Zwecke unentbehrlich, als feste Unterlagen
gewissermassen, auf denen das Gedachtnis seine Kenntnis
aufbauen kann. Und unter dieser Einschrankung diirfen wir
auch fiir Brahmanismus und Buddhismus eine allgemeine Be-
nennung in Amvendung bringen: beide sind atheistisch.
Nur ein gereiftes, philosophisches Denken, das mit
strengster Logik seine Grundgedanken zu verfolgen wagt,
kann zum Atheismus als fester Ueberzeugung durchdringen,
zu einer Weltansicht, die einem personlichen Gott keine Statte
im All vergonnt und den Menschen allein auf seine eigenen
Krafte stellt. Der Atheismus lasst den Halt fahren, den ein
naives Gottvertrauen ergriffen hat; er verschliesst sich dem
Andrang des religiosen Bediirfnisses, das nach einem menschen-
ahnlichen Gott als treuen Heifer verlangt, und wendet sich
an kalte Abstraktionen. — Nicht mit einem Schlage ist eine
solche Weltanschauung zu erreichen. Auch die indische
Philosophic ist nur schrittweise zu ihr durchgedrungen
— aber, was fiir sie charakteristisch ist: sie schleppt die
iiberwundenen Anschauungen wie Gefangene mit sich, von
Stufe zu Stufe. Der Vedanta ist atheistisch und kennt doch
eine Unzahl von Gottern — eine Erscheinung, die wir iibrigens
auch in der abendlandischen Philosophic finden. Man denke
an den Epikuraismus, der trotz seines ausgesprochenen atheis-
tischen Charakters durch eine Hinterpforte die Gottheiten
der Volksreligion einfiihrt, eben der Volksreligion zu Liebe.
Ebenso gcschieht's in dem Vedanta. Hier ist es der Veda,
der die Aufgabe des ganzen Gotterapparates verbietet. Erst
waren diese Gotter, Indra, Agni, Aditya, Vayu, Varuna, und
wie sie alle heissen, die Gestalten, die in buntem Gedrange
den vedischen Himmel fiillen, die hypostasierten Naturkrafte,
wie die Rigveda-Samhita deutlich erkennen lasst, die personi-
ficierten Elemente, an Rang und Macht gleich, dem Menschen
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feindlich gesinnt oder zugethan. Sie trugen menschliche Ziige;
sie hassten und liebten; sie tranken auch gern und viel vom
berauschenden Somatranke. Sie forderten Gebet und Opfer;
sie verhiessen Schutz und Sieg. Es ist dies die Zeit des
Polytheismus.1) Aus ihr stammen die Hymnen der Rigveda-
Samhita. Aus dem Polytheismus schreitet die menschliche
Erkenntnis zum Henotheismus. Ueber seine Mitgotter erhebt
sich ein besonderer Gott, ein vor alien andern machtiger.
Er vereinigt in sich die Machtbefugnisse aller andern; die
Kraft, die vorher in vielen Gcstalten zersplittert war, stromt
in ihm zusammen. Er ist der Schopfer, Erhalter, Vernichter
des Weltalls, der prajapati = Schopfer. Neben ihm fristen als
schattenhafte, in ihrer Macht beschrankte Wesen die alten
Naturgottheiten ihr Dasein fort. Sie leben kaum noch im
Bewusstsein des Inders und diirfen doch auch nicht sterben;
denn das Vedawort, das heilige, wahre, redet von ihnen.
Das also ist die zweite Stufe: neben prajapati, dem hochsten,
allmachtigen Gott und Welterhalter, eine Reihe von Gotter-
schemen, die von jenem beherrscht werden, gleich den Ele-
menten, deren Personification sie ursprtinglich sind. Nur
einen Schritt braucht das indische Denken zu thun, urn beim
ausgesprochenen Theismus anzugelangen —■ aber auch nicht
viel mehr, ura mitten im Atheismus zu stehen. Und fiir
diesen entscheidet es sich. Der personliche Gott, der menschlich
denkt und fuhlt, der sich fiirchtet und sich sehnt, wird von
seinem Throne herabzusteigen gczwungen und mischt sich
unter die verschwommenen Gestalten seiner friiheren Unter-
thanen. An seine Stelle tritt ein Princip, eine gestaltlose
Kraft, ein transscendenter Begriff. Kein Gott mehr mit der
Erdemvelt entlehnten Ziigen, sondern ein metaphysischer Ge-
danke, der hoch iiber alle menschlichen Vorstellungen erhaben
ist. Das ist das brahman, das die ganze Welt durchwebt,
das in des Menschen Brust sich als atman, als ureigenstes
Selbst kundgiebt. Kein personlicher Gott mehr, sondern das
1) Uber dieselbe unterrichtet sehr gut: Edmund Hardy: Die vedisch-brahmanische
Periode der Religion des alten Indiens. Miinster 1893. — Die Trimurti, die Schopenhauer
mehrfach erwahnt, ist iibrigens urspriinglich nicht brahmanisch; sie wurde erst spat im Am-
schluss an die Buddhagestalten des Buddhismus koncipirt.
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»Ding-an-sich«, das hintcr dem bunten Wechsel und Trug
der Erscheinungsvvelt als ewige Weltpotenz in unbewegter
Ruhe verharrt. Jenseits von Raum, Zeit und Kausalitat ist
brahman-atman das einzig Reale; an ihm gemessen erscheint
alles empirische Dasein als Gaukelbild, als nichtig. Es giebt
keine Schopfung, keine Welt, kein individuelles Ich — alles
ist brahman; brahman ist das Ding-an-sich, das Zweitlose,
Selige, Leidlose, Ewige. Wer sein Wesen ganz kennzeichnen
will, der muss schweigen, wie es der weise Bahva that.1)
Das brahman durchwaltet das Universum; es ist identisch
mit ihm. Von diesem Standpunkt aus erscheint der Ve-
danta als Pantheismus. Das brahman ist ein Prinzip, die
unpersonliche Weltvernunft; von hier aus stellt er sich als
atheistische Weltansicht dar. Er kennt keinen personlichen
Gott, dem der Mensch vertrauend sich mit Gebet und Opfer
nahen konnte. Weder fordernd noch hemmend greift das
brahman in die Geschicke der Gesamtheit oder des Ein-
zclnen ein; es ist weder das Prinzip der Weltschopfung noch
der Weltentwicklung; denn beides findet keine Stelle in dem
esoterischen Mysticismus des Vedanta. Kein ewiges, ge-
rechtes, weises Walten lenkt die Erde zu immer hoherer
Vollkommenheit, das Menschengeschlecht zu immer schonerer
Klarheit — — in stammer Ruhe thront unbewegt das All-
Eine iiber dem fliichtigen Schcin der Erscheinungswelt,
»schweigend, unbekiimmert«. Der Vedantist kennt keine
iiberirdische Macht, die ihm mitleidvoll die Hand entgegen-
streckte; er kennt keinen barmherzigen Gott; er kennt nur
das brahman, das attributlose »Ding-an-sich«, keine konkrete,
vom Verstand erfassbare Gestalt, nur einen abstrakten Begriff,
cine Idee, die keine guten Werke und keine Verehrung
fordert, sondern die allein erkannt und begriffen werden will,
begriffen als das innerste Lebensprincip im Menschen selbst.
Wie aber findet sich diese metaphysische Ansicht mit
den alten Gottern, vor allem mit dem prajapati ab? Man kann
sie aus Scheu vor dem unantastbaren Vedatext nicht in
Nichts auflosen, man muss sie weiterschleppen, trotzdem die
Vorstellung eines prajapati, eines Schopfers, hinfallig wird,
1) Deussen a. a. O. p. 227.
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wenn man eine eigentliche Schopfung leugnet. Der alte
personliche Gott, der icvara, Herr, der purusha, Mann, der
prajiia, Weise, oder wie sonst ihn der Inder benennen mag,
wie fiigt sich diese theistische Gestalt in das atheistische
System? Sie wird in das Gebiet der apara vidya, »der
niederen Wissenschaft« verwiesen, und identifiziert mit dem
aparam brahma in seiner Gestalt eines personlichen Gottes.
Alle Vedastellen, die vom prajapati oder purusha oder icvara
handeln, werden nun auf das aparam brahma bezogen. In
diesem Sinne als personlicher Gott aufgefasst, ist es das
aparam brahma, »das niedere brahman«, das durch Ver-
kniipfung der Werke des vergangenen Daseins mit ihrer
Frucht im folgenden den samsara zu keinem Stillstand ge-
langen lasst, durch dessen »Gnade« die Erlosung zu Stande
kommt.1) Aber die Figur des personlichen Gottes ist real
nur im Sinne der avidya, des Nichtwissens, das den Trug
der Vielheit und Personlichkeit noch nicht durchschaut hat.
Sie gehort durchaus in das Gebiet der Erscheinungen und
hat allein jene Realitat, die einer Erscheinung zukommen
kann; sie ist eine Phantasmagoric, die fur den Wissenden
verschwindet.2) Die para, vidya, die hohere Wissenschaft,
kcnnt keine Schopfung und keinen Schopfer (prajapati), kein
zu Beherrschendes und keinen Herrscher (icvara); Schopfer
und Herrscher, das sind Vorstellungen, die der apara, vidya
angehoren, der exoterischen Volksreligion, dariiber hinaus
aber keine Giiltigkeit haben.
Nicht anders verhalt es sich mit den alten Naturgottern.
Sie wohnen im hochsten Gefilde der Herrlichkeit; sie sind
noch immer geistige, mit aicvaryam (= Herrschermacht, von
igvara) begabte, den Elementen entsprechende Wesen8). Sie
sind »Vorsteher« der Elemente; sie sind gemeint, wenn es
m Veda heisst: »Die Erde sprach«, »die Wasser sprachen« .4)
Auch die Lebensorgane und -funktionen haben so ihre gott-
lichen Vorsteher, das Auge, der Atem u. s. w., die alle
ohne sie so unbrauchbar sind wie »die Wagen ohne Ochsen«.6)
Noch immer sind die Gotter vom icvara, jetzt aparam brahma,
I) Deussen a. a. O. p. 90 ff. p. 442. 2) ib. p. 293 fT. 3) ib. p. 69. 4) ib. p. 70.
5) ib. p. 364 f.
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abhjingig, aus Furcht vor welchem sie ihre Pflicht betreiben.1)
Die alte Gottervielheit, und dennoch kein Polytheismus mehr.
Wie der icvara, wie das aparam brahma haben auch diese
uralten Naturgotter nur noch eine Scheinexistenz, wie die
Welt uberhaupt. Diese Gotter sind dem samsara unter-
worfen; denn sie sind nichts anderes als menschliche Seelen,
die wegen hervorragend guter Werke auf diesen hervor-
ragend herrlichen Posten gelangt sind, eine besondere Form
des Euemerismus. Die Unsterblichkeit der Gotter ist daher
auch nur eine relative: sie bedeutet nur ein Bestehen durch
langere Zeit,2) sie dauert nur eine Weltperiode, ein kalpa,
hindurch, und in der neuen Welt werden andere Seelen die
Rolle der Gotter iibernehmen. So sind auch nach Demokrit
die Gotter nur langer als die Menschen lebende Damonen
mit bloss relativer Unsterblichkeit.8) Auch die Gotter be-
diirfen der Erlosung. Weil sie sich nicht eins wissen mit
dem Einzig-Realen, darum sind sie der Wanderung unter-
worfen, darum ist ihre Individuality nur ein Trug, ein
Produkt der maya, gleich jeder individuellen Existenx.
Wahr und real im hochsten Sinne ist allein das brahman.4)
Die ganze bunte Erscheinungswelt ist fliichtiger Nebel.
Trotz der zahllosen Gottheiten giebt es keinen Gott; es
giebt uberhaupt nichts als das All-Eine, das Ding-an-sich,
das »nicht kurz und nicht lang, nicht grob und nicht fein«
ist, das frei von alien Attributen nur reines Sein und Er-
kennen ist.
2. Im Buddhismus.
Wie es um den Atheismus in dem Vedanta bestellt ist,
haben wir gezeigt. Der denkende Menschengeist hat sich
nicht damit begniigt, die Gottheiten der Vater zuriickzu-
drangen, — er hat sie in ihrer individuellen Realitat fur
nichtig erklart und auf eine Stufe mit den iibrigen Er-
scheinungen der Welt gesetzt. Aufgeben durfte er die
Gotter nicht; das verbot ihm die Ehrfurcht vor dem hoch-
1) ib. p. 180. 2) ib. p. 179. 3) Uberweg-Heinze I' p. 89. 4) »Da«, sagt die Bri-
hadaranyaka-up. »sind die Gotter Nicht-Gotter, die Vedas Nicht-Vedastc — namlich auf dem
Standpunkt des Einsseins mit brahman. (Hardy: Der Buddhismus, p. 147 Anm. 31 zu p. 11)'
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heiligen Veda, der in seinen Hymnen ihre Namen preisend
nennt; noch immcr lasst er sie wichtige Funktionen versehcn
und an Macht und Wissen den Menschen iiberragen; aber
auch iiber den Gottern schwebt das attributlose brahman,
das ens realissimum, und driickt ihr individuelles Dasein zu
einer Schattenexistenz herab. Und nun zum Buddhismus.
Die Lehre des Samana Gotama verfolgt andere Ziele als
die Dogmatik des Brahmanismus. Der Gedanke, der freilich
schon im Brahmanismus sein finsteres Gesicht erhob, aber
doch hinter anderen Betrachtungen zuriicktrat,1) der Ge-
danke, dass alles Dasein Leiden sei, dringt mit ungestiimer
Gewalt im Buddhismus in den Vordergrund. Vor diesem
Gedanken erscheinen die subtilsten Untersuchungen brahma-
nischer Denker wertlos und abgeschmackt. Alles ist Leiden;
»das ist der ewige Gesang, der jedem an die Ohren klingt;
den, unser ganzes Leben lang, uns heiser jede Stunde singt;«
vor diesem trubseligen Gesang verstummt jeder andere Laut.
Von den tausend Betrachtungen, zu denen Natur und Geist
den Menschen veranlassen, gewinnt nur eine dem Buddhisten
Teilnahme ab: wie es doch so gar klaglich um die ganze
Welt bestellt sei, wie sie nur Qual, nur Schmerz, nur Jammer
enthalte. Die Welt ist Leiden — das steht und behauptet
sich im Brennpunkt des Interesses; was sie sonst noch sei
— darnach wird nicht gefragt. Die atman-brahman-Lehre
tritt zuriick. Der Brahmane meditierte iiber den mystischen
Satz: »tat tvam asi«; der Buddhist nur noch iiber die »vier
heiligen Wahrheiten« vom Leiden, seinem Ursprung, seiner
Auflosung. Der Begriff der Daseinsqual, der ja auch schon
im Brahmanismus zum Ausdruck gelangte, hat im Buddhismus
alle anderen verschlungcn, wjihrend das Schosskind brah-
manisch-vedantistischer Spekulation, die Idee des reinen
Seins, kaum noch erwahnt wird. Das auf andere Zwecke
gerichtete Denken hat das brahman als zwecklos und un-
wesentlich fallen gelassen. Dazu kommt noch, dass eine so
abstrakte Idee, wie sie das attributlose »Ding-an-sich«, das
brahma nirgunam*) oder nirvicesham3), war, nur unter ver-
haltnismassig wenigen, ganz besonders metaphysisch veran-
1) cf. § 14. 2) =s »attributlos«. 3) = »unterschiedloa«.
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lagtcn Denkern in ihrer reinen Gestalt sich bchaupten konnte,.
wie sie denn auch selbst zur Bliitezeit des Brahmanismus nur
der para vidya, der »hoheren Wissenschaft«, der esoterischcn
Lehre eigen war, als Gegenstand der Erkenntnis, indes fur
die exoterische Volksreligion das brahma sagunam1) oder
savicesham2) als Gegenstand der Verehrung gait, pantheistisch
als Weltseele oder theistisch als icvara gedacht. So ent-
wickelt sich der Begriff des Gottes Brahma, der die Idee
des brahman als Ding-an-sich verdrangt. Schon im Veda
erscheint dieser Gott Brahma, freilich erst in den jiingsten
Partieen3), und so ist er auch dem Cankara bekannt*). Erne-
weitere Entwicklungstufe ist sodann die, dass die Unend-
lichkeit des einen Gottes Brahma in cine Reihe von Brahma-
Gottern auseinandergelegt wird, die in verschiedenen Brahma-
Himmeln ihren Sitz haben.5) Diese neuen Gotter treten zu
den alten Naturgottern und nehmen dementsprechend auch
deren Charakter an. In dieser Gestalt wandern sie alle in
die Vorstellung des Buddhismus hiniiber, dem besonders
Brahma Sahampati6) eine vertraute Figur wird. Aber der
Buddhismus tibernimmt nicht allein aus der Geistesarbeit der
Vorgenerationen jene Gottervielheit, sondern auch die durchaus
athcistische Grundstimmung. Einen wirklichen Gott, ein
ewiges, allmachtiges, allgiitiges Wesen zu bilden, von dem
das Universum geschaffen und erhalten wird, — das lag
nicht in der Absicht des Buddhismus. Was sind seine Gotter?
Was sind »die drei und dreissig Gotter und die Yama-Gotter,
die "freudenreichen Gottheiten", die "Gotter, die eigenen
Schaffens sich freuen", die "gebietenden Gotter"?« Nichts
weiter als avancirte Menschenseelen, im Kreislauf der Me-
tempsychose befangen. Sie begehren in ihrem Gcitterdasein
noch mit gleicher Starke, als wie sie einst als Menschen
oder gar Tiere begehrt haben, und darum kehren sie wieder
in die Gewalt des Todes zuruck. Sie altern und kranken,
sie sind leidvoll und verganglich; ihre Allmacht ist beschrankt,
1) = »attribulhaft<'. 2) m= »unterschiedhafttf. 3) Oldenberg a. a. O. p. 28 Anm. 1
4) Deussen a. a. O. p. 176. 5) Oldenberg a. a. O. p. 61 f. 6) Oldenberg a. a. O. p. 132_
Anm, 1. ^Sahampati ist bei den Buddhisten der stehende Beiname des bochsten Brahman
das Wort ist nicht mit Sicherheit zu erklaren.« Vergl. uber die buddhistischen devas auch.
E. Hardy: Buddhismus p. 18, 19; uber Brahma Sahampati ib. p. Anm. 50.
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Machtiger als sie ist der Mcnsch, der Buddha, der die Er-
losung vom Tode gefunden hat; denn »in der Welt samt
den Himmeln ist Niemand, der ihm gleich sei^1) Mit Neid
blicken sie auf den, der die Erlosung erlangt hat; »den also
Vollendeten beneiden die Gotter selbst.«2) Sie steigen aus
ihren Himmeln, den Weisen zu ehren.3) Sie kommen, um
der Predigt des Erhabenen zu lauschen; denn sie bediirfen
der Erlosung.4)
Der buddhistische Idealismus ist die Grundlage des
buddhistischen Atheismus. Wo die ganze Welt, wo jede
Seele nur sankhara ist, da ist nirgendwo die geschlossene
Personlichkeit eines Gottes anzutreffen. Darum ist der buddhis-
tische Atheismus auch entschiedener, als der vedantistische
in demselben Mass, wie sein Phanomenalismus absoluter ist
als der des Vedanta. Denn seine Gotter sind wirklich nur
Schein, wahrend in dem Vedanta nur die Individualisierung
ein Trug ist. Wozu bedurfte iibrigens auch Buddhas Religion
eines Gottes, eines nach Gerechtigkeit belohnenden und stra-
fenden Wesens? Durch sich selbst kommt dem Menschen
die Erlosung von dem peinvollen Druck des Daseins; in sich
selbst findet er den Weg, der aus dem Irrsal der Qual in
das selige nirvana fiihrt. Eigener Kraft verdankt er seine
Rettung. — Vor allem miissen wir den buddhistischen Atheismus
durch den Pessimismus motivieren. Trostlos schaut der
Buddhismus in das Getriebe der Welt als in ein zweck- und
zielloses Auf und Nieder inhaltleerer Schatten. Wie bunt
auch die Erscheinungen in unendlichem Fluss sich drangen
mogen, kein Ende ist abzusehen in diesem wilden Wechsel.
Von Ewigkeit zu Ewigkeit wandern die Seelen, und der
Thranen, die von ihnen vergossen wurden, weil ihnen zu
Teil wurde, was sie hassten, und nicht zu Teil wurde, was
sie liebten, der Phranen ist mehr als alles Wasser, das in
den vier grossen Meeren ist. Und wozu der Jammer, wozu
die Qual? »Zu nichts!« Eine entsetzliche Antwort. Kein
Zweck, kein Ziel ist irgend wie abzusehen; kein Gut ist zu
erlangen, kein Gliick zu gewinnen. Wer sich nicht in das
1) Oldenberg a. a. O. p. 353. 2) ib. p. 239. 3) ib. p. 132; p. 169 Anm. 1. 4) ib.
p. 143.
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nirvana zu retten vermag, wird weiter geschleudert im mono-
tonen Kreislauf der Existenzen in alle Ewigkeit. Kein Gott,
der mit gcrechten Handen das Lebenslos verteilte. Der
Mensch ist sein eigener Gott, sich selbst nur fur sein Schicksal
verantwortlich. Es giebt keine Weltemvicklung, kein Ziel,
dem die Menschheit in froher Weltarbeit zustreben sollte,
und so giebt es keine ewige Macht, die ein solches Ziel
hatte setzen konnen.1) —
3. Bei Schopenhauer.
Wir sehen, trotz der Vielzahl ihrer Gotter sind das Ve-
danta-System und der Buddhismus atheistisch, ersteres als
Philosophic, letzterer als Religion. Mit Genugthuung hat
Schopenhauer konstatiert, dass sogar einer Religion der Be-
griff des Theismus nicht wesentlich ist: »Dies bezeugt die
auf Erden am zahlreichsten vertretene Religion, der uralte,
jetzt 370 Millionen Anhanger zahlende, hochst moralische,
ja asketische, sogar auch den zahlreichsten Klerus ernahrende
Buddhaismus, indem er einen solchen Gedanken nicht zulasst,
vielmehr ihn ausdrucklich perhorrescirt, und recht ex professo,
nach unserem Ausdruck, atheistisch ist.»a) An vielen Stellen
weist er in ahnlicher Art auf den indischen Atheismus hin.8)
Ueberhaupt, was ist Atheismus ? Was ist Theismus ?
"Was ist Gott ?
Theismus ist die Annahme, dass eine von aussen ordnende
Intelligenz nach Zwecken und Begriffen die Welt zu Stande
gebracht habe.4) Das Wort »Gott«, ehrlicher Weise gebraucht,
bezeichnet eine von der Welt als ihre Wirkung getrennte
Ursache, mit Hinzufiigung der Personlichkeit.5) Wo ein
solcher von der Welt getrennter personlicher Gott geglaubt
wird, da ist Theismus; wo nicht — Atheismus. Darum ist
aber der Atheismus noch nicht identisch mit dem Materia-
lismus.6) Der Atheismus leugnet einen personlichen Gott,
1) Die indischen Religions- oder Philosophiesysteme sind atheistisch; wo aber in
spiiteren indischen Sekten der Gedanke eines einzigen personlichen Gottes auftaucht, der
ausschliessliche Verehrung beansprncht, da ist christlicher Einfluss anzunehmen. Weber:
Ind. Studien. I p. 423. 2) Parerga I p. 124. 3) So: Vierf. Wurzel p. 125 ff. Willen in der
Natur. Kap.: Sinologie. Parerga I p. 138. Parerga II p. 238 Anmerk. u. o. 4) Kritik der
Kantischen Philosophie p. 608. 5) Vierf. Wurzel p. 13. 6) Kritik der Kant. Philos. p. 608.
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der Materialismus die Metaphysik. Materialismus ist die ab-
solute Physik. Gegen sie wendet sich Schopenhauer mit aller
Entschiedenheit.1) Seine Philosophic ist atheistisch, aber nicht
materialistisch.
Es liegt gewissermassen im aprioristischen Begriff der
Philosophic, dass sie atheistisch ist. Denn was ist es, das
die Philosophic sucht? Sie sucht Aufklarung iiber die Welt,
nicht iiber Gott. Die Philosophic ist Weltweisheit; ihr Problem
ist die Welt; mit dieser allein hat sie es zu thun und lasst
die Gotter in Ruhe, erwartet aber dafiir, auch von ihnen
in Ruhe gelassen zu werden.2) Sie kann nirgends mehr thun,
als das Vorhandene deuten und erklaren ;8) sie fragt nicht
nach dem Woher? undWohin? und Warum ?, sondern immcr
und uberall nur nach dem Was? der Welt.4) Sie muss also
Kosmologic bleiben und kann nicht Theologie werden; sie
ist keine Kirche und keine Religion.5) Als Wissenschaft hat
sie es durchaus nicht damit zu thun, was geglaubt werden
darf, oder soil, oder muss; sondern bloss damit, was sich
wissen lasst.")
Wir erwahnten, dass die idealistische Weltanschauung
schon friih in Schopenhauers Gedanken festgewurzelt lag;
wir werden cin gleiches von seinem Pessimismus horen, und
miissen hier dasselbe von seiner atheistischen Grundansicht
behauptcn. Die gleiche Meinung fiber das Verhaltnis von
Religion und Philosophic, wie sie uns in den eben ange-
fuhrten Citaten aus seinen Werken entgegentritt, sprach er
schon 1812 als Student aus. Er horte damals in Berlin
Schlciermachers Vorlesung »Ueber Geschichte der Philosophic
zur Zeit des Christentums« und bemcrkte in seinem Collegien-
heft zu dem Ausspruch Schlciermachers: »Die Philosophic
hat mit der Religion gemein das Wissen von Gott«, als Rand-
glosse Folgendes: »Dann miisste ja die Philosophic den Be-
grifF eines Gottes voraussetzen, den sie vielmehr, nach dem
ihr Fortgang es bringen wird, gewinnen oder verwerfen soil,
1) W. a. W. u. V. I p. 32 ff; II p. 357 ff. u. o. 2) W. a. W. u. V. II p. 209. 3) W.
a. W. u. V. I p. 320. Ethik p. 120. 4) W. a. W. u. V. I p. 323. 5) Parerga I p. 205. 6) ib.
p. 155. Vergleiche iiber den Unterschied zwischen Religion und Philosophic Parerga II Kap.
XV. »Ueber Religion«, sowie W. a. W. u. V. II Kap. 17. »Ueber das metaphysische Be-
diirfnis de Menschen,«
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zu beidem gleich bereit.))1) Eine andere Glosse zu der
gleichen Vorlesung lautet: »Keiner, der religids ist, gelangt
zur Philosophic; er braucht sie nicht. Keiner, der wirklich
philosophirt, ist religios: er geht ohne Gangelband, gefahrlich,
aber frei.»2) — —
Der Kosmos ist vorhanden, zweifellos. In genau be-
stimmten Bahnen kreisen die Planeten um ihre Sonnen —
ihr Dasein ist unbestreitbar. Aber berechtigt das Dasein
eines Dinges zu der Annahme, dass es einmal nicht vor-
handen gewesen, dass es eine wie audi immer zu denkende
Ursache habe, die es aus dem Nichts in's Sein gerufen?
Schopenhauer verneint diese Frage. Aus folgendem Grunde.
Der Begriff »Ursache« hat seine Giiltigkeit nur innerhalb
des Bereiches des Kausalitatsgesetzes; dieses aber bezieht
sich allein auf Veranderungen. So lange sich nichts verandert,
ist nach keiner Ursache zu fragen: denn es giebt keinen
Grund a priori, vom Dasein vorhandener Dinge auf deren
vorheriges Nichtdasein und von diesem auf ihr Entstehen,
also auf eine Veranderung, zu schliessen.8) Abstrahieren
wir nun von den einzelnen Veranderungen in der Welt und
nehmen die Welt im »nunc stans« als einen grossen Zu-
stand, der alles begreift und daher keiner Veranderung fahig
ist, so haben wir, weil sich nichts verandert, keinen Grund
zu glauben, dieser Zustand sei vorher nicht dagewesen, er
sei vielmehr herbeigefuhrt durch eine fremde Kraft. So
ist die Welt als ewig zu betrachten, das heisst als unentstanden,
unerschaffen. Der Begriff der Schopfung fallt fort und mit
ihm der eines Schopfers.
Richten wir andererseits unser Augenmerk auf die ein-
zelnen, einander folgenden Zustande in der Welt, so tritt
dann, wie gesagt, das Kausalitatsgesetz in Kraft und lehrt,
dass jede Veranderung ihre Ursache in einer anderen, ihr
unmittelbar vorhergangigen hat. Das heisst: Jede Ver-
anderung hat eine Ursache. Nun war die Veranderung nicht
immer vorhanden, sondern tritt erst in einem bestimmt ge-
gebenen Moment ein. Somit war auch das, was wir Ursache
1) Frauenstadt: A. Schopenhauer. Von ihm.. Uber ihn. p. 238. 2) ib. p. 239. 3) W.
a. W. u. V. II p. 49.
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nennen, nicht immer so beschaffen, dass es wirken und Ur-
sache werden konnte. In ihm ist demnach gleichfalls eine
Veranderung vor sich gegangen, zu welcher Veranderung
wir eine weiter zuriickliegende Ursache anzunehmen durch
das Kausalitatsgesetz genotigt werden. Auch diese Ursache
ist die Wirkung einer noch friiheren Ursache, diese wieder
die einer anderen, nnd so fort. Das Kausalitatsgesetz ist
unermiidlich; seine Wirksamkeit geht durch alle Zeit hin-
durch; es ftihrt notwendigerweise auf einen regressus in in-
finitum nach beidcn Richtungen. So wenig wir eine letzte
Wirkung denken konnen, so wenig auch eine erste Ursache.
Bei einer causa prima konnen wir unmoglich stehen bleiben;
denn das Kausalitatsgesetz ist nicht »wie ein Fiaker, den
man, angekommen, wo man hingewollt, nach Hause schickt.«1)
»Erste Ursache« ist eine contradictio in adjecto; indem jede
Ursache immer als Wirkung eine andere, vorhergangige Ur-
sache erfordert. Dieses die Widerlegung des kosmolo-
gischen Beweises.
Die Philosophic will die Welt erklaren. Erklaren aber
heisst: eine Erscheinung begreiflich machen als Wirkung
einer vorhergehenden Ursache. Jede Erklarung basiert daher
auf dem Satz vom Grunde als dem Prinzip der ]\I6glichkeit
der Erklarung. Dieser aber kann, wie wir gesehen haben,
durchaus nicht zu einer ersten Weltursache fiihren, zunachst
nicht zu einer immanenten, aber auch nicht, wie wir jetzt
darthun wollen, zu einer transscendenten.
Das Kausalitatsgesetz ist nach Kants herrlicher Ent-
deckung dem Menschen als angeborene Verstandesform
a priori gegeben.2) Damit ist zugleich seine Giiltigkeit auf
die Welt als Vorstellung beschrankt. Wie die Erscheinungen
erst durch Anwendung des Kausalitatsgesetzes moglich
werden, so sind auch sie allein das Gebiet, auf dem dieses
Gesetz seine Herrschaft geltend machen kann und darf.
Sein Anspruch erlischt an den Grenzen der empirischen
Realitat; dariiber hinaus zu tragen ist es nicht im Stande.
Darum kann es erklaren, warum diese und jene Erscheinung
1) VierC W. p. 38. 2) Vergleiche die je sechs Beweise fur die Aprioritat von Zeit,
Raum und Kausalitat bei Deussen: Elemente der Metaphysik p. 24 ff.
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da ist, es kann und muss jedes Ding begreiflich machen als
Wirkung eincr vorangehenden Ursache, aber iiber das Dasein
iiberhaupt der Dinge weiss es nichts zu sagen — denn diese
Frage ist transscendent. Wo nicht mehr Welt als Vorstellung
ist, da hurt jede Kausalitat auf, daher, was iiber jene hinaus
liegt, grundlos ist. Der Satz vom Grund erklart Ver-
bindungen der Erscheinungen, nicht diese selbst; daher
kann Philosophic nicht darauf ausgehen, eine causa efficiens
oder eine causa finalis der ganzen Welt zu suchen.1)
Giebt es also keine causa efficiens, so auch keinen Gott.
Mit den natiirlichen Hilfsmitteln kann kein Mensch die Welt
als Werk eines Gottes erklaren. Wohl hingegen mit iiber-
natiirlichen, d. h. vermittelst der Offenbarung,2) und das darf
die Theologie, aber nicht die Philosophic Auf dem Gebiet
der Philosophic giebt es »keine andere Offenbarung, als die
Gedanken der Weisen.«3) Auf andere Offenbarungen wird,
in der Philosophic, nichts gegeben; daher ein Philosoph vor
alien Dingen ein Unglaubiger sein muss.4)
Die Welt ist ewig; der Begriff der Schopfung ist un-
haltbar. Nicht anders sagen unsere indischen Philosophen.
So Buddha: »Die Wanderung der Wesen, ihr Jiinger, hat
ihren Beginn in der Ewigkeit. Kein Anfang lasst sich er-
kennen, von welchem an die Wesen, im Nichtwissen be-
fangen, vom Durst nach Dasein gefesselt, umherirren und
\vandern.«5) — In dem Vedanta miissen wir, wie schon
mehrfach erwahnt, zwei Standpunkte unterscheiden: den
»Standpunkt des Welttreibens« vyavahara-avastha, und den
»Standpunkt der hochsten RealitaU, paramartha-avastha.
Letzterer ist der Standpunkt des Wissens, der vidya; auf
ihm fussend durchschaut der Mensch die Nichtigkeit der
Weltausbreitung; es giebt auf ihm weder Schopfung noch
Schopfer. Ersterer ist der Standpunkt der avidya. Hier
haben wir eine Welt, einen personlichen Gott,6) auch eine
Schopfung. Die individuellen Seelen freilich werden auch
auf diesem Standpunkt als unerschaffen und demnach als
1) W. a. W. u. V. I p. 98. 2) Vierf. Wurzel p. 125. 3) Parerga II § 177. »Offen-
barung« p. 387 f. 4) Vorrede zur 2. Aufl. der Schrift jUber den Willen in der Natur.«
p. XV, Anm. 5) Oldenberg a. a. O. p. 233. 6) cf. p. 57.
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ewig, wie Gott selbst, angesehen. Nicht so die Welt der
Elemente. Diese gilt als erschaffen von einem personlichen
Gott. Aber nur der Autoritat des Veda zu Liebe. Und
selbst hier iiberwiegt der Gedanke der Ewigkeit der Welt
den des Geschaffen-worden-seins. Denn die einmalige, zeit-
liche Schopfung, wie sie vom Veda gelehrt wird, erscheint
in dem Vedanta auseinandergebreitet in eine unendliche
Reihe periodisch wiederholter Neuschopfungen, wonach die
Welt immer wieder aufs Neue in's Dasein gerufen wird,
wenn sie nach Ablauf des jeweiligen kalpa von brahman
wieder in sich zuruckgenommen worden war. Die vedan-
tistische Schopfunglehre erinnert an die der Stoiker. Hier
wie dort als gestaltendes, allem immanentes Princip die
hochste Geistigkeit, (die bei den Stoikern zugleich das
gottliche Urfeuer ist), die sich zu den Elementen umbildet und
in alien Wesen, auch in der menschlichen Seele erscheint.
Hier wie dort eine periodisch erfolgende Riickkehr der viel-
heitlichen Welt in die Einheit der Gottheit und neue Aus-
breitung in die Erscheinung, und zwar jedes Mai in derselben
Form wie friiher.1) Diese Ausbreitung ist fur den Vedanta
natiirlich real nur in empirischem, nicht im hochsten Sinne,
in welchem es ja keine Schopfung giebt. Cankara, der
Kommentator, sucht beide Lehren, die der empirisch-realis-
tischen Schopfung und der transscendenten Unmoglichkeit
aller Vielheit, durch die Behauptung zu vereinigen, die Lehre
von der Erschaffung der Welt durch brahman habe nur den
Zweck und Sinn, die Einheit der Welt mtt brahman zu
symbolisieren. Er deutet den Begriff der Kausalitat in den
der Identitat um;2) in der Wirkung sei nicht mehr enthalten
als in der Ursache. Das ist eine Absurditiit, gegen die
Schopenhauer verschiedentlich zu Felde zieht, die in ihrer
Nichtigkeit durch tagliche Erfahrung zu widerlegen ist.8)
Wie dem auch sein mag, es steht fest, dass der Vedanta
die Welt als ewig nimmt auf dem Standpunkt der avidya,
wie auf dem der vidya, einmal durch die erwahnte Amphi-
bolie, und ferner durch Annahme einer unendlichen Zahl
1) Uberweg-Heinze I' p. 255 ff. 2) Deussen, Vedanta, p. 275. 3) W. a. W. u. V.
II p. 48. Willen in der Natur, Kap. Physische Astronomic. Ethik p. 36 ff*.
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von Neuschopfungen. Durch beides wird der ureigentliche
Sinn der Schopfunglehre verdrangt, und auch in diesem
Punkte nahert sich der Vedanta der Schopenhauer'schen
Philosophic
Wir kehren von dieser Abschweifung iiber die Schopfung-
theorieen unserer Philosophen zur Darstellung des Schopen-
hauer'schen Atheismus zuriick.
Zweierlei ist vor allem, was den Begriff »Gott« ausmacht.
Seine Transscendenz und die Personlichkeit. Der Theismus
giebt der geheimnisvollen Kraft, von der die Welt geschaffen
und getragen wird, Personlichkeit, d. h. Intellekt und Willen
im Verein, ja sogar Gestalt und Form, und riickt diese anthro-
pomorphistisch ausgestattete Gottesfigur iiber die natiirliche
Welt hinaus, in einen ewig seligen Himmel. Dieselbe Kraft
wird von Schopenhauer als Wille entschleiert. Der Begriff
des Willens ist aber weit entfernt, sich mit der Gottesidee
zu decken. Denn
1)   ist der Wille der Welt durchaus immanent, so sehr,
dass die einzige Welt, die wir kennen, die Welt als
Vorstellung, sich genau deckt mit der Welt als Wille.
Jede Erscheinung ist nur Objektivation desselben Willens;
der Wille als Ding-an-sich steht nicht sowohl u b e r der
Erscheinung, als viclmehr h i n t e r ihr. Ein wie auch
irgend zu denkender Ueberschuss des schopferischen
Willens iiber die Erscheinung wird aogelehnt.
2)   mangelt dem Willen das, was zumeist Personlichkeit
moglich macht: dielntelligenz. Er ist blind, erkenntnislos.
So wirkt er durchaus in der anorganischen Welt, als
unbewusster Drang und Trieb, so wirkt er im Reich
der Pflanzen, so noch im vegetativen Teil animalischen
Lebens. Wo immer wir den Willen mit Intelligenz
behaftet, also als Personlichkeit finden, da stellt sich
diese dar als ein Sekundares, als ein Accidens zu dem
von Haus aus blinden Willen. Der Intellekt ist ein
Erzeugnis des Willens und bestimmt, den Zwecken
seines Erzeugers zu dienen. Der Wille ist metaphysisch,
der Intellect nur physisch; er ist, wie seine Objekte,
blosse Erscheinung. — — Ja, wir sehen den Willen
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selbst im bewussten Leben dcr Tiere sich oft blind,
ohne Leitung der Vorstellung, in Handlungen aussern,
in jenen, die wir als durch den Instinkt hervorgerufen
bezeichnen. Dann aber gelangen wir dazu, so wenig
das Haus der Schnecke einem ihr selbst fremden, aber
von Erkenntnis geleiteten Willen zuzuschreiben, als wir
glauben, dass das Haus, das wir selbst bauen, durch
einen anderen Willen als unsern eigenen ins Dasein
tritt; wir werden vielmehr beide Hauser fiir Werke des
in beiden Erscheinungen sich objektivierenden Willens
erkennen, der in uns nach Motiven, in der Schnecke
aber noch blind wirkt.1) — Der Schopenhauer'sche
Wille ist alles andere, nur nicht »Gott«.
Aber, so kdnnte man fragen, woher denn dieser Wille ?
Eine solche Frage wiirde nach Schopenhauer durchaus thoricht
sein. Sie wiirde den Satz vom Grunde von der Erscheinung,
fur die allein er als aprioristischer Satz Giiltigkeit hat, un-
berechtigter Weise auf das Ding-an-sich iibertragen. Der
Wille liegt vollig jenseits des Satzes vom Grunde: er ist
schlechthin grundlos. Ihm allein, als dem einzig Urspriing-
lichen, dem aus eigenster Urkraft und Machtvollkommenheit
Existierenden, kommt Aseitat zu; er allein ist in seinem
Sein und Wesen so wenig als in seinem Thun und Wirken
von einem Andern abhangig. —
So kennt, wie er selbst gesteht,2) Schopenhauer »keinen
gnadigen Herrn«. Bei einem Resumee seines Atheismus
aber diirfen wir nicht seiner Kritik der Gottesbeweise ver-
gessen. Die Art und den Gang dieser meist sehr scharf
ausfallenden Kritik im Einzelnen darzustellen, wiirde uns hier
zu weit fiihren; uns geniigt zu wissen, dass alle diese Be-
weise in ihrer Unhaltbarkeit nachgewiesen werden.3) Aber
1) W. a. W. u. V. I p. 136. 2) Brief an Becker, bei Gwinner a. a. O. 503. 3; a. Der
ontologische Beweis des Anselm von Canterbury wird widerlegt: Vierf. W. p. 10, Kritik der
Kant. Phil. p. 606 f., und in »Noch einige Erlauterungen zur Kant. Ph.« Parerga I p. 117 IF.
b. Der kosmologische: Vierf. W. p. 36 ff. Parerga I p. 115. c. Der physikotheologischc,
»diese blosse Amplifikation des kosmologischen* vor allem W. i. d. N. p. 55 ff". W. a.
W. u. V. I p. 631, Parerga I p. 116. Neuerdings hat Dr. Eduard Loewenthal in seiner
Broschure: »Grundziige des induktiven Spiritualismus nebst geschichtlicher Einleitung« Berlin
bei Karl Siegismund 1889 einen neuen Gottesbeweis aufzustellen versucht, den er den kosmo-
physiologischen nennt, und der folgenderraassen lautet: »Da es unmoglich ist, dass aus dem
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Schopenhauer thut mehr. Er zeigt, wie sogar mit den Lehren
des Christentums der Theismus unvereinbar ist. Das Christen-
tum lehrt:
1)   den Pessimismus; damit vertragt sich nicht der Gedanke
eines allgiitigen, allweisen, allmachtigen Schopfers;
2)   die moralische Verantwortlichkeit des Einzelnen fur
seine Thaten; auch damit ist der Gedanke eines Schopfers
nicht in Einklang zu bringen, indem ein Wesen, das
seiner existentia und darum auch essentia nach das
Werk eines andern ist, fur seine aus dieser essentia
sich ergebenden Handlungen nicht verantwortlich ge-
macht werden kann;
3)   die gottliche Vergeltung; es ist aber ein Unding zu
glauben, Gott konne Thaten, die er selbst veranlasst
hat, hintennach bestrafen;
4)   die Fortdauer nach dem Tode; wie kann ein Wesen,
das durch einen Andern aus dem Nichts hervorgerufen
wurde, ewig sein?1) —• — —
Wie in der indischen Philosophic, so findet auch bei
Schopenhauer der Atheismus eine Hauptstiitze im Pessi-
mismus. Was dort zu erschliessen war, findet sich hier mit
klaren, nackten Worten ausgesprochen: »Die Verantwort-
lichkeit fur das Dasein und die Beschaffenheit dieser Welt
kann nur sic selbst tragen, kein anderer; denn wie hatte er
sie auf sich nehmen mogen?«2) Dieselbe triibselige Be-
trachtung, die den Aesthetiker Friederich Theodor Vischer
in seinem herrlichen Gedicht »Glaubcnsbekenntnis« zu dem
Ausspruch notigt: »Wir haben keinen Liebenden Vater im
Himmel«, die Betrachtung der unendlichen Qual, des namen-
losen Jammers, darunter Mensch und Tier achzt, zwingt
auch Schopenhauer mehr als logische Schliisse, die Annahme
Niedrigeren etwas Hohergeartetes sich entwickele als das, was dem ersteren als embryonale
Potenz, als Keim innewohnt, resp. ihm urspriinglich von einer hoheren Potenz eingepflanzt
ist, so u. s, w.« p. 11. Dass auch dieser kosmo-physiologische Beweis nicht das Verlangte
leistet, liegt auf der Hand. Er enthalt zunachst eine petitio principii, indem er unbewiesener-
massen annimmt, die »embryona!e Potenz« miisse dem Niedrigeren von einer hoheren Po-
tenz eingepflanzt sein (recht naiv ist dabei das ^respective*), und zweitens wiirde er einer
so gewonnenen Potenz keine Personlichkeit verleihen, die vom Gottesbegriff untrennbar ist.
1) Parerga I p. 132 ff. Ph. Mainlander, der Schiiler Schopenhauers, will sogar be-
weisen, »dass das reine Christentum im tiefsten Grundc echter Atheismus und nur auf der
Oberflache Monotheismus ist.« 2) W. a. W. u. V. I p. 415.
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eines Gottes zu verwerfcn. »Wohin das Auge dringt, ist
Schuld und Leiden« sagt ein Schopenhaucrianer, der Dichter
Hieronymus Lorm (Heinrich Landesmann). Wie sollte eine
solche Welt das Werk der vollkommensten Giite, der
strengsten Gerechtigkeit, der unbegrenzten Allmacht sein?
Fur Schopenhauer ist die Welt eine Holle; Holle und Gott
aber sind disparate Begriffe. —• Der Gedanke der Geschichte
ist illusorisch. Es giebt keine Fortentwicklung, kein Besser-
werden. Es giebt kein Ziel, dem sich das Menschengeschlecht,
wenn auch langsam und unter stetem Ringen, nahern konnte.
Das Wort »Vervollkommnung« ist fur unsern Pessimisten
ein leerer Schall. Wer aber, wie er, ein anstrebenswertes
Ziel leugnet, dem ist auch jeder Gedanke an eine ziel-
setzende Macht fremd. Schopenhauer ist Atheist, weil er
Pessimist ist. — — Die Erlosung aus dem leidvollen Drang
ist dcs Menschen ureigenste That; fur sie braucht Schopen-
hauer so wenig als seine indischen Geistesverwandten einen
Gott in Bewegung zu setzen.
In seiner All-Einslehre hat sich Schopenhauer dem
Pantheismus,1) in der Lehre von der Erkenntnislosigkeit des
letzten Dinges dem Materialismus genahert. Beide Lehren,
im Verein mit dem Pessimismus, geben die Grundpfeiler ab,
auf denen sein Atheismus ruht. Wir sehen, die Aehnlichkeit
der Begriindung bei ihm und in dem Vedanta ist unver-
kennbar. »Alles ist leidvoll!« heisst es hier wie dort —
darum ist ein Gott undenkbar. »Ich bin brahman,« sagt
der Vedantist; »meinWille ist dasDing-an-sich«, Schopenhauer.
Wir fanden den Atheismus der Inder in doppelter Weise
getriibt, einmal durch die Annahme einer Gottervielheit,
wozu fur die exoterische Volksreligion des Brahmanismus
sogar die Vorstellung eines allmachtigen, personlichen Gottes
kommt, und zweitens, wenigstens fur den Vedanta, durch
die Meinung, das Wesen des Dinges-an-sich bestehe in der
Intelligenz. Namentlich im letzten Punkte hat Schopenhauer
tiefer gedacht. Aber seltsamer Weise tauchen auch bei
diesem konsequenten Denker Vorstellungen auf, die das
1) Was ihn vom Pantheismus scheidet, hat er dargestellt im Kap. »Epiphilosophie«.
W. ». W. u. V. n p. 739.
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Alleinregiment des Atheismus zu beeintrachtigen drohen.
Sie finden sich in dem Kapitel: »Transscendente Spekulation
iiber die anscheincnde Absichtlichkeit im Schicksale des Ein-
zelnen« des 1. Bandes der Parerga; auch gehort hierhin das
49. Kapitel des 2. Bandes der W. a. W. u. V. »Die Heils-
ordnung«. Denn hier bekennt sich Schopenhauer zu dem
Glauben an eine vorhersehende Notwendigkeit, die den
Menschen zur Erlosung auf eine ihm ganz individuell
angemessene Art, wenn auch auf weiten Umwegen leitet.
Diese Vorsehung wird in den urspriinglich blinden Willen
hineinverlegt. »Sind wir nicht auf dem Wege zum Theismus?«
miissen wir mit Kuno Fischer fragen.1)
8. Das Ding-an-sich.
Im Folgenden betrachten wir, welcher Art die Vor-
stellungen sind, die unsere Philosophen von dem Urgrund
aller Erscheinung, dem Ding-an-sich, haben. Nach dem, was
iiber die Metaphysik des Buddhismus gesagt worden ist,
kommt hier nur der Vedanta zur Vergleichung mit Schopen-
hauer. In § 6 ist gezeigt worden, dass ein Ding-an-sich
thatsachlich angenommen wird; wir gehen dazu iiber, die
Natur desselben darzustellen.
a. Das Ding-an-sich ist unerkennbar.
So ist die Meinung Cankaras, so die Meinung Schopen-
hauers. Wie sie das Ding-an-sich auch nennen mogen, eine
adaquate Erkenntnis kann nach beiden von ihm nicht ge-
wonnen werden.
Wohl lasst sich das brahman »schauen«, von dem Weisen,
im Zustande der Exstase, der seligen Versenkung, im Zu-
stande des samradhanam,2) aber eine Erkenntnis, wie sie durch
Worte mitteilbar ist, lasst das heilige brahman nicht zu.
Worte und Gedanken miissen umkehren, ohne es zu finden.
»Verschieden ist's von allem, was wir kennen, und hoher
als das Ungekannte auch«. Es ist »nicht horbar, nicht
fiihlbar.« Nur schweigend kann der weise Bahva das Wesen
brahmans bezeichnen.*) ■— Die gleiche Unerkennbarkeit be-
1) a. a. O. p. 488 ff. 2) Deussen a. a. O. p. 230. ib. p. 227.
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hauptet Schopenhauer von seinem Ding-an-sich. Wenn wir
dasselbe »Willen« nennen, so ist diese Bezeichnung insofern
eine unvollkommene, als der Name einer blossen Species
auf das Genus iibertragen wird.1) Die Species konnen wir
erkennen, nicht so das Genus.
Und wie erklaren unsere Denker diese Unerkennbarkeit?
Diese Frage ist erst dann zu beantworten, wenn wir ge-
sehen haben,
b. was sich trotz dem von dem Ding-an-sich
aussagen lasst.
1) Gleich wie ein Salzklumpen durch und durch salzigen
Geschmacks ist, so ist das brahman der indischen Philo-
sophic durch und durch reine Geistigkeit, caitanyam.2)
»Geist ist sein Stoff« sagt der mythische Weise Candilya.
Das brahman ist das Sehende, das Horende, das Ver-
stehende, das Erkennende; es ist
»des Odems Odem und des Auges Auge,
des Ohres Ohr und des Verstands Verstand.« — —
Dadurch, dass der Vedantist das Wesen des Dinges-
an-sich in die reine Geistigkeit setzt, hat er dem Orga-
nismus seines Systems den verhangnisvollen Tropfen
Gift zugefuhrt, der dessen reines Blut verdirbt. Folge-
richtig hat er gedacht, als er das Wesen des Subjekts
auf das Ding-an-sich ubertrug; es war sein Fehler, das
Subjekt, das Selbst einfach zu nehmen. Dass das Selbst-
bewusstsein thatsachlich nicht einheitlich ist, hat Schopen-
hauer gelehrt. Auch hier sondert sich, wie in jeder
Vorstellung, das Subjekt vom Objekt, das Erkennende
vom Erkannten. Jenes ist der Intellekt, dieses der
Wille. Auf diesen beiden Faktoren in ihrer Einheit
beruht die Individuality, das Selbst. Den Willen hat
der Vedanta ubersehen, geblendet durch den Glanz,
der vom Erkennen ausstromt. Und doch sagt er selbst,
unter Bezugnahme auf die Chandogya-upanishad: »Fiir-
wahr, aus Willen ist der Mensch gebildet!«8) und mit
der Brihad-aranyaka-upanishad: »Der Mensch ist ganz
1) W. a. W. u. V. I p. 132. 2) Dcussen a. a. O. p. 164. 3) ib. p. 163
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und gar gebildet aus Begierde.K1) Dennoch hat er
das Subjekt des Selbstbewusstseins zum Ding-an-sich.
gemacht, den Intellekt.
Schopenhauer hingegen das Objekt, den Willen. Ihm
ist also nicht die Vernunft das Ding-an-sich, sondern
das ewige, unermiidliche Streben, das wir, wo es sich
in uns objektivirt, Willen nennen. Der Wille, die Be-
gierde ist der innerste Kern des Menschen. Diese Er-
kenntnis, die, wie eben gezeigt, auch dem Brahmanismus
aufgegangen war, hat er auf das Weltall ausgedehnt
und hat andererseits das Primare des Brahmanismus,
die Erkenntnis, zum Sekundaren gemacht.
Dass es ein Fehler war, das Ding-an-sich rein geistig
zu nehmen, haben die Vedantisten selbst gefiihlt. Als
sie erklaren sollten, wie die Umwandlung des brahman
in die Erscheinungswelt vor sich geht, oder, vom
Standpunkt der vyavahara-avastha aus gesprochen, wie
es moglich ist, dass das rein geistige brahman sich
schaffend erweisen kann, da mussten sie dem Ding-
an-sich neben der reinen Geistigkeit auch die cakti
beilegen, eine Reihe von »Kraften«. Da musste das
brahman »mit Kraften angefiillt« sein; denn »eine Akti-
vitat des von Kraften entblossten Gottes ist nicht denk-
bar.«2) Schopenhauer hingegen trifft auch hier wieder
das Richtige; nach ihm ist der Wille selbst nie Ursache ;
sondern, was einerseits Wille ist, ist andererseits Vor-
stellung, Erscheinung.
2)  Als weiteres Attribut legt der Vedanta dem brahman
die Existenz bei; es ist sat, das »Seiende« im hochsten
Sinne. Dem entspricht es, wenn Schopenhauer dem
Willen den Drang zur Selbsterhaltung beimisst;3) denn
eines wie das andere entspringt unmittelbar aus dem
Begriff des Dinges-an-sich.
3)  Fernerhin tragt brahman in sich die Fiille der Wonne,
ananda. So namentlich gemass dem spateren Vedanta.
Deussen will dieses Pradikat vornehmlich als negative
Eigenschaft fassen, als Schmerzlosigkeit, die allein dem
1) ib. p. 208. 2) ib. p. 244. 3) W. a. W. u. V. II p. 338.
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»param brahma« zukommt.1) In brahman ist alles
Leid, aller Schmerz, Geburt und Sterben geschwunden.
— Ganz anders Schopenhauer. Nach ihm ist der Wille
selbst unmittelbar mit Leid behaftet, mit Schuld und
Uebel verbunden. Sein Wille ist kein zufriedener, son-
dern ein hungriger, kein reiner, sondern ein unmorali-
scher Wille von Haus aus. Dieser Gegensatz wird
wichtig werden bei Betrachtung des Pessimismus und
der Ethik.
So gehen in der Hauptsache unsere Philosophen ziem-
lich weit auseinander hinsichtlich ihrer Ansicht vom Wesen
des Dinges-an-sich. Hier die leidlose, selige Intelligenz, dort
der leidvolle, unselige Wille. Doch einigen sie sich wieder,
wenn sie von der ausseren Form sprechen. Nach beiden
ist das Ding-an-sich einheitlich und grundlos.
Der Wille, der aller Erscheinung zu Grunde liegt, ist
von aller Erscheinung ganzlich verschieden. Die Formen,
in denen die Erscheinung sich darstellen muss, sind ihm
durchaus fremd; denn eben das macht ihn zum Ding-an-sich.
Diese Formen finden ihren Ausdruck im Satz vom Grunde.
Es sind Zeit, Raum und Kausalitat. Diese Drei haben iiber
den Willen als Ding-an-sich keine Gewalt; er steht iiber ihnen.
Ueber Zeit und Raum —■ darum ist er ewig, einer und un-
geteilt. Zeit und Raum sind das principium individuationis
und machen als solches die Vielheit der Erscheinungen mog-
lich. Dem Willen aber ist diese Vielheit nicht eigen; er ist
einer; in jeder Erscheinung stellt er sich ganz und ungeteilt
dar. Ueber der Kausalitat — darum ist er unveranderlich
und schlechthin grundlos. Horen wir Schopenhauer selbst:
»Der Wille als Ding-an-sich liegt ausserhalb des Gebietes
des Satzes vom Grund in alien seinen Gestaltungen, und ist
folglich schlechthin grundlos, obwohl jede seiner Erscheinun-
gen durchaus dem Satz vom Grunde unterworfen ist; er ist
ferner frei von aller Vielheit, obwohl seine Erscheinungen
in Zeit und Raum unzahlig sind; er selbst ist Einer; jedoch
nicht wie ein Objekt Eines ist, dessen Einheit nur im Gegen-
1) cf. p. 77 f.
LfcB^
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satz der moglichen Vielheit erkannt wird; noch auch wie ein
Begriff Eins ist, der nur durch Abstraktion von der Vielheit
entstanden ist; sondern er ist Eines als das, was ausser Zeit
und Raum, dem principio individuationis, d. i. der Moglich-
keit der Vielheit, liegt.K1)
Ebenso liegt nun ;>uch das brahman des Brahmanismus
jenseits jener Formen von Zeit, Raum und Kausalitat. Die
Kathaka-upanishad sagt:
»Vom Guten frei und frei vom Bosen, von Ursach' und von Wirkung frei,
Frei vom Vergang'nen und Zukflnft'gen — das sage mir, was dieses sei.2)
Und wir antworten mit Cankara: es ist »das unsichtbare,
ungreifbare, stammlose, farblose, was ohne Augen und Ohren,
ohne Hande und Fiisse ist, das ewige, durchdringende, all-
gegenwartige, sehr feine, dieses ist das Unwandelbare, wel-
ches die Weisen erkennen als den Mutterschoss der Wesen.«3)
»Himmlisch« sagt die Mundaka-Upanishad, »ist der Geist,
der ungestaltete, der draussen ist und drinnen, ungeboren,
der odemlose, wiinschelose, reine, noch hoher als das hochste
Unvergangliche.«4) Nichts anders besagen alle diese Be-
stimmungen, als dass brahman, wie es dem Ding-an-sich zu-
kommt, iiber Zeit, Raum und Kausalitat erhaben ist.5) Jeg-
liche Vielheit ist demnach im brahman-atman gehoben; selbst,
wie uns die Abschiedreden Yajfiavalkyas lehren, die Zwei-
heit von Subjekt und Objekt, so dass, obwohl das brahman
selbst das Erkennen ist, in ihm kein Erkennen stattfindet.
Darum lehrt die Dogmatik das brahman ausdrucklich als
ein attributloses, nirgunam brahma, als ein unterschiedloses,
nirvicesham brahma; denn durch Attribute, Bestimmungen
und dergl. wiirde eine Vielheit in das brahman hineinge-
tragen. Auch jene drei Attribute, die eine spatere Zeit im
Ausdruck sac-cid-ananda zusammengefasst hat, gleich »Sein,
Geist und Wonne«, sind nicht als drei selbstandig neben-
einander bestehende Eigenschaften aufzufassen, sondern als
drei Bestimmungen, die dasselbe aussagen. So kann man
denn eigentlich von brahman nicht sagen, was und wie es
ist, sondern nur, was und wie es nicht ist. Solche negative
I) W. a. W. u. V. I. p. 134. 2) Deusscn a. a. O. p. 166. 3) ib. p. **l. 4) ib. p. 142
5) Deussen : Eleraentc der Mctaphysik p. 27.
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Bezeichnungen sind: das sclion erwahnte »neti, neti«, gleich
»nicht so, nicht so«; oder: »nicht grob und nicht fein, nicht
lang und nicht kurz.« Oder: »Er ist ungreifbar; denn er
wird nicht gegriffen; unzerstorbar; denn er wird nicht zer-
stort; unhaftbar; denn es haftet nichts an ihm; er ist nicht
gebunden, er wankt nicht, er leidet keinen Schaden.«') Oder,
wie Yajflavalkya zur Brahmanin Gargi sagt: »Es ist das, o
Gargi, was die Brahmanen das Unvergangliche nennen; es
ist nicht grob und nicht fein, nicht kurz und nicht lang; nicht
rot (wie Feuer) und nicht anhaftend (wie Wassser), nicht
schattig und nicht finster, nicht Wind und nicht Aether, nicht
anklebend (wie Lack), ohne Geschmack, ohne Geruch, ohne
Auge und ohne Ohr, ohne Rede, ohne Verstand, ohne Le-
benskraft und ohne Odem, ohne Miindung und ohne Mass,
ohne Inneres und ohne Aeusseres; nicht verzehrt es irgend
was, nicht wird es verzehrt von irgend wem.«2)
c. Weshalb ist das Ding-an-sich unerkennbar?
Diese Frage konnen wir nun beantworten. Zunachst
ii r den Vedanta. »Wahrlich, o Gargi,« spricht Yajflavalkya,
»dieses Unvergangliche ist sehend, nicht gesehen, horend,
nicht gehort, verstehend, nicht verstanden, erkennend, nicht
erkannt.« Und warum nicht erkannt? Einmal, weil sein
Sein ein all unsere Fassung weit iiberragendes ist. Unsere
Erkenntnis vermag nur das empirische Sein zu begreifen,
nicht aber jenes, das »neti, neti« ist, das so ganz andere
Natur als das empirische Sein hat, dass man es, von diesem
aus betrachtet, ein Nicht-sein nennen konnte. Wir miissten
zu seiner Erkenntnis uns aller gewohnlichen Erkenntnis-
mittel entaussern; darum heisst es in der Kena-Upanishad:
»Wer nicht versteht, nur der versteht es,
Und wer versteht, der weiss es nicht:
Unerkannt vom Erkennenden,
Erkannt vom Nichterkennenden.«
Der zweite und Hauptgrund aber ist der, dass brahman
■ 1) Deussen: Vedanta p. 211. 2) ib. p. 143. vergl. auch p. 229. Ebenso sagt Scotus
Erigena, dass man das Wesen Gottes nur mit Ausdriicken bezeichnen konnc, die dessen Nicht-
Tjestimmbarkeit bezetcbnen. cf. Preger: Mystik I p. 158. So iiberhaupt jeder Mysttcismus
seit Philo und Plotin. So heisst es bei Nikolaus von Cusa: *>Negationes sunt verae, affir-
raationes insufficientes in theo!ogicis«, d. h. in der Lthre von Gott
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als die Potentialitat aller Erkenntnis immer Subjekt des
Erkennens ist und daher nie zum Objekt werden kann.
Das Erkennen selbst ist unerkennbar, wie das Auge alles
sieht, nur sich selbst nicht. Das brahman ist das Selbst
und somit allem innerlich; darum kann es zwar nicht be-
zweifelt werden1), weil es als Selbst an sich bekannt ist
aber man kann es auch nicht beweisen; denn »es ist das-
jenige, welches alle Beweismittel in Anwendung bringt.«
Weil brahman das Erkennen selbst ist, darum bleibt es
unerkennbar. »Nicht sehen kannst Du den Seher des Sehens,
nicht horen kannst Du den Horer des Horens, nicht ver-
stehen kannst Du den Versteher des Verstehens, nicht er-
kennen kannst Du den Erkenner des Erkennens.« — »Durch
den er dies Alles erkennt, durch wen soil er den erkennen?
Den Erkenner, durch wen soil er den erkennen?«
In dieser Weise kann Schopenhauer natiirlich nicht ar-
gumentieren. Auch fur ihn kann das Ding-an-sich nie Objekt
einer adaquaten Erkenntnis werden, aber nicht, weil es ewig
Subjekt jeder Erkenntnis, sondern eben Ding-an-sich ist,
aus dessen Begriff unmittelbar sich die Unerkennbarkeit
ergiebt. Denn erkannt werden, vorgestellt werden, heisst
fur einen anderen da sein, als Objekt fur ein Subjekt, hin-
gegen an-sich-sein bedeutet, unabhangig von anderen, durch
sich selbst und fur sich selbst sein. Wiirde das Ding-an-
sich erkannt werden, so ware es nicht mehr fur sich da,
sondern fur etwas anderes, namlich das erkennende Subjekt.
Nichts ist nachdem, was es schlechthin an und fur sich ist,
erkennbar. »Denn sobald ich erkenne, habe ich eine Vor-
stellung: diese aber kann, eben weil sie meine Vorstellung
ist, nicht mit dem Erkannten identisch sein, sondern giebt
es, indem sie es aus einem Sein fiir sich zu einem Sein fur
Andere macht, in einer ganz anderen Form wieder, ist also
stets noch als Erscheinung desselben zu betrachten.«2) Alle
Erkenntnis giebt bloss Erscheinung — darum sind Ding-an-
sich und Erkanntwerden unversohnliche Gegensatze. Nicht
einmal in die allgemeinste Form der Vorstellung: Objekt
fiir ein Subjekt sein, fiigt sich das Ding-an-sich, geschweige
1) Deusscn a. a. O. p. 137. 2) W. a. W. u. V. II p. 566; ib. p. 217.
