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Musikalische Dynamik und Agogik.
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Lehrbuch
tier
musikalischen Phrasirnnjr
auf Grund einer Revision der Lehre
von der
musikalischen Metrik und Rhythmik.
Vim
Dr. Hugo Riemann.
- <>..{>-. ~
1884.
St. Petersburg.
Verlag von A. Buttner.
Leipzig. Fr. Kistner.
mat            < Be*.
RIJKSUNIVERSITEil,
8 OCT. 1931
1 IITRECH . , _
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Herrn
Dr. Bernliard Scholz
kgl. preuss. Professor
Direktor des Dr. Hoch'schen Konservatoriums der Musik
zu
Frankfurt a. M.
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Hochgeehrter Herr!
Sie haben fUr meiiie frliheren theoretischen Arbeiten ein so reges Iutcresse
gezeigt, dass icli lioffen darf, Sie werden audi dem vorliegenden Buche Sympathie
entgegenbringen und den Versuoh, ein fast ganz bracli liegendes Feld zu be-
arbeiten, mit Beifall begriissen, auch wenn die Leistung hinter dem Willen
zurtickgeblieben ist. Darum nehme ich mir die Freiheit, das Lelirbucb der
Phrasirung Ihnen zu widrnen, und bitte Sie, in dieser Widmung zugleicb einen
Akt der Dankbarkeit daftir zu sehen, dass Sie duvcb begriindeten Widerspruch
gegen einige Aufstellungen meiner „Neuen Schulc der Melodik" mir kraftige
Anregungen gaben, welche geeignet sind, mich bei weiteren tlieoretisclien Unter-
suehungen vor Einseitigkeit zu bewahren. Leider war es mir nicht moglich,
in jenem Buclie, das Sie wabrend der Drucklegung kennen lernten, noch die
Ideen hinreicbend zu verarbeiten, welche der Ausgleich unserer Meinungs-
dififerenzen zeitigte; Sie wiirden aber das vielleicbt selbst nicht einmal ge-
wunseht haben, da es wobl angezeigt war, das von mir aufgestellte neue
Prinzip erst einmal konsequent und radikal zur Geltung zu bringen und eine
verstandige Kompensation der beiden einander gegenliberstehenden Methoden
des Kontrapunkts der Zukunft vorzabehalten. Das hindert nicht, dass ich eine
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solche Konipensation mir Air die Praxis von dem Moment an zur Norm machte,
wo mir zufolge Hirer wohlmotivirten Einwande die Erkentniss aufging, dass
ich auf dem besten Wege war, von dem Kompositionsschtiler ein stetes reflek-
tiren beim produziren zu fordern; ich trage kein Bedenken, die hohe Bedeutung
der freien melodischen Erfindung ohne klar vorgestellte Har-
monik hier ausdrtlcklich anzuerkennen. Dass letzten Endes zur Erklarung
der kontrapunktischen Bildungen stets auf die Harmonik rekurrirt werden muss,
gestehen Sie mir ja zu; dagegen bekenne ich gern, dass es als Ballast er-
scheinen muss, wenn man sich mit einer zu kontrapunktirenden Melodie stets
ein harmonisches Schema mit vorstellt. Die Losung des Problems, wie auf der
einen Seite durch das Studium der Harmonik die Erkenntniss vertieft, das
Feingefttbl verscharft werden kann, ohne dass doch auf der andern Seite die
Spontaneit&t der Konzeption leidet, ist nicht leicht, und erhoffe ich flir dieselbe
von Ihnen noch kraftigen Beistand. —
Das vorliegende Buch steht fast ausser Zusammenhang mit den Arbeiten
liber Harmonik; doch bringe ich wieder mancherlei neues, das nicht verfehlen
wird, den Widerspruch herauszufordem. Hoffentlich gelingt es mir, in Ihnen
dem Werkchen einen Fursprecher zu gewinnen.
In aufrichtiger Hochachtung ergeben
der Verfasser.
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I xi. rx a. 11.
Vorrede.
Einloitung.
Seite
I.  Kapitel. IfelliMhc Schemata in gleichen Werthen......
§§ 1. Die Prinzipien der Metrik (Zersetzung dor zunachst ungcgliederten tonerfullten
Zeit in lauter glciche Zeiteinheiton, und Gruppcnbildung der letzteren. Das Lese-
zeichen). '2. Dynamik und Agogik der metrischen Gruppen (crescendo und dimi- *
nuendo, stringendo und ritardando als natiirliche Lebensformen der metrischen
Motive; Anbetonung, Abbetonung und Inbetonung"). 3. Der zweitheilige Takt.
4. Der dreitheilige Takt (die Accenttheorie. Umbetonung. Der dynamische Null-
puukt als natiirliche Scheidegrenze der Motive). 5. Die Accentuation des Motiv-
anfangs (Accent als etwas ausserhalb der natiirlichen Schattirung stohendes).
6. Der fiinf- und siebentheilige Takt. 7. Der viertheilige Takt (Verschmelzung
zweier zweitheiligen Gruppen durch Ausdehnung der dynamisohen und agogischen
Schattirung auf vier Zahleinheiten. Nochmalige Auseinandersetzung mit Haupt-
mann's Accenttheorie). 8. Der sechstheilige Takt (§ und $. Abwoichende
Theilungen aus melodischen und harmonischen Riicksichten. Der agogische
Accent zur Wahrung der metrischen Gliederung). 9. Der achtthoilige und sechs-
zehntheilige Takt (dynamische Untergliederung der grosseren Taktarten als Zeichen
nicht geniigender Verschmelzung der kleineren Motive). 10. Der neuntheilige,
zwolftheilige und vierundzwanzigtheilige Takt (verschiedeno Mogliehkeit der
Gliederung dieser grossen Taktarten. Beschriinkung der Anwendung des Lese-
zeichens in der Praxis). 11. Die Taktvorzeichnung. Vorschlage zu einer Reform
derselben (Zahleinheiten und Untertheilungen).
II.  Kapitel. Rhythmische Bildungen durch Znsammenziehuntf
mehrerer Zahleinheiten...................48
§§ 12. Zweizeitige Zusammenziehung im zweitheiligen und dreitheiligen Takt. Be-
deutung der Lange als Hemmung der Bewegung. Umdeutung der anbetonten
Motive in abbetonte oder inbetonte. Vergleichung der dreizeitigen Motive mit
einer Zusammenziehung mit den zweitheiligen Motiven. Antike und moderne
poetische Metrik. 13. Zweizeitige Zusammenziehung im viertheiligen Takt
(schlichte und iibergreifende Kontraktion. Leichte und schwere Synkope. Khyth-
miseher Accent der Lange. Verschiebung des dynamisohen Schwerpunktes).
14. Zusammenziehungen im ftinftheiligen und siebentheiligen Takt. 15. Zwei-
zeitige Zusammenziehung im sechstheiligen (^) Takt. 16. Zweizeitige Zusammen-
ziehung im neuntheiligen Takt. Untergliederung der Motive durch die Langen.
17. Mehrmalige Anwendung der zweizeitigen Zusammenziehung im j und ij Takt,
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X                                                                Inhalt
Seite
18. Durchgefiihrte zweizeitige Zusammenzichung im viertheiligen unci sechstheiligen
Takt. Dreizeitige Zusanimenziehung. Punktirung. Uebergreifende (synkopirende)
dreizoitige Zusanimenziehungen im § und jj Takt.
III.  Kapitel. Rhythniische Bildungen durch Untertheiluiig ein-
zelner Zalileinheiten.................... 70
§§ 19. Untertheilungen im zweitheiligen Takt (belebende Wirkung der Untertheilung.
Anfangsbedeutung der Untertheilung. Abbetonte und inbetonte Untertheilungen.
Abbetonte und inbetonte Triolen. Zweitheilige und dreitheilige Untertheilung
kombinirt). 20. Untertheilungen im dreitheiligen Takt (das non diminuendo der
Untertheilung des Schlusswertb.es abbetonter Motive. Zweimalige Anwendung
der Untertheilung. Abbetonte und inbetonte Untertheilungen. Punktirte Unter-
theilungen. Vikarirende "Notirung gemischter in- und abbetonter Untertheilungen).
21. Untertheilungen im viertheiligen Takt. 22. Untertheilungen zweiten Grades
(Rhythmen, die sick aus der Untervierthcilung und Untersechstheilung mit theil-
weiser Wiederzusammenziehung ergeben. Rektifikation der Lehrc der Motiv-
trennung. Verlangerung als Ersatz der grosseren Tonstarke fur die dynamischen
Hauptnoten. Untertheilungsmotiv). 23. Mischung von Untertheilungen einzelner
Zahleinheiten mit Zusammenziehungen anderer.
IV.  Kapitel. Uebergreifende Zusaniuieiiziehuug untergetheilter
Zahleinheiten........................110
§§ 24. Engere Verkettung der Taktglieder durch Ueberbriiokung der Scheiden der
Untertheilungsmotive, zunachst im zweitheiligen Takt. Aesthetische Bedeufung
der Ehythmeu, die einerseits Zusanimenziehung, andererseits Untertheilungen
siud (Synkope, Punktirung, Vorsohlag). 25. Uebergreifende Zusammenziehung der
Untertheilungen im dreitheiligen Takt. 2G. Dieselbe im viertheiligen Takt.
V.   Kapitel. Abweichende I rntertheilung zusainmengezogener
Zalileinheiten........................121
§§ 27. Die Triole (Verschiebung der metrischen Zahleinheiten. Synkopische Auf-
i'assuug der Triole abgelehnt). 28. Die Duole und Quartole (irrthumlielie syn-
kopische Auffassung beider). 29. Die Quintole (fur 2, 3, 4 oder 6. Vikarirende
Sijhreibweise. Grosse Triole). 30. Quartole, Quintole, Sextole, Septimole, Oktole
und Novemolc als Untertheilungsmotive.
VI.  Kapitel. Die Pausen . . . . ,...............137
§§ 31. Endpausen (Pausen als Nachbildor von Tonen. Dynamischer Worth der Pausen.
Rhythmischer Sehluss). 32. Innenpausen (Unterseheidung von Verkiirzungspansen,
Zahlpausen und Motivpausen. Staccato -Vortrag. Anfangspausen). 33. Rhyth-
misohe Pausen (das negative Staccato. Suspension. Pausen in Untertheilungs-
motiven). 34. Abbetonte Pause (Ersetzung der dynamischen Hauptnote abbetonter
Motive durch eine Pause. Das Beethoven'sche piano).
VII.  Kapitel. Legato- und Staccato-Vortrag der rhythmischcn
Formen...........................161
§§ 35. Rhythmus als Metrum (Grundrhythmen. Auffassung eines langere Zeiten fest-
gehaltenen Rhythmus als Grundform der Bcwegung auch im Falle einzelner
weiteren Zusammenziehungen oder Untertheilungen. Zahlzeiten verschiedener
Dauer. Trennung der rhythmischen Grundwerthe in den Untertheilungen durch
Absetzen). 36. Absetzen vor Accenten (Staccato-Vortrag des einer Zusammen-
ziehung vorausgehenden Tones). Absetzen naoh Untertheilungen.
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Inhalt.
XI
Seite
VIII.  Kapitel. Melortisehe und liarmonische Dynamik.....171
§§ 38. Natiirliche Dynamik der melodischen Bewegung. 39. Die melodischen Motive
(Umdeutung der metrisohen und rhythmischen Motive aus melodischen Rucksichten.
Verschiebuug des dynamisclicn Schwerpunkts der Phrase aus melodisohen Riick-
sichten. Melodievortrag). 40. Dynamik der Verzierungen. 41. liarmonische
Dynamik. 42. Sequenzen.
IX.  Kapitel. Polyrliythmik...................191
§§ 43. Schlichte Polyrhythmik [Polymetrik] (parallele Metra in Zahlzeiten, Unter-
theilungswerthen und Motivwerthen. Obligatorische Auftaktigkeit aller Figuration.
Der metrische Schluss und Hauptmann's Definition desselben. Ueberkomplete
Schlussmotive [weiblicher Schluss]). 44. Komplementare Rhythmen (Erganzung
zweier Rhythmen zum sehlichten Metrum; theilweise Aufhebung der Pausen- und
Synkopenwirkung. Erganzung zu Tlntertheilungsmetren). 45. Komplementare
Rhythmen im dreitheiligen Takt. 40. Erganzung zu Grundrhythmen (Darstellung
oines Rhythmus durch zwei einander erganzende Stimmen). 47. Seitenrhythmen
(neben einander aufgefasste Rhythmen zweier Stimmen; einige Bemerkungeu iiber
Verkoppelung verschiedener Taktarten). 48. Triolen, Duolen, Quartolen, Quiu-
tolen u. s. w. im polyrhythmischen Satze (anbetonte Sehreibweise, aber auftaktige
Bedeutung derselben).
X.  Kapitel. Phiasiiung.....................243
§§ 49. Motiv-Verkettung (anbetonte Phrasen. Ablehnung der Prokatalexis. Analyse
des Largo der Sonate pathetique. Phrasenanfaugsaccent. Motive als Einheiten
hoherer Ordnung. Unentbehrliehkeit der Taktstriche. Mehrmalige Wieder-
liolungen des crescendo - Theils der Phrase. Verkurzte Wiederholung des
diminuendo - Theils. Erweiterung der Phrasen durch sequenzartige Grange).
50. Phrasentrennung (dynamische Potenz und dynamische Qualitat. Verfolg der
melodischen Kontouren zur Erkennung der Phrascngrenzcn. Abstufung der
dynamischen Gipfelpunkte kleinerer Phrasen im Sinne einer Phrasirung hoherer
Ordnung. Echo. Abhangigkeit der Wirkung der Harmoniefolgen von metrisohen
Verhaltnissen. Halbschluss und Trugsohluss als harmonisoh-metrisehe Bildungen.
Verliingerung des diminuendo-Theils der Phrase durch starkes ritardando. Einige
Phrasirungsproben aus Beethoven'scheu Sonaten). 51. Doppelphrasirung (ver-
schiedene Lage des dynamischen Schwerpunktes in verschiedenen Stimmen.
Sequenzartige Wirkung solchor Bildungen). 52. Schluss (Ersetzung der Legato-
bogen. Hinweis auf die Plirasirungsausgabe als Absehluss des Buches).
Alphabetisches Inhaltsregister......................271
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Einleitung.
Als vor einigen Jahren Rudolf Westphal's „Allgemeine Theorie der musi-
kalischen Rhytbmik seit J. S. Back" ersehien (1880), war das Erstaunen kein
geringes darttber, dass die rhythmiscbe Theorie des Aristoxenos (4 Jabrh. v. Chr.)
von einem geistvollen Pbilologen als Theorie der modernen Rhythmik vorgetragen
werden konnte. Werrn auch die, Lticken dieser ,,allgcmeinen" Theorie nicht un-
bemerkt blieben, so konnte doch nicht in Abrede gestellt werden, dass wir von
Aristoxenos vieles zu lernen batten. Wenn impotenter Unverstand gegen West-
phal auftrat, um die vorgeblich verletzte Ehre unserer zeitgenossischen Musiker
zu vertheidigen, zu leugnen, dass die Rhytbmik seit lange das Stiefkind der
Musikthcorie ist und dass ganz wesentliche Wirkungen des Rhytbmus zufolge
mangelhaften Verstiindnisses, ja geradezu verkehrter Auffassung verloren geben,
so hat es doch auch nicht an Stimmen gefehlt, welche das verdienstliehe und
zeitgemiisse von Westphal's Beginnen — eine Theorie der modernen musikalisehen
Khythmik zu begriinden durch Zurtickgehen auf die gesunden Fundamente der
antiken Theorie — anerkennend hervorgeboben haben, und icb freue micb, dabei
einer der ersten gewesen zu sein. In vrie weit Westphal zu seiner Arbeit durch
Lussy's „Traite de l'expression musicale" (1873) angeregt wurde, mag dahin-
gestellt sein; doch soil nicht unerwahnt bleiben, dass die ,,mesures a cheval"
(gleichsam rittlings iiber den Taktstrich reichende metrische Bildungen) bei
Lussy eine grosse Rolle spielen und in meinen Augen das eigentlich verdienst-
liehe des Buches sind, wahrend die Accentuationslehre Lussy's sich durchaus
auf einige Siifze aus Kalkbrenner's Klavierschulc stiltzt. Welche Dimensionen die
neu erstehende Literatur der Takt- und Phrasirungslebre annehmen wird, ist
nicht abzusehen. Lussy selbst bearbeitete die Rhytbmik neu*), auch Westphal
bat eine neue Taktlehre unter der Presse, und anschliessend an meine Artikel
*) Le rhythme musical (Paris, 1883); das Buch ist  allertlings im wesentliohen nnr die
Reproduction eines Kapitels des Traite de Fexpressioti   mit leichter Berucksichtigung von
Westphal's Buch.
Riemann, Mus. Dynainik und Agogik.                                                                                         1
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2
Einleitung.
iiber Phrasirung in verschiedenen Zeitschriften hat Dv. C. Fuchs*) ein Bucli iiber
Metrik, Dynamik und Phrasirung ausgearbeitet.
Von Westphal's Darstellung im einzelnen bin icb nun freilicb sehr ab-
gewiehen. — Die antike Terminologie babe ich giinzlich fallen lassen — icb
babe mit meiner „Musikalischen Syntaxis" die Erfabrung gemaebt, dass die
Musiker das Griechische nicht lieben. —
Uebrigens waren es dock nicbt allein die Biicher von Lussy und Westphal,
was micb zu einer Neubearbeitung der Taktlebre anregte, man wird bereits in
meiner „Musikalischen Syntaxis" (1877) Anliiufe dazu tinden. Wer der neueren
musikalischen Journalistik aufmerksam gefolgt ist. wird noeh gar manebes zu
nennen wissen, was geeignet war, in der bezeiclmeten Ricbtung anregend zu
wirken; es ist von verschiedenen Seiten iiber Phrasirung, iiber die Bogen-
bezeichnung der Notenschrift, iiber Freiheit der Tempobehaudlung**) etc. ge-
schrieben worden, und ziemlicb klar bat sich die Erkenntniss herausgebildet,
dass da noch manches ziemlicb im Argen liegt und einer griindlichen Revision
bedarf.
Was aber schliesslich meine Plane zur Eeife bracbte und meine Absichten
zur That werden liess, war die Entdeckung, dass schon vor bundert Jahren ein-
sichtsvolle Manner den Mangel unserer Notenschrift erkannt baben, welcher der
Entwickelung des rhytbmischen Auffassungsvermogens bemmend entgegenstand,
namlick das ganzliche Fehlen unzweideutiger Zeichen fiir die motivische
Gliederung, die Phrasirung. In neuester Zeit hat man angefangen, den
Legatobogen nach Moglichkeit als Zeichen der Phrasirung mit zu verwenden
(Biilow, Lebert, Scholtz und Klindworth), hat aber damit nicht viel ge-
bessert; es war daher alles Ernstes der Frage naher zu treten, ob wir nicht
die Bezeichnung der Phrase zu einem integrirenden Bestandtheile
der Notenschrift machen miissen, vvie dies bereits im vorigen Jahrhundert
D. G. Turk anstrebte. Da icb anderweit die beziiglieheu Stellen aus Turk's
,,Klavierschule" (1789), sowie die noch Slteren Erorterungen iiber Phrasirung
von J. P. A. Schulz in Sulzer's „Theorie der schonen Kiinste" (1772) zum Ab-
druck gebracht habe (in meiner „Yergleichenden Klavierschule"***), in einem
Artikel iiber Phrasirung im „Musikalischen Wochenblatt" 1883, No. 6 ff.f) u. s. w.),
so begnuge ich mich hier mit dem blossen Hinweise. Mit ganz besonderer
Auszeichnung muss ich aber noch eines Werkes gedenken, das, von den Zeit-
genossen kaum beachtet und von den nachfolgenden Generationen langst ver-
gessen, die Lehre von der thematischen Gliederung mit einer Klarheit und
Umsicht abhandelt, die wir in den Werken der letzten 100 Jahre so schmerzlicb
*) Die Zukunft dew musikalischen Vortrages und sein Ursprung (Danzig,
W. Kafem ann 1884). Mit Preuden begriisse ich diesen wackeren Bundesgenossen! Moge
das fibermiissige Lob, welches Fuchs meinen Leistungen spendet, nicht abhalten, die ganz
vortrefflichen eigenen Gedanken zu wiirdigen, welche er mit Begeisterung fi'iv die Sache
vortriigt!
**) Vgl. Dr. Otto Klauwell, Der Vortrag in der Musik (Berlin, 1883).
***) Hamburg, D. Rather (System, S. 40 if.)
t) Wieder abgedruckt in dem oben genannton Buche von Dr. Fuchs.
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Einleitung.
3
vermissen, namlich der „Anleitung zur Komposition" von H. Chr. Koch (Rudol-
stadt, 1782, 1787, 1793, 3 Bde.). Da dieses Werk antiquarisch zu Schleuder-
preisen zu haben ist, kanu ich mir Citate ersparen, die sonst sehr umfangreicli
ausfallen wiirden.
Hatte ich ursprilnglich die folgenden Abhaudlungen gesehrieben, um flir die
Aufnahme von Zcichen fur die Phrasirung in die Notenschrift Meiuung zu machen,
so ist nun, nachdem sich wider Erwarten sclmell ein hochherziger Verleger ge-
funden hat, der es wagte, eine in der neuen Weise hezeichnete Ausgabe in
Augi'iff zu nehmen*), niein Buch zum Commentar dieser Neuerung geworden.
Die hohe Bedeutung des angestrebten Fortschrittes wird, hoffe ich, aus
demselben zur Evidcnz hervorgehen. —
Wer ein Haus bauen will auf einer Stelle, wo schon eines steht, der hat
nur die Wahl, das alte einzureissen oder aber wenigstens umzubauen, wenn er
sich nicht mit einer blossen Neu-Decoration begntigen kanu. Ich komme daher
beziiglich der Metrik und Rhythmik in die iible Lage, eiureissen oder doch
ziemlich radikal umbauen zu miissen. Ich muss mich wieder dem mehrfach er-
hobenen Vorwurf aussetzen, dass ich bei aller und jeder Gelegenlieit Hauptmann
angreife; denn Hauptmann ist es, der auch hier ein stattliches Haus aufgefiihrt
hat. Der Ausdruck „angreifen" ist ja freilich niclit am Platze; wenn ich, von
ganz anderen Voraussetzungen ausgehend als Hauptmann, in der llarmonielehre
hier und da zu anderen Formulirungen gelangte als er, so musste ich, wenn ich
nicht seitens der Jlinger Hauptmann's einfach ignorirt oder zur Korrektur auf
diesen hingewiesen werden wollte, mich einigermassen mit Hauptmann aus-
einanderzusetzen und meine Ergebnisse gegentiber den seinen, andersgearteten,
zu vertheidigen suchen. Nirgend aber babe ich unterlassen, Hauptmann's theo-
retisches Genie in das hellste Licht zu setzen und das, was mir an seiner Lehre
unumstosslich erscheint, hervorzuheben; icb babe mich sogar stets zu seiner
Nachfolgerschaft bekannt, obgleich ich leider sein persOnlieher Schiller nicht
mehr sein konnte. Aehnlich wie in der Harmonik geht es mir nun in der
Metrik und Rhythmik: auch hier negire ich von An fang an die dialektische
Methode, welche zwar dem Werke Hauptmann's einen strahlenden Nimbus ge-
geben, aber doch letzten Endes sein Verstandniss erschwert und seine Ver-
breitung verhindert hat, sodass sein Einfluss auf die Eortentwickelung der
musikalischen Gemeinbildung merkwiirdig gering gcblieben ist. Man wird aber
finden, dass ich auch hier Schale und Kern zu unterscheiden weiss und die
Genieblitze, mit denen Hauptmann einige im Dunkel liegende Punkte der Metrik
und Rhythmik beleuchtet hat, nicht ubersehe: wenn ich auch das Haus selbst
eiureissen muss, so werde ich doch die unverganglichen Quadern fiir meiuen
Neubau nicht unbenutzt lassen. Auch hier bin ich ein Schiller Hauptmann's im
Geiste, und als rechter Schiller suche ich seine Lehre fortzubilden, seine Ge-
*) Hugo Riemann's Phrasirungsausgabe (Berlin, N. Simrock), 1. Band:
Mozart's Klaviersonaten, kritisch revidirt und progressiv geordnet, mit Fingersatz und
genauer Bezeiohnuug der Phrasirung. Der 2.—4. Band: Beethoven's Sonaten fiir
Pianoforte, erscheinen gleichzeitig mit diesem Buche.
1*
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Einleitung.
A
danken zu verarbeiten. Stillstand ist RUckschritt; wer nur Hauptmann's Worte
wiederkaut, und zum Beweis eigener Aufstellungen scin Buch als Codex eitirt,
der braucht kein Papier zu vergeuden; Hauptmann's Darstellung ist breit genug,
um keiner weiteren Exegeseu zu bedtivfcn, am allerwenigsten solcher, die sich
in devselben pbilosopbischen Terminologie halten. Das Verdienst aber bat
sich noeh keiner (auch L. Koliler nicht) erworbcn, obne Dialektik und obne
Parabolik eine gemeinverstiindliche Darstellung der Hauptmann'schen Lebre
zu geben.
Mein Buch sollte ursprttnglich den Titel eines Lebrbucbes der musi-
kaliscben Metrik und Rhytbmik fiiliren; mebr und mehr erkannte ich
jedocb bei der Arbeit, (lass cine crscluipfende Lehre der Metrik und Rhytbmik
zu einer allgemeinen Tbeorie der musikaliscben Gliederung, der Phrasirung
werden muss. Die auf Scbritt und Tritt sich ergebenden Bcstimmungen
fur die Abschattirung der Tonstiirke und des Tempo erschicnen mir
wegen ibrer Retleutung fiir die musikalische Exekution wichtig genug, um
scbliesslicb als Haupttitel den einer musikaliscben ..Dynamik und Agogik" zu
witblen und somit darauf binzuweisen, dass es sich hicr um die Begriindung
einer ganzlieb neuen Disciplin bandclt. Wenn cs nicht gelingt, das
von mir aufgebaute System umzustossen, so scbeint es mir ganz uneiiiisslieb,
dass die Konservatorien einen der Harmonielebre gleicbberechtigten Special-
kursus fiir Metrik und Rhytbmik in ihren Lebrplau aufnebmen, da dieselben
viel zu weitscbicbtig sind, um auch nach Erkcnntniss ibrer vollen Iledeutung fiir
die Praxis nur so nebenbei in der Lehre vom Kontrapunkt und in der Formen-
lebre mit abgehandelt zu werden.
Hamburg, im Sommer 18H4.
Hugo Riemann.
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Musikalische Dynamik und Agogik.
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^L
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I. Kapitel.
Metrische Schemata in gleichen Werthen.
§ 1. Die Prinzipien der Metrik.
Moritz Hauptmann sucht in seiner ,,Natur der Harmonik und der Metrik"
(1853) erne philosophisclie Basis fiir den Aufbau der Lelire von der musikalischen
Metrik zu gcwinnen, indem er fiir die Hegel'scheu Begriffe der Einheit, Trennung
und Einigung Specialbestimnmngen aufstellt, wie er sie auf dem Gebiete der
Harmonik in der Octav, Quint und Terz gefunden zu kaben glaubte. Der zwei-
theilige Takt ist danaeh bei ilim metrische Octav, der dreitheilige metriscke Quint,
der vicithcilige metrische Terz. Ich babe schon friiber*) darauf hingewiesen, dass,
wenn man Hcgeliauer sein will, die Begriffe der Einbeit, Trennung und Einigung
docb aucb in der Harmonik eine andere Anvvendung zulassen, ja fordern, namlich:
1.    Rubende Einheit (In-sich-sein): Ton.
2.    iSich selbst gegeniibertretende Einheit (Ausser - sich - sein):
Partialtone.
3.    Einigung (Fur-sieh-sein): Klang.
oder erweitert:
1.    Klang.
2.    Partialklange, werwandte Klange.
3.    Tonalitat.
oder:
1.    Consonanz.   j    (Diese letztere, offenbar mit den vorausgehenden
2.    Dissonanz.    >    Auslegungen zusammenstimmende Anwendung giebt
3.    Auflosung.   ]    Hauptmann selbst a. a. 0.)
So mtissen dieselben Begriffe auch in der Metrik etwas weiter genommen
vverden, als Hauptmann sie genommen bat, namlich:
*) Musikalische Logik (1873).
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8                                  T. Metrisohe Schemata in gleiohen Werthen.
1.    Unterschiedslos fortklingender Ton, ungegliederte (aber
tonerfiillte) Zeit.
2.    Gleichinassig fortlaufende Keihe gleichlanger Tone, Zer-
setzung in lauter gleiche Einheiten.
3.    Gruppenbildung von zunachst zwci (oder drei) enger aneinander
geschlossenen Tonen, denen zwoi (oder drei) andcre gegcntiber-
treten, wodurch grossere Gruppen cntstehen, die einander ebenso
entsprechen und mit der wachsenden Grosse eine deutlichere Son-
derung erfordern.
Damit ist aber thatsachlich das ganze Gebiet der Metrik umschrieben. Eine
graphische Darstellung dieser drei Grundbegrift'e wiirde sich anschaulich in fol-
gender Weise geben lassen:
                              ,
i.
2.
________________________.....-____________________________ ____etc.
3.
a)____ .__ __ __________ -.....____________________etc.
4               4
^~~"----------1 (i "*             ~~\. ^"                  l(i                 ~~\,
^-~------------------------------3 2      __________---"^
b)______________________________________________---------------------------etc.
12              ^ ^J          12
24                                      ^ ^ ~"
48
c)______________________________________________________etc.
IS                   ^___, ^^                    IS
u. s. w.
Es ist seltsam, wie man es hat unbemerkt oder doch far die Aufstellung
der Grundlehrsatze der Metrik unberiiclisichtigt lassen kbnnen, dass die Tone,
welehe als zu einer Gruppe gehorige aufgefasst werden, engeren Anschluss an-
einander haben, wahrend die Gruppen selbst loser aneinander gefiigt erscheinen.
Zwisehen die einzelnen Gruppen schiebt sich niimlich ein sehr kleiner Zeit-
verlust, sei es cine in der Notenschrift nieht ausgedriickte und nicht ausdriick-
bare Pause, sei es eine irrationale Verliingerung der Schlussnote der Gruppe.
Man versucbe, auf der Orgel, die bekanntlich der Aceentuirung, des Crescendo
und Diminuendo nicht fakig ist, folgende Notirungen zu unterscheiden:
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1. Die Prinzipien der Metrik.
9
und beobachte, dass man, urn den Takt kenutlich zu machen, die im fol-
genden durch Vierundsechszigstel-Noten augedeuteten kleinen Verlangeruugen
machen wild:
oder (besser):
J                      fc                          k                              Ł                                                                  J               fc               fe                       S                       fc                       Ł
Wanu, wo und warum diese Zugaben zu machen sind, werden wir bereits
im Verlaufe des gegenwartigen ersten Kapitels zu untersuchen liaben, wahrend
erganzende Bestimmungen sich erst spater (IX. Kap.) ergeben konnen. Wir
werden bei Darstellung dcr metrisehen Schemata durch Notenwerthzeichen die
Grenzen der Gruppen mit einem kleinen Strich andeuten, den wir
das Lesezeichen (!)
nennen wollen. Das Lesezeichen hat also nur den Zweck, direkt anschaulich
dem Auge zu sagen, wie weit die Gruppen der zu engerer Eiuheit zusammen-
gehorigen Tone reichen. In die Notenscbrift eingefiihrt wird dasselbe zu einer
wesentlichen Httlfe fur das Treffen des rechten Ausdrucks*); der Spieler wird
unbewusst die besagten kleinen Zeitzugaben an den rechten Stellen machen,
wenn or nur angehalten wird, von Lesezeichen zu Lesezeichen abzulesen. Denn
Niemand liest eine langere Tonreihe ungegliedert ab; wie man beim sprach-
lichen Lesen stets eine Anzahl Buchstaben zugleich oder dock in blitzscbneller
Folge abliest (der Elementarschiiler silbenweise, der getlbtere Leser wortweise),
so fasst man auch beim Notenlesen ganze Tongruppen zu gleicher Zeit oder
docb in sehr schneller Folge auf. Sollen diese Gruppen nicht dem Zufall und der
Willkilr iiberlassen bleiben (was — wegen der unausbleiblich sich einschiebenden
Verzogerungen — fur den Ausdruck verhangnissvoll sein wiirde), soil auch der
dem Auge zunaehst sich bietende Anhalt der Taktstriche und der gemeinsamen
Querstriche der Achtel, Sechszehntel etc. nicht immer filr die Umschreibung dcr
Gruppen massgebend sein (woffir wir zwingende Verneinungsgrunde bald genug
kennen lernen werden), so bedurfen wir besonderer Zeichen, welclie uns diese
Klippen vermeiden lehrcn und die gewiinschte Gruppentheilung unzweifelhaft
bestimrnen. Diese Zeichen sollen sein: filr die kleinsten metrisch-rhythmischen
Gebilde die Lesezeichen und fur die grosseren die Phrasenbogen, fur deren
radikale Einfiihrung an Stelle der jetzt ublichen planlos oder doch inkonsequent
vertheilten sogenannten Legatobogen dieses Bucb eintritt.
*) Vgl. memo Phrasirimgsausgabe. Furs Ausland empi'elilo icli als Uebersetzung des
Wortes Lesezeichen: guide, guida.
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I. Metrischo Schemata in gleichen Werthon.
1(1
§ 2. Dynamik unci Agogik der metrischen Gruppen (Taktmotive).
Wie das Wesen des Harmonisch-Melodischen die Veranderung der Tonhohe
ist, so ist das Wesen des Metrisch-Rhythmischen die Veranderung der lebendigen
Kraft, einerseits der Tonsti'trke (Dynamik), andererseits der Geschwindig-
keit der Tonfolge (Agogik, Tempo). Wenn man gewohnlich die metrisch-
rhythmischen Verhaltnisse mit Hiilfe eines Instruments von indiff'erenter oder
unveriinderlielier Tonhohe demonstrirt (Pauken- oder Trommelschliige, Klopfen
auf den Tiseh oder dergl.), so macht man damit allerdings die Gliederung' der
Zeit ausserst anschaulich, die Gliederung der tonend ausgefiillten Zeit aber doch
nur ziemlich mangelbaft, sofern zwiscben die den Beginn der Zeiteinheiten
markirenden Schliige sicb regelmiissig Tonvaeua, d. b. tonleore Zeitraume ein-
schieben. Wenn aueb der Pause, wie wir sehen werden, eine bedeutungsvolle
Stellung in der Rhytbmik zukommt (VI. Kap.), so ist dock diese Negirung des
Tonens nicht ein derartig konstitutiver Tbeil musikaliscber Formgebung, dass
man ihrer fur die Erklarung der embryonalsten Bildungcn bediirfte. Das
Lebenselement der Musik ist der Ton und das Nicht-tonen kann nur als
Kontrast Bedeutung erlangen. Der Typus musikaliscber Bewegung ist
nicht das jedem Tone eine Pause nacbsetzende Staccato, sondern
das die Pause verbannende Legato.
Die bistoriscbe Ursache der envahnten falscben Behandlung der musi-
kaliscben Metrik ist die einfacbe Uebertragung der Tbeorie der poetiscben Metrik
auf die musikaliscbe. Die Sprache kennt aber das ununterbrocbene Tonen, den
directen Zusammenscbluss versehieden boher Tone kaum, da die Mehrzahl der
Konsonanten die Tone der Vokale tbatsiichlicb unterbricht {b, c, d, g, k, p, q,
t, rj),
wiihrend einige andere (/, t, w, k, ch, s, sch) an Stelle des Vokaltones
ein tonlich indifferentes Sausen oder Zischen setzen; der Sprache ist also gerade
das versagt, was ein Haupt-Lebenselement der Musik ist: das stetige Anwachsen
und Abnebmen der Tonstiirke auch beim Wechsel der Tonhohe. Die Sprache
kennt daher nur einen Wechsel starkerer und schwiichcrer, oder wie man sagt:
schwerer und leichter, accentuirter und accentloser Vokale und Silben.
Die verdriessliche Folge der ungeniigend motivirten Uebertragung einer
korrekten Tbeorie nicht-musikalischer Verhaltnisse auf musikaliscbe ist begreif-
licherweise eine nicht korrekte Tbeorie dieser musikalischen Verhaltnisse. Die
Musik kennt die Veranderung der Tonhohe ohne Unterbrechung des Tonstroms,
ja sie lebt so recht eigentlich in dieser; sie kennt das stetige crescendo und
diminuendo (lurch langere Tonreihen und entfaltet darin ihre ergreifendsten
Wirkungen: wenn man aber die Kapitel der Musiklebren ttber Metrik und Rhythmik
nachsieht, so findet man, dass stets nur von der Folge versehieden starker Tone
die Rede ist, nie aber von dem Starker- oder Schwacber-werden des
Tonens. Die Dynamik ist bisher ein Kapitel fur sieh, ein dens ex machina,
der zur Losung der Konfliktc und Unzulanglichkeiten der Theorie schliesslich
citirt werden muss und citirt wird, aber an dem eigcntlichen Aufbau keinen
wesentlichen Antheil bat; allenfalls, dass man den aueb nicht halbwegs zu-
reichenden Hinweis findet, dass das crescendo sich gewohnlich der
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2. Dynamik und Agogik der Taktmotivo.
11
steigenden Tonhohe und das diminuendo sich der fallenden zugesellt,
dass jenes gewohnlich dem Anfange, dem ersten Werden, dieses dem Ende,
dem letzten Vergehen, dem Schlusse eignet. Und doch — wie deutlicli wies
diese letztere Erkenntniss darauf hin, dass alle musikalische Entwickelung, auch
die nur weniger Tone, diese Elemente des Wachscns und Vergekens aufweist,
dass Crescendo und Diminuendo die eigentlicken natiirlichen Formen
aller Tonverbindung sind, und dass alle die Instruments, denen dieses
wahrste musikalische Leben versagt ist, nur auf einer untergeordneten Stufe
steken, mit einem (lurch keinen andern Vorzug aufzuwiegenden Mangel be-
haftet sind.*) —
Die kleinsten Glieder, in welche sick musikalische Gebilde zerlegen lassen,
die Tongruppen von zwei oder drei Einkeiten, sind nicht Verkettungen iibrigens
unterschiedsloser Elemente, vielmehr reprasentirt jede derselben einen kleinen
Organismus von eigenartiger Lebenskraft; mit Keeht kommt ihnen daher der
Name Motiv (Bewegungselement) zu. Das vollstandigste Bild organischen
Werdens und Vergehens geben diejenigen Motive, bei denen die Tonstarke zu-
nachst wjiehst und sodann wieder abnimmt:
fTroder H H oder 2? Er
Mit dem crescendo der metrischen Motive ist stets eine (selbst-
verstdndlicli geringe)
Steigerung der Gescliwindigkeit der Tonfolge
und mit dem diminuendo eine entsprechende Verlangsamung ver-
bunden; die Gleichheit der Zeiteinkeiten ist daher keine vollkommene, sondern
eine unbedeutend modifizirte. Das wirklich genaue im Taktspielen (z. B.
naek dem Metronom) ist ohne lebendigen Ausdruck, masckinenmassig,
unmusikaliscb.
Nicht alle metrischen Motive weisen aber beide Elemente — Wachsen und
Vergehen — auf, sondern neben dieser allerdings vollkommensten und baufigsten
Form beliaupten audi die beiden andern moglichcn eine erhebliche Bedcutung,
die nur gesteigertc-
P P oder P P P oder P P P P etc.
welche des diminuendo giinzlich entbehrt oder demselben doch nur eine sehr
geringe Entwickelung auf dem letzten (starksten) Tone gestattet — und die
nur abnehmende, des crescendo entbehrende:
P P oder P~~P~~P oder f P P P etc.
I I             III             Ml!
Wir wollen der Kiirze wegen diejenigen Motive, bei denen (lev starkte Ton
der das Motiv beginnende ist, ««betonte, die mit dem stilrksten Tone
*) S. meine Vergleiehende theor.- prakt. Klavierschule, System S. 12—14.
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I. Metrische Schemata in gleichen Werthen.
12
endigenden rz^betonte nnd die den starksten Ton inmitten eines crescendo
und diminuendo einschliessenden z'wbetonte nennen.
Die anbetonten Motive sind seltener als man gewohnlich annimmt; wahrend
Hauptmann in ihnen die positiven Bildungen der Metrik sieht, muss ieh sie
im Gegentheil als negative bezeichnen, da das abnehmen, absterben docb obne
Frage das Gegentheil ernes Werdens, einer positiven Entwickelung ist. Der
asthetische Wertb der anbetonten Motive ist der der Ruhe, Leidenschaftslosig-
keit. Dass die fortgesetzte Wicderholung von Diminuendo-Motiven das Interesse
nielit dauernd besehaftigen kann, liegt wohl auf der Hand; wir werden daher
finden, dass die anbetonten Motive einander selten oder nie in grosserer Anzahl
folgen, dass vielmelir so bald als moglich zu anderen Formen iibergegangen
wird. Unsere Auffassung vollzielit aus innerem Bediirfniss diese Umdeutung
selbst da, wo sie vielleicht nieht in der bewusstcn Vorstellung des Komponisten
gelegen hat.
Die inbetonten Motive sind weitaus die hiiufigsten; der Wechsel von
Steigerung und Beruhigung in stetem Uebergange obne schroffe Kontraste,
obue unvermitteltes wieder ansetzen und abbrechen ergiebt die ungezwungenste
und natiirlichste Verkettung.
Aufregend wirken dagegen die abbetonten Motive; dieselben breeben auf
dem Hohepunkte der Steigerung ab, urn immer wieder neue Anlaufe zu nelimen.
Sie sind keineswegs selten, liaben aber am moisten zu leiden unter der Ver-
kiimmerung des rhythmischen Auffassungsvermdgcns; Beethoven liat cine grosse
Zahl Themen mit abbetonten Motiven geschrieben, die zufolge der leidigen
Aceenttheorie mit leidensehaftslosem Vortrag abgeleiert werden.
Der Hiihepunkt der dynamisehen Entwickelung fallt stets auf den Beginn,
die Einsatzzeit eines Tones nicht aber auf dessen Mitte oder Ende*), und wenn
einander mehrere Motive gleicher dynamischer Entwickelungsform folgen, so
erscheinen die dynamisehen Hohepunkte als die Sehwerpunkte der
Motive, als die Reprasentanten ihrer Einbeitsbedeutung, als Ziihlpunkte
hbherer Ordnung.
Die Einordnung der Motive in den Takt wird die Ergebnisse dieser vor-
laufigen Betrachtung nabcr pracisiren und die praktische Bedeutunj; der an-
gedcuteten Prinzipien der dynamisehen und agogiscben Schattirung deutlich
hervortreten lassen.
§ 3. Der zweitheilige Takt.
Die unsere Notenschrift in kurze Abschnitte von wenigen Noteu zei-legenden,
das Liniensystem senkrecbt durchselmeidenden Taktstriche begrenzen nieht die
in vorigen Paragraphen betracliteten Motive, geben aber doch einen Anhalt fur
deren Ausdebnung, sofern der Taktstrich die St.elle des dynamisehen Hohepunkts
des Motivs anzeigt. Die dem Taktstrich folgende Note bildet stets den Schwer-
*) Eiue einzige Ausnahme s. § 34.
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3. Der zweitlieilige Takt.
L3
punkt des Motive. Die Entfernung der Taktstriche von einander entspricht
daher allerdings der Entfernung der dynamischen Hauptnoten der Motive und
sofern niclit die Form der Motive wechselt, audi der Griisse der Motive; je
naehdem aber die Motive anbetont, in- oder abbetont sind, ftillen sie gerade
das zwiscben zwei Taktstriclien liegende Zeitiutervall sclbst aus, oder ragen
aus einem Takt*) in den andern hintiber, auf beide gleicbmassig vertbeilt oder
dem einen oder dem andern mit dem grcisseren Theile angcborend.