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denn in die dieser untergeordneten Formen, die ihren Aus-
druck im Satz vom Grande finden. Das Ding-an-sich ist
durchaus nicht Vorstellung, sondern toto genere von ihr
verschieden.-------Selbst da, wo das Ding-an-sich am hellsten
vom Lichte der Erkenntnis getroffen wird, bleibt es geheim-
nisvoll, in unsl Von zwei Formen zwar, die aller ausseren
Erkenntnis anhaften, Raum und Kausalitat, bleibt die innere
frei, zwei Schleier hat also das Ding-an-sich abgeworfen,
aber vollig nackt stellt es sich auch in der inneren Er-
kenntnis nicht dar. Die Form der Zeit, sowie die allge-
meinste Form aller Vorstellung, Objekt fur ein Subjekt sein,
sind auch hier geblieben.1) ■—■ •--------Diese Beweisfiihrung
ahnelt jener vedantistischen, die wir an erster Stelle ange-
flihrt haben. Hier wie dort wird eine vollige Discrepanz
zwischen absolutem und relativem Sein festgehalten und nur
das letztere der Erkenntnis als Objekt iiberwiesen. —
Trotz aller Unerkennbarkeit ist nun fur unsere Philo-
sophen das Ding-an-sich durchaus nichts Fremdes. Es ist
vielmehr das Allergewisseste unserer gesamten Erkenntnis,
das am genauesten Bekannte, was deshalb nicht durch ein
Anderes zu erklaren ist, vielmehr allem anderen die Er-
klarung giebt. Denn wir konnen es da betrachten und
finden, wo es am wenigsten in die Form der Erscheinung
eingegangen ist. Da erkennen wir es denn in seiner ada-
quatesten Erscheinung, die uns iiberhaupt zuganglich ist, mit
Schopenhauer als jenen Drang und Trieb, den wir Willen
nennen. Bei jedem Hervortreten eines Willensaktes aus der
dunkeln Tiefe unseres Innern in das erkennende Bewusstsein
vollzieht sich ein unmittelbarer Uebergang des ausser aller
Zeit liegenden Dinges-an-sich in die Erscheinung. Demnach
ist der Willensakt nur Erscheinung, aber die nachste und
deutlichste des Dinges-an-sich, und es folgt, dass, wenn alle
iibrigen Erscheinungen ebenso unmittelbar und innerlich von
uns erkannt werden konnten, wir sie fur eben das ansprechen
miissten, was der Wille in uns ist. In diesem Sinne lehrt
Schopenhauer, dass das innere Wesen eines jeden Dinges
1) Vergl. W. a. "W. u. V. II Kap. 18: »Von der Erkennbarkcit des Dinges-an-sich.«
p. 213 ff.
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der Wille ist; in diesem Sinne nennt er den Willen das
Ding-an-sich.--------Gelegentlich tritt der Gedanke auf, dass
neben dem Attribut des Willens das wahre Ding-an-sich
noch andere Qualitjiten haben mag, Bestimmungen, Eigen-
schaften, Daseinsweisen, die ausserhalb jeder moglichen Er-
scheinung Kegen, die schlechthin unerkennbar und unfasslich
bleiben.1) Doch spielt dieser Gedanke keine grosse Rolle.
Schopenhauer beabsichtigt nichts mehr damit als Spinoza
mit der Annahme, dass die Substanz aus der Zahl nach un-
endlichen Attributen bestehe, von denen jedoch nur Denken
und Ausdehnung uns bekannt sind2) — namlich das, die
Substanz oder das Ding-an-sich hoch iiber alle empirische
Realitat zu erheben.
d. Annaherung des^Vedanta an Schopenhauer.
So mannigfache Beriihrungpunkte sich zwischen Scho-
penhauer und dem Vedanta hinsichtlich der Lehre vom Ding-
an-sich ergeben, so scheinen doch alle Beziehungen abzu-
reissen, sobald wir auf das Wesen selbst des Dinges-an-sich
unser Auge richten. Hier Geistigkeit — dort Wille. Aber
horen wir, wie Paul Deussen brahman und die Geistigkeit
auffasst. Er erklart brahman (von barh = farcire), das Gebet,
»als den zum Heiligen, Gottlichen emporstrebenden "Willen"
des Menschen.«3) Er fasst alles Erkennen auf als »eine
Reaktion gegen den Andrang der Eindriicke und somit als
eine Bethatigung von Kraft,«4) und sagt demgemass: »In-
dessen ist das Geistige (caitanyam), wie wir sehen werden,
in unserm Systeme eine Potenz, welche aller Bewegung
und Verrinderung in der Natur zu Grunde liegt, daher auch
z. B. den Pflanzen zugeschrieben wird, und somit eher die
allem Seienden zukommende Fahigkeit der Reaktion gegen
aussere Einwirkungen bedeutet, eine Fahigkeit, welche aller-
dings in ihrer hochsten Potenzierung als menschliches Er-
kenntnisvermogen, als Geist sich offenbart.«s) Deussen erklart
brahman also als Geisteskraft, Kraft aber ist Wille.6) Und
1) W. a. W. u. V. II p. 221. 2) Spinozas Ethik, Teil I, Def. 6. 3) Deussen a. a. O.
p. 128. 4) ib. p. 229. 5) ib. p. 62. 6) Vergl. auch Deussen: Elemente der Metaphysik, 8 184
mit Anmerkg. p. 125, wo er zu dem Schluss kommt: »dass dieses Brahman — trotz der ihm
zugeschriebenen Intelligenz, im Grunde nichts andercs ist, als was wir den Willen nennen.*.
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in dcr That, wenn die Philosophen dcs Vedanta behaupten,
in alien Elementen sei brahman der innere Lenker, »so dass,
demnach, wenn z. B. das Wasser fliesst, nicht das Wasser
als solches, sondern brahman in ihm dieses bewirkt,*1) so
sind sie nicht feme von der Einsicht, dass das Wesen
brahmans in die Kraft zu setzen ist, in den Drang und
das Streben, in das, was Schopenhauer Willen nennt. Aber
von dieser Einsicht hat sie abgetrieben ein wichtiges Grund-
gesetz, das fur sie unumstossliche Geltung besitzt, das Ge-
setz: »ohne Erkenntnis (cetana) keine Bewegung (pravritti)!«2)
ein Gesetz, gegen das sich Schopenhauer auf das energischste
wendet und dessen Widerlegung das ganze Kapitel: »Physi-
sche Astronomie« gewidmet ist.3) Darum muss man immer-
hin dem Begriff des brahman ei*iige Gewalt anthun, wenn
man ihn als den Schopenhauer'schen Willen interpretieren
will. Besser stimmt zu diesem der buddhistische »Durst«,
nur dass dieser vornehmlich in der Sphjire bewussten Han-
delns der Menschheit seine unheilvolle Macht geltend macht.
Dieser »Durst« ist ebenso wie der »Wille« eine unmorali-
sche Potenz, von der sich zu befreien Gliick und Erldsung
bedeutet, aber er ist kein Ding-an-sich. Ware der Buddhis-
mus zu einer positiven Metaphysik durchgedrungen, er wiirde
die Begier, die er so nur im Menschen sucht, auch im Weltall
wiedergefunden haben, wodurch ein vollkommenes Pendant
zur Schopenhauer'schen Philosophic entstanden ware, ahn-
licher, als wie der Vedanta eines bietet.
§ 9. Die Identitatslehre.
In der Identitatslehre kulminieren Brahmanismus und
Schopenhauer'sche Philosophic In ihr ist der Gipfelpunkt
erreicht. Aber er ragt in die Hohen des reinen Mysticismus.
In der Identitatslehre erscheint die gesamte Metaphysik als
sublimirt.
»Tat tvam asi«, »das bist Du« — in diesen, von Scho-
penhauer so oft citierten Worten des Veda liegt die Iden-
titatslehre beschlossen. »Aham brahma asmi«, »ich bin
brahman« ist ihr Motto. Diese Worte besagen: wie bunt
1) Deussen, Vsdinta p. 255. 2) ib. p. 254, 258. 3) Willen in dcr Natur. p. 80 ff.
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und mannigfaltig auch die Erscheinungen sein mogen, so ist
doch der einzig wesenhafte Kern in alien ewig der gleiche:
brahman, Willen. »Seele nur ist dieses Weltalk; »brahman
nur ist dieses Ganze, das vortrefflichste;« »das, was dieses
Feine ist, dessen Wesens ist dieses Weltall, das ist das Reale,
das ist die Seele, das bist Du, o Cvetaketu.«]) Die uner-
messliche Kraft, »die die Welten auseinanderha.lt, dass sie
nicht verfliessen«, sie ist es, die in der Pflanze wirkt, im
Schaft zur Sonne aufstrebt, um Bliiten zu tragen und Frucht
zu zeitigen. Sie ist es, die in allem, was lebt und Speise
nimmt, liebt und hasst, ihr geheimnisvolles Werk verrichtet.
Auch in der unverniinftigen Kreatur, den Tieren. »Ob sie hier
Tiger sind oder Lowe, oder Wolf, oder Eber, oder Wurm,
oder Vogel, oder Bremse, oder Miicke«, die starksten und
die geringsten, »alle diese Kreaturen haben das Seiende als
Ursache, das Seiende als Stiitzpunkt, das Seiende als Grund-
lage.«2) Und so auch der Mensch. Auch er ist brahman
und vom Nebenmenschen nur in der Erscheinung verschieden.
»Du bist das Weib, du bist der Mann, das Made-hen und der Knabe;
Geboren, wiichst du allerwarts, du wankst als Greis am Stabe.«3)
Darum kann auch Sanatkumara in der Chandogya-Upa-
nishad sagen:4) »Ich bin unten und oben, im Westen und
im Osten, im Siiden und im Norden- irh bin diese ganze
Welt.« Und Schopenhauer stimmt ihm vollkommen bei.
Aber nicht nur die Welt der organischen Wesen wird
vom brahman oder dem Willen getragen und belebt, auch
die anorganische Welt. Auch iiber sie miissen wir das Weihe-
wort sprechen: »tat tvam ask. Schopenhauer nimmt dem-
gemass keinen Anstand, alle Naturkrafte als Willensausserungen
zu bezeichnen und sie mit der Lebenskraft im Menschen zu
identificieren. Ihm ist sogar die Schwere nicht bloss ein
zufalliges Analogon zum menschlichen Willen, sondern ganz
und unmittelbar dasselbe, mit dem einzigen, accidentellen
Unterschied, dass im Menschen der Wille sich mit Intellekt
und Selbstbewusstsein verbunden hat. Der Vedanta denkt
bei den Wesen, deren Wesensidentitat er behauptet, in erster
1) Detssen a. a. O. p. 282 ff. 2) ib. p. 284, 285. 3) ib. p. 321. 4) ib. p. 216 ff.
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Linie an die erkennenden, Mensch und Tier; auch die Pflanzen
werden wohl noch herangezogen; die Konsequenzen hingegen,
die Schopenhauer, wie gesagt, mit solcher Siegesgewissheit
zieht, wagt oder vermag er nur anzudeuten. Dass auch die
Elemente des belebenden brahman nicht nur nicht entbehren,
vielmehr nur seine Erscheinungform sind, stellt er bloss
mythisch dar, in der Schopfunglehre, die nur fur den »Stand-
punkt des Welttreibens« gilt. So sagt er mit der Chandogya-
Upanishad, dass das »Seiende, das am Anfang war, eines
nur und ohne Zweites«, also brahman, aus sich die drei Ur-
elemente, Glut, Wasser und Nahrung (gleich Erde) hervor-
gehen liess und in dieselbe mit dem »lebenden Selbste«,
d. h. mit der individuellen Seele einging. Oder, gemass der
Taittiriya-Upanishad: »Wahrlich, aus diesem atman ist der
akaca (= Raum, Aether) entstanden, aus dem akaca der
Wind, aus dem Wind das Feuer, aus dem Feuer das Wasser,
aus dem Wasser die Erde, aus der Erde die Pflanzen, aus
den Pflanzen die Nahrung, aus der Nahrung das Sperma,
aus dem Sperma der Mensch.*1) Eines bezieht die Kraft
seines Daseins aus dem anderen, und alle zusammen aus
brahman. Solche Schopfung- und Emanationtheorieen, die
aus alterer, naiverer Vedazeit stammen, konnen zwar dem
gereifteren philosophischen Denken nicht geniigen, aber
gleichwohl darf der orthodoxe Vedanta, fur den der Veda
Quell und Norm alles Wissens ist, sie nicht verwerfen. Man
behauptet also, die Schopfunglehre habe keinen anderen
Zweck, als die Identitat der Welt mit brahman darzuthun
und deutet fur den kritischen Verstand die Kausalitat zur
Identitat um, wobei das Hauptargument das Beharren der
Substanz durch alle Verjinderungen hindurch abgiebt. Auf
dem »Standpunkt der hochsten Realitat« aber giebt es nur
noch brahman und keine Naturkrafte mehr, deren Identitat
mit brahman nachgewiesen werden miisste.
1) Deussen a, a. O. p. 248. Es sei ubrigens hier nebenbei bemerkt, dass sowohl
Schopenhauer als der Vedanta die Elemente in eine gewisse Korrespondenz zu den Sinnen
setzen. Nach dem Ved. wird der Aether wahrgenommen durch das Gehor, der Wind durch
Gehor und Gefuhl, das Feuer durch Gehor, Gefiihl und Gesicht, das Wasser durch Gehor>
Gefuhl, Gesicht und Getchmack, die Erde durch Gehor, Gefuhl. Gesicht, Geschmaek und
Geruch. — Nach Schopenhauer fW. a. W. u. V. II p. 31) ist der Sinn fur die Erde das
Getast, fur das Wasser der Geschmaek, fur die Luft das Gehor, fur das Feuer das Gesicht
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Die Identitatslehre weist also hinter alien Schalen, so
bunt und verschieden sie auch sein mogen, den identischen
Kern nach. Wie mannigfaltig auch, durch Zeit und Raum
von einander geschieden, die Individuen sein mogen, wie
gross auch dem Einzelnen die Kluft ist, die ihn unuberbrtickbar
vom Nebengeschopfe zu trennen scheint, alle Unterschiede
von »hier« und »dort«, »heute« und »morgen«, »ich« und
»du« treffen nur das Aeussere — im tiefsten Grunde lebt
in alien Wesen nur das eine, identische Ding-an-sich, ob wir
es nun brahman oder Willen nennen.
Hier aber, in der Identitatslehre, schlagt die Schopen-
hauer'sche Philosophic ebenso wie der Vedanta in Mysti-
cismus um.
Zwar gilt der Vedanta als orthodox und ist es auch
thatsachlich, sofern der heilige Veda den Untergrund seines
Philosophierens abgiebt; aber er nimmt doch nicht das Wort
nur als Wort. Er sucht die alten Gotterlieder zu vergeistigen;
er wendet sich ab von den Formeln und Dogmen, in denen
der Vedismus den religiosen Gedanken niedergeschlagen
hatte. Das Opfer mit seinen verwickelten Manipulationen
ist fur ihn kaum noch eine inhaltlose Ceremonie. Er sucht
das Gottliche nicht mehr auf dem Opferplatz, er sucht es
in der eigenen Menschenbrust. Er braucht keine positive
Offenbarung mehr, er lauscht einer anderen Stimme, die aus
dem Inneren des Gemiites aufsteigt. Er braucht keines
Gebetes mehr, um sich dem Gottlichen zu nahern, er weiss
sich vielmehr in bestandiger, innigster Gemeinschaft mit ihm,
in tiefster Harmonie mit dem Urgrunde alles Daseins. Er
lehrt eine ganz unmittelbare, feste, unauflosliche, innerliche
Beziehung des Menschen zu dem Ewigen, eine mystische
Gemeinschaft des tragenden Princips im Einzelwesen mit
der Gottheit. Der Mensch ist Gott, Gott ist die Welt. Der
Gesetzeskanon, die ganze Scholastik der Veden haben ihre
Giiltigkeit verloren fiir den, der das heilige »tat tvam asi«
begriffen, der in seinem Inneren sich selbst als urewiges
Princip aller Welt erfasst hat und sich in den grundlosen
Tiefen der Gottlichkeit verliert.
Wie wir mystische Religionen haben, so auch mystische
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Philosophiesysteme. Ein solches ist das Schopenhauer'sche.
Sein System setzt, wie alle Mystik, das Einzelwesen in un-
mittelbaren Zusammenhang mit dem Prinzip jeglichen Daseins
und Wirkens, nur dass dieses von ihm nicht Gott genannt
wird. Im eigenen Willen lehrt es den ewigen Willen kennen,
der allmachtig das Weltall trjigt. Es erweitert die Schranken
der Individualitat und verschmilzt Ich und Welt und Gott
zur unio mystica. Der Gott wohnt nicht jenseits des Uni-
versums; im menschlichen Selbst lasst er sich schauen, lasst
er sich fiihlen, mit Han den greifen.
§ lO. Der Satz vom Grunde.
Wir diirfen unsere Parallele zwischen den philosophi-
schen Ansichten Schopenhauers einerseits und der indischen
Weisen andererseits, die Welt des Objekts betreffend, nicht
schliessen, bevor wir nicht in einigen Worten der besonde-
ren Stellung gedacht, die hier wie dort, und zwar hier bei
den Buddhisten, das principium rationis sufficientis einnimmt.
Hier wie dort wird ihm eine besondere Wichtigkeit beibe-
messen. Denn wenn auch der Buddhismus die subtilen Spitz-
findigkeiten brahmanisch-dogmatischer Spekulation hinter sich
lasst, sich, wie mehrfach betont, wenig kiimmert um die tief-
sinnigen Gedanken des Vedanta, so ist er doch nicht so
ganz bloss Verkiindigung einer reinen Moral, dass er nicht
auch mit dogmatischen Begriffen arbeitete, die nicht weniger
als die allgemein verstandlichen Satze vom Leiden zu seinem
festen Bestand gehoren. Es sind dies Begriffe und Begriffe-
verkniipfungen, von denen selbst Buddha weiss, dass sie
sschwer zu erfassen sind,« die aber trotzdem solche Wichtig-
keit haben, dass gerade ihre Kenntnis als das P\indament
gilt, auf dem die erlosende Erkenntnis sich aufbauen kann.
Es sind die Begriffe, die ihren Ausdruck gefunden haben in
der »Formel vom Kausalnexus«, paticcasam-uppada, wortlich:
Entstehen (des einen) durch das andere. Diese Formel tragt
das ganze System Buddhas, gleich wie Schopenhauers Schrift:
»Ueber die vierfache Wurzel des Satzes vom zureichenden
Grunde« den Unterbau des seinigen enthalt. Und wie die
wgm
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buddhistische Formel und die Schopenhauer'sche Schrift der
Sache nach die Vorbedingung zum weiteren Eindringen in
ihre Weisheit enthalten, so sind sie auch der Zeit nach als
Erstlinge dem Geiste unserer Denker entsprungen.
Folgendermassen lautet die »Formel vom Kausalnexus«:
»Aus dem Nichtwissen entstehen die Gestaltungen; aus den
Gestaltungen entsteht Erkennen; aus dem Erkennen entsteht
Name und Korperlichkeit; aus Namen und Korperlichkeit
entstehen die sechs Gebiete;1) aus den sechs Gebieten ent-
steht Beriihrung;2) aus der Beriihrung entsteht Empfindung;
aus der Empfindung entsteht Durst;3) aus dem Durst ent-
steht Haften;4) aus dem Haften entsteht Werden; aus dem
Werden entsteht Geburt; aus der Geburt entsteht Alter und
Tod, Schmerz und Klagen, Leid, Kummernis und Ver-
zweiflung.«5)
Folgendermassen lautet die Fassung, die Schopenhauer
dem »Satz vom Grunde« als allgemeinste giebt: »Nihil est
sine ratione cur potius sit, quam non sit. Nichts ist ohne
Grund warum es sei.«e)
Vergleichen wir diesen einfachen Satz mit dem kom-
plizierten Begriffgefuge der Formel vom Kausalnexus, so
scheint der Sinn beider unvereinbar zu sein. Sehen wir aber
ab von den einzelnen, zum Teil schwer erklarbaren Zwischen-
gliedern, nehmen wir die Formel in ihrer Gesamtheit, so
driickt sie nichts weiter aus als die strenge Gesetzmassig-
keit alles Geschehens, zwar nur im Gebiet menschlichen Da-
seins, aber eben das, was Schopenhauers Satz hinsichtlich
alles Geschehens auf alien Gebieten behauptet. Jede Ur-
sache hat dort die ihr entsprechende Wirkung, jede Wirkung
die ihr gemasse Ursache. Jeder Zustand ist einerseits Wir-
kung, Folge, andererseits Ursache, Grund. Alles Geschehen
in der Sphare unserer Existenz ist gesetzmassig und not-
wendig; dass dieser Gedanke die Anschauung Buddhas nicht
weniger als die Schopenhauers beherrscht, verdient als fun-
damentale Uebereinstimmung wohl hervorgehoben zu werden.
Sodann stimmen beide darin iiberein, dass sie die Verkettung
1) der Shine und ihrer Objekte. 2) zwischen den Sinnen und ihren Objekten.
3) oder Begierde. 4) an der Existenz. 5) Oldenberg a. a. O. p. 240 ft". 6) Vierf. Wurzel. p. 5
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von Ursache und Wirkung als anfang- und endlos betrachten.1)
Und endlich weisen beide dieser Verkettung das gleiche
Gebiet an.
Schopenhauer namlich teilt die Welt in zwei Halften,
die im Grunde identisch sind, in die Welt als Wille, des
Dinges-an-sich, und in die Welt als Vorstellung, der Er-
scheinung. Nur diese ist dem Satz vom Grunde unter-
worfen, jene aber seinem Anspruche entzogen. Denn der
Satz vom Grunde ist eine Form unseres Intellektes, eine
Funktion unseres Verstandes und als solche a priori ge-
geben. Daher hat er nur fur das erkennende Bewusstsein
Giiltigkeit, ist nur in dessen Bereich thatig und kann fiir
das, was nie erkannt werden kann, also fiir das Ding-an-sich,
nie in Betracht kommen. Er gilt nur fiir Erscheinungen,
die er untereinander verkntipft, dergestalt, dass die eine sich
dem Verstande als Wirkung einer vorhergehenden Ursache
darstellt. Aber iiber die Erscheinung hinaus vermag er
nicht zu ftihren; in der Welt als Wille erlischt sein An-
spruch. Die Welt als Wille ist schlechthin grundlos, dort
giebt es keine Veranderung.
Zwei Welten unterscheiden auch die Buddhisten: die
Welt des leidenvollen samsara und jene des seligen nirvana.
Nur die erstere ist vom sog. Kausalnexus beherrscht.
Dieser ist hier das ausnahmelose Gesetz, das den jammer-
lichen, qualvollen Gang der endlosen Wiedergeburten regelt,
das jeden Lebenslauf mit einem vorhergehenden als unaus-
bleibliche Wirkung verkniipft. Hier im samsara, verbindet
das Gesetz der Kausalitat jede That mit ihrem Lohn. »Nicht
im Luftreich, nicht in des Meeres Mitte, nicht, wenn Du in
Bergeshohlen hinabdringst, findest Du auf Erden eine Statte,
wo Du der Frucht Deiner (bosen) That entrinnen magst.«2)
Denn das Kausalitatsgesetz beherrscht jede Gestalt, alle
sankhara. Es besagt den unabwendlichen Untergang alles
Entstandenen: »was dem Entstehen unterthan ist, ist auch
dem Vergehen unterthan,« Es steht dem bestandigen
1) »Eine yordere Grenze des Nichtwissens, ihr Monche, ist nicht zu erkennen, dass
yor diesem Punkte das Nichtwissen nicht gewesen urd dass es spater entstandcn ware.«
Oldenb. a. a. O. p. 263 f, p. 251. 2) Oldenberg a. a. O. p. 249.
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Wechsel von Entstehen und Vergehen, Keimen und Welken,
Geborenwerden und Sterben vor; es gestattet keine Ruhe,
es kennt kein Gliick, es bringt nur Qual. Denn Ruhe, Gliick
und Frieden wohnen nur da, wo keine Veranderung mehr
stattfindet, im nirvana. Dort kommt die wandernde Seele
zur Ruhe und wirkt das Kausalitatsgesetz nicht mehr. Im
»Ungeborenen, Ungewordenen, nicht Gemachten, nicht Ge-
stalteten« hat alle Kausalitat ein Ende.
Demnach hat sowohl nach Schopenhauer als nach Buddha
das Kausalitatsgesetz Gultigkeit nur in der Welt der Er-
scheinung. Daraus folgt weiterhin, dass beide ihre beiden
Welten nicht in kausale Beziehung setzen.
Innerhalb derselben Gebiete jedoch spielt das Kausali-
tatsgesetz bei Schopenhauer eine Rolle ganz anderer Natur
als bei den Buddhisten. Es ist nach Schopenhauer der
Ausdruck gesetzmassigen empirischen Geschehens, sei es auf
physikalischem, physiologischem oder psychologischem Felde,
und nichts dariiber hinaus. In den Augen der Buddhisten hinge-
gen hat die »Formel vom Kausalnexus« zunachst und vor allem
eine hohere, fast mystische Dignitat als ein ethisches Gesetz,
das jede That mit ihrer Siihne verkniipft und weiterhin einen
Lebenslauf aus dem andern mit zwingender Notwendigkeit
hervorgehen lasst. Sie bestimmt die Schicksale und den
Charakter des Einzelnen und fiihrt wiederum aus dem Cha-
rakter die Thaten hervor. So ist sie eigentlich nur eine Er-
weiterung einer Unterart des Schopenhauer'schen Satzes
vom Grunde, des Gesetzes der Motivation und hat als sitt-
liche Potenz es vor allem mit dem ethisch-intellektuellen
Leben des Menschen zu thun. Indem sie das jetzige Leben
als Wirkung eines vorhergehenden betrachtet, nimmt sie einen
wesentlich mythischen Charakter an, wahrend Schopenhauers
Betrachtung rein philosophisch bleibt.
B. I>ie Welt des Subjects.
§ 11. Psychologic.
Im Bisherigen sind die Ansichten mit einander verglichen
worden, die unsere Philosophen von der Aussenwelt haben.
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Diese reiche, mannigfaltige Welt der drangenden Wesen und
. Gestalten, ist sie wirklich so, nur so, wie sie einem urteil-
losen Blick erscheint? Wenn nicht, wenn wir nur eine
triigende Aussenseite erfassen, was ist dann der innerste Kern
aller Erscheinung, und wie ist er beschaffen? Ist die Welt
ewig? Oder ist sie das Werk eines transscendenten Gottes?
Und giebt es ein Gesetz, dem gemass sich alle scheinbar
willkiirlichen Erscheinungen in eine feste Ordnung einfiigen,
so dass nichts zufallig und alles notwendig ist? Die Ant-
worten, die unsere Philosophen auf diese Fragen gegeben,
sind aneinander abgemessen worden; sie haben sich zumeist
als gleichlautend erwiesen. —
Nun ist die Welt der Objekte nur die eine Halite der
Erscheinungswelt. Neben ihr, sie bedingend, steht die Welt
des Subjekts. Das Subjekt erscheint durchaus als Individuum;
dieses aber weist dem Betrachter verschiedene Seiten. Es
gehort dazu ein Kdrper, ein Intellekt, ein Wille. Was davon
ist das Radikale, das wahre Selbst? Diese Frage ist schon
im Vorstehenden entschieden. Doch waren wir dort von
aussen an sie herangetreten, hatten das menschliche Indivi-
duum als ein Glied der ganzen Wesenkette, als ein Objekt
unter Objekten genommen, wahrend wir nun das Ich, aus
der gesamten Natur herausgegriffen, fur sich allein in seiner
ganz bestimmten Wesenheit betrachten wollen, in der Ge-
wissheit, auch hier merkwiirdige Beziehungen zwischen Scho-
penhauer und der indischen Philosophic zu finden.
1. Schopenhauer.
Das empirische Bewusstsein, der einzige Stoff, der jeder
Philosophic gegeben ist und von dem sie somit auszugehen
hat, zerfallt in das Bewusstsein des eigenen Selbstes und in
das Bewusstsein anderer Dinge. Letzteres enthalt die aussere
Anschauung; ersteres die innere und wird kurzweg Selbst-
bewusstsein genannt.1) Beiden ist, da sie beide Erkenntnis
sind, die Grundform gemeinsam: das Zerfallen in ein Er-
kennendes und ein Erkanntes. Denn in jeder Erkenntnis
ist neben dem Subjekt ein Objekt vorhanden — ohne diese
1) W. a. W. u. V. II p. 89.
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zwei sich gegenseitig bedingenden F'aktoren giebt es keine
Erkenntnis. Auch im Selbstbewusstsein sind sie vorhanden
und streng von einander geschieden, und Schopenhauer, der
durch diese seine Lehre die friihere Meinung, das Selbstbe-
wusstsein sei schlechthin einfach, als falschlich darthat, wurde
dadurch der Lavoisier des Selbstes; wie jener im vorher ein-
iieitlich genommenen Wasser zwei Grundelemente nachwies,
so Schopenhauer im Selbstbewusstsein, das erkennende Sub-
jekt und das erkannte Objekt. Das Subjekt heisst Intellekt,
das Objekt Willen.1) Diese beiden sind einerseits streng
geschieden, andererseits aber ist das, was will, identisch mit
dem, was erkennt. Diese Identitat des Subjekts des Wollens
mit dem erkennenden Subjekt, dem jenes im Selbstbewusstsein
als Objekt gegeniibersteht, konstituirt das »Ich«, das »Selbst«.4)
Das Ich zerfallt demnach in zwei Teile: in Willen und
Intellekt. Zum Willen gehort schon der Korper als seine
Objektitat; indem er nichts weiter ist als der Objekt, an-
schaubar gewordene Wille. Das Gehirn, an das der Intellekt,
wie empirisch nachzuweisen, gebunden ist, gehort mit zum
Korper. Somit ist der Intellekt das Sekundare, das Primare
ist der Wille, der den Korper und in diesem das Gehirn
mit seiner Funktion, dem Erkennen, hervorbringt. Der
Wille ist metaphysisch, das Ding-an-sich, der Intellekt ist
empirisch, physisch, Erscheinung. Der Wille ist die Substanz,
der Intellekt das Accidens. Der Wille ist daher unver-
anderlich und unverganglich, der Intellekt wachst und nimmt
ab und stirbt — mit dem Gehirn. Es ist ein Grundgedanke
der indischen Philosophic: was der Veranderung unterworfen
ist, kann niemals das wahre Selbst des Menschen sein. Der-
selben Meinung ist auch Schopenhauer, darum setzt er das
Selbst nicht in die Erkenntnis, sondern in den Willen. Das
Ich, das uns im Individuum entgegentritt, ist folglich aus
zwei sehr heterogenen Bestandteilen zusammengesetzt, welche
Verbindung durch den Tod gelost wird. Dem Willen, als
dem Ding-an-sich, dem wahren eigentlichen Selbst ist Un-
I) Vierf. Wurzel p. HO; W. a. W. u. V. It 'p. 225 u, o. 2) Vierf. Wurzel p. 143.
Vergl dazu den Vedanta, Deussen a. a. O. p, 55. Anm. 28; p, 56 Anm. 30.
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sterblichkeit gewiss; der Intellekt wird der Vernichtung
tibergeben.
Nach alledem sind wir befugt, ein doppeltes Ich anzu-
nehmen, ein empirisches, das den Willen in Gemeinschaft
und Verbindung mit dem Intellekt entha.lt, und ein meta-
physisches, den Willen, ohne den Intellekt. Ersteres ist der
Wille als Individuum, letzteres der Wille ausserhalb aller
Individualitat. Wahres Ich aber ist nur dieser, und die ganze
Welt ist mein wahres Ich: tat tvam asi.
2. Vedanta.1)
Das Ding-an-sich ist im Vedantasystem rein geistiger
Natur, woraus folgt, dass auch das Wesen des Menschen
in die Geistigkeit zu setzen ist. Der Mensch hat eine »Seele«,
ein vor allem erkennendes Princip, das den Untergang des
Leibes iiberdauert. Und zwar ist es nur der »grobe Leib«,
also diese ausserliche Gestalt, die im Tode zu nichte wird,
indes die Seele, die an sich mit dem ewigen brahman identisch
ist, aus der zerfallenden Wohnung auszieht und sich auf die
Wanderung begiebt. Ein seltsames Gefolge begleitet sie,
das wir betrachten wollen, weil das menschliche »Ich« aus
der eigentlichen »Seele« und ihrem Gefolge besteht.
Obgleich die Seele die Erkenntnis iiberhaupt ist, fiihrt
sie mit sich auf die Wanderung die besonders daneben ge-
stellte Fahigkeit zum empirischen Erkennen, in Gestalt der
indriya's, der »Kraftigen«.2) Es sind dies die zu besonders
fur sich bestehenden Wesenheiten hypostasirten Funktionen
der korperlichen Organe, des Auges, der Nase, der Hand,
des Fusses u. s. w. Wahrend die ausseren Organe als Be-
standteile des »groben Leibes« im Tode vergehen, bleiben
die Krafte, die in ihnen ihren Sitz hatten, bestehen. Es
giebt dieser indriyani zehn, von denen fiinf, die jnana-indriya's,
Erkenntnisvermogen sind, die wir an dieser Stelle betrachten.
Sie heissen Gesicht, Gehor, Geruch, Geschmack und Gefiihl.
Sie werden regiert von einem Centralorgan, dem manas,
1) Auf die Frage nach dem »Selbst« haben die verschiedenen indischen Systeme
die verschiedensten Antworten gegeben. Dieselben werden von Cankara zusammengefasstP
Deussen, a. a. O. p. 136. 2) Deussen, a. a. O. p. 356 ff.
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dessen Aufgabe es ist, die von den jMna-indriya's gelieferten
Data zu Vorstellungen zu verarbeiten. Das manas bedeutet
eben das, was Schopenhauer denVerstand nennt.1) In diesem
Sinne citiert Cankara eine Stelle der Brihad-aranyaka-Upanishad-
»Mit dem manas sieht man, mit dem manas h6rt man«.2)
Die indriya's haben im Leben den ganzen Leib durchzogen;
das manas, der Verstand, hat seinen Sitz im Herzen, und in
ihm wohnt, seinen ganzen Umfang in engster Verbindung
mit ihm ausfiillend, die Seele. Mit manas und indriyas,
diesen rein geistigen Potenzen, bewehrt, zieht die Seele, an
sich schon rein geistiger Natur (atman = brahman), aus, um
imJenseitsLohn oder Strafe fur ihre Erdenthaten zu empfangen,
und dann, zur Vervollstandigung der Vergeltung, auf s Neue
in einen Korper einzugehen.
Ein wesentlich anderes Bild als Schopenhauer bietet
uns der Vedanta. Es ist nach ihm der Intellekt, der, das
Selbst des Menschen ausmachend, dem Tode entgeht und
zum Keim einer neuen Existenz wird. Die Wahrheit ist
zweifelsohne hierbei nicht auf Seite der Vedantisten. Der
Intellekt, dieses unvollkommene, der Veranderung zugangliche,.
in vielen Menschen nur rudimentarisch vorhandene Ding,,
sollte das Ich des Menschen sein ? Die Vedantisten haben
selbst gefiihlt, dass ein Wesen, das rein intellektueller Natur
wie ihre Seele ist, unmoglich eine neue Existenz in der
Korperlichkeit schaffen kann. Denn der Geist tragt in sich.
allein keine schopferische. lebenspendende Kraft; diese ist
dem Willen zugewiesen, In diesem Sinne nun hat der Vedanta
mit der wandernden Seele noch andere upadhi's oder »Bei-
legungen« verbunden, die zwar offenbar deren reine Geistigkeit
triiben, aber unumganglich notig sind zum Verstandnis, wie
die Seele sich einen neuen Leib zu bilden vermag. Und
wunderbar — oder auch nicht wunderbar, wie man es nehmen.
will, als eine Uebereinstimmung, durch Zufall oder die Natur
der Sache herbeigefiihrt, — diese anderen upadhi's nahern
den Begriff der Seele dem Schopenhauer'schen Willen.
Zunachst stehen neben den fiinf jfiana-indriya's oder Er-
kenntnisvermogen die fiinf karma-indriya's oder Thatvermogen,.
1) Diese Deutung giebt schon Detissen. 2) Deussen, Vedanta. p. 338.
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namlich die Funktionen des Gehens, Redens, Greifens, Zeu-
gens, Entleerens. Sie sind es, die im Leben die entsprechen-
den Handlungen regieren. Auch sie unterstehen dem Central-
organ des manas, das also hier nicht mehr als Verstand,
sondern als der bewusste Wille auftritt.1) Das manas, das
die von den jnana-indriya's gelieferten Empfindungen benutzt,
um als Verstand Vorstellungen daraus zu konstruieren, nimmt
zu gleicher Zeit in seiner Eigenschaft als bewusster Wille
diese Vorstellungen als Motive, um die karma-indriya's zu
den beziiglichen Werken zu veranlassen.2) So werden ihm
als »Funktionen« unter anderem in der Brihad-aranyaka-
Upanishad beigelegt: Wunsch (kama, eigentlich Begierde,
nach Geschlechtsgenuss,)3) Furcht, Bestandigkeit, d. h. Festig-
keit, Sich-aufrecht-halten bei Miidigkeit des Leibes.4) Das
manas wohnt im Herzen; im Herzen koncentriert sich auch
nach Schopenhauer die Kraft des Willens.5) — ■— Die
karma-indriya's schliessen sich der wandernden Seele gleich-
falls an. Eine blosse Annaherung an die Schopenhauer'sche
Lehre ist hier gegeben, noch nicht eine wirkliche Verbesse-
rung der eigenen Meinung erreicht; denn im Tode wird
offenbar durch den Verlust der Erkenntnis auch der bewusste
Wille unterbrochen, wahrend nach dem Vedanta der Seele
der bewusste Wille in den Thatvermogen erhalten bleibt.
Die zehn indriya's sind vom manas abhjingig und dieses
seinerseits von dem mukhya prana, worunter die vedantisti-
sche Dogmatik den »Hauptlebensodem« versteht.6) Wie die
indriyani die fur sich bestehenden Hypostasen der erkennen-
den und handelnden Thatigkeit, also des bewussten, anima-
lischen Lebens, sind, so der mukhya prana die des unbe-
wussten, vegetativen. In seinen fiinf Verzweigungen: prana,
apana, vyana, samana, udana besorgt er zumeist die Regu-
lierung des Atmens; so ist vyana die Kraft, die das Leben
unterhalt, wenn der Atem, in Ohnmachten und dergl., zeit-
weilig stockt. Samana ist das Prinzip der Verdauung. Der
mukhya prana ist thatsachlich nichts anderes, als was Scho-
1) So interpretiert auch Deussen. 2) Deussen, Vedanta p. 358. 3) Nach Schopen-
hauer ist kama eine Aeusserung des unbewussten, instinktiven Willens. 4) Deussen a. a. O.
p. 358. 5) W. a. W. u. V. II p. 267. 6) Deussen a. a. O. p. 359 ff. p. 366 ft". Die Deutung
<Ies mukhya prana als des vegetativen Willens giebt auch Deussen.
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penhauer den unbewussten Willen nennt, der den Organis-
mus konstituiert und erhalt. Er ist als solcher das »alteste«
aller korperlichen Organe; denn seine Thatigkeit beginnt von
dem Augenblick der Injektion des Sperma an;1) ohne ihn
konnen die iibrigen Organe, die sich erst spater entwickeln,
»nicht leben.« Er bleibt wach und wirksam, wenn die in-
driyani und das manas schlafen oder sonst ihre Thatigkeit
eingestellt haben; er »stiltzt, ernahrt und belebt« den ganzen
Leib.2) Als sein Hauptsitz gelten die 72000 Adern, durch
die das belebende Blut fliesst, und im Blute objektiviert sich
nach Schopenhauer der Wille am unmittelbarsten.3) Da nun
auch der mukhya prana die wandernde Seele begleitet, so
sehen wir, in wiefern der Vedanta seine Anschauung von
dem unsterblichen Selbst, das urspriinglich als nur intellek-
tuell gedacht wird, modifiziert hat. Wie nahe man der Wahr-
heit gekommen, geht daraus hervor, dass man eine Zeit lang
das Selbst des Menschen eben im mukhya prana suchte, im
unbewussten Willen Schopenhauers.4)
Weshalb nun als ein weiterer Bestandteil — mythisch
ausgedriickt: Begleiter — der wandernden Seele noch der
sukshmam cariram genannt wird, ist nicht klar.6) Es ist dies
der »feine Leib,« die Gesamtheit der feinen Elemente, aus
denen in der neuen Erdenexistenz der grobe Leib erwachsen
soil, »der Samen des K6rpers,« und er tragt die indriya's,
wie der grobe Leib die entsprechenden ausseren Organe.
Nicht klar wenigstens von Schopenhauer'schem Standpunkt
aus; indem ja schon der mukhya prana als unbewusster
Wille einen Korper zu bilden im Stande ist. Auch in an-
derer Beziehung wirkt die Einfuhrung des sukshmam cariram,
storend. Er besitzt namlich, obwohl durchsichtig und daher
unsichtbar, Materialitat,6) wodurch in die Vorstellung der
Seele und ihres Gefolges, welch erstere als rein geistig,
letzteres als ein Verein immaterieller Krafte aufzufassen ist,7)
ein absolut fremdes, widersprechendes Element hineingetragen
wird. Vielleicht aber diirfen wir die Annahme des materi-
1) ib. p. 360. 2) ib. p. 361, 364. 3) W. a. W. u. V. II p. 286. Diesen Gedanken
hat besonders Philipp Mainlander in d^n Vordergrund geriickt. 4) Deussen a. a, O. p. 366.
5) ib. p. 399 ff. 6) ib. p. 401. 7) Es scheineu zmveilen auch die indriya's als ungeistig be-
trachtet werden zu musscn ; Deussen a. a. O. p. 260, 362,
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ellen sukshmam cariram mit Schopenhauer interpretieren als
Ausdruck des dunkel vorhandenen Gefiihles, dass auch die
Materie unseres Korpers unverganglich ist, worin, wie Scho-
penhauer lehrt, eine Seite unserer Unsterblichkeit besteht.1)
Uebrigens lehrt auch Scotus Erigena die Auferstehung mit
einem geistlichen, aber doch aus den vier Elementen be-
stehenden (geschlechtlosen) Leib.2)
In dem manas durften wir den bewussten Willen, der
sich in Thaten aussert, in dem mukhya prana den unbe-
wussten Willen erkennen, auf dem alles vegetative Leben
beruht. Der Schopenhauer'sche Willen aber, der als das
Ding-an-sich unsere Individualitat iiberdauert, ist mehr als
manas und mukhya prana. Er hat nicht nur eine konstitu-
tive, gestaltenbildende Bedeutung, sondern vor allem eine
ethisch-moralische. Er ist zugleich der intelligible Charakter
des Einzelnen, ein ausserzeitlicher Akt, der die moralische
Beschaffenheit des Menschen vor der Erscheinung nach ihrer
guten oder bosen Seite hin auf immer feststellt. Auch in
dieser Beziehung nahert sich der Vedanta der Schopenhauer-
schen Lehre, indem er als letzten Begleiter den sogenannten
»karma-a.graya« der wanderaden Seele zugesellt, den »Werk-
schatz«, die »moralische Bestimmtheit« der Seele.8) Es ist
der durch das Leben angesammelte Schatz von Werken und
findet im Jenseits und hernach auch im Diesseits seine Kom-
pensierung, und zwar hier auf Erden durch die Gestalt des
neuen Daseins, dessen ganze Anlage nach Geniessen und
Leiden durch ihn bestimmt wird.
Wir sehen, es ist ein ziemlich komplizierter Apparat,
den die Seele auf ihrer Wanderung mitschleppt, im Gegen-
satz zu dem einfachen Willen, den die Philosophic Schopen-
hauers Korper und Individualitat uberdauern lasst. Durch
manas, mukhya prana und karma-acraya wird die Seele dem
Schopenhauer'schen Willen zwar bedeutend nahergebracht,
jedoch ist der Unterschied zwischen beiden nicht ganzlich zu
tilgen, da die Seele an sich brahman ist und bleibt. Somit
ist auch der Vedanta von dem Fehler, den Schopenhauer
1) W. a. W. u. V. II p. 539. 2) Preger, Mystik I p. 164. 3) Deuss»n a. a. O.
p. 404 ff.
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an alien seinen Vorgangern riigt, nicht frei, indem auch er
das wahre Verhaltnis umkehrt und anstatt im Willen das
Primare, im Intellekt das Sekundare zu erkennen, den In-
tellekt zum Ding-an-sich, den Willen aber zur Erscheinung
macht. Wohl sagt auch er: »Fiirwahr, aus Willen ist der
Mensch gemacht!« — aber er nimmt diesen Satz nicht im
metaphysischen Sinne, wie es Schopenhauer thut. Der Wille
bleibt das Sekundare. Das geht z. B. daraus hervor, dass
Verlangen, Wunsch und Entschluss unter die »Qualitaten«
des manas gerechnet werden, von denen ausdriicklich gesagt
wird, sie gehorten nicht zum Selbst.1) Erst, wenn das qua-
litat- und eigenschaftlose brahman durch den triigenden
Schleier der maya hindurch als behaftet mit den nichtigen
upadhi's erscheint, wird es »allwirkend, allwiinschend«
genannt; in Wahrheit ist und bleibt es »das wiinschelose.«
Endlich sind manas, mukhya prana und karma-acraya, in
die der einfache Wille zerlegt erscheint, nur upadhi's, un-
rechtmassige »Beilegungen«, die nur fur die individuelle
Seele Geltung haben und wie diese auf der avidya beruhen.
Bei Schopenhauer ist umgekehrt der Intellekt ein upadhi
des Willens.
3. Buddhismus.
Nach buddhistischer Anschauung setzt sich der geistig-
leibliche Komplex des Lebens, des Individuums zusammen
aus folgenden fiinf »khandha's«: Korperlichkeit,Empfindungen,
Vorstellungen, Gestaltungen, Erkennen. Vom Willen ist
hier iiberhaupt keine Rede. Allenfalls lassen sich die »Ge-
staltungen« gemass der Darstellung, die Oldenberg von
diesem, etwas unklar gelassenen Begriffe giebt, als ein
Sehnen, Streben, Wollen auffassen.2) Doch muss hervor-
gehoben werden, dass auch die »Gestaltungen« im Tode
zu nichts werden, nicht weniger, als die drei ersten khandha's,
und sie somit, was die Verganglichkeit anbetrifft, auf der-
selben Stufe wie die Korperlichkeit stehgn. Im Brahma-
nismus ging doch nur diese, der »grobe Leib« unter. Im
Buddhismus hingegen bleibt nur das funfte khandha, das Er-
1) Deussen a. a. O. p. 56. Anm. 29. 2) a. a. O. p. 267.
7
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kennen, vinfiana, von der Macht des Todes frei. Das Er-
kennen ist es, das beim Tode aus dem Menschen entweicht,
um zu neuer Geburt im Augenblick der Zeugung sich in
einen neuen Mutterleib zu senken. Das Erkennen ist das
Band der einzelnen Existenzen. Bis das Erkennen restlos
im nirvana erlischt, so lange dauert der miihselige Kreislauf
des samsara.1) ■— Dieser Begriff des Erkennens ist jeden-
falls ein Erbteil aus dem Schatze brahmanistischer Speku-
lation. Wenn von ihm gesagt wird: »Das Erkennen, das
Unzeigbare, das Unendliche, das Allleuchtende: das ist es,
wo nicht Wasser noch Erde, nicht Feuer noch Luft eine
Statte findet, in welchem Grosse und Kleinheit, Geringes
und Machtiges, Schones und Unschones, in welchem Name
und Korperlichkeit ganz und gar aufhort.«a) — so meinen
wir einen Vedantisten von atman-brahman reden zu horen.
Es ist ebenso der atman, die individuelle Seele, der nach
der Dogmatik des Vedanta vermittelst des Spermas in den
Mutterschoss gelangt und hier »Namen und Gestalt« (groben
Leib und indriya's) entwickelt. Auch dass das Erkennen
als »Zuschauer« bei jedem Erkenntnisakt gedacht wird,s)
entspricht dem »Zuschauersein« des atman, so weit er pa-
ramatman ist.4) Aber wahrend der Vedanta an der Vor-
stellung einer Seele festhalt, die, wie sehr auch ihre Geistigkeit
durch fremde Elemente getriibt werden mag, ein rein er-
kennendes Prinzip ist und bleibt, ein in sich beruhendes,
unwandelbares, unteilbares, ewiges Wesen, so ist der Re-
ligion Buddhas ein solcher Begriff durchaus fremd. Der
Buddhismus leugnet schlechtweg eine Seele. Und ebenso
Schopenhauer. Hier treten der morgen- und der abendlan-
dische Buddha in schroffe Opposition zum Vedantasystem.
Im iibrigen haben die Wege, auf denen beide zu dieser
wichtigen Gemeinschaft gelangen, nur wenig Aehnlichkeit.
Wie schon mehrfach, sehen wir auch hier zwei Gedanken-
reihen konvergieren, die nichts als ihren Endpunkt gemeinsam
haben. Ob die Moglichkeit, denselben Gedanken auf ver-
schiedene Weise zu begriinden, ein Kriterium fur seine
1) Oldenberg a. a. O. p. 244 ff. p. 289. 2) ib. p. 246. 3) ib. p. 252. 4) cf. p. 108.
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Richtigkeit ist, lassen wir hier dahingestellt sein — im Geiste
Schopenhauers wiirde es fraglos ein solches bedeuten.
Schopenhauers Beweis der Nichtexistenz einer Seele tragt
wesentlich materialistische Farbung.1) Der Wille ist das
Ding-an-sich, das Primare. Seine unmittelbare Objektivation
ist der menschliche Korper. Ein Teil des Korpers ist das
Gehirn. Die Funktion des Gehirns ist der Intellekt. Die
Hypostasierung dieser Funktion ergiebt den Seelenbegriff.
Diese Hypostasierung ist aber durchaus ungerechtfertigt, sofern
sie auf ein schlechthin einfaches, immaterielles, urspriinglich
erkennendes Wesen hinleitet, dem wegen seiner Einfachheit
und daraus folgender Unteilbarkeit ewige Dauer und Un-
sterblichkeit beizulegen ware. Ein solches Wesen giebt es
nicht, ein ens rationis; es giebt kein absolutes Erkennen;
sondern das Erkennen ist in gleicher Weise das Resultat
der Gehirnthatigkeit wie die* Galle Erzeugnis der Leber ist.
Das Gehirn »sondert« Gedanken ab, nicht weniger als die
Hoden den Samen, die Nieren den Urin. Der Intellekt ist
und bleibt physischer Natur; seine ganzliche Abhangigkeit
vom Organismus kann durch zahlreiche Thatsachen belegt
werden. Er wird geboren, altert und stirbt, und schliige man
aus alien Schadeln den Gehirnbrei, so wiirde es aus mit dem
Geiste sein. Also hat jene uralte, transscendente Hypostase,
Seele genannt, gar keine Berechtigung; das ens rationis,
das zunachst erkennt, oder sogar abstrakt denkt, und
erst infolge hiervon auch will, ist ein Unding. Diese Be-
zeichnung muss nach Schopenhauer auch fur das brahman
gelten.
Wenn wir nicht befugt sind, in dem buddhistischen »Er-
kennen« ein Analogon zu der »Seele« zu finden, so ist der
Grund hiervon eine ahnliche Betrachtung der Buddhisten
iiber das Erkennen, als wie sie Schopenhauer iiber den In-
1) Schopenhauer fiihlte eine Art von personlicher Feindschaft, wie gegen den Be-
griff des personlichen Gottes, der aus der jiidischen Mythologie stamme, so auch gegen
den der Seele. Wahrend er den personlichen Gott in seinen Briefen an Frauenstadt nur
den »alten Juden* nennt, dessen Aktien schlecht standen, schreibt er iiber die Seele:
»Seele, Seele, Seele —• Ist ein Pfaffen- und Alte-Weiber-Wort, das man nicht gebrauchen soil,
ein Unding, eine Fiktion der Spiritualisten. Aus Hass gegen dasselbe schreibe ich rigo-
ristisch: Triibsalig.4 Lindner-Frauenstadt: Arthur Schopenhauer, p. 688.
V
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tellekt anstellt: eine materialistische. Fur die Buddhisten
ist das Erkennen direkt materiell. Das Element des Er-
kennens steht in gleicher Linie mit dem Element der Erde,
des Wassers, des Feuers, der Luft, des Aethers. Mag sein
Stoff auch feiner sein als der der iibrigen fiinf Elemente,
hoch erhaben sein iiber die anderen, es ist und bleibt ein
irdisches Element, das von Buddha neben Wasser und Erde
genannt wird.1) Zum Begriff der Seele gehort aber unum-
ganglich auch der der Immaterialitat.
Mehr aber als diese materialistische Vorstellung des Er-
kennens giebt zur Leugnung einer Seele den Ausschlag die
idealistische Ansicht von der Struktur alles Seins. Wir
fuhrten § 5 aus, dass der Buddhismus alien Wesenheiten
darum hochste Realitat abspricht, weil er sie alle als eine
verschlungene Kette von Veranderungen betrachtet, die be-
standig wechseln und keinen Zustand der Ruhe gestatten.
Jedes Ding ist in jedem Augenblick anders als vorher; alle
Dinge sind sankhara. Der Begriff der Substanz wird grund-
satzlich verworfen und mit ihm der einer Seelensubstanz.
Alles Sein ist nur ein ununterbrochenes Kommen und Gehen,
Zu- und Abfliessen, so auch das Ich, die Seele. Wie unsere
Physiologie lehrt und beweist, dass der menschliche Korper
allein durch den bestandigen Wechsel der Materie besteht,
durch die Aufnahme neuer Stoffe und das Abstossen der
verbrauchten, so behauptet sich das Ich nur durch den wech-
selnden Zufluss der Vorstellungen, nach buddhistischer Psycho-
logic Die Seele ist wie ein Fluss, in dem Welle auf Welle
sich drangt und verrinnt, wie eine Flamme, der immer neuer
Brennstoff zugefiihrt wird, die nur durch diese bestandige
Zufuhr Bestand hat, aber eben auch darum in jedem Augenblick
eine andere ist, ob auch ein ungeiibtes Auge sie fur die
gleiche halten mag. — In gleichem Sinne hat auch Herbart
das Ich als einheitliche Substanz verworfen; auch er ver-
wandelt es aus der einfachen Substanz in das Produkt der
einzelnen Vorstellungen, das sich andert je nach den je-
weiligen Vorstellungen, deren Kreuzungspunkt das Ich ist.
Und so ist auch nach Schopenhauer das gesamte Be-
1) Oldenberg. a.a. O. p. 246.
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wusstsein in einem »standigen Fluss« begriffen, aber, was die
Buddhisten nicht gelten lassen, alle Vorstellungen sind zu-
sammengehalten durch das Band ihrer Beziehung auf einen
individuellen Willen.1) Der Buddhist hingegen kennt keine
Dauer im Wechsel, ihm ist das Ich nichts weiter als ein
gedanklicher Begriff, der ausserlich zusammenfasst, was in
Wahrheit keine Einheit zulasst. Es fehlt also das not-
wendigste Ingrediens zur Vorstellung einer Seele : die Substanz.
Und da nicht weniger als der Intellekt auch die vier anderen
khandhas als sankhara gelten, so giebt es nach buddhistischei
Anschauung uberhaupt keine in sich geschlossene individuelle
Personlichkeit. Person ist nichts denn »Name, Benennung,
Bezeichnung, Ausdruck, Wort« —; »nur ein Haufe wandel-
barer Gestaltungen (sankhara) ist dies; nicht findet sich hier
eine Person. «8) Lasst sich aber nicht einmal hier, im Dies-
seits, die gefestigte Innerlichkeit einer Person ausmachen,
wie viel weniger kann man Personlichkeit und Seele im
nirvana finden.3) — Eine grosse Schwierigkeit oder geradezu
Unmoglichkeit liegt darin, diese Anschauung vom Erkennen
mit der Metempsychosenlehre zu vereinigen: das Erkennen,
dieses geistig-materielle Element, das im Grunde nur ideal
vorhanden ist, dient als Verbindungsglied der einzelnen
Existenzen! Nirgend hat sich die Verachtung, mit der Buddha
tiber alles hinwegsieht, was nicht ethischer Natur ist, zum
Schaden der Verstandlichkeit und Klarheit so geracht als
eben hier.4)
Sonderbar ist es, dass unter den fiinf khandha's, aus denen
die Personlichkeit, oder vielmehr das, was ein naiver Mensch
fur Personlichkeit halten mag, zusammengesetzt ist, nicht die
machtige Triebfeder des Willens genannt wird. Die Begierde,
der »Durst« gehort dem Menschen direkt nicht an, wie sehr
auch sein tiefstes Wesen davon ergriffen zu sein scheint.
Man fasst den Durst als eine unselige Krankheit, von der
1) W. a. W. u V. II Kap. 14, 15. 2) Oldenbcrg a. a. O. p. 274—284. 3) ib. p.
-303 f. 4) Die Nichtigkeit der Individualist ist durchaus altbuddhistische Lehre. Main-
lander durfte nicht (Philosophic der Erlosung, Bd. II p. 73 ff.) dem indischen Weisen seine
eigene Ansicht von der realen Substantialitat des Ich unterschieben. Indem er diesen Ge-
danken in den Mittelpunkt des Buddhismus stellte und von hier aus das gan/e System zu
erklaren gedachte, hat er nur eine geistreiche, aber keine richtige Interpretation der von
ihm so geschatzten Religionsphilosophie geben konnen.
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alles Lebende ergriffen ist, die zwar vom Organismus, wie
er nun einmal gestaltet ist, unausbleiblich hervorgebracht,
aber doch auch mittelst der Erkenntnis erfolgreich bekampft
und vernichtet wird. Doch scheint auch hier eine Unklarheit
•des Denkens obzuwalten: indess auf der einen Seite der
»Durst« als die Wurzel alles menschlichen Daseins, als die
Essenz alles menschlichen Wesens zu denken ist, findet er
keine Erwahnung, wenn die Psychologie den geistigen
Menschen in seine Bestandteile zerlegt.1)
§ 12. Der Intellekt.
Die im vorigen § gegebene Darstellung der Psychologie
bedarf noch einer Erweiterung; es handelt sich um die Lehre
vom Intellekt. Dass die Anschauungen, die Schopenhauer
einerseits, der Vedanta andererseits von ihm haben, sich nicht
decken, ist genugsam hervorgehoben — sie konnten es nicht,
weil wir sie vom Standpunkt der Frage nach dem Ding-
an-sich betrachteten. Von diesem aber abgesehen, werden wir
durchgreifende Analogien finden, und was mehr ist, wir
werden finden, dass der Vedanta nicht nur, wie oben gezeigt,
in seinem Ding-an-sich dem Schopenhauer'schen Willen nahe-
kommt, sondern auch umgekehrt Schopenhauer in seinem
Intellekt dem vedantistischen brahman. Auch will betont
werden, dass in beiden Systemen dem Intellekt eine unge-
meine Wichtigkeit beigelegt wird.
Das lasst sich fur den Vedanta a priori an der That-
sache abnehmen, dass er im Intellekt, wie bekannt, das Ding-
an-sich erkennt. Demnach giebt es fur ihn eigentlich nur
Intellekt, und dass die Pflanzen Seele haben, wenigstens
Empfindung, wird mit klaren Worten gesagt.2) Selbst Holz,
1) Ueberhaupt ist die buddhistische Psychologie ziemlich verwirrt. Neben der
Korperlichkeit, der Sensibilitat (= Empfindungen), dem Willen (= Gestaltungen ?) wird als
weiterer Bestandteil der Individualist aufgefuhrf- die Vorstellungen und das Erkennen.
Schwerlich haben wir hier ein Analogon zu Schopenhauers Verstand und Vernunft. Denn
ausser Vorstellungen und Erkennen wird weiterhin noch das ^Denken* (mano) namhaft
gemacht, und zwar als der sechste Sinn, dem die dhamma, die Begriffe als Objekte gegen-
iiberstehen. Oldenberg a. a. O. p. 252. So gehort die Fahigkeit zum Denken direkt der
Sensibilitat an. Und endiich begreift man unter dem ^Erkennen* vifmana auch den ein-
zelnen Erkenntnisakt, der durch das Auge oder die iibrigen ftinf Sinne vermittelt ist, so dass
verstandige und verniinftige Vorstellungen nicht unterschieden werden. ib. p. 252 Anm. 3.
2) Deussen: Vedanta p. 257, 258, 244, 393
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Erde u. s. w. betrachtet er (freilich im Gegensatz zum Veda,
der fur die Ungeistigkeit der Welt eintritt) als ein »umge-
wandeltes« Geistiges, »dessen Geistigkeit sich unserer Wahr-
nehmung entzieht, wie die des wirklich Geistigen in Schlaf
und Ohnmacht.K1) Doch fehlt es auch an specielleren Be-
weisen fur die Anerkennung der Wichtigkeit des Intellektes
nicht. Dahin gehort, dass den Tieren unendliches Leiden,
den Gottern unendlicher Genuss zugeschrieben wird,3) eine
Anschauung, die, wie P. Deussen richtig bemerkt, wohl nur
da sich bilden kann, »wo die Hohe der Lust nach dem
Grade der Intelligenz bemessen wird, wo somit die intellek-
tuellen Geniisse als die hochsten geschatzt werden.«3) Was
den Buddhismus angeht, so erkennt auch er die Wichtigkeit
des Intellektes durchaus an. Das Erkennen ist das Band der
Existenzen; es besteht aus dem feinsten, erhabensten aller
irdischen Elemente. Schopenhauer endlich kann sich nicht
genug thun im Lobe des Intellektes, durch den der Wille
erst die hochste Stufe seiner Objektivation erreicht. Auf
dem Intellekt beruht die Moglichkeit der Welt als Vorstellung
iiberhaupt, beruht im Einzelnen alles, was die Welt der
Tiere von der der Pflanzen und gar erst von der anorganischen
Natur so machtig unterscheidet. Und wie hoch erhebt jene
Steigerung des Intellektes, die Vernunft, den Menschen iiber
das nur des Verstandes teilhaft gewordene Tier. Gedachtnis,
Besonnenheit, Sprache, planvolles Zusammenwirken zu ziel-
bewusster Arbeit in.Staat, Wissenschaft und Kunst — das
alles verdankt der Mensch der Vernunft. Und endlich das
Genie, wie hoch steht es dank seiner ungemeinen Geisteskraft
wieder iiber dem profanum vulgus! — Eines aber ist es vor
allem, das auf die Wichtigkeit des Intellektes das hellste
Licht wirft; es ist der Satz: »Aus der Erkenntnis die Er-
16sung!« Das ist der erhabene Gedanke, in dem die Philo-
sophen des Ganges im Orient mit ihrem Geistesverwandten
am Main im Occident, iiber den Zeitraum von Jahrtausenden
hinweg, zusammenstimmen. Durch Erkenntnis allein gelang
der unselige, schmerzenreiche samsara, dieser peinvolle
1) ib. p. 271. 2) ib. p. 258. 3) Beachtenswert ist auch die Anmerkung Deussen
zu dieser Stelle.
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Wechsel von Geburt und Tod, mit all seinen bitteren Leiden
und triigerischen Freuden zur ewigen Ruhe. Das Wissen
ist die heilende Kraft.1) So schon in altvedischer Zeit, wo
nicht allein das Opfer, sondern auch das Wissen von der
Macht des Opfers Erlosung brachte: »machtig wird er selbst,
ohnmachtig wird der P'eind und Widersacher dessen, der
solches weiss.«2)
Diese kurze Zusammenstellung mag lehren, welche Rolle
die einzelnen Systeme dem Intellekte zugedacht haben.
1. Das metaphysische Erkennen.
Auf pag. 134 des ersten Bandes der W. a. W. u. V.
sagt Schopenhauer von dem Willen als Ding-an-sich: »Schon
die allgemeinste Form aller Vorstellung, die des Objekts
fiir ein Subjekt, trifft ihn nicht; noch weniger die dieser
untergeordneten, welche insgesammt ihren gemeinschaft-
lichen Ausdruck im Satz vom Grunde haben, wohin be-
kanntlich auch Zeit und Raum gehoren, und folglich auch
die durch diese allein bestehende und moglich gewordene
Vielheit.« Im 18. Kapitel des zweiten Bandes der W. a.
W. u. V., wo »von der Erkennbarkeit des Dinges-an-sich«
gehandelt wird, behauptet unser Philosoph, dass der Wille
nur in die Form des Raumes nicht eingehe. Dennoch be-
steht zwischen beiden Stellen kein Widerspruch. Wenn wir
das Ding-an-sich »Willen« nennen, so ist immer daran zu
denken, dass diese Bezeichnung insofern keine ganz adaquate
ist, als der Name einer Species dem Genus beigelegt wird.