Das zweitlieilige Motiv kann nur zwei Arten der dynaniiscb - agogiscben
Scbattirung aufweisen, namlich:
P P (abbetont) und
P P (anbetont)
d. b. wir erhalten zweierlei Fornien des zweitbeiligeu Taktes, die abbetonte
(auftaktige)**)
2 fTf fTf fT* ? i r
i 11 i 11 in ill
*) Das Wort Takt, vom lateinischen tactus (Beriihrung, Schlag), kam im 15.—16. Jahr-
hundert auf, statt des vorher iibliehen tempus (Zeiteinheit) zur Bezeiehnung der Zahlein-
lieiten. In der ersten Periode der Mensuralmusik (12.—13. Jahrhundert) war die Brevis
(unsere Doppeltaktnote) Zahleinheit und die Geltung der grossten Notenwerthe (Longa und
Maxima) wurde nach Breven bestimmt; die Brevis selbst gait 1 tempus, die Longa 2 oder 3,
die Maxima 4, 6 oder 9, die Semibrevis (der (restart nach unsere ganze Taktnote, dem
Werthe nach aber etwa unser Achtel) '/» Zahlzeit. In der zweiten Periode (14.—16. Jahr-
hundert) riickte allmahlich die Semibrevis zum Werthe der Zahleinheit auf und die grcisseren
Notengattungcn wurden seltener; man ring an, den Werth der Brevis am Werthe der Semi-
brevis zu bestimmen (2 oder 3 Semibreven) und nannte die neue Zeiteinheit nieht tempus
(das wurde zu Konfusionen gefulirt haben). sondern mit dem neuen auf die Thatigkeit des
Kapellmeisters hinweisenden Namen tactus. In Sebald Heyden's ,,Ars canendi" (1537) linden
wir bereits fur die dreitheiligen Taktarteu audi die Minima (unsere Halbe) als Zahleinheit
ebenfalls mit dem Namen tactus. Mit dem Abkommen der Tripelgeltung der Noten ohne
Punkte verblieb aber die Benennung tactus einzig der Semibrevis, auch als in der folgenden
Periode (etwa 1600) vermuthlich zufolge (lewohnung der Organisten an die Tabulaturschrift
allmahlich das Viertel (die Semiminima) zur Zahleinheit aufruckte. Was wir jetzt einen
Takt nennen, hiess in der ersten Periode perfectio (Vollendung, Ganzes), in der zweiten
tempus; als Beminiscenz an die veraltete Zahlwcise hielt sich in der zweiten Periode das
Zahlen nach Breven (alia breve) als besehleunigtes Tempo und auch wir nennen heute eine
Taktart, bei der statt nach Vierteln nach Halben geziihlt wird, Allabreve-Takt, obgleieh
unser Allabreve-Takt nur der Wirkung, nicht aber den Notenwerthen nach mit dem des
16. Jahrhunderts identiseh ist und eigontlieh alla-minima heissen miisste. Als um 1600 zur
Abgrenzung der eine Perfection bildeuden Tongruppen der bekannte Strich oingefuhrt wurde,
erhielt der durch 2 Striche umschlossene Zeitraum den Namen Takt, weil der ''/i-Takt das
gewohnlichc war-. Vgl. des Verf. ,,Studieu zur Geschichte der Notenschrift" (Leipzig, 1878).
**) Auftakt heisst ein Takttheil, den der Dirigent durch Auiheben der Hand andeutet,
also ganz besouders der dem Niederschlag vorausgehende letzte Takttheil, iiberhaupt aber
jeder dem Niederschlag folgende. Auftaktig ist also s. v. w mit einem andern Takttheily
als dem durch deu Niederschlag angezeigten starkstbetonen beginnend.
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14                                I. Metrische Schemata in gleiohen Wertheu.
und die anbetonte (volltaktige)
2 f^~p ! p p ! pz==~p i' p p
I ill I I I ill I
Zur Vergegenwartigung des so ganz verschiedenartigen asthetischen Werthes
beider vergleiche man folgende zwei Notirungen derselben melodischen Figur:
a)
b)
^MilMm
J
^^E
Mig
Die Zweitheiligkeit ist im ersteren Falle nur ein Ausklingen, Ausleben.
Man beobachte, dass bei solchen Diminuendo-Motiven der Eintritt jedes neuen
Tones die Diminuendo-Wirkung verstarkt, d. h. dass z. B. g c in hoherem Grade
diminuendo wirkt als etwa ein ausgehaltenes c von abnehmender Starke, und
ein viertoniges Motiv das diminuendo nachdriicklicher zur Geltung bringt als
ein zweitouiges von gleieher Dauer:
Die Ursache dieses psychologischen Factums diirf'te wohl die sein, dass der
Wecbsel der Tonhohe die Auffassung der dynamiseben Sehattirung erleicbtert,
indem der neue Ton, obgleich er von dem vorausgehenden in keiner Weise ab-
getrennt ist, docb durch seine abweicbende Tonhohe als ein neuer Anfang er-
sebeint und seine Anfangstonstarke in directen Vergleich tritt mit der Anfangs-
stfirke des ersten Tones, wahrend der ungegliederte, an Starke abnebmende
Ton zu Vergleichen keinerlei Anlass giebt und nur auf die directe elementare
Wirkung des diminuendo bescbrankt ist. Ich will nicbt unterlassen, darauf
hinzuvveisen, dass bier der Seblussel flir die Losung des Rathsels liegt, wie der
nur accentuirende Klaviervortrag doch den durchgehenden Scbattirungen abn-
licbe Wirkungen hervorzubringen vermag.
Wie das zweitonigc Diminuendo-Motiv ein Abklingen, so ist das zweitonige
Crescendo-Motiv ein energisches Austreben, Wacbsen, Werden, AVolIen. Wie
bei jenem der zweite Ton das Diminuendo deutlicber hervortreten lasst, wahrend
im Gegentheil die Tonhohenveranderung durch das Diminuendo der Auffassung
fast entriiekt wird, bebt bier umgekebrt das Crescendo die Tonhobenvcranderung
nachdrucklicher hervor und beide Tone des Motivs treten plastiscli heraus. Es
ist leicht zu begreifen, dass in ganz entsprechender Weise drei- oder viertonige
Crescendo - Motive dieselbe Wirkung in verstarktem Masse hervorbringen. Dass
nur selten Crescendo- oder Diminuendo-Motive einaader in grosserer Anzahl
folgen, vielmehr haufig zwischen beiden gewecbselt wird, werden wir bei Be-
traclitung der zusammengetzten Taktarten (§ 7) erklarlicb und nothwendig iinden.
Die bisber iibliche Accenttbeorie kennt eine verschiedenartige Dynamik
der auftaktigen und volltaktigen Form des zweitbeiligen Taktes nicht; da sie
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4. Der dreitheilige Takt.
15
auch von agogischer Schattirung und Sonderung der Motive durch Zeitzugaben
nichts weiss, so sind nach ihr beide Formen des zweitheiligen Taktes im Vor-
trag in keiner Weise verschieden, und es ist wohl begreiflich, wie der Auf-
takt im Gemeinbewusstsein zu einer blossen Zuga.be, einem beginnenden un-
vollstandigen Takte herabsinken konnte, den man von Rechts wegen durch
vorausgeschickte Pausen erganzen mitsste; dass dieser beginuende unvollstlindige
Takt sich mit einem den Theil oder Satz endigenden unvollstandigen Takte zu
einem vollen Takte zu erganzen babe, ist cines der naivsten Ergebnisse der
alten Lehre: Der Auftakt wild nicbt dureh die Phrase oder Periode hindurch
verfolgt, sondern findet am Ende seine Erganzung, wahrend dazwiscben lauter
volltaktige Bildungen stehen:
$*
B±±kŁdM
Diese durch die Taktstriche verschuldete grundverkehrte Auffassung der
metriscben Bildungen mit der Wurzel auszurotten, ist eines der vornelimsten
Ziele dieses Bucbes.
§ 4. Der dreitheilige Takt.
Die dreitbeiligen Motive kounen, je nachdem ihr erstes, zweites oder drittes
Grlied als dynamischer Hohepunkt erscheint, in alien drei Grundformen der
Sehattirung erscheinen: anbetont, inbetont und abbetont:
0 PP (anbetont),
P P P (inbetont) unci
P~~P P (abbetont)
d. h. mit Einfiigung der Taktstriche vor der dynamiscken Gipfelnote und Mar-
kirung der Motivgrenzen durch das Lesezeiehen:
*ni\rri\rrr\rr?
(volltaktig),
'& P \
f
I                   I
\P P P \P P P I P P ('/a auftaktig) und
r nr rTT? r
~P~\P (% auftaktig)
Wahrend im zweitheiligen Takte von einem Nebenaccente unmoglich die
llede sein konnte, weil der Nebeuaccent doch nattirlicb nur gegentiber gar uicht
aecentuirten, d. h. noch leichteren Tonen, als solcher kenntlich werden kann,
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I. Metrische Schemata in gleichen Werthen.
16
nimmt die bisherige Darstellung der Mctrik, die Aceentlehre, beim dreitbeiligcn Takte
einen Nebenaccent an. Es ist interessant, zu verfolgen, wie M. Hauptmann daliin
zu gelaugen weiss, dass cr trotz einer unzulanglieben Grundbestimmung doch alle
die Form en verschiedener Accentuirung als nattirlicb sich ergebende aufstellen
kann, welebe auf Instrumenten, denen das crescendo und diminuendo versagt
ist, ein solcbes ersetzend die obigen Formen dynamiseher Schattirung vertreten.
Hauptmann definirt sebr geistvoll den dreitheiligen Takt als eiuen zweimal
zweitbeiligen mit Hiilfe folgender graphischen Darstellung:
wonach also zweimal zwei drei ist. Accente erlialten stets die Anfangsglieder
der Gruppen, also das erste und zweite Drittel:
7 J .
Das erste Drittel erliiilt ausserdem einen Accent als Aufangsglied der aus
den beiden zweigliedrigen zusamrnengesetzten zweigliedrigen Gruppen lioberer
Ordnun
-i-
-*-r
d. h. also das erste Taktglied erhiilt einen doppelten (starkcren), das zweite
einen einfaelicn Accent und das dritte ist accentlos:
a)
r f
Diese Accentabstufung entspricht, so gut das eben moglicb ist, uuserm
Diminuendo-Motiv:
Nun kann aber jede der beiden zweigliedrigen Gruppen niedcrer Ordnung
und aueh die hoberer Ordnung als abbetont (auftaktig, bei Hauptmann: ncgativ)
gedacbt werden und daraus ergeben sich die fernercn Kombi nation en:
b) in hdherer Ordnung abbetont, in niederer Ordnung anbetont:
i
o
t
V
f
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4. Der dreitheilige Takt.
c) in hoherer Ordnung anbetont, in niederer abbetont:
-J---*-
17
i
\
p p
d) in hoherer und niederer Ordnung abbetont:
4--
-r-r
p p p
i i
-i-J-*-
e) die Gruppe hoherer Ordnung anbetont, von den Gruppen niederer
Ordnune; die erste anbetont, die zweite abbetont:
J-
I
p p p
i r i
T j
r
f) die Gruppe hoherer Ordnung anbetont, von den Gruppen niederer
Ordnung die crstc abbetont, die zweite anbetont:
i
-e>
WPP
J-J—
g) die Gruppe hoherer Ordnung abbetont, von den Gruppen niederer
Ordnung die erste anbetont, die zweite abbetont:
-t-f—
p P
i r
h) die Gruppe hoherer Ordnung abbetont, von den Gruppen niederer
Ordnung die erste abbetont, die zweite anbetont:
i
-a-
» » ^
Kiemaiin, Mus. Dynamik und Agogik.
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I. Metrisohe Schemata in gleichen Werthen.
18
Hauptmann'sAccentlehre ergiebt also 8 verschiedene Kombinationen, wahrend
wir nur dreieiiei Fornien aufzustellen hatten. Die den unseren ungefahr ent-
sprechenden sind:
r   r ~ r r r (anbet°nt)
r   r
f   r
a)
b)
c)
f)
h)
d)
r f I f~ f (inbetont)
r   r
>^
r   r
f     f = |» f I' (abbetont)
d. b. wir finden dreierlei Arten der Inbetonung, wo wir nur eine haben; zwei
von ibnen sind identisch, obgleieh von verschiedenen Kombinationen abgcleitet
(f und b) — was fur eine Bedeutung diese Unterscheidung fur die Praxis haben
soil, vermag icb nicbt zu begreifeu, und Hanptmann giebt dafiir keinerlci Anlialf.
Dass die dreitbeiligen Takte von der Auffassung nicht wirklicb als Kombinationen
zweier zweitheiligen genommen werden, derart, dass gar eine bcliebige unter-
sckiedene Accentuation der zusammengehenden Gruppen angenommen werden
kann, dlirfte docb wobl kaum ein Unbefangener in Abrede stellcn. Wie soil
man es sicb z. B. zusammenreimcn. dass das zweite Taktglied als zvveites der
ersten Gruppe accentuirt, als erstes der zweiten aber accentlos sein soil, wahrend
es einen weiteren verstiirkenden Accent bckommt als das accentuirte Glied der
Gruppe hoherer Ordnung (c)? Doppelt accentuirt und ausserdem nocb accentlos?
das fasse wer kann! wenn es aber unmiiglich ist, die dreierlei Acccnt-
bestimmungen wirklicb aufzufassen, dann ist das ganze Kombiniren eine leere
Hpielerei. Dass es irauptmann lieiliger Ernst damit war, weiss icb wobl, aber
ieh kann mir nicbt helfen — bier muss icb micb ernstlich verwalircn. Eine
-Vergleichung der Gruppen f) und h) muss audi zu starken Hcdenken Ver-
anlassung geben, obgleich da wenigsteus keine sinnlosen WidersprUche sicb
herausstellen.
Zu eingebenderer Erwiigung konnteu dagegen die Accentuirungen bei
e) und g) Veranlassung geben, welche ein accentloses Glied durch zwei ver-
schieden starke Accente einscbliessen. Wir miissten solcbe Motive wwbetonte
nennen; der Jisthetisclie Wertb solcbei- Motive ware, wenn wir an Stelle der
Accentuation wieder die dynamische und agogiscbe Scbattirung setzen, zunachst
ein abnebmen und sodann ein wieder wacliscn:
(umbetont).
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4. Der clreitheilige Takt.
19
Die obeu unter e) gegebene Form wtirde den Taktstrich vor der ersten,
die unter g) gegebene aber ihn vor dev letzten Note des Motivs bedingen, so-
dass wir fur die Anbetonung und Abbetonung je eine neue Form erhielten:
rr r
r p
(anbetont—umbetont) unci
3 p p p
I I I
p p p
r
3 P P \P P P I P P P \P P P i P (umbetont-abbetont).
I I I [ I I II I I I I I I I I
Die Schattirungszeiehen verratben hier sogleich das unbaltbare der Auf-
Soil bei der ersteren Form das diminuendo die zweite Note mit be-
stellung.
greif'en oder nielit? Wenn die zweite Note noch abnehmen und erst die dritte
crescendo vorgetragen werden soil, so fiillt die Scbattirung zusammen mit der
obeu von mis fiir die Inbetonung aufgestellten:
I I I
d. b. jeder Horer wtirde die Motivgrenze da empfinden, wo der natiirliche Kreis-
lauf der Entwiekelung — werdcu und wieder vergeben — seinen Abscbluss
findet: nacb dem diminuendo und vor dem crescendo. Soil dagegen das cres-
cendo seinen Ausgang von der zweiten Note nebmcn und das diminuendo sich
auf die erste beschriinken, so wird das Motiv als abbetontes verstanden werden:
p p
I I
Denn das auf einen Ton bescbrankte diminuendo wird nicht als solches
zur Geltung kommen, vielmebr der Ton nur in seiner Eigcnsebaft als dynamiscbe
(iipfelnote verstanden werden. Die dritte Moglicbkeit ware die Ausdehnung des
(liminuendo auf die Hiilfte der zweiten Note, sodass deren zweite Halfte das
crescendo einleitete:
Fiir lange Noten, die aus der Zusammcuziebung melirerer Ziihleinheiten
entstehen, ist eine solclie Scbattirung moglich (§ 46), fiir kiirzere diirfte sie wobl
unerbort sein. Aber audi wenn man sie gewissenbaft zur Anweudung bringen
wollte, zweifle icb, dass die Auffassung sie acceptiren wiirde; icb vermuthe auf
Grund eigener Beobacbtung, dass sicb dennoch die Umdeutung der Motive in
in- rcsp. abbetonte vollzieben wiirde. Was aber die Umbetonung dieser Form
ganz zur Unmoglicbkeit macben muss, ist die fiir dieselbe notliwendige Annahme
der Motivgrenzen innerbalb des crescendo. Die Zumuthung, fiir die Auffassung
am Schlusspunkte der Steigerung gerade vor dem dynamiscben Gipfelpunkte
cine Trennung anzunelnnen, scbeint mir giinzlicb indiscutabel. Diese Unmoglicb-
keit liegt nun zwar fiir die zweite (umbetont-abbetontc) Form nicht vor; die
Unnattirlichkeit der Unterbrechung des Zusammenbangs nacb der Steigerung
2*
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I. Metrische Schemata in gleiohen Werthon.
20
ohne Ansatz zu neuer Steigerung fordert aber kaum minder den Widerspruch
heraus. Wir werden sehen, wie leiclit die Auffassung der Taktmotive zur An-
nahme anderer Formen umspringt, besonders zur Annabme neuer crescendo-
Bildungen, sei es inbetonter oder abbetonter. Die natiirlicbe Scheidegrenzc
der Motive ist der dynamische Nullpunkt oder doch das denselben
vertretende Minimum der Tonstiirke*); das trifft bei sammtlicben oben von
uns aufgestellten Formen zu, deren Unterschied in dieser Beziehung dabin
formulirt werden kann, dass die inbetonten Motive sicb vom Nullpunkt (oder
Minimum) bis zur hochsten Tonstarke erlieben und wieder zu jenem zurlick-
sinken, wiibrend die anbetonten mit einer relativ erliebliehcn Tonstiirke beginnen
und jedesmal nacli dem Ende bin abnebmen (also sicb dem Nullpunkt nahern),
die abbetonten aber durchweg vom Nullpunkte aus steigen und daun abbreclien,
um denselben Process von neuem zu beginnen:
3 rn' rn
3 r r r'rTr
§ 5. Die Accentuation des Motiv-Anfangs.
Wir gewinnen aber Bildungen, die den hier bekampften Hauptmaun'scben
iilinlicb sind, wenn wir von einer Vortragrsntiance Akt nebmen, die zwar mit
der bier aufgewiesenen natiirlicbcn Dynamik der Motive direkt nicbts zu tliun,
aber bei der praktiscben Musikiibung zur deutliclieren Gliederung der musi-
kaliscben Gedanken, zur Sonderung der Motive wesentlich dient, namlicb der
Accentuation des Motivanfangs, welchc in einer scbnell voriibergebenden
Extraverstarkung des ersten Tones besteht. Das ist wirklicher Accent,
der zu den durcbgebenden Scbattirungen als etwas wesentlicb anderes
binzutritt. Anbetonte Motive konnen natiirlicb dieses Accents vollig entrathen,
er wiirde gar nicbt aufgefasst werden; flir in- und abbetontc Motive entstebt
m aber durcli die Hinzufttgung des Accents cine wesentlicbe Modification des
dynamischen Scbemas, durcb welcbe dasselbe wie gesagt eine Art von Um-
betonung aufweist:
3 rr?' rTr' Ptr' rr?
'3rir?firr'rirr ^
3 (It:' nff' fTfr' rTfr
*) Dass P aus en nieht Nullwerthe, sondern Minuswerthe (negativ) sind, weist Kap. VI
ausfiihrlich nach.
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5. Die Accentuation rtes Motiv-Anfangs.                                         21
Dieser Accent ist aber nicht naturlich gefordert, nicht nothwendig; er ist
cine Finesse, em Raffinement, dient nur dem Zwccke, die ohnehin gegebene
Contour der musikalischen Zeichnung scharfer bervortreten zu lassen, nicbt aber
sie selbst erst mit zu scbaffen. Unausgesetzt angewendet ist der Anfangsaccent
Manier und wirkt abstossend. Dass dieser Accent nieht durch Hauptmann's
Umbetonung erklart ist, gebt zur Evidenz claraus hervor, dass letztere im zwei-
theiligen Takt keine Stelle finden kann, wahrend der Anfangsaccent in dieser
gerade so von Bedeutung ist wie in alien anderen Taktarten. Durch den An-
fangsaccent erhalten die beiden Tone des abbetonten zweitheiligen Motivs beim
Klavierspiel, das nur accentuiren und nicbt stetig steigen kann, bekanntlich fast
gleiehe Tonstarke, z. B. in der schon oben (S. 14) gegebenen Figur:
In schnell bewegtem Figurenwerk, wo der ausilbende Ktinstler beim besten
Widen ausser Stande ist, die natiirliche dynamische Sehattirung genau aus-
zufuhren, spielt der Anfangsaccent eine hervorragende Rolle; ich will nur ein
Beispiel andeuten (Beetboven, Op. 10, I, letzter Satz):
Hier scbopfen gleichsam die kurzen Cresccndomotive immer neue Kraft und
sclmtten sie in den immer maebtiger brausenden Strom des Forte.
Die Komponisten scbreiben den Anfangsaccent manchmal vor und geben
ibm bei zwcitheiligen Motiven gelegentlicb so vicl Gewicht, dass die eigentliche
dynamische Hauptnote schwacher genommen werden muss. Das gebt naturlich
nur da an, wo das Taktgefuhl bereits ganz sicker ist — andernfalls ware eine
verkehrte Auffassung unvermeidlicb. Es sincl das die Fade, wo der Auftakt
ein sf oder / und die dynamische Hauptnote ein p erbalt, wie z. B. bei Mozart:
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I. Metrischc Schemata in gleichen Werthen,
22
§ 6. Der fiinftheilige und siebentheilige Takt.
Einfache Taktarten sind solche, welche nicht eine weitore Zerlegung der
Zahl ihrer Zeiteinheiten in gleiclie kleinere Gruppen zulassen, d. h. diejenigen,
deren Zahl eine Primzahl ist: 1, 2, 3, 5, 7 etc. Die Gegeniiberstellung nicht
weiter verbundener Einzelheiteii vermag kein musikalisches Leben zu reprasen-
tiren; einen eintheiligen Takt giebt es daher nicht. Den zweitheiligon Takt
und dreitheiligen Takt in iliren verschiedenartigen Betonungsformen lernteii wir
im vorigen Paragraphen als die gewohnlichsten metrischen Bildungen kennen;
iiber den dreitheiligen Takt hinausgehend kcinnen wir nur im fiinftheiligen Takte
eine weitere einfache Taktform seken, nicht aber im viertheiligen, der als eine
Potenzirung des zweitheiligen verstanden werden muss (2.2 = 4). Der fiinf-
theilige und siebentheilige Takt gelten in der neueren Musik als Kuriositaten, »
standen aber bei den alten Grieclien in Ansehen. Wir sind nicht berechtigt,
iiber dieses Faktum leicht hinwegzugehen; da die Grieclien die Melirstimmigkeit
nicht kannten, so ist es sehr wobl begreiflich, dass Melodik und Rhythmik bei
ihnen zu einer sehr hohen Stufe der Vielgestaltigkeit entwickelt warcn: wir
niiissen annehmen, dass sie, denen die Bedeutung der Terz und des konsonanten
Akkordes noch nicht zu voller Klarheit aufgegangen war (weun audi in ihren
Skalen das latente Verstandniss derselben sich offenbart), dass sie die metrische
Terz verstanden.*)
Versuche der Anwendung des fiinftheiligen und siebentheiligen Taktes sind
hier und da in neuerer Zeit gemacht worden und nicht ohne Gliick; ich ver-
wcise z. B. auf die allerliebste Etiide 5/s m Beinecke's op. 121. Die Theorie
hat kein Recht, sich mit einer erklarbaren Bildung durch die kurze Bemerkung
abzufinden, dass sie selten, folglich eine Kuriositiit und nicht weiter zu beachten
sei. Dass unser rhythmisches Verstandniss sich nicht allzu hochgradiger Ent-
wickelung erfreut und dass die Theorie der Metrik und Rhythmik Unterlassungs-
siinden gut zu machen hat, wurde bereits betont. Wir thun daher nichts ubriges,
wenn wir die verschiedenen moglichen Betonungsformen des fiinftheiligen und
siebentheiligen Taktes durch schematische Aufstellung dem Verstandniss miller
zu riicken suchen; einige Formen diirften sich als bei weitem nicht so schwer
einganglich erweisen als die bisher in der Regel allein in Betracht gezogene
anbetonte.
*) Mit dem Eeohto mathomatischer Begriiuduns' durfen wir den zweitheiligen Takt
der Octave, den dreitheiligen der Quinte, den fiinftheiligen der Terz und den siehentheiligen
der Septime vergleichen, sofern die Zwei die relative Schwingungszahl des Octavtones,
die Drei die relative Schwingungszahl des Quinttones ist, und ebenso die Fiinf dem Terz-
tone und die Sieben der natiirliohen Septime entspricht. Aber geradc indem ich diese
Parallele zwischen den einfachsten Bildung(;u der Metrik und den Elementen der Harmonik
ziehe, muss ich um so mehr daran festhalten, dass die Hegel'schen drei Grundbegriffe sich
woder hier noch dort nachweisen lassen konnen. S. dagegen die in § 1 crwahnten ahn-
lichen Vergleiche M. Hauptmann's.
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6. Dor funftheilige und siebentheiligc Takt.
23
Fiinftheiliger Takt.
5 rTrTr [ ffTFr \ fFrTr \ fffrr (anbetont)
: ua[i 'dis't
P f P P (>/6 Auttakt)
'
f p ? p' *
u\fu'u\iu'u\ uj ' u I usi% Auftakt) \ I
5 LLf!^'cSl&l[Bl&l^l&(3/5Auftakt)
5 rTfTrp' rTFTTE' rTFffe' 'TTffc(aW,etont)
Siebentheiliger Takt.
7 rrrrrrr jittrrrr irrrrrtr \rrrrfrr<anbetont>
CHJU' LT lULLT (2/7 Auftakt)
7 d? I Sir' LL? I5Zf' 2?1 CEf' 2? rTTr(3/7 Auftakt)
> CD
(» f f (4/7 Auftakt)
Mr MM ^ M M M
7 rrr
# • a » » » »
III I ) I I
ri 'iif r r r l rj
7 PPPPP
C/'CILL
it' iBij I lt ' llSj i Lr(5/'Auftakt)J
7 rTTfTTTC' rTrfrm' fTffnfz' r^Tfrrrc(abbetont)
Dass die interesselose anbetonte Form die Fiinftheiligkeit am wenigsten
verstiindlicli macht, geht auf den ersten Blick hervor und kann uns nicht Wunder
nehmen; auch das crescendo durch fiinf Zeiteinlieiten erschwert die Auffassung
niclit unerheblich (es kann sick fllr uns nickt um einen eingesckmuggelten,
sondern nur um einen vollbewust erfassten fiinftkeiligen Takt bandeln). Dagegen
ersckeinen besonders die 2/5- und 3/5-auftaktigen Formen als leickt iibersichtlich
und sebr wohl verstandlich, und auch der siebentheilige Takt ist dem Verstiind-
niss nakegeriickt, vvenn er 3/7 - auftaktig auftritt.
Die Berechtigung des fiinftheiligen Taktes stekt theoretisch ausser Frage,
und zwar kann derselbe nur als einfache Taktart definirt werden; fraglich ist
aber nur die Verstandlichkeit desselben: sie scheint mir unbedingt bejaht
werden zu mtissen — dass die Auffassung damit nicht so leicht fertig wird wie
mit dem zwei- und dreitheiligen Takte und ihren Kombinationen, ist ja wohl nicht
verwunderlich. Dass der siebentheilige Takt wieder schwerer zu verstehen, als
der fttnftlieilige, ist auch selbstverstandlich. Hauptmann's Versuch, den fiinf-
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J. Motrische Schemata in gleichen Werthen.
24
und siebentheiligen Takt als etwas ganz anderes nachzuweisen als den drei-
theiligen, viertheiligen etc. sehe man selbst nach (N. d. H. u. d. M. S. 231), um
die Ueberzeugung zu gewinnen, dass man mit Hiilfe graphischer Darstellungen
und philosophischen Rasonnements alles beweisen kann, was man beweisen will.
Die Willktlr tritt da eklatant zu Tage und ist nur dadurch entschuldigt, dass
der Zweck ein guter ist: theoretisch das zu erweisen, was die Praxis an die
Hand giebt.
§ 7. Der viertbeilige Takt.
Der viertheilige Takt ist scbleehterdings nur zu definiren als Potenzirung
des zweitheiligen; treten yon den zweitheiligen Gruppen je zwei zu engerer
Einheit zusammen, so entsteben viertbeilige. Es versteht sich wobl nach dem
vorausgegangenen, dass mit diesem Zusammentretcn nicht ein organischer Bil-
dungsprozess seinen definitiven Abscbluss findet, wie Hauptmann es darstellt,
indem er in dem Zusammenschluss zweier zweigliedrigen Gruppen zu ciuer vier-
gliedrigen das Terzmoment der metriseben Bildung findet (vgl. § 1); dieser
Zusammenschluss ist gar nicht ein neues Moment, sondern nur eine Wieder-
holung des Prozesses der Gruppenbildung, dem die einfachen Taktarten ent-
sprungen, in hoherer Ordnung; er ist auch nicht ein endgiltiger Abscbluss fiir
Bildungen dieser Art, sondern liisst fiir weitere ahnliche Zusammenschliessungen
in noch hoherer Ordnung Eaum (vgl. § 9, 10 und § 50). Die kleinerc Gruppe
erscheint in hoherer Ordnung als Einheit.
Hauptmann unterscheidet einen doppelt zweitheiligen vom viertheiligen
Takte; trotz aufmerksamsten Durchdenkens seines Gedankenganges babe ich nicht
dabin gelangen konnen, den Unterschied des einfach zweitheiligen Taktes vom
doppelt zweitheiligen zu ergriinden — mit andern Worten: der doppelt zweitheiligc
Takt als etwas vom viertheiligen verschiedenes ist eben nur der zweitheilige.
Vielleicht dachte Hauptmann dabei an die nicht seltenen Falle, wo eine viertbeilige
Taktart vorgezeichnet ist und balbtaktige Motive (also zweizeitige) auftreten.
Wir begegnen solchen Widerspriichen der Taktvorzeichnung und der Motivbildung
haufig; die Vorzeichnung richtet sich nur nach der tiberwiegenden Form der
Motivbildung und nimmt auf veriinderte ISildungen, die Erweiterungen oder Ver-
klcinerungen derselben sind, keine Riicksicht. Indess ist das audi nicht sehr
von Belang; die Setzung der Taktstriche und die Taktvorzeichnung bat haupt-
sachlicb zu normiren, ob die drcitheilige oder zweitheilige Gruppenbildung
herrscht; die Motiv- und Phrasengrenzcn (X. Kap.) bestimmt der Taktstrich
ohnehin nicbt.
Es kann uns nicht scbwer fallen ohne mathematiscbe Speculation und analo-
gisirende Deduction den viertheiligen Takt scharf vom zweitheiligen zu unter-
scheiden. Halten wir daran fest, dass die Taktmotive eine einheitliche dyna-
miscbe Schattirung erhalten miissen, so bedeutet die Aufstellung eines viertheiligen
Taktes nichts anderes als die Ausdehnung des Umfangs einer Schattirung
auf vier Zeiteinheiten. Denkcn wir uns jedes Glied des zweitheiligen Taktes
in halbe Werthe untergetheilt und nehmen diese Theilwerthe als Zahleinheiten
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7. Der viertheilige Takt.
25
an, so mttssen die beiden Formen des zweitheiligen Taktes unter Beibehaltung
ihrer Dynamik uns zwei korrekte Formen des vicrtbeiligen Taktes ergeben:
H \ rn fr -
Tr\
rrrrirrrrlrrrrlrrr
P und
I
2n
I
■(* *»
T
r r i
Tr' r
i* —
r
i i i i
Die abbctonte Form des zweitheiligen Taktes kann aber natlirlich niclit
die abbetonte des viertbeiligcn ergeben; vielmehr tritt durch die Untertbeilung
das Diminuendo nach dem Taktstricb in seine Rechte (vgl. § 2 und 3). Denken
wir uns den viertbeiligcn Takt nicbt durcb Untertbeilung des zweizeitigen ent-
standen, sondern durch engcre Veveinigung zweier zvvcizeitigen, so kann dies
doch nur so gescbebcn, dass wir uns eine Kette gleicbcr Motive denken, nicbt
aber, wie Hauptmann (1. c. S. 260 if.) tbut, audi Vcrbindungen heterogener
Motive. Hauptmann kombinirt alle Moglicbkeitcn:
a) Beide Motive anbetont, das Motiv boberer Ordnung ebenfalls an-
betont gedacht:
&-
I
p f * p
fill
r
b) Beide Motive anbetont, in boberer Ordnung abbetont:
-0-
-&-
rr r r
-rr-rr
c) Beide Motive abbetont, in boberer Ordnung anbetont:
-fSh-
> = f ?
rr
r r r r
d) Beide Motive abbetont, audi in hoherer Ordnung abbetont:
-o~
-o-
rr rr
T-fT
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26                                I- Metrische Schemata in gleichen Werthon.
e) Anbetont-abbetont, in hoherer Ordnung anbetont:
-&-
-&-
*~ P P p P
-mm-
i i r i
f) Anbetont-abbetont, in hoherer Ordnung- abbetont:
-<9-----------<9--------
P P P P
I I I I
-•----m-
g) Abbetont-anbetont, in hoherer Ordnung anbetont:
-fj-------------Ch-
p
r
p p
h) Abbctont-anbetont, in hoherer Oidmin^ abbetont:
p P p P
fill
rrrT- J
Wir konnen, wenn wir den viertheiligen Takt naeli demselben Prinzip
schattiren wie den dreitheiligen und zweitheiligen, d. h. crescendo bis zur
dynamischen Oipfelnote und von dieser bis zu Ende decreseendo, nur vier vei'-
schiedene dynamische Werthe finden, namlich:
1
4 '
P P P P | P P P P P P P P | P P P P (anbetont)
I II I I II III I II I I I I I I
0 P P ~p p p p f~ P~P~P P P P P ('/,, auftaktig)
III I III I III I III U
4 r? I fp' ^ l n' n I r?' >
r irr r? Iff'rr P7(2/imauftaktig)
»~TTt~» p P~P~T~P P P P i P P P 0~\~0 (abbetont)
ill h i ii h ill M ill Ir
Stelien wir diese Formen mit den Hauptmann'schen zusammen, die ihuen
ungefahr entsprechen (das crescendo der gesteigerten Accentuation, das diminuendo
der abnehmenden Accentuation gleichgesetzt), so finden wir nur zwei, die direkt
in Uebereinstimmung stehen:
0 0 ('/., Auftakt)
g) p V p p   — ~p i 0
I I I I                           ill
h) 0 T 0 0   = P P
fill II
f^p (2,'4 Auftakt)
I I
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7. Der viertheiligo Takt.
27
Zwei andere erweisen sich als mit diesen identisch, wenn man die Motiv-
grenzen verschiebt:
j-^ (2/4 Auftakt) und
('//, Auftakt)
0000     = 0000
1                 I I I                            I I I I
0 r r r f = r r f
wahrend die vier tibrigen zwischen Haupt- und Nebenaccent einen accentlosen
Ton einschieben, d. h. der durchgehcnden Sehattirung widcrspreehen (a—d);
gerade diese vier sind aber nach der Accenttheorie die eigentlich schlichten
Bildungen, entstehend aus der Verkettung gleiclier Motive, wahrend die vier
von uns angenommenen sich bei Hauptmann dureh Kombination gegensatzlicher
Motive ergeben. Mit Htilfe des Motiv-Anfangsaccents (§ 5) kommcn wir zwar
zu einigen ahnlichen Formen:
0       0 0 0 (b) unci
1                 I I I
0 0 0 r 0 = T 0 0 0 (*')
Mill        I I I I
doch bleiben aueb dann die fehlenden Formen ohne Analogie:
V 0 "0 0 (a)
I I I I
0      ^ 0 '0 (C)
1                  I I I
0    "0 0 f (d)
1      I I I
Die accentlose Note zwischen den accentuirten (im diminuendo
oder crescendo) ist aber der Grundirrthum der Accenttheorie; wenn
da.s beim viertheiligcn Takte noeh nicht allzu auffallcnd hervortritt, so geschieht
das aber in eklatantester Weise bei Zusammensetzungen noch hoherer Potenzen
(vgl. § 9).
Ein vierthciliger Takt mit regularer Accentuation der bciden
zweitbeiligen Gruppen, aus denen er sich zusammensetzt (beide an-
betont oder beide abbetont), schliesst die zweitbeiligen Gruppen nicht zu
hoherer Einhcit zusammen, sondern lasst sic gesondert bestehen.
Die von Hauptmann (S. 252) gegebene Accentuirung des vicrtheiligen Taktes
(a—d) ist nicht die des vicrtheiligen, sondern die des zwcimal-zweitheiligen,
so sehr dem audi Hauptmann selbst widerspricht. Der zweinial-zweitheilige
Takt, d. h. die Verkettung zwcitheiliger Motive oline engeren Zusammenschluss
zum einfach viertbeiligen Takt, stuf't natthiich die Motive gegen einander ab,
d. h. ein Motiv erscheint gegeniiber dem andern verstarkt oder abgeschwacht;
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I. Metrisohe Schemata in gloiohen Werthen.
28
an Stelle der durchgehenden Schattirung tritt, wo der feste Zusamnienhang, das
legato gebroehen wird, die Abstufung der Gipfelpunkte gegcn einander. Wir
werden darttber im X. Kapitel (Phrasirung) mehv zu reden haben (§ 50). —
Dass Hauptmann der Nachweis der durchgehenden Aceentsteigerung und
-Minderung Bedtirfnisssache war, offonbaren die Formen e)—h) auf S. 260 ff.
Wir finden aber immer wieder, dass Hauptmann beweist, was bewiesen werden
muss, auch wenn er dazu von dem nachsten Wege ab weitere Umwegc
machen muss.
Wie die dynamische wird aucb die agogischc Schattirung beim viertheiligen
Takt auf das ganze Motiv ausgedehnt, d. h. im crescendo unbedeutend getrieben,
im diminuendo ebenso unbedeutend gehemmt; einer Vortragsfinesse ist es aber,
auch bei durchgehender dynamischer Schattirung agogiseh den viertheiligen
Takt als zweimal zweizeitigen zu gliedern, indem cin kleiner Zeitverlust die zwci
zweizeitigen Motive trennt (im legato natiirlich nicht eine Pause, soudern cine
Zugabe zum Schlusswerth). Kommt dazu noch der Anfangsaccent fur die zwei-
theiligen Motive, so zerstort freilicli der Vortragende die beabsichtigte Vier-
theiligkeit ganz und setzt an ihre Stelle ganzlich die Zwcitheiligkeit. Mehr
darttber in folgendem.
§ 8. Der sechstheilige Takt (2.3 und 3.2).
Die 4 ist nur als 2.2 zcrlegbar und daher auch nur so auffassbar (Haupt-
mann will sie zwar auch als 2.3 in der Form -
              —verstanden wissen;
doeh glaube ieh, dass wir von dieser Auslegung absclien diirfen); dagegen sind
fiir die 6 zweierlei Auffassungen moglich: als 2.3 und als 3.2, d. h. wir er-
halten im sechstheiligen Takte entweder ein aus drei oder ein aus zwei kleinercn
zusammengezogenes grbsseres Motiv:
3                    3                                  2             2             2
Der sechstheilige Takt wird in der erstercn Gestalt mit 6 (6/4, 6/8, 6/16),
in der letzteren dagegen stets mit 3 (der nachst grbssercn Notengattung, sodass
je zwei Zahleinheiten einer Einheit der Vorzeichnung entsprochen: \, |, |) vor-
gezeichnet. Der Schlussparagraph dieses Kapitels wird die Frage einer Reform
des Takt-Vorzeichnungswesens ventiliren; wir werden aber die dort fttr die
Praxis vorgeschlagenen Taktbezeichnungen hier vorlaufig wie schon in den ersten
Paragraphen als kttrzeste theoretische Formeln benutzen. Wenn 2 jede Art
zweitheiligen Taktes (f, f, |), 3 jede Art dreitheiligen Taktes (|, |, |) und 4
jede Art viertheiligen Taktes (*, f, |) bezeichnen konnte, so wird 6 jede Art
des sechstheiligen Taktes ausdrttcken kbnnen (f, f, f, /„), aber in beiden Pie-
deutungen als 2.3- und als 3.2-theiliger Takt. Wollen wir die Zusammen-
setzung der Taktart durch die Vorzeichnungsformel exakt ausdriicken, so werden
wir das am einfachsten und korrektesten durch zwei tiber einander gestellte
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8. Der sechstheilige Takt.
29
Zahlen tliun, deren obere die Einlieiten hoherer Ordnung und die untere die
Zahl der Untertheilungswertbe anzeigt, also:
2 , rr~j tt~]
- mid ••••••
Wiv miissen die beiden durchaus verschiedenen Bildungen von cinander ge-
sondert betrachten. Wenn beim viertheiligen Takt die Trennung der beiden
zweitheiligen Gruppen, in welche fiir die Auffassung der viertheilige Takt aueh
bei durcbgebender Schattirung und strengstem legato zerfiillt (weil eben 4 kerne
Primzahl ist), von untergeordneter Bedeutung war, da ein Missverstehen un-
moglich ist — die Einbeitszahlen biiberer und nicderer Ordnung sind ja gleicb —,
so wird beim secbstbeiligen sicb im allgenieiuen die Kenntlichroacbung der Zu-
saramensetzung noting erweisen. Spater (IX. Kapitel) werden wir seben, dass
in der niebrstimmigen Musik die Zweifel in der Regel durch die Bewegung
anderer Stimmen, welcbe die boberen Einheiten angeben, geboben sind. Wir
wollen zur deutlicberen Uebersicht stets die Lesezeicben einfiigen, welche die
Oruppen vou drei und drei oder zwei und zwei Einheiten abgrenzen:
Der ^-Takt ist in seinen sechs miiglichen Gestalten:
(anbetont)
(Vo Auftakt)
(2/0 Auftakt)
(3/„ [>/2] Auftakt)
(% Auftakt)
(abbetont).
p p p'p p p p p p'p p P p p p'm m >
■j lLT I v Jlu It ■j 'JLT11
p
U
p'p p
Die iisthetischen Wertbe der verschiedenen Formen sprecben sich hinreichend
anschaulich in der dynamischen Schattirung und der Gliederung durch die Lese-
zeicben aus (das einfache Lesezeicben i bestimmt hier die Gliedgrenzen, das
doppeltc i die Motivgrenzen). Je mehr das crescendo iiber das diminuendo
uberwiegt, desto packender und aufregender wirken die Motive. Das bocbste
Mass von lebendiger Kraft entwickelt die abbctonte Form, wahrend die an-
betonten, je mehr wir ihr Wesen erkennen, desto mehr vcrblassen und als
durchaus uach der negativen Seite gerichtete Bildungen nur bedingungsweise
wirksam erscheinen.
Auf eine freie, zwar von der doppelt dreitheiligen abgeleitete, aber docb
von ihr abweichende Gliederung des secbstbeiligen Taktes, welcbe nicht selten
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I. Metrische Schemata in gleichen Werthon.
30
eintritt, wenn melodische und harmonische Riicksichten jene verbieten, sei hier
vorbereitend kurz hingewiesen, niiralich die in: 2 + 4 oder 4 + 2:
* > statt: • P P
:llj
u
Den Unterschied beider mogen einige praktische Beispiele erlftutera:
(Beethoven, Op. 10, 3, Menuott).
feHtf r i rT^tr+^T-tmr^gii i
24                          e
(Beethoven, Op. 14, 2, Scherzo).
r *Ł
rzŁ:
V* 2                            4                            6
Solche Bildungen sind aber nicht mebr rein metrischer*), sondern vielmehr
melodisch-rhythmiseher Natur, d. li. sie gehoren in das Reich der Betrachtung
des innerhalb der metrischen Schemata mOglichen vielgestaltigen Lebens (§ 39).