Und so ist in der zweiten angefuhrten Stelle thatsachlich
nur von der Species die Rede, die als solche in Wirklichkeit
das Ding-an-sich nicht ist, wahrend das erste Citat eben
dieses meint. Das Ding-an-sich in seiner wahren Wesenheit
bleibt ewig unerkennbar; erkennbar ist einzig seine deut-
lichste Erscheinung. Wo Schopenhauer also vom Willen
spricht, ist stets darauf zu achten, ob er Genus oder Species
1)   »Der ist nur ein Nichtseicnder. der brahman als nicht.seiend weiss;
Wer brahman weiss als Sciendes, heisst daduich selbst ein Seicnder.*.
Deussen a. a. O. p. 140.
*Sein Name ist "hoch"; denn hoch iiber allem Uebel ist er;
Hoch hebt sich iiber alles Uebel, wer solches weiss.* ib. p. 151.
2)  Oldenberg a. a. O. p. 20.
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im Auge hat, will man den faktischen Sinn nicht ganz ver-
fehlen. —
Eine gleiche Unterscheidung muss da statt haben, wo
vom Erkennen die Rede ist. Wir miissen unterscheiden
zwischen einem absoluten erkennenden Subjekt und einem
empirischen Subjekt. Ersterem steht die Welt der Objekte
in unversohnlichem Gegensatz gegeniiber, so zwar, dass mit
dem einen im Verhaltnis der Vorstellung auch gleich die
andere gesetzt ist, und umgekehrt. Das zweite empirische
Subjekt ist der Intellekt des Individuums. Dieses Subjekt
schafft erst die Welt der Objekte durch seine aprioristischen
Formen, Zeit, Raum und Kausalitat. *) Das erste ist ewig;
das zweite verfliegt mit dem Tode des Gehirns. Das erste
ist als »ewiges Weltauge« Korrelat der Ideeen, der fest-
stehenden Stufen der Willensobjektivationen; das zweite
vermag nur Erscheinungen und deren Relationen zu ergreifen.
Das erste ist in jedem ganz und ungeteilt enthalten, so dass
ein einziges erkennendes Wesen die Welt als Vorstellung in
ihrer Gesamtheit fur sich allein erganzen kann; das zweite
ist von der Textur des Gehirnes und anderen Zufalligkeiten
(Lange des Halses) abhangig, kann verkiimmert oder zur
hochsten Feinheit ausgebildet sein, wonach die Verschiedenheit
zwischen Mensch und Mensch hinsichtlich ihrer intellektuellen
Fahigkeiten so gross ist, »dass die zwischen Konig und
Tagelohner dagegen gering erscheint,« und demgemass jeder
von der Welt als Vorstellung nur so viel erfasst, als sein
Intellekt gestattet. Jenes erste Subjekt ist ein metaphysisches,
jenes zweite ein physisches. Das metaphysische Subjekt
ist das Prius aller physischen.
Im metaphysischen Subjekt des Erkennens haben wir
einen unmittelbaren Blutsverwandten des brahman. Wie
dieses ist jenes
a) unerkennbar.
Und was dazukommt, aus demselben Grunde. «Wahrlich,
o Gargi, dieses Unvergangliche ist sehend, nicht gesehen;
1) Vergleiche hierzu den Brief Schopenhauers an Frauenstadt vom 12. VII. 1852.
in Lindner-Frauenstadt: »A. Sch. Von ihm; iiber ihn.« p. 541.
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horend, nicht gehort; verstehend, nicht verstanden; erken-
nend, nicht erkannt. Nicht giebt es ausser ihm ein Sehendes,
nicht giebt es ausser ihm ein Horendes, nicht giebt es ausser
ihm ein Verstehendes, nicht giebt es ausser ihm ein Er-
kennendes^1) Weil brahman als Potentialitat aller Erkenntnis
bei jedem Erkenntnisakt das ist, wodurch erkannt wird, weil
es somit ewig Subjekt ist, wird es nie Objekt, nie selbst
erkannt. — Genau desselben Beweisverfahrens wie hier
Yajfiavalkya bedient sich Schopenhauer, sogar unter Be-
rufung auf die Upanishaden. Er sagt: »— das vorstellende
Ich, das Subjekt des Erkennens, kann, da es als notwen-
diges Korrelat aller Vorstellungen, Bedingung derselben ist,
nie selbst Vorstellung oder Objekt werden; sondern von
ihm gilt der schone Ausspruch des heiligen Upanischad: Id-
videndum non est: omnia videt; et id audiendum non est
omnia audit; sciendum non est: omnia scit; et intelligendum
non est: omnia intelligit. Praeter id, videns, et sciens, et
audiens, et intelligens ens aliud non est. — Oupnekhat.
Vol. I, p. 202. «2) Er iibersieht hierbei freilich, dass jenes
»ens, quod omnia videt« das Ding-an-sich der Upanishaden
ist, was jedoch mit Rticksicht auf die vorliegende Frage, ob
das Erkennende selbst erkennbar sei, nicht von Belang ist.
»Daher also,« so fahrt er fort, »giebt es kein Erkennen des
Erkennens; weil dazu erfordert wiirde, dass das Subjekt sich
vom Erkennen trennte und nun doch das Erkennen erkennte,
was unmoglich ist«, Unsere Erkenntnis wird an anderer
Stelle3) in einem jener gliicklichen Bilder, an denen Schopen-
hauer so reich ist, mit einem gut geschwarzten Fernrohr ver-
glichen; da draussen liegt grosse Helle und Klarheit — aber
innen ist es finster. — — Im Vedantasystem kann das er-
kennende Subjekt nicht erkannt werden, und, weil dieses
zugleich das Ding-an-sich ist, auch das Ding-an-sich nicht;
nach Schopenhauer kann ebenso das erkennende Subjekt
nicht erkannt werden, wohl aber gewissermassen das Ding-
an-sich, weil beide getrennt sind. Der Vorteil ist auf Scho-
penhauers Seite.
1) Deussen, a. a. O. p. 144, 161, 188. 2) Vierf. Wurzel, p. 141. 3) Ethik, p. 22.
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b) Das metaphysische Subjekt steht iiber dem Satz
vom Grunde.
Denn alles Begriinden geht vom Subjekt selbst aus..
Daher ist es iiber Raum und Zeit erhaben, es ist ewig und
ungeteilt. Wie der Wille ist es folglich in jedem in seiner
Ganzheit enthalten.
So tritt neben den Willen als zweites Prinzip das der
Erkenntnis. Aber nicht in einer Weise, die den Monismus-
des Systems gefahrdete und zum Kartesianischen Spiritualis-
mus hiniiberfiihrte. Sondern beide principia fallen in der
Weise zusammen, dass das Erkennen ein Erkennen-wollen ist.
Der Wille ist Alles in Allem — also auch Erkennen. Jeder
Willensakt ist im Grunde ein Erkennen-wollen; denn jeder
Willensakt ist zu denken als Objektivationsstufe, iiber die
der Wille zur Erkenntnis will. Fiir uns ist es hier inter-
essant zu sehen, dass Schopenhauer, nachdem er das brah-
man seiner Dignitat als Ding-an-sich entkleidet hat, eben
dieses brahman als metaphysisches Subjekt des Erkennens
neben oder besser in dem Ding-an-sich fortbestehen lasst,.
als unverganglich, unteilbar, unerkennbar.
2. Das empirische Erkennen.
Wie neben dem metaphysischen Erkennen das empirische
steht, ist oben dargestellt worden. Das metaphysische Er-
kennen steht iiber dem Satz vom Grunde und kann somit
weder er- noch begriindet werden; das empirische Erkennen
ist materialistisch zu erklaren; es vergeht im Tode. Auch
in Indien gab es zur Zeit Cankara's Materialisten; sie be-
haupteten, »dass das Geistige nur so lange bestehe, wie der
Leib besteht«; nach ihnen sind Odem, Bewegung, Geist, Er-
innerung nur Qualitaten des Leibes.1) Cankara ist natiirlich
damit nicht einverstanden — aber er unterscheidet doch,
wie Schopenhauer, von der hochsten Seele die individuelle
Seele, vom paramatman oder mukhyatman den jivatman oder
jiva. Der jiva ist nicht gleich dem paramatman alldurch-
dringend und allgegenwartig, sondern wohnt, »einer Ahle
Spitze gross«, im manas, dem Verstand, der, wie wir wissen,.
1) Deussen, a. a. O. p. 310.
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seinen Sitz im Herzen hat. Der jiva ist ferner nicht all-
wissend und allmachtig, wie es der paramatman ist; er ist
endlich kartar und bhoktar, d. h. handelnd und geniessend,
wahrend die hochste Seele weder das eine noch das andere
ist, gewissermassen nur »Zuschauer« der individuellen Seele.
So unterscheidet auch Cankara deutlich vom Subjekt des
metaphysischen Erkennens das des empirischen; er sagt: »der
von dem Thater, welcher das Objekt der Vorstellung des
Ichist, verschiedene, als Zuschauer (sakshin) in alien Wesen
wohnende, gleiche, eine, hochste, ewige Geist (purusha =
Mann)« — ist unerkennbar.1) Die hochste Seele, die brah-
man ist, verhalt sich nur zuschauend, indes der jiva selbst
geniesst; so heisst es in den Upanishaden:*)
»Zwei Freunde, schon befiedert, wisse
Auf einem Baum verbunden Du;
Der eine isst die sfisse Beere,
Der andre schaut, nicht essend, zu.«
Der jiva ist aber zuletzt doch nur identisch mit dem
paramatman, mit brahman. Diese Identitat zu lehren ist
eben der eingestandene Zweck des Vedanta.8) Was die Er-
kenntnis der Identitat aller Seelen mit brahman hintertreibt,
was den Schein einer Vielheit individueller, von brahman
geschiedener Seelen bewirkt und aufrecht erhalt, ist ihre
Verbindung mit den im vorigen § vorgefiihrten upadhi's.
Durch die upadhi's wird der Seele Allgegenwart und All-
weisheit ebenso latent, wie es das Feuer ist, das im Holze
schlummert. Auch das Thatersein ist der Seele von Natur
aus nicht eigen, sondern beruht darauf, »dass ihr die Quali-
taten der upadhi's iibergeworfen sind.«4) — Wir vergleichen
diesen jiva mit dem empirischen Erkennen Schopenhauers.
a) Wesen und Form.
Was das brahman, den paramatman, zur Einzelseele
macht, ist also der Umstand, dass sich die Seele nicht von
den upadhi's, wie manas, indriya's u. s. w., zu unterscheiden
weiss, die doch nur auf der avidya beruhen. Durch die
I) Deussen a. a. O. p. 136. 2) Mundaka-TJp. und Cveta<;vatara-Up. 3) Deussen a.
a. O. p. 167. 4) Deussen a. a. O. p. 343.
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upadhi's wird die Individuation hervorgerufen, zunachst nur
der Seelen, weiterhin aller Wesenheiten; sie sind eben das,
was Schopenhauer das principium individuationis nennt. Aber
wahrend Schopenhauer unter diesem Ausdruck die An-
schauungsformen von Zeit und Raum begreift, die aprio-
ristische Funktionen des Verstandes und also von diesem
unmittelbar abhangig sind, gehort fiir den Vedanta zum
principium individuationis eben dieser Verstand, in Gestalt
des manas, selbst. Das vedantistische principium indivi-
duationis geht nicht aus dem manas hervor, das vielmehr
selbst unter diesen Begriff fallt, sondern aus der avidya, dem
»Nichtwissen«, das dem Intellekt angeboren ist. Diese
avidya ist der von Schopenhauer so oft citierte »Schleier
der maya«; er diirfte ihn nicht direkt, wie er es thut, mit
seinem principium individuationis identifizieren; man kann
hochstens den in der avidya Befangenen mit dem in der
Willensbejahung Befangenen unmittelbar vergleichen. —
Nach Schopenhauer ist die Grundform des Intellektes
der Verstand; in dieser Form ist er auch in den Tieren vor-
handen. Der Verstand besteht in der Anwendung der
a priori gegebenen Formen Zeit, Raum und Kausalitat, oder,.
da auch die Verhaltnisse von Zeit und Raum kausal bedingt
sind, in der Anwendung des Satzes vom Grande. Die An-
wendung dieses Satzes ist die einzige Funktion, die der Ver-
stand vollzieht — durch sie kommt die empirische An-
schauung der Aussenwelt zu Stande. — Im Menschen poten-
ziert sich der Verstand zur Vernunft, die, im Gegensatz zum
anschauenden, intuitiven Verstand, diskursiv verfahrt. Die
Aufgabe der Vernunft, die man auch das Vermogen der Re-
flexion nennt, ist es, aus den anschaulichen Vorstellungen
die abstrakten Begriffe zu konstruieren, die ihrerseits wieder
durch die Vernunft als das Vermogen des Schliessens in
mannigfacher Weise untereinander zu Urteilen und, durch
die Urteile hindurch, zu Schlussen verbunden werden. Ver-
stand und Vernunft bilden also den menschlichen Intellekt,
das empirische Subjekt des Erkennens. Sie sind die Ouellen
aller unserer empirischen Vorstellungen.
Von den Quellen unseres Wissens redet der Vedanta
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nicht; fur ihn ist ja der Veda die Fundgrube aller Erkenntnis.
Er unterscheidet nicht wie Schopenhauer verschiedene Er-
kenntniskrafte. Man weiss zwar, dass die Thatigkeit des
Wahrnehmens der des Urteilens vorausgehen muss;1) man
weiss auch, dass ein Wort nicht nur Bezeichnung eines In-
-dividuums, sondern auch der sinnfallige Ausdruck fur die
Species, den Begriff ist*) — aber man ist doch nicht zu einer
bewussten strengen Trennung von Anschauung und Begriff
durchgedrungen. Der Vedanta kennt namlich zwei Erkennt-
nisnormen, an denen alle Erkenntnis gemessen und dem-
gemass klassifiziert wird, die pramana's, wortlich »Massstabe.«
Es sind
a)  pratyaksham; was diesem Massstab entspricht, ist
das »sinnlich Wahrnehmbare,«
b)  anumanam; an diesem gemessen erweist sich eine
Erkenntnis als »Folgerung.«
Aber das anumanam operiert nicht eigentlich mit Be-
griffen, sondern geht von einem Wahrgenommenen auf ein
Nichtwahrgenommenes als Ursache oder Wirkung zuriick,
was nur innerhalb des Gebietes des Verstandes moglich
ist. Und andererseits ist auch der Begriff des pratyaksham
nicht rein; denn als pratyaksham bezeichnet Cankara aus-
driicklich den Teil des Veda, der cruti, d. h. Offenbarung
ist.8) Wer so Begriff und Anschauung nicht zu trennen weiss,
scheidet noch weniger Verstand und Vernunft. Auch wird
■die Fahigkeit des anumanam ebenso wie die des pratyaksham
den vernunftlosen Tieren zugeschrieben.4) Die Scheidung
von Verstand und Vernunft, auf die Schopenhauer so grosses
•Gewicht legt, fehlt in dem Vedanta.3)
b) Zweck und Sphare.
Der Intellekt ist nach Schopenhauer dem Willen dienstbar.
~Er ist gewissermassen nichts als eine Waffe, die der Wille
sich bereitet, um seine hoheren Ziele zu erreichen. Er ist
ein Mittel zur Erhaltung des Individuums. Und so nicht
allein im Tiere, sondern auch im Menschen, wo nur deshalb
1) Deussen a. a. O. p. 59 Anm. 34. 2) ib. p. 73 ff.. 147. 3) ib. p. 93 ff. 4) ib. p
'95 Anm. 54. 5) Bass sie auch im Buddhismus fehlt wurde schon erwahnt. cf. p. 102 Anm. 1.
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der Intellekt den tierischen um so viel mehr ubertrifft, weil
der Mensch hinsichtlich anderer Waffen, anderer Erhaltungs-
mittel so sehr hinter dem Tiere zuriicksteht. Ueberall, das
scharft Schopenhauer bestandig ein, ist der Intellekt bloss
dazu bestimmt, den Zwecken des Willens zu dienen.1) —
Die Ansicht des Vedanta iiber den Zweck der empirischen
Erkenntnis fasst P. Deussen dahin zusammen, dass sie »ganz-
lich im Dienste des Egoismus steht, welcher uns antreibt,
Erwiinschtes aufzusuchen und Unerwiinschtes zu fliehen, und
■es macht hierbei keinen Unterschied, ob diese egoistischen
Ziele, wie beim weltlichen Treiben, schon in diesem Leben,
oder, wie bei den vom Veda vorgeschriebenen Werken, erst
in einem jenseitigen Dasein zur Verwirklichung gelangen und
somit dessen Erkenntnis voraussetzen.«2)
Gemass diesen diirftigen Zwecken, die der Intellekt
seiner ganzen Anlage nach verfolgt, gestaltet sich die Sphare,
innerhalb der er sich mit Erfolg bethatigen kann. Nach
Schopenhauer kann er nur die Relationen der Dinge auf-
fassen, er ist auf Erscheinungen beschrankt, er ist wie die
Elektricitat eine »Flachenkraft«, die nicht in das Innere der
Wesen eindringt. Das An-sich aller Dinge bleibt uner-
kannt.3) Eben das will Cankara sagen, wenn er aus der
Kathaka-Upanishad folgenden Vers citiert:
»Nach auswarts hat die Hohlungen gebohrt,
Der durch sich selbst ist, darum sieht der Mensch
Nach aussen nur, nicht in die inn're Seele.«*)
»Die Sinne«, heisst es bei ihm an anderer Stelle,5)
»haben ihrer Natur nach als Objekt die Aussendinge und
nicht das brahman.« — So ergiebt sich folgende beachtens-
werte Uebereinstimmung zwischen Schopenhauer und dem
Vedanta: Wenn das Ding-an-sich unerkennbar ist, und das
ist es ja, so ist diese Unerkennbarkeit eben so sehr durch
seine eigene Natur als auch durch die Beschaffenheit des
menschlichen Erkenntnisvermogens begriindet.
1) W. a. W. u. V. II p. 224 ff. Willen in d;r Natur p. 48 ff. Parerga II p. 103, u. 6.
2) Deussen a. a. O. p. 59. 3) W. a. W. u. V. II p. 195, 322 ff. 4) Deussen a. a. O. p. 230.
5) ib. p. 102.
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*
§ 13. Der KSrper.
Welche Rolle spielt der Korper bei der Konstituierung
des Individuums? Gehort er dem inneren Kern desselben
an, dem wahren Ich, dem »Selbst«?
Nein! antwortet die indische Philosophie.
Ja! Schopenhauer.
a) Wahrend das gemeine Volk und die Materialisten1)
behaupten: das Selbst ist bloss der mit Intelligenz versehene
Leib, wird diese Anschauung von Cankara bekampft. Fiir
ihn liegt das Selbst bekanntlich in der Seele, in der Geistig-
keit ■— und alles, was ungeistig ist, kann demnach dem
Selbst nicht angehoren. Das ureigene Wesen des Menschen
stammt nicht aus dieser verganglichen Welt des samsara;
es bleibt unberiihrt von der wirren Flucht der Erscheinungen
und Veranderungen. Es ist ein Grundsatz aller indischen
Philosophie, ein identischer Satz in ihren Augen: Was ver-
anderlich ist, gehort nicht dem Selbst an, ist nicht das
Selbst. Und weil der Korper veranderlich ist, weil er ein
anderer ist im schwachen Kinde, ein anderer im kraftigen
Manne, ein anderer im welken Greise, so folgt aus solcher
Unbestandigkeit mit zwingender Notwendigkeit fiir den Inder
auf die Frage: Gehort der Korper dem Selbste an? die ver-
neinende Antwort.
Der Leib, »wie er in der Abspiegelung im Auge, im
Wasser, im Spiegel sich darstellt«,2) er kann unmoglich das
Selbst sein. Dann ware, »wenn dieser Leib hiibsch geschmiickt,
schon gekleidet und geputzt ist, das Selbst ebenfalls hiibsch
geschmiickt, schon gekleidet und geputzt, und ebenso ware
es blind, lahm und verstiimmelt, wenn der Leib blind, lahm
und verstiimmelt ist.« Dann ginge, wenn der Leib zu Grunde
geht, auch das Selbst zu Grunde. »Sterblich«, so belehrt
Prajapati in der Chandogya-Upanishad den Indra,* »sterblich
fiirwahr, o Machtiger, ist dieser Korper, vom Tode besessen
er ist der Wohnort fiir jenes unsterbliche, korperlose Selbst.«
Darum heisst es: »Wenn auch der Leib zu Asche wird, so
ist doch kein Vergang des Selbstes.« — — — Fiir den
1) lokayatika e= »die nach der Welt sich strecken.ft Deusscn, a. a. O. p. 136, 510.
2) Deussen a. a. O. p. 52. Hardy: Dh vedisch-brahmanisch? Pcriode. p. 219.
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Buddhisten, der iiberhaupt kein Selbst anerkennt im samsara,
kann aus dem gleichen Grunde die ungeistige Materie des
Korpers keinen Anspruch erheben, dem wahren Ich des
Menschen zugezahlt zu werden. Die Korperlichkeit, die mit
den Gefiihlen, Vorstellungen, Gestaltungen und dem Erkennen
das irdische Individuum in seiner geistig-korperlichen Zu-
sammensetzung ausmacht, ist natiirlich nur ein sankhara, und
von diesen heisst es im Dhammapada: »Alle sankhara sind
unbestandig, alle sankhara sind voll Leiden, alle dhamma
(= sankhara) sind Nicht-Ich.*1) In dem Sutta »Von den Kenn-
zeichen der Nicht-Selbstheit«2) spricht der Erhabene also:
»Die Korperlichkeit, ihr Monche, ist nicht das Selbst. Ware
die Korperlichkeit das Selbst, ihr Monche, so konnte diese
Korperlichkeit nicht der Krankheit unterworfen sein, und
man miisste bei der Korperlichkeit sagen konnen: so soil
mein Korper sein; so soil mein Korper nicht sein.« Und
ebenso stellt der ehrwiirdige Sariputta im Gesprache mit
dem ketzerischen Monche Yamaka fest, dass der Tathagata,
der Vollendete, also Buddha, nicht identisch ist mit seiner
Korperlichkeit, dass diese also nicht sein eigentliches Ich
darstellt oder dazu gehort.8)
b) Nun aber Schopenhauer. Ftir ihn ist der Leib iden-
tisch mit dem Willen.4) — Wenn wir absehen von der ver-
standigen Anschauung, in der der Leib dem Subjekt des
Erkennens als Objekt unter Objekten, also ideal oder phe-
nomenal gegeben ist, ist uns der Leib gegeben als »jenes
Jedem unmittelbar Bekannte, welches das Wort Wille
bezeichnet.« Jeder Willensakt und die entsprechende Leibes-
aktion sind nicht etwa zwei objektiv erkannte verschiedene
Zustande, durch das Band der Kausalitat mit einander ver-
kniipft, sondern beide sind Eines und das Selbe, nur auf
zwei verschiedene Weisen betrachtet: das eine Mai ganz
unmittelbar, das andere Mai in der Anschauung fur den Ver-
stand. Jeder Willensakt' ist gleichzeitig Leibesaktion, und
umgekehrt, jede Leibesaktion, sie mag nun, wie bei den
I) Oldimterg a. a. O. p. 272. Anm. 2. 2) ib. p. 229. 3) ib. p. 303. 4) W. a. W. u..
V. I 119 f. 127 ff. W. a. W. u. V. II Kap, 20. p. 277. Willn in der Natur: Kap. »Verglei-
chende Anatomie» p. 34.
8
^ar^rn
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willkiirlichen, bewussten, animalischen Bewegungen, aufMotive,
oder, wie bei den unwillkiirlichen, unbewussten, vegetativen,
auf Reize erfolgen, ist nichts anderes als ein objektivirter,
d. h. in die Anschauung getretener, Willensakt. Aus dieser
Thatsache folgt, dass sich die Aktion zu der sie tragenden
Leiblichkeit verhalt, wie ein einzelner Willensakt zu dem
ihn erst moglich machenden Willen, dass also der Korper
auch als Ganzes unmittelbare Objektitat des ganzen indivi-
duellen Willens ist, und dieser ist das Selbst des Menschenl
Die Identitat von Leib und Willen wird dann empirisch
nachgewiesen. Jede heftige Gemiitsbewegung, jede ilber-
massige Aufregung des Willens beeinflusst unmittelbar den
Leib in seinen vitalen Funktionen, und umgekehrt bewirkt
eine leibliche Affektion eine solche des Willens, wie auch
Gesundheit des Korpers wohlthatigen Einfluss auf dieStimmung
des Menschen ausiibt.1) Alles das lasst sich nur erklaren
aus der Identitat von Leib und Willen; aus der Identitat
von Leib und Willen allein lasst sich ferner erklaren die
Zweckmassigkeit der leiblichen Organe; indem die Teile des
Korpers den Hauptbestrebungen des Willens vollkommen
entsprechen und ihr sichtbarer Ausdruck sind, der Wille
aber in sich selbst nichts sich Widersprechendes enthalt,
welche innere Uebereinstimmung sich dann also auch in der
Korporisation ausspricht, die sogar individuell ausfallt ent-
sprechend der individuellen Willensrichtung des Einzelnen.2)
Der Korper gehort also zum Selbst. Aber nur mittelbar.
Wenn Schopenhauer augenscheinlich, wie oben resumiert,
den Leib zum Selbst zieht, so ist nicht zu vergessen, dass
dieser Leib, wie schon gesagt, auch Objekt unter Objekten
ist, also dem Satz vom Grunde unterworfen, nach Raum und
Zeit beschrankt. Er ist zwar die Objektitat des Willens,
der Vorstellung gewordene Wille — aber insofern, als
Vorstellung, immer noch nicht dem wahren, tiefsten Kern
des Menschen eigen; denn dieser kann als Ding-an-sich ja
niemals Vorstellung werden, weshalb sogar die Bezeichnung
1) W. a. W. u. V. I p. 128. Willen in der Natur p. 28. Parcrga II § 316. p. 618.
2) W. a. W. u. V. I p. 129.
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»Wille« keine im strengsten Wortsinne adaquate ist. Wir
konnen oder mussen demnach drei Stufen unterscheiden:
1)  das Ding-an-sich, schlechterdings unerkennbar, wie
nach Kant,
2)  der Wille, als eine nur nicht in die Raumform ein-
gegangene Vorstellung des Dinges-an-sich,
3)   der Korper, eine Vorstellung des Dinges-an-sich, die
auch unter die Form des Raumes fallt.
In diesem Sinne also ist der Korper zum Wesen des
Menschen zu rechnen; er erfahrt bei Schopenhauer eine ge-
rechtere Wiirdigung als in der indischen Philosophic —
tlbrigens ist hier noch eine gewisse Annaherung des
Vedanta an die Schopenhauer'sche Lehre zu erwahnen.
Wir sehen, wie der Vedanta, um die Identitat der Ele-
mente mit brahman auf dem Boden der avidya zu erklaren,
lehrte, dass brahman sich »umwandelt« in die drei Haupt-
elemente Feuer, Wasser, Nahrung (oder Erde). Diese sind
nur darum verschieden von einander, weil brahman mit einer
»individuellen Seele,« »jiva« in sie eingegangen ist.1) Alle
Dinge sind mit Uberwiegung eines dieser Urelemente aus
alien dreien gemischt.2) So auch der Korper, dazu auch
die Geisteskrafte, »wobei die feineren Teile, wie der Rahm
bei der Milch, nach oben, die groberen nach unten« gehen.
So ist also der Korper aus dem selben Stoff gebildet wie
der Geist, beide sind nur »umgewandeltes« brahman, also
eigentlich identisch. »Darum« so paraphrasiert Deussen,8)
»wird auch der Geist des Menschen durch langeres Fasten
geschwacht und durch Zusichnehmen von Nahrung wieder
gekraftigt.« — —■
Zum Schluss sei hingewiesen auf die verschiedene Stelle,
die der Korper im Heilplane unserer Systeme einnimmt.
In der indischen Philosophic ist der Leib der Erlosung direkt
hinderlich. »Besessen wird der Bekorperte von Lust und
Schmerz; denn weil er bekorpert ist, ist keine Abwehr mog-
lich der Lust und des Schmerzes. Den Korperlosen aber
beriihren Lust und Schmerz nicht. «4) Hingegen ist bei
1) Deussen a. a. O. p. 248 g. 2) ib. p. 259. 3) ib. p. 283. 4) rb. p. 53.
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Schopenhauer der Leib ein willkommenes Mittel zur Morti-
fikation des Willens. Auch wird durch ihn erst eigentlich
der »zweite Weg« moglich. —
III. Ethik. Quietismus und Askesis.
Jk.* I>i© IVelt cles samsara.
§ 14. Der Pessimismus.
Hinsichtlich der pessimistischen Beurteilung der Welt
decken sich die drei Gedankenkreise, die wir mit einander
vergleichen, insofern nicht genau, als sie das Ubel seine
Wurzeln nicht gleich tief in die Welt schlagen lassen. 1st
die Welt von Grund aus bose? 1st sie keines wahren Gliickes,.
keiner dauernden Befriedigung fahig? Wahrend der ketze-
rische Buddhismus und mit ihm Schopenhauer unbedenklich
auf die Welt den Superlativ Pessimismus anwenden, wagt
der Brahmanismus, wie er sich auf der Grundlage des Veda,
entwickelt hat, und das orthodoxe Vedantasystem nicht, in
solch schroffer Weise eine durchaus abschatzige Wertung
des Das-eins aufrecht zu erhalten. Zwar leuchtet auch ia
dem Vedanta die matte Wintersonne des Pessimismus, in
deren fahlem Lichte alle Wesen zu grauen Schemen ver-
kummern, aber sie weicht bald einer siegenden Sommer-
sonne, die dem Lebenden Farbe und Lebenskraft verleiht-
Zwar hat auch der Vedanta den Fuss mutig in das ver-
wirrte Labyrinth weltfliichtiger Betrachtung alles Seienden,
hineingesetzt, aber er halt den Knauel fest in dei Hand, urn
sich aus dem Dunkel zum Tageslichte des Optimismus.
zuriickfiihren zu lassen.
1. Vedanta.
Schon im Veda erklingen die triibseligen Stimmen, die
vom allgemeinen Leid der Welt reden. »Ja, freudelos sind
diese Welten.« Die Muhe, die Not, der Kummer, der
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Jammer herrschen unter den vom Weibe Geborenen, die
wir hineinverflochten sind in den schrecklichen Kreislauf des
samsara, des Irrsals, mit seiner unendlichen Qual, mit be-
standigem Geboren-werden und Sterben. Und zwischen
Geburt und Tod, welch erdriickende Fiille von Leiden aller
Art! Unter immer neuen Masken fallt uns das Elend an, als
Hunger und Durst, als Krankheit, als vereiteltes Streben und
getauschte Hoffnung. Physisches und moralisches Ubel
schlagt uns alle mit erbarmungloser Geissel. Wer diirfte
das leugnen? Der Vedantist leugnet es sicher nicht. Er
sieht mit klarem Blick, wie die Welt beschaffen ist, namlich
so, dass kein Gott sie geschaffen haben kann, »weil er dann
ungerecht und unbarmherzig ware.*1) »Diese Welt ist unrein,
sofern sie ihrem Wesen nach aus Lust und Schmerz und
Wahn besteht, dadurch die Ursache von Freude, Qual und
Verzweiflung wird und sich durch Himmel und Holle aus-
breitet.«2) Und so ist auch der Leib des Menschen »absolut
unrein. «3) Nicht wenig dient die Lehre vom triigenden
Schleier der maya dazu, den Pessimismus zu kraftigen. Wo
alles hohle Erscheinung, flilchtiger Traum und verganglicher
Schaum, eine Illusion ist, wo ware da Raum fur friedsame
Ruhe und Bestandigkeit? Wo eine Statte fur dauerndes,
wahrhaftes Gliick, fur Wohlsein und Befriedigung? »Gleich-
wie hienieden der Genuss, den man durch die Arbeit er-
worben hat, dahin schwindet, so schwindet auch im Jenseits
der durch die guten Werke erworbene Genuss dahin. «4)
Ungetriibte Seligkeit liegt allein in der Ruhe; darum heisst
es: »Das Thun ist seinem Wesen nach ein Leiden.«5) Alle
Welten, die ruhelosen, sind der ewigen Pein unterworfen;
urn Himmel und Holle schlingt das Leid seine eherne Kette;
voller Leid ist die Erscheinungswelt; denn »was von ihm
verschieden ist, das ist leidvoll.«6)
Jenes, auf das sich das »ihm« des letzten Citates be-
zieht, ist das brahman. Hier treffen wir auf eine andere
Weise, dem Pessimismus Zunge zu verleihen. Nicht mit
nackten Worten wird hier auf das allgemeine Weltelend hin-
1) Deussen, a. a. O. p. 273. 2) ib. p. 270. 3) ib. p. 274. i) ib. p. 172. 5) ib. p. 342.
*) ib. p. Hi,
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gewiesen, nicht das Leid selbst in seiner grasslichen Gestalt
uns vor Augen gefiihrt, vielmehr durch iiberschwangliche
Lobpreisungen des seligen brahman als frei von den Drang-
salen irdischen Lebens wird an der Welt und ihrer Be-
schaffenheit eine indirekte Kritik geiibt, die darum nicht
weniger herbe ist. Der beabsichtigte Eindruck wird urn so
sicherer auf einem Umwege erreicht. Durch die Hymnen,.
die man dem Selig-Einen singt, verbreitet man die Atmo-
sphare, in der alle Freude am Menschendasein verkiimmern
muss. Man tragt das gepriesene brahman als ein Licht in
die Finsternis der Erde, um all ihre Schrecken und Grauel
offenbar zu machen. Auf brahman wird die Fiille der Selig-
keit, die Fiille der Wonne gehauft; wem drangt sich dann
nicht der bittere Vergleich mit der Erscheinungswelt auf?
An brahman gemessen muss sich alles als nichtig erweisen.
»Sein Name ist "hoch" (ud); denn hoch iiber allem Uebel
ist er.«") Brahman ist es, das »den Hunger und den Durst,,
das Wehe und den Wahn, das Alter und den Tod iiber-
schreitet.« Und wiederum ist es das »siindlose, frei vom
Alter, frei vom Tod und frei vom Leiden, ohne Hunger und
ohne Durst.«2) Auch der Irrtum hat keine Gewalt iiber
brahman, das moralische Uebel: »sein Wiinschen ist wahr-
haft, wahrhaft sein Ratschluss.«3) Brahman ist »das Furcht-
lose«,4) das »Selige, Eine, Feine«; nur wer das brahman kennt,
so haben die Weisen den Narada belehrt, ist iiber den Rum-
mer hinaus.5) — Aus solchen und ahnlichen Ausspriichen
klingt deutlich genug die Verurteilung der Welt. »Was von
ihm verschieden ist, das ist leidvoll«, sagt Yajfiavalkya.
Hier nun schlagt aber der Pessimismus in Optimismus
um. Denn was ist doch von brahman verschieden? Nichts!
antwortet die Identitatslehre. Jeder Pantheismus muss die
Welt fiir eine Theophanie nehmen, auch der Vedanta. Es
ist ja nur die uns angeborene avidya, die uns eine Vielheit
von brahman verschiedener Wesen vorspiegelt; diese Viel-
heit ist ja nur ein trtigender Schein; es giebt weder eine »in
Namen und Gestalten ausgebreitete« Welt noch einen jiva;.
brahman ist alles in Wirklichkeit. Und brahman ist die
1) ib. p. 151. 2) ib. p. 172. 3) ib. p. 197, 467. 4) ib. p. 178, 198. 5) ib. p. 216.
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hochste Wonne.1) Wo wir demnach Elend und Leid zu er-
blicken glauben, ist in Wirklichkeit eitel Wonne. Der Pessi-
mismus beruht auf der Unkenntnis, dass wir im Grande nichts
anderes sind als das leidlose, siindlose, unvergangliche brah-
man mit seiner ganzen iiberirdischen Herrlichkeit. — Das
brahman ist das Furchtlose. Und was ist Furcht? Nach der
Meinung Cankaras »der Gedanke an eine Schadigung der
Leiblichkeit«.2) Nun ist die Leiblichkeit nichts als ein leerer
Wahn; nur fur unsere im Realismus befangene Erkenntnis
stellen wir uns als bekorpert dar. Daher besitzen wir in
Wirklichkeit keine Leiblichkeit — wir brauchen nicht zu
fiirchten, wir sind brahman, wir sind furchtlos. •— Was nicht
brahman ist, ist nicht real. Ist brahman frei von Schmerz,
ist der Schmerz von brahman verschieden, so ist der Schmerz
nicht real, nur illusorisch. Der Schmerz, den ich in meinem
Leibe empfinde, ist ebenso eine Tauschung, als wenn ich
mit einem anderen zu leiden glaube.3) Das Uebel jeglicher
Gestalt haftet nur am Samsaratum, und dieses ist ideal. —
Wir leiden nur, weil wir, in der avidya befangen, die
Seele nicht ohne die ihr scheinbar anhangenden upadhi's auf-
fassen konnen; mit den upadhi's wird aber auch das Leid
abgeschiittelt. Die Moglichkeit der Erlosung nicht sowohl,
als die Art, wie diese gefasst wird, macht den letzten Rest
des Pessimismus zu Nichte. Wir kommen darauf weiter
unten zuriick, wenn wir die Erlosung, wie sich der Vedanta
eine solche denkt, vergleichen mit der, die fur Buddha und
Schopenhauer gilt. Hier betonen wir nur, dass der leiden-
schafFende Schein intuitiv zu durchschauen ist. Dann fallt
auch der Wahn zu leiden, der ja nicht weniger zu driicken
pflegt als ein positives Leiden, ganzlich fort. In der »uni-
versellen Erkenntnis« lost sich der Wissende korperlos in
brahman auf; »den Korperlosen aber beriihren Lust und
Schmerz nicht.«4) Als weitere Citate seien angefuhrt:
»Wer forschend alle Wesen im eignen Selbste findet,
Fur den entweicht der Irrtum, und alles Leiden schwindet.5)
»Wo ware Irrtum, wo Kummer fur einen, der die Ein-
1) f. § 8, p. 75; Deussen p. 148 ff. 2) ib. p. 216. 3) ib. p. 322, 448. 4) ib. p. 198.
5) ib. p. 54.
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heit schaut^1) »Hoch hebt sich iiber alles Uebel, wer sol-
ches weiss.«s)
Wie duster auch das Urteil klingt, mit dem der Vedanta
die Welt als ein wechselvolles Leiden ohne Ruhe verdammt,
so wird doch diese Erkenntnis von der Nichtigkeit alles Da-
seins durch eine andere Erkenntnis doppelter Art aufgehoben,
dass namlich 1) alles Leiden nur illusorisch ist, 2) diese Illusion
wirklich intuitiv durchschaut werden kann. So geht der Ved-
anta einen umgekehrten Weg, als ihn der Stoicismus ein-
schlagt. Hier wendet sich der urspriingliche Optimismus zum
Pessimismus und der Asketik, und als Ideal gilt der Weise
in seiner Autarkie und Apathie, dort schreitet man aus dem
Pessimismus zum Optimismus fort; denn als Darstellung des
Einzig-Realen und Einzig-Guten ist die Welt eben schlechthin
vollkommen. Bemerkenswert ist iibrigens auch, dass, im
Gegensatz zu den Gottern, die fiir ewigen Genuss, und zu
den Tieren, die fiir ewiges Leiden bestimmt sind, den Men-
schen ein »mittleres« Schicksal erwartet.3)
2. Der Buddhismus.
So sehen wir also in dem Vedanta die fmstere pessi
mistische Weltbetrachtung vollkommen durchbrochen von den
siegend-hellen Strahlen eines selbstbewussten, freudig-hoff-
nungvollen Optimismus. Das Leiden ist nur ein Accidens,
die Substanz ist und bleibt brahman, die Wonne, ananda.
Die Erlosung ist daher keine fundamentale Umgestaltung
der Welt als solcher, sondern ein intellektueller Vorgang,
durch den gewissermassen dem geistigen Auge des Menschen
der Star gestochen wird; die Erlosung ist moglich, nicht
weil jenseits der Welt etwas durchaus Unfassbares, Uner-
klarliches, sondern weil hier in der Welt etwas ganz Be-
kanntes, das eigene Selbst zu finden ist, dessen Erkenntnis
eben die beseligende Erlosung darstellt.
1) ib. p. 118. 2) p. 152. »Das Sankhya-System (des Kapila) unterscheidet drei Arten
von J.eiden, adhi-atmika, adhi-bhautika, adhi-daivika, — von uns selbst, von anderen, vom
Schicksal verhangtes.* Deussen, Elsmente der Metaphysik, § 274, p. 229. Die Andeutung
einer gleichen Einteilung giebt Schopenhauer bei Besprechung des Trauerspieles, dessen Gat-
tungen sich nach den Arten des Leidens richten, die zur Darstellung kommen sollen. W. a,
W. u. V. I p. 300. 3) Deussen, Vedanta p. 258, 273.
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Ganz anders im Buddhismus.1)
Der Buddhismus ist aufs Tiefste von der herben Ueber-
zeugung durchdrungen, dass allem Leben das Leiden wesent-
lich, nicht als blosses Accidens, sondern als Substanz selbst
ist. Um diese Grundidee dreht sich alles Denken und Fiihlen.
Offenbar mit Riicksicht auf diese Grundidee nennen die Ve-
dantisten die Religion Buddhas eine Ausgeburt des Hasses
gegen das Menschengeschlecht, gleichwie Tacitus von den
Christen seiner Zeit, die ja auch ausgesprochensten Pessi-
mismus vertraten, sagte, sie seien des Hasses gegen das
menschliche Geschlecht iiberfiihrt worden.
Die erste der vier »heiligen Wahrheiten« ist die Wahr-
heit vom »Leiden.« Sie lautet:2) »Dies, ihr Monche, ist die
heilige Wahrheit vom Leiden: Geburt ist Leiden, Alter ist
Leiden, Krankheit ist Leiden, Tod ist Leiden, mit Unliebem
vereint sein ist Leiden, von Liebem getrennt sein ist Leiden,
nicht erlangen was man begehrt ist Leiden, kurz das fiinf-
fache Haften3) am Irdischen ist Leiden.«
Der buddhistische Pessimismus, der in dieser stehenden
Formel seinen knappesten und darum machtigsten Ausdruck
gefunden, lehrt uns, dass allem Leben das Leiden wesentlich
ist. Fur den Menschen verdichten sich die Uebel zu drei
Hauptformen: Geburt, Alter und Tod; mit beredten Worten
wird die Macht dieser grausigen Trinitat geschildert, der
niemand entrinnt, »kein Samana und kein Brahmane, weder
ein Gott, noch Mara, noch Brahma, noch irgend ein Wesen
in der Welt.« »Nicht im Luftreich, nicht in des Meeres
Mitte, nicht wenn du in Bergeskliifte dringst, findest du auf
Erden die Statte, wo dich des Todes Macht nicht ergreifen
wird.«*) Gleich einer Flamme ergreift das Leiden alle Welt.
»Die ganze Welt wird von Flammen verzehrt, die ganze
l) Wie wenig einheitlich sich der Buddhismus entwickelt hat, ist vor allem daran zu
erkennen, dass die Lehre vom Leiden, ohne die der altere Buddhismus nicht zu denken ist,
in der nachchristlichen »Wissensvollkommenheit« (prajna-paramita) nicht mehr gilt, wo es
heisst: >>es giebt keine Leiden, keine Entstehung und Aufhebung (des Leidens) und keinen
Weg« (zur Aufhebung des Leidens.) E. Hardy: Buddhismus. Anm. 1 (p. 143). Es ist dies
derselbe Text, der, aus mystisch-nihilistischer Spekulation stammend, ganz im Siune des
Brahmanismus die avidya fur den Trug der Sinnenwelt verantwortlich macht. Oldenberg
a. a. O. p. 259. 2) Oldenb :rg a. a. O. p. 227 ff. 3) An der Korperlichkeit, den Empfin-
dungen, V'orstellungen, Gestaltungen, dem Erkennen. 4) Oldenbeng a. a. O. p. 236.
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Welt ist von Rauch umwolkt, die ganze Welt steht in Brand,
die ganze Welt erbebt.«x) Unermesslich streckt sich der
Pfad des Leidens, den der Mensch zu wandern hat, so dass
der Thranen, die er auf seinem Dornenwege vergossen hat,
mehr sind, »als alles Wasser, das in den vier grossen Meeren
ist.«*) An eine leidenerfullte Vergangenheit schliesst sich
das leidenerfullte Jetzt und fiihrt uns hinein in eine leiden-
erfullte Zukunft. — Der Pessimismus steht durchaus im
Vordergrund derbuddhistischenWeltbetrachtung; erbeherrscht
alles andere Denken. Er uberwuchert die dogmatische
Spekulation; er nimmt der brahman-atman-Idee die freie Luft,
so dass sie erstickt. Um Fragen wie die, ob die Welt ewig
oder nicht ewig, begrenzt oder unbegrenzt ist, ob das nir-
vana Vernichtung oder hochste Vollendung ist, um solche
Fragen mehr soil der buddhistische Monch sich nicht kummern;
er soil, so befiehlt es Buddha, sich begniigen lassen an der
heiligen Wahrheit, dass alles Leben Leiden ist.
Die Begriindung des Pessimismus ist im wesentlichen
eine doppelte.
a)  Das hochste Gliick, die reinste Seligkeit kann nach
buddhistischer Anschauung nur in der ungestorten Ruhe
liegen; an jedem Werden, Entwickeln, an jeder Veranderung,
Unruhe haftet unumganglich das Leiden. Leiden und Ver-
anderung sind'identische Begriffe. Wir wissen aber aus der
Betrachtung des buddhistischen Idealismus, dass alles Dasein
nichts als eine wechselvolle Komplikation von Entstehen und
Vergehen, von ununterbrochenen Veranderungen ist; alle
Dinge sind ohne Ausnahme sankhara. »Alle sankhara sind
unbestandig.« »AUe sankhara sind voll Leiden.«s) »Was
aber unbestandig ist, ist das Leiden oder Freude?« fragt
Buddha. Und seine Jiinger antworten: »Leiden, Herr.«4)
So wird also der Pessimismus grade zu durch den Idealismus
motivirt.8)
b)  Tiefer fiihrt die zweite Begriindung. Wenn nach der
Entstehung des Leidens gefragt wird, so nennt uns der Text
der heiligen Wahrheiten als die Ursache aller Qual- den
1} ib. 2) it>. p. 234. 3) ib. p. 272 Anm. 2. 4) ib. p. 230. 5) Vergleiche auch
ib. p. 232, Anm, 1.
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Durst, den in jedem Menschen wohnenden Willen, das Streben,
das Verlangen, das Begehren. Wenn aber der Wille die
leidenschaffende Macht ist, so kann er das nur darum sein,
weil er als ein von Grund aus unmoralischer Wille gefasst
wird; und so wird er thatsachlich paraphrasirt, als ein »Durst
nach Liisten.« »Blumen sammelt der Mensch; an Lust hangt
sein Sinn. Den unersattlich Begehrenden zwingt der Ver-
nichter in seine Gewalt,« heisst es dementsprechend im
Dhammapada.1) Und der Erhabene spricht zu den Jiingern
also: »Alles, ihr Jiinger, steht in Flammen. — Durch welches
Feuer ist es entflammt? Durch der Begierde Feuer, durch
des Hasses Feuer, durch der Verblendung Feuer ist es
entflammt.*2) — Weil des Menschen Streben ein unmora-
lisches ist, deshalb bringt er das unendliche Leid iiber sich
und die Welt.
Ein wesentlich anderes Bild des Pessimismus als in dem
Vedanta. Im Buddhismus ist der Schmerz das Realste, was
uberhaupt sich denken lasst, namlich der ewige Wechsel,
wahrend er dort als eine Tauschung, als nichtiger Schein
aufgefasst wird, hinter dem sich im Grunde die Freude,
ananda, verbirgt. Der Buddhismus erklart das Leiden mo-
ralisch, der Vedanta intellektual. — Wie anders denkt der
Buddhist tiber die Freude, jegliche Freude. »Aus Freude
wird Leid geboren; aus Freude wird Furcht geboren«, sagt
das Dhammapada.3) Ebenso im Sutta-Nipata: »Leid ist in
Lust.«4) »Wer hundertfaches Liebes hat, hat hundertfaches
Leid«, predigt der Erhabene.5) Hier entsteht nicht, wie in
dem Vedanta, aus der ewigen Wonne das nichtige Leid,
sondern die wesenlose Freude gebiert wahrhaften Schmerz.6)
Demgemass gestaltet sich der Begriff der Erlosung
wesentlich anders im Buddhismus als im Brahmanismus.
Was hier ein Vorgang im Intellekt ist, fasst der Buddhismus
ungleich tiefer auf als eine Wendung auf moralischem Gebiet,
als eine ganzliche Umgestaltung des innersten Menschen.
Die moksha = Erlosung des Vedanta lasst den Kern des
1) Oldenberg a. a. O. p. 236. 2) ib. p. 197. 3) ib. p. 236. t) Hardy: Buddhismus
p. 28. 5) Oldenberg a. a. O. p. 197. 6) Vergl. auch noch das Citat aus Udana bei Olden-
berg p. 315 Anm. 1.
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Menschen durchaus unberiihrt, ihre Thatigkeit beschrankt
sich auf eine Reinigung desselben von dem umhiillenden
Erdenstaub. Anders lehrt Buddha. Als ein ganz neuer
Mensch taucht der Erloste aus dem Bade der Erlosung; aus
dem Diirstenden, Wollenden ist ein Durstloser, Nichtwollender
geworden. Die Erlosung des Brahmanismus korrigirt den
Pessimismus und zeigt die Welt als »seligen Gott«; im Bu-
ddhismus bleibt der Pessimismus dnrch die Erlosung intakt.
Das nirvana, in das sie den Weisen fiihrt, ist ja nicht wie
das brahman des Cankara eine Umwandlung zur Erscheinungs-
welt; sondern nirvana und samsara sind zwei durchaus ge-
trennte. Reiche, die nebeneinander ohne sich zu storen in
alle Ewigkeit fortbestehen.
3. Schopenhauer.
Wie schon oben bemerkt, schliesst sich riicksichtlich
des Pessimismus Schopenhauer an die buddhistische Re-
ligion an, wodurch er in den gleichen Gegensatz zum Brah-
manismus tritt wie diese. Er beantwortet in gleichem Sinne
wie diese die beiden Fragen: Ist das Leiden der Welt we-
sentlich? und: Bedeutet die Erlosung einen Umschlag zum
Optimismus? ■— erstere bejahend, letztere verneinend.
Wir wissen, wie friihe schon im Geiste Schopenhauers
die Grundiiberzeugung einer verurteilenden Weltbetrachtung
sich festgesetzt hatte. Hier nur wenige Zeugnisse. Dem
achtzehnjahrigen Jiingling schrieb seine Mutter unter dem
19. Oktober 1806: »Ich kenne ohnehin, wie gerne du iiber
das Elend der Menschen brutest.K1) 1811 that er als Student
Wieland gegeniiber die bezeichnende Aeusserung: »Das
Leben ist eine missliche Sache; ich habe mir vorgesetzt,
es damit hinzubringen, iiber dasselbe nachzudenken.«2) Auch
dem verehrten Goethe gegeniiber hat er offenbar mit seiner
dtisteren Weltbeurteilung nicht zuriickgehalten; wir schliessen
es aus den Versen, die dieser ihm am 8. Mai 1814 in
Weimar in's Stammbuch schrieb. Es sind die bekannten:
»Willst Du Dich Deines Wertes freuen,
So musst der Welt Du Wert verleihen.«3)
1) Gwinner a. a. O. p. 50. Schemann a. a. O. p. 47. 2) Gwinner a. a. O. p. 87, K.. Fischer
a. a. O. p. 29, 3) Vergl. auch Lindner-Frauenstadt: A. Sch. Von ihm. Ueber ihn. p. 225.
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Und damals stand Schopenhauer in einem Alter, das
die weite schone Welt nur wie einen reichen Blumenanger
im klaren Morgensonnenschein betrachten mag. Es war die
Zeit, in der er einem verhassten Beruf den Riicken wenden,.
und, dem Zuge seines Herzens folgend, der Wissenschaft,.
der Philosophic die Hand reichen durfte. Es war die Zeit,,
in der er schon weltbewegende Gedanken in sich keimen
fiihlte, unsterblichkeitsicher. Und dennoch jener Pessimismus;
denn er lag in dem Wesen Schopenhauers begriindet, wie
das Leiden in dem der Welt.
Wie jede Philosophic idealistisch sein muss, so auch
pessimistisch. Denn die traurige Beschaffenheit der Welt
ist es zumeist, die den Geist zum Innehalten und Nach-
denken veranlasst, die dergestalt zur Philosophie treibt. Es
ist nach Schopenhauer ohne Zweifel das beklemmende
Wissen um den Tod, und neben diesem die Betrachtung
des Leidens und der Not des Lebens, was den starksten
Anstoss zum philosophischen Besinnen und zu metaphysischen.
Auslegungen der Welt giebt.1) Er redet von jenem »phi-
losophischen Affekt der Verwunderung« des Platon und.
lasst ihn aus dem Anblick des Uebels und des Bosen ent-
springen.2) Und weiterhin heisst es: »Das Bose, das Uebel
und der Tod sind es, welche das philosophische Erstaunen
qualificieren und erhohen.«3) So erwachst jede Philosophie
aus pessimistischen Grundgedanken und behalt, wie jede
Pflanze das charakteristische Merkmal des Bodens, in dem sie
wurzelt, zur Schau tragt, die pessimistische Farbung bei. —
Der Mensch, der gedankenlos in den Tag hineingelebt hat„
wird plotzlich durch den Anblick des Leidens zur Meditation
getrieben. Zu dieser Ansicht Schopenhauers stimmt sehr
schon die buddhistische Legende, die uns erzahlt, wie dem
im Ueberfluss des Genusses, in der Unkenntnis aller Uebel
lebenden Prinzen Siddhattha durch die vier Erscheinungen
eines Greises, Kranken, Toten, Monches die Augen iiber
das wahre Wesen der Welt geoffnet werden, so dass er die
Heimat verlasst, das gelbe Monchsgewand anlegt und Buddha
1) W. a. W, u, V. 11 p. 176. 2) ib. p. 189, 3) ib. p 19f>.
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wird. — So Hegt der Pessimismus im Wesen der Philosophic
begriindet, wie das Leiden in dem der Welt.
Der Schopenhauer'sche Pessimismus kulminiert in dem
Gedanken, dass das Nichtsein der Welt besser sei als die
Existenz auch nur jeder denkbaren Welt. Warum? Weil
ihrem Wesen das Leiden unabloslich verbunden ist. Daher
ist die Welt, wie wir sie kennen, die denkbar schlechteste.1)
Man hat behauptet, dieser Pessimismus stehe in keiner
Beziehung zu den metaphysischen Grundgedanken des Systems.
So enthalt nach dem Dafiirhalten Victor Kiy's die Schopen-
hauer'sche Ethik »einen rein zufalligen Zusatz, ein individuelles
Beiwerk, das dem Systeme an und fur sich fremd ist«,
namlich die pessimistische Richtung, »welche Schopenhauer
seiner Ethik rein willkiirlich zugewiesen.«2) Nach ihm steht
der Pessimismus »sogar mit dem Principe der Schopenhauer-
schen Philosophic tiberhaupt im Widerspruch.«8) Ebenso
sagt Jiirgen Bona Meyer: »Die notwendige Folge seiner
philosophischen Grundansicht ist jedenfalls dieser Pessimismus
so wenig, dass vielmehr auf Schritt und Tritt zwischen ihm
und jener Grundansicht sich unlosliche Widerspruche ergeben
oder nur mit Sophistereien der Schein einer notwendigen
Folgerung hervorgebracht wird.«4) Und Philipp Mainlander,
dieser geistreichste und logischste aller Schiiler Schopenhauers,
meint: »Der Pessimismus ist eigentlich ganz unvertraglich
mit dem Schopenhauer'schen Idealismus.«5) — •— Wir hin-
ge gen wollen darstellen, wie Schopenhauer seinen Pessimis-
mus begriindet und daraus entnehmen, dass bei ihm Meta-
physik und Pessimismus miteinander stehen und fallen.
Diese Begriindung ist im wesentlichen gleicher Art wie
die im Buddhismus.
a) Die idealistische Begriindung.
Seinen schroffesten Ausdruck findet der Schopenhauer-
sche Pessimismus in der Ablcugnung jeglicher Entwicklung,
1) W. a. W. u. V. II p. 669. 2) Kiy: Der Pessimismus und die Ethik Schopen-
"hauers, Berl. 1866. p. 4, 3) ib. p. 75. i) J. B. Meyer: >A. Sch. als Monsch und Dcnker.«
Heft 145 der »Sammlung gemeinverstandlicher wissenschaftlicher Vortrage. herausg. von
Virchow & Fr. von HoltzendoriTft p. 44. 5) Mainlander: »Philosophie der Erlosung* Bd. II
-(2. Aufl.) p. 483.
                                                                                                  ' •
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jeglichen Fortschreitens, uberhaupt der Geschichte des
Menschengeschlechtes. Nirgendwo hat Schopenhauer, selbst
bei Anhangern, grosseren Widerspruch erfahren als in seiner
Lehre von der Nichtigkeit der Geschichte;1) Kuno Fischer
nennt geradezu das »das Grundgebrechen des Systems«,
»dass die ungeheure Thatsache der Weltgeschichte in ihre
Begriffe nicht passt.« Mit Unrecht haben alle Angriffe grade
die Leugnung der Entwicklung sich zum Hauptgegner er-
koren; denn sie ist nichts als der zu Ende gedachte Idea-
lismus; will man ein Grundgebrechen haben, so ist es der
Idealismus.
Die Welt ist der in immer hoheren Stufen sich objek-
tivierende Wille. Die hochste Stufe ist im Menschen er-
klommen. Wie der Wille selbst, so liegen auch die Stufen
seiner Objektivation ausserhalb der Vorstellung und ihren
Formen. Es sind ausserzeitliche Willensakte, als solche die
ewigen, unveranderlichen Urbilder aller Dinge, die Platonischen
Ideeen. Alle Entwicklung nun muss nach dem Satz vom
Grunde vor sich gehen, muss in der Zeit erfolgen, muss
Ursache und Wirkung erkennen lassen. Dadurch verfallt sie
aber unumganglich der blossen Vorstellung, fur die allein
der Satz vom Grunde Geltung hat; es ist ihr durchaus keine
absolute Realitat zuzusprechen. Das wirklich Reale in jeder
Erscheinung ist der in ihr erscheinende Wille auf der ent-
sprechenden Objektivationsstufe, die Idee, diese aber ist
zeitlos, raumlos, unveranderlich, und keine Entwicklung vermag
iiber sie hinauszufiihren. Wie mannigfach, den Umstanden
angemessen, auch die einzelnen Erscheinungen sein mogen,
so ist doch die Idee, die ihnen alien zu Grunde liegt und
relative Berechtigung verleiht, ein und dieselbe; denn sie
rsteht iiber dem Satz vom Grunde und dem principium indi-
viduationis. Das Gedrange der Begebenheiten, die vielge-
stalteten Formen des menschlichen Lebens in verschiedenen
Landern und Jahrhunderten — das alles gehort nicht der
1) Hier vor allem ist Mainlander iiber seinen Lehrer hinausgegangen; seiner Kritik
der Schopenhauer*schen Lehre vom Wert der Geschichte, der Schopenhaner'schen Staats-
theorie und Politik setzt er freimiitig das dem Meister s;Ibst entnommene Citat als Motto
voran: »Jeder, auch das grosste Genie, ist in irgend einer Sphiire der Erkcnntnis entschieden
.hornirt.«
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Idee an, sondern allein der Erscheinung, unci ist der Idee
selbst so fremd, unwesentlich und gleichgiiltig, wie den
Wolken die Figuren, die sie darstellen, dem Bach die Gestalt
seiner Strudel und Schaumgebilde, dem Eise seine Blumen
und Baume. Die Erscheinung ist nichtig; die Idee allein,
als die adaquate Objektitat des Willens, hat Realitat. Die
Zeit kann nichts wahrhaft Neues bringen; denn was sie auch
bringen mag, ist eine Auseinanderbreitung dessen, was schon
in der Idee liegt, gewissermassen eine Paraphrase der Idee.
Ein thatsiichlicher Fortschritt ist also undenkbar; alles ist ja
nur Erscheinung des ausserzeitlichen, daher unverjinderlichen
und einheitlichen Dinges-an-sich. Die Geschichte der Volker
ist wie ein Kaleidoskop, das bei jeder Wendung eine neue
Konfiguration zeigt, wahrend wir eigentlich immer das Selbe
vor Augen haben. Nur Namen und Jahreszahlen wechseln,
der wesentliche Inhalt bleibt derselbe von Ewigkeit zu
Ewigkeit. Alle Entwicklung ist Schein und Trug. Es wird
Nichts besser, aber auch Nichts schlechter.1)
Wenn Schopenhauer in seinem Pessimismus so weit
geht, alle reale Entwicklung zu leugnen, so zwingt ihn dazu
der metaphysische Grundgedanke, dass einem realen, unver-
anderlichen Ding-an-sich eine phanomenale, dem Satz vom
Grunde unterworfene Erscheinungswelt gegenuber steht.
b) Die moralische Begriindung.
Setzt man, wie der Vedanta thut, das Wesen des Dinges-
an-sich in die Erkenntnis, so muss, auch nach Schopenhauers
Meinung, sein Wesen eben dadurch ananda, Wonne, sein,
(wodurch, wie wir gesehen haben, der Pessimismus unmog-
lich wird); denn Schopenhauer selbst sagt: »Erkenntnis ist, an
sich selbst, stets schmerzlos.«2) Ist aber das Wesen des Dinges-
an-sich Wille, so ist es eben dadurch der Qual verfallen.
Wer die richtige Erkenntnis vom Ding-an-sich gewonnen
hat, der wird Pessimist.
1) W. a. W. u. V. I p. 213 f. p. 455. II Kap. 38. »Ueber Geschichtc« 2) Parerga.
IT p. 319. Das Erkinnen sei an und fur .sich schmerzlos und heitcr, heisst es W. a. W,.
u. V. II p. 435. Auch wird der iisthctische Gcnuss nur moglich, weil das Erkenncn allein.
im Menschen wirksam bleibt.
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»Wer erfreute sich des Lebens,
Der in seine Tiefen blickt.«
lasst Schiller die trojanische Seherin sagen.
o) Das Ding-an-sich ist Wille. »Die Basis alles Wollens
ist Bediirftigkeit, Mangel, also Schmerz, dem es folglich schon
urspriinglich und durch sein Wesen anheimfallt.« — Das
schmerzliche Gefiihl des Mangels begleitet jedes Streben so
lange, bis dasselbe sein Ziel erreicht hat, bis es befriedigt
ist. Im Bewusstsein des erlangten Gutes lost sich das Wollen
und Wiinschen und mit ihm das Leiden auf — bei einem
empirischen Wollen, endlichen Wiinschen. Nicht so bei dem
Willen als Ding-an-sich. Dieser ist, weil Streben sein alleini-
ges Wesen ist, iiberhaupt keiner Befriedigung fahig; er geht
in's Unendliche.1) Aus Mangel entsprungen, ohne dauernde
Befriedigung — so stellt sich der Wille als Ding-an-sich dar.
Was Wunder, wenn die Welt ist, »wie sie ist.«
f) Dieser Wille ist weiterhin ein unmoralischer. Eben
das sagten, mit Beschrankung auf den menschlichen Willen,
auch die Buddhisten. Fur Schopenhauer ist die vollstandige
Siindhaftigkeit des Willens ein oft betontes Faktum.2) Als
freier Wille, dem Aseitat und daher Selbstbestimmung zu-
kommt, konnte er sich vor aller Zeit zur Bejahung oder zur
Verneinung entscheiden; er hat sich zur Bejahung gewandt,
er wollte das Leben, die Lust — nun findet er das Leiden.
Sein Drang, in die Erscheinung zu treten, ist krankhaft, un-
natiirlich, unmoralisch, darum wir und die Welt etwas sind,
das nicht sein sollte. Jede Individualitat ist ein specieller
Irrtum, ein Fehltritt, der besser nicht ware. Am vollkom-
mensten offenbart sich die Siindhaftigkeit, die dem sich be-
jahenden Willen anklebt, im menschlichen Egoismus; denn
dieser, aus dem alle Siinde, alle Schuld entspringt, ist eben
nichts als der das Innerste des Menschen konstituierende
Wille zum Leben urn jeden Preis, der Trieb zur Selbster-
haltung. »Wer etwas tiefer zu denken fiihig ist, wird bald
absehn, dass die menschlichen Begierden nicht erst auf dem
Punkte anfangen konnen, siindlich zu sein, wo sie, in ihren
1) W. a. W. 11. V. I § 29, p. 193. 2) Hingeg mi heisst es wieder an ander*r Stelle
(W. a. W. u. V. I p. 1S6): »Nicht im Wollen, sindern im Wollen mit Erkenntnis liegt die.
Schuld.«
9
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individuellen Richtungen einander zufallig durchkreuzend,
Uebel von der einen und Boses von der anderen Seite ver-
anlassen; sondern dass, wenn Dieses ist, sie auch schon ur-
spriinglich und ihrem Wesen nach siindlich und verwerflich
sein miissen, folglich der ganze Wille zum Leben selbst ein
verwerflicher ist.«-1) »Dass unser Dasein selbst eine Schuld
impliciert, beweist der Tod.«8) Hier wird also eines der
grossten Uebel unmittelbar aus der unmoralischen Beschaffen-
heit alles Lebens abgeleitet; und so ist aller Grauel und
Jammer, davon die Welt voll ist, bloss das notwendige Re-
sultat der Willensqualitat, der blosse Kommentar zur Be-
jahung des Willens zum Leben. Kann der Pessimismus
besser begriindet werden?8)
y) Der Wille, dieses Prinzip alles Lebens, ist nun
weiterhin in einem unversohnbaren inneren Widerstreit be-
fangen, in einer Selbstentzweiung, die in den verschiedenen
Objektivationsstufen, den Ideeen, in immer hellerem Lichte
hervortritt. Naturkraft ringt mit Naturkraft, Tier mit Tier,
Mensch mit Mensch in bestandigem bellum omnium contra
omnes. Dieser unaufhorliche Streit ist die vorzuglichste
Quelle alles Leidens, das dadurch auf die gesamte Welt
iibertragen wird. Denn wie Schopenhauer das ewige Drangen
und Streben, das in den einzelnen Naturkraften bis herab
zur Schwere sich aussert, als identisch mit jener Kraft er-
kennen lehrt, die in uns als Wille unermildlich thatig ist,
so fasst er auch dort, wo die gegenseitige Hemmung der
feindlichen Krafte noch nicht vom Lichte der Erkenntnis
beleuchtet wird, in der anorganischen Natur, die wechselseitige
Durchkreuzung als Leiden, das man vorher nur sensitiven
Wesen zugeschrieben. Jetzt leidet nicht mehr allein Mensch
und Tier, jetzt leidet das ganze Weltall, und selbst die
Materie ist wegen ihres ewig erfolglosen Drangens zum
Mittelpunkt, dem ein gleich starker Widerstand in Gestalt
der Undurchdringlichkeit entgegenwirkt, mit ewigem Leiden
behaftet.4)
1) Parerga II p. 336, § 165. 2) ib. p. 337. 3) Die nahere Ausfuhrung hiervon § 16.
4) An andercr Stelle (Parerga II p. 319) heisst es hingegen: »Der Schmerz trifft allein den
Willen und besteht in der Hemmung, Hinderung, Durchkreuzung desselben; dennoch ist
dazu erfordert, dass diese Hemmung von der Erkenntnis begleitet sei.«
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Am entschiedensten zeigt sich dieses, auf dem Streit
des Willens gegen sich selbst beruhende Leiden natiirlich in
der Menschenwelt. Weil die Lebenskraft einen fortdauernden
Kampf gegen die Naturkrafte zu unterhalten hat, die ihr
die Leibesmaterie streitig machen, ist schon der vegetative
Teil unseres Lebens mit einem leisen Leiden bestandig
verkniipft.1) Und zuletzt bleiben sie doch Sieger, die Natur-
krafte, im Todel Grasslich aber, schlimmer als der Krieg
des Menschen gegen die Machte der Natur, ist der erbar-
munglose Kampf, den Mensch mit Mensch fiihrt, in dem
alle Waffen Recht sind, die schleichende Heimtiicke und die
offene Gewalt. Da stiirzt sich die Wut des Egoismus auf
wehrlose Opfer und fahrt lachend iiber das zertretene Gliick
harmloser Mitmenschen dahin. Den Gipfel erreicht der
Ausdruck dieser Selbstentzweiung des Willens da, wo das
Individuum sich selbst den Krieg erklart, im Selbstmord.*)
Die Hauptbegriindung des Pessimismus ist also bei
Schopenhauer, ebenso wie bei Buddha, moralischer Art.
Eine weitere Stiitze erhalt derselbe durch
c) die Begriindung aus der Betrachtung des Begriffes
Gliick.3)
»AUe Befriedigung, oder was man gemeinhin Gliick nennt,
ist eigentlich und wesentlich immer nur negativ und durch-
aus nie positiv. Es ist nicht eine ursprunglich und von selbst
auf uns kommende Begliickung, sondern muss immer die
Befriedigung eines Wunsches sein. — Daher kann die Be-
friedigung oder Begliickung nie mehr sein, als die Befreiung
von einem Schmerz, von einer Not.« Der Schmerz hingegen
ist immer das Positive, das Urspriingliche, die Vorbedingung
fiir jedes Gliick, dessen ganze Natur weiter nichts ist als
die Negation des Schmerzes. An sich kann es also gar kein
Gliick geben. Das, was wir Gliick nennen, kann sich daher
auch niemals von selbst ankiindigen; dass wir jemals jene
herrlichsten Giiter Jugend, Gesundheit, Freiheit besessen
haben, merken wir erst, wenn sie fiir uns verloren sind.
Fernerhin macht die negative Natur des Gliickes jede dauernde
I; W. a. W. u. V. I p. 174. 2) ib. p. 472. 3) ib. p. 376 ff.
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Befriedigung unmoglich. Denn mit der Befriedigung hort
der Wunsch auf, und mit ihm als durch ihn bedingt der
Genuss. — Auf diese seine Lehre von der negativen Natur
des Gluckes im Gegensatz zu der positiven des Leidens legt
Schopenhauer grosses Gewicht und wiederholt sie an ver-
schiedenen Stellen.1)
Auf den dargelegten Betrachtungen beruht im wesent-
lichen der Schopenhauer'sche Pessimismus. Aber nicht in
der farblosen, niichternen Weise, wie ein Resume gleich dem
unseren es verlangt, sind sie ausgefiihrt; viel mehr mit all
der Kraft und Eindringlichkeit, iiber die er verfiigt, mit all
der Zaubermacht seines Stiles, der sich bis zu wuchtigem
Pathos steigert, hat der Philosoph seine herbe Weltanschauung
zur Darstellung gebracht, wie sie in erschiitternder und zu-
gleich iiberzeugenderer Weise von keinem seiner Nachfolger
gegeben worden ist.a) Wohl selten hat ein Menschengeist
das grauenvolle Chaos von Schuld und Uebel, das Welt und
Menschenleben heisst, in gleich schonungloser Nacktheit
gezeigt, wohl selten mit gleich grosser Meisterschaft die
Harfe geruhrt, deren Saiten Jammer und Qual sind.
Dem Leben ist das Leiden wesentlich; die Natur des
allschaffenden Willens als des Dinges-an-sich ist die unver-
siegbare Quelle, aus der sich die Flut des Uebels iiber alles
Lebende ergiesst. Dieser Pessimismus wird nicht durch eine
optimistische W'endung durchbrochen. K. Fischer glaubt
freilich einen Umschlag zum Optimismus nachweisen zu
konnen. Er findet ihn in der Ansicht Schopenhauers, dass
die Welt eben so eingerichtet sei, dass sie zur Weltverneinung
fiihren muss, wie sie vor allem im Kapitel »Heilsordnung«
des 2. Bandes der W. a. W. u. V. dargestellt ist.3) Die
zum summum bonum leitende Welt muss doch daher eigent-
lich die beste aller moglichen Welten sein. Wir aber meinen
zunachst mit E. von Hartmann, dass die bestmogliche Welt
1) So: W. a. W. ii. V. II p. 659 ff. Ethik p. 210. 2) Ungemcin eindringlich, weil
auf wenigen Seiten gegeben, ist die Mainlander'sche Darstellung der traurigen Weltbeschaffen-
heit. Philosophic der Eri'vsung I p. 203 ff. Dr. Eduard Loew;nthal sagt in seiner 1889 in
Berlin bei Siegismund erschienenen Broschiire »Grundziige des induktiven Spiritualismus*
auf p. 7: »Mainlander wnsste dem Pessimismus einen formlich verlockenden Beigeschmack
abzugewinnen.« 3) K. Fischer, a. a. O. p. 476.
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darum noch nicht gut sein muss; als bestmogliche kann die
Welt noch herzlich schlecht sein.1) Ferner aber hat Fischer
nur dann Recht zu seiner Auffassung, wenn er sich auf den
transscendenten Standpunkt des Dinges-an-sich und seiner
•mystischen Vernichtung in der Resignation stellt; von hier
aus gesehen mag die Welt wohl als bestmogliche sich dar-
stellen, nicht aber, wenn man die der Schopenhauer'schen
Philosophic eigene immanente Betrachtungweise beibehalt.
Hier stellt sich vielmehr die beriihrte Eigenschaft der Welt
als eine Heilsordnung eben als der krasseste Ausdruck des
Pessimismus dar, gewissermassen als die selbsteigene Ver-
urteilung der Welt, als die von ihr selbst ausgesprochene
Erklarung ihres ganzlichen Unwertes. Es ist richtig, dass
die Welt die ErlQsung herbeifuhrt, aber die Erlosung und
ihre Moglichkeit machen bei Schopenhauer nicht wie in dem
Vedanta den Pessimismus zu Schanden.
Wir sehen den Gegensatz, in den Schopenhauer zum
Vedanta tritt. Bei ihm ist der Schmerz dem innersten Nerv
alles Lebens und Daseins unmittelbar eigen, er haftet an dem
Ding-an-sich, nicht, wie in dem Vedanta, an der Erscheinung.
Jener erklart den Schmerz fur eine Illusion, der fur Schopen-
hauer — wie auch fur die Buddhisten — das Reale, Positive
ist; er verlegt die »Wonne« in das brahman, indes Schopen-
hauer, gleich den Buddhisten, das Gliick, die Befriedigung,
die Wonne als das Negative in das Reich der Erscheinung
verweist. Auf der einen Seite der in die Maske des Pessi-
mismus verhullte Optimismus, auf der anderen der ernste,
wahre Pessimismus, aufs Tiefste von der fiirchterlichen Er-
kenntnis durchdrungen, dass Leben und Leiden identische
Begriffe sind und der Gedanke eines »seligen Lebens« einen
Widerspruch enthalt.2) Bezeichnend fur die Denkweise beider
Systeme ist, dass das eine, der Vedantisten, mit der Steige-
rung des Intellekts die Lust, das andere, Schopenhauers, den
Schmerz wachsen lasst. Nach Cankara namlich sind die
Gotter zu ewigem Genusse berufen, weil sie die Fiille des
Erkenntnisvermogens besitzen, und aus dem gleichen Grunde
1) Hartmann: Philosophic des Unbewussten 2. Aufl. p. 556. 2) W. a. W. it V I,
1. p08.
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muss nach Schopenhauer das Genie herbere Qualen dulden
als der gewohnliche Alltagsmensch.1) Umgekehrt: die Tiere
leiden nach Schopenhauer am wenigsten, nach dem Vedanta
am meisten. Wichtig wird die Betrachtung des Schmerzes
als einer Illusion oder als des eigentlich Positiven vor allem*
in der Ethik, wie wir sehen werden.--------Thatsachlich ist
also der Schopenhauer'sche Pessimismus ein vollkommener;
er kommt zu dem triibseligen Schluss, dass die Welt, wie
sie nun einmal ist, die denkbar schlechteste sei,1) dass die
oft beklagte Kiirze des Lebens eigentlich seinen grossten
Vorzug ausmache,3) ein Gedanke, den auch Platen in einem
seiner schonsten Ghasele folgendermassen ausdriickt:
»Und ware nicht das Leben kurz, das stets der Mensch vom Menschen
erbt,
So gab's Beklagenswerteres auf diesem Erdenrunde nichts.«
Dass aber die Erlosung den Pessimismus nicht aufhebt,
ist darum gewiss, weil der Schmerz seine Wurzel im Ding-
an-sich selbst hat. Darum wird nicht, wie in dem Vedanta,
die Erlosung durch eine bewusste Riickkehr in den Mutter-
schoss aller Wesen gewonnen. Vielmehr muss der Wille
selbst ein ganz anderer werden, in sein Gegenteil umschla-
gen, aus einem Wollen ein Nicht-Wollen werden. Wie eine
solche totale Umgestaltung in dem iiber dem Satz vom
Grunde stehenden und somit aller Veranderung entriickten
Ding-an-sich vor sich gehen kann, ist eine vollig transscen-
dente Frage, die iiber den Horizont menschlicher Erkenntnis
hinausliegt, wie das Ding-an-sich eigentlich ja auch. Jeden-
falls fiihrt uns die Erlosung in eine ganz andere Welt, oder
vielmehr Nicht-Welt, wo das Nicht-Wollen herrschen wird,
aber die Welt des leidenschaffenden Wollens bleibt darum
doch bestehen. Der Vedanta zeigt uns das Dasein, wie es
wirklich ist, nach seiner Ansicht, namlich leidlos, und diese
Erkenntnis ist des Menschen Erlosung; Schopenhauer und
der Buddhismus zeigen uns auch das Dasein, wie es wirklich
ist, nach ihrer Ansicht, namlich gliicklos — mit diesem gliick-
losen empirischen Dasein hat die Erlosung nichts zu schaffen,
1) Parerga II § 154. 2) W. a. W. u. V. I p. 382 u. 8. 3) W. a. W. u. V. I p. 383.
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sie redet von einem ganz anderen, das absolut unerkennbar
bleibt. —
§ 15. Die Frauen.
Nebenbei seien die Ansichten dargelegt, die unsere
Denker von den Frauen und dem weiblichen Wesen sich
zu eigen gemacht haben. Sind dieselben natiirlich auch nicht
ein wichtiger Bestandteil ihrer Systeme, so sind sie doch in
so direkter Weise Ausfliisse des grosseren und geringeren
Pessimismus, dass sie ein unmittelbares Licht auf diesen zu-
riickwerfen; weshalb dieser § nur als Erlauterung des vor-
hergehenden zu gelten hat.
Denn der Pessimismus, der alle Giiter, Freuden und
Geniisse dieser Welt gewogen und zu leicht erfunden hat,
der sich, wenn auch nicht immer praktisch, so doch stets
theoretisch, von jeder Lust abwendet, hat zu alien Zeiten
vornehmlich die Geschlechtsliebe und den Geschlechtsgenuss
als hohlen Schein nachzuweisen gesucht, wenn er nicht so-
gar — aber das thut er zumeist — in samtlichen geschlecht-
lichen Beziehungen den Ftinftelsaft aller Unmoral erblickt.
Da der Geschlechtstrieb nun seine normale Befriedigung
nur unter zwei Individuen verschiedenen Geschlechts finden
kann, so muss dem Pessimisten, je nach seinem Geschlecht,
das andere als eine bestandige Aufreizung zu dem verab-
scheuten Genusse erscheinen, wodurch es seiner Verachtung
verfallt. Die Philosophie, auch die pessimistische, wird meist
von Mannern gemacht, daher die Frauen eine pessimistische
Beurteilung zu erfahren haben; die Manner miissten sich
eine gleiche abschatzige Wertung gefallen lassen, wenn von
dem weiblichen Geschlecht einmal die Philosophie ausginge.
Was nun den Brahmanismus anbetrifft, so heisst es zwar
im Aitareya-Brahmanam: »Eine Tochter ist ein Jammer, ein
Sohn ein Licht am hochsten Himmel,*1) wie denn auch die
(von Schopenhauer angefuhrte2) Vorschrift aus dem Gesetz-
buch des Manu bekannt ist, wonach das Weib bestandig
unter Vormundschaft zu halten sei; dennoch aber scheint,
in Gemassheit seines verkappten Optimismus, der Brahma-
1) E. Hardy: Vedisch-brahmanische Periode. p. 182. Vergl auch Zimmer: Altindisch.es
Leben. Berl. 1879 p. 332. 2) Parerga II p. 277, 660.
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.nismus der Frau eine gewisse Gleichstellung mit dem Mann
eingeraumt zu haben.1) Wenigstens mit Riicksicht auf die
hochste menschliche Angelegenheit, »das Wissen«. Jeden-
falls steht die Frau iiber dem Cudra, der ausdriicklich von
der erlosenden Erkenntnis ausgeschlossen wird, weil ihm
die Quelle der Erkenntnis, der Veda, verschlossen bleibt.
Daher stehen neben den Brahmanen die Brahmaninnen.
Unbedenklich teilt Yajnavalkya seinem Weibe Maitreyi die
tiefe Lehre vom atman mit,2) und auch die weise Gargi
wird von ihm belehrt iiber das »Unvergangliche«, »worin
das Vergangene, Gegenwartige und Zukiinftige eingewoben
und angewoben ist.«s) Viel entschiedener tritt Buddha den
Frauen gegeniiber,*) Sie sind fur ihn »die vielgewitzten
Rauberinnen, bei denen Wahrheit schwer zu finden ist, denen
die Luge ist wie die Wahrheit und die Wahrheit wie die
Liige.« Ihr Wesen ist unergriindlich verborgen, wie im
Wasser der Weg des Fisches; man soil ihren Anblick ver-
meiden; man soil nicht zu ihnen reden; man soil in ihrer
Gegenwart wachsam iiber sich selbst sein. Der Leichnam
Buddhas wird durch ihre Thranen befleckt. Lange hat sich
der Erhabene, ganz im Gegensatz zu dem Brahmanen Yaj-
navalkya, gestraubt, den Frauen seine Wissenschaft und
Lehre mitzuteilen, und als er endlich, dem Drangen seiner
Stiefmutter und Tante Mahapajapati nachgebend, einen
Frauenorden einrichtet, thut er es mit der Gewissheit, dass
nun in Lehre und Orden heiliges Leben nicht lange gedeihen
werde, statt lOOOJahre nur 500 lang; denn der Einfluss des
Weibes auf heiliges Leben ist gleich dem des Mehltaus auf
ein Reisfeld.5) Ananda, Buddhas Lieblingsjiinger, der die
Bitte Mahapajapatis unterstiitzt hatte, musste sich dieserhalb
auf dem ersten Concil der Theras nach des Erhabenen Tode
heftigen Tadel gefallen lassen.6) — Da nun aber die Gemeinde
der Nonnen vorhanden ist, wird sie in demiitiger Unter-
werfung unter den Monchsorden gehalten. *) Als bezeichnend
l) Uebcr die Stellung der Frau in vedischer Zeit vergl. Zimmer a. a. O. p. 317 flf.
2) Deussen a. a. O. p. 186. 3) ib. p. 143. Oldenberg, a. a. O. p. 32, 64. 4) Oldenberg, a.
a. O. p. 176 ff. 5) Oldenberg, a. a. O. 178. 6) Hardy: Buddhismus p. 87. 7) Oldenberg,
a. a. O. p. 405.
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fur diese Unterwerfung und Unterordnung sei die erste der
acht, fur alle Nonnen durchaus bindenden »hohen Ordnungen«
angefiihrt: »Eine Nonne, wenn sie auch seit hundert Jahren
ordinirt ist, muss vor jedem Monch, wenn er auch erst an
diesem Tage ordinirt ist, die ehrfurchtsvolle Begriissung
vollziehen, vor ihm aufstehen, die gefalteten Hande erheben,
ihn nach Gebiihr ehren. Diese Ordnung soil sie achten,
heilig halten, bewahren, ehren und ihr Leben lang nicht
iibertreten.« Auch in ihrer Gemeinde selbst ist die spon-
tane Thatigkeit der Nonnen beschrankt, so dass sie keinen
wichtigeren Akt des Gemeinderechts vornehmen diirfen,
ohne erst von der Gemeinde der Monche dazu autorisirt
worden zu sein. —
Dass Schopenhauer der wiitendste Misogyn war, ist
hinlanglich bekannt. Seine Verachtung des weiblichen Ge-
schlechts ist unbegrenzt und hat sich in einem eigenen Ka-
pitel »Ueber die Weiber« Luft gemacht.1) Auch seine Briefe
enthalten gar manche Ausfalle gegen die »Weiber«, wobei
der Ton oft in's Cynische umschlagt. An Schopenhauer ist
so recht die Genesis des Weiberhasses aus dem Pessimismus
zu erkennen. Denn urspriinglich hat Schopenhauer als eine
leidenschaftliche, stark sinnliche Natur mehr denn einmal
dem machtigen Zuge Folge geleistet, der den Mann zur
Mannin zieht. Was K. Fischer davon in Erfahrung bringen
konnte, hat er nicht ohne ein gewisses Behagen zusammen-
gestellt.2) Aber war wohl eine solch peinlich genaue Auf-
zahlung der Liebeshandel unseres Philosophen notig, da er
es selbst gestanden hat, nicht nur seinem Vertrauten Frauen-
stadt brieflich, »dass er arg nach den Weibern gewesen,«3)
sondern auch offentlich, der ganzen Welt, in seinen Werken,
indem er sagt: »Wir alle leben, wenigstens eine Zeit lang,
meistens aber immer, in Polygamie?«4) Auch den Prinzen
Siddhattha hatte vor seiner Flucht aus dem Elternhause der
reizende Harem indischer Grossen umgeben. An sich selbst
hat demnach Schopenhauer erfahren, mit wie festen Banden
die Geschlechtsliebe den Menschen an diese Welt der Lust
I) Parerga II Kap. 27. 2) Fischer a. a. 6. p. 64, 136. 3) Lindn^r-Prauenstadt: A.
Sch. Von ihm. Ueber ihn. p. 270. 4) Parerga II p. 659.
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kettet, wie machtig, wie ruhestorend und sinnverwirrend der
Zauber ist, den das Weib auf den Mann auszuiiben vermag.
Und noch lange nachher, als langst sein Pessimismus die
Scheinwerte der Welt durchschaut und langst jeder Genuss
ihm seine negative Natur offen dargelegt hatte, in Italien
und Dresden, hat er dem Damon der Geschlechtslust opfern
miissen, bis auch in ihm der Widerwille vor den verlocken-
den Reizen erwachte, und er nun, als ein Renegat vom
Kultus der Frauenschonheit, in der den Renegaten eigenen
Weise, um so heftiger gegen seinen fruheren Glauben eifert.
Masslos sind die Anklagen, die er gegen das Weib schleu-
dert; selbst die aussere Schonheit, die einst so verehrte, wird
ihm abgesprochen. *) Ganz wie Buddha, zeiht er es vor allem
der Luge und Verstellung: Falschheit, Treulosigkeit, Verrat,
Undank, das sind Fraueneigenschaften. Wir wollen hier
keine Bliitenlese seiner Invektiven geben, noch weniger unter-
suchen, wie weit dieselben berechtigt sind. Wir stellen nur
seinen Weiberhass als Faktum hin, dem gemass ihm theore-
tisch, wie den Buddhisten einst praktisch, das weibliche Ge-
schlecht ein sexus sequior in jeder Hinsicht ist. Nur zogernd
gesteht er ihm den Vorrang vor dem Mannergeschlecht in
der Tugend der Menschenliebe zu,!) deren opferfreudige
Bethatigung auch Buddha gar wohl an den Frauen zu schatzen
wusste, wie sein Verkehr mit der freigebigen Matrone Visakha
von Savatthi beweist.3)
§ 16. Die moralische Bedingtheit der Welt.
Wir sahen im § 14, dass Schopenhauer sowohl als
Buddha die klagliche Beschafifenheit der Welt besonders mo-
ralisch begriindeten; was aber dort unter dem Gesichtspunkt
des Pessimismus auftrat, als begriindender Faktor neben
anderen Faktoren, soil nun um seiner selbst willen betrachtet
werden, als ein Grundgedanke, der uns in den Kern der be-
trachteten Systeme fiihrt. Bei Systemen, die organischen
Zusammenhang haben, lasst sich selten eine einzelne Lehre
so sauber herausnehmen, dass sie nicht mit zahen Fasern
sich an eine andere festhakte. Haben wir also schon er-
1) Lindner-Frauenstadt a. a. O. p. 576. 2) Ethik p. 215. 3) Oldenberg a. a. O. p. 179
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vvahnen miissen, dass das Weltelend verschuldet ist, so wolleri
wir hier doch noch im allgemeinen darstellen, wie nach der
Ubereinstimmenden Meinung unserer Philosophen die physi-
sche Weltordnung auf eine moralische zuriickgeht, eine solch
fundamentale Uebereinstimmung, dass sie wohl mit beson-
derer Starke betont zu werden verdient. Der Gedanke einer
moralischen Bedingtheit der Welt verfolgt nun seinerseits
zwei Richtungen, die wiederum so sehr einander bedingen,
dass eine reinliche Scheidung nicht vollkommen zu erreichen
ist. Gemeint ist die Lehre vom karman und von der Seelen-
wanderung.
1. Die Lehre vom karman.
a) in dem Vedanta.
Karma heisst wortlich »That«, und die Lehre vom karma,
eine der tiefsinnigsten aller indischen Philosophic, besagt,
dass jede That, sie sei bose oder gut, ihre Vergeltung fordert,
und zwar, wie die Dogmatik des Brahmanismus in dem Ve-
dantasystem lehrt, eine doppelte: einmal im Jenseits, als
Lohn im freundlichen Lichtreiche des Mondes oder Strafe
in den sieben Hollen Yamas, andererseits im Diesseits durch
eine neue Verkorperung der Seele, die sich giinstig gestaltet,
wenn das »Werk« gut war, aber ungiinstig, wenn das Werk
ein boses. Es ist ein Grundgedanke, nicht nur des Vedanta,
sondern samtlicher Systeme Indiens, dass mit jeglicher That
ihre Siihne unabwendlich verkniipft ist, dass aus jeder That
der entsprechende Lohn erwachst. So lange auf Erden
Thaten gethan und Werke verrichtet werden, so lange wirkt
das karman, in seiner Kraft ungeschmalert, fort. Wir haben
in der Lehre vom karman aus alter Vorzeit ein moralisches
Pendant zu dem physikalischen Gesetz von der Erhaltung
der Kraft unseres Jahrhunderts. ■— Dass das karman die
wandernde Seele auch zu Himmelswonnen oder Hollenqualen
fiihrt, ist fur uns hier von keiner Wichtigkeit; wir bleiben
auf dem Boden fasslicher Realitat und sehen, wie das karman
ein neues Erdendasein hervorbringt.
■' Wenn der Mensch dem Tode verfallen ist, so zieht
seine Seele aus dem zum Staub zuriickkehrenden »groben
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Leibe« aus, gefolgt, wie wir sahen, von den upadhi's, darunter
der karma-acraya, das moralische Substrat, das aus dem
Schatz im Leben vollbrachter Werke besteht. Dieser Werk-
schatz wird die Ursache der Wiederverkorperung, weil er
abgebiisst werden muss; er bestimmt mit zwingender Not-
wendigkeit den kiinftigen Lebenslauf nach alien Verhaltnissen
-hin, nach Handeln und Geniessen. Die Thaten aber, die ein
Mensch vollbringt, sind ein Ausfluss seines Wesens, seines
Charakters; denn also heisst es in der Brihad-aranyaka-
Upanishad: »Der Mensch ist ganz und gar gebildet aus
Begierde (kama); je nachdem seine Begierde ist, danach
ist sein Wille (kratu); je nachdem sein Wille ist, danach
thut er das Werk (karman); je nachdem er das Werk thut,
danach ergeht es ihm.«x) Sonach ruht das Schicksal des
Menschen in seiner eigenen Hand; »darum moge man trachten
nach (gutem) Willen.«8) Das Wesen der That wird also ganz
richtig in die Gesinnung, aus der sie entspringt, gesetzt und
erklart aus der sittlichen Veranlagung des Thaters, aus seinem
Charakter. Und dadurch, dass die That als der Same des
kiinftigen Daseins aufgefasst wird, schreibt man ihr jene
moralische Bedeutung iiber dieses Leben hinaus zu, die ihr
thatsachlich anhaftet. Nach alien seinen Verhaltnissen hin
wird der neue Erdenlauf durch unsere That, das heisst also
durch unsere ethische Kraft, bestimmt, er ist so ganz die
ausgereifte Frucht unseres moralischen Verhaltens in einem
abgelaufenen Leben, dass thatsachlich unsere ganze Indivi-
dualist als moralisch bedingt erscheint.
Die Wirkung des karman geht nun aber nicht nur iiber
den Tod des Individuums hinaus, sondern iiberdauert auch
— und das ist wichtig — den Untergang der gesamten
Weltperiode, das ganze kalpa. Wenn am Ende eines kalpa
die Welt in brahman zuriickkehrt, so bestehen, wie die Ele-
mente, auch die individuellen Seelen samenartig, potentiell
in brahman fort, auch hier mit der moralischen Bestimmtheit
bekleidet. Das Werk verlangt seine Siihne auch iiber den
Weltuntergang hinaus, und, zwecks dieser Siihne, muss
brahman aufs Neue die Welt »ausgiessen.« Aufs Neue
1) Deussen a. a. O. p. 208. 2) ib. p. 163.
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bildet sich die Weltscheibe, von brahman so geordnet, dass:
die Siihne sich restlos vollziehen kann. Um ein Gleichnis
zu gebrauchen, so verfahrt brahman wie der Dichter, der
nicht allein Wesen und Charakter der dramatischen Personen
und ihre Schicksale bis in's Einzelne feststellt, sondern auch
die engere und weitere Scene bestimmt und so einrichtet,
dass das Geschick seiner Helden sich in gewollter Weise
entwickeln mag. Alle die Formen und Gestalten der Welt
und ihre mannigfaltigen Beziehungen ordnen sich demgemass.
so gegeneinander, dass einem Jeden sein pradestiniertes Los.
werden kann, wie es ihm sein karman, dem Leben im
fruheren kalpa entsprechend, auferlegt. Dann kann dem
Menschen nichts widerfahren, weder von Mitmenschen noch.
von Naturkraften, weder Gutes noch Boses, das er nicht als-
Frucht eigenen fruheren Handelns anzusehen hat: die Welt
ist im Grunde des Menschen eigenes Werk. Sie ist »die-
der Seele aufgebiirdete Frucht ihrer Werke«, sie ist »Ver-
geltung der That am Thater« (kriya-karaka-phalam) und also
durchweg moralisch bestimmt. — Einerseits wird durch das
karman der Kreis genau umgrenzt, den wir mit unserer
empirischen Personlichkeit ausfiillen — »welche nun hier
einen erfreulichen Wandel haben, fur die ist Aussicht, dass
sie in einen erfreulichen Mutterschoss eingehen, einen Brah-
manenschoss oder Kshatriyaschoss oder Vaicyaschoss; die
aber hier einen stinkenden Wandel haben, fiir die ist Aus-
sicht, dass sie in einen stinkenden Mutterschoss eingehen,.
einen Hundeschoss oder Schweineschoss oder (gar) in einen
CandalaschossjK1) andererseits ist eben dasselbe karman nicht
nur Veranlassung zur neuen Weltperiode, sondern auch das-
regulative Princip, das alle Dinge in ihren wechselseitigen
Beziehungen festsetzt. Die ganze Welt ist somit Lohn
unserer Thaten, sie ist »bhogyam,« das zu Geniessende (oder
zu Leidende), wahrend die Seele »bhoktar,« Geniesser ist-
Und so erstreckt sich in endlosem Wechsel von That und
Siihne der samsara aus, kalpa reiht sich an kalpa in rast-
loser Flucht, bis endlich die moksha, die Erlosung, alle
Thaten des Wissenden zu nichte macht. Dann ist fiir eine
1) Deusscn a. a. O. p. 393.
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neue Geburt kein Same mehr vorhanden, dann hat das karman
sich rein ausgelebt, dann geht, gelost von Name und Gestalt,
der Weise ein zum gottlich-grossen Geiste.--------Die Vor-
stellung, dass es Gott ist, der icvara, jene Personification
des aparam brahma auf dem Boden der avidya, der das
Werk mit seiner Vergeltung verkniipft, kann hier iibergangen
werden.
b) im Buddhismus.
Die Lehre vom karman als der den samsara konstitu.
ierenden Potenz wirkt im Buddhismus fort.1) Was Yajfia.
valkya einst in vedischer Zeit dem Artabhaga verkundet,
die Lehre von der »That«: »Je nachdem einer handelt, je
nachdem er wandelt, darnach wird er geboren; wer Gutes
that, wird als Guter geboren, wer Boses that, wird als Boser
geboren; heilig wird er durch heiliges Werk, bose durch
boses ;«2) diese Lehre hat fur die Buddhisten noch nichts von
ihrer geheimnisvollen Wahrheit verloren. Auch hier wirkt
•das karman3) mit zwingender Naturnotwendigkeit; mit jeder
That ist ihre Vergeltung im kiinftigen Dasein unlosbar ver-
bunden. »Nicht im Luftreich«, sagt das Dhammapada, »nicht
in des Meeres Mitte, nicht wenn du in Bergeshohlen hinab-
•dringst, findest du auf Erden eine Statte, wo du der Frucht
■deiner bosen That entrinnen magst«. Diese Frucht ist auch
fur Buddha eine zwiefache. Sie besteht zunachst in Lohn
im Jenseits, wo den Guten »seine guten Werke, wie die Ver-
wandten den heimkehrenden Freund empfangen«, oder in
Strafe, Hollenqualen in den Reichen, iiber die Konig Yama
herrscht, fur den Bosen,*) dann aber in entsprechender Neu-
verkorperung auf Erden. Darum heisst es: »meine That ist
•der Mutterleib, der mich gebiert.« Das kamma weist der
neugeborenen Seele ihre ganz bestimmte Stelle im Weltge-
triebe an; auch der Korper ist durch das kamma bedingt.
»Nicht, ihr Jiinger, ist dies euer Korper noch der Korper
der Anderen: als die That der Vergangenheit muss dies be-
trachtet werden, die zur Gestaltung gewordene, durch das
1) Oldenberg a. a. O. p. 248 ff. 2) ib. p. 51, Deussen a. a. O. p. 208. 3) Im Pali
rkamma. 4) Oldenberg a. a. O. p. 250.
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Denken verwirklichte, fuhlbar gewordene.« So hat denn der
Mensch die Art seines kiinftigen Daseins vollstandig in seiner
Hand. Wer bei sich denkt: »Wohlan, mochte ich, wenn
mein Leib zerbricht, im Tode der Wiedergeburt teilhaftig
werden in einem machtigen Fiirstengeschlecht,« oder auch
in einer der Gotterklassen, wer diesen Gedanken denkt, bei
diesem Gedanken verweilt, diesen Gedanken nahrt, und,
fiigen wir hinzu, diesem Gedanken nachlebt, dem wird die
gewiinschte Daseinsform zu Teil werden.1)--------Fur die
buddhistische Anschauung aussert sich das kamma unmittelbar
nur in der Regulierung des bewussten Lebens personlicher
Wesen, wie wir eine gleiche Beschrankung auch bei der
Kausalitatsformel sahen. Ueber dieser engeren Beziehung
auf den Umlauf individueller Seelen tritt jene weitere, die
wir in dem Vedanta neben der engeren fanden, in den Hinter-
grund, nach der das karman auch das ganze Universum,
auch den Makrokosmos neben dem Mikrokosmos regelt und
ordnet. Der Buddhismus vernachlassigt ja oft iiber ethischen
Problemen die kosmischen. Aber diese zweite weitere Be-
deutung des karman liegt implicite in der ersten, engeren
beschlossen. Denn die Kraft, die das Leben des Menschen
nach vorgefasstem Plane verlaufen lasst, muss auch die
ausseren Umstande bestimmen konnen, an denen das Menschen-
geschick sich entwickelt; sie kann unmoglich den Gang eines
Daseins festsetzen, ohne zugleich die Umgebung in ihrer
Gewalt zu haben, durch welche Umgebung eine Existenz
erst zu der wird, die sie sein soil. So ist der Mensch nicht
allein Urheber seiner eigenen Lebensform, sondern auch
mittelbar der aller Lebensformen, der ganzen Welt. Und
darum ist, wie wir zeigten, die Welt der Tummelplatz un-
zahliger Uebel, weil der Willen des Menschen, aus dem alle
seine Thaten entspringen, ein unmoralischer, siindhafter
Wille ist.
c) bei Schopenhauer.
Was die indische Philosophic nur mythisch darstellen
konnte, wie namlich die physische Weltordnung auf eine
moralische zuruckgeht, was sie erklaren konnte allein durch
1) Oldenberg a. a. O. p. 267.
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Zuhulfenahme eines neben der Seele bestehenden mora-
lischen Princips, des karman, zu dessen Erfassung wir mehr
des Gefiihles als der Vernunft bediirfen, das hat Schopen-
hauer klar und iiberzeugend dargethan, nicht mythisch, sondern
strengphilosophisch, durch verni.inft.iges, rein abstraktesDenken.
Ein Mythos ist nie die ganze Wahrheit, nur ihr Kleid, das
ihr niemals ganz passen wird. Die mythische Losung eines
Problems Avird niemals fur alle Fragen, die sich dabei auf-
werfen, eine Antwort haben. Was das karman ist und be-
deutet, ist annahernd klar; aber durch welche geheimnisvolle
Kraft es seine Wirksamkeit in Konstituierung eines neuen
Lebens ausiiben kann, wird nicht gesagt. Man scheint dieser
Frage naher getreten zu sein. Wie die apara, vidya des
Vedanta sie zu losen gesucht hat, wurde oben angedeutet:
durch die Annahme eines personlichen Gottes, der iiber die
wandernde Seele ihr neues Schicksal verhangt, indem er sich
dabei nach dem moralischen Verdienst des vergangenen
Lebens richtet. Doch da die Gestalt eines personlichen
Gottes, als auf dem Boden der avidya erwachsen, nicht im
hochsten Sinne real ist, so bleibt jene Frage offen, die
Schwierigkeit der Erklarung ungehoben.
Hier nun springt die VortrefHichkeit des Schopenhauer-
schen Systemes unmittelbar in die Augen, das insofern aus
einem Guss erscheint, als Metaphysik und Ethik in unauf-
loslicher Verbindung stehen. Denn, ist die in der Natur
treibende und wirkende Kraft identisch mit dem Willen in
uns, so tritt wirklich die moralische Weltordnung in direkten
Zusammenhang mit dem das Phanomen der Welt her-
vorbringenden Princip. Der Wille, der das Ding-an-sich aller
Erscheinungen ist, enthalt zu gleicher Zeit ihren Charakter,
so dass Dasein und Beschaffenheit zusammenfallen. Der
Wille ist nicht nur ein konstitutives, sondern auch ein ethi-
sches Princip; er hat neben seiner Bedeutung als hochste
Realitat auch eine moralische Bedeutung; denn jcder Wille
ist ein Wille nach etwas, ein ganz bestimmtes Streben, dessen
Richtung und Ziel eben den moralischen Wert normieren.
Alle Wesen sind demnach Aeusserungen einer ausserzeit-
lichen Willensentscheidung; sie verdankcn dieser nicht allein
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ihre existentia, sondern auch ihre essentia. Sie sind nicht
nur, sie sind auch eben so, weil der Wille sie so und nicht
anders wollte. Die physische und die moralische Weltord-
nung bedingen sich wechselseitig.
Im tiefsten Grunde aber ist der Wille ein verderbter,
ein unmoralischer. Daher fallt alles Leiden seinem siind-
haften Streben zur Last. Alle Qualen der Welt, Schuld
und Uebel, sind Willensausserungen, sind Darstellungen
dessen, was der Wille will. Was immer den Menschen
treffen mag, hat er selbst heraufbeschworen; er ist der
Schopfer seiner eigenen Individualitat. Seine Schuld, die er
im Leben abzubiissen hat, ist seine ausserzeitliche Willens-
richtung, die sich fur das Leben entschied. Die grosste
Schuld des Menschen ist, dass er geboren ward. Und ein-
mal im Leben, wird er das Leben durch immer neues
Streben, durch immer neue Thaten bejahen; die bestandige
Willensbejahung ist sein karman, das ihn voranpeitscht durch
Siinde und Qual zahlloser Existenzen. Was die Inder karman
nennen, deckt sich im wesentlichen mit dem Begriff der
»ewigen Gerechtigkeit« bei Schopenhauer; nach beiden
Lehren ist das malum poenae unloslich mit dem malum
culpae verbunden; was sie beide unterscheidet, ist die ver-
schiedene Ansicht iiber den Zeitpunkt des Eintritts der
Siihne, den die indische Philosophic erst in ein kommendes
Dasein verlegt, Schopenhauer mit dem Zeitpunkt der Schuld
direkt zusammenfallen lasst.
Die Welt ist der Spiegel des Willens; nur darum ist
die Welt jenes grauenerregende Pandamonium von Schuld
und Uebel, weil der Wille, der sich in ihr ausspricht, ein
verkehrter und unseliger ist. Die natiirliche Weltbeschaffenheit
wurzelt also in einer moralischen — eben wie in der in-
dischen Philosophic Aber es ist zu merken:
<*) Die Verbindung von natiirlicher und moralischer
Weltordnung ist in dem Vedanta eine einseitige, bei Schopen-
hauer eine doppelte. Der Vedanta lasst allein dem karman
gemass die Welt sich gestalten, begriindet also die natiir-
liche Weltordnung moralisch, indess Schopenhauer daneben
auch noch die moralische Weltordnung natlirlich erklaren
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kann, eben dadurch, dass bei ihm das Princip aller Moral
aiich Princip aller Natur und umgekehrt ist. Was irgend
besteht in der Natur, hat irgend eine Beziehung zur Moral,
einen Charakter, und was irgend einen Charakter hat, muss
thatsachlich in der natiirlichen Weltordnung gegebeh sein.
— Auch der Buddhismus kennt nur die einseitige Begriiridung
der Natur durch die ethische Veranlagung.
p) Nach dem Vedanta entscheidet iiber das Geschick
der Welt, wie gezeigt, das karman. Jedes Handeln beruht
aber nach ihm auf einer falschen Meinung, der avidya; nur
durch diese erscheint die mit upadhi's falschlich behaftete
Seele sich selbst als kartar und bhoktar, das heisst handelnd
und geniessend. In Wahrheit ist die Seele das ewige brahman
selbst, das weder handelt noch geniesst. Dem Ding-an-sich
ist von Natur aus das Thatersein absolut nicht eigen, und
darurri fuhrt die moralische Bedingtheit der Welt nicht bis
in das Ding-an-sich und kann es nicht, weil dieses ttur Er-
kenntnis ist. Die Urschuld wlirde demnach in eine falsche
Erkenntnis zii setzen sein, aber diese kann, rein als solche
genommen, nie eine Schuld involvieren. — Bei Schopen-
hauer hingegen enthalt das Ding-an-sich selbst die Vor-
bedingung jeder That, das Wollen und Streben, dessen Ob-
jektivation die That unmittelbar ist. Die Urschuld ist daher
ein falsches Wollen. Hier fallt die moralische Verantwort-
lichkeit direkt auf das Ding-an-sich, wahrend sie in dem
Vedanta so wenig an diesem haftet, dass sie sogar einer
Potenz zur Last liegt, die im Grunde gar nicht ist. — Der
Buddhismus kann leider riicksichtlich dieser Frage nicht in
Betracht kommen. Zwar ist es auch bei ihm die innerste
Natur des Menschen, aus dem die That und das karman
sich ergiebt; aber er hat weder wie Schopenhauer den
Willen, noch wie der Vedanta die Erkenntnis zum Ding-
an-sich hypostasiert.
2. Die Lehre von der Seelenwanderung.
Es wurde schon erwahnt, dass die Lehre von der
Seelenwanderung mit der vom karman in enge Verbindung
tritt. Das karman ist sowohl das regulative, als auch das
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motorische Princip der Wanderung. Keine That, und sei
sie die moralisch beste, kann der Wanderung der Seele
Einhalt thun und zur Erlosung fiihren; denn weil jede That
endlich ist, kann auch ihr Lohn nur ein endlicher sein,
wahrend die moksha oder Erlosung der unendlich-ewige
Lohn ist, nicht einer That, sondern der intuitiven Erkenntnis,
des samyag-darcanam.1) So kommt auch durch wahrhaft
gute Thaten der samsara nicht zum Stillstand. Das karman
setzt also den Umlauf der Seele in Gang, erhalt ihn und
weist ihm Richtung und Ziel an. Beide Lehren, die von
der Seelenwanderung und die vom karman, sind mythische
Einkleidungen fur dieselbe Wahrheit, fur die Wahrheit der
»ewigen Gerechtigkeit«.
Als eine solche mythische Einkleidung behalt aber die
Seelenwanderunglehre nach Schopenhauer einen grossen
Wert. Er sucht ihre Vortrefflichkeit und relative Wahrheit
e consensu, non omnium, sed multarum gentium zu erweisen.
»Wir finden namlich«, sagt er,2) »die Lehre von der Metem-
psychose, aus den uraltesten und edelsten Zeiten desMenschen-
geschlechts stammend, stets auf der Erde verbreitet, als den
Glauben der grossen Majoritat des Menschengeschlechts, ja,
eigentlich als Lehre aller Religionen, mit Ausnahme der
jiidischen und der zwei von dieser ausgegangenen; am subtilsten
jedoch und der Wahrheit am nachsten kommend--------im
Buddhaismus.« Er erwahnt ihre Verbreitung unter Aegyptern
und Griechen (bei den Orphikern, Pythagoras, Platon), unter
den nordischen Volkern (wo sie in der Vflluspa auftritt)
unter den Druiden Galliens, den Indianern Amerikas, den
Negern Afrikas, den Papuas Australiens. Er fiihrt an, dass
auch viele ketzerische Sekten des Urchristentums vom Glauben
an Metempsychose durchdrungen waren; selbst Bibelstellen
erhalten »einen verniinftigen Sinn nur dann, wenn man sie
als unter Voraussetzung des Dogmas der Metempsychose
gesprochen versteht,« von denen eine, Math. 16, 13—-15,
angefiihrt wird.3) Auch moderne Denker haben sich zu
1) >»universelle Erkenntnis.« 2) W. a. W. u. V. II p. 577. 3) Andere solcher Stellen
verzeichnet P. Deussen: Elemente der Metaphysik p. 198. Vergl. iibrigens das Schriftchen
von Hiibbe-Schleiden: »Karma im Christentum.* Braunschweig bei C. A. S.chwetschke & Sohn 94.
10"
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diesem Dogma mehr oder weniger bekannt, so Lichtenberg,
Lessing, Hume. Daher gilt fur unseren Philosopher! der
Seelenwanderungglaube »als die natiirliche Ueberzeugung
des Menschen, sobald er, unbefangen, irgend nachdenkt,«
als ein Dogma, das jedem, der zum ersten Mai davon hort,
sogleich einleuchtet. Ihm ist dieser Mythus ein Postulat der
praktischen Vernunft, dessen ungemein hoher Wert darin
liegt, dass er ein Surrogat jener grossen, aber dem gemeinen
Verstand unfassbaren Wahrheit ist, der Wahrheit von der
ewigen Gerechtigkeit, nach der alle Leiden, die einMensch iiber
Mensch oder Tier verhangt, von ihm selbst erlitten werden
mtissen, nach der das malum culpae mit dem malum poenae
unzertrennlich verbunden ist. Der Qualer und der Gequalte sind
eines — das zu erkennen, wird ganzliche Erhebung iiber die
Individualitat und das Princip ihrer Moglichkeit erfordert,
welcher Forderung die grosse Masse nicht wird nachkommen
konnen. Deshalb wird die Wahrheit, freilich zum Schaden
ihres pragnanten Ausdrucks, in einen Mythus gekleidet, und
»nie hat ein Mythos und nie wird einer sich der so Wenigen
zuganglichen, philosophischen Wahrheit enger anschliessen,
als diese uralte Lehre des edelsten und altesten Volkes, bei
welchem sie, so entartet es auch jetzt in vielen Stiicken ist,
doch noch als allgemeiner Volksglaube herrscht und auf das
Leben entschiedenen Einfluss hat, heute so gut, wie vor vier
Jahrtausenden.*1) Aus Europa hat zwar das Judentum diesen
trostlichen Urglauben der Menschheit verdrangt; aber »es
steht noch dahin auf wie lange.«8)
Was nun diese »uralte Lehre« selbst betrifft, so hat
Schopenhauer richtig erkannt, dass sie im Brahmanismus in
anderer Fassung auftritt als bei den Buddhisten.8) Die erstere
nennt er Metempsychose, die letztere Palingenesie, welche
Ausdriicke wir beibehalten.4)
Die brahmanisch-vedantistische Metempsychose besteht in
einem Uebergang der gesamten Seele mit alien ihren Kraften
1) W. a. W. u. V. I p. 421. 2) W. a. W. u. V. II p. 580. 3) Man ist ubrigens jetzt
geneigt, die erste Conception der Metempsychosenlehre der vorarischen Bevolkerung Indicns
zuztischreiben. Hardy: Der Buddhismus, Anm, 42 fzu p, 16); Oldenberg a. a. Ot lasst die
Frage unentschieden; p. 46 Anm. 1. 4) W. a, W. u. V. II p. 576. Parerga II p. 293.
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und Funktionen aus einem sterbenden Leib in einen anderen,
ungeborenen, zu neuer Geburt. Dass die Seele, der jiva-
•atman, auf seiner Wanderung von dem vollstandigen Kom-
plex der Geistes- und Willensorgane begleitet wird, haben
wir in § 11 gesehen. Beim Tode gehen die zehn indriya's,
fiinf Erkenntnis- und ftinf Thatorgane, in ihr Zentralorgan,
■das manas, ein, dieses mit den indriya's in den mukhya
prana, den unbewussten Willen, dieser in die mit der »mo-
ralischen Bestimmtheit« behaftete Seele, endlich diese in den
»feinen Leib«, den sukshmam cariram.1) Der »grobe Leib«
wird zu Staub, aber was immer die Seele als ein Geistiges,
Organisches von dem unorganischen Leib trennt, vereinigt
sich im Herzen, um vereinigt auf einer der 101 Hauptadern
.auszuziehen und die Wanderung anzutreten, entweder zum
Monde iiber verschiedene Stationen, oder in die Holle.
Wenn dann die zur Erdenwelt zuriickkehrende Seele durch
die Speise in den Leib des Vaters eingegangen ist, tritt sie
bei der Zeugung mittelst des Spermas in den ihren Werken
entsprechenden Mutterschoss und bildet sich hier, aus dem
Blute der Mutter, den neuen »groben Leib«, wobei sich die
psychischen Organe, die auf der Wanderung »zusammenge-
rollt« waren, aufs Neue entfalten. Der Tod ist also, in
der Sprache des von Schopenhauer so eifrig bekampften
Kartesianischen Spiritualismus zu reden, die Trennung von
Geist und Korper, die Geburt eine neue Verbindung beider,
wobei nur der Korper ein anderer, der Geist in seiner To-
talitat unverandert geblieben ist. Diese Auffassung muss
gleichfalls von Schopenhauer bekampft und verurteilt werden.
Der Buddhismus aber, sagt Schopenhauer, lehrt »eine viel
schwerer fassliche Palingenesie, die in grosser Uebereinstim-
mung steht mit meiner Lehre vom metaphysischen Bestande
•des Willens, bei der bios physischen Beschaffenheit und
dieser entsprechenden Verganglichkeit des Intellekts.«2) Aber
nicht, wie er meint, allein der esoterische Buddhismus. Eine
Scheidung, wie sie von P. Deussen fur den Vedanta nach-
gewiesen worden ist, eine Scheidung zwischen exoterischer
und esoterischer Lehre hat nicht statt in Buddhas Religion,
1) Deussen a. a. O. p. 396 ff. 2) Parerga II p. 293.
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wenigstens nicht in ihrer altesten fiir uns erreichbaren Form.1)
Gegen die Annahme einer solchen Scheidung hat noch un-
langst Max Miiller seine gewichtige Stimme erhoben.2) Kurz
vor seinem Tode spricht der Erhabene zu seinem Liebling
Ananda: »Ich habe die Lehre verkiindet, Ananda, und habe
keinen Unterschied gemacht zwischen drinnen und draussen.«8)
Es giebt keinen esoterischen Buddhismus, wie Schopenhauer
falschlich glaubt,4) und die Lehre der Palingenesie gilt flir
alle, die sich bekennen und »ihre Zuflucht nehmen zu Buddha,
der Lehre und der Gemeinde.« Aber was wichtiger ist, auch
der Begriff der Palingenesie trifft so, wie ihn Schopenhauer
fasst, mit der buddhistischen Seelenwanderunglehre nur sehr
unvollkommen zusammen. Schopenhauer erklart die Palin-
genesie »als Zersetzung und Neubildung des Individui, indem
allein der Wille beharrt und, die Gestalt eines neuen Wesens
annehmend, einen neuen Intellekt erhalt.« Nun hat es
zwar mit der Zersetzung des Individuums seine Richtigkeit.
Dieses ist, wie wir wissen, »zusammengebiindelt« aus den
fiinf khandha's: Korperlichkeit, Empfindungen, Vorstellungen,
Gestaltungen, Erkennen. Die Vereinigung lost sich im Tode,
und vier khandhas, und darunter auch solche geistiger Art,,
werden vernichtet. Aber was iibrig bleibt, ist nicht Wille,
und was zu Grunde geht, ist nicht der gesamte Intellekt*
Von Willen (Durst) ist iiberhaupt bei den khandha's nicht die
Rede, und jene Kategorie, die wir vielleicht als ein Streben
und Wiinschen ansprechen diirfen, die Gestaltungen sind
gleich der rohen Korperlichkeit verganglich. Was hingegen
dem Tode entgeht, ist grade das Erkennen, vififlana. Dieses
entflieht dem sterbenden Leibe, dieses wandert zu Himmels-
lust oder Hollenqual, dieses senkt sich zu aeuer Geburt in
einen neuen Mutterschoss, in dem sich die neuen Qualitaten
der Vorstellungen, Empfindungen, Gestaltungen, sowie der
neue Leib bilden. So lehrt der Buddhismus von seiner
1) Hardy: Buddhismus p. 49. 2) >Esoterischer Buddhismus« in »Die Zukunft«, 3ier-
ausgeg. von M. Harden, Nummer vom 21. April 1894. 3) Oldenberg a. a. O. p. 214. 4) and
wie <rr Philipp Mainiiinder; cf. » Philosophic der ErIosung«, Bd. II (2. Aufl. 1894) 4. Essay:
Der fiuddhaistnus p. 71. Die Geheimlehre des Buddhismus beschrankt sich allein auf den
Vinaya, der nur die Ordensregeln enthalt und der keinem Laien, selbst nicht den Novizen^
mitgeteilt iverden dttrfi aber nicht auf den Dhamma, die eigentlichen Lehren des Buddhismus.
Oldenberg p. 398 und Anm.
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— 151 —
Palingenesie grade das Gegenteil, als was Schopenhauer davon
glaubt. Aber sollte das Bild, das sich Schopenhauer ept-
worfen hat, nicht mit seinem Objekt wenigstens eine gewisse
Aehnlichkeit erhalten, wenn wir dieses vielleicht in eine
andere Beleuchtung riicken? Da das Erkennen ein blosses
sankh&ra ist, besitzt es nicht jene feste Realitat, die das
Band der Existenzen doch haben sollte.1) Es wandert nicht
eigentlich das Erkennen; — denn dieses hat ja absohit keine
hohere metaphysische Geltung selbst iiber den nur immate-
rjellen Leib hinaus — sondern das karman, die Schuld, also
eine moralische Potenz. Und da die Schuld von einem
Willen nicht zu trennen ist, wandert in ihr, potentiell, die
ethische Veranlagung des Individuums mit. Parum heisst
es auch: »Dann (namlich auf der Wanderung), sage ich,
hat (das Dasein der Wesen) den Durst als das Substrat, an
welchem es haftet; denn der Durst, o Vaccha, ist zu der
Zeit sein (des wandernden Wesens) Haften.«2) Hier wird
also ausdrticklich der Wille als die den Tod iiberdauernde
Kraft genannt. Wir diirfen aber hierin nicht mehr erblicken
als eine inkonsequente Abweichung von der allgemein giiltigen
Fassung der Lehre, wie wir sie oben gegeben haben. Darum
deckt sich, Schopenhauers eigenem Zeugnis zuwider, die
Seelenwanderunglehre des Buddhismus nicht durchweg mijt
der Form, in der er seinerseits eine Wanderung des kopsti-
tutiven Princips aus einem Individuum in das andere, nicht
als blossen Mythus, sondern als positiven Bestandteil seiner
Metaphysik, lehrt.
Der Tod ist eine Zersetzung der Indiyidualitat in Wjljjen
und Intellekt, von welchen Bestandteilen der Intellekt als
physisch, der Erscheinung angehorig, dem Korper in dj,e
Vernichtung folgt, der Wille hingegen, als das metaphysische
Ding-an-sich selbst, unzerstorbar bleibt und Keim und Kern
eines ganz neuen individuellen Daseins wjrd, indem er sich
zu erneuter Erdenlaufbahn mit einem neuen InteHekt versiehj,
was unzahlige Male hintereinander sich ereignet, so lange
namhch, bis das karman sich ausgelebt hat, der Wjlle sich
nicht mehr bejaht. Das Primare lasst Schopenhauer wie
J) Oldon^erg a. a. O. p. £80, Anm. 1. ft ib. ,f, 255 mit Anm. J.
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der Vedanta vom Vater, das Sekundare von der Mutter aus-
gehen, nur dass beide sowohl unter dem Primaren als dem
Sekundaren etwas anderes verstehen.
Wir haben nach alle dem folgende drei Stufen in der
Entwicklung der Wanderunglehre zu unterscheiden:
a)   die Metempsychose des Vedanta. Eine Trennung der
geistig-moralischen Krafte des Menschen findet nicht statt;
es wandert die ganze »Seele«, wobei das ethische Moment
durch den karma-acraya vertreten ist.
b)   die Palingenesie des Buddhismus. Die Scheidung
zwischen geistiger und sittlicher Potenz ist nicht rein durch-
gefiihrt. Es wandert auch hier im allgemeinen das Geistige;
doch tritt schon der Wille mehr und mehr als Bindeglied
der Existenzen in den Vordergrund.
c)   die Palingenesie Schopenhauers. Die Scheidung ist
vollstandig vollzogen: der Wille wandert, der Intellekt stirbt.
Ihren wahren Wert, ihre eigentliche Bedeutung erhalt
die Palingenesie fur Schopenhauer freilich in einem anderen
Zusammenhang der Gedanken, als den wir hier verfolgen,
namlich bei Betrachtung der Welt als eines Heilplanes.
Soil die durchgangige moralische Bedingtheit der Welt in
das rechte Licht gestellt werden, so tritt an die Stelle der
Wanderunglehre das Dogma von der »ewigen Gerechtigkeit.«
Denn bei Annahme einer Palingenesie steht Schopenhauer,
um einen Terminus des Vedanta zu gebrauchen, auf dem
»Standpunkt des Welttreibens,« vyavahira-avastha. Nur wer
auf diesem fusst, glaubt, wie Cankara richtig ausfiihrt, eine
Vielheit gesonderter Individualitaten zu erblicken, die ein-
ander in der Zeit succedieren; die Vorstellung einer Palin-
genesie und Metempsychose ist auch nach Schopenhauer nicht
ohne Zeitbegriffe durchfiihrbar. Auf dem »Standpunkt der
hochsten Realitat« aber, paramartha-avastha, auf dem man
vollkommen von dem principium individuationis abstrahirt,
giebt es weder Raum noch Zeit noch Individualitaten, nur
die unmittelbare Einheit des Dinges-an-sich, ob dieses nun
brahman oder Willen genannt wird. Hier lasst der Vedanta
seine Metempsychose, Schopenhauer seine Palingenesie fallen.
Die Metempsychose verlegt, weil an die Form der Zeit
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gebunden, in die Zukunft, was immer und ewig jetzt ist.
»Der moralische Sinn der Metempsychose--------ist nicht
bloss, dass wir jedes Unrecht, welches wir veriiben, in einer
folgenden .Wiedergeburt abzubiissen haben; sondern auch,
dass wir jedes Unrecht, welches uns widerfahrt, ansehen
miissen als wohlverdient, durch unsere Missethaten in einem
friiheren Dasein.*1) Seine Quintessenz ist also der Begriff
der ewigen Gerechtigkeit, den wir jetzt in der Kiirze ent-
wickeln wollen.
Dem im principium individuationis befangenen Verstande
wird freilich die ewige Gerechtigkeit, die das ganze Welt-
treiben reguliert, nicht sichtbar. Er sieht den einen unter
der niederdriickenden Last anscheinend unverdienter Uebel
achzen, den anderen, den Bosewicht, dessen Schandthaten
nach Suhne schreien, unangefochten durch die Welt und aus
der Welt gehen. Da wird die Vergeltung ein Postulat der
praktischen Vernunft. Die Forderung einer Vergeltung ist
so stark, dass der Kantische Gottesbeweis daraus die That-
sache einer vergeltenden Macht ableitet, die im Jenseits
belohnt oder bestraft. Der Inder verlegt die Suhne in ein
kiinftiges Erdendasein, um dem Konflikt mit der Erfahrung
auszuweichen. Aber dem Blick, der hinter den mannigfachen
Hiillen der Erscheinung den einen Willen zu entdecken
vermag, dem intuitiven Blick, der die Einheit und Identitat
aller Wesen erkennt, enthiillt sich die ewige Gerechtigkeit.
Die Verschiedenheit der Individualist, nach der derjenige,
der Leiden verhangt, und der, der Leiden dulden muss,
grundandere Wesen sind, ist nur Phanomen und trifft nicht
den in alien identischen Willen, vielmehr: der Qualer und
der Gequalte sind unmittelbar Eines. In sein eigenes Fleisch
schlagt der Wille seine gierigen Zahne; sich selbst verletzt
er nur; denn ausser ihm existiert Nichts. Nur in der Er-
scheinung sind Qualer und Gequalter verschieden, aber die
Erscheinung ist nichtig, Trug der maya. Wie aber der
Qualer im Irrtum ist, wenn er sich nicht der Qual teilhaft
glaubt, so der Gequalte, wenn er sich der Schuld entnommen
meint. Denn alles Bose, das auf der Welt veriibt wird oder
1) Parerga II 9 189, p. 430. W. a. W. u. \. I p. 420. W. a. W. u. V. I § 63 (p. 414).
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ward, fliesst aus jenem Willen, der auch des Gequalten
Wesen ausmacht. So lange der Mensch diesen Willen
festhalt, ihn in Thaten bejaht, so lange wird ihn jede Qual
treffen, die auf Erden moglich ist, so lange muss er alle
Schuld auf sich nehmen, die je begangen werden kann.
Das ist der tiefe Sinn der ewigen Gerechtigkeit, die absieht
von der triiglichen Verschiedenheit der Individuen und un-
mittelbar auf das Ding-an-sich zuriickgeht. Sie lehrt, wie
mit dem Uebel der Schuld das Uebel der Strafe unzertrennlich
verbunden ist, ohne Irrtum, unfehlbar, fest und sicher. Sie
ist der Ausdruck, der vollkommenste Ausdruck, frei von
allem mythischen Beiwerk, der Thatsache der moralischen
Bedingtheit der Welt. »K6nnte man alien Jammer der Welt
in eine Wagschale legen, und alle Schuld der Welt in die
andere, so wiirde gewiss die Zunge einstehen.« Fiir die Leiden
ist die Rechtfertigung die, dass der Wille auch auf diese
Erscheinung sich bejaht, und diese Bejahung ist gerechtfertigt
und ausgeglichen dadurch, dass der Wille die Leiden tragt.
Die Bejahung des Willens zum Leben ist die Urschuld, die
durch Leiden und Tod abgetragen werden muss, und bei
der Zeugung wurde sie kontrahiert.
Die Seelenwanderunglehre der indischen Philosophic
enthalt den BegrifF einer zeitlichen Gerechtigkeit; sie kann
nur vermittelst der Zeit die schlimme That mit der schlim-
men Folge ausgleichen: sie ist Vergeltung im strengen Wort-
sinn. Die »ewige Gerechtigkeit« Schopenhauers ist keine
vergeltende, sie hat keinerlei Bezug auf die Zukunft, sondern
ist immer, in jedem Augenblick mit ihrem unbestochenen
Richterspruch da: ihr Wesen, wie das des Willens selbst,
ist ewige Gegenwart. Strafe und Vergehen, die in der indi-
schen Philosophic getrennt sind, fallen bei Schopenhauer in
Eines. Aber abgesehen von diesem Unterschied besagen
beide Lehren dasselbe: dass jedes Menschenschicksal ein
nach Lust und Qual genau normiertes ist, dass die aussere,
physische Weltordnung auf einer inneren, moralischen ak»
ihrer Basis beruht.
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§ 17. Die Willensfpeiheit.
Das Schicksal des Menschen ist gemass der Lehre vom
karman abhangig von seiner That. Auf die That haben wir
also fernerhin unser Augenmerk zu richten. Steht es im
Belieben des Einzelnen, Thaten zu thun, wie es ihm gut-
diinkt? Oder sind diese notwendige Folgen aus dem Zu-
sammentrefFen verschiedener Faktoren, als welche natiirlich
nur der Wille und die Motive in Frage kommen? Mit an-
deren Worten: ist der Wille frei?
Buddha scheint diese Frage bejaht zu haben. Denn fur
ihn ist die Lehre desjenigen indischen Philosophen, der Ver-
treter des Determinismus ist, namlich des vorbuddha'schen
Dialektikers und Sophisten Makkhali Gosala, eben das unter
alien indischen Systemen, was ein harenes Gewand unter
alien gewebten Gewandern ist, namlich die schlechteste.1}
Bestimmend war wohl hierbei fiir ihn die thatsachliche Mog-
lichkeit einer freien Selbstvernichtung des Willens, in der
Ertotung des »Durstes«, wahrend sein System eigentlich die
Unfreiheit des Willens verlangt. Die Kausalitat beherrscht
ja alle sankhara, also auch die Thaten. »Wenn Dies ist, ist
auch Jenes; wenn Dies entsteht, entsteht auch Jenes; wenn Dies
nicht ist, ist auch Jenes nicht; wenn Dies vergeht, vergehtauch
Jenes.« Die Thaten entspringen also mit Notwendigkeit dem
Willen, dem Durst nach Liisten, nach Werden, nach Macht.