Die sechs moglichen Formen des !> Taktcs sind:
0-» 00 0 \ p 00 00 m I 000000 (anbetont)
3 -=
'2 *
('A; Auftakt)
(2/„ |' 3j Auftakt)
(7„ Auftakt)
(% | V,] Auftakt)
' (abbetont).
P'P p'p p " p
! ' '■ ' I [/
u 0 p'p p " «
''''I j,
• • • > •
i                 i |
p p'p p " p p
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2    • '
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3     -===
• '» • lj » » »
# » # 0 p p
p'p p p p'p
ill ! I i
P'P P
0  p'00 \ 000000 \ 00' 0 p'p p
1   M I I U I'll I LJ L_L__J
0 p p p'p p
I :            II
u
#         • • > • > • 0 p'p P 0 0         p p'p p'p p
\, i i i i i I \> lXllj 11* lllu 11/
9 » » 0 0 0
*) Doch will ich nicht unterlasson, darauf hinzuweisen, dass die auffallige Haufigkeit
der Gliederung von 0 in 2 und 4, wie die von 8 in 2 und 6 vielleicht bezogen werden muss
auf das Anstrebcn eines gewissen Gleichgewichtes zwischen dem Theil vor und dem nach
dem Schwerpunkt der Motive (wobei zu betonen ist, dass die Note, deren Einsatz den Schwer-
rrrlrrr
0 oiler 0 0 \ 0 0 oder
punkt bildet, stets mitzahlt:
wlihrond 0 » •
r
nach der Diminuendo-Seite iiberhiingend crscheint). Dieses Mittel, die durch Aneinander-
reihung gleicher Motive leicht entstehende Monotonie zu brecheti ist nur ja nieht fiir un-
wichtig zu halten, und bitte ich nachzuschen, welche grosse Zahl soldier Fiille raeine Aus-
gaben von. Mozart's und Beethoven's Klaviersonaten aufweisen.
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8. Dor sechstheiligo Takt.
:;i
Eine mogliche abweichende Gliederung ist 3 + 3, und zwar fill- allc sechs
Formen; dicselbe kann selbstverstiindlich nur melodisch-rhythmischer Natur sein
*-Takt
und muss das metriselie Schema respektiren, das sie sonst mit dem des
Wie sind aber Gestaltungen wie:
viillig zusammenwerfen wiirdc
m^^mms
vom \ Takt zu unterscheiden? Dass die dynamische Schattirung fin- den § und
I Takt gleicher Auftaktsform identisch ist, geht aus der Vergleiohung der Schemata
hervor; die durch die Lesezeicben markirten kleinen Halte sind in Hinsicht auf
die abweichende melodiscbe Contour zu verschieben; es bleibt also als cinzigcs
Mittel die verschiedene agogischc Scbattirung. Suchen wir die Mittel der Unter-
scheidung nicht auf Seite des I, sondern auf Scite des \ Taktes, so werden
die beiden Ktellen:
fS^
sich dem Obre sofort von den oben gegebenen durcb den glatten Anschluss
innerbalb der dreithciligen Motive scharf unterscheiden, und es erweist sich
in der That, dass nicht verschiedenartige Dynamik oder Accentuation, sondern
nur verschiedene Agogik die Unterschcidung macbt. Neben den durch die Lese-
zeicben markirten, die melodisch-rhytlimischen Motive trcnnenden kleinen Halten
milssen wir daher noch weitere untergeordnete annebmeu, welcbe die dreithciligen
Motive zu zweitheiligen machen, indent sie die Tone, welcbe in den zweitheiligen
Motiven die Schwcrpunkte bilden, unbedeutend verHingern; wir kiinuen dieselben
agogische Accente nenncn und sie von den dynamischen Anfangsaccenten (=~)
durch ein anderes Zeichen, z. B. cin flaches Dacb (^) unterscheiden. Der
| Takt bedarf, wo es sich wie bier urn dreitheilige Motive handelt, des beson-
deren Zeicbens nicht:
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I. Metrische Schemata in gleichen Werthen.
32
Dagegen werden bei der Einreihung der dreitheiligen Motive in den \ Takt
die Zeicben von Bedeutung::
uml
♦ " J- ■♦        V             X/        V *fl-#-
<*v /\. /\
^ ^                  xx               x
                 /\          xx
Dass der agogische Accent nicht erne Tonverstarkung, sondem wirklicli nur
eine Verlangerung, ein geringes Anbalten ist, kann man leicbt erproben, indem
man im Gegentbeil die desselben entbebrenden Tone sforzato angiebt:
«.f         xX. S/xx sf
Es sei mir feme, fiir die haufige Anwendung des Zeicbcns fiir den agogi-
schen Accent in der Notenschrift plaidiren zu wollen*); ich durfte aber diesen
langeren Excurs niclit vermeiden, wenn ich dem Vorwurfe begcgnen wollte,
dass meine metrisclien Grundbestimmungen sich als unzuliiuglicb erwiesen. Ver-
einigen wir alles, was sie fiir den Vortrag der beiden scheinbar gleichen Bil-
dungen eruirt haben, so gestalten sich die Notenbilder mit Hinweglassung des
ttberfltissigen in folgeuder Weise:
^m
S3SI
Tm ^T^YM
Das sind, denke ich, der Unterschiede genug, die auch die raffinirtesten
Anforderungcn an Vortragsfeinheit befriedigen dfirften; was noeh zur entgiltigcu
Aufklilrung fehlt, miissen wir fiir eine spiitere Auseinandersetzung verspareu (§22).
*) In der Phrasirungsausgabe habo ich das Zeichen /v einigcn wenigen Ausdrucksnoten
Ubergeschrieben, zum Zeichen, dass dieselben nicht nur starker zu spielen, sondern auch
(unbedeutend) zu verliingern sind. Leider hat im ersten Bande der Stecher das Zeichen
ungenehm vergrossert und als A angegeben.
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9. Dei' achttheilige und seehszehntheilige Takt.
;5:i
§ 9. Der achttheilige und sechszehntheilige Takt.
Die iiber den viertheiligen Takt hinausgehenden Potenzirungen der zwei-
tlieiligen Gruppenbildung konnen wesentlich neues nicht bringen. Je weiter
die Foraien sich ausbreiten, desto mehr werden die Mittel interner Gliederung
sieh nothig machen, wenn die Auffassung direct das rechte treffen soil. Es
muss aber sehr gewarnt werden, dass man nicht die dynamischen Anfangsaccente
und die agogischen Accente ftir unentbehrlich halte; sie stets und uberall hervor-
zuheben vvlirde etwas ahnliches sein, als wenn man beim Sprechen stets die
Silben scharf trenncn oder wohl gar in der Schriftsprache Theilungsstriche
zvvisehen dieselben einsehalten wollte, wahrend es gewiss zu billigen ist; dass
sehr lange zusammengesetzte Worte (z. B. Motiv-Anfangsaccent) dem Verstandniss
schneller zugiinglich gemacht werden durch Zerlegung in zwei Worte. So be-
trachtet werden beide wesentlich dem korrekten Ausdruck dionen, ohne an die
Schulstube zu erinnern.
Die natiirlichen Formen des achttheiligen Taktes sind:
li#7rr"rr'rrTfr'rr'VTr (anbetont)
Die Aufstellung dieser Schemata ist nicht uberfltissig, es ist vielmehr un-
entbelirlich, dass ein auf die Ausbildung des metrischen und rhythmischen Ver-
stfindnisses berechneter Kursus vom Schiiler das wirkliche Durchdenken und
Nachempfinden aller solchen Kombinationen verlange. Besonders wird das auf-
merksame Studium der ungeradzahlig auftaktigen Formen fur die meisten recht
erspriesslich sein; wie gar raancher mag wohl die achtzeitigen Anfangsmotive
der Sonate op. 2, I von Beethoven verkehrt gliedern, namlich:
Kicmann, Mus. Dynamik unci Agogik.                                                                                         3
-ocr page 43-
I. Metrisoho Schemata in gleichon Wcrthen.
;i!
SE^S^E
■+-J-
^
(5/8 Auftakt),
desgleichen die daranf folgende Stelle:
^+^M^
stilt) :
S3E
Bereits oben (§ 7) wurde darauf hingewiesen, class die der Accenttheorie
sich zunachst ergebenden Schemata zusammengesetzter Taktarten zwischen starker
und schwacher accentuirten Tonen accentlose verlangen. Das tritt bei dem in
drei Potenzen zweitheiligen achtzeitigen Takte recht auffallend hervor:
rw
r r ' r r
(anbetont.)
u u u u
• a
u Is u
Hauptmann vcrziehtet darauf, ftlr die grosseren Taktarten die Accent-
schemata zu entwerfen; hatte er das aber gethan, so wtirde er erst durch die
Verbindung gegensiitzlicher (anbetonter u n d abbetonter) Motive zu den unseren
crescendo-Motiven entsprecbenden Formen gesteigerter Accentuation gclangt sein
(vgl. § 7). So entsetzlich der Gcdanke ist, dass jemand wirklich diese Ab-
stufungen der Tonstarke im bunten Wechsel mit schwachen Tonen korrekt
herauszubringen versuchen sollte, so ist doch das Schema nicht gerade un-
natiirlich; es entspricht vollig dem des viertheiligen Taktes, den wir als nicht
hinreichend zur Einheit verschmolzenen doppelt zweitheiligen kennzeichnen
mussten (§ 7). Der Verschmelzungsprocess ist in einem halbfertigcn Zustande
unterbrochen und noch sind die einzelnen Bruchstticke kenntlich. Will man
wirklich von einem achttheiligen oder auch untergetheilten viertheiligen Takte
reden (vgl. das 3. Kap.), so muss man vor allem die acht Einneiten in innigen
Konnex bringen durch Ausdehnung der durchgehenden Schattirung auf die ganze
Gruppe. Ich begreife wirklich nicht, welche verstandige Deduktion sonst zu
der in der Musik tiberall zu findenden durchgehenden Schattirung ftthren soil.
Nimmt man dieselbe aber als das normale an, so ist ja damit keineswegs aus-
-ocr page 44-
9. Der achttheilige und sechszehntheilige Takt.
35
gescblossen, dass der Komponist in freier kiinstlerischer Disposition innerhalb
einer zusammengesetzten Taktart hier und da kleinere Gruppen gesondert
phrasirt wissen will, sodass eine einfaehe Taktart in die zusammengesetzte
eingebildet erscheint.
Der sechszehntheilige Takt erfordert nach der Accenttheorie noch eine
weitere Abstufung der Accentuation:
r r
r r r r
till till till till
LULJ r r r '
Vf_j>TpVf Tp > p p p> p
Es bedarf nur des Hinweises auf dicse Konsequenzen, um die Accenttbeorie
ganzlich zu diskreditiren. Wie soil wobl ein Sanger oder ein Violinspielcr das
Kunststttck fertig bringen, so scbnell und so verscbiedenartig die Tonstiirke zu
wccbseln? aucb der Klavierspieler kann es nicht. Vor allem bleibt abcr stets
der klaffende Spalt zwischen der diescrgestalt abgestuften Accentuirung und den
fortlaufenden Steigerungen und Minderungen der praktiscben Musikiibung;
wie soil man von jenen zu diesen gelangen?
Unser System ergiebt die Formen:
p 00 0 > p V p mppV f '> 000
(anbetont)
i
I
• I p[Pf,lP
til f
PlPPnP p> P "" (Via Auftakt)
t=i
4 I
. m[m m
0 , 0 , ,i!l (*/,„ LV«1 Auftakt)
^
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p»'> f > p> > f'r P, "" (3/« Auftakt)
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1LTJ
mi («/10 [*/., '/„] Auftakt)
o
L a l>- I - - • m . m m ~ m
4 5^y
• » • > • > * > » » • "" (5/,6 Auftakt)
HI- -1- . II.
• •#'•• "" (Vie [3/«] Auftakt)
C/16 Auftakt)
= p »» p> p> ?'> » 0 P p P P P Mil
3!
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I. Metrische Schemata in gleiohen Werthen.
36
4 rr'rr "rflfr If r'r p "rr'rr
1,1 ('/is [%, 2/4, 7d Auftakt)
;:! (»'M Auftakt)
|! ('%■, [»/»] Auftakt)
11 (<'/n Auftakt)
i wuxruxtIy-^-y
4 tB r rrr-T trr I r rrrŁ
ft
::
3
. - - . .i. -in
ffff f *? ? r rf f ZJL—S
[ g p> r "f ?±Ł_J tULS I Ł-Lf
('■'So Auftakt)
CVi. [Vs] Auftakt)
(abbetont).
* ,,yf>f>P»>
py p >» r_p
Die weiteren Potenzirungen des zweitheiligen Taktes, den 32theiligen unci
64theiligen, dlirfen wir aus Eaumriicksicliten der eigenen Betrachtung des fleissig
studirenden iiberlassen. Dieselben sind keineswegs ohne praktische Bedeutung,
wie z. B. der Anfang des Presto der Cis moll-Sonate op. 27, 2, Takt 23 ft', des
ersten Satzes von op. 53, der letzte Satz der Appassionata op. 57 und auderc
Stellen bei Beethoven beweisen, welcher Meister mit seiner sprichwortlichen
Langathmigkeit besonders reich an gedehnten Motivbildungen ist. Man ver-
gleiche in dieser Hinsieht aueh besonders seine Klavierkonzerte. Die Takt-
vorzeichnung darf man freilich nicht als massgebend betrachten fiir die Motiv-
abgrenzung, vielmebr werden wir finden, dass gerade Beethoven ungemein frei
in dieser Beziehung schaltet, bald die Motive liber mebrere Takte ausdehnt, bald
sie auf lialbc oder Vierteltakte und noch weiter vcrkiirzt. Die vorgeschriebene
durchgehende Schattirung ist bier meist ein verlasslicher Fingerzeig, doch thut
man stets gut die Melodiebewegung zu berttcksichtigen, um die Verkiirzungeu
an der Wiederholung der Figuren zu erkennen. Mehr dariiber werden wir im
X. Kapitel (Phrasiruug) zu sagen haben.
§ 10. Der neuntheilige, zwolftheilige, achtzehntheilige und
3 3
vierundzwanzigtheilige Takt (f, 3, ', 3, 2 etc.).
3' 3
Durch Zusamnienziehung dreier dreitheiligen Motive oder durch Unterdrei-
theilung des dreitheiligen Taktes entsteht der neuntheilige Takt. Seine metrischen
Schemata sind nach den bisher beobachteten Massnahmen:
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10. Der neun-, zwfilf-, achtzehn- und vierundzwanzigtheiligp Takt.
37
» 'IC^Ci^Lf^lCL'SfLf
a
2-
Bei aufmerksamer Betrachtung dieser Schemata wird sich kaum jemand der
Erkenntniss verschliessen konnen, dass noch mancho metrische Form von fort-
reissender Dynamik so gut wie gar nicht ausgenutzt und manche zufolge der
irreleitenden Accenttheorie nicht in ihrer ganzen Kraft verstanden worden ist.
Eelativ haufig sind noch die abbetonten Formen der grosseren Taktarten, es
ist aber stark zu bezweifeln, dass ein betriichtlicher Proeentsatz der Exekutirenden
ihre Bedeutung wirklich crkannt hat; ja selbst, ob die Autoren sich ttber die
Energie der metrischen Formen vollig klar waren, erscheint hie und da zweifel-
haft: ein unbedeutend verschobenes dynamisehes Zeichen, ein verkehrt ab-
gegrenzter Bogen, ein unangemessener Fingersatz wird da oft zum Verrather.
Eine von der Zukunft mit Bestimmtheit zu erwartende eingehcnderc Uuterweisung
in den Elementen der Metrik und Rhythmik (welches Konservatorium kennt
einen solchen Kursus?)*) wird der erlabmenden Phantasie unserer Generation
neue Sclrwimgkraft geben und Werke von origineller Frische schaften helfeu.
Wie beim | Takt finden sich nicht selten auch beim f Takt vier- und zwei-
theilige Motive eingestreut, z. B.
*) Seit dem Herbst 1882 benutze ich das Musikdiktat als Mittel, Metrik, Rhythmik und
Phrasirung am Hamburger Konservatorium systematise!! zu lehren, was sich vortrefflich bewahrt.
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I. Metrische Schemata in glcichen Werthen.
38
Es ist bereits oben (§ 8) darauf hingewiesen, dass solche Bildungen
melodisch-rhytbmiseber Natur sind und daher niclit einer metriscben Betraebtung
unterliegen; die Untersuchung der melodiscben Motivbildung (8. Kap., § 39)
wird uns dieselben als etwas ganz gewobnlichcs nachweisen. Es sei jedoch an
dieser Stelle betont, dass das Metrum dureb dieselben nicbt in seiner Geltung
verkiirzt wird; der Rhythmus tritt nicht aus dem Rahmen des Mctrums beraus,
so wenig die Melodic aus dem Banne der Harmonic lieraus kann. Der jj Takt
bleibt I Takt aucb wo '?, und f, Motive vorkommen; erstere ersebeincn dann als
inkomplete, letztere als liberieomplete Gliedcr:
Das erste Motiv entbehrt (isolirt betrachtet, nicht mit durchgebender
Schattirung) des diminuendo:
It?
! I
das zweite hat ein zweigliedriges crescendo und zweigliedrigcs diminuendo,
d. h. verbindet eigentlich zwei verschiedene Formen des dreizeitigeu Motivs:
1
das dritte ist normal inbetont:
'
• »
Der zwolftheilige Takt ist, da 12 = 2.6 |2.2.3 oder 2.3.2] oder 3.4 =
[3.2.2j ist, in dreifacber Weise als Zusamnienziehung kleinerer Gruppen oder
Untertheilung einfacher Taktarten zu deuken. Die drei moglichon anbetonten
Formen sind:
2^
• «»•»• > • p p p p p p p<p p p p p • * p p
' —h i——i )—h i ' —' —l ——*
2_W..'
IS WIS IS ISzSzS ISiSlS
_______ I _______ _______
31 2
-{p p'p p"p p<p_p"f p'p p I p p'p p"p f'p 0 p p'p p
=
die erste eine Unterdreitheilung des viertbeiligen Taktes (audi als * ohne Zwei-
deutigkeit zu bezeiebnen), die zweite eine Untcrzweitheilung des § Taktes, die
dritte cine Unterviertheilune; des 3 Taktes.
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10. Der neun-, zwolf-, achtzehn- und vierundzwanzigtheilige Takt.                 39
Die Konstruktion der Schemata der verschiedenen auftaktigen Formen kdnnen
wir nach dem vorigen wohl dem Strebenden selbst tiberlassen. Es sei nur immer
wieder auf den Gegensatz der Accentuationslehre und unserer Lehre von der
dynarnischen Schattirung der Motive hingewiesen, z. B.
I. . . ii (Vs mit %* ['/J
Auftakt)
ntuirt f f f f f f
aece
n (2 "/a mit Via
Ł ^ f ' ^ f p f g T f         Auftakt)
y-'wj
-i- .I. _ H PA mit Vu
0 0 0 » w # »
Die Lesezeichen dienen wie immer nur als Anhalte, Ruhepunkte ftirs Auge
und werden beim Umsetzen des gelesenen in klingende Musik zu kleinen Ver-
zogerungen von minimalei- Dauer. In der bier gegebenen vollstandigen Zahl
sind dieselben nur fiir die Theorie der Metrik beliufs volliger Durcbdringuug
der Formen durcb die systematisch auszubildende Auffassung erforderlieh; die
Notenschrift damit iiberall zu durchsetzen ware Uberflttssig und vielfacb clioquant:
eine streng legato vorzutragende melodisebe Figur wiirde vor dem Auge der-
massen in ihre Ilrelelemente auseinanderfallen, dass audi der Vortrag uicht zu
volliger Einheitlichkeit gelangen moehte, z. B.
vielmebr wird die Auffassung schon ziemlich sicher geleitet werden durch die
Abtrennung des vierten Achtels im dritten Takt (Beginn des dritten vierzeitigen
Motivs), ode* allenfalls konnte man nocb im vierten Takt die Abbetonung der
zweitbeiligen Motive durch Lesezeichen andeuten:
S
:
Das Lesezeichen (h) im zweiten Takt ware zudem nur metrisch richtig, aber
melodisch-rhythmisch falsch; ahnlich den im § 8 erorterten Fallen, zu denen
dieser Paragraph oben neuc Erliiuterungen beigebracht hat, setzt bier die
melodisch-rhytlimische Entwickelung an Stelle der fortlaufend gleichen kleineren
Gruppen inkomplete und iiberkomplete, namlich an Stelle zweier viertheiliger
ein dreitheiliges und ein fiinftheiliges:
r.
UJ
n nd
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I. Motrische Schemata in gleichen Werthen.
40
Der aehtzehntheilige Takt ist verstandlich als 2.3.3- oder 3.2.3- oder
3.3.2theiliger, d. h. als Unterdreitheilung des § Taktes, als Unterdreitheilung
des f Taktes oder als Unterzweitheilung des § Taktes; seine aubetonteu
Formen sind:
3 tlf'Z 'r>rr'>'r>rr,r'*
3 P P P ' P P ■ P P P * p p p p p V (anbetont)
- • . .. . m*.
3
2 tfUvuutfttvtf
Als Anregung zu wciterem Durcbdenken mag von jeder der drei Arten
nocb eine iubetonte Form Platz finden:
tr tic/1 tmpUp p tip tisp ,!l (5/,s Auftakf)
3 * i y±j=? I \^_=
H
(,J/18 Auftakt)
U . . .1. a II
2 y/ tftitr J titit:Ły
Schliesslich sei audi nocb der vierundzwanzigtbeilige Takt in seiuen
Grundformen analysirt. 24 ist = 3.2.2.2 oder 2.3.2.2 oder 2.2.3.2 oder
2.2.2.3, was vier verschiedene anbetonte Formen crgicbt:
i n i in
i n i in i n
3 - MM P P f P
mL
P P P P P P • P PPPP
g             i ii i ii i in i ii i ii i            in
i 2 4 p p p r p p p p
p'p'p'p p p p p p p p p
I           II          I         I         III         I         I           II         I          I            III!
i\
42 isirif zjisis zsuis trzftf
II              I
I               II
8
»j 43 ufuf tsszss wtir zssjss
yon denen, wie wir immer mebr einsehen lernen werden, nur auftaktige Ab-
arten lebensfiihig sind.
§ 11. Die Taktvorzeichnung. Vorschlage zu einer Reform derselben.