Und dieser selbst ist eine unumgangliche Folge des »Nicht-
wissens.«
Der Vedanta dagegen lehrt in der That, dass jede Hand-
lung mit Notwendigkeit aus dem Charakter des Menschen
hervorgeht, dass der Mensch durch sein eigenstes Wesen ge-
zwungen ist, so und nicht anders zu handeln. In der jje-
weiligen sittlichen Veranlagung hat die That ihren Ursprung;
nur wer »guten Willen« hat, kann gute Thaten thun.2) »Je
nachdem sein (des Menschen) Wille ist, darnach thut er das
Werk.w3) Das Werk ist also durch den Willen bestimnat;
nur dieses Werk kann aus diesem Willen hervorgehen, oder
umgekehrt, der Wille kann nur dieses Werk vollbringen; er
ist unfrei. — Der Charakter wird aufgefasst als eine Kraft,.
1) Oldenberg a. a. O. p. 71, 188. 2) Deusscn a. a. O. p. 163. 3) ib. p. 208.
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^akti, indem die Seele als »verbunden mit Fehlern wie Liebe
and Hass« erscheint.1) Diese Kraft, die, was bemerkens-
wert ist, fur den jedesmaligen Lebenslauf unveranderlich die-
selbe bleibt, reagiert auf die nimitta's, die Motive, und bringt
so die Handlungen aus sich hervor. Die Handlungen sind
folglich durchaus durch die beiden Korrelata: cakti und
nimitta's, bestimmt, so strenge bestimmt, wie die Art der
Pflanze durch die Qualitat des Samens, aus dem sie auf-
schiesst.2) — —■ Dann aber wird die Unfreiheit des Willens
auf theologische Weise begriindet, indem die Thaten als von
Gott abhangig gedacht werden, was wohl angeht, da beide
Begriffe, Gott und That, nur auf dem Boden der apara vidya,
des »niederen Wissens« gelten. Dem gemass heisst es:
»denn er allein lasst das bose Werk thun den, welchen er
abwarts fiihren will.«3) Sind aber die Thaten gebunden, so
kann der Wille nicht frei sein. Gott macht eben nach An-
schauung des Vedanta den Willen eben so wollen, dass aus
ihm diese oder jene vorbestimmte That hervorgeht. Gott
selbst aber handelt bei solcher Aufbiirdung guter oder
schlechter Werke nicht frei; denn er richtet sich dabei nach
der von der Seele in ihrem friiheren Leben »vollbrachten
Anstrengung im Guten und B6sen.« Der Lebenslauf eines
Menschen im kommenden Dasein, die kiinftige Summe
aller seiner Thaten und Leiden muss von Gott pradestiniert
werden genau dem Einfiuss gemass, den der friihere
Lebenslauf als Motiv auf Gottes Gerechtigkeit als seinen
Charakter austibt. So lehrt auch Spinoza: »Die Dinge
konnten auf keine andere Weise und in keiner anderen
Ordnung von Gott hervorgebracht werden, als sie hervor-
gebracht sind.«4) Der gottliche Wille selbst ist also nach
dem Vedanta nicht frei; auf die Thaten des menschlichen
Willens wirkt er, wie Cankara sagt, gleich dem Regen, der
da macht, dass der »nach Qualitat verschiedene Same als
Busch oder Strauch, als Reis oder Gerste wachst«. Er ist,
wie Schopenhauer sagen wiirde, Gelegenheitursache fur die
im Samen schlummernde Kraft; er bringt die dem Samen
1) ib. p. 347. 2) ib. p. 301. 3) ib. p. 348. 4) Spinozas Ethik, I. Lehrs. 33. Ausg.
von Kirchmann, p. 37.
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genau entsprechende Pflanze hervor, vermag aber dessen
besondere Qualitat nicht zu andern. — Aus alledem ergiebt
sich, dass der Vedanta sich fiir die Unfreiheit des Willens
entschieden hat.
Das gleiche Problem hat Schopenhauer behandelt,1) und
zwar unter Aufbietung seiner ganzen, so betrachtlichen philo-
sophischen Besonnenheit, seines subtilen Scharfsinns, seiner
uberzeugend-eindringlichen Darstellungweise. Bei ihm er-
scheint das Problem ungleich tiefer gefasst und gelost denn
in der indischen Philosophie. Was Buddha anscheinend nicht:
vermochte, die empirische Gebundenheit des Willens mit
seiner transscendenten Freiheit, die in der spontanen Selbst-
aufhebung sich aussert, zu vereinigen, das hat der Schiiler
Kants, an seinen Meister sich anlehnend, in glanzender Weise
zu Stande gebracht; er hat gezeigt, wie Freiheit und Not-
wendigkeit einander nicht ausschliessen.
Was ist iiberhaupt unter Notwendigkeit zu verstehen?
Der Begriff der Notwendigkeit tragt seinen ganzen Inhalt
vom Satz vom zureichenden Grunde zu Lehen. Sein Ursprungv
seine alleinige Bedeutung liegt im Verhaltnis des Grundes
zur Folge, indem es keine andere Notwendigkeit giebt als.
die der Folge, wenn der Grund gesetzt ist, und es keinen
Grund giebt, der nicht mit Notwendigkeit die Folge herbei-
fiihrte. Also bedeutet Notwendigkeit nichts anderes als
Unausbleiblichkeit der Folge nach gegebenem Grunde.2)
Grund und Folge giebt es aber nur im Reiche der bios
empirischen Realitat; das principium rationis sufficients, das
als aprioristische Erscheinungform unserem Intellekte anhaftet,
hat nur im Gebiete der Objekte Wert und Giiltigkeit; es
beherrscht nur die Vorstellungen, Erscheinungen. Nur diesen
kommt daher Notwendigkeit zu — was hingegen jenseits der
Machtsphare des Satzes vom Grunde liegt, kennt Notwendigkeit
nicht, es ist absolut, schlechthin grundlos und frei. Das ist:
eben das Ding-an-sich; grundlos und frei ist der Wille als
Ding-an-sich. Der Wille ist auch das An-sich des Menschen;
1) Die wichtigsten Stellen, an denen das Problem behandelt wird, sind: Die gekronte
Preisschrift »Ueber die Freiheit des Willens,« in »Die beiden Grundprobleme der^Ethik.ft p. 1»
W. a. W. u. V. I s 55 p. 337. Ethik: »Grundlage der Morak § 10 p7T7Tf|Parerga I p. 132^
II p. 252. 2) Vierf. Wurzel p. 91, 153. W. a. W. u. V. I p. 88, 338 u. 8.
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als solches, als Wille, der im Menschen eine ganz bestimmte
Richtung eingeschlagen hat zum Guten oder Bosen, nennen
wir ihn, den determinirten Willen, den intelligibeln Charakter.
Dieser intelligible Charakter ist das Ding-an-sich, ausser-
zeitlich, unveranderlich, (was, wie oben gesagt, auch der
Vedanta vom Charakter behauptet,)1) grundlos und frei.
Alles, weil er nicht dem Reich der Objekte angehort und
dem daselbst herrschenden Gesetz unterthan ist. Nun aber
hat sich der Wille objektiviert, hat einen Korper als seine
unmittelbare Objektivation geschaffen, ist zum Objekt ge-
worden und verfallt so dem unerbittlichen Anspruche des
Satzes vom Grunde, der Notwendigkeit. Der ausserzeitliche,
einfache und ungeteilte Willensakt, der intelligible Charakter,
zieht sich zeitlich aus einander: er wird zum empirischen
Charakter, der sich zum intelligibeln verhalt wie Erscheinung
zum Ding-an-sich. Der intelligible Charakter oder Wille ist
als Erscheinung unfrei, dem Gesetz der Motivation mit
strengster Notwendigkeit unterworfen. Die einzelnen Thaten,
in denen er sich aussert, sind bis in's Kleinste hinein bedingt,
einmal durch den in ihnen zu Tage tretenden Charaktei,
dann durch die von aussen kommenden Motive, auf die der
Wille unbedingt hin reagieren muss, wenn sie iiberhaupt nur
solche sind, dass sie auf den individuellen Willen Einfluss
haben konnen. Die Motive wirken mit der gleichen Not-
wendigkeit wie nur irgend eine Ursache in der Mechanik;
sie sind wie mechanische Ursachen und Reize lediglich
Pormen derKausalitat; sie sind wie diese lediglich Gelegenheit-
ursachen, das heisst, sie geben Gelegenheit, dass die bestimmte
Willenskraft in die Erscheinung tritt, was aber jedes Mai
geschehen muss, wenn die entsprechende Ursache, fur den
Charakter Motiv genannt, vorhanden ist. An sich ist der
Wille, das Ding-an-sich, grundlos und frei; in die Erscheinung
eingegangen ist er als solche durchaus begriindet und unfrei.
1) Schopenhauer sagt; >Auch die Brahmanen ihrerseits driicken die unveranderliche
Bestimmtheit des angeborenen Charakters mythisch dadurch aus, dass sie sagen, Brahma
habe, bei der Hervorbringung jedes Menschen, sein Thun und sein Leiden, in Schriftzeichen
.auf seinen Schadel gegraben, denen gemass sein Lebenslauf ausfallen miisse. Als diese
Schrift weisen sie die Zacken der Suturen der Schadelknochen nach. Der Inhalt derselben
sei eine Folge seines vorhergegangenen Lebens und desscn Thuns.& Parerga II p. 243.
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Daher sind die einzelnen Thaten zwar streng notwendig, die
einzelne Willensausserung ist immer necessitiert, aber nicht
so das 'gesamte Wollen, die bestimmte Willensrichtung im
allgemeinen; diese ist frei; denn sie ist der intelligible
Charakter. Darum ist der Mensch fur jede einzelne That
verantwortlich, so sehr er auch dazu gezwungen wird, durch
die Motive; denn die That ist Ausfluss seines empirischen
Gharakters, der seinerseits wieder den intelligibeln vollkomrnen
treu darstellt. Das Handeln ist zwar gebunden, aber das
Sein ist frei, das So-Sein; denn es ist ein ausserzeitlicher
Willensakt, der auch ganz anders hatte ausfallen konnen.
Das Dasein iiberhaupt eines Objekts, sowie die Art seines
Daseins, d. h. die Idee, die in ihm sich offenbart, oder mit
anderen Worten, sein Charakter ist unmittelbare Aeusserung
des freien Willens als des Dinges-an-sich. Dementsprechend
konnte also jedes Objekt anders sein oder auch nicht sein —
das ist die Freiheit; nun es aber einmal so ist, diesen
Charakter hat, miissen dessen Aeusserungen dem inneren
Wesen gemass notwendig so ausfallen und nicht anders.
Die Freiheit ist transscendent, die Notwendigkeit empirisch.
Die Freiheit liegt im esse, im Sein und Wesen; die Not-
wendigkeit im operari; denn operari sequitur esse.
Dass von solch tiefsinniger Auffassung des Problemes
der Willensfreiheit der Vedanta keine Ahnung hat, braucht
nicht betont zu werden. Dass im iibrigen die empirische
Unlreiheit des Willens bei ihm in derselben Weise motiviert
wird als wie bei Schopenhauer, springt in die Augen. Hier
wie dort sind es die nimitta's, die den Charakter, der hier
wie dort als unveranderliche Kraft, cakti, aufgefasst wird,
unbedingt zu den entsprechenden Handlungen auslosen.
Auf eines sei noch aufmerksam gemacht. Bei unseren
Handlungen kommt alles auf unsern Charakter an, und dieser
ist uns nach der Meinung Schopenhauers sowohl als des
Vedanta angeboren, so dass Niemand als »moralische Null«
auf die Welt kommt. Dennoch miissen wir zwischen beiden
einen gewichtigen Unterschied konstatieren. Der Charakter
ist bei Schopenhauer das Primare, Urspriingliche; er stammt
von einem friiheren Individuum und hat sich nur zu neuer
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Individuality mit einem anderen Intellekt verbunden; im
letzten Grunde fiihrt er direkt auf das Ding-an-sich zuriick.
Er ist also soweit erklart als eben moglich. Anders in dem
Vedanta. Hier stellt sich der Charakter dar als ein blosses
Adventitium zu der rein erkennenden Seele, und wird zwar
auch die moralische Veranlagung des Menschen als eine
angeborene gelehrt, so werden doch ihre Wurzeln nicht
weiter zuriick verfolgt als bis in das vorhergehende empirische
Dasein mit seinen Werken, die den neuen Charakter bedingen.
Diese bedingenden Werke hatten sich wieder nach dem
damaligen Charakter gerichtet, dieser nach den Werken eines
noch weiter zuriickliegenden Lebens, und so fort ■--------wie
aber die verschiedenen Qualitaten »der Liebe und des Hasses«
sich der Seele haben urspriinglich zugesellen konnen, bleibt
unaufgeklart. —
Schlussbemerkung. Dieser Abschnitt iiber die Welt
des samsara sollte nicht eher abgeschlossen werden, als bis
auch das Verhalten des Menschen im samsara, eben das,,
was Schopenhauer »Bejahung des Willens zum Leben« nennt,
naher dargestellt ware. Doch um Wiederholungen so viel
als moglich zu vermeiden, wollen wir diese Darstellung erst
dann geben, wenn zugleich dargethan wird, wie die Bejahung
durch die Verneinung aufgehoben wird, im §, der von der
Erlosung handelt.
13. I>ie> ~Welt cless niry^na.
§ 18. Charakteristik des nirvana.
Es konnte nicht in der Absicht dieser Arbeit liegen, den
vielfaltigen Verzweigungen nachzugehen, in die sich die drei
in Vergleichung gezogenen Systeme spalten, in jeder Einzel-
heit das Bild wiederzugeben, das uns von der Welt ent-
worfen wird. Unsere Arbeit beschrankt sich darauf, jene
Ziige herauszugreifen, die, bei aller Verschiedenheit im Ein-
zelnen, doch eine thatsachliche Aehnlichkeit im Ganzen auf-
weisen, eine Familienahnlichkeit, die alle drei Systeme er-
weist als Tochter derselben Mutter, des Ueberdrusses am
Leben, des Verlangens nach Erlosung. — In den vorher-
-ocr page 163-
— 161 —
gehenden §§ ist diese Aehnlichkeit des Naheren aufgezeigt
worden, so weit die empirische Welt, ihr Wesen und was
in ihr zur Erscheinung gelangt, in Frage kommt. Dieser
Abschnitt beschaftigt sich mit der Moglichkeit, sich von
dieser empirischen Welt zu befreien, mit der Erlosung, moksha.
Ehe wir aber die Art und Weise betrachten, mit der die
moksha sich vollzieht, lenken wir unsern Blick auf das Ziel
der moksha, auf das selige Land, in das die Erlosung fiihrt.
Wir untersuchen das Wesen des nirvana.
A priori ist klar, dass dieses nirvana das kontradiktori-
sche Gegenteil des samsara sein muss, dass es jener Ort
ist, auf den auch kein Schatten der leidenvollen Vergang-
lichkeit fallen kann. Demzufolge definiert der Commentar
Cankaras das nirvana also: »Jenes im absoluten Sinne reale,
allerhochste, ewige, wie der Aether alldurchdringende, aller Ver-
anderlichkeit entruckte, allgenugsame, ungeteilte, seiner Natur
nach sich selbst als Licht dienende (Sein), in welchem kein
Gutes und kein Boses, keine Wirkung, keine Vergangenheit,
Gegenwart oder Zukunft statt hat, dieses unkorperliche (Sein)
heisst die Erlosung.*1) Nirvana ist eben das brahman selbst,
das Ding-an-sich, das aller Kausalitat entriickt ist. In brah-
man lost sich der Erloste auf; er kehrt zuriick in den Ur-
grund aller Dinge, den Mutterschoss aller Wesen, in das
hochst reale Sein, die absolute Geistigkeit, die vollkommenste
Wonne. Nirvana ist das param brahma, das unterschiedlose
»hohere brahman« und schliesst in sich die grosste Gewiss-
heit ein, die es iiberhaupt giebt. Nirvana ist das absolute
Sein. — Anders steht die Sache im Buddhismus. Der
Buddhismus weiss nichts von einem hinter der triigenden
Erscheinungswelt stehenden Ding-an-sich, von einem Urgrund,
in den die Seele zuriickfallen konnte. Er kennt kein abso-
lutes Sein, weder auf Erden noch in alien Himmeln; wessen
Schoss soil die erloste Seele aufnehmen? Die Seele, die da
Kummer und Trubsal durchirrt hat, ist ja selbst nichts Reales,
nur ein Haufen wandelbarer sankharas. Die Erlosung muss
konsequenter Weise in's Nichts hiniiberleiten.2) Freilich horen
wir die Buddhisten reden: »Es giebt, ihr Jiinger, ein Unge-
1) Deussen a. a. O. p. 433. 2) Oldenberg a. a. O. p. 295 f.
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borenes, Ungewordenes. nicht Gemachtes, nicht Gestaltetes,«
eine Statte, »wo weder Kommen noch Gehen noch Stehen,
weder Sterben noch Geburt/*1) so meinen wir wohl im
buddhistischen das nirvana des Vedanta oder des Brahma-
nismus iiberhaupt erblicken zu diirfen. Mit Unrecht. Jene
Worte sollen nur die Moglichkeit der Erlosung besagen,
feststellen, dass das Kausalitatsgesetz ein Ende erreichen
kann, die Gewissheit erwecken, dass der Glaubige dem Wer-
den und Gestalten, dem Kommen und Gehen, dem Geboren-
werden und Sterben entrinnen wird. Da aber das Kausali-
tatsgesetz alles nur denkbare Sein beherrscht, so fallt die
Seele, die sich seinem Anspruch entzogen hat, unbedingt
aus dem Sein in das Nichts. — Ebenso bei Schopenhauer.
Obgleich er zwar im Gegensatz zum Buddhismus ein Ding-
an-sich konstatiert, so ist ihm doch nicht, wie dem Vedanta,
das Ding-an-sich der Ort des nirvana. Denn Schuld und
Leiden sind unmittelbar Aeusserungen des AU-Willens, der
daher selbst aufgehoben werden muss und dann nichts an-
deres zuriicklassen kann als das absolute Nichts. Mit einer
blossen Riickkehr zum Urgrund alles Daseins kann bei
Schopenhauer nicht wie in dem Vedanta die Erlosung ge-
wonnen werden, weil er unselig und unmoralisch ist. Das
nirvana kann mit ihm nichts zu thun haben, und da der
Wille Alles ist, muss nirvana Nichts sein. So sehen wir
einen tiefen Abgrund klaffen zwischen der Meinung und Lehre
des Vedanta einerseits, der Lehre Schopenhauers und Bu-
ddhas andererseits. Ist von keiner Seite aus versucht worden,
diesen Abgrund zu uberbrlicken? Antwort: sogar von beiden
Seiten aus.
1. Seitens des Vedanta.
Das »Sein«, das denErlosten erwartet, kann mit gleichem
Recht ein Nichtsein heissen. Haben wir ja doch den Begriff
des Seins abstrahiert allein aus der Anschauung der anschau-
baren Welt, der darum ein rein empirischer ist und wegen
seines Ursprungs streng genommen auf die Welt des nirvana
nicht angewendet werden darf. In diesem Sinne wird brahman
1) ib. p. 305.
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auweilen ein »Nichtseiendes« genannt, wodurch ausgedriickt
werden soil, dass es so hoch iiber dem samsara steht, dass
unser Intellekt, nur fiir Verhaltnisse des samsara geeignet,
•es in keiner Weise ergreifen und verstehen kann.1)
2. Seitens des Buddhismus und Schopenhauers.
Aus gleichem Grunde glauben diese Beiden ihr »Nichts«
•ein Sein nennen zu konnen. Auch fiir sie ist das Nichts,
das den Erlosten aufnimmt, nur relativ, ist in anderem,
.hoherem Sinne als »Sein« zu bezeichnen. Am liebsten weisen
sie freilich die Frage nach der Natur des niryana als eine
transscendente ab. Vor allem erklart die officielle Kirchen-
lehre des Buddhismus ausdriicklich, dass iiber die Frage, ob
•das Ich ist, ob der vollendete Heilige nach dem Tode lebt
oder nicht lebt, der erhabene Buddha nichts gelehrt habe.
Diese Ablehnung wird rein praktisch motiviert. Wozu
transscendente Spekulationen iiber das nihil des nirvana an-
stellen, da doch das Eine feststeht, dass dort die Fessel des
Schmerzes nicht mehr erklirrt, unter der hier alles Lebende
.seufzt?2) Ist das nicht die Hauptsache? Wo aber Buddha
und Schopenhauer sich iiber das, was ubrig bleibt, wenn
der Erloste zur Ruhe geht, aussern, da geht ihre Meinung,
wie gesagt, dahin, dass das in Aussicht stehende Nichts kein
absolutes sei. Wenn es im Sutta-Nipata heisst: »Wo es
kein Etwas giebt, wo es kein Haften giebt, die Insel, die
einzige: das nirvana nenne ich sie, das Ende von Alter und
Tod,«3) so besagen diese Satze und andere mehr, dass auf
jene erhoffte Statte der Seligkeit, jenes Land des Friedens
alle die Bestimmungen keine Anwendung finden, die zur
Bezeichnung der unseligen, friedelosen Welt des samsara
dienen. Nirvana ist Nichts, wenn man den samsara als das
Etwas nimmt, nur dann. »Es giebt ein Ungeborenes, Un-
gewordenes, nicht Gemachtes, nicht Gestaltetes.« Dem Geiste,
der allein ein Geborenes, Gemachtes zu fassen vermag, dem
muss freilich das Ungeborene, Nicht-Gemachte als ein Nichts
erscheinen, aber auch nur diesem. Kein Konig hat »einen
Rechner, einen Miinzmeister oder einen Znhlbeamten, der
1) Deusseji a. a. O. p. 139. 2) Oldenberg a. a. O. p. 298. 3) Oldenberg a. a. O. p. 307.
11"
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das Wasser im grossen Ocean zu messen vermochte, der
sagen konnte: so viele Mass Wasser oder so viel Hunderte oder
Tausende oder Hunderttausende von Massen Wasser sind
darinnen«, und so ist auch der Vollendete »frei davon, dass.
sein Wesen mit den Zahlen der Korperwelt zahlbar ware;
er ist tief, unermesslich, unergriindlich wie der grosse Ocean.
Dass der Vollendete jenseits des Todes ist, trifft nicht zu;
dass der Vollendete jenseits des Todes nicht ist, trifft auch
nicht zu; dass der Vollendete jenseits des Todes zugleich
ist und nicht ist, trifft auch nicht zu; dass der Vollendete
jenseits des Todes weder ist noch nicht ist, trifft auch nicht
zu.*1) Pasenadi, der Konig von Kosala, liess sich an dieser
Argumentation der Nonne Khema, geniigen; wir miissen das
Gleiche thun und daraus entnehmen, dass fur den Buddhisten
nirvana ein unergriindliches Mysterium ist, dem der BegrifF
desSeins nicht zukommt, aber auch nicht der des xNichtseins.*2)
Nicht viel anders, nur abstrakter, redet Schopenhauer,
im letzten Paragraphen seines Hauptwerkes.8) Er behauptet
da, es gabe iiberhaupt kein absolutes Nichts; denn von einem
hoheren Standpunkt aus gesehen, miisste jedes Nichts sich
als ein Etwas ausweisen. So lange wir der Wille zum Leben
selbst sind, kann das Gegenteil desselben von uns freilich
nur als negativ erkannt und bezeichnet werden. Und
weshalb fiirchten wir denn so sehr das Nichts? »Dass wir
so sehr das Nichts verabscheuen, ist nichts weiter, als ein
anderer Ausdruck davon, dass wir so sehr das Leben wollen,
und nichts sind, als dieser Wille, und nichts kennen, als.
eben ihn.« Da wir von dem Ding-an-sich nichts weiter
kennen, als seine Natur in der Willensbejahung, sind wir
darum berechtigt, diesen Willen in seiner Bejahung allein
Etwas zu nennen, und alles das, was uns am Ding-an-sich
unerkennbar blieb, jene fur uns ganzlich unfassbaren Daseins-
weisen,4) die nach Aufhebung der Bejahung iibrig bleiben^
ein Nichts? Sicher nicht. »Hinter unserem Dasein namlich
steckt etwas Anderes, welches uns erstdadurch zuganglich wird,
1) Oldenberg a. a. O. p. 301 f. 2) Vergl. die Auffassung Schopenhauers vom
buddhistischen nirvana. W. a. W. u. V. II p. 698. 3) W. a. W. u. V. I p.
483. 4) W.
a. W. u. V. II p.
221.
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■dass wir die Welt abschiitteln^1) Und somit bekennt Scho-
penhauer frei: »Was nach ganzlicher Aufhebung des Willens
iibrig bleibt, ist fur alle Die, welche noch des Willens voll
sind, allerdings Nichts. Aber auch umgekehrt ist Denen, in
welchen der Wille sich gewendet und verneint hat, diese
xinsere so sehr reale Welt mit alien ihren Sonnen und Milch-
strassen — Nichts !«2) Noch eine Stelle sei, als besonders
-deutlich, angefiihrt.3) »Gegen gewisse alberne Einwiirfe be-
merke ich, dass die Verneinung des Willens zum Leben
keineswegs die Vernichtung einer Substanz besage, sondern
■den blossen Aktus des Nichtwollens: das Selbe, was bisher
gewollt hat, will nicht mehr. Da wir dies Wesen, den
Willen, als Ding-an-sich bloss in und durch den Aktus des
Wollens kennen, so sind wir unvermogend zu sagen oder
zu fassen, was es, nachdem es diesen Aktus aufgegeben hat,
noch ferner sei oder treibe; daher ist die Verneinung fiir
uns, die wir die Erscheinung des Wollens sind, ein Ueber-
gang in's Nichts.« — So hatte auch der von Schopenhauer
als kongenial erkannte Mystiker Eckhardt gelehrt, das
»Wesen«, das heisst der Urgrund aller Dinge sei ein »Nicht«,
•das nattirlich an sich ein »Icht« sei.4)
Sehen wir, ob der Abgrund, von dem wir oben sprachen,
hinsichtlich der Lehren liber die Natur des nirvana, auf dessen
einer Seite der Vedanta, auf dessen anderer Schopenhauer
und der Buddhismus stehen, wirklich uberbriickt ist. Der
Vedanta lasst sein nirvana, zwar meist als Sein, aber auch
als Nicht-Sein gelten; Buddha und Schopenhauer nehmen
ihr nirvana als bloss empirisches Nichts, das thatsachlich ein
durchaus unfassbares Etwas ist. Aber diese Ueberbriickung
ist doch nur scheinbar. Denn das vedantistische nirvana ist
xind bleibt, selbst als Nicht-Sein bezeichnet, der Urgrund
aller Dinge, wahrend das Schopenhauer'sche nirvana, auch
als Sein genommen, gerade das Gegenteil dessen darstellt,
aus dem einst der nun Erloste hervorging, das Gegenteil
namlich des sich bejahenden Willens. Der Mensch ist, um
ein Bild zu brauchen, nach dem Vedanta gleich dem Sohne,
1) W. a. W. u. V. I p. 479. 2) ib. p. 487. 3) Parerga II p. 334. 4) Preger,
Mystilt, I p. 374.
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der das Elternhaus verlasst, um, von der lieblosen Fremde
abgestossen, in die friedliche Seligkeit des alten Heimes zu-
riickzukehren; nach Schopenhauer verlasst er die Heimat, in
der ihm nur Qual und Jammer zu Teil wurde, verlasst sie
auf immer, um nie zuruckzukehren. Zwar findet auch er
das Gliick und den Frieden, aber niemand weiss wo. Der
Erloste geht in dem Vedanta in das Gewisseste ein; bei
Schopenhauer in ein ganzlich Unbekanntes. Der praktische
Vorteil ist nicht auf Schopenhauers Seite. Weshalb scheute
er sich, die Erlosung in ein wirkliches, absolutes Nichts ein-
miinden zu lassen, worauf doch der ganze Gang seiner Philo-
sophic hindrangt? Nur aus Furcht vor jenen Einwiirfen, die
er selbst albern nennt. Die alte Forderung, keine Philosophic
diirfe atheistisch sein, verlachte er; auf Vorwiirfe, die ihm
wegen seines Quietismus gemacht werden konnten, blickte
er mit Verachtung herab; aber dass eine redliche Philosophic
nicht unbedingt positives Endziel haben miisse, dass sie auch
zu totaler Weltvernichtung leiten konne, trug er Bedenken
zu gestehen, aus Furcht vor der Anklage des Nihilismus..
Da musste denn jenes mystische, vollstandig aller Erfahrung
entzogene, undefinierbare Etwas als Ziel der Weltentwicklung
herhalten, wodurch die ganze Immanenz seiner Philosophie
durchbrochen wird. — Ehrlicher hat Mainlander das Resultat,,
zu dem die Schopenhauer'sche Philosophie leiten muss, zum
Ausdruck gebracht. Das Nichts, das den Weisen aufnimmt,,
ist nach ihm ein absolutes; die ganze Entwicklung der Welt
ist von dem Drange getragen, in den seligen Schoss eines
totalen Nichtseins hinabzutauchen, so dass der Wille zum
Leben nur ein verkappter Wille zum Tode ist.
§ 19. Die definitive ErlOsung'.
Je lebhafter ein philosophisches System von dem Ge-
danken an die unselige Beschaffenheit der Welt durchdrungen
ist, um so starker muss sich zu gleicher Zeit dessen notwendiges-
Komplement in den Vordergrund drangen. Jede Religion
muss, wenn anders sie diesen Namen zu Recht tragen will,
dem Menschen die Erlangung eines summum bonum gewahr-
leisten; vor allem aber ist hierzu eine pessimistisch gefarbte
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Religion verpflichtet. Eine Philosophie hingegen, auch eine
pessimistische, ist nur soweit gebunden, die Frage nach der
Moglichkeit der Erlosung zu ventilieren, als eine Befreiung
aus den Banden der Endlichkeit sich empirisch nachweisen
lasst. Da nun aber eine solche thatsachlich aus dem Leben
der Heiligen zu belegen ist, wird auch die Philosophie um so
eifriger ihr Augenmerk auf die Erlosung und den Weg dazu
richten, je diisterer ihre Ansicht von dem Wert des Erden-
lebens ist. Wir sehen also nicht allein in der von Buddha ge-
stifteten Religion, sondern auch in dem mehr philosophisch
gehaltenen System des Vedanta sowie in Schopenhauers
Philosophie den Gedanken der Erlosung in den Mittel-
punkt treten. Dieser Gedanke ist der Kern, an den alle
anderen Spekulationen anschiessen; er wirkt auf das iibrige
Denken wie der Magnet auf Eisenspane. Die Art, wie
unsere Denker den Erlosungprocess vor sich gehen lassen,
giebt alien ihren iibrigen Ausftihrungen die charakteristische
Farbung, die fast an der geringfiigigsten Einzelheit sich
wiederfindet. Was Buddha von seiner Lehre sagt: »Wie
das grosse Meer, ihr Junger, nur von einem Geschmack
durchdrungen ist, vom Geschmack des Salzes, also ist auch,
ihr Junger, diese Lehre und diese Ordnung nur von einem
Geschmack durchdrungen, vom Geschmack der Erlosung,*1)
das gilt in gleichem Masse von den beiden anderen Ge-
dankenkreisen, des Vedanta und Schopenhauers.
Fragen wir nun, wovon die Erlosung uns befreien soil,
so empfangen wir von alien drei Seiten die gleiche Antwort:
von der Individualitat. Mit der Befreiung von der Individualitat
ist unmittelbar die Befreiung von Schuld und Leiden gegeben.
Wir wollen uns den einzelnen Systemen zuwenden.
1. Der Vedanta.
»Aus der Erkenntnis die Erlosung.«2) In diesen wenigen
Worten liegt das ganze mystische Geheimnis eingeschlossen,
das so sehr Geist und Phantasie des brahmanischen Denkers
beschaftigt. Richtiger ware zu sagen: die Erkenntnis ist
die Erlosung.
1) Oldenberg a. a. O. p. 288. E. Hardy: Buddhismus, p. 50. 2) Deussen a. a. O.
p. 290.
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Wir sahen, was den samsara zu keinem Stillstand ge-
langen lasst, was in endlosen Wiedergeburten die wandernde
Seele mit Qual und Jammer belastet, ist die verhangnisvolle
Macht des karman, die Essenz aus den Erdenwerken. Die
Werke, die Thaten, welcher Art sie auch sein mogen, sie
sind es, die der Erlosung hindernd in den Weg treten.
Aber nicht aus sich selbst tragen die Thaten ihre Erlosung-
hindernde Kraft in sich; diese fiiesst vielmehr aus dem
falschen Wahne, als sei die Seele iiberhaupt zu Thaten be-
rufen, der seinerseits wieder identisch ist mit dem Truge
einer Individualitat. Die inhaltleere Ueberzeugung von einer
Vielheit individueller Seelen, der thorichte Glauben an eine
Vielheit von »Namen und Gestalten«, sie sind unmittelbar
die den samsara konstituierenden Potenzen. Wohl ist jede
Seele identisch mit brahman, und dieses ist das »Eine ohne
Zweites«, so dass fur eine Vielheit nirgendwo Raum ist,
aber jeder Seele ist das »Nichtwissen«, die avidya, angeboren,
das Nichtwissen um diese thatsachlich vorhandene Einheit.
Das Nichtwissen tauscht die Seele iiber ihre wahre Natur,
es verleiht ihr die upadhi's, diesen Komplex der Individua-
lisation, vermoge der die Seele zu sehen, zu fiihlen, zu er-
kennen, zu handeln, zu leiden glaubt. Das Nichtwissen
macht die Seele zur Einzelseele. So lange die Seele, durch
das Nichtwissen getauscht, sich fur individuell halt, so lange
dauert der samsara, so lange muss der Mensch durch die
furchtbaren Schrecknisse der Nacht der Unwissenheit zitternd
sich durchtappen — bis endlich das Sonnenlicht des Wissens,
die vidya, die finsteren Schatten verscheucht.
Von der Erkenntnis allein hangt also das Schicksal des
Menschen ab. Eine falsche Erkenntnis ist es, die uns von
Geburt zu Geburt irren heisst.
»Vom Tod zu neuem Tode rennt,
Wer ein Verschied'nes hier erkennt. —
Von Tod in Tod wird der verstrickt,
Wer ein Verschied'nes hier erblickt «l)
Nicht aber ist es eine moralische Verschuldung, dcren unheil-
1) Deussen a. a. O. p. 54, 210, 215, 289.
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voile Siihne die Wanderung ware. Darum besteht die
Erlosung nicht in einer Versittlichung des Menschen, in einer
moralischen Umkehr, sondern in einer Erkenntnisberichtigung,
vermoge der die angeborene Tauschung iiber die wahre
Natur der Seele durchschaut wird. Die Erlosung erwachst
aus dem samyag-darcanam, der »universellen Erkenntnis«,
die den Wahn der avidya in sein Nichts auflost. Das
»Wissen« vernichtet die Individualitat, indem es die upadhi's,
die eine jede Seele von brahman und den anderen Seelen
trennten, als nichtig nachweist, Das »Wissen« fiihrt zur
Erlosung, oder ist vielmehr die Erlosung; denn es zeigt,
dass es keine wandernde, leidende Einzelseele giebt, dass
alles vielmehr das leidlos-selige brahman ist. Die Erlosung
besteht also in der unmittelbaren Erkenntnis, dass alle
Vielheit Trug und Schein ist, in dem intuitiven Auffassen
der Identitatslehre. Dem gemass sagt die Schrift:
»Wer forschend alle Wesen im eignen Selbste findet,
Fiir den entweicht der Irrtum, und alles Leiden schwindet.«l)
oder:
»Ist Gott erkannt, so fallen alle Bande,
Die Plagen schwinden, nebst Geburt und Sterben;
Wer ihn erkennt, geht nach des Leibs Abtrennung
Zur Freiheit ein, zur seligen Erl8sung.«2)
oder:
»Den grossen Geist, jenseits der Dunkelheit
Wie Sonnen leuchtend, habe ich gesehen;
Wer diesen schaut, dem wird Unsterblichkeit,
Nicht giebt es einen andren Weg zum Gehen.«c3)
oder, nach dem Mahabharatam:
»Wer, aller Wesen Selbst geworden, Tollig durchschauet die Natur,
Des Pfad die Getter selbst verlieren, verfolgend des Spurlosen Spur.**)
Also besteht die moksha in der Erkenntnis eines schon
langst Vorhandenen, das aber durch die avidya verborgen
war, in der Erkenntnis vom Brahmansein der Seele. Sie ist
die im Intellekt vollzogene mystische Erhebung des Geistes
iiber die nichtige Erscheinungform der Vielheit hinaus zum
unmittelbaren Bewusstsein der All-Einheit. Sie ist die
lebendige Gewissheit, dass mein Selbst das Selbst aller Wesen
1) Deussen a. a. O. p. 54. 2) ib. p. 92. 3) ib. p. 337. 4) ib. p. 462.
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ist, dass Ich brahman bin. Darum sagt Cankara: »Wenrt
durch Bezeichnungen der Nichttrennung, wie tat tvam asi;
die Nichttrennung erkannt worden ist, dann ist das Wanderer-
sein der Seele und das Schopfersein des brahman ver-
schwunden.K1) Wer die Erkenntnis der Nichttrennung, die
Gewissheit der AU-Einheit erlangt hat, von dem heisst es:
»Brahman ist er, und in brahman lost er sich auf.«2) »Ich
bin brahman, aham brahma asmi« — diese Erkenntnis ist
die Erlosung. Die Erlosung ist Selbsterkenntnis!
Es muss auf's Nachdriicklichste betont werden, dass die
Erlosung des Vedanta ein reiner Akt des Intellektes, ein
Erkenntnisakt ist. Darum wird dem, der schwaches Geistes
ist, die Erlangung der Seligkeit schwieriger als dem Klugen,
Einsichtigen. Sie wird in der Praxis durch die Meditation
erreicht, durch die andachtige Betrachtung des heiligen
VedaAVortes, durch aufmerksame Versenkung infden Sinn
des kanonischen »tat tvam asi«, und diese Meditation muss
vom denkuntiichtigen Geist so lange fortgesetzt werden, bis
aus jenem Satze die Erkenntnis hervorspringt, wie das Korn
aus den Aehren durch fleissiges Dreschen gewonnenf wird.
Keineswegs aber wird die Erlosung durch moralische Lauterung
hervorgebracht. Die Moglichkeit einer solchen Erlosung wird
geradezu verneint. Denn jede Versittlichung jSchliesst den
Begriff des Werdens, der Veranderung ein; .der jiva atman
aber, der im Grunde paramatman ist, und dessen Erlosung
es gilt, ist aller Veranderung unzuganglich. Wenn daher
die Kathaka-Upanishad sagt:
»Nicht, wer nicht ablasst von der Frevelthat,
Nicht, wer unruhig ist und ungesammelt,
Nicht, wer im Herzen ohne Frieden ist,
Kann durch Erkenntnis jenen Geist erlangen«,3)
und also offenbar die beseligende Erkenntnis von einer
Charakterwendung abhangig macht, so ist dies nicht die von
Cankara durchgangig festgehaltene Ansicht. Konsequenter
Weise vielmehr miisste dem Vedanta gemass nach erlangter
Seligkeit der Erloste die grosste Siindenschuld auf sich laden
konnen, ohne seine Erlosung zu gefahrden, vorausgesetzt
1) ib. p. 114. 2) ib. p. 209. 3) ib. p. 162.
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nur, dass er sich das »Wissen« bewahrt; so wenig beruht
die Erlosung auf ethischer Grundlage. Freilich ist dies ein
unmoglicher Fall. Denn thatsachlich tritt ein moralischer
Umschwung ein, aber erst nach Erlangung des Wissens, nur
per accidens, als ein durchaus nebensachliches Moment im
Gefolge der vidya, ohne weiteren Einfluss auf die Seele
und ihr Geschick zu haben. Wer die erlosende Erkenntnis
besitzt, wendet sich namlich von alle dem ab, was er fruher
angestrebt. »Wahrlich,« sprach schon Yajfiavalkya zu Kahola,
»nachdemsie diese Seele gefunden haben, stehen die Brahmanen
ab vom Verlangen nach Kindern und Verlangen nach Besitz
und Verlangen nach der Welt und wandern umher als Bett-
ler.*1) Und ebenso zu Janaka: »Darum, wer solches weiss,
der ist beruhigt, bezahmt, entsagend, geduldig und gesam-
melt; nur in dem Selbste sieht er das Selbst; nicht iiber-
windet ihn das Bose, er iiberwindet alles Bose; nicht ver-
brennt ihn das Bose, er verbrennet alles Bose; frei von
Bosem, frei von Leidenschaft und frei von Zweifel wird er
ein brahmana, er, dessen Welt das brahman ist.«2) Aus
diesen Stellen erhellt, dass es die Erkenntnis ist, die intuitive
Erkenntnis der unmittelbaren Einheit der nur scheinbar in-
dividuellen Seele mit brahman, was direkt die Erlosung be-
wirkt, dass die Ertotung alles Verlangens erst nachtraglich
erfolgt, als eine bloss zufallige Wirkung der Seligkeit. Dem
widersprechen nicht Stellen wie dieses von Cankara ange-
fuhrte Upanishad-Citat:
»Wenn alle Leidenschaft verschwunden,
Die in des Menschen Herzen nistend schleicht,
Dann hat der Sterbliche Unsterblichkeit gefunden,
Dann hat das brahman er erreicht.«3)
Oder wenn es heisst, dass nur dessen Lebensgeister nicht
zu neuer Geburt ausziehen, nur der brahman, d. h. erlost
ist, der »ohne Verlangen, frei von Verlangen, gestillten Ver-
langens, selbst sein Verlangen ist.«*) Denn hier wird die Ver-
nichtung der Leidenschaft, die Aufgabe des Verlangens nicht
als Ursache der Unsterblichkeit vorhergangig gedacht, son-
dern als Kennzeichen gefasst, in dem sich die durch Er-
1) Deussen a. a. O. p. 154. 2) ib. p. 211. 3) ib. p. 209. 4) ib. p. 461.
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kenntnis erlangte Erlosung aussert. Die Erlosung ist und
bleibt samyag-darcanam, »universelle Erkenntnis,« Wissen,
nicht ein Wissen, wie es Sokrates als hochste Tugend pries,
-ein abstrakt-begriffliches, sondern ein intuitives, unmittelbares,
dessen Objekt die AU-Einheit, die unio mystica ist. Sie
wird erreicht durch Umgestaltung der Erkenntnis, nicht des
■Charakters.
2. Der Buddhismus.
Bedeutend tiefer hat der Buddhismus das Wesen der
Erlosung gefasst. Wenn, wie der Vedanta annimmt, das
eigentliche Selbst des Menschen durch den Intellekt gesetzt
ist, so muss freilich die Erlosung als fundamentale Umge-
staltung in einer Wandelung des Intellekts, in einem durch
Inspiration bewirkten Fortschritt von verkehrtem zu richtigem
Wissen bestehen. Der Buddhismus ist hingegen durchaus
von dem Gedanken durchdrungen, dass der Kern des Men-
schen in seiner moralischen Richtung liegt, die entweder zu
Siinde oder zu Abkehr von der Siinde fiihrt. Damit ist auch
der Erlosung ihre Natur angewiesen; sie beruht, im direkten
Gegensatz zum Brahmanismus und dem Vedanta, in einem
moralischen Umschlag, in einer totalen Charakteranderung.
Im Kampfe um samsara oder nirvana spricht das letzte,
•entscheidende Wort der Wille.
Das karman ist bei den Buddhisten eben so gut bloss
phanomenal als in dem Vedanta und doch wieder in ganz
anderer Weise. Es ist ein blosser Sinnentrug, nach dem
Vedanta, weil es durchaus keinen Anteil hat an der allein
existierenden Realitat des brahman, nach dem Buddhismus,
weil diese Welt iiberhaupt und in keinem Teile wahrhafte
Realitat in sich schliesst. Innerhalb aber dieser ganzlich
idealen Erscheinungswelt ist das karman allein dasjenige, dem
man eine gewisse reale Daseinsform zuschreiben konnte.
Denn es findet seinen adaquaten Ausdruck in der Kausalitats-
formel, deren Herrschaft iiber alles Seiende alles Seiende zur
Erscheinung herabdriickt, so dass es als Princip aller Er-
.scheinung eigentlich selbst nicht Erscheinung ist. — Das
karman ist bei den Buddhisten so gut wie in dem Vedanta
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die leidenschaffende Potenz, vermoge der die Seele in den
unaufhorlichen samsara verflochten ist; aber wahrend der
Vedanta das karman aus einer falschen Meinung entstehen
lasst, wurzelt es bei den Buddhisten im »Durste«, und die
Thaten sind Aeusserungen eines verkehrten Willens, nicht
einer verkehrten Erkenntnis. Der »Durst« ist also der letzte
Grund alles Handelns und Leidens.
»Dies, ihr Monche, ist die heilige Wahrheit von der
Entstehung des Leidens: es ist der Durst (nach Sein), der
von Wiedergeburt zu Wiedergeburt fiihrt, samt Lust und
Begier, der hier und dort seine Lust findet: der Durst nach
Liisten, der Durst nach Werden, der Durst nach Macht.«
Diese Worte bediirfen keiner weiteren Ausfiihrung; es
geht klar aus ihnen hervor, dass wir es hier mit dem Willen
des Menschen zu thun haben, mit dem Willen, der das Leben
will. Von diesem Durst gepeinigt, trinkt der Mensch aus.
alien Schalen, die ihm das Leben darbietet. »Aus den
sechs Gebieten entsteht Beriihrung;1) aus der Beriihrung
entsteht Empfindung; aus der Empfindung entsteht Durst.«
Der Durst erwachst also aus der Beziehung des Menschen
zur Aussenwelt; diese ist es, nach der der Durst diirstet,
die der Wille will. Wir wollen uns in der Welt bethatigen,
wir wollen wirken, schaffen. Wir jagen der Freude nach,
wir schmachten nach Lust und Genuss. Wir streben nach
Gliick und Wohlsein. Die Welt gaukelt uns des Verlangens-
werte Ziele vor, und weil wir nicht ahnen, dass in ihr nur
das Leiden heimisch ist, regen und miihen wir uns und er-
greifen doch nur triigende Schatten. Mit dem Trachten nach
Besitz und Gewinn ist darum unmittelbar der Kummer und
die Not verknupft. Wie aus der Wurzel der Baum, so
bricht aus dem Durste das Leiden hervor. »Wen er bezwingt,
der Durst, der verachtliche, der an der Welt festhaftende,
dessen Leid wachst, wie das Gras wachst.«2) Darum, wollen
wir dem Leiden entfliehen, die Erlosung gewinnen, so miissen
wir den Durst radikal vernichten.
»Dies, ihr Monche, ist die heilige Wahrheit von der
Aufhebung des Leidens: die Aufhebung des Durstes durcb
1) zwischen den sechs Sinnen und ihren Objekten. 2) Oldenberg a. a. O. p. 253.
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ganzliche Vernichtung des Begehrens, ihn fahren lassen, sich
seiner entaussern, sich von ihm losen, ihm keine Statte ge-
wahren.« — Und ebenso spricht Buddha unter dem »Baume
der Erkenntnis:«
»— Nah' ist der Geist
Ewigem Frieden, da des Begehrens diirstendem Drang
er ganz sich entzog.«l)
und weiterhin zu dem Schlangenkonig Mucalinda:
»Selig, wem jede Leidenschaft, alles Wiinschen ein Ende nahm.«2)
Das ist in der That eine tief-innerliche Umwalzung.
Friiher, welch ein heisses Drangen und Streben, welch ein
rastloses Ringen um die Genilsse des Lebens! Die Welt
verfiihrte den Menschen zur immer erneuten Anstrengung,
sich ihrer zu bemachtigen. Er wirkte und schuf, er arbeitete
von friih bis spat, sein Dasein zu bereichern. Er liebte und
hasste, er floh, wo er Ungliick ahnte, er nahte sich begierig,
wo er Gliick vermutete. Er schwebte bestandig zwischen
Furcht und Hoffnung, denn das Begehren liess ihn nicht zu
Ruhe kommen.8) —• Nun aber ist alles Begehren ertotet; der
Mensch wendet sich ab von den triigerischen Freuden der
Welt; er will nichts mehr von alle dem, das sein Verlangen
sonst so machtig in Aufruhr brachte. Er »wendet sich ab
von der Korperlichkeit, wendet sich ab von Empfindung und
Vorstellung, von Gestaltung und Erkennen. Indem er sich
davon abwendet, wird er frei von Begehren; durch das Auf-
horen des Begehrens gewinnt er die Erlosung.«*) — Hier ist
also das Aufhoren des Begehrens das entscheidende Moment;
die Erlosung beruht auf der vollstandigen Abkehr von alle
dem, was immer den naturlichen Menschen reizen kann.
Die Neigung, der Wille sind in ihren tiefsten Tiefen umge-
staltet; an nichts haftet mehr das Begehren des Weisen, und
»durch Aufhoren des Haftens wurde seine Seele von allem
siindigen Wesen erlost.«5) Unsere ganze Individuality ist
Verlangen, darum muss sie vernichtet werden. »Ueberwinden
der Ichheit Trotz wahrlich ist hochste Seligkeit.«6) Er wird
iiberwunden durch Ertotung des Willens, durch Aufgabft
1) E. Hardy: Buddhismus p. 30. 2) ib. p. 31. 3) Oldenberg a. a. O. p 235. 4) ib.
p. 231. 5) ib. p. 255. 6) Hardy: Buddhismus p. 31.
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des Durstes nach Sein und Lust. So ist also die Erlosung
kein intellektualer Vorgang, sondern ein wahrhaft ethischer.
Sie ist nicht Selbsterkenntnis, sondern Selbstverleugnung.
Es ist aber klar, dass eine solche ethische Umgestaltung
des Menschen nicht von selbsl, ohne jeglichen Anlass von
aussen her sich vollziehen kann; denn nach buddhistischer
Anschauung steht jeder Vorgang unter dem Kausalitats-
gesetze. Fragen wir also, woher die fundamentale Ver-
anderung der Willensaufgabe moglich ist, so antwortet die
buddhistische Dogmatik: aus der Erkenntnis, dem Wissen,
vijja. Das ist derselbe Terminus, dem wir in dem Vedanta
begegnet sind, ja er stammt offenbar aus dem Brahmanismus
und ist ubrigens auch noch anderweitig in die indischen
Philosophiesysteme mannigfaltigster Art eingegangen.1) Nichts
desto weniger liegen im Buddhismus die Verhaltnisse gerade
umgekehrt als in dem Vedanta: was hier Hauptsache ist, ist
dort Nebensache. Wahrend in dem Vedanta die Erlosung eben
im Wissen besteht und in nichts anderem, ist im Buddhismus das
Wissen nur Mittel zur Erlosung, die selbst allein durch die morali-
sche Selbstentausserung zu Stande kommt, welch moralischer
Umschlag fur den Vedanta zwar als eine immerhin unausbleib-
liche, aber doch nur als eineFolge der Erlosung gilt. Der Unter-
schied ist klar und gross. Das »Wissen« betrachtet der Buddhis-
mus also nur als eine Bedingung zur Erlosung, wenn freilich auch
als eine unerlassliche. Und zudem ist bei ihm das Objekt
des »Wissens« ein ganz anderes geworden. Es ist nicht
mehr die iiber alles empirische Denken erhabene Erkenntnis
der All-Einheit, sondern, gemass der praktischen Tendenz
des Buddhismus, das hochst reale Wissen um die vier heili-
gen Wahrheiten, diesen Kanon, in dem der Erhabene seiner
Lehre die knappeste Form gegeben.2) »Das Leiden nicht
kennen, Freund, die Entstehung des Leidens nicht kennen,
die Auihebung des Leidens nicht kennen, den Weg zur Auf-
hebung des Leidens nicht kennen: das, o Freund, wird Nicht-
wissen genannt.« Und da der Hauptinhalt der vier heiligen
Wahrheiten die Lehre vom Leiden ist, wie Leiden entsteht
und aufzuheben ist, so durfen wir wohl als das die Erlosung
1) Oldenberg a. a. O. p. 262 u. Anm. 1. 2) Oldenberg a. a. O. p. 261 ff.
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bewirkende »Wissen« allgemein die intuitive Erkenntnis auf-
fassen, dass allem Leben das Leiden wesentlich ist.1) Wenn
sich der Mensch dieser Erkenntnis verschliesst, so nimmt er
das Leben als etwas Lebenswertes, so scheint ihm die Welt
fur Glfick und Erfiillung der Wiinsche Raurn zu haben.
Dann ringt und arbeitet er, lasst seinen Begierden die Ziigel
schiessen und schafft sich das karman, das ihn von Wieder-
geburt zu Wiedergeburt fiihrt. In diesem Sinne leitet die
Kausalitatsformel den Durst aus dem Nichtwissen her. Ist
hingegen das Nichtwissen durch das Wissen verdrangt, sind
die vier heiligen Wahrheiten erkannt worden, das heisst, ist
der Mensch sich durchaus im Klaren iiber die betrubsame
Thatsache, dass alles Leben Leiden und nur dieses ist, dass
er also nicht hoffen darf, irgend welche Befriedigung, Ruhe
oder Gliick hier zu finden, so wendet er sich vom Leben
ab, hort auf, zu verlangen und zu streben, hdrt auf, nach
einem Dasein zu diirsten, das, wie er weiss, ihm nur Qual
und Not bescheren kann. Darum heisst es in der Kausa-
litatsformel: »Wird aber das Nichtwissen aufgehoben unter
ganzlicher Vernichtung des Begehrens«, so wird auch der
Durst ertotet. Und ist der Trieb zu Thaten geschwunden
und werden folglich keine Thaten mehr gethan, so erlischt
das karman, »gethan ist der heilige Wandel, vernichtet die
Wiedergeburt«. »Dieses ist die Vernichtung des ganzen
Reiches des Leidens.«
3. Schopenhauer.
Was Buddha »Durst« nannte, eben das nennt Schopen-
hauer die »Bejahung des Willens zum Leben.«2) Der Wille
bejaht sich selbst, besagt: nachdem dem Willen als Ding-
an-sich in seiner Objektitat, das ist in Welt und Leben, sein
eigenes Wesen als Vorstellung vollstandig und deutlich ge-
geben ist, hemmt diese Erkenntnis sein Wollen keineswegs;
sondern eben dieses erkannte Leben wird auch als solches
1) Vergl. hierzu Oldenberg a. a. O. p. 343. 2) Er gebraucht geradezu den Ausdruck
>Durst«, so: Wollen und Streben sind »einem unloschbaren Durst ganzlich zu vergleichen.«
W. a. W. u. V. I p. 367; »WiIIensdurst« ib. p. 386; »Durst des Egoismustf ib. p. 430; »der
grimmige Durst des Eigenwillenstf, ib. p. 461; »Dnrst nach Daseintf. W. a. W. u. V. II p 533
u. 546 u. 6.
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von ihm gewollt, wie bis dahin ohne Erkenntnis, als blinder
Drang, so jetzt mit Erkenntnis, bewusst und besonnen.1) Wir,
die wir dieser Wille zum Leben sind, wollen leben, wollen
dasein, wollen geniessen. Wir klammern uns fest an die
Welt, sie sei wie sie sei, weil wir nichts anderes sind als
Manifestation des Dranges zur Existenz. Und wie, nach
buddhistischer Lehre, der »Durst« durch die Beriihrung mit
der Aussenwelt und die daraus entstandene Empfindung ge-
weckt wird, so werden, so lange der Wille zum Leben sich
selbst bejaht, die Objekte der Aussenwelt immer auf s Neue
zu Motiven, die den Willen erregen. Wie der »Durst« das
karman erzeugt, wodurch Wiedergeburt in unendlicher Folge
sich an Wiedergeburt reiht, so muss der sich bejahende
Wille bestandig in neue Individuen eingehen; denn »dem
Willen ist das Leben gewiss«, indem es ja nur seine Ob-
jektivation, seine Sichtbarkeit ist. Wie der »Durst« mit dem
Leiden untrennbar verbunden ist, weil er nie befriedigt wer-
den kann, so beschwort auch der Wille das masslose Leiden
herauf, das ja eben ein Durchkreuzen des Willens bedeutet.
Daher ist Erldsung vom Leiden nur moglich, wenn die
Willensbejahung aufgehoben wird. Wie geschieht das?
»Die Erkenntnis ist die *Erl6sung,« heisst es in dem
Vedanta; »die Erkenntnis dient als Mittel zum Zweck der
Erlosung«, im Buddhismus. Wie der Buddhismus sagt auch
Schopenhauer: »die Erlosung ist bedingt durch die Erkennt-
nis.« — Die Erkenntnis des Vedanta ist die Erkenntnis der
Identitat aller Wesen; die Erkenntnis des Buddhismus ist die
Einsicht in das der Welt wesentliche Leiden; die Erkenntnis
Schopenhauers ist beides vereint.
Zunachst. Die Erkenntnis, die nach Schopenhauer der
ErlQsung den Weg bereitet, ist vornehmlich die, dass ein
Leben ohne Leiden nicht denkbar ist, dass der Wille zum
Leben, vor allem dank seinem inneren Widerstreit, mit dem
Leiden unausbleiblich behaftet ist. Also eben die buddhistische
vidya. Dieselbe ist auf zwei Wegen zu erlangen, von denen
wir den von Schopenhauer an zweiter Stelle angefiihrten
der Vollstandigkeit wegen hier kurz vorausnebmen. Es ist
1) W. a. W. u. V. I p. 336.
12
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der sogenannte SsuTEpo? rcXou?.1) Das selbstempfundene Leiden
hat in diesem Fall die vidya, herbeigefiihrt. Der eigene,
iiberschwangliche Schmerz, den das Geschick iiber einen
Aermsten der Armen verhangt hat, offnet diesem die Augen
iiber den wahren Inhalt und Wert des Lebens. Eigenes
Ungliick, eigene Verzweiflung sind die harten Lehrmeister,
die ihm die bittere, aber heilsame Erkenntnis beibringen:
alles Leben ist Leiden. Dieser schauerliche Weg zu dem
Erlosung-bringenden Wissen ist allein Schopenhauer eigen.
Die indische Philosophic kennt ihn nicht, ja, nach der Theorie
des Vedanta ist er sogar unmoglich; denn wir sahen, dass
fur diesen jeglicher Schmerz eine blosse Fiktion ist, ohne
irgend welche Realitat. — Die andere Art, zu dem »Wissen«
um die Schmerzhaftigkeit alles Daseins zu gelangen, hat es
bloss mit dem erkennenden Bewusstsein zu thun. Es handelt
sich hierbei bloss um das erkannte Leiden. Denn auch
derjenige, der das relativ glucklichste Leben geniesst, muss,
falls er nur offenen Blicks in die Welt schaut, gar bald inne
werden, wie es mit allem Dasein beschaffen ist. Das also
ist das buddhistische Element der Schopenhauer'schen vidya.
Zu ihm gesellt sich als vedantistisches Element die Identitats-
lehre. Der Mensch erkennt intuitiver Weise die Formen
aller Individualitat als nichtig, er sieht durch den Schleier
der maya hindurch, dass alle Individualitat ein upadhi ist,
das dem Kern des Menschen nicht anhaftet, er erschaut
unmittelbar hinter der triigenden Vielheit die Einheit des
Einzig-Realen. Er weiss, dass das innerste und wahre Selbst
in alien Wesen das gleiche ist, dass demnach der Unterschied
zwischen Qualer und Gequaltem auf der avidya, auf einem
Truge beruht, und jedes Leiden jede Willenserscheinung in
gleichem Masse trifft. Dieser Mensch muss daher die. end-
und zahllosen Leiden alles Lebenden als die seinen betrachten,
die ihn unausgesetzt qualen; er muss den Schmerz der ganzen
Welt sich aneignen. »Ihm ist kein Leiden mehr fremd.
1) W. a. W. u. V. I p. 463 ff. So klar der hier in Rede stehende Vorgang ist, so
soil nicht verschwiegen werden, dass Schopenhauer nicht immer in gleicher Weise davon
redet: Einmal wird die ErKenntnis auf diese Weise berichtigt, wie im Text oben dargestellt
wird, ein anderes Mai aber der Wille unmittelbar, mit Umgehung des Intellektes, afficirt,
»gebrochen«.
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Alle Qualen Anderer, die er sieht und so selten zu lindern
vermag, alle Qualen, von denen er mittelbar Kunde hat, ja
die er nur als moglich erkennt, wirken auf seinen Geist wie
seine eigenen.*1) Dieses also ist nach Schopenhauer die
intuitive, nicht etwa abstrakte, Erkenntnis, die zur Erlosung
ftihrt. Sie setzt sich zusammen aus der buddhistischen An-
schauung, dass alles Leben Leiden ist, potenziert durch die
vedantistische Identitatslehre. Sie heisst die ethisch-geniale,
weil sie unter Erhebung iiber das principium individuationis
sich zur Anschauung der Idee des Lebens, zur Erkenntnis
des wahren Wesens der Welt aufschwingt.
Diese Erkenntnis nun wirkt auf den Willen als Quietiv:
sie beschwichtigt das Wollen und hebt es auf. Was den
Willen zu immer neuen Begierden aufstachelte, das waren
die Objekte der Aussenwelt, die Motive fur ihn wurden,
Ziele seiner Bestrebungen. Diese Objekte haben aber nun
vollstandig ihre Wirksamkeit verloren, indem das Medium
aller Motive, die Erkenntnis, eine total andere geworden,
aus der empirischen zur ethisch-genialen fortgeschritten ist.
Diese neue Erkenntnis macht es den Objekten der Aussen-
"welt unmoglich, in der alten Weise den Willen zu beeinflussen;
denn sie belehrt den Willen, dass er bei alien seinen
Aeusserungen niemals das erstrebte Wohlsein, aber immer
das unerwiinschte Leid erreichen wird. Nun werden zwar
die ausseren Objekte ebenso erkannt wie friiher, aber der
Wille reagirt nicht mehr darauf. Zur erschreckenden Deut-
lichkeit ist ihm geworden, was das sei, das er .so lange
schon gewollt hat, und er will es auf diese Erkenntnis hin
nicht mehr. Er wendet sich vom Leben ab; ihm schaudert
nun vor dessen Genussen, in denen er die Bejahung des
Lebens erkennt. Jedes Verlangen schlaft ein, um nie mehr
zu erwachen; der Wille schwindet, er hebt sich selbst auf:
die Verneinung des Willens zum Leben tritt ein. Es ist
genau das derselbe Vorgang, den Buddha mit der Ertotung
des »Durstes« meint: der ganzliche Umschlag aus dem
velle in das nolle. Darum auch eine Wandelung in
•ethischer Sphare. Das Korrelat der empirischen Erkennt-
1) W. a. W. u. V. I § 68, p. 446 ff.
12-
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nis der Motive war der empirische Charakter, das der
ethisch-genialen Erkenntnis ist der intelligible, dieser wahre
und eigentliche Kern des Menschen. Der intelligible Cha-
rakter, von Haus aus eine ganz bestimmte Willensrichtung,
ein genau modificiertes Streben, wird durch die befreiende
Erkenntnis zuriick gedrangt und vollstandig aufgehoben, so
dass ein ganz Anderes an seine Stelle tritt: ein Nichtwollen.
Nach aussen hin erscheint diese vollkommene Willenlosig-
keit als freiwillige Entsagung und Resignation, in wahrer
Gelassenheit und Demut. Ein durchaus neuer Mensch ist
an die Stelle des alten getreten, ein Mensch, der nicht mehr
vom grimmen Willensdrang gepeinigt wird, sondern nur als
rein erkennendes Wesen tibrig geblieben ist, als ungetriibter
Spiegel der Welt, deren Gaukelbilder ihn nicht mehr zu
angstigen vermogen, weil sie nicht mehr Motive fur ihn
werden konnen. Worauf sollten sie auch wirken? Der
Wille, der intelligible Charakter, ist ja nicht mehr; er hat
sich selbst frei aufgehoben.--------Es braucht die Ueber-
einstimmung dieser Gedanken mit den buddhistischen nicht
besonders hervorgehoben zu werden; es ist evident, dass
hier wie dort von einer transscendenten radikalen Aenderung
auf moralischem Gebiet die Rede ist, so dass die Erlosung
durch die Selbstverleugnung herbeigefiihrt wird oder viel-
mehr in ihr liegt. Dadurch ist auch der Gegensatz zum
Vedanta gegeben, der, wie wir sahen, die Erlosung in die
Selbsterkenntnis setzt, mit der Willensverneinung erst im
Gefolge. Daran schliesst sich unmittelbar der im vorigen
Paragraphen dargestellte Widerspruch unserer Systeme hin-
sichtlich der Natur des nirvana.
Wir wollen zum Schluss noch zweier Probleme gedenken,
die bei der Erlosunglehre aufgeworfen werden konnen,' und
die
bei alien unseren Philosophen zu gleichem Resultate
fiihren.
a) Der Mensch erlost sich selbst.