Als Taktvorzeichnung sind die meisten der betrachteten griisseren Taktarten
nicbt in Gebrauch; nur die an letzter Stelle dureh 3 untergetheilten pflegen vor-
gezeichnet zu werden, wahrend man die durcb 2 untergetheilten mit 4 aV
schliessen lasst, das aber bei Vierteln oder Halbeu als Ziibleinheiten durcb alte
-ocr page 50-
11. Vorschlage zu einer Reform dor Taktvorzeiclmung.
41
Mensuralzeiclien (jg, jjs, JE|'3I) vertreten wird. Man bezeichnet also durcli die
links beigefiigteii Vorzeichnungen die siluimtlicben rechts aufgefiihrten metrischen
Bildungen:
(4)
A \------ •                      
4; i i i
U U U LI
(8)
0l»»tf«0»*.>!»«i>tf»0»
(1G)
pr epy gycg flprflBT grgcr
(32)
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• « • »
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pppppppppppppppp
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(4)
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(8)
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(32)
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(4)
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(16)
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I. Metrische Schemata in gleichen Werthen.
12
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11. Vorschlage zu einer Reform der Taktvorzeichnung.
4.'!
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LLS LU LCj UJ (12)
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(24)
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16
(18)
in alien
Auftaktsformen.
Oder: ŁŁf 1^ (lŁf tU >U >U
(18)
'A
16
27
Hi
(24)
(27)
ss-^
iij'n, 1',' *^™
in alien
Auftaktsformen.
SKST ŁŁ2" g^g-
Diese Taktbezeichnungen sind einerseits iiberfiiissig tiberladen, andererseits
doch nicbt ganz unzweideutig (vgl. den \% Takt.). Dass sie stets in Gestalt
von Brttchen erseheinen, deren Nenner den absoluten Notenwerth der Zeit-
einheiten augiebt, ist gewiss Uberfliissig; es wllrde vollig geniigen, wenn die
Zabl der Zeiteinbeiteu angegcben ware. Auf der andcren Seite giebt die Takt-
vorzeiohnung gar keinen sicheren Anhalt fiir die Zahl der eigentlichen Ziihl-
einheiten, d. h. der Einbeiten, welelie als Taktglieder empfunden werden
sollen, wahrend andere nocb kleinere Wertbe nur als (sozusagen durehgehende)
Untertlieilungen erst in zweiter Linic in Betracht kommcn sollten. Von der
richtigen Auffassung der Ziibleinbeiten liiingt aber durcbaus der
richtige asthetische Eindruck des Tempo ab. Ziiblt (d. h. empfindet)
man z. B. in einem Andante im Jj Takt die Acbtel als Zilhleinbeiten, so wird
man oft genug eher den Eindruck eines Allegretto, d. h. einer beiteren statt
einer gemessenen Bewegung bekommen; % Takt wird aber sowohl da voi-
gesebrieben, wo nach Acbteln, als da, wo nach Taktliiilften (punktirten Vierteln)
gezahlt werden soil. Die Taktschlage des Dirigenten treffen in der Regel das
richtige; docli sind audi da Missverstilndnisse nicbt ausgescblossen.
Verzicbtet man auf die Angabe der Notenwerthe in der Taktvorzeichnung,
so ist es em leicbtes, stets gcnau zu fordern, wie geziihlt werden soil und doch
die Zusammensetzung des Taktes zugleich anzudeuten. Im Anschluss an den
berrscbendcn Usus konnte man die Untertlieilungen ignoriren, wenn sie Unter-
zweitheilungen sind, miisste sie dagegen andeuten, wenn sie Dreitbeilungen sind.
Eine Reform der Taktvorzeicbnungen in dem Sinne, wic ich sie hier vorschlage,
ist nicbt ganz unvorbereitet, vielmebr tinden sicb bier und da Anlaufe dazu
(3, 4, |); sie wtirde zugleich eine Vereinfachung und Bereicherung bedeuten.
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I. Metrische Schemata in gleichen Werthen.
44
Bezeichnet man stets die Zfthleinheiten durcli die ihnen zukommende Zahl, bei
zusammeDgesetzten Taktarten durcli Nebeneinanderstellung der Faktoren uuter
Voranstellung- der den hoheren Einheiten entsprechenden Zabl (z. B. fur lang-
samen f Takt, wo nacb Vierteln gezahlt wird: 2.3). Untertheilungen der Zahl-
einheiten aber durch die untergestellte Zahl, so werden folgende Bestitnmungen
so ziemlich ausreiehen (weitere nothige kann sich Jedermann aus dem angezeigten
Prinzip heraus leicht entwickeln):
2  = zweitheiliger (zweizahliger) Takt, mit nur zwei Zahleinbeiten,
wobei aber nicht ausgeschlossen ist, dass viele Motive sicb in
untergetheilten Werthen bewegen.
3  = dreitheiliger (dreizahliger) Takt.
4  = viertheiliger (vierzahliger) Takt. Die Sehreibweise 2.2 ware
iiberfltissig, da beide Faktoren gleich sind und die 4 keine andere
Zerlegung zulilsst.
2.3 = sechstheiliger (sechszahliger) Takt, bestehend aus 2 Gruppen
von je 3 Zableinheiten.
3.2 — sechstheiliger (sechszahliger) Takt, bestehend aus 3 Gruppen
von je 2 Zahleinbeiten.
2
- = zweitheiliger (zweizahliger) Takt, bei dem jede Ziihleinheit durcli
drei untergetheilt ist.
8  = achttheiliger (achtzahliger) Takt; mit 2.4 wiirde man andeuten
konnen, dass die Takte deutlieh in zwei Halften zerfallen, wahrend
4.2 die Viertheiligkeit mehr betonen wiirde.
9    — neuntheiliger (neunzahliger) Takt, bestehend aus drei Gruppen
von je 3 Zahleinbeiten.
= dreitheiliger (dreizahliger) Takt, bei dem jede Ziihleinheit durch
drei untergetheilt ist.
4
3
2.3
3
3.2
3
= viertheiliger (vierzahliger) Takt, bei dem jede Zahleinheit durch
drei untergetheilt ist.
= sechstheiliger (sechszahliger) Takt, bestehend aus zwei Gruppen
von je 3 Zahleinbeiten, die weiter durch drei untergetheilt sind.
= sechstheiliger (sechszahliger) Takt, bestehend aus drei Gruppen
von je 2 Zahleinheiten, die durch drei untergetheilt sind.
= achttheiliger (achtzahliger) Takt mit Untertheilung durch drei.
8
3
9
= neuntheiliger (neunzahliger) Takt mit Untertheilung durch drei.
Diese Eeform der Taktvorzeichnung ist niclits anderes als eine
Durchfflhrung des Gedankens, der in der Unterscheidung des Alia-
-ocr page 54-
11. Vorschlage zu einer Beform der Taktvorzeichnung.
45
brevetaktes vom Viervierteltakt steckt. Eine Taktart, welche den Werth
von vier Vierteln ausfftllt, wird mit 4 zu bezeichnen sein, wenn die Viertel
Zahleinheiten sind, mit 2 dagegen, wenn nach Halben gezahlt wird; aber auch
der nur zwei Viertel enthaltende Takt muss mit 4 bezeichnet werden, wenn die
Aclitel Zahleinheiten sind.*) Takte mit 8 oder 9 Zahleinheiten sind sehr selten,
wenn sie aber vorkommen, miissen sie mit 8 oder 4.2 (2.4) resp. 3.3 oder 9
(was ja wie 4 absolut nicht missverstanden werden kann) bezeichnet werden.
Die folgenden links stehenden Taktvorzeichnungen wiirden daher den rechts
stehenden metrischen Bildungen entsprechen:
nder auch:
a
r
—WnWW^M
2.3
0
IV
l.^T-.-i™
*) Die Bestimmung der Zahleinheiten ist keineswegs willkiirlich. Die Skala der Zeit-
worthc dor Zahleinheiten ist zicmlich eng begrenzt. Der sehliohte Zahlwerth, der dem
Tempo den asthetischen Worth des nicht schnellen und auch nicht langsamon ver-
leiht, ist etwa dio mittlere Pulsgeschwindigkeit (75—85 in der Minute) entsprechend.
Wird dor Zahlwerth verkiirzt, so entsteht der Eindruck schnollorer Bewegung, wird er ver-
langcrt, so entsteht ein langsameres Tempo; doch wird dio Vorkiirzung nicht bis zur Halfte
(160) und die Verlangorung nicht bis auf das doppelte (40), jedenfalls beides nicht weiter
ausgodchnt. Werthe wie 40 M. M. wird man schon gern in zwei Zahleinheiten zerlegen
und solchc von 140—160 gern zu zwoicn oder dreien zusammenrechnen. Wo daher die
Achtel don Zeitwerth 100 M. M. haben, wird man stets sie und nicht die Viertel, denen
dann 50 zukame, als Zahlwerthc auffassen, dosgleichen wo die Halben = 80 metronomisirt
sind, sie und nicht die Viertel (die = 160 waren) als Zahlwerthe verstehon. Angesichts
dieser cngen Grenzen ware es sehr wohl durchiuhrbar, dass wir den Halben, Vierteln und
Achteln wieder eine bestimmtere absolute Geltung zumaszen, wie solches in friiheren Jahr-
hunderten der Fall war; jetzt giebt es Tempi, in denen die Halben schneller gehen als in
anderen die Sechszehntel. Wozu das? Man konnte ein i'iir alle Mai die Halben als Zahl-
werthc wirklich langsamer Tempi (etwa 60—80), die Achtel fur sChnelle Tempi (100—130)
und die Viertel fiir massige Bewegung, das eigentliche schlichte Tempo (80—100) normiren,
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T. Metrische Schemata in gloiohon Werthen.
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*) Von hier an sind die Zahleinheiten durch nach oben gestrichene, die Unterthoii„„B
durch nach unten gestrichene Noten ausgedriickt.
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11. Vorschlage zu einer Reform der Taktvorzeichnung.
47
2.3 .
3
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Die Durchfiihrung einer Reform wie der hier angedeuteten mlisste natiirlich
von den Komponisten ausgehen. Da denselben daran gelegen sein muss,
dass ihre Werke recht verstanden und so intensiv wie moglich genossen werden,
so sollte man meinen, sie miissten gern jedes Mittel ergreifen, um zu verhilten,
dass jemand doppelt oder halb so viel Zahleinheiten empfindet, als er empfunden
haben will. In einem Aufsatz fur E. Breslaur's „Klavierlehrer" *) habe ich darauf
hingewiesen, dass in der Wabl der Taktvorzeichen mancherlei Willkiir herrseht,
und dass auch in der Wahl der Notenwerthzeichen fur die Zahleinheiten kein
Princip festgehalten wird, sodass in em em Tonstiiek die Halben schneller sind
als in einem anderen die Achtel oder gar Sechszehntel. Da ich den dort dar-
gelegten Gedankengang nicht gern reproducire, so begnlige ich mich, auf den
Artikel hinzuweisen.
*) „ Vorschlage zur Beschrankung der Willkiir in der Wahl der Notenwerthe fur die
Taktschlage". Der Artikel ist langst gesetzt (seit 1882), aber immer noeht nicht ge-
druokt (1884).
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48 II. Rhythmisohe Bildungen durch Zusammenziehung mehrerer Zahleinheiten.
II. Kapitel.
Rhythmische Bildungen durch Zusammenziehung
mehrerer Zahleinheiten.
§ 12. Zweizeitige Zusammenziehung im zweitheiligen
und dreitheiligen Takt.
Die Zusammenziehung vermindert die Lebendigkeit, sie setzt an Stelle
zweier Tone von verschiedener Tonhohe oder an Stelle der geforderten zwei-
maligen Angabe desselben Tones einen lang ausgehaltenen Ton: aus § 3 wissen
wir, dass damit aueh das crescendo und diminuendo in ihrer Wirkung ab-
geschwacht werden, weil durch die Beseitigung eines Tonanfangs ein Ankss
zur Vergleichung der Tonstarke-Grade wegfallt. Diesem Verluste an Energie
im kleinen steht aber als Ersatz gegeniiber ein Gewinn an Gravitat; die lang-
samer einherschreitende melodische Bewegung ist wiirdevoller, ernster und ver-
mag daher trotz verminderter Leiden sehaftlichkeit eine ausserst nachdriickliche
Gewalt zu aussern. Durch fortgesetzte Zusammenziehung zweier Zahleinheiten
zu langeren Tonen wiirden diese letzteren die Bedeutung von Zahleinheiten ge-
winnen; der veranderte asthetische Wertli der Motive wiirde dann nur auf das
veranderte Tempo zurtickzufiihren sein (vgl. z. B. das in halben Noten gehende
Schlussthema des ersten Satzes von Beethoven's Sonate, op. 10, 3). Wo da-
gegen einzelne Zusammenziehungen den glatten Fluss der metrischen Einheiten
hemmen, ist die Wirkung eine wesentlich andere. Die durch die Kontraktion
geschaffenen Langen werden zur Folie ftir die doppelt so schnellen metrischen
Einheiten und diese erscheinen, aueh in langsamem Tempo, als Reprasentanten
des Lebendigen, Belebenden; allerdings erscheinen andererseits die Langen aueh
als hemmend, lastend, ersehlaffend: der erstere Eindruck ist aber entschieden
der tiberwiegende; die aus Langen und Kitrzen gemischten Motive erhalten eben
durch diesen Wechsel ein besonderes Interesse. Wenn der glatte Verlauf der
melodischen Bewegung in gleichen Werthen das Metrum am reinsten zur
Geltung bringt, so berubt das Wesen des Bhythmus in dem Wechsel von
Tonen verschiedener Dauer. Das durch die wechselnde Geschwindigkeit der
Tonfolge innerhalb eines festsehenden Schemas neu hinzukommende Moment ist
in der Wirkung der dynamischen und agogischen Schattirung verwandt, aber
weit vielgestaltiger als diese. Ueber das Niveau der durch das Metrum ge-
gebenen Bewegungsgeschwindigkett erheben sich die tanzenden Wellchen der
Untertheilungen, wahrend die Zusammenziehungen einen tiefer gebenden Wogen-
schlag bringen.
Die zweitheiligen Taktarten verlieren durch die Zusammenziehung
zweier Zahleinheiten zu einer die einzige Tonhohenveranderung, die dem
illlllfll
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12. Zweizeitige Zusammenziehung im zweitheiligen und dreitheiligen Takt.         49
Motiv moglich ist, d. h. das Motiv schmilzt zu einem einzigen Tone zu-
sammen:
f== \
2 j»" I und 2 f»^pf ' ( richtiger 2 ■
es versteht sich, dass ein solches eintoniges Motiv seiner Dynamik nach nur
recht verstanden werden kann, wenn eine Anzahl zweitb'niger, das Metrum klar-
stellender, vorausgegangen sind:
i
^g^E
-s-
sfz
psmm^Fmm-
Der dreitheilige Takt kann das erste und zweite oder das zweite und
dritte Taktglied zusammenziehen, sodass seeks verschiedene rhythmische Motive
eutstehen:
anbetont.
inbetont.
abbetont.
Gleich das erste dieser Motive zeigt die eigenthiimliche Wirkung der Zu-
sammenziehung; so allbekannt uns der Bhythmus ist, so muss doch konstatirt
werden, dass eine Verkettung mehrerer solcher Motive von der Auf-
fassung abgelehnt, d. h. umgedeutet werden wtlrde und zwar in II
Der Grund ist der oben bereits angezeigte, dass gegeniiber den zusammen-
gezogenen Werthen die nicht zusammengezogenen als belebende Elemente auf-
treten; es wird sich daher nach einer solchen aus mehreren Zeiteinheiten zu-
sammengeflossenen Lange, die einen Stillstand der durch das Metrum gegebenen
Bewegung bedeutet, die freie Zeiteinheit als ein neues Einsetzen dieser Be-
*) S. weiter unten; vgl. auoh § 20. Die parallelen Striohe sollen gleichbleibende Ton-
starke anzeigen.
Riemann, Mus. Pynamik und Agogik.                                                                                          4
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50 H. Khythmische Bildungen durch Zusammenziehung mehrerer Zahleinheiten.
wegung, als ein neuer Anfang geltend macben. Die fehlerhafte Bezeichnung
unserer gewohnlichen Ausgaben:
%
Se3E
it^
-ah
erscheint daher auch da nicht haltbar, wo nicht wie hier ein Auftakt die gegen-
theilige Intention des Komponisten verrath, z. B.
(0 (i)
te
^
-&*■
V
&^
W:
Hier sind bei (0 Unterbrechungen der gleichmassigen Motivverkettung: vom
zweiten zum dritten Takte ein tiberkompletes [
ein anbetontes if—
• • » ], sodann
inkompletes ( J statt: J J J.
Die drei Langen nacb einander veranlassen aber die Auffassung eines aus
zweien derselben bestehenden Doppeltaktmotivs: i i i j | i i .
Es ist unschwer zu erkennen, dass die Lilnge gern als Motivgrenze
verstanden wird. Das dreizeitige Motiv mit Zusammenziebung zweier Zeiten
ahnelt in seiner Wirkung sehr dem zweizeitigen; besonders sind einander verwandt:
(3 zeitig)                    (2 zeitig)
r
P         und ■ I •
und
I
Bekanntlich untersebeidet sicb die antike und die moderne Bebandlung der
poetischen Metrik besonders darin, dass die antike Lehre langere und kiirzere
Silben untersebeidet*), die moderne dagegen starkbetonte und schwachbetonte.
Die Prinzipien der modernen poetiscben Metrik ubertrug man ohne weiteres auf
die musikaliscbe Metrik und gelangte so zu der mebrfach erbiuterten Accent-
theorie; ich glaube bereits binreicbend erwiesen zu baben, dass die Accentuations-
lehre fur die Musik nicbt ganz korrekt ist, dass sie eine den veranderten Grund-
bedingungen Becbnung tragende Modification (Ersetzung der Accentsteigerung
durcb stetiges crescendo etc.) erleiden muss. Die Wirkung der musikaliscben
Motive ist jedocb aucb nacb Ersetzung der Accentabstufung dureh die stetige
*) Lotze, „Geschichte der Aesthctik in Deutschland", S. 300, bezweifelt auch, dass die
Deklamation wirklioh verschiedene Zeithwerthe festhielt, sodass die antike Tkeorie der
Metrik auf einen Irrthum, auf die Verwechselung verschiedener Zeitdauer mit verschiedener
dynamischer Qualitat basirt gewesen ware. Die Moglicbkeit einer solchen Verwechselung
bestatigt der agogische Accent (§ 22).
.^swl!
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12. Zweizeitige Zusammenziehung im zweitheiligen und dreitheiligen Takt. 51
Tonstarkeveranderung eine den Versftissen ahnliche, da, wie wir mehrfach be-
merkten, die Tonhohenver&nderung innerhalb der stetigen Schattirung Stufen
markirt. So erhalten wir also in der musikalischen Metrik wie in der poetischen
zweierlei Formen fur jeden der bekannten Versfiisse:
i. d. poetischen Metrik.                                        musikalisch.
■ -                                                                                                            _
antik: seit Opitz:                metrisch:         rhythmisch:
i i i r
1.   Trochaus:
2.   Iambus:
Aber wie in der poetischen stellt sich aucli in der musikalischen Metrik
heraus, dass die beiden Formen nichts weniger als identisch sind. Das Wort
„ein" hat z. B. einen Diphthong, also langen Vokal und ware nach antiker
Theorie lang zu messen, ist aber nach moderner zumeist accentlos; „Mann" hat
einen kurzen scharfen Vokal und ware nach antiker Messung kurz; „ein Mann"
ist aber nach moderner Prosodie ein Iambus statt ein Trochaus. Aehnlich wiirde
man fehlgehen, wollte man meinen, ein metrisches Schema in ein rhythmisches
von gleicher oder ahnlicher Wirkung verwandeln zu konnen, wenn man statt
der dynamischen Hauptnote des metrischen Motivs im rhythmischen eine Lange
setzt. Sobald die Lange an Stelle der dynamischen Hauptnote eintritt, wird
sich die Neigung bemerklich machen, die Motive abbetont zu verstehen, auch
wenn sie anbetont gemeint waren. Die Lange wird eben lieber als Motivgrenze
verstanden, sei es, dass der zweite Zeitwerth derselben nur als Analogon der
bekannten Zeitzugabe zum Motiv wirkt oder dass die durch die Zusammen-
ziehung ausgedriickte Stockung der Bewegung die Auffassung des Endens,
Aufhorens bedingt. Das tritt eklatant hervor darin, dass als dem anbetonten
zweitheiligen Takte analoge rhythmisehe Bildung nicht die Folge: lang-kurz,
sondern vielmehr: kurz-lang empfunden wird:
2 n i n i n i n
3 0 fi> |
71 n i n
Nur wo harmonische Verhitltnisse die Zuriickbeziehung der Kilrze auf die
vorausgehende Lange fordern (z. B. wenn die Lange Dissonanz und die Kiirze
Auflosung ist), wird die metrisch-rhythmische Bildung
3 P>
direkt und zweifellos verstandlicb. Die auf die Kiirze abbetonte, die lange
Note ins crescendo stellende Form
r i r f
■iiiii'
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52 H. Ehythmisohe Bildungen durcli Zusammenziehung mehrerer Zahleinheiten.
ist wohl verstandlich und sehr wirksam, wenn auch unter Umstanden die Auf-
fassung 0 fit vorzuziehen sein wird. Aber diese scheinbare Ausnahme er-
weist sich bei naherer Betrachtung aus einem ganz ahnlichen oder demselben
Prinzip erklarbar, wie die Eegel; barmonisch bedeutsame Tone (Dissonanzen,
Vorhalte) verlangen namlicb stets eine nicht unbetrachtliche Verlangerung (ausser
dem dynamischen Accent), um dem percipirenden Geiste die Auffassung ihrer
Bedeutung zu erleichtern: Diese Zeitzugabe erscheint nun in den erwahnten
Rhythmen zur Verdoppelung des Notenwerthes erweitert, wie in den anderen
Fallen die durch das Lesezeicben markirte Zeitzugabe am Ende des Motivs er-
weitert erschien. Weitere Zeitzugaben zu den mit der Lange ab-
schliessenden Motiven sind daher nie erforderlich.