Die Erlosung ist durchaus eine freie That des Menschen
selbst. Wir sahen ja, dass aus den hier betrachteten Systemen
die Vorstellung eines allmachtigen, allgiitigen Gottes verbannt
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ist. Von sich selbst kommt jedem Erdensohne das Heil;
in ihm selbst ruht die erlosende Kraft. Also spricht Buddha
zu dem Asketen Upaka: »Aus eigner Kraft besitze ich die
Erkenntnis; wen sollte ich meinen Meister nennen?*1) Ebenso
heisst es im Dhammapada:
»Selbst sind des Bosen Thater wir, selbst die Quelle des Leids; auch nur
durch uns selbst
Bleibt ungethan das Bose, gereinigt werden wir durch uns selbst. Ob
du rein
Bist oder unrein, hangt von dir selbst ab, keiner den andern reinigen kann.«2)
Buddha ist fur seine Anhanger nicht das, was der
Christus fur die Christusglaubigen ist, ein Gott, der aus
iiberschwanglicher Liebe das Versohnungopfer fur alle
Kreatur bringt. Unabhangig von irgend welcher Gottheit
schreitet die Welt in das nirvana hiniiber, ein jeder unab-
hangig vom anderen. Buddha kann nur den Weg zeigen,
den jeder Mensch fur sich allein Schritt um Schritt zu durch-
messen hat, nicht von einer himmlischen Macht getragen.
»Nicht wahr, ihr Monche, was ihr selbst erkannt, selbst ge-
schaut, selbst eingesehen habt, das redet ihr?«8) — Auch in
der atman-brahman-Lehre des Vedanta ist das brahman nicht
der Erloser; denn es ist die unbewegte AU-Einheit, die mit
der trugenden »Ausbreitung in Namen und Gestalten« als
solcher nichts zu thun hat und keineswegs in ihre Entwick-
lung oder das Schicksal des Einzelnen eingreift. Es ist nicht
der Erloser, weil in seiner Erkenntnis die Erlosung besteht.
Bei dieser Erkenntnis ist das brahman Objekt, aber als
Princip alles Erkennens ist es auch Subjekt. Die erlosende
Erkenntnis enthalt also ein Mysterium, vom Verstande
schlechterdings nicht zu erfassen. Um dieses Mysterium
einigermassen dem Menschen zu deuten, lasst der Vedanta
die Erlosung auf den Willen des icvara zu Stande kommen,4)
die also eine Gnade Gottes ist, wobei Gott dem Arzte ver-
glichen wird, der dem Geblendeten die Sehkraft wiedergiebt.
Schon die Kathaka-Upanishad spricht von solcher gottlichen
Gnade:
1) Oldenberg a. a. O. p. 353: E. Hardy. Buddhismus p. 32. 2) Hardy: Buddhismus
p. 129. 3) ib. Anm. 132 (zu p. 60): Oldenberg a. a. O. p. 349, 350. 4) Deussen a. a. O.
p. 90, 440 ff.
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»NJcht durch Belehrung ist er zu erlangen,
Nicht durch Verstand noch Schriftgelehrsamkeit:
Nur wen er wahlt, von dem wird er empfangen;
Ihm oft'enbart er seine Wesenheit.«
Dabei ist aber festzuhalten, dass die Vorstellung des
icvara nur auf dem Boden der avidya gilt, also keine wahr-
hafte Realitat aufweist, so dass recht eigentlich der Gott
durch Herbeifuhrung der Erkenntnis, die ihn selbst auflosen
wird, sich selbst vernichtet. Ebenso lasst nun auch Schopen-
hauer den Mythus der Gnade gelten, weil die erlosende Er-
kenntnis iiber den Menschen vollig ohne sein Zuthun, un-
erwartet, wie ein gnadenvolles Geschenk des Himmels kommt.1)
In Wahrheit aber tragt auch nach ihm der Mensch in eigener
Hand sein Geschick. »So wenig eine jiussere Macht diesen
Willen (des Menschen) andern oder aufheben kann, so wenig
kann auch irgend eine fremde Macht ihn von den Qualen
befreien, die aus dem Leben hervorgehen, welches die Er-
scheinung jenes Willens ist. Immer ist der Mensch auf sich
selbst zuriickgewiesen, wie in jeder, so in der Hauptsache.
Vergebens macht er sich Gotter, um von ihnen zu erbetteln
und zu erschmeicheln, was nur die eigene Willenskraft her-
beizufiihren vermag. — Des Menschen Wille ist und bleibjt
es, wovon Alles fiir ihn abhangt.«2) Und anders kann es
ja auch nicht sein; denn der Mensch ist ja ein Produkt seines
eigenen Willens. Der Mensch ist sein eigener Gott, er hat
nicht andere Gotter neben sich. —
b) Der Mensch erlost die Welt.
Grossartig ist der Gedanke, dass der Mensch sich selbst
erlost, noch grossartiger aber ist der, dass er in und mit
sich auch die ganze Welt erlost. Bei Buddha ist er zwar
noch nicht zu voller Deutlichkeit hindurchgedrungen. Denn
bei ihm sind die Individuen thatsachlich von einander ge-
trennt, ohne durch ein metaphysisches Band innerster Wesens-
identitat vereinigt zu werden. Wir diirfen aber wohl eine
1) W. a. W. u. V". I p. 478. — Dagegen will Mainlander, der den Atheismus wissen-
schaftlich zu begriinden gedenkt, den Gedanken der Gnadenwirkung nicht einmal in der
Form des Mythus gelten lassen. 2) W. a. W. u. V. I p. 384.
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Ahnung jenes Gedankens in den Worten Buddhas finden:
»Aber ich verkiindige euch, dass in diesem beseelten Leibe,
der nur klaftergross ist, die Welt wohnt und die Entstehung
der Welt und die Aufhebung der Welt und der Weg zur
Aufhebung der Welt.*1) Deutlicher finden wir ihn im Brah-
manismus ausgesprochen. Schon Schopenhauer interpretiert
in diesem Sinne einen Vers der Chandogya-Upanishad:
»Gleichwie hienieden hungrige Kinder um ihre Mutter her-
sitzen, so sitzen alle Wesen um das (vom Brahma-Wissenden
dargebrachte) Feueropfer,«2) welche Interpretation von
P. Deussen gebilligt wird.3) Seine bewusste Ausbildung er-
reicht jener Gedanke aber erst bei Schopenhauer.4) Und es
ist klar, wenn der Wille, das Ding-an-sich in alien Erscheinun-
gen, in einer derselben vernichtet worden ist, so muss er
auch in den samtlich iibrigen verschwinden, wodurch die
Erlosung der gesamten Menschheit und Welt bewirkt wird.
§ 20. Zeitweiligre, unvollstandig-e ErlOsung-.
Als eine merkwiirdige Uebereinstimmung zwischen Scho-
penhauer und den Philosophen des Brahmanismus, also auch
des Vedanta, kann es gelten, dass von beiden Seiten eine
zeitweilige Erlosung vom leidvollen Drang des Irdischen an-
erkannt wird, die, weil aus ihr der Mensch auf's Neue nach
kurzer Seligkeit in die Atmosphare des Schmerzes zuriick-
sinkt, nicht als eine vollstandige zu betrachten ist. Das
Medium freilich, in dem hier und dort diese unvollkommene
Erlosung vor sich geht, ist ein ganz verschiedenes, wie aus
folgendem erhellen wird.
1. Dem brahmanischen Denker ist dieses Medium der
traumlose Tiefschlaf.5) Den Tiefschlaf beschreibt Yajfiavalkya
als jenen Zustand, wo der Geist, »eingeschlafen, keine Be-
gierde mehr empfindet und kein Traumbild schaut. Das
ist die Wesensform desselben, in der er iiber das Verlangen
erhaben, vom Uebel frei und ohne Furcht ist. — Das ist
die Wesensform desselben, in der er gestillten Verlangens,
selbst sein Verlangen, ohne Verlangen ist und vom Kummer
1) Oldenberg a. a. O. p. 286. 2) W. a. W. u. V. I p. 450. 3) P. Deussen: Elements
der Metaphysik. p. 112. 4) W. a. W. u. V. I p. 449. 5) Deussen, Vedanta p. 205.
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geschieden. — Dann ist Unberiihrtheit vom Guten und Un-
beriihrtheit vom Bosen, dann hat er iiberwunden alle Qualen
seines Herzens.« Wie kommt der Mensch zu dieser Be-
freiung von allem Uebel? Die Seele, die ja nur durch ihre
Verbindung mit den upadhi's zur Individualseele geworden
ist, welche Verbindung der Erlosung, dem Einssein mit brah-
man entgegensteht, lost sich im Tiefschlaf von dem manas,
dem Centralorgan der indriya's, wodurch eben die Erlosung
bewirkt, die Einzelseele zur Weltseele wird. Aber eben nur
fur die beschrankte Zeit des traumlosen Tiefschlafes, aus dem
sie beim Erwachen in erneuter Verbindung mit dem sie auf-
nehmenden manas als die alte Einzelseele hervorgeht. Ja,
eigentlich ist iiberhaupt diese Erlosung nicht wirklich, weil
im Grunde die individuellen Unterschiede der Seele forfbe-
stehen, namlich potentiell, eben wie beim Weltuntergang,
wenn die Seele zum grossen Tiefschlaf auf eine Zeit in brah-
man zuriickkehrt.1)
2. Bei Schopenhauer liegt die zeitweilige Befreiung von
aller Qual und Pein auf dem Gebiete der asthetischen An-
schauung. Wenn der Intellekt, dem Frohndienst des Willens
sich entziehend, nicht mehr, wie es ihm seiner Natur nach
eigen ist, der durch den Satz vom Grunde bedingten Auf-
fassung von Einzeldingen als solchen folgt, wenn er sich
vielmehr zur Anschauung der in jedem Einzelwesen immanenten
allgemeinen Idee aufschwingt, so muss der Wille sich be-
sanftigen und ganz aus dem Bewusstsein schwinden. Denn
angeregt kann er nur durch Motive werden, diese aber liegen
in den Einzeldingen, niemals in den Ideeen, die nicht begehrt
werden konnen. Diese Erkenntnisweise ist die asthetisch-
geniale, eine Schwester der ethisch-genialen, von der im
vorigen Paragraphen die Rede war.2) Sie geht nicht mehr
den Relationen nach, die ein Objekt zum anderen oder zum
individuellen Willen des Beschauers haben mag, sondern
ruht in der festen Kontemplation des dargebotenen Objekts,
richtet sich auf das Wesentliche desselben, erkennt damit
1) Deussen a. a. O. p. 373. 2) Ueber das Verhaltnis von Genialitat und Heiliglceit
und sein Pendant im Sankhya-System. resp, im Vedantasara vergl. Deussen: Elemente der
Metaphysilc § 208. p. 148.
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die ganze Gattung, der es angehort, d. h. seine Idee. Sie
betrachtet die Welt sub specie aeternitatis, um einen Ausdruck
Spinozas zu gebrauchen. Der asthetisch anschauende Mensch
steht nun da als das »reine Subjekt des Erkennens«, als un-
getriibtes »Weltauge«, als »willensfreies Erkennen«, und das
vollstandige Zuriickweichen des Willens, des Verlangens, der
Begier fiihrt unmittelbar als solches jenen seligen Zustand
reinen Gliickes herbei, der einer wahrhaften Erlosung so
nahekommt, von dieser sich eigentlich nur durch seine nur
zu kurz bemessene Dauer unterscheidet.1)
So grundverschieden also auch die Wege sind, die bei
Schopenhauer und im Brahmanismus zu einer quasi-Erlosung
fuhren, so verdient doch die Thatsache einer Moglichkeit
einer solchen zur Vervollstandigung der Parallele angefiihrt
zu werden. Und betrachten wir diese quasi-Erlosung bei
Schopenhauer, so finden wir, dass sie der eigentlichen Er-
losung, der moksha, des Vedanta ziemlich nahe kommt.
Denn hier wie dort werden vom Intellekt alle individuellen
Unterschiede abgestreift, so dass nichts iibrig bleibt als das
metaphysische Erkennen, das raum- und zeitlos ist, in dem
nur ananda, d. h. Wonne liegt. Als einziger, freilich ge-
wichtiger Unterschied zwischen beiden Lehrmeinungen bleibt
bestehen, dass das metaphysische Erkennen des Vedanta
iiberhaupt kein Objekt mehr sich gegeniiber stehen hat,
wahrend es bei Schopenhauer immer als sein Korrelat die
raum- und zeitlose Idee fordert.
§ 21. Fortdauer des Lelbes ttber die ErlSsung1 hinaus.
Die Erlosung ist eine Thatsache. Es ist aber ferner
eine nicht minder gewisse Thatsache, dass der Augenblick
der Erlosung nicht mit dem Augenblick des Todes zusammen-
fallt, vielmehr der beseelte Leib iiber jenen hinaus fortdauert
und fortlebt. So verheisst der »Vollendete« in seiner ersten
Predigt im Wildpark Isipatana bei Benares den Jungern:
»Ihr werdet noch in diesem Leben die Wahrheit selbst
erkennen und von Angesicht zu Angesicht schauen.«2) Ebenso
verkiindet das Dhammapadam:
1) W. a. W. u.V. I§ 34 ff., p. 209. 2) Oldenberg a. a. O. p. 138.
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»Hat seine Wurzeln in der Erkenntnis Boden tief eingesenkt das GemUt,
Fesseln den Weisen keinerlei Dinge mehr und ist er der Ledigkeit froh,
Kennt er, von Licht erfiillt, die Begierde nicht mehr: dann ist er hier
schon erlost.«'')
Das nirvana kann also schon auf Erden erlangt werden.
»Der Jiinger, der Lust und Begier von sich abgethan hat,
der weisheitreiche, er hat hienieden die Erlosung vom Tode
erreicht, die Ruhe, das nirvana, die ewige Statte.«2) Es ist
das nur die Konsequenz der Erlosungtheorie; denn diese
lehrt, dass die Erlosung in der Ertotung des »Durstes« liegt,
in der Ueberwindung aller Leidenschaft, in der Abstreifung
aller Bande, die uns in Wiinschen und Wollen an die leiden-
volle Welt kniipfen. »Der Untergang der Lust, der Unter-
gang des Hasses, der Untergang der Verwirrung: das,
o Freund, wird nirvana genannt.«3) Der Leib des Erlosten
besteht dann, »abgeschnitten vom Strome des Werdens.«*)
Fiir den Buddhisten liegt darin eigentlich nichts Problematisches.
Er kennt ja kein Ding-an-sich, dessen in irgend welcher
Weise auch zu denkende Erscheinung der Leib sei, und das
irgendwie durch die Erlosung afficiert wlirde. Er nimmt
den Leib als durch den »Durst« eines friiheren Lebens hervor-
gebracht; die Vernichtung des »Durstes« kann ihren Einfluss
nur auf die Zukunft, nicht auch auf die Vergangenheit er-
strecken. Darum werden auch die bosen Werke nicht, wie
es gemass dem Vedanta geschieht, in der Erlosung aufge-
hoben, sie miissen vielmehr auch nach dieser abgebiisst
werden, wenn auch die Strafe sich gelinder gestalten mag.5)
So muss denn der Leib weitergetragen werden, bis die
Stunde kommt, da der Fluss der sankhara's, eingeleitet durch
den »Durst« eines friiheren Lebens, abgelaufen ist. Dann
zerbricht auch der Leib, und weder Gotter noch Menschen
werden den Erlosten wieder schauen. —
Das Fortbestehen der Leiblichkeit ist also fiir den
Buddhismus kein Problem; er nimmt diese Thatsache hin
wie jede andere, wie die Thatsache des Bestehens der Welt.
Um so mehr ist es aber ein solches fiir den Vedanta und
1) E. Hardy: Buddhismus p. 58. 2) Oldenberg a. a. O. p. 286. 3) ib. p. 287 Anm. 1.
4) ib. p. 2S9. 5) ib. p. 249 Anm. 6.
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Schopenhauer. Denn was den ersteren anbetrifft, so ist der
Leib als Ausdruck einer Individuality auf der falschen Err
kenntnis basirt, der avidya, die in der Erlosung, dem
samyagdarcanam, der universellen Erkenntnis schwindet und
demnach eigentlich den Leib nach sich ziehen miisste; und
bei Schopenhauer ist der Korper Objektitat des Willens —
wie aber kann eine Willenserscheinung fortbestehen, wenn
der Wille selbst vergangen ist? Wir wollen sehen, wie hier
und dort das Problem gelost worden ist.
1. Wir wissen, dass jedes Dasein genau vorherbestimmt
ist durch die in einem vergangenen Lebenslauf veriibten.
Werke, durch die Thaten, als deren Siihne wir das augen-
blickliche Leben mit seinen gesamten Verhaltnissen be-
trachten miissen. Jedes Werk ist wie ein Samenkorn, aus
dem als Frucht seine Vergeltung schiesst. Die Erlosung jedoch
»verbrennt den Sam en der Werke«, und was der Mensch
friiher gethan, ist nun, »als hatte er es nicht gethan«; es.
braucht in keiner Weise mehr gesiihnt zu werden. Jene
Werke nun aber, sagt der Vedanta, deren Samen schon
aufgegangen ist, die sich bereits in Frucht verwandelt haben,
die kann die Erlosung nicht mehr verbrennen; es sind das
eben jene Werke, die den Leib »gezimmert«, den Korper
und seine Besonderheiten hervorgebracht haben. Diese
miissen daher sich selbst ausleben, sich selbst abtragen.
Ihre Frucht, die Leiblichkeit, wird daher so lange bestehen,
der Mensch so lange leben, bis auch die dem Leib zur
Unterlage dienenden Werke durch das Leben selbst verzehrt
worden sind. Bekannt ist das, auch von Schopenhauer aus
dem Veda angefiihrte und geruhmte,1) Bild, das das Leben
der Topferscheibe vergleicht, die, gemass dem fruher (durch
das karman) erhaltenen Stosse, auch dann noch zu wirbeln
fortfahrt, wenn auch das Gefass, dem sie zur Unterlage
diente (die Erlosung), vollendet ist. — Das Problem des
Fortbestehens der Korperlichkeit wird also zu losen versucht
durch die Unterscheidung von zwei Arten zu siihnender
Werke, von solchen, deren Suhnung noch nicht begonnen
hat — diese werden durch die Erlosung vernichtet —, und
1) W. a. W. u. V. I p. 452, Anm. Lindner-Frauenstadt a, a. O. p. 180.
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— 188 —
von solchen, deren Vergeltung bereits eingetreten ist, in der
Korporisation, die also durch die Erlosung nicht mehr
hintertrieben werden kann, sondern fernerhin getragen werden
muss. Nur das eine kann die Erlosung erreichen, dass der
Leib gleich alien anderen Gestalten der Welt als Tauschung
erkannt wird. Ist also die Illusion, die dem Erlosten eine
Leiblichkeit vorspiegelt, von ihm nicht zu heben, so wird
sie ihn doch nicht weiter anfechten. Ja, wer immer noch
seines Leibes Schmerzen fiihlt, dem ist die erlosende Erkenntnis
noch nicht mit der ganzen Fiille ihres Lichtes aufgegangen.
So lebt denn der Asket sein Scheinleben fort, mitten im
Gedrange der Welt in selbstgentigsamer Einsamkeit, »als
war' er blind und taub und ohne Sinn.« Tag fur Tag sieht
er mit stiller^Zufriedenheit seinen Leib, die Ernte friiherer
Thaten, mehr abwelken, dahinsterben, bis endlich der letzte
Schein versinkt: »brahman ist er und in brahman lost er
sich auf.«
»Wie StrSme rinnen, und im Ocean,
Autgebend Name und Gestalt, verschwinden,
So geht, erlost von Name und Gestalt,
Der Weise ein sum gottlich-hochsten Geiste.«l)
2. Schopenhauer lost das in Rede stehende Problem
einfacher und griindlicher, freilich nicht ohne dabei in einen
gewissen Widerspruch mit sich selbst zu geraten. Wahrend
namlich im Ganzen seine Meinung dahingeht, dass in der
Erlosung der Wille total aufgehoben wird, und der Mensch
also »nur noch als rein erkennendes Wesen, als ungetriibter
Spiegel der Welt (ibrig«2) ist, erklart er an anderen Stellen
oder sogar [in jgleichem Atem, der Wille sei »ganzlich er-
loschen, bis auf jenen letzten glimmenden Funken, der den
Leib erhalt und mit diesem erloschen wird.«s) Der Wille
ist also thatsachlich nicht ganzlich erloschen, es bleibt viel-
mehr »ein schwacher Rest, der als Belebung dieses Leibes
erscheint.«4) Die ganzliche Verneinung des Willens ist dem-
nach noch einer Steigerung fahig, bis zu dem Grad, »wo
selbst der zur Erhaltung der Vegetation des Leibes, durch
1) Deussen, a. a. O. p. 459 ff. 2) W. a. W. u. V. I p. 462. 3) W. a. W. u. V. I
p. 461. 4) ib. p. 452.
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Aufnahme von Nahrung, notige Wille wegfallt.*1) Der Wille
schwindet darum vollstandig erst mit dem Leibe, den er als
letzte Spur belebte,2) und die wahre Erlosung sollte daher
eigentlich mit dem Tode zusammenfallen. Und so sagt denn
auch Schopenhauer selbst: »dass mit dem Leben dieses
Leibes auch der Wille, dessen Erscheinung er ist, sich
aufhebt.«s)
Mit diesem Widerspruch hangt ein anderer zusammen,
in Beurteilung der Frage namlich, ob die einmal erlangte
Erlosung als unanfechtbares Gat, unantastbares Besitztum
gilt oder durch bestandigen Kampf erhalten werden musse.
Zwar sagt Schopenhauer von dem Erlosten: »Ihn kann nichts
mehr angstigen, nichts mehr bewegen,«4) aber im Ganzen
meint er doch, es bediirfe eines steten Ringens, um den.
Zustand des leidlosen Nichtwollens aufrecht zu erhalten.6)
Und mit Recht. Denn wenn auch nur der kleinste Funke
des Willens fortglimmt, so ist immer die Moglichkeit ge-
geben, dass er zu neuem Brande anwachsen kann. Von
einem solchen Kampfe weiss der Vedanta nichts. »Darum,,
wer solches weiss, der ist beruhigt, bezahmt, entsagend, ge-
duldig und gesammelt; nur in dem Selbste sieht er das
Selbst, alles sieht er an als das Selbst; nicht iiberwindet ihn
das B6se, er iiberwindet alles B6se; nicht verbrennt ihn das
Bose, er verbrennt alles Bose, frei von Bosem, frei von Leiden-
schaft und frei von Zweifel wird er ein brahmana, er, dessen
Welt das brahman ist.«^ Der Buddhismus hingegen tritt auch
hier wieder an Schopenhauers Seite, indem er seinen Jungern
in alien Dingen die Wachsamkeit auf sich. selbst zur vor-
nehmsten Pflicht macht. Wir erkennen hier, wie sich die Art
des Erlosunggedankens selbst in mehr untergeordneten Fragen
zur Geltung bringt. Ist die Erlosung wirklich das Ueber-
winden der Unwissenheit durch die Wahrheit, so ist nicht ein-
zusehen, wie man dieser einmal errungenen besseren Er-
kenntnis verlustig gehen konnte; wohl aber kann ein Trieb,
obgleich schon einmal erstickt, auf s Neue in ganzer Starke
erwachen.
1) ib. p. 474. 2) ib. p. 486. 3) ib. p. 449. 4) lb. p. <62. 5) ib. p. 463. 6) Deussen,.
Vedanta, p. 211.
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§ 22. Die Tier-welts.
AlS einen Uebergarigparagraphen zu der im folgeriden
Kapitel aus ihrer metaphysischen Grundlage zu entwickelnden
eigentlichen Ethik unserer Philosophen geben wir dieseh Ab-
Schnitt, der sich mit der Stellungnahme der betrachteten
Systeme zu den Tieren und ihren ethischen Vorschrifteri be-
schaftigt, die das Verhaltnis des Menschen zu den unver-
hiinftigen Mitwesen regeln sollen.
Die mitfuhlende Teilnahme, die zarte Schonung, mit der
hian in Indien bis auf den heutigen Tag den Tieren ent-
gegenkommt, ist bekannt. Aus dem tiefempfundenen Be-
wusstsein, dass die Kluft zwischen Mensch und Tier nicht
bis zum eigentlichen Kern ihres Wesens sich erstreckt, dass
in Mensch und Tier vielmehr das absolut identische Sein
lebt und leidet, fliesst jene Grundiiberzeugung, die Mensch
und Tier auf die gleiche Stufe stellt. So wird schon im
Rigveda zwischen beiden ein genereller Unterschied nicht
gemacht. In eihen Ausdruck werden da »zwei- und vier-
fiissige Tiere« zusammengefasst; neben Ross, Rind, Schaf
und Ziege gilt der Mensch als das hochste Opfertier.') Da-
her betrachtet man es schon in vedischer Zeit geradezu als
ein Verbrechen, ein Tier zu toten, sogar beim Opfer,2) wes-
halb das Gesetz vorschreibt, das Opfertier vor dem Schlach-
ten um seine Einwilligung hierzu zu bitten.3) Mit der Auf-
nahme der Identitatslehre nun schwinden die Grenzen zwischen
Mensch und Tier vollstandig. Ueber jedes Tier muss nun
der Anhanger des Brahmanismus die heiligen Worte »tat
tvam asi« sprechen, »das bist Dul« Dazu gesellt sich das
Dogma der Metempsychose. Die Seele, die sich in dem
einen Dasein als Mensch verkorpert hatte, kann irii kunftigen
in einem Tierleib wiedergeboren werden. Da wird eine
vbllkommene Schonung aller Tiere zu selbstverstandlicher
Pflicht. Und die Erkenntnis von der Identitat des innersten
Wesens in alien Geschopfen wird begleitet von einer solchen,
die eine Uebereinstimmung auch in untergeordneteren Dingen
statuiert. Man weiss, dass der tierische Intellekt ebenso wie
I) Zimmer: Altindisches Leben p. 72. 2) Deussen, Vedanta p. 427. 3) ift p. 324.
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der menschliche im Dienste des Egoismus steht,1) dass
letzterer nur eine Steigerungform des ersteren ist. Man
weiss, dass die einzelnen Tiere durch die Bande von Zu-
neigung und Liebe mit einander verkniipft sind,2) eben wie
die Menschen. Man betrachtet alles in allem die Tiere als
Seinesgleichen und muss sogar geneigt sein, ihnen ein grosseres
Mass des Mitleids zuzuwenden als selbst den Menschen, weil
sie, des Vermogens der geistigen Lust entbehrend, mehr
leiden als jene. Erwahnt mag iibrigens im Vorubergehen
werden, dass der Vedanta an generatio aequivoca glaubt,
erwahnt deshalb, weil auch Schopenhauer an der Moglich-
keit einer solchen festhalt. Beide sind namlich der Ansicht,
dass die niederen Tiere, das Ungeziefer, von dem Vedanta
svedaja, d. h. Schweissgeborene genannt, ohne Zeugung ent-
stehen.3) Auch meint der Vedanta, dass aus dem nicht-
geistigen Mist der geistige Mistkafer geboren werde.*)
Aus dem Brahmanismus ist die innige Tierfreundschaft
auch in die heterodoxen Systeme iibergegangen.5) Auch in
diesen finden wir ein liebevolles Sich-Einswissen mit den un-
verniinftigen Mitwesen, die vollkommenste Anerkennung der
Anspriiche, die auch das unterste Geschopf auf Leben und
Wohlsein hat. Gilt auch die Identitatslehre nicht mehr, so
schlingt doch die Lehre von der Seelenwanderung das feste
Band um alles, was da lebt, sei es Mensch oder Tier. Dem
Buddhisten nicht am wenigsten wird den Tieren gegeniiber
Wohlwollen und Schonung anempfohlen. Ein Zeugnis statt
vieler. Die erste der fiinf Ordnungen, aus denen die fiinf-
fache Rechtschaffenheit, die conditio sine qua non des Bu-
ddhisten, besteht, gebietet, kein lebendes Wesen zu toten.
»Ein ordinierter Monch darf nicht wissentlich ein Wesen des
Lebens berauben, auch nicht einen Wurm oder eine Ameise.«6)
Wer sich gegen dieses Gebot vergangen, hat eben dadurch
seine Jiingerschaft verwirkt, sich selbst aus der Gemeinde
ausgestossen. Der Buddhismus ist aber iiber diese bloss
theoretische Anerkennung der Rechte der Tiere zu positiv-
1) Deussen a. a. O. p. 59. 2) ib. p. 258. 3) W. a. W. u. V. I p. 173. ib. II p. 372.
Willen in der Natur p. 56. Parerga II p. 160. Lindner-Frauenstadt a. a. O. p. 168. Deussen,
Vedanta, p. 259. 4) Deussen, a. a. O. p. 295. 5) E. Hardy: Buddhismus. Ann. 41 zu p. 15-
6) Oldenberg a. a. O. p. 377.
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praktischer Thatigkeit und Fiirsorge fiir Wohl und Gesund-
heit leidender Geschopfe aus der Tierwelt hinausgeschritten:
bekannt ist, dass Konig Asoka (263—222) durch sein ganzes
Reich Tierhospitaler anlegen liess, wie solche noch jetzt in
Indien, z. B. in Bombay, unterhalten werden. — Wenn im
Juni die Regenzeit beginnt, so unterbricht noch heute, gemass
dem Gebote Buddhas, das nun alter als 2000 Jahre ist, der
buddhistische Mooch sein Wanderleben, weil jeder Schritt
auf feuchtem Wege ein junges Tierleben vernichten wurde.
Schopenhauer geht zwar nicht so weit wie seine indischen
Geistesverwandten, dem Menschen das Recht, Tiere zu toten,
iiberhaupt abzusprechen. Durch Entbehrung der tierischen
Nahrung wiirde der Mensch, besonders im Norden, mehr
leiden als das Tier durch seinen Tod, den man aber rasch
und ohne Qualerei eintreten lassen soil.1) Auch leidet ein
Insekt durch seinen Tod noch nicht so viel wie ein Mensch
durch dessen Stich.2) Im iibrigen aber hat sich die Moral
auch auf die Tiere zu erstrecken, in denen dasselbe Wesen
lebt wie im Menschen. Mensch und Tier gehoren zusammen;
mit scharfen Worten wirft Schopenhauer dem Christentum
vor, zwischen diesen beiden Blutsverwandten eine unnatiir-
liche Kluft aufgerissen zu haben.3) Er erkennt vielmehr in
den Tieren unsere »unverniinftigen Briider;«4) ihm ist der
Mensch »das verniinftige Tier mit individuellem Charakter.«5)
Ausgehend von der Thatsache der Wesensidentitat fordert
er fiir die Tiere nicht Erbarmen, sondern Gerechtigkeit,0)
wird er der etfrige Vorkampfer der segenreichen Tierschutz-
vereine, die sich eine Aufgabe gestellt haben, an der die
Religion leider voriibergegangen ist.
Der liebenswerten Ziige in Schopenhauers Charakter
mogen nicht viele gewesen sein; hier, in seiner Tierfreund-
schaft, finden wir ihrer einen, der mit vielem versohnen kann.
Wir wissen aus seiner Biographie von Gwinner, wieviel auf-
merksame Teilnahme er den Tieren entgegenbrachte. »Keine
Gelegenheit, das Tierleben zu beobachten, wurde versaumt,
Menagerien und zoologische Garten zahlten ihn zu ihren
1) Ethik p. 245. 2) W. a. W. u. V. I p 440 Anm. 3) Parerga II p. 396 ff. 4) W.
a. W. u. V. I p. 43. 5) ib. p. 340. 6) Ethik p. 238 ff.
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— 193 —
besten Kunden.«x) Wie oft, wie wohlthuend spricht uns aus
seinen Werken die liebevolle Vertiefung in die Natur der
Tierwelt an. Bis hinab auf die Raupen erstreckte sich seine
wohlwollende Anteilnahme an tierischem Leben.2) Vor allem
waren die Hunde seine Freunde. Sein Zimmer schmtickten
sechzehn Hundebildnisse unter Glas und Rahmen; als sein
standiger Begleiter hat der weisse Pudel Atman, dessen Nach-
folger sogar im Testament nicht vergessen wurde, eine ge-
wisse Beriihmtheit erlangt. Zu Frauenstadt ausserte er ein-
mal: »Wenn es keine Hunde gabe, mochte ich nicht leben.«s)
— In der ausgesprochenen Tierfreundschaft, die einst Franz
von Assisi, »diese wahre Personification der Askese und
Vorbild aller Bettelmonche«, in so riihrender Weise gezeigt,
sieht Schopenhauer ein Hervortreten der »Verwandtschaft
desselben mit dem indischen Geiste.«*) Das berechtigt uns,
von ihm selbst aus gleichem Grunde Gleiches zu behaupten.
Dieses auch die Veranlassung, auf diese Frage mehr specieller
Natur einzugehen. —
Uebrigens diirfen wir nicht verschweigen, dass Schopen-
hauers Vorliebe fur die Tiere oft einen nicht eben forder-
lichen Bund mit seiner sattsam bekannten pessimistischen
Menschenverachtung eingeht. Wenn er die moralischen und
intellektuellen Eigenschaften z. B. der Hunde preist, an denen
man fast allemal Freude und Befriedigung erlebe, so ge-
schieht es selten, ohne dass dabei ein richtender Seitenblick
auf das Geschlecht der Bipedes fallt, deren Qualitaten solche
Freude zu verleihen eben nicht im Stande sind. So heisst
es an einer Stelle: »— Woran sollte man sich von der end-
losen Verstellung, Falschheit und Heimtiicke der Menschen
erholen, wenn die Hunde nicht waren, in deren ehrliches
Gesicht man ohne Misstrauen schauen kann?«5) Oder anders-
wo: »Wie vorteilhaft sticht doch diese, ihm (dem Hunde)
von der Natur eingegebene Begriissung (durch das ausdrucks-
volle, wohlwollende und grundehrliche Schwanzwedeln) ab,
gegen die Bucklinge und grinsenden Hoflichkeitsbezeugungen
der Menschen, deren Versicherung inniger Freundschaft und
1) Gwinner a. a. O. p. 603. 2) W. a. W. u. V. II p. 555. 3) Lmdner-FrauenstaQt
a. a. O. p. 170. 4) W. a. W. u. V. II p. 705. 5) Parerga II p. 225.
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Ergebenheit es an Zuverlassigkeit, wenigstens fur die Gegen-
wart, tausend Mai iibertrifft.*1) In gleicher Weise verherr-
lichte Schopenhauers Bruder im Pessimismus, Lord Byron,
auf Kosten der Menschen seinen treuen Hund in der be-
kannten Grabschrift »Inscription on the monument of a
Newfoundland dog.« — Indisch ist diese Wendung der Tier-
freundschaft kaum. — —■
IV. Metaphysik und Asketik.
§ 23. Binleitung-: sociale und asketische Moral und
Ihre Begrundung:.
Wenn Schopenhauer meint, die Moralsysteme aller Zeiten
und Volker hatten im wesentlichen das Selbe gelehrt, so
ist diese Ansicht doch nur in sehr bedingter Weise als wahr
anzuerkennen. Wie gross ist z. B. die Kluft zwischen der
Hedonik des Aristipp und der christlichen Ethik in ihrer
hehren Lauterkeit. Ueberhaupt sehen wir bei einem Ueber-
blick iiber die sittlichen Anforderungen, wie sie von Philo-
sophen oder Religionstiftern an ihre Anhanger gestellt
worden sind, zwei fundamental geschiedene Gruppen aus-
einandertreten, wobei zwar das Objekt in beiden das gleiche
bleibt: der menschliche Wille in Trieb und Affekt — aber
das Ziel, das diesem als summum bonum vorgestellt wird,
ein grundverschiedenes ist, so dass der ganze sittliche Process
in anderen Bahnen verlaufen muss. Nur innerhalb der ein-
zelnen Gruppen kann mit Schopenhauer von einer Ueber-
einstimmung der Moralphilosophen gesprochen werden. Deut-
lich unterscheidet sich die natiirliche, sociale Moral von der
pessimistischen, asketischen, quietistischen. Nach der socialen
Moral erwiichst die Sittlichkeit allein aus den zahlreichen
Wechselbeziehungen, die ein Band gemeinsamer Interessen
um alle Menschen schlingen, soweit sie Glieder einer weiteren
oder engeren socialen Gemeinschaft sind; die social-natiir-
liche Moral fasst das Individuum als Glied der Gesamtheit
1) W. a. W. u. V. II p. 108. Vergl. auch Parerga II p. 618.
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und will die vielfachen Verhaltnisse regulieren, die sich aus
Staat und Gesellschaft ergeben. Ihre Aufgabe ist demnach,
eine derartige Entwickelung der alien Menschen einwohnenden
Triebe zu fordern, dass ein Konflikt derselben in den ver-
schiedenen Individuen nach Moglichkeit vermieden werde
oder doch eine solche Gestalt annehme, dass die Erhaltung
des Gemeinwesens nicht gefahrdet wird; in dieser Erhaltung
erkennt sie ihr vornehmstes Ziel. — Die asketische Moral
hingegen isoliert den Einzelmenschen, lost ihn aus dem
grossen Verbande, in den ihn ja nur aussere, zufallige Um-
stande versetzt haben, und weist ihn auf sich selbst zuriick.
Sie stellt iiber die aussere Arbeit, die als Pflicht des Staats-
biirgers zu leisten ist, eine andere, ungleich wichtigere, die
innere Arbeit an sich selbst, am eigenen Ich, die Heiligung
der Person, die Gesinnungbildung. Nach ihr besteht der
sittliche Process nicht, wie gemass der socialen Moral, in
geordneter Bethatigung menschlich-naturlicher Krafte zum
Zweck einer Verbesserung und Ausgestaltung gegebener
weltlicher Verhaltnisse, sondern in der totalen Abkehr von
alien diesen, die durch eine pessimistische Wertung aller
natiirlichen Bedingungen als nichtig, ja direkt als unmoralisch
betrachtet werden. Sie wendet sich ab von alien Aufgaben
eines thatigen, schaffensfrohen Lebens und befiehlt uns, das
Unrecht zu unterlassen, nicht, weil es storend in den Verlauf
des Ganzen eingreifen wiirde, sondern weil es ein Hemmnis
der eigenen Vervollkommnung bedeutet. Von einer Be-
kampfung desselben, so weit es durch andere ausgeiibt wird,
zum Besten des Gemeinwohles, ist nur in sehr bedingter
Weise die Rede; der asketischen Moral ist die Welt nichts,
das eigene Seelenheil alles. Der sittliche Process wird vom
Boden der Aussenwelt in das Innere des einzelnen Individuums
iibertragen, das in bewusster Autarkie vom Wohl und Wehe
des Nebenmenschen absieht und, um die Versittlichung des
eigenen Ich zu fordern, in asketischer Selbstzucht jede
Forderung natiirlicher Triebe unterdrii-kt. —
Wo wir nun im Lauf der mensciilichen Entwicklung,
die Jahrhunderte hindurch, die asketisch< F.thik zu Ungunsten
der natiirlichen in den Vordergrund tret en sehen, da verdankt
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— 196 —
sie diese bevorzugte Stellung einer vorgefassten transscendentr
metaphysischen Weltanschauung. Jegliche Ethik muss be-
griindet sein; der Moralphilosoph, der die Gesetze sittlichen
Handelns entwickelt, muss eine Quelle namhaft machen, aus
der er alles wahre Wohlverhalten fliessen lasst. Das trifft
zu fiir die beiden Formen der Ethik, fur die sociale sowohl
als fiir die pessimistisch-antisociale. Wir finden nun, dass
da, wo der Mensch nur als Mensch gilt, ausgestattet mit
bestimmten naturlichen Bestrebungen, als Erdenbiirger, dessen
wahre Heimat in der fasslichen Realitat dieser Welt und
nicht in einer transscendenten Daseinsform liegt, die Ethik
sich, wie nicht anders moglich, nur auf die jedem Menschen
angeborenen Triebe und Veranlagungen stutzt, dass man
alles Wohlverhalten moralischer Art rein aus der menschlichen
Natur heraus erklart und die Moralitat streng anthropologisch
bedingt sein lasst. In wiefern eine Philosophic in dieser
Weise jeder Metaphysik entraten kann, ohne dem krassesten
Materialismus anheimzufallen, das ist hier nicht zu unter-
suchen; wir behaupten hier nur, dass eine Moral, die durchaus
der Metaphysik sich entschlagt, notwendig die sociale Form
annehmen muss, wie wir es thatsachlich bei den, jeder
Metaphysik schroff entgegentretenden Systemen des Materialis-
mus sehen. Und es bedarf keines Beweises: wo eine im
wahrsten Sinne des Wortes immanente Philosophic Welt und
Mensch im allgemeinen aus sich selbst heraus erklart, und
demnach die ethische Disciplin im besonderen nicht anders
verfahren darf und kann, da muss, gleichwie in der sichtbaren
Natur und Erde die Wurzeln des Menschen liegen, auch
Ziel und Aufgabe seines Handelns auf diese Natur und Erde
beschrankt bleiben. Wo das sittliche Thun zuriickgefuhrt
wird auf anthropologisch nachweisbare Triebfedern, da
empfangt es den Stempel moralischen Wertes durch seine
Uebereinstimmung mit den naturlichen Gesetzen, an denen
jede menschliche Gesellschaft, im hochsten Sinne der Staat
erwachst. Wer die Ethik anthropologisch begriindet, wird
dadurch unumganglich zu der socialen Form derselben geleitet,
wie umgekehrt, alle sociale Moral sich nur aus der rein
naturlichen Veranlagung des Menschen entwickeln kann-
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Das Hier ist des Menschen Heimat, das Hier das Feld seiner
Thatigkeit. —
Mit einem Schlage aber wird die Unbefangenheit, mit
der ein sittlicher Mensch die naturlichen Daseinsbedingungen
betrachtet, zerstort, wenn eine metaphysische Weltbetrachtung
eine uniibersteigbare Kluft zwischen Natur und Uebernatur
aufreisst. Dann geht ein nie zu versohnender Gegensatz
durch alles Leben, alles Denken, alles Handeln; wie man
auch die geschiedenen Pole nennen mag: Gott und Welt,
Geist und Natur, Ding-an-sich und Erscheinung, es bleibt
bestandig der Gegensatz zwischen der Welt des siindigen
Diesseits und der jenseitigen Welt der Heiligkeit; auf der
einen Seite Verwirrung, Schuld und Leid, auf der anderen
Rune, Seligkeit, Klarheit. Die diesseitige Welt erscheint als
durchaus schlecht, verwerflich, verachtlich, die jenseitige Welt
als durchaus gut, vollkommen, erstrebenswert. In jeder
Metaphysik liegt der Pessimismus im Keime vorbereitet und
muss sich wenigstens in einer philosophischen Disciplin aus-
wachsen, wenn auch nur, wie bei den Eleaten, auf erkenntnis-
theoretischem Felde. Dann erscheint der Mensch als ein
Doppelwesen: mit dem besseren Teile seines Ich haftet er
in der metaphysischen Gotteswelt; seine naturlichen Triebe
aber, die, wie sie sich bestandig an der Natur entziinden,
auch aus dieser stammen, gelten als siindlich und beflecken
das ubernatiirliche Ich, diesen verirrten Funken des ausser-
weltlichen Guten. Und weil wegen der absolut unmoralischen
Beschaffenheit alles empirisch-natiirlichen Daseins eine Er-
tiichtigung desselben von vornherein als ausgeschlossen
betrachtet werden muss, kann der sittliche Process nicht in
der Bethatigung rein-menschlicher Funktionen zur harmonischen
Organisation der Welt gesucht werden, sondern vielmehr in
der Abkehr von alle diesem, in der bewussten successiven
Ertotnng der naturlichen, also unlauteren Triebe. Die Auf-
gabe, die jedem Einzelnen zufallt, und die er nur in und
fur sich leisten kann, ist es, dem in seiner Seele ruhenden
Gottlichen die Riickkehr aus der unmoralischen Erdenform
zu ermoglichen, das versprengte Gute aus der Welt des
Uebels herauszuziehen, indem er den schlechteren Teil seines
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Wesens, den materiellen, sinnlichen, von sich abstreift, sich
emancipiert von alien Forderungen seiner menschlichen
Natur. Alle Verhaltnisse des Diesseits werden als siindhaft
betrachtet; ein sittlich gutes Handeln kann daher absolut zu
diesem in keiner Beziehung stehen —■ die Folge ist der
Quietismus. Das sittliche Streben besteht vielmehr in dem
unablassigen Ringen nach der Einheit der Einzelseele mtt
der gottlichen Allseele, die in der inneren Heiligung, der
hochsten Verklarung des Ich erreicht wird. Der ethische
Process ist also nicht mehr die Bethatigung der Personlichkeit
in der Gemeinschaft zu deren sittlicher Ausgestaltung, sondern
ein interner Process der Gesinnungbildung, die die moralische
Vervollkommnung des Einzelnen sich zum Ziele setzt; in
sich selbst hat das Individuum die hochste menschliche Auf-
gabe zu erfiillen. Und diese asketisch-quietistische Auffassung
des Sittlichen tritt eben uberall da ein, wo, wie zur Erklarung
und Begriindung des ganzen Weltdaseins, ebenso auch zum
Fundament des Sittlichen die transscendenten Krafte der
Metaphysik in Thatigkeit gesetzt werden, so dass Schopenhauer
Recht hat, wenn er in dem zu Anfang dieser Arbeit ange-
fiihrten Citat sagt: »Quietismus, d. i. Aufgeben alles Wollens,
Askesis, d. i. absichtliche Ertotung des Eigenwillens, und
Mysticismus, d. i. Bewusstsein der Identitat seines eigenen
Wesens mit dem aller Dinge, oder dem Kern der Welt,
stehen in genauester Verbindung; so dass wTer sich zu einem
derselben bekennt, allmalig auch zur Annahme der andern,,
selbst gegen seinen Vorsatz geleitet, wTird.«*)
So schroff nun auch die hier unterschiedenen Formen
des Sittlichen einander gegeniiber treten, so thun sie dies doch
eigentlich nur fur die theoretische Betrachtung. Denn wo die
eine oder die andere praktisch in die Erscheinung tritt,
vermag sie sich selten vollkommen frei von Einfliissen ihres-
Gegenparts zu erhalten, so dass wir Fusionen beider nicht
eben selten begegnen. Und zwar findet eine solche Fusion
meist in der Art statt, dass eine urspriinglich sociale Moral,,
die als solche thatsachlich anthropologisch begriindet wird,
durch den Einschlag irgend einer Metaphysik in die asketische
1) W. a. W. u. V. II p, 704.
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umgebogen wird und diese dann recht eigentlich als Kronung
des ethischen Gebaudes erscheint. Als an ein klassisches
Beispiel hierfiir sei an die Ethik Platons erinnert, der seine
sittlichen Forderungen, so weit sie Konstituierung und Er-
haltung seiner Republik abzwecken, nicht nur auf die Natur
des Menschen im allgemeinen, sondern sogar auf die bestimmte
Veranlagung einzelner Stande begriindet, dann aber, durch
Einfuhrung des Gedankens der transscendenten Idee des
Guten-an-sich, zur asketischen Sittlichkeit fortschreitet und
die Moralitat in die Erhebung tiber die Welt der Erscheinung
zur Welt der Ideeen setzt. Und wenn wir nun im letzten
Teile unserer Abhandlung darstellen wollen, wie aus der
vorgefiihrten Metaphysik unserer drei Gedankenkreise die
ihnen eigentiimliche Ethik erwachst, so werden wir auf ahn-
liche Vorgange stossen. Zunachst aber bedarf die Darstellung
der innigen Beziehung zwischen Metaphysik und Quietismus
in wenigen Worten noch einer Erweiterung. Es ist namlich
nicht durchaus erforderlich, dass die Ethik, um in die
asketische Form einzugehen, sich an eine positive Metaphysik
anlehnt, nach der, wie z. B. in dem Vedanta, das schlechthin
Eine, das Ding-an-sich, auch das schlechthin Gute ist, viel-
mehr kann auch eben in den Quell aller empirischen Er-
scheinung auch der Ursprung alles Uebels verlegt werden,
und so geschieht es, wie wir bei Betrachtung des Pessimismus
sahen, bei Schopenhauer. Der sittliche Process ist aber hier
wie dort der gleiche, nur dass er in letzterem Falle in der
Abkehr nicht nur von der Erscheinung, d. h. der Welt besteht,
sondern eben so sehr in der Abkehr von dem Fundament
der Erscheinung und so nicht mehr zwischen empirischem
und absolutem Dasein, sondern zwischen Sein und Nichtsein
spielt.1) —
§ 24. Metaphysik und Asketik in dem Vedanta.
Wir wiesen schon mehrfach darauf hin, dass der Vedanta,
wie er von Badarayana in den Brahma-Sutra's niedergelegt
1) Vergl. hierzu W. Bender: »Metaphysik und Asketik. Ein Beitrag zur Geschichte
der Moralphilosophiefc in dem Archiv fiir Geschichte der Philosophic, hrsg. von L. Stein.
Bd. VI p. 1 ff. Die folgenden Paragraphen unserer Abhandlung konnen eine gewisse Ver-
voHstandigung der Bender'schen Arbeit bieten.
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und von Cankara einer eingehenden Erlauterung unterzogen
worden ist, zwei mehr oder weniger deutlich zu scheidende
Stromungen erkennen lasst, von denen die eine, aus dem
naiven Glaubensbediirfnis altvedischer Zeit stammend und an
dem unverwiistlichen Verlangen der breiten Masse nach der
vertrauten Gestalt eines anthropomorph gedachten Gottes
sich starkend, eine exoterische Volksreligion darbietet, wah-
rend die andere, ihrem Ursprung nach jiinger, die Lehren
jener Religion in mystischer Weise umdeutet und eine eso-
terische Philosophic enthalt, die in der Ueberwindung alles
Theismus ihren Gipfelpunkt in dem Gedanken des AU-Einen
erreicht. Die orthodoxe Pietat gegen die Herzensmeinungen
der Altvordern tritt dabei in schroffen Gegensatz au den
gelJiuterten Ergebnissen eigener Speculation und kann nur
auf gewaltsame Weise mit dieser zu einem wunderlichen
Gemische amalgamiert werden, das einer organischen Einheit
nicht sehr ahnlich sieht. Und selbst in den theistischen An-
schauungen liegen die Resultate des Denkens verschiedener
Zeiten ubereinander, indem, wie wir bei der Darstellung des
Atheismus ausfiihrten, der rohe Polytheismus der vedischen
Urzeit nicht ganz durch den reineren Monotheismus einer
spateren Epoche verdrangt worden ist. Demgemass be-
hauptet sich auch in der Moral die Geistesarbeit friiherer
Geschlechter neben derjenigen eines jiingeren Zeitalters; die
Aufgaben, die eine stark ausserliche Auffassung des ethischen
Verdienstes aus vergangenen Jahrhunderten dem sittlichen
Leben stellte, muss die wiirdigere Erkenntnis der eigenen
Gegenwart neben den ihrigen gelten lassen. Wir finden eine
Ethik dreifacher Art, wie sie nacheinander aus dem Poly-
theismus, dem Monotheismus (Henotheismus), dem Atheismus
der Identitatslehre entsprungen ist. Der Vedanta beriick-
sichtigt drei verschiedene Kategorieen von Glaubigen und
Sittlich-Guten: 1. die Anhanger des altvedischen Opferkultus,
2. die frommen »Verehrer« des als Personlichkeit gedachten
»niederen brahman«, 3. die Wissenden, die das »hohere
brahman« als All-Einheit »erkannt« haben —• und hat fur
die Vertreter dieser drei Klassen je ein besonderes Los in
Bereitschaft, wie er auch in jeder Klasse den Schwerpunkt
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des Sittlichen in ein anderes Verhalten des Menschen setzt.
Wie aber der Atheismus der Identitatslehre die Vollendung
der Metaphysik enthalt, so gilt auch die Sittlichkeit seiner
Bekenner als die Sittlichkeit par excellence, wahrend dem
Wohlverhalten, das sich aus dem, wenn nicht praktisch, so
doch sicher theoretisch iiberwundenen, Poly- und Monotheis-
mus ergiebt, nur ein vorbereitender Wert zuerkannt wird,
als dem Vorhofe, aus dem man in das Allerheiligste des aus-
gesprochensten Quietismus gelangt. Diese Reste einer friiher
herrschenden Auffassung der Moralitat, die also durchaus
nicht als gleichwertig mit der Moralitat der brahma-vidya
betrachtet wird, miissen wir vorerst kurz darstellen, ehe wir
uns zu jener wenden. —■
1. Was zunachst die Verehrer des altvedischen Opfer-
kultus anbelangt, fur deren ungelauterte Auffassung des Gott-
lichen das Pantheon der Vedahymnen noch nichts von seiner
Realitat eingebiisst hat, so giebt iiber ihren sittlichen Wert
ihr Handeln, ihre That den Ausschlag; es werden gute und
bose Werke unterschieden, so dass, wer Boses veriibt hat,
in die qualenreiche Holle verwiesen wird,1) wohingegen der
Gute, der verdienstliche Handlungen verrichtet, auf dem so-
genannten pitriyana (sc. pantha), dem »Vaterweg« zum Monde
emporsteigt, um dort zur Belohnung den Umgang mit den
seligen Gottern zu geniessen.2) Diese Ethik ist vollkommener
Eudamonismus; sie wendet sich an den Egoismus des Men-
schen, nicht ausdriicklich mit Worten, aber der That nach.
Dies springt um so deutlicher in die Augen, als wir mit der
guten That weiterhin eine neue Erdengeburt unter giinstigen
Umstanden verbunden sehen, und demnach ein erfreulicher
Lebenslauf, irdisches Wohlsein durch sittliches Wohlverhalten
garantiert wird. Um die Moralitat zu fordern, appelliert
diese Ethik also durchaus an das natiirliche Verlangen des
Menschen nach grosstmoglichem Gluck, nach hochster Be-
friedigung. Wir finden sie mithin mit der machtigsten Trieb-
feder des Menschen innig verkniipft, mit dem jedem Leben
1) Deussen, Vedanta p. 412 ff. Bose sind: »Thoren, Taumelnde, durch Reichtums
Blendung BIinde.« — Die Vorstellung des *dritten Ortestf, Deussen a. a. O. p. 394, 414
kann hier iibergangen werden. 2) Deussen, a. a. O. p. 390 ff.
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ureigenen Egoismus, aus dem heraus das sittliche Werk voll-
bracht wird, wenn hier iiberhaupt von Sittlichkeit die Rede
sein kann. Um diese Pseudosittlichkeit zu erklaren und ihre
Anspriiche zu begriinden, wendet sich der Vedanta thatsach-
lich an die Eigenliebe, wenn auch dahin gestellt sein mag,
wie weit er sich dieses Verfahrens bewusst geworden istr
so dass die Ethik in des Wortes vollster Bedeutung anthropo-
logisch basiert wird. Zwar finden wir sie schon mit der im
Rig-veda noch unbekannten1) Lehre vom samsara verbunden;,
dennoch ist von einer durchgebildeten, eigentlichen Meta-
physik hier noch nicht die Rede, nach der der Mensch iiber
seinem empirischen, physischen noch ein transscendent-meta-
physisches Dasein besasse. — Trotzdem nun aber diese Ethik
rein anthropologisch begriindet wird, glauben wir sie doch
nicht eine sociale im strengsten Wortsinn nennen zu diirfen.
So gewiss es ist, dass handgreifliche Verletzungen bestehen-
der socialer Ordnungen, wie Mord, Diebstahl, Ehebruch,
Verrat, zu den sittlich verwerflichen Handlungen gerechnet
wurden, so lage doch hier nur eine negative sociale Moral
vor, die zur Behauptung des Vorhandenseins ihres positiven
Gegenstiicks nicht berechtigt. Denn dem Naturmenschen
liegt sociale Arbeit zur Konstituierung von Staat und Gesell-
schaft als solche fern, und das Interesse an derartigen In-
stitutionen wird weit uberwogen durch die Rticksichtnahme
auf das personliche Wohl, das sich freilich nicht nur auf das
unmittelbare Ich, sondern sogleich auch auf den weiteren
Kreis der P'amilie bezieht. Dass aber die Zugehorigkeit zu
einem Stamme ebenso lebhaft empfunden wird als die zur
Familie, dass sich die Peripherie schaffender Teilnahme auch
iiber diesen hinaus erweitert, dazu braucht es einer hoheren
Kulturentwickelung hinsichtlich der rechtlichen Begriffe, zu
der das indische Volk bei all seinen sonstigen kulturellen
Errungenschaften nie sich aufgeschwungen hat. Ist doch
die wahre sociale Moral in ihrem Kern erst durch die Ihering-
sche Lehre vom Kampf urn's Recht festgelegt worden. Dazu
kommt, dass jedenfalls auch Werke rituellen Charakters als
1) ib. p. 385.
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moralisch lobenswert betrachtet wurden;1) diesen aber wird
stets ein gewisser asketischer Zug eigen sein, der sich im
Almosenspenden und namentlich im Fasten aussert. Und
endlich wirkt die rein asketische Sittlichkeit des Quietismus,
die wir weiterhin als die eigentliche Sittlichkeit des Vedanta
finden werden, vermittelst ihrer unmittelbaren Nahe zu
machtig, als dass sich eine wirkliche sociale Ethik frei ent-
wickeln kijnnte.
2. Die zweite Klasse sittlicher Naturen wird durch die
Vertreter der »niederen Wissenschaft«, der apara vidya ge-
bildet, von jenen tiefer und reiner denkenden Bekennern
eines ausgesprochenen Monotheismus, der die alte Gotter-
vielheit durch einen allmachtigen Weltschopfer und Welt-
erhalter ersetzt hat.
Dieser Gott ist nichts anderes als das »niedere«, »attribut-
hafte« brahman, soweit es die Formen einer Personlichkeit
angenommen hat, wie wir aus der Darstellung des Atheismus
wissen.
Wir haben es hier also schon mit Anhangern der brahma-
Lehre zu thun, aber mit solchen, die das Gottlich-Ewige noch
nicht im eigenen Selbst, atman, erfasst haben, sondern das-
selbe aus sich heraus projiciert und seine immanente Kraft
zu einer ausser- und iibermenschlichen Individualist ver-
dichtet haben. Der Gott, den sie so ausser sich suchen und
finden, muss zwar von einem hoheren Standpunkt aus als
nichtig bezeichnet werden, nicht weniger als die Gotterschar
der Rigveda-samhita; fur seine Glaubigen jedoch, die sich
zur Mystik der Identitatslehre nicht erheben konnen, hat er
durchaus Realitat als der icvara, der Herr, der, mit alien
hochsten Vollkommenheiten ausgestattet, die Welt in's Leben
ruft und im Leben erhalt. Um so viel reiner dieser
Monotheismus als der Polytheismus der Vedaglaubigen ist,
um so viel subtiler wird sich die Auffassung des Sittlichen
gestalten, und wirklich finden wir den sittlichen Process von
aussen nach innen verlegt und die That als solche ihrer
1) Der Unterschied zwischen Werkeu, die im Jenseits, auf dem Monde, und solchen,.
die im Diesseits, durch eine neue Geburt vergolten werden, deckt sich keineswegs mit dem
Unterschied zwischen rituellen und moralischen Werken. Deussen a. a. O. p. 421.
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«thischen Bedeutung entkleidet. Man sollte nun denken, dass
liber sittliches Verdienst jetzt eben jene Potenz das ent-
scheidende Wort sprechen wiirde, die wir als Norm alles
Wohlverhaltens anzunehmen gewohnt sind, die innere sitt-
liche Veranlagung namlich, die moralische Richtung des
Einzelnen, sein Charakter, sein Wille, dessen blosses Symptom
jede That ist. Und ein solcher Fortschritt in's Innere des
Menschen nach dieser Richtung hin ist zu sehr von der Natur
der Sache geboten, als dass man ihn nicht gethan hatte.
So sagt schon der mythische Weise Candilya in der schon
verschiedentlich citierten Stelle der Chandogya-Upanishad:
»Furwahr aus Willen (kratu = Gesinnung) ist der Mensch ge-
bildet; wie sein Wille ist in dieser Welt, darnach wird der
Mensch, wenn er dahingeschieden ist; darum moge man
trachten nach gutem Willen.*1) Dennoch hat diese Vorstellung
die Herrschaft nicht errungen; vielmehr entscheidet iiber den
ethischen Wert des Menschen unmittelbar die Beziehung, in
der er sich zu seinem Gotte weiss, das mehr oder weniger
innige Verhaltnis, in das er sich zu diesem setzt, der grossere
oder geringere Glaube, von dem er beseelt ist, die grossere
oder geringere Verehrung, die er dem icvara zollt. Hier
liegt schon im Keime die quietistische Sittlichkeit der
Identitatslehre, die mit der intuitiven Gottesschau zusammen-
fallt, die das hochste moralische Verdienst in der unio
mystica sucht. Gut ist nicht mehr, wer gut handelt oder
guten Willens ist, sondern wer den wahren Glauben hat. —
Bei alledem ist diese Ethik nicht weniger als die eben be-
trachtete einer roheren Zeit Gliickseligkeitslehre und fusst
durchaus im Egoismus. Weil der Lohn des beseligenden
Glaubens vor allem darin besteht, nicht mehr wiedergeboren
zu werden, so fallt zwar die Aussicht auf ein gliickliches
Erdendasein infolge neuer Geburt fort, dafiir aber ist es das
eben laufende Leben, das sich dank der Gottesverehrung zu
einem gedeihlichen und ungetriibten gestaltet. Wenn dann
beim Tode die Seele des Glaubigen durch die Kopfader
auszieht,2) so steigt sie iiber den devayana (patha,), d. i.
Gotterpfad,3) zu dem geglaubten Gott empor, in das Reich
1) Deussen, Vedanta, p. 163. 2) ib. p. 409 ff. 3) ib. p. 470 ff.
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des attributhaften brahman, wo sie ein Gliick geniesst, das,,
in wesentlich sinnlichen Freuden bestehend, sich nur wenig
von der Seligkeit unterscheidet, die Mohammed seinen An-
hangern verheisst, und in dem selbst der Geschlechtsgenuss
mit jedem gewiinschten Weibe nicht fehlt. Und endlich wird
hier die Seele Gelegenheit finden, sich der »universellen Er-
kenntnis«, der erlosenden vidya zu bemachtigen, wodurch
eben ihre Wiedergeburt verhindert wird. Diese Art der
Erlosung nennt die Dogmatik kramamukti, d. i. Stufenerlosung,
weil vermittelt durch die Zwischenstufe der himrnlischen
Herrlichkeit. Dreifach ist also der Lohn, den die upasana
oder Verehrung des aparam brahma mit sich bringt, je nach
dem Grade der Intensitat der Verehrung: irdisches Gliick,
himmlisches Gliick und kramamukti. So wird also die Ver-
ehrung durch die Riicksicht auf das eigene, individuelle Wohl
geboten, und als Fundament der Sittlichkeit erscheint offen-
kundig auch hier der blosse Egoismus, wodurch die Ethik
wiederum eine anthropologische Begriindung erfahrt. Und
anders kann sie auch fur den Menschen auf dieser Stufe der
apara vidya, nicht begriindet werden. Denn ebensowenig
als auf der Stufe des Polytheismus gilt hier die Seele als
ein Fremdling auf Erden, der seine ursprungliche, aber ver-
scherzte Heimat in einer seligen Einheit mit dem Gottlichen
hat. Die einzelnen Seelen sind vielmehr eben so ewig als
brahman selbst und auch seit Ewigkeit her von ihm ge-
schieden. Aber noch weniger als vorhin sind wir befugt,
die immerhin anthropologisch basirte Moral dieser Bekenner
des niederen brahman eine sociale zu nennen. Bleibt ja
doch das moralische Verdienst auf den rein innerlichen
Vorgang des Glaubens und Verehrens beschrankt, so dass
der sittliche Process in der Wechselbeziehung zwischen Gott
und dem Einzelnen aufgeht, ohne eine solche zwischen Mensch
und Mensch festzusetzen. Daher tritt das Sittliche nach
aussen auch nur in Werken rituellen Charakters in die Er-
scheinung, in Beten, in Fasten, in frommer Meditation, die
als Mittel zur Vertiefung des religiosen Gefiihles zu betrachten
sind. Denn, wie schon gesagt, die Ethik des Vedanta reisst
in ihrem Zuge zu der asketisch-quietistischen Form auch jene
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anderen sittlichen Bestrebungen mit, die, hatten sie sich frei
entwickeln diirfen, aus ihrer anthropologischen Begriindung
heraus bei der socialen Ethik angelangt waxen. —
3. Es ist eine streng logische Deduktion aus den meta-
physischen Grundbegriffen, die das Vedantasystem bei dem
nackten Quietismus ankommen lasst. Wir wissen, dass in
seiner esoterischen Lehre, von der wir jetzt handeln, der
Vedanta einen schroffen Dualismus aufgestellt hat, nicht
zwischen Gott und Welt, oder Geist und Materie, sondern
zwischen hochster Realitat und Nichtrealitat, Ding-an-sich
und Erscheinung, d. h. Wahrheit und Trug. Brahman ist
das allein Reale — was immer neben ihm zu existieren
scheint, die ganze Ausbreitung der Welt in »Namen und
Gestalten«, scheint eben nur zu sein und ist ein Trug.
Daraus folgt unmittelbar, dass brahman nicht allein das
allein Reale in metaphysischem, sondern auch in ethischem
Betracht ist: es ist nicht bloss das allein Wirkliche, sondern
auch das allein Gute, wohingegen die Welt als Trug der
maya auch in moralischer Beziehung keinen Wert bean-
spruchen darf. Alles Handeln ist nur dann als sittlich zu
bezeichnen, wenn es sich direkt auf brahman bezieht und
muss unumganglich verwerflich sein, wenn es sich auf Ver-
haltnisse der nichtigen und wahrhaft unmoralischen Welt der
Erscheinung richtet. Durch solche Betrachtung muss alle
sociale Moral im Keim erstickt werden. Dazu kommt, dass
der Pessimismus jede Kraftbethatigung in der leidvollen Welt
dem Fluche der Verganglichkeit und Erfolglosigkeit preis-
giebt. Denn wenn wir auch den Pessimismus des Vedanta
als eine blosse Schale nachgewiesen haben, hinter der sich
eigentlich der Optimismus verbirgt, so hat er doch eben nur
unserem kritischen Blick diese seine wahre Natur enthiillt,
wahrend nicht zu bezweifeln steht, dass der Vedantist den
Pessimismus an den seltenen Stellen, wo er ihn zu Worte
kommen lasst, in ganzer Tragweite als vernichtendes Urteil
iiber den Wert der Welt auffasst.
Aber noch mehr ergiebt sich aus jenem Dualismus:
-nicht allein die Ablehnung alles socialen Thuns, sondern die
jeglichen Thuns uberhaupt: der vollkommene Quietismus.
i
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Brahman ist absolut von der Welt verschieden, und alle
Pradikate, die dieser zukommen, miissen von ihm ausge-
schlossen bleiben, vor allem die Veranderlichkeit, deren Be-
griff sich unmittelbar mit dem der Verganglichkeit, also
Nichtigkeit deckt. Jegliches Thun aber hat als Ziel eine
Veranderung seines Objekts, darum kann also brahman selbst
nie Objekt irgend eines Handelns werden, d. h. im Thun
jeglicher Art kann nimmermehr das sittliche Wohlverhalten
bestehen. Aber auch nicht in der Gesinnung; denn auch
diese ist undenkbar ohne eine Thatigkeit, eine solche des
Willens namlich. So bleibt von alien menschlichen Grund-
kraften allein das Erkennen, zu dessen Resultaten man ohne
eigenes Zuthun zu gelangen scheint, weil sie vom Objekt
•der Erkenntnis ausgehen. Das Wesen der Sittlichkeit wird
daher in einen Erkenntnisakt gesetzt, dessen Objekt brahman
ist, in die mystische Intuition, vor der die Welt der Er-
scheinung schwindet und die All-Einheit sich darstellt. Der
sittliche Process vernichtet den Trug, dem gemass brahman
■sich selbst als eine Vielheit von Individualseelen erschien,
und lasst in gelauterter Erkenntnis alle Unterschiede im
Selig-Einen untergehen.
Der Begriff der Erlosung iiberhaupt ist undenkbar ohne
jenen metaphysischen Dualismus zwischen brahman und der
Welt der maya. Erst in Folge dieses Gegensatzes muss
die empirische Welt als Statte der Entzweiung und Nichtig-
keit erscheinen, erst in Folge dieses Gegensatzes kann der
Seele die Aufgabe erwachsen, sich von den Banden der
Vielheit zu befreien und die Einheit mit brahman anzustreben.
Alles wahrhaft moralische Verhalten hat dieses Ziel vor
Augen und empfangt eben daher seinen specifisch ethischen
Charakter. Die Identitatslehre im besonderen driickt der
Sittlichkeit ihren bestimmten Stempel auf, den des Quietis-
mus. Eine jede Seele ist brahman ganz und ungeteilt, und
brahman ist das Ding-an-sich, darum weder kartar noch
bhoktar, weder handelnd noch geniessend (leidend), weil so-
wohl Handeln als Geniessen Vielheit und Veranderlichkeit
voraussetzt, indes brahman iiber diese Formen der bloss em-
pirischen Realitat hinausliegt. Daher ist also auch die Seele
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an sich weder handelnd noch geniessend, wie Cankara sagt:
»Das Thatersein kann der Seele nicht von Natur eigen sein,
weil dann keine Erlosung moglich ware. Denn ware der
Seele das Thatersein von Natur eigen, so gabe es davon
keine Befreiung, wie fur das Feuer keine von der Hitze;
ohne Befreiung vom Thatersein aber ist die Erreichung des
Zieles des Menschen nicht moglich; denn das Thun ist seinem
Wesen nach ein Leiden. «x) Erst durch ihre triigerische Ver-
einzelung zur Individualseele vermittelst der auf dem Nicht-
wissen, der avidya, beruhenden upadhi's oder »Beilegungen«
erscheint sich die Seele als kartar und bhoktar. Also beruht
alles Handeln, das Thatersein der Seele wie die gesamte
Individualitat auf der avidya: »nur der Wahn ist es, der zu
allem Thun antreibt,«2) das nur dadurch zu Stande kommt,
dass ich meinen Leib, der doch als verganglich nicht mein
Selbst ist, dennoch fur mein Selbst halte, ihn und die von
ihm getragenen Sinnesorgane.3) Es ist folglich nichtig, wie
die Ziele, denen es zustrebt. Der Vedanta kennt daher kein
wertvolles Handeln, keine Arbeit, die um ihrer selbst willen
zu thun ware, keine kraftfrohliche Gestaltung weltlicher Ver-
haltnisse, ihm ist das alles auf dem Truge der maya basirt.
Aber auch das rituelle Werk hat keinen wahrhaften Wert.
Opfer, Almosengeben, Vedastudium, die gesamten vom
Schriftkanon vorgeschriebenen Pflichten haben Bedeutung
und Wirksamkeit nur innerhalb des samsara,4) weshalb sie
denn auch nach erlangter Erlosung wegfallen. Die Erlosung
selbst, auf die der sittliche Lebenswandel abzielt, ist daher
nimmer durch irgend welches Werk zu erlangen;5) denn sie
ist die Erlosung von der Individualitat, in der jede That
unumganglich wurzelt. Sie ist die ewige Frucht der vidya,
des Wissens, des samyagdarcanam, der »universellen Er-
kenntnis,« wahrend die That, als endlich, nur endlichen Lohn
zeitigen kann. In diesem Sinne heisst es: » Gleichwie hienieden
der Genuss, den man durch die Arbeit erworben hat, dahin-
schwindet, so schwindet auch im Jenseits der durch die
guten Werke erworbene Genuss dahin.«6) Ja, der Glaube,
1) Deussen, a. a. O. p. 342. 2) ib. p. 324. 3) ib. p. 58, 192 ff. 4) ib. p. 449.
5) ib. p 434. 6) ib. p. 172.
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durch Werke der Erlosung teilhaftig werden zu konnen, ist
dieser direkt hinderlich:
»In blindes Dunkel fahrt, wer im Nichtwissen lebte,
In blinderes wohl noch, wer nach Werkwissen strebte.«l)
Auch moralische Lauterung wird abgewiesen.2) Die Erlosung
besteht eben in nichts anderem als in dem Innewerden der
von Urbeginn bestehenden Identitat der Einzelseele mit dem
wonnevollen brahman; im Augenblick der Erkenntnis ist die
Erlosung vollbracht.3) —
Ist nun durch die heilende vidya die moksha zu Stande
gekommen, so werden alle friiher gethanen Werke vernichtet,
d. h. sie, von denen im Zustande des samsara infolge der
Lehre vom karman das zukiinftige Geschick des Menschen
abhing, werden nun als leere Schatten nachgewiesen, als
Gaukelbilder ohne irgend welche Realitat, als durchaus
nichtig. Sie haben alle Bedeutung verloren und sind, als
ob sie nie gewesen waren. Wie das zugeht, erklart Cankara
wie folgt: »Das brahman, welches der von mir friiher fur
wahr gehaltenen Naturbeschaffenheit des Thaterseins und
Geniesserseins entgegengesetzt ist und seiner Naturbeschaffen-
heit nach in aller Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft
Nicht-Thater und Nicht-Geniesser ist, dieses brahman bin
ich, und darum war ich weder vordem Thater und Geniesser,
noch bin ich es jetzt, noch werde ich es jemals sein.«4)
Alle friiher begangenen Handlungen zerstieben wie Schaum-
blasen, losen sich auf, wenn die moksha den Erlosten mit
dem ewigen brahman vereinigt hat, wie schon der — auch
von Schopenhauer riibmend citierte5) — Vers der Mundaka-
Upanishad besagt:
»Wer jenes Hochst-und-Tiefste schaut,
Dem spaltet sicli des Herzens Knoten,6)
Dem losen alle Zweifel sich,
Und seine Werke werden nichts.<
oder ein Vers der Bhagavad Gita:
»Wie Feuers Glut das Holz in Asche wandelt,
So der Erkenntnis Feuer alle Werke.*
1) Deussen, a. a. O. p. 209. 3) ib. p. 435. 3) ib. p. 440. 4) ib. p. 456. 5) W. a^
W. u. V. II p. 697. 6) d. h. der Knauel der upadhi's.
14,
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Alle Werke, nicht nur siindhaftes,1) auch gutes Werk.2)
»Wer solches weiss,« sagt die Brihadaranyaka-Upanishad,
»den iiberwaltigt beides nicht, ob er darum (weil er im
Leibe war) das Bose gethan hat, oder ob er das Gute
gethan hat; sondern er iiberwaltigt beides; ihn brennet nicht,
was er gethan und nicht gethan hat.«
Wir haben also gesehen,
a)  worin der sittliche Process besteht, der den Menschen
zur Erlosung fiihrt, nicht namlich in der Lauterung siind-
hafter Triebe zu moralischer Vollkommenheit, die sich in
Thaten der Gerechtigkeit oder Menschenliebe aussert, son-
dern allein in der Erreichung einer intuitiven Erkenntnis,
deren Objekt brahman als die absolute All-Einheit ist;
b)  wie die Erlosung durch Beseitigung aller vorher be-
gangenen Handlungen den Wissenden von den Flecken aller
Werke, auch der guten, reinigt, und fragen weiterhin,
c)  wie der Erloste sich das Bewusstsein seiner Identitat
mit brahman erhalt? Und da ist es a priori klar: wie keine
Werke die Erlosung herbeifiihren konnten, so konnen sie
auch nicht ihren Besitz garantieren — wodurch der Quietis-
mus seinem Gipfelpunkt entgegengefuhrt wird. Fur den Er-
losten giebt es durchaus kein Gesetz mehr, wie ein von
Cankara angefiihrter Vers der smriti8) sagt:
»Der Mann, der an dem Selbst sich freut,
Am Selbste sein Gentige findend
Und seinen Frieden in dem Selbst,
Far den ist keine Pflicht mehr bindend.«4)
Alle die Aufgaben also, die dem Menschen das Leben,
die Allgemeinheit stellen mag, existieren fiir den Erlosten
aicht mehr. Er streift alle Bande von sich ab; alle Gebote
und Verbote fallen weg fiir den Seligen, der das samyag-
darcanam erreicht hat.5) Das ist eben sein »Schmuck und
Stolz, dass nach Erkenntnis der Seele als brahman alles
Thun-sollen aufhort, sowie auch alles Gethan-haben.«6) Die
Familie hat fiirderhin keinen Anspruch mehr an ihn: »Wozu
1) Deussen, a. a. O. p. 455. 2) ib. p. 457. 3) smriti ra Tradition. Dazu rcchnet
<,'ankara vor allem die weltlichen Epen, wie das Mahabharatam nebst dessen Episode der
IShagavadgita, und das Gesetzbuch des Manu. 4} Deussen, a. a. O. p. 448. 5) ib. p. 323.
<6) ib. p. 87, u. 6.
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brauchen wir Nachkommen, wir, deren Seele diese Welt
ist?«J) Namentlich sind unter den Geboten, die nunmehr
ihre Verpflichtung eingebusst haben, die Forderungen des
rituellen Gesetzes verstanden. Cankara sagt dariiber: »Da
das Wissen (allein) die Ursache ist, durch welche das Ziel
des Menschen erreicht wird, so sind, nach Erlangung dieses
Zieles durch das Wissen, die Werke der acrama's8) wie
Feueranziinden u. s. w. nicht (weiter) zu beobachten.«3) Der
Weise mag nun thun oder lassen, was ihm beliebt,4) die
Erlosung ist ein unantastbares Gut, das uber alies irdische
Wesen hoch hinausliegt, das auch durch keine Frevelthat
mehr geschmalert werden kann. Auch hierfiir seien Belege
angefuhrt, ein Spruch der Maitri-Upanishad:
»Wie zu dem Berge, der in Flammen steht,
Gazelle nicht, noch Vogel geht,
So naht die Siinde, wie man sie auch nennt,
Dem Manne nicht, der brahman kennt,«5)
und der von CJankara angefiihrte Vedaspruch:
»Das ist des Brahmanfreundes ew'ge Majestat,
Dass er nicht wachst durch Werke und nicht minder wird;
Man folge ihrer Spur, wer sie gefunden hat,
Der wird durch bose Werke weiter nicht befleckt;«6)
denn, »wie an dem Blatte der Lotosbliite das Wasser nicht
haftet, so haftet keine bose That an dem, der Solches weiss.«7)
Sonach zeitigt die Erlosung keine Frucht, die auch vom
Nachsten mitgenossen werden konnte; sie bringt keine Thaten
der Menschenliebe hervor, sie lasst den Heiligen nicht seine
Krafte in den Dienst der Allgemeinheit stellen, um die Not
der Mitgeschopfe zu lindern. Sie ist ein Zustand, der seine
Bedeutung nur fur den Besitzer hat. Und sie wird nicht
erlangt durch die natiirliche Sittlichkeit, der gemass der
Mensch verliehene Gaben ausbildet und anwendet in freudi-
ger Arbeit um weltlich-greifbare Lebenszwecke, nicht durch
die positive Sittlichkeit, die sich Ausgestaltung des Daseins
zur Aufgabe setzt, die uns im lebendigen Wechselverkehr mit
1) ib. p. 438 f., 448. 2) Ueber die vier grama's, = Uebungstadien, cC Deusscn a.
a. O. p. 17. 3) ib. p. 88 Anm. 49, p. 449. 4) ib. p. 438. 5) E. Hardy: Vedisch-brahma-
nische Periode p. 228. 6) Deussen, a. a. O. p. 211. 7) ib. p. 455.
14'
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Unseresgleichen unser Tagewerk treu erfullen heisst, damit
das Geschlecht der Nachgeborenen den Boden geebneter,
das Leben leichter finden moge —■ nein, sie wird er-
reicht durch die asketische Sittlichkeit des Quietismus, jene
verneinende Sittlichkeit, der die Loslosung von der Welt
und ihrer Pflicht als einzig erstrebenswertes Ziel er-
scheint und das Individuum aus dem allgemeinen Menschen-
verband heraushebt. Diese Sittlichkeit heftet den Blick,
vor dem jedes kulturelle, sociale Schaffen als nichtig zer-
stoben ist, in unverriickbarer Starrheit auf jenes Eine,
Unbewegliche, das keiner Aenderung, keiner Entwicklung
fahig ist. Der Quietismus lasst die Gestalten der Welt
teilnamelos an sich voriiberziehen, ohne sich ihrer zu be-
machtigen. In seine Selbstgeniigsamkeit dringt kein Ton
werkthatiger Liebe, opfermutigen Mitleids. Da driickt eine
schwere, schwiile Luft alle Willensbewegung darnieder, eine
todliche Miidigkeit liegt auf allem Wollen, nirgend erhebt
sich eine frische, kiihlende Brise, die fur einen befreienden
Atemzug Raum schiife. Der lebendige Quell des Blutes,
der den Gliedern Kraft verleiht, stockt und versumpft und
versiegt. Und das Alles infolge der Verquickung der Ethik
mit der Metaphysik. Weil der Vedanta die Seele unmittelbar
an der ganzenNatur des ausserweltlichen brahman participieren
lasst, muss er das Verstandnis fur immanente Moralitat ver-
lieren und alle Bedingungen einer solchen hinter sich lassen.
Die Seele und brahman sind schlechthin identisch, von Natur
aus, darum kann der sittliche Process nur auf einen in-
tellektuellen Vorgang zuriickgehen und sein Ziel, die hochste
Bliite aller Moralitat dann erreichen, wenn durch plotzliche
Erleuchtung des Intellekts der Schleier der maya durchschaut
und die All-Einheit erkannt wird. Brahman selbst ist durch-
weg reine, vollkommene Geistigkeit; infolge einer unbegreif-
lichen Triibung seiner Geistesklarheit durch die avidya
erscheint es sich selbst als in die Vielheit individueller, der
Qual anheimgegebener Seelen zersplittert; aber jene Triibung
muss wieder der richtigen Erkenntnis weichen, was allein
durch einen rein geistigen Akt mSglich ist, durch den Ueber-
gang vom Nichtwissen zum Wissen. Ein solcher Uebergang
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1st nicht zu erzwingen, nicht zu befehlen; »das Nichtwissen«,
sagt Cankara, »wird getilgt durch Belehrung allein,« wahrend
alle Befehle, alle Gesetze socialer oder ritueller Art die
erlosende Intuition nicht herbeizufiihren vermogen.1) Durch
die von der Metaphysik stipulierte innige Verbindung der
Seele mit dem rein geistigen, niemals wollenden, niemals
handelnden brahman wird der Ethik ihr bestimmter Charakter
angewiesen, durch den transscendenten Gedanken der un-
bewegten AU-Einheit der Quietismus begriindet. — Die
Arbeit, die der Mensch an und in sich zu leisten hat, besteht
in der Reinigung seiner Erkenntnis, nicht seines Charakters,
in einer intellektuellen, nicht einer moralischen Ertiichtigung.2)
Wir wiesen im Paragraphen fiber die Erlosung darauf hin,
dass die moksha nicht abhangig gedacht wird von dem, was
Schopenhauer »Verneinung des Willens« nennt, dass diese
vielmehr als ein blosses Accidens der Erlosung auftritt.
Demi infolge ihrer metaphysischen Identitat mit dem nur
aus Geistigkeit bestehenden brahman ist die Seele ebenso
wenig wollend als handelnd, daher von einer Ertotung un-
sittlicher Leidenschaften iiberhaupt keine Rede sein kann,
sondern alles vom Erkennen abhangig bleibt.
§ 25. Metaphysik und Asketlk im Buddhismus.
Die Millionen, die seit Buddhas Auftreten sich zu ihm,
zu seiner Lehre, zu seiner Gemeinde bekannten, haben sich
von je uber zwei streng gesonderte concentrische Kreise
verteilt, iiber den inneren Kreis der Monche, der Asketen,
samana's, und iiber den ausseren der Laien, Verehrer,
upasaka's. Wahrend fur den Monch nach dem Vorbilde des
brahmanischen Weisen die vollstandige Aufgabe der Heimat
und aller hauslichen Bequemlichkeiten und Verpflichtungen,
das ziellose Wandern, das Bettelleben conditio sine qua non
Avar, verblieben die upasaka's in den natiirlichen Schranken
burgerlichen Lebens und berufmassiger Thatigkeit, ohne
jedoch von der Forderung monchisch-asketischer Selbstzucht
ganzlich frei zu bleiben, so dass wir sie dem Stande der
sogenannten Tertiarier vergleichen konnen, die sich den
1) Deussen, a. a. O. p. 225 ff. 2) lb. p. 435.
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christlichen Monchsorden der Franziskaner als weiterer Ring
mit minder strengen Lebensformen anschlossen. Die upasaka's
bilden fur die Gemeinde der bhikkhu1) oder Bettler gewisser-
massen die Basis, auf der sich jene erhebt; die Gesamtheit
wie der Einzelne kann ihrer nicht entraten; denn wenn die
Gesamtheit sich vor allem am Zuzug aus den Kreisen der
»Verehrer« stiirkt, so bedarf der einzelne Bettler des ein-
zelnen Wohlthaters, der ihm Speise und Kleidung reicht und
den Erkrankten mit Arzenei versorgt. Die buddhistische
Ethik muss demnach auch diese »Hausbewohner«, diese
Laienjiinger beriicksichtigen, ihretwegen muss der Quietismus
zu einer Art socialer Moral erweitert werden, zu einer An-
erkennung gesellschaftlicher Tugenden und Pflichten, wobei
man sich freilich hiitet, diese natiirliche Moralitat als gleich
berechtigte Schwester neben die asketische zu setzen. Vielmehr
hat die natiirliche Sittlichkeit nur soweit Wert, als sie die
Grundlage der naturfliichtigen bildet; sie lautert sich zu der
Moral der Bettler und Quietisten, der allein wirkliche Be-
deutung zukommt. Das Feuer, das diese Lauterung bewirkt,
ist die Metaphysik.
Die sittlichen Vorschriften des Buddhismus laufen vor
allem auf die Anempfehlung dreier Tugenden hinaus: Recht-
schaffenheit, Versenkung und Weisheit.8) Von diesen drei
Kardinaltugenden enthalt nur die erste das Wesen der socialen
Moralitat, die Rechtschaffenheit, die ihrerseits wieder drei
Klassen tugendhafter Handlungen begreift: die ftinffach ge-
gliederte eigentliche Rechtschaffenheit (d. h. die Rechtlich-
keit), das Wohlwollen und die Wohlthatigkeit. Wir finden
also neben den Rechtspflichten auch die Tugendpflichten
vertreten, welch letztere in dem Vedanta keineswegs die
ihnen gebiihrende Betonung erhalten haben. Demgemass
verlangt die Rechtlichkeit die Anerkennung fremden Eigen-
tums durch das Verbot des Diebstahls; sie schiitzt die Ehe
durch das Verbot des Ehebruchs; sie will Treu und Glauben,
diese notwendige Basis alles socialen Zusammenlebens, er-
halten und fordern durch das Verbot der Luge; sie erkennt
das Recht aller Wesen auf das Dasein an und verbietet den
1) Sanskrit: bhikshu. 2) Oldenberg a. a. O. p. 310 ff.
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Mord, auch den der Tiere. Dann schreitet die Ethik von
den in der fiinffachen RechtschafFenheit oder Gerechtigkeit
liegenden Rechtspflichten zu den Tugendpflichten fort und
predigt das Wohlwollen gegen alle Geschopfe, die Eintracht,
die Toleranz, die freundliche Gesinnung, die sich in der
Mildthatigkeit vollendet. Eben diese Tugend ist es, der vor
allem die Loblieder der Monchsdichter erklingen, deren Be-
thatigung seitens der Laien die besitzlosen Bettler natiirlich
auch am meisten schatzen mussten. Offenbar haben wir
hier mehr als blosse Ansatze einer socialen Moral, wie denn
der Buddhismus trotz seiner Verachtung der Kastenunter-
schiede gewisse sociale Bedingungen des Lebens respektierte:
die Monchsweihen durften keinem erteilt werden, der sich
durch seinen Eintritt in den Orden anderweitigen natiirlichen
Pflichten zu entziehen suchte, keinen Soldaten, Leibeignen,
Schuldnern, keinen Minderjahrigen, die der Einwilligung der
Eltern nicht teilhaft waren.1) Auch in die Zahl der Laien-
jiinger wurden Handler mit Waffen, Gift, geistigen Getranken
nicht aufgenommen.*) — Fragen wir nun, wo das Fundament
dieser socialen Moral liegt, wie man die Anspriiche der
natiirlichen Pflichtenlehre motiviert, so ftihrt uns die Antwort
zum krassesten Eudamonismus. Ein jeder vollbringt das
Gute, weil es zu seinem eigenen Besten dient, weil er von
seiner Pflichterfiillung eine unmittelbare Forderung eigenen
Wohlseins, eigenen Gliickes erwartet. Was wir fur die
Rudimente einer vergangenen Aurfassung des Sittlichen im
Vedanta-systeme hochstens erschliessen konnten, thut der
Buddhismus naiv, offen, ohne daraus das geringste Hehl zu
machen: er begriindet alle Sittlichkeit durch die uns so un-
sittlich diinkende Triebfeder des nackten Egoismus. Er
weiss, dass man das Gute thut um des Lohnes willen, und
das Bose unterlasst aus Furcht vor der Strafe. »Es gehort«,.
sagt Oldenberg, »zu den wenigst erfreulichen Ziigen der alt-
buddhistischen Literatur, dass sich in ihr eine ganze Samm-
lung von Erzahlungen findet (Vimanavatthu), welche das
Thema vom Wohlthun als der vorteilhaftesten Kapitalanlage
in unermudlicher Wiederholung, genau nach einem und dem-
1) Oldenberg a. a. O. p. 371. 2) ib. p. 411 Anm. I.
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selben Schema von uniibertrefflicher Plumpheit variieren oder
vielmehr nicht variieren.*1) In eben diesem Sinne heisst es
im Cariya Pitaka: »Ein Landmann, der ein fruchtbares Feld
sahe und keinen Samen darauf streute, wiirde nicht nach
Frucht trachten. So auch ich, der ich nach dem Lohn guter
Werke begehre, wenn ich ein herrliches Feld des Handelns
sahe und nicht Gutes thate, wiirde nicht nach dem Lohn
der Werke trachten. «2) Und worin der Gewinn oder Verlust
besteht, den man durch sein Thun erlangt, mdge folgende
Stelle lehren: »Fiinffach, ihr Hausbewohner, ist der Verlust
eines, der Uebles thut aus Mangel an Gerechtigkeit. Erstens
gerat er in grosse Armut durch seine Saumseligkeit, zweitens
hat er uberall einen bosen Namen, drittens wagt er kaum
unter die Menschen zu gehen, viertens ist er voller Angst
im Augenblicke des Todes und funftens nach dem Tode
wird er in einem unseligen Zustande des Leidens und des
Wehes wiedcrgeboren. Fiinffach ist aber auch der Gewinn
eines, der Gutes thut durch Ausiiben der Gerechtigkeit.
Erstens erwirbt er grosses Vermogen durch seinen Fleiss,
zweitens hat er uberall einen guten Namen, drittens getraut
er sich in jede Gesellschaft der Menschen zu gehen, viertens
stirbt er ohne Angst und schliesslich nach dem Tode wird
er in einem seligen Zustande im Himmel wiedergeboren.«8)
-— Alles moralische Handeln, soweit es sich in der Welt
kund giebt, lasst der Buddhismus daher aus dem Egoismus
hervorgehen, wodurch die weltliche Moral wiederurn anthro-
pologisch begriindet wird, durch den machtigsten Trieb, der
uns alien gemeinsam ist. Unbekummert darum, ob ein
solches Handeln im vollsten Sinne ein moralisches zu nennen
ist, halt der Buddhismus daran fest, dass naturgemasses
Streben nach personlichem Vorteil Quell und Ursprung alles
Rechttuns sei. Und diesem Eudamonismus der socialen
Moral werden wir in der asketischen wiederbegegnen, aber
in ganz besonderer Form. —
Die sociale Moral dient, wie schon gesagt, der quietisti-
schen zur Basis; denn ihre Gebote haben im Grunde auch
fur den Monch verbindliche Kraft. Aber gleich wird die
1) ib. p. 315 Anm. 2. 2) ib. p. 311. 3) E. Hardy: Buddhismus p. 59.
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flinffache Rechtschaffenheit der Laienjiinger zu einer zehn-
fachen erweitert, indem zu den fiir die upasaka's geltenden
Geboten noch fiinf andere hinzugefiigt werden, die dem
bhikkhu die Verachtung auch der unschuldigen Freuden des
Lebens, der Freude an Musik und Gesang, Kranzen und
Wohlgeriichen zur Pflicht machen, sowie auch die Verach-
tung aller Annehmlichkeiten, wie eine solche z. B. durch die
Ruhe auf bequemem Lager entsteht. Und wenn nun noch
dazukommt, dass das Verbot des Ehebruchs durch das Ver-
bot jeglichen Geschlechtsgenusses iiberhaupt verdrangt wird,
so sehen wir die Rechtschaffenheit in ganz asketischer Weise
umgedeutet; die Moral wandelt sich unmittelbar, nachdem
sie auf die Monche bezogen wird, aus der socialen in die
asketische um. Wir diirfen daher wohl annehmen, dass sie
schon in ihrer natiirlichen Form den Keim zu der welt-
fltichtigen Askese in sich trug; wie dem in der That auch
ist. Wenn die sociale Sittlichkeit auch, wie wir sahen,
anthropologisch begriindet ist, so liegt die Gefahr, in die
anti-sociale umzuschlagen, ihr darum so nahe, weil sie auf
dem Egoismus, auf eben diesem Punkte der menschlichen
Natur und auf keinem anderen fusst. Denn dadurch wird
eine Kluft des rein praktischen Interesses zwischen der
Aussenwelt und dem eigenen Selbst aufgerissen, und alles
Handeln innerhalb nattirlicher Grenzen geschieht nicht der
Welt, sondern dem eigenen Ich zu Liebe. Die Welt mit
ihren Verhaltnissen tritt gegen das Ich in den Hintergrund;
sie ist nicht um ihrer Selbst willen Gegenstand der Be-
arbeitung, sondern eine jede That, auch wenn sie sich auf
Objekte socialer Art richtet, hat nur so viel Bedeutung, als
sie zur Forderung und Ausgestaltung des eigenen Ich bei-
tragt. Der Ertrag des socialen Handelns fiir den Neben-
menschen beschrankt daher seinen Wert auf den eines opus
superrogationis und gewinnt bald den Charakter eines Adia-
phoron. Von da aber ist es bis zur ganzlichen Verwerfung
aller natiirlichen Thatigkeit nicht mehr weit, und der Fort-
schritt dazu ist dem Masse, in dem der Egoismus das Ich
in den Vordergrund drangt, direkt proportional. Gesellt sich
dann noch eine pessimistisch-nihilistische Metaphysik hinzu,
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die alle weltlichen Daseinsbedingungen dem Lose unaufhor-
lichen Leidens iiberantwortet, so ist der Quietismus vollendet.
Wenn wir also den Keim der asketischen Moral schon
in der natiirlichen Ethik entdecken, so wird es uns nicht
wundern, auch diese hier und dort asketisch gefarbt zu
finden. Ja, wir wiirden selbst dann eine solche Farbung
wahrnehmen, wenn jener Keim nicht in der natiirlichen Sitt-
lichkeit verborgen lage, darum, weil ohnehin von der weitaus
wichtigeren quietistischen Ethik ein verwirrendes Licht auch
auf die sociale fallt. So soil auch der »Hausbewohner«, der
Laie, der upasaka fasten, keine Kranze tragen, keine Wohl-
geriiche lieben, nicht auf bequemem Bette ruhen. Auch er
soil eheliches Leben meiden, »als ob's ein Haufen gliih'nder
Kohlen war'«, und die Ehe ist nur ein Zugestandnis fiir den
Beklagenswerten, der sich zu schwach fiihlt, »zu gehn auf
reinen Wegen.x1) Mehr aber als solche Bestimmungen direkt
asketischer Art spricht fiir das Vorhandensein einer Atmosphare
quietistischer Sittlichkeit in und iiber der natiirlichen Moral
das eine, dass der ethische Trieb nicht als eine positive,
gestaltende, sondern als eine negative, verhindernde Kraft
aufgefasst wird. Dem gemass sind der Verbote mehr als
der Gebote; statt: du sollstl heisst es in der Regel: du sollst
nicht I Man drangt mehr darauf hin, dass das Bose unter-
lassen, als dass das Gute gethan werde. Auch das Gebot
des Wohlwollens muss unter dem Gesichtspunkt einer ver-
neinenden Sittlichkeit betrachtet werden. Wenn das Christen-
tum als hochstes Gesetz aufstellt, den Feind durch Wohlthaten
zu iiberwinden, ihn zu lieben, so verbietet der Buddhismus
zwar, den Feind zu hassen, ohne aber iiber dieses rein
negative Verbot zu einer positiven Norm schaffensfreudiger
Liebe hinauszugehen.2) Wir werden auf diesen negativen
Zug der socialen Moral, wenn man iiberhaupt jetzt noch
von einer solchen sprechen kann, noch einmal zuriickkommen.
Als der Buddhismus bei der anthropologischen Be-
griindung seiner socialen Moral ungliicklicher Weise grade
auf den Egoismus als das sittlich-verbindende Moment geriet,
stellte er dadurch nicht allein die wirklich ethische Bedeutung
1) Hardy: Buddhismus p. 85. 2) Oldenberg a. a. O. p. 312 ff.
«»**«-----—. i.....------         .....---------                         imiiiiM r '" •••"""•"'
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seiner Moralitat in Frage, sondern legte auch den Keim,
aus dem die quietistische Sittlichkeit, den schwachen Neben-
schossling der natiirlichen iiberwuchernd, zu vollster Bliite
heranwachsen konnte, indem er von vornherein durch Ein-
fuhrung des rein praktischen Interesses einen fundamentalen
Unterschied zwischen der Person des Subjekts und der Welt
des Objekts, zwischen Ich und Aussenwelt zu Ungunsten
der letzteren konstituierte. Zu diesem Unterschied tritt ein
weiterer, wichtigerer, den die Metaphysik selbst einfiihrt, der
niemals auszusohnende Gegensatz zwischen nirvana und
samsara. Die Metaphysik hat richtig erkannt, dass alle Zu-
stande unter der direkten Einwirkung des Kausalnexus stehen,
aber, diese Erkenntnis unberechtigter Weise bis in ihre
letzten Konsequenzen verfolgend, hat sie alle Objekte in
einen bestandigen Fluss sich folgender Zustande restlos auf-
gelost, so dass in ewiger Veranderung sich nichts dauernd
erhalt und alles sankharaist, ein Sich-Gestalten, kein Gestaltetes.
Und diese Anschauung wird sofort bei ihrem Auftreten
pessimistisch ausgebeutet; durch den ruhelosen Wechsel aller
Erscheinungen wird ein nie gestilltes Leid und unaufhorliche
Qual iiber alle Welt getragen; denn Gliick kann nur im un-
gestorten Genuss eines dauernden Gutes liegen, indes in
Wirklichkeit sich jeder Genuss unter den Handen verfliichtigt.
Die Struktur des Seins begriindet unmittelbar dessen
eudamonologische Beschaffenheit, und der Pessimismus steht
und fallt mit der Kausalitatsformel. In dem Vedanta wurde
durch die metaphysische Idee des brahman die ganze Welt
in alien Verhaltnissen zum Schein und Trug herabgedruckt
und dadurch das auf die Welt gerichtete Handeln als nichtig
erwiesen; im Buddhismus ist dieselbe Welt infolge der un-
umschrankten Geltung eines metaphysischen Gesetzes leidvoll,
und leidvoll muss daher auch jedes natiirliche Handeln sein.
Der Egoismus, der alles Leid flieht, kann daher unmoglich
seine Zustimmung zu socialer That geben. Nun tritt das
Reich des nirvana in einen schroffen Gegensatz zum Reich
des samsara. Gleichviel, ob wir nirvana als das absolute
Nichts oder das Sein im hochsten Sinn betrachten, so viel
steht fest, dass es das Land der vollkommenen Seligkeit,
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der stillsten Ruhe, des ungetriibten Friedens ist, in dem das
Kausalitatsgesetz keine Macht mehr hat. Alles Handeln,
soweit iiberhaupt von Handeln die Rede sein kann, muss
sich demnach auf nirvana beziehen; der sittliche Process muss
im nirvana auslaufen und darin bestehen, dass der Mensch
sich von den peinigenden Fesseln des samsara mehr und
mehr befreit. Er basirt daher im letzten Grunde immer noch
auf dem Gliickseligkeitsbedurfnis des Einzelnen, auf dem
Egoismus, der aber hier von einem empirischen zu einem
transscendenten erweitert wird und nicht mehr, wie beim
natiirlichen Handeln, immanentes, sondern metaphysisches
Gliick und Wohlsein anstrebt. Das Ich bleibt durchaus im
Vordergrunde stehen. In jener oben angefiihrten Trinitat
der Kardinaltugenden werden neben der vorbereitenden socialen
Tugend der Rechtschaffenheit die eigentlich sittlichen, d. h.
quietistischen Tugenden der Versenkung und der Weisheit
genannt. Aber zu diesen kann nur der gelangen, der vorher die
Pflicht der sittlichen Arbeit an sicb selbst zu Ende gefiihrt hat.1)
Diese ist recht eigentlich die Vorhalle, durch die man aus der
profanen socialen Moral in das Heiligtum der asketischen
gelangt. Auch diese Pflicht erscheint dreifach gegliedert,
sie gebietet 1. Beherrschung der Sinne, 2. Wachsamkeit und
Aufmerksamkeit, 3. Bediirfnislosigkeit. Hier liegt erst der
wahre Angelpunkt, um den die gesamte buddhistische Ethik
sich dreht: die Vernichtung des »Durstes«, die ErtQtung des
Verlangens, die Verneinung des Willens. In rastloser, un-
ermiidlicher Selbstzucht soil man jede Regung natiirlicher
Triebe ersticken, angstlich die Thore der Sinne bewachen,
dass nichts durch sie eingehe, das irgendwie siindige, qual-
bereitende Leidenschaften aufregen konnte. Denn die That
als solche ist bloss ausserliches Symptom; ihre wahre Be-
deutung gewinnt sie durch den treibenden Willen. Das Be-
gehren ist die eigentlich unsittliche Potenz, mit dem, wie
die zweite heilige Wahrheit lehrt, das unermessliche Leiden
verbunden ist, weil es nach der Welt begehrt, der Statte
ewigen Kummers. Der Wille, der an den verganglichen
Liisten haftet, der Wille ist es, der sich der wahren Selig-
1) Oldenberg a. a. O. p. 328 ff.
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keit entgegenstellt — in bestandiger Arbeit am eigenen Ich
muss er daher bekampft und unterdriickt werden. Daher
sagt Buddha zu dem Versucher Mara: »Wer das Leiden er-
kannt hat, woher es stammt, wie mag der Mensch sich dem
Begehren zuwendcn? Wer da weiss, dass irdisches Leben
eine Fessel ist in dieser Welt, der Mensch moge iiben, was
ihn davon frei macht.x1) Weil demnach der Wille ein un-
moralischer von Haus aus ist, deshalb sahen wir auch, dass
in der socialen Moral die Verbote die Gebote weit iiber-
wiegen. Denn der Mensch gilt von Natur als untiichtig zum
Guten, und die Sittenlehre muss vor allem darauf hinaus-
gehen, seine unsittlichen Triebe zu ziigeln. Es nimmt nicht
Wunder, dass Schopenhauer mit einer solchen Auffassung
durchaus einverstanden ist. Er sagt, diese prohibitive Moral
riihmend: »Die Buddhaisten gehn, in Folge ihrer tieferen,
ethischen und metaphysischen Einsichten, nicht von Kar-
dinaltugenden, sondern von Kardinallastern aus, als deren
Gegensatze, oder Verneinungen, allererst die Kardinaltugenden
auftreten.«2) Darum kann auch die buddhistische Ethik das
Wohhvollen gegen alle Wesen, das sie verlangt, zu einer
werkthatigen Liebe nicht verklaren; denn auch die Liebe ist
ein »Haften«, eine Regung des Durstes, des Willens, und
als solche unmoralisch und zu unterdriicken. Gelassenheit,
Gleichmut —• Stumpfheit ist das buddhistische Ideal. »Die
mir Schmerz zufiigen und die mir Freude bereiten, gegen
Alle bin ich gleich; Zuneigung und Hass kenne ich nicht.
In Freude und Leid bleibe ich unbewegt, in Ehren und Un-
ehren; iiberall bin ich gleich. Das ist die Vollendung meines
Gleichmuts.«3)--------In Selbsterkenntnis und Selbstpriifung,
in Selbstbewachung und Selbstherrschaft wird der schweren
Pflicht der Arbeit am eigenen Ich geniigt. »Durch dein Ich
sporne dein Ich an; durch dein Ich erforsche dein Ich; so
wirst du dein Ich wohl bewahrend und wachsam in Seligkeit
leben, o Monch. Denn des Ich Schutz ist das Ich; des Ich
Zuflucht ist das Ich; deshalb halte dein Ich im Zaum, wie
der Handler ein edles Ross.«4) Um die Erforschung de&
1) ib. p. 336. 2) Parerga II § 111 p. 217. 3) Oldenberg a. a. O. p. 321. cf. auch
ib. p. 315 Anm. 1. 4) ib. p. 329.
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Ich allein dreht sich auch der ganze Kultus, weshalb er auch
so diirftig ausgefallen ist. Alles in allem haben wir hier es
sicher, im Gegensatz zum Vedanta, mit einer moralischen
Umgestaltung des Charakters zu thun: »Ueberwinden der
Ichheit Trotz wahrlich ist hochste Seligkeit.*1) In dieser
Umgestaltung liegt der eigentliche sittliche Process; aber es
ist nicht zu verkennen, dass er dem Gltickseligkeitbedurfnis
des Menschen dient. Nirvana wird nur darum angestrebt,
weil es iiber Geburt und Sterben, Alter und Krankheit, Leid
und Kummer hinausliegt, also aus Egoismus, aus Riicksicht
auf das Ich, das Selbst. Seligkeit, Gliick, Leidlosigkeit, Sitt-
lichkeit sind identische Begriffe. Und doch wissen wir, dass
es gar kein Ich, kein Selbst giebt. Einerseits wird also an-
empfohlen, das Ich alien Ernstes zu suchen, zu bewachen,
zu vertiefen; andererseits wird seine Annahme als unstatthaft
verworfen. Vier Grundtibel giebt es, die zu iiberwinden hat,
wer die hochste Stufe der Vollendung erreichen will: neben
der Sinnlichkeit, der Tauschung, der Unwissenheit die Indi-
vidualist.2) Und ist nicht das Selbst ein Trug? Ist die
Personlichkeit nicht nur ein »Haufen« wandelbarer sankhara's?
So bekampft der Buddhismus die Sonderexistenz aus Egois-
mus, und seine Ethik lehrt selbstsiichtige Selbstlosigkeit.
Wie dem auch sein mag, gewiss ist, dass die buddhistische
Ethik sich im vollkommensten Quietismus vollendet. Durch
die Anerkennung der unumschrankten Herrschaft des
Kausalitatsgesetzes giebt man die ganze Welt einer pessimisti-
schen Beurteilung preis, die durch den Gegensatz zum leid-
losen nirvana noch verscharft wird. Der sittliche Wert des
Menschen, sein Charakter, seine natiirlichen Triebe konnen
sich einer gleichen Wertschatzung nicht entziehen. Darum
darf die Sittlichkeit nicht im Handeln liegen, im Handeln,
das weltliche Objekte zum Ziel und menschliche Krafte,
ausserer oder innerer Art, zur Bedingung hat. Die Sittlichkeit
muss vielmehr darin bestehen, dass man, alles wirkliche
Wirken unterlassend, sich von der Welt abkehrt, was seiner-
seits nur durch gewaltsame Unterdriickung aller Triebe und
Affekte moglich ist. In dieser Unterdriickung besteht also
1) ib. p. 129. 2) Hardy; Buddhismus p. U.
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der sittliche Process, der zwischen samsara und nirvana
statthat, den Menschen jenem entfuhrend, diesem annahernd.
Das Motiv zu solcher Selbstentausserung wird direkt in die
lebendig erfasste, intuitive Erkenntnis des Leidens alles Da-
seins gesetzt, so dass es fur den Buddhisten keine hohere
Aufgabe giebt, als fur sich dieser Erkenntnis nachzutrachten.
Alle Anforderungen weltlicher Lebensbedingungen sind da-
gegen nichtig, verschwinden vor dem Auge dessen, der allein
auf eigene Heiligung sein Streben richtet. »Ihr Junger,«
spricht Buddha, »ich bin von alien Banden gelost, von gott-
lichen und menschlichen. Auch ihr seid von alien Banden
gelost, ihr Jiinger, von gottlichen und menschlichen.*1) Weib
und Haus verlasst der Asket, um als Bettler zu leben, von
den Almosen frommer Laien, nicht von dem Ertrage redlicher
Arbeit mit Kopf oder Hand. Ackerbau ist verboten: »ein
Monch, welcher die Erde grabt oder graben lasst, ist der
Busse schuldig.«2) — Die hochsten Tugenden des Monches,
durch die er sich der Heiligkeit versichert, sind Versenkung
und Weisheit.8) In die Einsamkeit geht er hinaus, in den
Wald, den Buddha lobt, in die Bergeshohle, indes Regen-
strome den Pfad der Lufte fiillen, und hier, in Weltabge-
schiedenheit, halt er Einkehr in das Innere und ruht nicht
eher, als bis der Geist, in starrer Kontemplation auf nirvana
gerichtet, sich alles realen Inhalts entaussert hat. Und die
Weisheit endlich, die Krone, der Siegerpreis alles sittlichen
Strebens, ist die Erkenntnis der heiligen Wahrheiten, eine
Erkenntnis, die allein dem Wissenden Frucht tragt, die zwar
abstrakt, durch Worte anderen mitzuteilen, aber nimmermehr
wirklich zu iibermitteln ist.
Durch die ausschliessliche Richtung der Sittlichkeit auf
nirvana ist also auch dem Buddhismus der Gedanke an den
■Segen schaffender, freier Thatigkeit verwehrt. Auch fur ihn
ist die Welt kein Objekt der Bearbeitung, aber auch nicht
eigentlich ein Gegenstand der Verachtung, des Abscheus;
•denn dieses wiirde den »Durst« zur Bedingung haben. Die
Welt ist ihm gleichgiiltig. Gewiss hat neben religiosen
-Motiven diese Indifferenz weltlichen Verhaltnissen gegeniiber
1) Oldenberg a. a. O. p. 142. 2) ib. p. 382. 3) ib. p. 337 ff.
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hauptsachlich dazu beigetragen, dass der Kastenunterschied
keine Beachtung mehr erfuhr, wie andererseits die gleiche
Indifferenz den Buddhismus hinderte, die ihm wohl zuge-
schriebene Rolle eines socialen Reformators zu iibernehmen.
Erhob doch sogar auf ethischem Gebiet die Gemeinde der
Monche keinen Einspruch gegen argerliches Leben ihrer
eigenen upasaka's.1) Bezeichnend fur den buddhistischen
Quietismus ist die Erzahlung, wie Mara, der buddhistische
Satan, den Siegreich-Vollendeten dadurch dem Leben und
sich wiederzugewinnen sucht, dass er ihm den Gedanken
nahelegt, als ein machtiger Konig zu regieren »mit Gerechtigkeit,
ohne dass er totet oder toten lasst, ohne dass er Bedriickungen
iibt oder iiben lasst, ohne dass er Schmerz leidet oder
Anderen Schmerz zufugt« — welchen Gedanken abcr Buddha,
mit Entriistung von sich weist.2) Der innere Gewinn, den
er fiir sich aus seiner Selbstgeniigsamkeit zieht, und die
Hoffnung, durch seine Predigt auch andere zu gleicher Welt-
abgewandtheit erziehen zu konnen, steht ihm hoher als der
Segen, der sich aus gerechter Regierung iiber ein gliickliches
Volk ergiesst. Der socialen Moral will man iiberhaupt bloss:
einen vorbereitenden Wert zuerkennen; sie schliesst den
Ring der Wanderung nicht auf. Die Bliite aller Moralitat
bleibt die Selbstverneinung, und nur ein Monch kann arhat,
d. i. Heiliger werden.s) Die weltlichen Tugenden, die man
dem upasaka vorschreibt, haben fiir den Monch keine Ver-
pflichtung mehr, aber, da man das doch wohl nicht offen
eingestehen mag, schiebt man ihnen eine verwandte, asketische
unter. So verzerrt man z. B. die sociale Pflicht der Wohl--
thatigkeit zur asketischen Selbstaufopferung, die bereit ist,
nicht nur Weib und Kind dem bettelnden Brahmanen hin-
zugeben,4) sondern auch das Leben selbst, wie es beides
Buddha in seinen Vorexistenzen that, ersteres als Prinz.
Vessantara, letzteres als ein Haslein,6) wo er mit seinem
Fleisch den Hungrigen speiste.
Zum Schluss sei hier noch einer besonderen Seite der
buddhistischen Ethik gedacht, die ihr ebensowenig zum beson-
1) Oldenberg a. a. O. p. 411. 2) ib. p. 336. 3) ib. p. 344, 345. 4) ib. p. 326^
5) ib. p. 327.
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deren Ruhme gereichen kann als ihre innige Verbindung mit
dem Eudamonismus, des sittlichen Pedantismus namlich, der
ihr durchgangig anhaftet und zu jenem in unmittelbarer Be-
ziehung steht. Weil man die Willensregungen samt und
sonders verdammt und zu ersticken sich beeifert, so ist fur
Thaten wirklichen Mitleids und freier Gerechtigkeit nicht eine
Triebfeder unwillkiirlicher Gutherzigkeit anzunehmen, nicht
ein instinktiver Drang zu helfen, zu schonen, sondern allein
die verntinftige Ueberlegung, so dass alles gute Handeln nach
vorgefassten Maximen sich entwickelt. »A11 unser Wesen
hangt an unserem Denken; das Denken ist sein Edelstes;
im Denken hat es sein Dasein.*1) Die grundlose Selbsthingabe
in den Akten werkthatiger Liebe ist darum vollkommen aus-
geschlossen; wer edel handelt, der weiss, dass solches zum
eigenen Besten geschieht, wie sehr bezeichnend die Geschichte
vom verstandigen Knaben Lebelang darthut.2) Namentlich
aber die oben erwahnte Pflicht der Wachsamkeit auf sich
selbst soil in so pedantischer Weise betrieben werden, dass
es uns wahrhaft lacherlich anmuten wiirde, wenn nicht eben
jenen kleinlich-peinlichen Vorschriften der Aufmerksamkeit
auf jeden, selbst den unbedeutendsten Vorgang innerhalb
des leiblich-geistlgen Lebens, wie z. B. auf Aus- und Ein-
atmen, durch das angstliche Streben nach wahrem Heile
ein Heiligenschein fast riihrender Gewissenhaftigkeit verliehen
wiirde. Dem gemass verlauft das ganze Leben des Monches
in streng geregelten Normen: »So musst du herzugehen, so
musst du fortgehen, so musst du hinblicken, so musst du umher-
blicken, so musst du deine Glieder einziehen, so musst du
sie ausstrecken, so musst du Gewand und Almosenschale
tragen.«s) Aus eben diesem Pedantismus heraus wird die
Ernsthaftigkeit riihmend eingescharft:
»Ernstliafter Sinn zur Ewigkeit leitet, Leichtsinn das Thor des Todes.
erschliesst,
Frei sind vom Sterben ernsthaft Gesinnte, Leichtsinn'ge kaum noch
ausser dem Grab.«l)
Eben dahin gehort ferner die durchgangige Katalogisierung
und Klassificierung ethischer Begriffe: vier Grundiibel miissen
1) OMenberg, a. a. O. p. 332. 2) ib. p. 316. 3) ib. p. 384. 4) Hardy: Buddhismus p. 62.
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vermieden, zehn Fesseln gesprengt, fiinf Arten geistiger
Knechtschaft gebrochen, fiinf Arten geistiger Diirre iiber-
wunden werden.1) Fiinffach ist die Rechtschaffenheit des
Laien, zehnfach die des Monches. Der Gedankensiinden giebt
es drei, der Wortsunden vier, der Thatsiinden drei.2) —
Auch die Stufen der Versenkung werden methodisch fest-
gestellt. Ueberall macht sich ein bewusstes Ausgehen vom
Gedanken, vom Begriffe geltend — unmittelbares sittliches
Handeln, instinktives Wohlwollen wird verworfen. —
Aus unserer Darstellung ergiebt sich, dass die Sittlich-
keit nicht unbedingt ein Verhaltnis zwischen dem weltabge-
kehrten Asketen und einem positiven Urprincip aller Er-
scheinung konstituieren muss, um die asketische Richtung
einzuschlagen; wir wissen, dass der Buddhismus einen meta-
physischen Quell alles Seins nicht kennt. Wenn daher der
Vedanta sein nirvana in brahman verlegen kann, in das be-
stimmtest Nachweisbare, das Ding-an-sich, so muss dagegen
der Buddhismus ein solches bloss postulieren, ohne auch nur
den geringsten Aufschluss iiber seine Natur geben zu konnen.
Das aber hat fur die Entwicklung der Ethik zum Quietismus
keine Bedeutung; fur diese ist das eine ausschlaggebend,
dass einer nichtigen oder unmoralischen Welt des Diesseits
eine selige, lautere Welt des Jenseits iibergeordnet wird,
zwischen denen der sittliche Process spielt. Wie im ubrigen
jene Welt des Jenseits gedacht wird, ob sie als das Reich
des Dinges-an-sich dem der Erscheinungen zu Grunde liegt
oder ob sie gar ein Reich des vollkommenen Nichts ist, ist
von keinem Belang. —
§ 26. Metaphysik und Asketik bei Schopenhauer.
In wohl keinem anderen philosophischen Systeme lasst
sich die Behauptung, dass jede sociale Moral anthropologisch
begriindet wird, sie dann aber, wenn als letzter Erklarungsgrund
die Metaphysik herangezogen wird, unausbleiblich und augen-
blicklich in die quietistischeWeltfluchtumschlagt, so einleuchtend
erweisen als in der Philosophie Schopenhauers, nicht allein aus
dem inneren Grunde ihresGedankenganges, sondern auch infolge
1) ib. p. 61. 2) ib. p. 66.
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des rein ausserlichen Umstandes, dass Schopenhauer seine
Ethik vornehmlich an zwei Stellen dargestellt hat und zwar
jedes Mai von ganz verschiedenen Gesichtspunkten aus, so
dass, was in der einen Darstellung die Hauptaufmerksamkeit
auf sich ziehen soil, in der anderen kaum gestreift wird.
In seinem Hauptwerk kam Schopenhauer von seinen meta-
physischen Voraussetzungen, auf denen er synthetisch die
Ethik aufbauen konnte, weshalb diese in volliger Weltver-
neinung und ausgesprochenem Quietismus ihre Vollendung
findet, ohne der weltlichen Moral die ihr gebiihrende Stellung
zu gonnen; die Preisschrift: »Ueber das Fundament der Moral«
hingegen muss, von keinerlei Metaphysik unterstutzt, direkte
Thatsachen der Menschennatur zu Grunde legen und gelangt
dank dieser anthropologischen Begriindung zur socialen Moral
oder wenigstens zu einer nahverwandten Schwester der
socialen Moral, den Quietismus kaum erwahnend. — Wir
wenden uns zunachst zu der Behandlung der Ethik in der
genannten Preisschrift, um zu zeigen, wie Schopenhauer alien
Ernstes seine sociale Sittlichkeit anthropologisch erklart, um
dann zu sehen, wie diese sich zur asketisch-quietistischen aus-
wachst, sobaid das urspriinglich Begrtindende selbst als ein Zu-
Begriindendes, metaphysisch Zu-Begriindendes aufgefasst wird.
Trotz aller Einwendungen, sagt Schopenhauer, die immer
die Skepsis gegen die Annahme einer wirklich vorhandenen
Moralitat erheben kann,1) giebt es unbedingt Handlungen
von specifisch moralischem Werte. Es ist das ein unum-
stossliches Faktum fur ihn; ja, es ist sogar ein Faktum,
»dass, trotz der grossen Religionsverschiedenheit auf Erden,
der Grad der Moralitat, oder vielmehr Immoralitat, durchaus
keine jener entsprechende Verschiedenheit aufweist, sondern,
im wesentlichen so ziemlich iiberall derselbe ist.«2) — Wenn
wir also das Vorkommen moralischer Handlungen aner-
kennen, so geht unsere nachste Frage dahin, was es denn
sei, das diese Handlung zur guten, moralischen, und jene
zur schlechten, unmoralischen stempelt, und jedenfalls muss,
eben wie nach Buddha, diese entscheidende Potenz in der
Gesinnung liegen, aus der die Handlungen entspringen, in
1) Ethik § 13, p. 186 ff. 2) ib. p. 233.
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der Absicht, dem treibenden Motiv. — Moralisch ist nun
nach Schopenhauer jede That nur dann, wenn sie nicht aus
dem Egoismus entspringt. Er sagt: »Als das Eigentiimliche
und Charakteristische derselben (der guten Handlungen) finden
wir die Ausschliessung derjenigen Art von Motiven, durch
welche sonst alle menschliche Handlungen hervorgerufen
werden, namlich der eigenniitzigen, im weitesten Sinne des
Wortes.K1) Egoismus und moralischer Wert einer Handlung
schliessen einander schlechthin aus. — Hier sehen wir einen
grossen, fundamentalen Unterschied zwischen Schopenhauer
und der indischen Philosophic, namentlich dem Buddhismus.
Dieser letztere lasst, wie wir gesehen haben, die Selbstsucht
das richtende Wort iiber die sittliche Bedeutung einer That
sprechen, als hatte er sich zu Nutze gemacht, was Schopen-
hauer iiber die Entstehung des Begriffs des Guten sagt, dass
wir ursprimglich gut eben nur das nennen, was unserem in-
dividuellen Willen dienlich ist.2) Schopenhauer hingegen will
durch die Entdeckung eines egoistischen Motivs, wenn es
das einzige war, den moralischen Wert einer Handlung ganz
aufgehoben, und wenn es accessorisch wirkte, ihn geschmalert
wissen. —- Aber sollte dieser Unterschied nicht ein bloss
ausserlicher sein, wahrend der Kern der Sache der gleiche
ist? Wir werden auf diese Frage die iiberraschende Antwort
erst am Schlusse geben und halten uns zunachst an die vorab
nicht zu missdeutenden, klaren Worte Schopenhauers, nach
denen jeder Eudamonismus keinen sittlichen Wert bean-
spruchen darf und kann. — Das negative Kennzeichen aller
Moralitat ist also: volliger Ausschluss der egoistischen Motive,
woraus sich als positives Merkmal ergiebt, dass moralisches
Verdienst nur dann erworben wird, wenn der aktive Teil
bei seinem Handeln oder Unterlassen ganz allein das Wohl
und Wehe eines Anderen im Auge hat. Es »kann die mo-
ralische Bedeutsamkeit einer Handlung nur liegen in ihrer
Beziehung auf Andere: nur in Hinsicht auf diese kann sie
moralischen Wert oder VerwTerflichkeit haben und demnach
eine Handlung der Gerechtigkeit oder Menschenliebe, wie
auch das Gegenteil beider sein.«3) Alle Moral oder Unmoral
1) ib. p. 204. 2) W. a. W. u. V. I p. 425 ff. 3) Ethik p. 206.
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ist daher altruistisch und so recht eigentlich social und nur die-
ses, indem sie das friedliche Zusammenwohnen der Menschen
bezweckt resp. verhindert, die Basis des erspriesslichen Zusam-
menwirkens. Alle Moral ist social; ja, Schopenhauer geht sogar
so weit zu behaupten, dass nur da von Immoralitat zu reden sei,
wo ein Anderer wirklich geschjidigt wird — dort, wo der
Nachste keine greifbare Beeintrachtigung erfahrt, hat sich
nichts Unmoralisches ereignet. Fiir unreine, niedrige, boshafte
Gedanken und Wiinsche ist nach Schopenhauer der Mensch
nicht verantwortlich; sie diirfen sein Gewissen nicht belasten.1)
Denn, so heisst es an anderer Stelle,3) sie deuten bloss an,
was der Mensch iiberhaupt, nicht was das den Wunsch fiih-
lende Individuum zu thun fahig ware. »Daher beschweren,
bei gesundem Gemiite, nur Thaten das Gewissen, nicht
Wiinsche und Gedanken.« Damit setzt sich Schopenhauer
nun in offenbaren Widerspruch zu der sonst von ihm mit
Eifer vertretenen Ansicht, dass nur Wunsch, Streben, Ge-
sinnung iiber den moralischen Wert des Menschen entscheiden,
wenn er z. B. sagt: »Weil in der Moral der Wille, die Ge-
sinnung der Gegenstand der Betrachtung und das allein
Reale ist, gilt ihr der feste Wille zum zu veriibenden Un-
recht-------------dem wirklich verubten Unrecht ganz gleich,
und sie verdammt den solches Wollenden als ungerecht vor
ihrem Richterstuhl.«3) Dieser Widerspruch lasst sich nicht
dadurch beseitigen, dass man einen Unterschied zwischen
augenblicklichem Affekt und bestandiger Willensrichtung
macht, der unbedingt fundamental sein miisste, wogegen
aber die Thatsache spricht, dass jeder Affekt, er sei von
noch so kurzer Dauer, in sich selbst die Kraft tragt, zu un-
ausrottbarer Leidenschaft anzuwachsen —■ weshalb auch er
als siindhaft zu beklagen ist, und so geschieht es denn oft genug
vom Gewissen sittlich sensitiver Menschen, auch bei »ge-
sundem Gemiite«. Wie dem aber auch sein mag, wir sehen,
dass Schopenhauer zuweilen geneigt ist, nur der verletzen-
den That, nicht dem verletzenden Gedanken moralische Be-
deutsamkeit beizumessen, wodurch die Moral, als im fak-
1) Ethik p. 169. 2) W. a. W. u. V. I p. 354. 3) ib. p. 406.
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tischen Verkehr der Menschen allein hervortretend, socialeri
Charakter annimmt.
Die Moral nun, deren Handlungen durch ihre blosse
Definition, wie wir sehen, als sociale gedeutet werden, muss
nun nach Schopenhauer anthropologisch begriindet werden.
Alle Begriffe, so ist seine Meinung, die nicht eine gultige
Beglaubigung aus dem Wesen der menschlichen Natur oder
dem der objektiven Welt beigebracht haben, die irgend aus
anderer Quelle geschopft sind, etwa aus der theologischen
Moral und dem Dekalog, sind in der philosophischen Ethik
Fremdlinge und werden hinausgewiesen. Dazu kommt, dass
die moralische Triebfeder, weil sie den ihr entgegenstehen-
den Egoismus bekampfen soil, ebenso real wie dieser sein
muss, von dem wir wissen, dass er mit dem innersten Kern
des Menschen auf's festeste verbunden, ja sogar mit ihm
identisch ist. Demgemass weist Schopenhauer als Fundament
alles Wohlverhaltens einen unmittelbaren Grundtrieb der
menschlichen Natur nach: im Mitleid. Das Mitleid ist nach
ihm keine aus der Luft gegriffene Behauptung, keine aprio-
ristische Seifenblase gleich dem Kantischen Sittengesetz,
sondern es ist »eine unleugbare Thatsache des menschlichen
Bewusstseins, ist diesem wesentlich eigen, beruht nicht auf
Voraussetzungen, Begriffen, Religionen, Dogmen, Mythen,
Erziehung und Bildung; sondern ist urspriinglich und un-
mittelbar, liegt in der menschlichen Natur selbst, halt eben
deshalb unter alien Verhaltnissen Stich, und zeigt sich in
alien Landern und Zeiten; daher an dasselbe, als an etwas
in jedem Menschen notwendig Vorhandenes, iiberall zuver-
sichtlich appelliert wird, und nirgends gehort es zu den
"fremden G6ttern". Hingegen nennt man Den, dem es zu
mangeln scheint, einen Unmenschen; wie auch "Menschlich-
keit" oft als Synonym von Mitleid gebraucht wird.«') In
Wirklichkeit ist aber, so verschieden auch die moralische
Veranlagung der Menschen sein mag, keiner unter alien ganz
vom Mitleid entblosst.2) Wohl ist der Vorgang des Mitleids
ein Mysterium, und doch ein alltaglicher,8) so dass er seine
entschiedene und wahrhaft wundersame Wirksamkeit »zu
1) Ethik. p. 213. 2) ib. p. 201, 252 u. 5. 3) ib. p. 229.
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alien Zeiten, unter alien Volkern, in alien Lagen des Lebens,
auch im gesetzlosen Zustande, auch mitten unter den Graueln
der Revolutionen und Kriege, und im Grossen wie im Kleinen,
jeden Tag und jede Stunde«') aussert. — Wenn also
Schopenhauer die Bahnen, in denen der sittliche Process
verlauft, durch die natiirliche Veranlagung des Menschen
bestimmt sein lasst, und in Sonderheit alles Wohlverhalten
auf die Triebfeder des Mitleids zuriickfiihrt, so hat er da-
durch, wie er sich mit Befriedigung bewusst ist, die Ethik
anthropologisch begriindet, die eben deshalb eine sociale zu
nennen ist, indem sie das Verhalten des Menschen zum
Nebenmenschen normiert. Zwei Tugenden gehen unmittelbar
aus dem Mitleid hervor: die freie Gerechtigkeit und die
Menschenliebe. Die nahere Ausfiihrung, wie diese Tugenden
sich aus dem Mitleid entwickeln, konnen wir hier iibergehen;
es ist klar, dass das Mitleid nicht allein mich abhalt, einem
Anderen Unrecht zuzufiigen, sondern auch, diesen negativen
Charakter durch einen positiven iiberwindend, mich antreibt,
dem Notleidenden thatkraftige Hiilfe angedeihen zu lassen.