Eine Bildung ganz anderer Art ist nun aber die Zusammenziebung der
dynamischen Hauptnote mit dem ihr vorausgehenden Werthe:
\ i i r
Wir wissen, dass das Verharren auf derselben Tonholie die Auffassung der
dynamischen Scbattirung erschwert (§ 3); der dynamische Gipfel wird daher
als soldier nicht geniigend hervortreten, wenn ihn nicht eine Tonhohenver-
anderung heraushebt. Aus diesem Grande wird eine besondere Verstarkung
der vorausgehenden (crescendo-)Note erforderlich, um die Aufmerksamkeit zum
Voraus auf den tiber den Taktstrich hiniiberragenden Ton zu lenken. Diese
besondere Verstarkung ist natiirlich zunaehst nur Accent, wir sahen aber bereits
beim schlichten zweitbeiligen Takt (§ 3), dass das nach dem Accent nothwendige
abnehmen und wieder anwachsen gewohnlich wegfallt und die accentuirte
Note stark ausgebalten wird bis zum Eintritt der ebenso starken dynamischen
Hauptnote; ja die letztere konnte sogar gegeniiber der accentuirten als schwacher,
selbst als p gegen / erscheinen: eine ahnliche Verschiebung der Dynamik er-
folgt hier, indem die von der iiber den Taktstrich reichenden Lange absorbirte
dynamische Hauptnote als solche ganz aufgegeben und das ganze Motiv als
anbetont schattirt wird:
• •^_:—■ • * •
III I
Eine solche Verschiebung der Dynamik eignet, wie wir sehen werden, der
Synkope (§ 13), mit welcher daher die in Bede stehende Bildung Verwandt-
schaft hat.*)
*) Diese Motivirung der ruckweisen Verstarkung des Einsatzes der synkopirten dyna-
ihischeii Hauptnote war mir nooht nieht klar geworden, als ich meinen Vortrag: „Der Aus-
druck in der Musik" (Leipzig, Breitkopf & Hartel, 1883) sehrieb; dieselbe ist daher als
Eektifikation der abweiohenden Erklarungen S. 20 jenes Vortrages anzuselien.
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13. Zweizeitige Zusammenziehung im viertheiligen Takt. Synkope.
§ 13. Zweizeitige Zusammenziehung im viertheiligen Takt. Synkope.
Der viertheilige Takt ergiebt, wenn zwei Zeiteinheiten contrahirt werden,
folgende rhythmischen Motive:
4 m  r   \t \  (Dak,yius)
i p P    p    \    p P     p    (Amphibrachys)
I I               I             I         I I                I
i p~ p     P    \    p 0     P   (Anapast)
(anbetont)
P p (Amphibrachys)
p (Anapast)
000 (Daktylus)
> ('/4 auftaktig)
*/.-
'*/-
p
(Anapast)
4 P \ 0 0 & I 0 0 (Daktylus)
■ (% ['A] auftaktig)
(Amphibrachys)
0
r r i r r
(Daktylus)
(Amphibrachys) } (abbetont)
(Anapast)
4 P
i i i
Die anbetonte daktylische Reihe wild, wo nicht Hinderungsgrtinde har-
monischer Natur vorliegen, lieber als 2/4 auftaktige anapastische Reihe (als
solche abbetont) oder als 1/i auftaktige amphibrachische verstanden werden,
desgleiehen die amphibrachische anbetonte lieber als 1ji auftaktige anapastische,
wahrend die anapastische anbetonte Reihe sich zwar etwas schleppend, doch
wohlverstandlich erweist und zu Umdeutungen keine Veranlassung giebt. Die
1li auftaktige daktylische Reihe erfordert wieder die Anticipation des dynamischen
Hohepunktes, d. h. sie gehort unter die synkopischen Bildungen, welche sammt-
lich verstandlich, aber auch sammtlich die Auffassung stark anstrengend sind;
die 2/i auftaktige amphibrachische und die 3/4 auftaktige anapastische, die gleich-
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54 II. Rliythrnische Bildungen durch Zusammenziehung mohrerer Zahleinheiteii.
falls synkopisch sind, erfordern eine ruckweise Verstarkung, welclie das strenge
Legato filr das Motiv fast unmoglich macht (vgl. Kap. VII):
sf
i
©s
^
vgl. Beethoven, Op. 2, III, Takt 116 ff. und Op. 22, Eondo, Takt 25 ff.
Die Liinge erweist sick in crescendo durchaus nicht storend und keinerlei
Umdeutung veranlassend, wenn sie auch die Auffassung etwas anstrengt, sie
macht im Gegentheil das crescendo wuchtiger:
Da der viertheilige Takt doch fur die Auffassung letzten Endes stets ein
zweimal zweizeitiger bleibt, auch wenn durch strenges Legato und durchgehende
dynamische und agogische Schattirung die moglichste Verschmelzung vollzogen
ist, so kann es fur die Auffassung nicht gleichgiltig sein, ob die Kontraktion
die beiden kleinen Motive enger verschweisst oder aber nur innerhalb eines der-
selben stattfindet und dieselben somit gesondert erhalt.
Letzteres ist der Fall bei den Formen:
(Dntertheilungen
anbetont)
i f
I I
(Untertheilungen
abbetont)
sf
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13. Zweizeitige Zusarnmenziehung im viertheiligen Takt. Synkope.               55
ersteres dagegen bei den Formen:
(Untertheilungen anbetont)
4 •
r
r I r r
(Untertheilungen abbetont)
4 9 •^_l_^» • (Untertheilungen anbetont)
4 • & \ m (Untertheilungen abbetont)
r r i r
Im Sinne wirklicher Doppelzweitheiligkeit (die Schattirung getlieilt gedacht)
sind diese verscbweissten Bildungen Synkopen; wir sehen aber hier, dass es
zwei grundverschiedene Arten der Synkope giebt, deren eine, die wir die
leichte nennen wollen, dem dynamisehen Schwerpunkt des Motivs seine Stelle
lasst, wahrend die andere, die s eh were Synkope, inn verscliiebt:
r I r r™ rTr r r
leiehte Synkope
r r rTr "
• *o^-p f aus f r r i*
sohwere Synkope
r r r
Bei der ersteren Art der Synkope fallt der Beginn der langen Note mit
dem Scliwerpunkte eines der beiden Motive zusammen; bei der zweiten dagegen
wttrde der Schwerpunkt auf die zweite Halfte der langen Note fallen. Die lange
Note verlangt aber stets einen mehr oder minder starken Anfangsaccent als
Entschadigung fur den Ausfall der Tonhohenveranderung; dieser fallt also bei
der leichten Synkope auf die Stelle, wo eines der kleinen Motive seinen Schwer-
punkt hat ( e o | » ), in einem Falle sogar auf den dynamisehen Gipfelpunkt
des ganzen Motivs [ T I S^m \ wo er naturlich ohne Belang ist, verstarkt da-
b                       Villi/
gegen im anderen Falle den schwacheren Ton des Motivs auf Kosten des nach-
stehenden starkeren ( W~~» J un& verlegt in einem Falle sogar den dyna-
misehen Gipfelpunkt f • P»-L-P P )• Dock auch die Falle, wo die Zusammen-
ziehung nur das eine der beiden Motive trifft, sind keineswegs gleichwerthig.
-ocr page 65-
56 II- Rhythmische Bildungen durch Zusammenziehung mehrerer Zahleinheiten.
Der die lange Note einleitende rhythmische Accent trifft in zwei Fallen mit dem
dynamischen Gipfelpunkt des Motivs zusammen ( h^=T~~0 und tTT^Ty J, von
denen allerdings der erstere zu den umzudeutenden gehort; in zwei anderen
Fallen bezeichnet er die Stelle des Schwerpunktes im zweitheiligen Motiv
( • • o und ~p \ ^~m J; in alien den Fallen aber, wo die zweitheiligen
Glieder abbetonte sind, trifft er auf die schwachere Note des Motivs und ver-
starkt diese auf Kosten der folgenden starkeren [ t> • i • und ~t \ i^^l? |;
Villi           lli fi
in zwei Fallen sogar die Verschiebung des dynamischen Gipfelpunktes des
Motivs bedingend [ • • »J_» und • I • • • ]. Wir haben aber solche
6 \\ r i ^n i -r\ i ' J
Bildungen als der Synkope verwandt, als synkopisch bezeichnet; sie theilen die
Eigenschaft der Synkope und zwar der gewohnlich nur mit diesem Namen be-
legten schweren Synkope, die Dynamik wesentlich zu verandern und Zeitwerthe,
die im einfachen Schema von untergeordneter Bedeutung sind, in den Vorder-
grund zu stellen.
§ 14. Zusammenziehungen im fiinftheiligen und
siebentheiligen Takt.
Der fiinftheilige Takt, den die Taktlehre gewohnlich als Curiositat nur
einmal erwahnt und dann unerortert lasst, wird in einigen Formen gerade durch
die Zusammenziehung zweier Taktglieder viel leichter verstandlich. Wenn ich
auch hier keineswegs fur denselben kraftigere Propaganda machen will, so halte
ich mich doch fiir verpflichtet, darauf hinzuweisen, dass besonders die Zusammen-
ziehung der dynamischen Gipfelnote mit der nachstfolgenden die Taktart sehr
acceptabel macht:
5 P ~m 0 & li 0 0 (anbetont)
(besser in die abbetonte Form angedeutet).
5 ~0 I f==^^~0 T I f==0=~0 (V6 Auftakt)
i
(2/5 Auftakt)
(3/5 Auftakt)
-ocr page 66-
15. Zweizeitige Zusammenziehung im sechstheiligen Takt.
Auch im crescendo findet die Lange mit Gltick Platz:
57
5 t
r r r r I r r r
(2/5 Auftakt)
(3/5 Auftakt)
"(abbetont)
Auch auf einige rhythmische Gestaltungen des siebentheiligen Taktes
sei hingewiesen:
7 r Tf r I h ' rTTr I n'
7 r r rlr r r'r r rlr r r"
oder init zwei Zuaammenziehungen:
7 rTr I r>' FT? I r>'
7rTrlr=>irftlf=rl
§ 15. Zweizeitige Zusammenziehung im sechstheiligen (2/3) Takt.
Der seehstheilige Takt, als 2/8 Takt gefasst, gestattet innerhalb jedes der
beiden ihn zusammensetzenden dreitheiligen Motive zwei Formen der Zusammen-
ziehung; dazu kommen die iibergreifenden Zusammenziehungen (Synkopen).
Die Zahl der verschiedenen dadurch moglichen rhythmischen Gestaltungen ist
daher eine ziemlich grosse. Die anbetonten iibergehen wir, da dieselben ge-
gewohnlich umgedeutet werden und zwar in die mit der Lange endenden oder
auch in die mit Lange beginnenden Formen.
»fir in p|p p u
" i ' i n I ■ r
a 0-00 0 0 0 10 0 0 0
(Ve auftaktig, sammtlich gut).
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58 II. Khythmische Bildungen durch Zusammenziehung mehrerer Zahleinheiten.
ii- - i
3 r i ust r I lit &
s ?ifri"c/irn
% auftaktig, sammtlich gut).
2    "^
Q * <
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LJ I J U I
3 1' I (LIT P 1' I r P P
3 StST* ''ifTllfl
3 us\t p iirlr •
3 n* I Ł' cjitip r
(3/e [V>] auftaktig, die dritte wohl
meist umgedeutet in die mit der
Lange beginnende Form).
3 ? r I nr * r I ii'
o # • I # • •      »»!•••
3 t r • I ir p r m !•
. (4/c auftaktig, sammtlich gut).
' 11/ I IT J ILf I K
3? illtIi;"? p r
1'
3 rSjT? "rs^T^
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16. Zweizeitige Zusammenziehung im neuntheiligen Takt.
59
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U LLJ I k U I 1/1 "
(abbetont, sammtlich gut).
Q     • •     »     » ! •       0 0          I ! •
3 U Mil/ LI M I P
U LL I " M fj I P
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C/ llj' 15 U llj' 15 )
§ 16. Zweizeitige Zusammenziehung im neuntheiligen Takt.
Der neuntheilige Takt ist natiirlich noch reicher an moglichen Gestaltungen;
er mag den Beschluss bilden; die noch grosseren Taktarten werden wir besser
als dureh Untertheilung entstanden auffassen. Die anbetonten Formen lasse
ieh aus, da sie in die auftaktigen umgedeutet werden.
Plr * n/ u nr &
u
3 r> iir r p ir 'p cu r p ir
3 t\tij lLT r tirjj lLT r
3 ' llj' LLT IT '
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(*/» Auftakt,
sammtlich gut).
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9 0 0
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LLJ U " LLJ LLJ U
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60 II. Ehythmisehe Bildungen duroh Zusammenziehung mehrerer Zahleinheiten.
* c/lpr us p" cj" I p r us t
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>' llV P
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16. Zweizeitige Zusammenziehung im neuntheiligen Takt.
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62 n. Rhythmische Bildungen (lurch Zusammenziehung mehrerer Zahleinhe
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16. Zweizeitige Zusammenziehung im neuntheiligen Takt.                       63
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Sowohl im crescendo als decrescendo bewirkt der die lange Note hervor-
hebende Accent, wenn er nicht den Anfang oder Schluss der ganzen neun-
theiligen Gruppe bildet, eine Untergliederung derselben, in ahnlicher Weise,
wie wir sie zuerst im § 8 und seitdem ofter durch melodische Wendungen
herbeigeftihrt sahen. Die lange Note wird im Allgemeinen gern als Ende ver-
standen werden, wo aber nur ein Taktglied iibrig bleiben wiirde, nattiiiich als
Anfang, d. h. in den Motiven:
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64 n. Rhythmische Bildungen durch Zusammenziehung mehrerer Zahleinheiten.
Auch wird sie, wo sie auf den Anfang eines der den neuntheiligen Takt
zusammensetzenden dreitheiligen Motive fallt, wenn diese abbetont sind, die
Yerschmelzung der Motive lockern, also in den Fallen:
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Dagegen wird sie Tripelmotive fester verkitten, wo sie das Ende des einen
mit dem Anfang des andern verknupft; die beiden waehsen dann wenigstens
fester zusammen und bilden, wenn sich der Best loslost (wenn die lange Note
als Ende wirkt) eventuell unregelmassige (d. h. nicht drei- oder secbstbeilige)
Motive, z. B.
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Wir sehen also, dass diese einfacbste rbytbmiscbe Modification des metrisehen
Scbemas die Auffassung in der mannichfaltigsten Weise bestimmt und bereits
ein ausserordentlich vielgestaltiges Leben bedingt. Man beachte aber, dass die
durcli das Metrum gegebene dynamische Schattirung zu Recbt bestehen bleibt;
wo die Auffassung umspringt, wechselt allerdings die dynamische Schattirung,
aber die neue dynamische Schattirung ist auch wieder gegeben, sobald die Auf-
fassung sich fur eine andere metrische Form entschieden hat.
§ 17. Mehrmalige Anwendung der zweizeitigen Zusammenziehung
im 2/3 und 3/8 Takt.
Der sechs- und neuntheilige Takt lassen die Zusammenziehung zweier Zeit-
einheiten zu einer Lange mehrmals zu; der sechstheilige Takt mit zweimaliger
Anwendung der Zusammenziehung ergiebt die Khythmen:
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17. Mehrmalige Anwendung der zweizeitigen Zusammenziehung im 2/3 und 3/3 Takt. 65
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Ich unterlasse es, auch die im neuntheiligen Takte durch zwei- und drei-
fache Anwendung der Zusammenziehung zweier Einheiten entstehenden Rhythmen
nachzuweisen, mit um so leichterem Gewissen, als die meisten derselben sich
nur als Uebersetzungen der zweitheiligen Gebilde (hoherer Ordnung) des
2/8 Taktes ins dreitheilige erweisen konnen, z. B.
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Zur Verhiitung einer ttbermassigen Ausdehnung und Vertheuerung dieses
Buebes beschranke ich mich auf das nothwendige, und iiberlasse die Ausftthrung
des fehlenden dem angeregten Interesse des ernstlich Strebenden.
Riemann, Mus. Dynamik und Agogik.
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-ocr page 75-
66 H. Rhythmische Bildungen durch Zusammenziehung mehrerer Zahleinheiten.
§ 18. Durchgeftihrte zweizeitige Zusammenziehung im viertheiligen
und sechstheiligen Takt. Dreizeitige Zusammenziehung. Punktirung.
Der viertheilige Takt verwandelt sich durch zweimalige Anwendung der
zweizeitigen Zusammenziehung in einen zweitheiligen von doppelt so langsamer
Bewegung, desgleichen der sechstheilige durch dreimalige Anwendung der Zu-
sammenziehung in einen dreitheiligen von doppelt so langsamer Bewegung. Die
Verhaltnisse liegen aber flir den 2/2 und 2/8 Takt natlirlieh nicht gleich; bei
jenem bedeutet die fortgesetzte zweizeitige Zusammenziehung eine Wegschaffimg
der Untertheilung, bei diesem dagegen eine der Untertheilung widersprechende
Synkopenbildung:
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Das der ersteren Bildung analoge im 2/3 Takt (wie im 3/8 Takt) wiirde die
fortgesetzte dreizeitige Zusammenziehung sein:
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Indess auch im viertheiligen Takte ergiebt die binare Zusammenziehung
einige Bildungen, die dem einfach zweitheiligen Takte fremd sind, namlich bei
der !/4 auftaktigen und der 3/4 auftaktigen (abbetonten) Form:
und
Diesen Bildungen entsprechen im 2/3 Takt die folgenden durch dreizeitige
Zusammenziehung der kleinen Motive entstandenen:
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18. Durchgefuhrte zweizeitige Zusammenziehung. Dreizeitige Zusammenziehimg.. (57
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Die dreizeitige Zusammenziehung ist im zweitheiligen Takt natiirlich un-
moglich; im dreizeitigen verwandelt sie das ganze Taktmotiv in eine einzige
lange Note, die Bedingungen fiir die Verstandlichkeit der Bildungen sind daher
dieselben wie beim zusammengezogenen zweitheiligen Takt (§ 12). Dagegen
ergiebt sie eine neue wichtige rhythmische Bildung im viertheiligen Takt,
namlich die sogenannte Punktirung:
Wenn schon die zweizeitige Lange gem als Ende verstanden wurde, so
gilt das noch mehr von der dreizeitigen. Die obige Keihe wird, wenn nicht
harmonische Grande (Vorhaltslosung) zwingend diese Auffassung fordern, stets
umgedeutet werden in:
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68 n. Rhythmische Bildungen durch Zusammenziehung melirerer Ziihlemheiten.
Die anderen noch moglichen Bildungen sind:
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Der 2/3 Takt ergiebt, wenn die dreizeitige Zusammenziehung tiber die
Grenzen der ihn zusammensetzenden dreizeitigen Motive libergreift, noch fol-
gende Rhythmen:
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18. Durchgefuhrte zweizeitige Zusammenziehung im vier- und seehstheiligen Takt u. s. w. 69
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j.
Die entsprechenden Bildungen des 3/8 Taktes sind leicht zu konstruiren;
es sei nur erinnert, dass derselbe die iibergreifende dreizeitige Zusammenziehung
an zwei Stellen zugleich zulasst, z. B.
1 oder:
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u. s. w.
Wer einmal den reichen Gehalt an lebendiger Kraft und Be-
wegung, der in diesen metrisch-rhythmisclien Formationen steckt,
erkannt und empfunden hat, der wird es der Miihe werth halten, mit
Vollbewusstsein aus diesem unversiegbaren Borne zu schopfen und
die einzelnen Bildungen so mit musikalischem Leben zu fiillen, dass
sie voll und deutlich zur Geltung kommen. Bei naherer Ueberlegung
kann es kaum jemand fiir minder wichtig halten, die typischen
Grundformen der Rhythmik durch praktische Satztibungen der Dar-
stellung gelaufig zu machen, als etwa die Einfiihrung des tiber-
massigen Dreiklangs oder andere harmonische Details zu iiben. Der
Unterricht in der Metrik und Rhythmik ist in erster Linie Anschauungsunter-
richt; die durch Notenwerthzeichen, dynamische Schattirungen und Accentzeichen
dargestellten Rhythmen sollen vom Geiste direkt erfasst werden, ohne dass sie
in klingender Musik zur Geltung gebraeht werden; der schonere, lohnendere
Theil dieses Studiums wird aber die Verwandlung der Rhythmen in wahrhaftige
Musik sein. Dabei ist die Hauptschwierigkeit die Vermeidung solcher melodischen
und harmonischen Wendungen, welche geeignet sind, eine Umdeutung des dar-
zustellenden Rhythmus zu veranlassen. Bekanntlich verbinden sich am un-
gezwungensten steigende Tonhohe und crescendo, wie fallende Tonhohe und
diminuendo; jedenfalls ist der Wechsel der Richtung der melodischen Be-
wegung (§ 38) von ahnlicher Wirkung wie der Wechsel der dynamischen
Schattirung vom crescendo zum diminuendo und umgekehrt: man wird also
hinsichtlich der Melodik die Rhythmen am ungehindertsten gestalten, wenn man
mit der dynamischen Gipfelnote die Melodie wenden lasst. In harmonischer
Ilinsicht ist besonders darauf hinzuweisen, dass ein Vorhalt mit seiner natiir-
lichen Fortschreitung zusammengehort, die Auflosung der Dissonanz nur Ende,
-ocr page 79-
70          HI. Khythmische Bildungen duroh Untertheilung einzelner Zahleinheiten.
niclit Anfang sein kann, wahrend Durchgangstone stets auf das folgende hin-
weisen und keinenfalls abschliessen konnen. Unter Beobachtung solcher Ge-
sicbtspunkte, welche der als vorausgegangen angenommene Unterricht in der
Harmonielehre und im einfacben Kontrapunkt (Melodik) an die Hand giebt,
kann die Uebung im Satz der Rhytbmen keine besonderen Scbwierigkeiten
maehen. Dieselbe wird sich als ausserst wirksames Starkungsmittel der musi-
kaliscben Vorstellungskraft erweisen und die Pbantasie nachbaltig befrucbten.