Die Gerechtigkeit achtet aus rein moralischem Antrieb das
Eigentum eines Jeden im weitesten Sinne und bildet so die
Basis, auf der sich allererst der Verkehr der Menschen unter-
einander nach alien Richtungen hin entfalten kann; die
Menschenliebe sucht offenkundige Leiden zu lindern und ist
in unermudlicher Arbeit bestrebt, das Los der Gesamtheit
dadurch zu bessern, dass sie moglichst vielen Individuen die
Biirde des Jammers erleichtert. Auf menschlich-reale Zwecke
gerichtet, aus menschlich-realen Grundkraften entsprungen,
spielt der sittliche Process lediglich zwischen dem Menschen
und Menschen. Die sociale Ethik ist anthropologisch be-
griindet. —
Die Schopenhauer'sche Ethik, auf diesem Standpunkt
mit der indischen verglichen, muss fraglos vor dieser den
Preis davon tragen. Der riihrende Zug des Mitleids, aus
dem Schopenhauer alle Handlungen von sittlichem Wert
hervorgehen lasst, ist bei den Indern ohne Bedeutung. Der
Vedanta erklart jedes Leid fur nichtig, jede Qual fur illuso-
1) ib. p, 235.
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risch; wie konnte er daher dem Mitleid diese Schopenhauer-
sche fundamentale Wichtigkeit beimessen? Ihm ist es ein
Wahn zu leiden, wenn andere leiden;1) ihm wird die in jedem
Schmerz liegende Tauschung besonders dann deutlich, wenn
der Schmerz iiber den Leib hinausgeht, bei dem Anblick der
Leiden selbst von eigenen Kindern und Freunden.2) Und
auch das buddhistische »Wohlwollen gegen alle Wesen« ist
weit davon entfernt, sich mit dem wahren Mitleid zu decken.
Dieses wird vielmehr als ein unsittlicher Trieb aufgefasst;
denn es gehort den Regungen des »Durstes« an. Demge-
mass heisst es im Sutta Nipata: »Wer mit Freunden und
Vertrauten Mitleid hat, verliert (seinen) Vorteil (aus den
Augen), indem er einen gefesselten Geist hat.«3) Von lauterer
Menschenliebe ist keine Rede; das Dhammapada verlangt
geradezu:
»Vermeide Liebe filr irgend etwas zu hegen, dessen, Verlust
Schmerzt allezeit. Wer Liebe und Hass nicht kennt, nur der
steht fessellos da.«4)
Der Buddhismus leitet, wie wir wissen, alle Moralitat
allein aus der verniinftigen Ueberlegung ab, und eben gegen
diese Verbindung von Tugend und Reflexion erklart sich
Schopenhauer auf das Entschiedenste, indem verniinftig han-
deln noch bei weitem nicht tugendhaft handeln ist.5) Er
verwirft die bekannte Forderung Kants, dass jede moralische
Handlung aus reiner iiberlegter Achtung vor dem Gesetz
und nach dessen abstrakten Maximen, kalt und ohne, ja
gegen alle Neigung geschehen solle,6) und muss daher auch
den Pedantismus der buddhistischen Ethik verwerfen. Be-
griffe und Grundsatze betrachtet er nur als ein Reservoir,
in das sich die Quelle aller Moralitat ergiesst,7) aus dem
vollig vernunftlosen, instinktiven Gefuhle des Mitleids heraus.
Auf das Mitleid als ihr Fundament hat also Schopen-
hauer die Moral zuruckgefuhrt; dieses ist ihm, wie er mit
einem von Goethe entliehenen Ausdruck sagt, das Ur-
phanomen. Aber doch nur Phanomen, d. h. empirische Er-
1) Deussen, Vedanta, p. 448. 2) ib. p. 322. 3) E. Hardy: Buddhismus, Anm. 59
(zu p. 23). 4) ib. p. 64. 5) W. a. W. u. V. I p. 69; p. 434 ff. p. 320; W. a. W. u. V. II
p. 163 ff. Ethik p. 150 ff. u. o. 6) W. a. W. u. V. I p. 623 ff. 7) Ethik p. 214.
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scheinung, die als solche weiterhin einer metaphysischen
Deutung fahig und bediirftig ist. Wird diese Deutung ge-
geben, so wird alle Moral metaphysisch begrOndet und muss,
wie sie es weiterhin thatsachlich thut, in Weltflucht und
Quietismus auslaufen. — Mehrfach betont Schopenhauer, dass,
wie z. B. die Naturwissenschaft zur Erklarung der als qua-
litates occultae bei allern empirischen Forschen zuletzt stehen
bleibenden Krafte der Metaphysik nicht entraten kann, so
auch die ethische Disciplin erst dann ihre Aufgabe vollstandig
gelost hat, wenn die zu aller Moralitat treibende, ihrem
eigentlichen Wesen nach aber immer noch unbekannte Kraft
des Mitleids eine rein metaphysische Deutung erhalt. Nach
ihm »muss in der Philosophic das ethische Fundament, wel-
ches es auch sei, selbst wieder seinen Anhaltspunkt und
seine Stiitze haben an irgend einer Metaphysik, d. h. an der
gegebenen Erklarung der Welt und des Daseins iiberhaupt;
indem der letzte und wahre Aufschluss uber das innere
Wesen des Ganzen der Dinge notwendig eng zusammen-
hangen muss mit dem uber die ethische Bedeutung des
menschlichen Handelns, und jedenfalls dasjenige, was als
Fundament der Moralitat aufgestellt wird, wenn es nicht ein
blosser abstrakter Satz, der, ohne Anhalt in der realen Welt,
frei in der Luft schwebt, sein darf, irgend eine, entweder in
der objektiven Welt, oder im menschlichen Bewusstsein ge-
legene Thatsache sein muss, die, als solche, selbst wieder
nur Phanomen sein kann und folglich, wie alle Phanomene
der Welt, einer ferneren Erklarung bedarf, welche dann von
der Metaphysik gefordert wird.s1) Und urn so mehr, als
nach Schopenhauer in jeder wirklich moralischen Handlung
etwas liegt, das uber diese empirische Welt hinausdeutet.
Eben dadurch erhalt eine That ihren ethischen Charakter,
dass sie sich iiber das erscheinende Dasein hinaus erstreckt,
der Ewigkeit angehort und mit dem ganzen Dasein der Welt
und dem Lose des Menschen in engster Beziehung steht.8)
—■ Schon in dieser Auffassung der Ethik sehen wir ihre
Wendung zu einer weltfliichtigen Sittlichkeit vorbereitet. Denn
wahrend der socialen Moral die That sich nur durch ihre
1) Ethik p. 109. 2) ib. p. 260ff.
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Beziehung auf die reale Welt und deren Verhaltnisse als
sittlich dokumentiert, nimmt nach der asketischen Ethik das
Sittliche seinen specifischen Charakter aus einer anderen
Welt als der der Erfahrung, auf die es keinen Bezug hat —
wie es Schopenhauer eben von jeder Moralitat verlangt.
Der Vedanta konstruierte einen vollkommenen Gegen-
satz zwischen empirischem, relativem Dasein einerseits und
transscendentem, absolutem Dasein andererseits; der Buddhis-
mus einen solchen zwischen Dasein uberhaupt und Nicht-
Dasein; Schopenhauer hat beide Gegensatze in seiner Philo-
sophic vereinigt und unterscheidet 1. die Welt in ihrer bloss
empirischen Realitat von der Welt des Dinges-an-sich, wie
der Vedanta, und 2. die Welt der Willensbejahung von der
Welt der Willensverneinung, also wie der Buddhismus das
Dasein uberhaupt von dem Nichtsein uberhaupt. Im Gegen-
satz zur Willensverneinung besagen Willensbejahung, Ding
an-sich, Welt der Erscheinung dasselbe, sind sogar identisch,
indem wir das Ding-an-sich, den Willen gar nicht anders als
sich bejahend denken konnen, wodurch die Welt der Er-
scheinung sofort gesetzt ist, unter sich aber treten sie wieder
in zwei schroffe Gegensatze auseinander, in die Welt der
Erscheinung, der die Vielheit, und die Welt des Dinges-an-
sich, der die Einheit eignet, indes die Bejahung Charakte-
ristikon beider ist. Daher also der doppelte Gegensatz, der
drei iibereinanderstehende Stufen erzeugt: Sein in der Viel-
heit, Sein in der Einheit, Nichtsein (oder Sein in einer uns
total unbekannten und nie zu ergreifenden Form). Der
Gegensatz der ersten und zweiten Stufe ist der vedantistische,
der der zweiten und dritten der buddhistische. Dieser dop-
pelte, an sich rein metaphysische Gegensatz wird nun ethisch
verwertet, der Art, dass das Mitleid, die Quelle aller so-
cialen Moral, aus dem Gefiihl des ersten, die Askese, die
Sittlichkeit des Quietismus, aus dem des zweiten Gegensatzes
entspringt, wie wir nun im Einzelnen zeigen wollen.
1. Dem Ding-an-sich, dem Willen, steht die Erscheinung
gegeniiber. Wahrend der Wille nur Eines ist, ist die Er-
scheinung, weil sie erst durch den Intellekt und das prin-
cipium individuationis moglich wird, eine vielheitliche. Der
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Wille ist nur Eines, aber seine Erscheinungen sind gesondert,
getrennt, unzahlbar, sehr verschieden, ja entgegengesetzt,
und jede von ihnen muss, sobald sie nur mit Bewusstsein
verbunden ist, sich allein fur real halten. Denn einmal ent-
halt sie sowohl den ganzen Willen als auch den ganzen In-
tellekt, dann aber sind ihr die iibrigen Erscheinungen eben
nur als solche gegeben, so dass sich jedes Individuum seiner
selbst ganz unmittelbar, aller anderen Individuen aber bloss
mittelbar, gewissermassen als schattenhafter Phanomene be-
wusst ist. Aus dieser irrigen Betrachtungsform entspringt
der Egoismus. Jeder will nun alles fiir sich, will alles be-
sitzen* wenigstens beherrschen, und was sich ihm widersetzt,
mochte er vernichten; denn jeder glaubt in seiner Person
die gesamte Realitat vereinigt zu haben.1) Und doch sind
die anderen Individuen in metaphysischem Sinne nicht nur
ebenso real wie er selbst, sondern sogar vollstandig identisch
mit ihm. In alien Individuen steckt ja nur der eine, ewig
gleiche Wille als Ding-an-sich, das ureigenste Wesen des
Einen ist genau dasselbe wie das des Anderen, und die
Trennung der Individuation, die der Egoist fiir absolut wirk-
lich halt, ist faktisch nicht vorhanden. »Tat tvam asi!« Wer
nun die Thatsache der Wesensidentitat nicht im tiefsten Ge-
mote erfasst, muss unumganglich egoistisch, d. h. unmoralisch
handeln, und wird, um dem Uebel, dem Leiden am eigenen
Ich zu entgehen, das Bose nicht scheuen, indem er Leiden
am fremden Ich verursacht. Nicht so der Gute. Dieser,
im principium individuationis nicht mehr befangen, erkennt
intuitiv hinter der nichtigen Vielheit der Individuen die tief-
innerliche Identitat, erkennt sich in allem wieder. Und wie
er theoretisch-intuitiv sein Ich mit alien fremden identificiert,.
so auch praktisch im Akte des Mitleids, das eine ganz un-
mittelbare Teilnahme am Leiden des Nebenmenschen ist„
weil dieses im Grunde ihn selbst trifft. — Schopenhauer er-
klart also die wunderbare Thatsache des Mitleids unmittel-
bar durch die transscendentale Wesensidentitat, und alle
Moral beruht folglich nach ihm auf dem intuitiven Durch-
schauen des principiums individuationis, das in seiner Intensitat
1) W. a. W. u. V. I p. 391 ff.; II p. 688 ff. Ethik p. 197.
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gar verschiedene Grade durchlaufen kann, vor allem aber
zwei Stufen deutlich unterscheiden lasst:
a)   Wer das principium individuationis so weit durch-
schaut, oder mit anderen Worten, wer so weit dem Mitleid
zuganglich ist, dass diese Erkenntnis, seinem Egoismus ent-
gegenwirkend, ihn abhalt, Leiden iiber andere zu verhangen,
um sein eigenes Wohlsein zu vermehren, besitzt darin die
Tugend der Gerechtigkeit, deren Grundsatz lautet: neminem
laede. Hier wirkt das Mitleid negativ.
b)  Wer das principium individuationis in noch hoherem
Grade durchschaut, in noch hoherem Grade fur das Mitleid
empfanglich ist, so dass er zum Wohlwollen und Wohlthun,
zur Menschenliebe sich gedrangt fiihlt, besitzt die hohere
Tugend der caritas, der christlichen Nachstenliebe, deren
Grundsatz lautet: omnes, quantum potes, iuva. Hier wirkt
das Mitleid positiv.1)
2. Die wahre Sittlichkeit liegt aber in den Tugenden
der Gerechtigkeit und Menschenliebe noch nicht beschlossen;
diese gehoren immer noch dem Reiche der Bejahung an,
wenngleich schon ein Abglanz der iiberirdischen Herrlichkeit
auf sie fallt, die ausgeht von der nicht nur einzig ethischen,
sondern auch iiberhaupt einzig existierenden That der Willens-
verneinung. Wir gehen hier zu der Darstellung der Ethik
im Hauptwerk iiber, wo Schopenhauer, synthetisch ver-
fahrend, die Ethik aus der Metaphysik ableitet. Demgemass
finden daselbst die socialen Tugenden der Gerechtigkeit und
Menschenliebe, denen die ganze Abhandlung iiber das Fun-
dament der Moral gewidmet war, eine verhaltnismassig sum-
marische Erledigung im Gegensatz zum Quietismus, dessen
Darstellung den breitesten Raum einnimmt. Das Mitleid, in
jener Preisschrift das Urphanomen, wird im Hauptwerke nur
beilaufig erwahnt.2) Wahrend die »bloss moralischen Tugen-
den*3) eine Verbindung zwischen den Erscheinungen und
ihrem gemeinsamen Ursprung setzen, fuhrt die hochste sitt-
liche That aus dem Gebiet dieses Ursprungs alles Daseins
in ein vollkommen andersgeartetes Reich, das in alle Ewig-
i) W. a. W. u. V. I p. 437 ff. Ethik 212 ff. 2) W. a. W. u. V. I, § 67, p. 443.
3) Parerga II, p. 336.
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keit uns schlechthin unbegreiflich bleiben wird. Diese That
ist das Uebergehen des Willens als Ding-an-sich in einer
seiner Erscheinungen aus der Form der Bejahung in die der
Verneinung, wodurch, da Bejahung sein eigentliches Wesen
ist, er sich selbst aufhebt, sich selbst vernichtet. Hier ist
die hochste Form des Quietismus erreicht: das die Welt
konstituierende Princip giebt sich selbst auf, im Hinblick auf
einen besseren Zustand, vielleicht des Nicht-Seins. Diese
Selbstvernichtung kann darum im einzelnen Individuum vor
sich gehen, weil ein solches ja den ganzen Willen zum Leben
enthalt. Ihr Anlass ist der deutliche Einblick des Willens
in das eigene Wesen, das von Grund aus verderbt und
darum unendlichem Leiden ausgesetzt ist; das Mittel zur
Erreichung ihres Zieles die bestandige Unterdriickung im
Willen des Einzelnen durch diesen selbst. Die hochste sitt-
liche Aufgabe ist es also, den vollkommen unmoralischen
Urwillen seiner Vernichtung entgegenzufiihren, weil nur durch
diese eine Befreiung von aller Siinde und allem Leiden mdg-
lich ist. Da aber gemass der Identitatslehre der Urwille
auch immer der Wille des Einzelnen ist, so ergiebt sich fur
diesen als einzig sittliche Verpflichtung, seinen personlichen
Willen zu unterdriicken, in hartnjickiger Selbstzucht alles
Verlangen, Streben, Sehnen, Hoffen zu ersticken, alle Triebe
zu dampfen. Damit geht die Abkehr von der als unlauter
und unselig erkannten Welt Hand in Hand; die sociale Ar-
beit gilt als unmoralisch, als sittlich allein die Arbeit am
Ich, die Lauterung des Selbstes von alien natiirlichen Leiden-
schaften. Der ethische Process spielt sich somit im Inneren
des Einzelnen ab und bezweckt die Abkehr von der Natur
zu einer vollkommen verschleierten Uebernatur, von der man
nur weiss, dass in ihr Ruhe winkt. So steht zuletzt, nach-
dem der Kern seines Wesens geschwunden ist, der Mensch
als inhaltleere Hiilse da, die beim Tode zerbricht und zer-
staubt — wohin? Es giebt keine Antwort auf solche Frage.
Wir sehen, Schopenhauer ftihlt nicht den faustischen
Mut in sich
»— sich in die Welt zu wagen,
Der Erde Weh, der Erde Gliick zu tragen,
-I ~ i
'^m^~;
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Mit Stilrmen sich herumzuschlagen,
Und in des Schiffbruchs Knirschen nicht zu zagen,« —
er sagt vielmehr, in echt indischem Quietismus befangen,
geradezu: »Ohne Ruhe ist durchaus kein wahres Wohisein
moglich.K1) Und an anderer Stelle: »In einer solchen Welt, wo
keine Stabilitat irgend einer Art, kein dauernder Zustand
moglich, sondern Alles in rastlosem Wirbel und Wechsel
begriffen ist, Alles eilt, fliegt, sich auf dem Seile, durch
stetes Schreiten und Bewegen, aufrecht erhalt, — lasst Gliick-
seligkeit sich nicht einmal denken. Sie kann nicht wohnen,
wo Platon's "bestandiges Werden und nie Sein" allein Statt
findet.«2) Das ist wirklich echt buddhistisch gesprochen. Und
so behauptet er weiter, dass keine Philosophie das Thema des
Quietismus dahingestellt sein lassen darf; dass jede Philo-
sophie, die diese ganze Denkungsart verwirft, schon dieser-
halb notwendig falsch sein muss.3) Er ist der Ansicht, dass
im Quietismus nicht, »wie optimistische Plattheit es gern be-
hauptet, eine Verschrobenheit und Verriicktheit der Gesin-
nung, sondern eine wesentliche und nur durch ihre Trefflich-
keit sich selten hervorthuende Seite der menschlichen Natur
sich ausspricht«,4) und findet den Beweis hierfiir vornehmlich
in der Uebereinstimmung, zu der nicht nur durch Zeit und
Raum, sondern auch durch ihre sonstigen Dogmen weit ge-
trennte Weise indischen, christlichen, muhammedanischen
Glaubens in der Lehre vom Quietismus und der Askese zu-
sammentreffen.6)
Die ethisch-geniale Erkenntnis, die das principium indi-
viduationis, den Schleier der maya durchschauende Erkenntnis,
die den Unterschied zwischen eigener und fremder Indi-
vidualist aulhebt und sich der Einheit des Wesens in alien
Erscheinungen bewusst wird, wodurch denn weiterhin jedes
nur irgend mogliche Leiden als wirklich und jeden Menschen
unausbleiblich mit derselben Schwere treffend erkannt wird,
diese Erkenntnis wirkt als Quietiv auf den Willen, so dass
er in freier Selbstauf hebung sich selbst vernichtet, sich selbst
verneint. Alles Streben, alles Wollen, alles Verlangen ist
1) W. a. W. u. V. I. p. 231. 2) Parerga II p. 304. 3) W. a. W. u. V. II p. 707.
■4) W. a. W. u. V. I p. 460. 5) W. a. W. u. V. II p. 702.
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— 239 —
nun beendigt, beschwichtigt; an seine Stelle tritt vollkommene
Resignation. Der Vedanta Hess nach erlangter Erldsung
alle friiher begangenen Werke zu nichte werden; es ist das
der mythische Ausdruck fur die Thatsache, die auch Scho-
penhauer betont, dass die friiheren Missethaten das Gewissen
nicht mehr angstigen,1) wie auch dafur, dass durch die Er-
losung die Verschiedenheit der Charaktere durchaus ausge-
glichen wird.2) — Der Quietismus aussert sich zunachst in
der freiwilligen, vollkommenen Keuschheit, die der erste
Schritt in der Askese oder der Verneinung des Willens zum
Leben ist,3) sodann in absichtlicher Armut, die um ihrer selbst
willen freudig ertragen wird,4) in der Verschmahung aller
Freuden, Bequemlichkeiten, Annehmlichkeiten des taglichen
Lebens, kurz, was brahmanische und buddhistische Asketen
praktisch iibten, wird von Schopenhauer theoretisch an-
empfohlen. Weiterhin werden aber auch alle anderen For-
derungen natiirlich-socialer Sittlichkeit unerfiillt gelassen. Wie
Buddha mit dem Hass auch die Liebe als unmoralischen
Trieb verwarf, so braucht auch der Schopenhauer'sche Heilige
keine That der Menschenliebe zu iiben; er hort vielmehr auf,
»irgend etwas zu wollen, hiitet sich, seinen Willen an irgend
etwas zu hangen, sucht die grosste Gleichgiiltigkeit gegen
alle Dinge in sich zu befestigen.«5) Eben das verlangte auch
die buddhistische Ataraxie. Ein Zusammenwirken vieler zur
Konstituierung und Erhaltung socialer Gemeinwesen ist un-
moglich, ja, wir miissen mit Schopenhauer den Staat als eine
direkt unmoralische Institution ansehen, in welcher Ansicht
die Verdammung aller socialen Sittlichkeit ihren Hohepunkt
erreicht. Denn wir wissen, dass dem Handeln nur dann der
sittliche Glorienschein zukommt, wenn es, aus reinem Mit-
leid entspringend, von alien egoistischen Motiven frei bleibt.
Der Staatsvertrag ist aber ein von dem allgemeinen, ver-
niinftig verfahrenden Egoismus ersonnenes und mit der Zeit
vervollkommnetes Mittel, alien den Schmerz des Unrecht-
Leidens zu ersparen, dadurch, dass man alle dem durch
1) W. a. W. u. V. I p. 464. 2) ib. p. 477. — Der gem eigener Beobachtung und
Einsicht folgende Mainlander stellt dieses letztere durchaus in Abrede. Philosophie der Er-
Josung I p. 221. 3) W. a. W. u. V. I p. 449. 4) ib. p. 451. 5) ib. p. 449.
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Unrechtthun erreichbaren Genuss zu entsagen zwingt.1) Nach
rein egoistischen Gesichtpunkten eingerichtet kann also der
Staat durchaus keinen sittlichen Wert fur sich in Anspruch
nehmen, sodass Legalitat und Moralitat streng geschieden
werden. Erstere lasst sich erzwingen, letztere nicht.2) Die
Legalitat hat es mit dem ausseren Erfolg zu thun, die Mo-
ralitat mit der inneren Gesinnung, die wir hier, wie fast
durchgangig bei Schopenhauer — Ausnahmen wurden oben
erwahnt —•, das entscheidende Gewicht in die Wagschale
des moralischen Urteils werfen sehen. Er meint: »dass die
Absicht allein iiber moralischen Wert oder Unwert einer
That entscheidet, weshalb dieselbe That, je nach ihrer Ab-
sicht, verwerflich oder lobenswert sein kann.«s) Alle Thaten,
opera operata, sind bloss leere Bilder, und allein die Ge-
sinnung, die zu ihnen leitet, giebt ihnen moralische Bedeut-
samkeit.4) Daher haben auch die Begriffe Recht und Unrecht
urspriinglich nur Beziehung auf die innere Bedeutung des.
Handelns, nicht auf dessen ausseren Erfolg.3) Erstere gehort
der Moralitat, letzterer der blossen Legalitat an. Durch
diesen Unterschied oder Gegensatz also zwischen Legalitat
und Moralitat wird dem Handeln nach den Gesetzen des.
Staates der sittliche Wert abgesprochen, weil es aus Furcht
vor Strafe, also aus Egoismus geschieht, wie iiberhaupt die
ganze Staatsform, als aus dem Egoismus entsprungen, wirklich
unsittlich ist. Dann aber kann der Staat, der durch geord-
netes, gemeinschaftlich auf dieselben Ziele gerichtetes Wollen
grosser Massen erst moglich ist, auch eben darum nicht
Gegenstand der Ethik sein. Nicht das Thun der Volker,,
des Einzelnen Thun ist Stoff der Ethik. »Nicht vom Thun
und Erfolg, sondern vom Wollen handelt es sich in der
Ethik, und das Wollen selbst geht stets nur im Individuo
vor. Nicht das Schicksal der Volker, welches nur in der
Erscheinung da ist, sondern das des Einzelnen entscheidet
sich moralisch. Die Volker sind eigentlich blosse Abstraktionen,.
die Individuen allein existieren wirklich. «6) Hier sehen wir,
wie der Quietismus den sittlichen Process in das Individuum
1) ib. p. 404 ff. W. a. W. u. V. II p. 682 ff. Ethik p. 194. 2) Ethik p. 202, 255. 3) ib».
p. 134. 4) W. a. W. u. V. I p. 436. 5) ib. § 62 p. 393. 6) W. a. W. u. V. II p. 678.
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verlegt und den erzieherischen Wert socialer Arbeit voll-
kommen verkennt. Hier sehen wir auch, in welchem Sinne
jene Tugenden der Gerechtigkeit und Menschenliebe als
sociale bezeichnet werden diirfen: sie konstituieren zwar ein
sittliches Verhaltnis zwischen den einzelnen Menschen, aber
ohne Riicksicht auf den grossen Verband einer socialen Ge-
meinschaft. Nur der Tugend der Gerechtigkeit kann man
eine solche unterlegen, indem das ihr zu Grunde liegende
Mitleid uns antreibt, dem Unrecht auch da entgegenzutreten,
wo nicht andere von uns, sondern von andern andere bedroht
werden. Aber diese Tugend ist dafur auch nur die unterste
Stufe auf der Leiter der Moralitat, die in der Willens-
verneinung als hochster sittlichen That auslauft. Diese That,,
diese auf Erkenntnis seines Wesens eintretende Selbstauf-
hebung des Dinges-an-sich, ist iiberhaupt die einzige Begeben-
heit von wahrhaftem Wert, die der Weltlauf zeitigen kann.
Alle anderen Begebenheiten sind, wie wir bei Darstellung
des Pessimismus gesehen haben, unwesentlich. Wie konnte
es daher die Sendung des Menschen sein, die Krafte des
Korpers oder Geistes in diesen wertlosen, ja nichtigen Welt-
angelegenheiten zu bethatigen? Wie konnte auf Entwickelung
und Ausgestaltung der Welt hingearbeitet werden, da durch
die ewig unveranderlichen Ideeen oder Willensobjektivationea
infolge ihrer Starrheit eine Entwickelung durchaus unmoglich
ist. In diesem Sinne stellt Schopenhauer die Geschichte der
Heiligen weit tiber die sogenannte Weltgeschichte. Fur ihn,,
den Philosophen, der die ethische Bedeutung der Handlungen
zum Massstab nimmt, ist die grosste, wichtigste und bedeut-
samste Erscheinung nicht der Welteroberer, sondern der
WeltiAberwinder. Fur ihn sind Lebensbeschreibungen heiliger,
sich selbst verleugnender Menschen, und waxen sie voll des.
krassesten Aberglaubens, durch die Bedeutsamkeit des,
Stoffes ungleich belehrender und wichtiger als selbst Plutarch,
und Livius.1) — — —
Schopenhauer setzt wie der Vedanta dem Reich der-
Einheit das Reich der Vielheit gegenuber, von denen das:
letztere eben durch seine innere Zersplitterung sich als,
1) W. a. W. u. V. I p. 456.
16..
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i.
unmoralisch darstellt. Daher besteht die Sittlichkeit in einem
Akt, der die Vielheit in sich selbst zur Einheit versohnt.
Wie der Vedanta lasst Schopenhauer den Kern des Menschen
unmittelbar mit der Einheit, dem Ding-an-sich identisch sein,
daher ist bei ersterem das Grundwesen des Menschen
Intelligent, bei letzterem Wille. Also liegt bei jenem das
sittliche Verdienst auf intellektualem, bei diesem auf wirklich
moralischem Gebiet. Schopenhauer geht aber noch weiter
als der Vedanta. Er zeigt, warum jene Zersplitterung un-
moralisch ist, darum, weil das Ding-an-sich selbst, das in ihr
zur Erscheinung gelangt, der Wille selbst ein unlauterer,
unheiliger ist.
Daher kann es nicht geniigen, sich bloss, wie nach dem
Vedanta, uber die Erscheinung zu erheben, was in den
Thaten der Gerechtigkeit und Menschenliebe geschieht, son-
dern die wahre sittliche Vollendung ist erst dann erreicht,
wenn man sich vom innersten Kern seines Wesens, vom
Willen selbst, lossagt, was in der Willensverneinung, der
Willensertotung geschieht. Jene Thaten bloss moralischer
Tugenden gehoren im Grunde immer noch der Willensbe-
jahung an, ihre sittliche Bedeutung empfangen sie erst da-
her, dass sich der Bejahung ein gewisses Element der Ver-
neinung beimischt. Denn die Form der Bejahung ist die
Individuation, daher der Egoismus, iiber den sich der morali-
sche Mensch in gewissem Grade erhebt und sich auf diese
Weise der Verneinung nahert. Daher werden auch die
socialen Tugenden in asketischer Weise umgedeutet. »Die
Gerechtigkeit selbst ist das harene Hemd, welches dem
Eigener stete Beschwerde bereitet, und die Menschenliebe, die
das Notige weggiebt, das immerwahrende Fasten.*1) Wie
wir den Buddhismus der natiirlichen Tugend der Wohlthatig-
keit die asketische Pflicht der Selbstaufopferung unterschieben
sahen, so wandelt sich auch fur Schopenhauer der Begrift
der Menschenliebe unter den Handen in den der Entsagung
um. Er sagt: »Je nachdem nun teils jene unmittelbare Teil-
nahme lebhaft und tief gefiihlt, teils die fremde Not gross
und dringend ist, werde ich durch jenes rein moralische
1) W. a. W. u. V. II p. 697.
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— 243 —
Motiv bewogen werden, ein grosseres oder geringeres, Qpijier
dem Bediirfnis oder der Not,des Andern zubringen, welches,
in der Anstrengung meiner leiblichen oder geistigen Krafts
fur ihn, in meinem Eigentum, in,, meiner. Gesundheit, Frei-
heit, sogar in meinem Leben.bestehen kann.x1) Oder: »Man
-wird njir zugestehen, dass mancher hilft und giebt, leistet
und entsagt, ohne. in seinem Herzen, eiae weitere Absichtt
zu,:j haben, als, dass dem. Andern. •—■ — geholfen.werde..«2)
Begonders haufig. werden.wir einen splchen Umschlag in der,
Darstellung der Kthik im. Hauptwerke finden, weil Schopen-
hauer hier von seinen metaphysischen Axiomen selbst her-
kam. So wird daselbst als Beispiel eines Mitleidigen ein
Mensch vorgefiihrt, »der et.wa eio betrachtliqh.es Einkommen
besitzt, von diesem. aber nur wenig fiir sich benutzt und
alles Uebrige den Notleidenden giebt, wahrend er selbst
viele Geniisse und Annehmlichkeiten entbehrt.«3) Wir brau-
chen diese Belege nicht zu haufen;4) aus den angefiihrten
geht deutiich genug hervor, wie fliissig fiir Schopenhauer die
Grenze zwischen socialer Mildthatigkeit und asketischer Selbst-.
aufopferung ist. — Die moralischen Tugenden sind durchaus
nicht Selbstzweck, sie sind nur Mittel zur Ertotung deg.
Willens, ein Durchgangspunkt. Sie begleiten den Menschen
als eine Leuchte auf seinem Wege zur Verneinung.5) Diese,
die endgiiltige Unterdriickung alles Verlangens, ist die Sitt-
lichkeit par excellence, die vollstandige Abkehr von der.
Welt. Die Welt mit ihren natiirlichen Verhaltnissen, die. an
tausend Punkten durchgreifender Bearbeitung harrt, ist dem
Heiligen ein Gegenstand des Abscheus, als die stets bereit.
liqgende Veranlassung zu erneuter Willensbejahung, der Teufel,
mit dem der Mensch bestandig um, das Gut des seligen
Friedens streitep muss,6) So war auch dem Buddhismus die
Verlockung der Welt, die den Erlosten aus dem sicheren,
windstillen Hafen seiner Abges.chiedenheit schmeicheln will,
in Mara personificiert, dem Bosen, dem buddhistischen Satan,7)
woher dem Asketen eben die Pflicht bestandiger Wachsam-
keit erwuchs. — — — Nebenbei sei erwahnt, dass nach
1) Ethik p. 227. 2) ib. p. 203. 3) W. a. W. u. V. I p. 439. 4) cf. noch ib. p. 438
440. 5) W. a. W. u. V. II p. 698. 6) W. a. W. u. V. I p. 462. 7) OUenberg a. a.O. p. 333!
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Schopenhauer die Verneinung des Willens nicht durch die
Verneinung des irdischen Daseins, durch den Selbstmord zu
erlangen ist, der vielmehr als die krasseste Bejahung des
Willens zum Leben angesehen werden muss, daher er nicht
nur vergeblich,1) sondern sogar unmoralisch ist.2) Schopen-
hauer ist somit kein Hegesias Peisithanatos, wenn gleich der
Titel der Schrift des Hegesias: »Apokarteron« eine Bezeich-
nung fur den Schopenhauer'schen Weisen extremster Rich-
tung abgeben kann, »der seiner Geduld ein Ende Setzende«,
worunter man in alexandrinischer Zeit einen Asketen ver-
stand, der durch freiwilligen Hungertod dem Leben ein Ende
machte, welches freiwillige Ende besonderer Art Schopen-
hauer als moralisch vom unmoralischen Selbstmord geschieden
wissen will.3) — Auch der Vedanta verwarf den Selbstmord,
gemass dem Spruch der Bhagavad Gita:
»Denn welcher allerorts den hochsten Gott gefunden,
Der Mann wird durch sich selbst sich selber nicht verwunden.«l)
Der Buddhismus dagegen nimmt zur Frage des Selbst-
mords keine Stellung. Er verdammt ihn keineswegs,5) so dass
sich Falle wirklich ereigneten, wo Asketen mit eigener Hand
ihrem irdischen Dasein ein Ziel setzten, wie z. B. noch zu
Lebzeiten Buddhas der ehrwiirdige Ghodika,6) aber er rat
ihn auch durchaus nicht an, wie es die Schwestersekte der
Jaina's that, die dem Monche nahelegte, Gift zu nehmen,
wenn er anders seiner Leidenschaften nicht Herr werden
konnte.7) In diesem Zusammenhange seien auch noch einige
wenige Worte iiber die engere Askese gesagt, iiber die
Kasteiungen, die in der Regel als Begleiterscheinungen der
Mystik auftreten, die selbstgewahlte biissende Lebensart zur
anhaltenden Mortifikation des Willens. So gait sie besonders
in der christlichen Mystik des Mittelalters, indem diese der
Ansicht war, dass, obgleich Christus Genugthuung fur alle
Siinden der Menschheit gethan, doch die leidende Nachfolge
Jesu, die Nachbildung seiner Schmerzen am eigenen Leibe
unerlassliche Bedingung fiir die Aneignung des Verdienstes
1) W. a. W. u. V. I p. 433, 330 ff. 2) ib. p. 471 ff. — Anders iiber den Selbstmord
hat Mainlander gedacht, hat aber auch seine Meinung durch seinen freiwilligen Tod prak-
tisch bethatigt. 3) ib. p. 474. 4) Deussen: Vedanta, p. 61 Anm. 36. 5) Oldenberg a. a. O.
p. 287. 6) ib. p. 289. 7) E. Hardy: Buddhismus p. 96.
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Christi sei. — Die engere Askese des Vedanta vollzog sich
namentlich in den vier acrama's oder Uebungstadien, in
denen das Leben eines jeden Ariers verlaufen sollte.1) Das
erste Stadium war die Zeit des brahmacarya, die Zeit der
Lehre des Wortes bei einem Brahmanen, eine zwolfjahrige
Priifungzeit, namentlich im unbedingten Gehorsam, eine Zeit
der Kasteiung, der Enthaltsamkeit, vor allem in geschlecht-
licher Beziehung, so dass der Ausdruck brahmacarya, d. i.
Lebensweise eines Brahmanenschiilers geradezu die Bedeutung
von Keuschheit erhielt.2) Es folgte die Zeit des grihastha,
des Hausvaters, an die sich im Alter der Stand des Ein-
siedlers, vanaprastha, anschloss, bis zuletzt auch die einsame
Hiitte im Walde aufgegeben werden musste und die
Wanderungen des Bettlers, des bhikshu begannen, der sich
von Almosen nahrte und mit den Lumpen bekleidete, die
er auf den Begrabnisstatten auflas. Fasten und Kasteiung
musste dabei bestandig betrieben werden. Man wollte durch
alles das die Frucht friiherer Werke zu nichte machen,8)
weshalb nach erlangter Erlosung alle engere Askese fortfiel.4)
Auch fur den Buddhisten war asketische Lebensweise Be-
dingnis. Auch er musste die Heimat verlassen und bettelnd
umherziehen, ohne irgend welchen Besitz, in vollkommener
Keuschheit. Sein Gewand sollte aus Lumpen bestehen, seine
Lagerstatte unter den Baumen des Waldes, seine Medicin
der stinkende Urin der Kiihe sein.5) Aber Buddha hatte
einst selbst erkannt, dass von Kasteiungen das Heil nicht
kommen kann.6) Daher ist seine Religion duldsamer den
Bedurfnissen des Leibes und der menschlichen Schwachheit
gegeniiber, so dass die strenge Lebensordnung uberall durch
eine mildere Praxis durchbrochen wird, in einer Weise, die
•den Spott der streng asketischen Jaina's wachrief7) und selbst
unter den eigenen, rigoristisch denkenden Anhangern Anstoss
erregte, bis sogar zum Ausbruch offenen Aufruhrs.8) In seiner
ersten Predigt zu Benares sprach der Siegreich-Vollendete:
»Zwei Enden giebt es, ihr Monche, denen muss, wer ein
geistliches Leben fiihrt, fernbleiben. Welche zwei Enden
1) Deussen Vedanta p. 17. 2) Zimmer: Altindisches Leben p. 210. 3) Deussen a.
a. O. p. 89, 170. 4) ib. p. 88. 5) Oldenberg p. 376. 6) ib. p. 117. 7) ib. p. 190. 8) ib. p. 171 f
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'2U
•sind dag? Das eine 1st ein Leben'in Liisten, der Lust urki
*dem Genuss ergeben; das ist hiedrig, unedel, ungeistlidh,
urrwiirdig, nichtig. Das andere ist ein Leben der Selbst-
peirtigung; das ist trifbselig, uriwurdig, nichtig. «*) Und ^so
heisst es im Dhammapada:
»mclctheit des Kfjfpers nicht, nicht gefloclitenes Haar,
"Xuch nicht Schmutz, nicht Hunger urid Durst,
Nicht atif'dem Boden liegen, im Staub sich walzen,
Auch niclit bewegunglos stehen,
Reinigung bringt dem Sterblichen, der hicht sich
Der Begierden Herrschaft entwand.«2)
Was ertdlich Schopenhauer anbetrifft, so halt er dafiir,
dass nrit Kecht von vielen »die Askese im allerengsten Sihhe,
lalso das Aufgeben jedes Eigentums, das absichtlidie Atif-
suchen des UnangeneHmen und Widerwaftigen, die Selbst-
^peiniguhg, xlas Fasten, das harene Hemd und die Kasteiufrg,
ials 'iiberftussig verworfen« wird. Denn hach ihm bringt die
blosse Ausiibung der rnoralischeh Tugenden s6 viele Ent-
"sagung mit sich, Armut, Entbehrurigen und eigenes Leiden
vielfacher Aft, dass es zur Mortifikatidn des Wilferis keirier
Geissel and keines Dornenlagers bedarf.8) Er steht also rrn
wesentlichen auf dem Standpunkt des Buddhismus, und ef-
kennt es als e'inen Vorzug des'selben vcrr dem Brahrharfislrius
•an, dass er frei von jeder strengen und iibertfiebenen Askese
ist, 'die dort erne so grosse Rolle spielt. Er selbst aber liat,
indem er die Abweisung der engeren Askese m diesef WeiSe
•m'otiviert, dadurch die socialen Tugenden der GereChtigkeit
und Menschenliebe asketisch ifmgededtet.
Wir haben also gesefien, wie Schopenhauer zur Er-
klarung 'des von uns social genannten Sittfichen die meta-
physische Thatsache der Wesensidentitat herbeizieht, indeVn
er aus dem lebendig erkannten Gefiihl dieser Tdetfritat das
Mitleid als das anthropologische Fundament alter waftren
Moral hervorgehen lasst. Wir haben aber zugleich gesetien,
dass ihm diese sociale Moral unter der Hand in eine aske-
tiSche sich umwandelt, und wie er vor aliem alles staatliefte
1) ib. p. 138. 2) Hardy: Buddhismus, Anm. 26 (zu p. 10). 3) W. a. W. u. V. II
p. 696 ff.
iiMayr^Tfrii h ii ft^"fa~d
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Handeln als egpistischer Natur jedes sittlichen Wertes ent-
kleidet. Der somit schon in der weltlichen Ethik vorbe-
reitete Quietismus erringt sodann die Oberherrschaft, sobald
der Pessimismus die Wurzel des Weltelends in das Dihg-an-
sich selbst verlegt, wodurch ein Gegensatz desselben zum
nirvana der Willensverneinung hervorgerufen wird. tDieser
Gegensatz muss, auf die Ethik bezogen, die hochste sittliche
That in die Abkehr von der Daseinsform des Dinges-an-sich
setzeh, in die Zuwendung zu einer noch jenseits des Dinges-
an-sich liegenden Daseinsform, die wir aber niemals verstehen
werden, die wir hochstens das Nichts nennen konnen. Im
hoffnungvollen Ausblick auf das Nichts wendet sich der
Asket, der sich schon in Thaten des Mitleids. von der Er-
scheinung emancipiert hatte, in der Willensertotung von
jedem, irgend moglichen Leben ab, wie es ahnlich auch
Buddha lehrte, wodurch der Quietismus des Vedanta, der
doch noch im brahman, dem Ding-an-sich, Halt machte, weit
iibertroffen wird. Hiermit ware also a.uch an und fur Scho-
penhauer der Beweis erbracht, dass eine Verquickung des
ethischen Processes mit der Metaphysik ersteren immer notigt,
in Weltflucht und Quietismus zu enden.. Urn nun die Parallele
zwischen der Ethik Schopenhauers und Buddhas zum Ab-
-,-••. i ■■:                    r-ii ,: . , ■■; - * »< ...... « -.-■ •--. :»*r!*E] s, til
schluss zu bringen, fiigen wir eine kurze Untersuchung an,
in wie weit es Schopenhauer gelurigen ist, seine Ethik von
allem, Eudamonismus frei zu halten.
                                    ,.
^ Wahre Moral und Eudamonismus sind nach Scho'pen-
hauer, wie e,r vielfach betont, durchaus disparate Begriffe.
Die Abwesenheit aller egoistjscfyen Motivation ist eben das
Kriterium einer Handlung. von moralischem Wert, die viel-
mehr aus dem Mitleid entspririgen muss, aus der 'gan^.un-
mittelbaren, von alien anderen Rucksichten unabharigigen
Teilnahme zunachst am Leiden des anderen und.dadurch an
der Verhinderung oder Aufhebung dieses Leidens,. ajs worin
zuletzt alle Befriedigung und alles Wohlsein und Gliipk be-
steht.1) Wir untersuchen hier nicht, ob das Mitleid. wirklich
aller Gerechtigkeit und Menschenliebe zu Grunde liegen kann,2)
i:; tdji Bthi^B-iaOfi ;2)iVfa« vertteint wird von Kober: Das Mitleid als die moralische
Triebfeder. Leipziger Dissertation 1878.
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wir fragen nur, ob Mitleid und Egoismus vollkommen ent-
gegengesetzte Krafte sind, wie es Schopenhauer behauptet,
und mussen diese Frage verneinen, sowohl auf Grund der
wirklichen Natur des Mitleids als auch gemass der Erklarung,
die unser Philosoph selbst von ihm giebt. Wenn wir Zeugen
werden eines entsetzlichen Ungliicks, der Todesnot eines
Menschen, wohl gar eines teuern Freundes oder Verwandten,
durch welchen Anblick unser ganzes Mitgefiihl auf's tiefste
aufgeriittelt und der lebhafteste Wunsch zu helfen, zu retten
in uns erweckt wird, so wird an diesem Wunsche neben dem
Verlangen, den Leidenden rein um seiner selbst willen von
der Qual zu befreien, ebenso sehr ein ganz bestimmtes per-
sonliches Missbehagen Anteil haben, das wir ganz deutlich
empfinden, das sogar bloss asthetischer Art sein kann. Wir
selbst werden unmittelbar in unsern Gefuhlen unangenehm,
schmerzlich afficiert, und es wird sich schwerlich ein Fall
ermitteln lassen, wo der empirische Akt des Mitleids ganz
frei ist von egoistischen Regungen. Deshalb werden wir fast
ebenso sehr eilen, durch schleunige Hiilfe unserm eigenen
unbehaglichen Zustande ein Ende zu machen als, dem Nachsten
zu Liebe, der Not des andern. Ware dem aber nicht so,
so wiirde das Mitleid doch unrettbar dem Egoismus zur
Beute fallen, weil Schopenhauer selbst es ihm ausliefert,
durch seine Erklarung gemass der Identitatsiehre. Hiernach
ist es wirklich dasselbe Wesen, das in alien Erscheinungen
leidet und die Schmerzen, die es in dem einen Individuum
ftihlt, aus Egoismus durch die Liebeswerke eines anderen
zu stillen sucht. Und wenn dieses Wesen zur Linderung der
Oual in dem Einen den Anderen entsagen macht und ihn
Entbehrungen auf sich nehmen heisst, so gleicht es dabei
vollkommen einem Menschen, der, um den Schmerz in dem
einen Gliede zu iibertauben, sich selbst im anderen solchen
bereitet. Wenn ich dem Nachsten helfe, so helfe ich mir,
denn ich bin er.
Freilich haben wir es in diesem Falle nicht mit dem
empirischen Egoismus zu thun, der nur dem Individuum an-
haftet, sondern mit einem Egoismus hoherer Art, den wir
den transscendenten nennen k5nnen, weil ihn der Wille als
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— 249 —
■das Ding-an-sich empfindet, der ja stets nach Wohlsein
trachtet. Ja, transscendenter Egoismus ist auch die Willens-
verneinung, indem der Wille, infolge der Erkenntnis des ihm
unabwendlich drohenden Leidens, aus Mitleid mit sich selbst,
aus offenbarem Egoismus also, zum letzten, einzigsten Mittel
greift, dem Leiden fiir immer zu entgehen, zur Selbstver-
nichtung, zum transscendenten Selbstmord. Schopenhauer
verwirft es als egoistisch, folglich unmoralisch, nach Wolfischen
Principien, an seiner eigenen Vervollkommnung zu arbeiten;1)
aber verlangt er nicht eben dieses in der Forderung der
Willensbezahmung und -ertotung, da Willenlosigkeit hochste
Sittlichkeit ist? In den Thaten der Gerechtigkeit und
Menschenliebe wird nur der empirische Egoismus iiberwunden,
weil der Wille, in transscendentem Egoismus befangen, ein
lohnenderes Ziel vor Augen hat als jene nichtigen Freuden
der Erdenwelt. Er giebt vergangliches Gliick fiir ewiges
dahin. Das Paradoxon, das wir auf den Buddhismus an-
wandten, gilt auch fiir die Schopenhauer'sche Ethik: sie be-
kampft den Egoismus aus Egoismus, sie ist selbstlose
Selbstsucht.
Wie wenig Schopenhauer seine Ethik vom Eudamonismus
befreit hat, zeigt sich auch in einer Reihe einzelner Ziige.
Dahin gehort z. B., dass er als ein Merkmal, an dem die
Moralitat unserer Handlungen zu erkennen ist, die durchaus
richtige Thatsache aufstellt, »dass sie eine gewisse Zufrieden-
heit mit uns selbst zuriicklassen, welche man den Beifall des
Gewissens nennt.«8) Ferner. Der »wahre, reine Gehalt aller
Moral,« der »einfachste und reinste Ausdruck der von alien
Moralsystemen einstimmig geforderten Handlungsweise,« der
»letzte wahre Zielpunkt aller Moral und alles Moralisierens«
ist die Maxime: »neminem laede, immo omnes, quantum potes
juva.«3) Diese Maxime ist nach Schopenhauer die Konklusion
aus der Pramisse: »quod tibi fieri non vis, alteri ne feceris,«
und dieser Satz wird von ihm selbst als auf dem Egoismus
basierend nachgewiesen. Ferner. Er stellt die Formel auf:
»Die Grosse der Ungerechtigkeit ist gleich dem Schaden,
den ich einem Andern zufuge, dividirt durch die Grosse
1) Ethik p. 207. 2) ib. p. 204, 327. 3) ib. p. 15», 162, 137.
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Jneines VorteiTs.K1) Gemass dieser Fdrmel wird bei gleich
gro'ssem "Divident und Divisor, d.,Ji. wenn eigener Vorleil
und frenider Schacle 'eiriander die Wage halteh, .die Unge-
[fechtiglceit zwar meat a 0, aber doch =='t, wodurch 'die
Mogiicnkeit gegefjen ist, bei ribch so grossem Scnaden; den
ein anderer durch iiiich erjeidet, die TJngerechfigkeit meiner
Ftahdlurig auf ein genriges Mass hefabzu'driicken. Ich brauche
nur eirien jtiitzen aus meiner
            zu ziehen, der ebehso
gross ist als der Schaden des Arideren! Ferner. Die Reue
wird erklart durch die Erkerinthis, dass man, durch falsche
Begrirfe geleitet, etwas Anderes getnan, als dem Willen
gemass
war.'2) Ferner. Das Weinen wird erklart als 'Mtleid
friit sich s'elbst, und doch gilt 'es als Beweis eines reinen
tlerzens.8)— SoTcher Zuge, die fiir die Thats^ctie sprechen,
dais's aiich Scho'penhauers Ethik, gegen seine, Versicnerung,
im Egoismus stecken geblieben ist, liessen sich hoch mehr
anfiihren; dpch mag es bei diesen sein Bewehden haben.
Tedenialls gilt von ihm, was er von Kant benauptet:4) er
hat den Eudamonismus mehr scheinbar als wirklich aus der
Ethik verbannt.
Dass aber uberhaupt eine soTcne V erbannun'g nicht mog-
lich set, von diese'm Gedanken ist die Mainlander'scne Ethik
"getragen; von diesem Gedanken aus hat Mainlander eine
schatzbare Erweiterung der Schb'penhauer'scnen Doktrin ge-
geben, Seine Ethik ware interessant genug, sie einer ein-
geheriden Betrachturig zu untefzieheh, die wir uns aber leider
an dieser Stelle versagen miissen. Das Thema unseres
B'uches gestattet uris hur erne, kiirze Abscnweifurig, anriangs-
weise eine gedr'ahgte Uhtersuchung, in. wie weit die Wechsel-
bezienurig zwisch'eh Metaphysik und Asketik einerseits, lm-
rnVhehz und socialer Moral ander'erseits aiich bei dem Schiiler
Schopenhauers stattnat'.
Wie Mairilander unter dem Einnuss Schopenhauer'scher
Gruridgedariken stent, so stent und — leidet er unter dem
gleichen Schicksal, das einst.seinen Lenrer betroffen, unter
dem Schicksal uhverdienter Nichtbeachtung. Und doch ist
1) Ethik p. 219.^2) W. a. W. u. V. I p. 349, II p. 681. 3) W. a. W. u. V. I p. 444,
II p. 679. 4) Ethik p. 118.
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seine Lehre rriehr als eine blosse 'Urn- und Fortibildurig der
SVhopenhauer'schehThilosdphie; sie ist'eine selbstandige und
selbstb'ewUsste Fortbildung der Philosophic iiberhaupt, sie
1st eine ktihne Fackeltragerin, die manches bis jetzt tiber-
hdtipt nbch nicht betfeterie Gebi'et im Reiche philbsophischer
"Erkerihtnis efleuclttet. Schdn darum ist die » Philosophic der
Erldsung« beachten'sWert, Weil sie eine Hochst merkwiifdige
VersChrnelzuhg der Vers'chiedeh'sten Systeme darstellt; Kant,
Schopenhauer, Buddha, Locke, die Stbiker, Spinoza, Hobfres
liefern die Steine, a\is denen ein geschickter Baurheister dem
Erlosunggedanken eln stattliches Haus efrichtet hat.
Die Maihlahder'sche Phildsophie »verwirit die Anrianrhe
elner verbdrgeneh einfachen Eihheit in, fiber oder hinter der
Welt. Sie kenht hur urizahlige Ideeen, d. h. iridividuelle
Willen ziirh Lebeh, die, in Hirer Gesamtheit, eine test in sich
geschldsseiie Colfectiv-Eitiheit bMen.«') Sie vertritt durcn-
aii's das Formalpriricip der Immanenz und kennt demgeniasfs
fitir Individuen; hur solclie will sie gelten iass'eh. Dem ln-
"dividUiim 's'elfie zerrisserien uhd zertre'tenen vRecn'te wiedejr-
ztigeben, ist ilir 'eirtgestahd'en'er 'Zw'e'ck. Dafaus ergiebt s'ich
'ztniachst, dass sie, im Gegensatz zii der Schop'enhau'erfschen
Lehre', nicht 'fiber den Eudamohismus in der Ethik hinaiis-
strebt. Denn das Individuum ist das aliem Reale; das afreih
Reale ist der Selbsterhaltufrgtrieb des Eirlzelneh, der Egois-
mus. DieseV also 1st das Fundament der Moral, nicht aber
'dMs Mitleid. Das Mitleid ist kemesWegs, wk S'chop'ehiiau'er
a'h'fiahm, em'durchaus'altruistischer Trieb; vielmehr empfindeh
Mr im Mitleid »eih positives Leid in uhs; es ist ein tiefes
Gefiihl "de'r Uhlust, 'das uhser Fterz zer'reisst.«2) Dafaus
fdlgt weiterhin, 'dass alle Moral social seih rriiiss'; der etniscfie
Process katin hur zWischen'den all'eih real'en Individuen sta'tt-
hab'en. Aiif den Staa't richte't sich allein das sittliche Han-
delh. Mairilahd'er vertritt so sehr die sociale Moral, dass "er
sogar Socialist 1st. Aber doch schlagt aucn be! ihm die
so'ciEtle Moral in die asketise'h'e tim, die in der Ariempfehl'uhg
absbluter Keuschheit gipfelt. Dehn Maihlander hat, seTher
Versitherung zum Trotz, die Imrh'ahehz nicht vdllkornnieh.
1) Philosophie der Erlosung I p. 199. 2) S, p. 218.
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aufrecht zu erhalten vermocht; auch bei ihm spielt zur Be-
grtindung des hochsten ethischen Vorgangs die Metaphysik,
die transscendente Idee eine Hauptrolle. Er will nur Indi-
vidual kennen und nimmt kaum weniger als Schopenhauer
<he menschliche Gattung, die Menschheit als eine reale Idee,
als ein wirklich, in und fur sich bestehendes Wesen, das
eine Existenz noch iiber den Einzelwesen besitzt. Nach ihm
kann der Einzelne, so selbstherrlich das Individuum in totaler
Aseitat sonst erscheint, nur in der Menschheit wurzeln, nur
in ihr und durch sie sich im Leben erhalten.1) Jeder lebt
fort in seinen Kindern — der mystische Gedanke der Wesens-
identitat ist nicht zu vertreiben. Man hore folgenden Satz:
»Wie wir in der Physik gesehen haben, findet der Mensch
im Tode absolute Vernichtung; trotzdem wird er nur
scheinbar vernichtet, wenn er in Kindern weiterlebt; denn
in diesen Kindern ist er bereits vom Tode auferstanden; er
hat in ihnen das Leben neuerdings ergriffen und es fur eine
Zeitdauer bejaht, die unbestimmbar ist.«2) Die Gattung
Mensch wird also wie bei Schopenhauer offenkundig hyposta-
.siert, die Immanenz vollkommen durchbrochen. Die Idee
ist nicht mehr der individuelle Wille, sondern Idee im pla-
tonischen oder Schopenhauer'schen Sinne: die Metaphysik
tritt in ihre Rechte. Nun spielt sich der sittliche Process
nicht mehr zwischen den urspriinglich als allein real gedach-
ten Individuen, sondern bezieht sich auf die zu besonderer
Wesenheit erhobene Gattung. Die Moral bleibt aber auch
hier Eudamonismus; sie fusst auf einem Egoismus, den Main-
lander den gelauterten nennt, der aber besser als trans-
scendenter zu bezeichnen ist. Wie der einzelne Mensch nach
Gliick und Wohlsein strebt, so erst recht die mystische
Gattung. Kann aber das Individuum nur selten wahre Be-
friedigung auf Erden erreichen, so erst recht nicht die Idee;
denn diese Welt steht unter dem Fluche ewigen Jammers
und vollkommener Nichtigkeit. Daher ist eine andere Welt,
oder besser ein anderer Zustand zu fordern — auf diesen
richtet sich, weil er leidlos und selig gedacht werden muss,
das Streben der Menschheit; von hier aus empfangt es seine
1) ib. p. 214, 217. 213. 2) ib. p. 219.
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moralische Weihe. Mainlander durchbrichttfiier zum anderen-
Male die Immanenz und es verschlagt nichts, ob er jenen
vollkommenen Zustand in das absolute Nichts setzt, das nach
Ablauf einer zeitlichen Entwicklung die gesamte Mensch-
heit erwartet; er stellt der Welt des Daseins die Welt des
Nichtseins entgegen, und letztere ist das Ziel alles rein sitt-
lichen Verhaltens. Die Menschheit bewegt sich aus dem
gesetzlosen Zustand in den Staat, aus dem Staat in den
»idealen Staat« (sociale Moral), aus dem idealen Staat oder
dem Sein in das Nichtsein (asketische Moral). Der Ueber-
gang in das Nichtsein vollzieht sich mit Hillfe der Virginitat.
Die Immanenz seiner Philosophic muss Mainlander zum
anthropologischen Fundament der Moral und dadurch zur
socialen Form derselben fiihren. Da er aber als Schiiler
Schopenhauers die asketische Ethik festhalten will, muss die
Immanenz der Transscendenz weichen; nicht mehr zwischen
Individuen spielt der sittliche Process, sondern zwischen der
Menschheit im Sein und dem Nichtsein. Metaphysik und1
Asketik sind unzertrennlich.
^elilu sswort.
Wir stehen am Ende unserer Parallele zwischen der
Schopenhauer'schen und der indischen Philosophie, bei der
wir nur die fundamentale Uebereinstimmung beider in den
Grundziigen zeigen wollten, wahrend andere Punkte unter-
geordneter Art iibergangen vvurden, selbst solche, die
Schopenhauer jedenfalls mit Freuden als Beleg fur die Wahrheit
seiner Philosophie begriisst hatte. Er hatte z. B. sicher nicht
verfehlt, im Kapitel »Sinologie« der Schrift »Ueber den Willen
in der Natur« die legendarische Erzahlung des Buddhismus
anzufiihren, nach der Buddha, dem Tode nahe, das Leben
durch seinen Willen fest hielt,1) als einen Beweis der domi-
nierenden Kraft des Willens — wenn sie ihm bekannt gewesen
oder aufgefallen ware. — Aber abgesehen von dem kleinen
1) Oldenberg a. O. p. 213, 214. Ebenso die legendarischen Berichte des Buddhismus -
tiber magische Fernwirkung des Willens, ib. p. 172, 323.
1
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Detail hat sich die durchgangige Congruenz, der Philosophie,
Schopenhauers und der Inder als eine wahrhaft uberraschend§
herausgestellt, als eine so durchgreifende Analogie, dass
Schopenhauer wahrscheinlich selbst diese unbewusste Ab-
hangigkeit missliebig aufgenommen hatte. Und zwar ist die,
Schopenhauer'sche Philosophie durchweg eine Synthesis von.
Brahmanismus, in Gestalt des Vedanta, und Buddhismus,
deren Lehren in seinem Systeme zu hoherer Einheit verbunden
^worden sind. Wie Platon die Heraclit'sche Grundanschauung
mit der des Parmenides in seiner Ideeenlehre verschmolzen
hat, so Schopenhauer den brahmanischen und buddhistischen
Idealismus. In der Lehre vom Willen als Ding-an-sich
fliessen ebenfalls Vorstellungen des Brahmanismus und des
Buddhismus zusammen, desgleichen in der Lehre von der
Erlosung. Und wenn Schopenhauer im Jahre 1813 schrieb:
»Unter meinen Handen und vielmehr in meinem Geiste
erwachst ein Werk, eine Philosophie, die Ethik und Meta-
physik in Einem sein soll« —, so sehen wir jetzt, dass diese
Metaphysik wesentlich brahmanisches, die Ethik buddhisti-
sches Geprage aufweist. Seine Metaphysik ist die pantheistische
Identitatslehre des Vedanta, seine Ethik die »Vernichtung
des Durstes«, die Buddha lehrt. —■ »Ich ordne an, ihr
Jiinger,« sagt Buddha, »dass ein Jeder in seiner eigenen
Sprache das Wort Buddhas lerne*1) — das Abendland kann
sie in der Sprache Arthur Schopenhauers lernen.
1) Oldenberg p. 192.
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Inhaltiibersicht.
I. Einleitung.
§    1.    Morgenland und Abendland, p. 1.
§    2.    Quellen der Schopenhauer'schen Philosophie, p. 6.
§    3.    Brahmanismus und Buddhismus, p. 13.
§    4.    Gang der Untersuchung, p. 17.
II Mysticismus
A.  Die Welt des Objekts.
§    5.    Der Idealismus, p. 19.
§    6.    Die eigentliche Metaphysik, p. 36.
§    7.    Der Atheisraus, p. 54.
§    8.    Das Ding-an-sich, p. 73.
§    9.    Die Identitatslehre, p, 82.
§  10.    Der Satz vom Grunde, p. 86.
B.  Die Welt des Subjekts.
§ 11. Psychologie, p. 89.
§ 12. Der Intellekt, p. 102.
§ 13. Der Korper, p. 112.
Ill Ethik.
A.  Die Welt des samsara.
§  14.    Der Pessimismus, p. 116.
§  15.    Die Frauen, p. 135.
§  16.    Die moralische Bedingtheit der Welt, p. 138,
§   17.    Die Willensfreiheit, p. 155.
B.  Die Welt des nirvana.
§ 18. Charakteristik des nirvana, p. 160.
§ 19. Die definitive Erlosung, p. 166.
§ 20. Zeitweilige, unvollstandige Erlosung, p. 183.
§ 21. Fortdauer des Leibes Uber die Erlosung hinaus,
p. 185.
§ 22. Die Tierwelt, p. 190.
IV. Metaphysik und Asketik.
§ 23. Sociale und asketische Moral und ihre Begriindung,
p 194.
§ 24. Metaphysik und Asketik in dem Vedanta, p. 199.
§ 25. Metaphysik und Asketik im Buddhismus, p. 213.
§ 26. Metaphysik und Asketik bei Schopenhauer, p. 226.
Schlusswort P. 253.
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[ -
Pruck der W. De'manzoschen Buchdruckerei, Stolp i. Pom..
J
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Druckfehlerverzeichnis.
pag. 4 Zeile 16 v. o.
lies ein Komnia nach Asketismus
— Svnonvma statt Svnonimn
6
— 2 —
•-
9
— 11 —
9
— 15 —
9
Anmerkung 6
10
Zeile 13 v. o.
16
— IS —
16
— 20 —
16
letzte Zeile der Anm
18
Zeile 33 v. o.
27
— 34 —
42
— 28 —
52
— 5 —
64
letzte Zeile der Anm.
70
Zeile 26 v. o.
103
vorletzte Zeile
103
erste Zeile der Anm.
_
151
Zeile 9 v. o.
234
— 20 —
250
— 2 —
__
252
— 25 —
festgesetzt
Metaphysik
Ubersetzung -
Oldenberg
Ausspriichen
Siddhattha
nicht
der-selben
zunachat
genommen
Commentare -
Potentialitiit -
des
Resume
gelangt
Deussens
MaterieUen
ein Semikolon -
Dividend .
festgesezt
Methaphvsik
Uberseztung
Oldenburg
Ausprtichen
Siddatthn
nich
der-elben
zuniicht
genommen
Comentare
Potenzialitat
de
Resumee
gelang
Deussen
im materiellen
eines Komma
Divident
„ab'* nach Individuen.
Ausserdem lies ein c statt eines z in folgenden Worten (die erste
Zahl bezeichnet die pag., die zweite die Zeile von oben gerechnet):
speziell 1, 31 :
sozial 15. 7:
Elektrizitat SO, 28:
modifiziert 95, 15 :
klassifiziert 110, 11:
Zentralorgan 149, 6:
identifiziert 58. 6 ; 109. 15 ;
kompliziert 87, 21: 96. 28;
Prozess 19, 17; 23, 21 ; 24, 8:
potenziert 51, 24; 109, 26-27:
Prinzip 27, 15; 28, 10: 32. 6:
48, M: 179, 7;
33, 22; 33, 26: 38, 14; 38, V,
38. 30; 44. 30: 45, 32; 46, 17: 46, 22; 51, 30; 52. 3: 57, 12: 57, 18:
66. 22; 86, 3: 94, 34: 98, 25; 107, 7; 130, 14.