Dass Beispiele, die der Lehrer zu geben bat, den selbststandigen Versuchen der
Schtiler vorausgehen mlissen, versteht sich wobl von selbst, wenn nicbt das un-
angenehme eintreten soil, dass der Scbliler mechaniscb die Zeitvvertbe melodisch
flillt, obne selbst die Rhytbmen empfunden zu haben. Immer wieder muss
icb darauf hinweisen, dass das Musikdiktat das geeignetste Mittel ist,
die Auffassung der Rhythmen zu ilben, vorausgesetzt, dass der Lehrer dasselbe
metbodiseh handhabt. Eine Anleitung habe icb in dem Artikel: „Das Musik-
diktat als Vehikel der Pbrasirungslebre" im Jabrgang 1883 des „Musikalischen
Wochenblattes" gegeben.
III. Kapitel.
Rhythmische Bildungen durch Untertheilung
einzelner Zahleinheiten.
§ 19. Untertheilungen im zweitheiligen Takt.
Untertheilungen nennen wir die Zerlegung von Zahlzeiten in kleinere
Werthe; diese letzteren werden dann nicht Zahleinheiten schnellerer Art, viel-
mehr ist immer wieder mit Nachdruck darauf hinzuweisen, dass die den
asthetiscben Eindruck eines Tonstiickes wesentlieb bestimmende Empfindung des
Tempo abhangt von der recbten Erkenntniss der Wertbe, welche als Zahlein-
heiten gelten sollen und dass eine Veranderung der Bestimmung der letzteren
die Empfindung der Tempo modifiziren muss. Alle die Auffassung der Zahl-
einheiten storenden rhythmischen Umgestaltungen, wie die schlichte Zusammen-
ziehung, Synkope und Punktirung, sind nacb dieser Richtung wirksam, am
wenigsten die sehliehte Zusammenziehung, welche den dynamischen Schwer-
punkten ihre Stelle wahrt, am meisten diejenige synkopirende, welche dieselben
veiruekt. Bei den grossen Zusammenziehungen, welche in der Verschmelzung
ganzer Zahlzeiten bestehen, trat das nocb verhaltnissmassig selten auffallend
hervor; desto mehr werden wir auffallende Wirkungen finden, wenn wir zur
Zusammenziehung von Untertheilungen kommen. Die Untertheilungen selbst
storen die Auffassung der Zahlzeiten nicht; die Zahlzeiten erscheinen stets durch
Toneinsatze markirt, zwischen welche sich weitere Tone einschieben. Niir wo
-ocr page 80-
19. Untertheilungen im zweitheiligen Takt.                                      J\
die Untertheilung von Zahlzeiten gemischt mit Zusammenziehungen auftritt, wird
die Auffassung durch die Untertheilung noch erschwert werden.
Die Unterzweitheilung eines Taktgliedes des zweitheiligen Taktes ergiebt
Bildungen, die denen analog sind, welche wir bereits durch Zusammenziehung
zweier Zeiten im viertheiligen fanden:
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(Zunachst ergeben sich nur diese schlichten Bildungen, da z. B. ein zwei-
theiliger Takt der Form: P I f f nicht existirt, also nicht untergetheilt
werden kann.) Die gefundenen vier Rhythmen haben aber eine ganz andere
Bedeutung als die aus Zusammenziehung des vierzahligen Taktes entstandenen:
in jenen wirkte die Lange hemmend, sodass die Zahleinheiten als lebendigeres
Element ersehienen; hier wirken die Kiirzen der Untertheilung anregend zu
einer iiber das Mass der Zahleinheiten hinausgehenden Bewegtheit, sodass die
Zahleinheiten relativ als Langen, wenigstens als die der Bewegung Sehranken
ziehenden, dieselbe zugelnden Elemente empfunden werden. Hier wie dort wird
aber gern die lebhaftere Bewegung der ktirzeren Tone als ein Anfang, als ein
Wollen, Streben, Drangen verstanden werden, dem die Langen ein Ziel zu
setzen scheinen, d. h. die anbetonte Form wird auch hier gewohnlich
in eine in- oder abbetonte umgedeutet werden. Nur im crescendo wird
auch hier wie in frtiher gefundenen Fallen (§ 13) die Lange ohne Umdeutung
als Anfang verstanden I | j j—7 J.
Die Unterdreitheilung und Unterviertheilung einer Zahleinheit im zwei-
theiligen Takte ergiebt die nicht wesentlich versehiedenen Bildungen:
und 2 P P P P P
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72         m. Rhythmische Bildungen duroh Untertheilung einzelner Zahleinheiten.
nur zwingt die erhohte Lebendigkeit der Untertheilung noch entschiedener zur
Umdeutung der anbetonten Formen in die abbetonten. Die dreitonigen Ge-
bilde der Unterdreitheilung sind nicht eigentliche Triolen, deren Wesen vielmehr
in einem Widerspruch gegen eine berrschende Zweitheiligkeit berubt und zu den
im V. Kapitel abzuhandelnden abweichenden Untertheilungen von Zusammen-
ziehungen gehort, welcbe die Auffassung der Zahleinheiten storen. Man braucht
nur diese Formen der Unterdreitheilung zu vergleichen mit den aus dem 2/3 Takt
durch Zusammenziehung der drei Einheiten eines Motivs niederer Ordnung ent-
stehenden, um einzusehen, dass hier nicht eine rhythmische Bildung von
irgend welcher Komplizirtheit vorliegt:
Die Unterzweitheilung beider Glieder des zweitheiligen Taktes ergiebt einen
viertheiligen aber zweizahligen Takt:
Hier vermissen wir aber noch immer die ganz gelaufigen Formen:
Durch Untertheilung in dem gewohnliehen Sinne sind diese nicht zu er-
klaren. Es ist aber offenbar ganz ungerechtfertigt, dass man Untertheilungen
stets nur im anbetonten Sinne annimmt. Man vergleiche folgende beiden Arten
der Auflosung desselben Motivs in kleinere Werthe:
-ocr page 82-
19. Untertheilungen im zweitheiligen Takt.
73
Sollte jemand nach reiflicher Ueberlegung bei c) in der Reperkussion die
Auflosung der Viertel der urspriinglichen Form sehen wollen?
Oder, da das wegen des dann allein am Anfang tibrig bleibenden ganz un-
erklarlichen Achtels g unmoglich ist — sollte jemand in c) etwas anderes sehen
wollen als eine Untertbeilung von a)? Es ist theoretiscb durcbaus nicbt korrekt,
dass man allgemein immer die zwischen die Zahlpunkte fallenden Zeittbeile auf
den vorausgehenden Zahlpunkt bezieht:
oder:
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Dieselbeu sind vielmehr sogar zumeist auf den nachfolgenden Zahlpunkt
zu beziehen:
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oder theils nach vorwarts oder theils nach ruckwarts:
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sodass die Untertheilungsmotive ahnlich den an-, in- und abbetonten,
aus mehreren Zfthleinheiten bestehenden Taktmotiven (§ 2) sich danach unter-
scheiden, ob der Zahlpunkt auf den Anfang, das Ende oder ein mittleres Glied
fallt. Der Kiirze wegen und zur Vermeidung einer Ueberladung der Terminologie
wollen wir auch die Untertheilungsmotive der ersten Art anbetonte, die der
zweiten Art abbetonte und die der letzten Art inbetonte nennen. Unleugbar ist
der eigentliche Trager der Zablzeit der Schwerpunkt, die dynamische Hauptnote
des Untertheilungsmotivs.
So gewinnen wir fur den zweitheiligen Takt durch abbetonte Unterzwei-
theilung zunachst die oben vermissten Formen:
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74         in. Khythmische Bildungen durch Untertheilung einzelner Zahleinheiten.
und durch abbetonte und inbetonte Unterdreitheilung die Formen:
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Wird nur eine der beiden Zahleinheiten in- oder abbetont untergetheilt, so
muss doch duvch diese Art der Untertbeilung der dynamische Werth der nicbt
untergetbeilten Zahleinheit bestimmt werden, d. h.
ist aufzufassen als: 2
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wahrend die beiden anderen moglichen Formen keiner weiteren Erlauterung
bedilrfen, da der Taktstrich dieselbe klar genug anzeigt:
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Die durch ab- oder inbetonte Unterdreitheilung nur einer Zeiteinheit
entstehenden rhytbmischen Umgestaltungen des zweitbeiligen Taktes sind sammt-
licb ausserst selten, da im Falle ihres Vorkommens die Notirung als 2/3 Takt
(6/4. 6/s> 6/i6) vorgezogen wird, welcbe die sonst schwer yerstandlicben Bildungen
zu ganz leicht verstandlichen macht:
-ocr page 84-
19. Untertheilungen im zweitheiligen Takt.
75
Soil dagegen die Taktart beibehalten werden, so muss eine nicht ganz
genaue vikarirende Notirungsweise Platz greifen, namlich:
Unterzweitheilung und Unterdreitheilung konnen aucli in der Weise kombi-
nirt werden, dass eine Zeiteinheit in zwei, die andere aber in drei untergetheilt
wird. Die Dreitheilung erscheint dann im Gegensatz zur Zweitheilung als
wirkliche Triole; doch ziebt die NotenscMft in alien den Fallen, wo die Triole
anders als anbetont auftritt, eine Schreibweise vor, welche die Triole als an-
betont in den Takt einreiht (wie oben). Die sich ergebenden Khythmen sind:
-ocr page 85-
76          HI. Rhytkmische Bildungen durch Untertheilung' einzelner ZaMeinheiten.
a) mit anbetonten Untertheilungen:
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b) mit abbetonten Untertheilungen:
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c) mit inbetonten Tiiolen:
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3 I                 II
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3 I!
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' & ' I LJ* ' ' H Lf
Die einzig Iiblicben rechts gegebenen Schreibweisen von b) und c) sind
zunachst inkorrekt, da sie die Triole auf die beiden Untertneilungsmotive ver-
theilen:
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19. Untertheilungen im zweitheiligen Takt.                                  77
Der Eintheilungsfehler wird jedoeh verschwindend klein, wenn wir die
agogische Schattirung in Betracht ziehen; denn im ersten Falle erleidet die
letzte Note des zweitheiligen Motivs eine nicht ausser Aeht zu lassende Ver-
langerung, wahrend im zweiten das allein im crescendo (vor dem Taktstrich)
stehende Achtel den promptesten Anschluss an die dynamische Gipfelnote for-
dert; es erscheint sogar die Schreibweise des zweiten und dritten Falles unter b)
(zwei Sechszehntel statt der im crescendo stehenden also etwas zu beschleunigen-
den Triolenachtel) als nur ganz unwesentliche Modification des eigentlichen
Rhythmus. Konnen wir so fur die Praxis mit der Ersatz-Schreibweise zufrieden
sein, so muss doch die Theorie fragen, ob die links gegebenen Notirungen denn
nicht verstandlich sind, also nothwendig die Vertretung durch die rechts ge-
gebenen fordern? Diese Frage kann nicht unbedingt bejaht werden. Historisch
steht dem entgegen, dass die Mensuralnotenschrift im 14.—15. Jahrhundert die
ttbergreifende (aus einem Notenwerth der naehst grosseren Art in den anderen
hinuberragende) Triole kannte, dass aber freilich schon das 16. Jahrhundert
dieselbe umdeutete; es sind das die Falle, wo die Schwarzung (Color) nach der
Erklarung der Theoretiker des 16. Jahrhunderts der Note den vierten (statt den
dritten) Theil ihres Werthes nahm, z. B. (a. d. 2. Kyrie von Obrecht's Messe
,Ave regina coelorum'):
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und auch von Obrecht so gemeint. Doch auch abgesehen von historischen
Analogien scheint mir die iibergreifende Triole nicht unfassbar, wenn sie auch
ein lossreissen von der durch den Taktstrich und die gemeinsamen Querstriche
anerzogenen Gewohnung an die anbetonte Zusammenrechnung der Untertheilungs-
werthe fordert. Um die iibergreifende Triole zu verstehen, denken wir uns am
besten die Taktvorzeichnung als § gewahlt, in welchem Falle die Glieder der
zweitheiligen Gruppe durch Punkte streng ihrem Werthe nach bezeichnet werden
konnen:
oder: ?
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d. h. das voile Verstandniss derselben ergiebt erst die Annahme einer ab-
weichenden Zusammenziehung von Untertheilungen zweiten Grades.
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78         HI. Rliythmische Bildungen durch Untertheilung einzelner Zahleinheiten.
§ 20. Untertheilungen im dreitheiligen Takt.
Die anbetonte Unterzweitheilung einer Z&hleinheit des dreitheiligen Taktes
ergiebt die Rhythmen:
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Wir hatten schon mebrfach Gelegenheit, zu bemerkeu, dass die abbetonten
Formen eines eigentliehen diminuendo entbebren; bei langsamerem Tempo,
welches der dynamischen Hauptnote ein merklicheres diminuendo gestatten
wiirde, erscheint diese daher gewohnlieh verkurzt, sei es durch gefordertes Ab-
setzen (Staccatopunkt) oder durch eine die Halfte des Notenwerthes vernichtende
Pause. Wird nun die dynamische Hauptnote getheilt (oben im 6. Beispiel), so
kann allerdings ein schnelles diminuendo ausgepragt werden, doch wird das
nur dann geschehen, wenn der zweite Ton der UntertheiluDg die Losung einer
Dissonanz ist, welche der erste Ton brachte, z. B.
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W-
j^^g
macht dagegen die Melodiebewegung einen harmonischen Schritt (Sprung) oder
wird derselbe Ton zweimal angegeben (reperkutirt), so wird der zweite Ton
M
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20. Untertheilungen im dreitheiligon Takt.
79
dem ersten an Starke nicht nachstehen, die Untertheilung wird also die Ab-
betonung nur noch nachdriicklicher markiren:
Fiir solcke und ahnliche Falle wollen wir uns hier eines besonderen Zeichens
fiir die gleichbleibende Tonstarke bedienen, namlich zweier parallelen Striche (=)
im Gegensatz zu den divergirenden des crescendo- und des diminuendo-Zeichens.
Ich babe micb dieses Zeichens bereits in den vorausgehenden Paragraphen be-
dient, wo in abbetonten Motiven der dynamische Hohepunkt durch Synkopirung
von dem Taktstrich geriickt war; hier also ware seine Anwendung:
Durch anbetonte Unterzweitheilung zweier Glieder entstehen folgende Formen
des dreitheiligen Taktes:
Von den anbetonten (1—3) ist nur die erste unbedingt verstandlich; bei
der zweiten und dritten wild stets die Umdeutung in eine der auftaktigen
Formen sich als geboten erweisen, wenn nicht besondere melodische oder har-
monische Kombinationen ihrer Auffassung zu Hiilfe kommen.
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80         HI. Rhytkmische Bildungen duroh Untertheilung einzelner Zahleinheiten.
Die abbetonte Unterzweitheilung eines Gliedes im dreitheiligen Takte setzt,
wie wir aus den analogen Unterzweitheilungen des zweitheiligen Taktes (§ 19)
wissen, eine Zersetzung sammtlicher Taktglieder in abbetonte Untertheilungen
voraus, sodass die Langen als Zusammenziehungen wirken und Accente be-
kommen. Der durchweg abbetont untergetheilte dreitheilige Takt unterscheidet
sich von den entsprechenden Formen des dreimal zweizeitigen Taktes nur da-
durch, dass er nur dreizahlig und nicht sechszahlig ist:
: u u ' t u u '
:uIut zu
U V
1              2
z u is z z u w I •
Mtissen wir die durchgefuhrte Untertheilung voraussetzen, so gehen wir
von ihr aus am naturliclisten zu der Zusammenziehung nur eines der kleinen
Motive und von dieser zur Zusammenziehung zweier ttber, welche als die ge-
suchte Untertheilung nur einer Zahleinheit erscheinen wird. Wir gewinnen also
zunachst die Formen:
i \ --~- \\
i i . n
z is u z z \ w z r
12             3
Z U U Z ' Z Z r U
12             8
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Z \ IS lS Z Z \U U Z
12             3
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3
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z is \ u z z u \ u z
1             2
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20. Untertheilungen im dreitheiligen Takt.
81
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2             3
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Sf^
t U U I I I LLU I I
■i                    3
Die mit zwei Zusammenziehungen resp. nur einer Untertheilung sind:
I _ I - II
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1           2           3
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3
» # » » » # » « » » •
1/ lj lj i/ i r i i I k
2                3
Naturlich konnen im dreitheiligen so gut wie im zweitheiligen Takt einzelne
Zfthleinheiten in drei statt in zwei kleinere Werthe zerlegt werden. Tritt eine
Kiemann, Mus. Dynamik und Agogik.                                                                                         Q
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82          HI. Rhythmische Bildungen durch Untertheilung einzelner Zahleinheiten.
solche Unterdreitheilung nur an einer Stelle auf, so erhalten wir zunachst
die Khythmen:
r lu r r lu r
3 llt r r ll/ r r
3 r r lu r r lu
3                                    3          J
3 LU r r r r r
3 f
r r r r
(?)
r r ll/
LL
3
r r r ll/
3 r Ll
r llt i r
3 l-lj- r i r li/ r i r
Wo das Unterdreitheilungs-Motiv in- oder abbetont auftritt, gewinnen die
nicht untergetheilten Werthe die Bedeutung von Zusammenziehungen in- oder
abbetonter Motive und die Taktvorzeichnung nimmt daher am besten von der
Unterdreitbeilung Notiz:
3
3 t
> i _ ii
lu lu u ' u r r
«■>'
*■''
i . « ii
3 ' I LLT LLVrj MiML/f
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20. Untertheilungen im dreitheiligen Takt.
83
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i _ _ i
3 PI LCJ LLT 1/ PI r P r P Lf
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1                     2
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1                    2             .'!
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3 P LLT ! LLT U r P I r P Lf
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i _ ii
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LJ LJ-J I L_L^ P L_f P I I p I
ii . i
3 Cftfj I LLT P '         LLf P
3                           12
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1                    2
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3 P LLf LCJ I L/ P LLf f P I f
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I                     I
'LLf LLf \ W f P LLJ
2                    3
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84         IH. Ehythmische Bildungen durch Untertheilung einzelner Zahleinheiten.
* full Lilr
H _ i _ i
3 is uj us I r u • r r i p
2                    3                            1
3 -^r=^-^-_ =
II _ I _ I
LLS '
1
* LflZr til
Die Unterdreitheilung mit in- und abbetonten Motiven in zweimaliger An-
wendung erseheint angesichts der Nothwendigkeit der Auffassung solcher Bil-
dungen als theilweiser Zusammenziehung bei durchgeftthrter Unterdreitbeilung
als einfachere und leicbter verstandlicbe Form, z. B.
Wir dttrfen die Aufstellung und Bezeichnung der Schemata getrost dem
angeregten Interesse tiberlassen. Desgleichen wollen wir nicht die Kombinationen
von Unterdreitheilung und Unterzweitheilung einzeln priifen. Dieselben sind
nach den im vorigen Paragraphen ftir die Untertheilung des zweitheiligen Taktes
erkannten Gesichtspunkten zu beurtheilen; die in den Untertheilungen anbetonten
sind leieht verstandlich, z. B.
L_" r r r r I ls r
3 * *
3
■''000000               0 0 0 0 0 \ 0 '
U LLS I I U [_LJ I
3                                                                    3
wobei aber zu betonen ist, dass diese Anbetonung der Untertheilung nur eine
scheinbare ist, das Ohr vielmehr die abbetonte Triole hort, namlich statt der
beiden eben notirten:
1 ^7^, i i                                        "T^
000        000 streng genommen sogar: 000000
■■*■■■                 w          w I                                                                                   L ■^^■•■■■w        i^^w
3                              12                                                                     3                       12
3 .                                                                 3
r U ' '''
woriiber unten mehr.
1                                     2                3                           1
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20. Untertheilungen im dreitheiligen Takt.
85
Dagegen gehoren die in den Untertheilungen in- und abbetonten zu den
am schwersten verstandlichen rhythmischen Problemen und dtirften nur in den
rechts beigeftigten vikarirenden Notirungen anzutreffen sein:
i < ii
gesohrieben: " m
I a I
M ' u c r
0 ' 0 0 0 ' 0
r r C-T r r
oder: 3
i. . i ii
Lr Cj' f
Die anbetonte Unterviertheilung einzelner Glieder des dreitheiligen Taktes
ergiebt einige bekannte Bildungen; dock ist sowohl im drei- als im zweitbeiligen
Takte die Unterviertheilung von besonderer Bedeutung, wenn sie mit Wieder-
zusammenziehung dreier Theile auftritt. Die Bildungen:
a f 0 a 0 I 0 0 k 0 P
3 0 0P0 0 0
Ł±±d I I
0 0 f 0 0
3 m 0 0 it 0 s       0 0 0 0 0 0
3 0 0 0 0 \ i 0
3 0 0 9 0 0
3 0 0 \ 0 0 0 0
ft
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luuJ:8«jui umuu ajuieraiaiiung einzeiner Zahieinheiten.
ergeben, wenn drei Glieder der aufgelosten Zahleinheit wiedev zusammen-
gezogen werden (§ 18), die beliebten Gestaltungen:
• »■ • *
r w r
»■/
u r i r
r r I c/
3 ?I r=7v*
(in der Regel
umgedeutet).
Die einzelne Ktirze doppelter Untevtheilung als Schluss ist selbst durch
besondere harmonische Verbaltnisse nur ganz ausnahmsweise verstandlich zu
machen.*)
0*0
Der punktirte Khythmus [j als Untertkeilung im zweitheiligen Takt ergiebt
die Formen:
lv r I w r
Als Ende des Motivs wiirde er wieder die Umdeutung bedingen:
:'»»•#          • • • • und ■_' •          •• • 0 •• # '
I La I ! Ls             r I Ld l I La
*) So z. B. im 1. Satze von Mozart's D-moll-Konzert:
Ł Łfl. r *-
^fEfE^PE^-b-| kj-iZ^Ł^|
J1
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20. Untertheilungen im dreitheiligen Takt.                                  87
Zweimal angewandt gestaltet die punktirte Untertheilung den dreitheiligen
Takt um zu den Formen:
w c=r r u u r
t/ c/ i r u u i r
Alle anderen Formen unterliegen der Umdeutung. Man beachte wohl, dass
die Kiirze der Untertheilung sich von der Lange loslost und in eine
engere Beziehung zur nachfolgenden Lange tritt; auf dieser Thatsache
der Empfindung basirt die alte Hausregel*), dass die punktirten Rlrythmen stets
scharfer gegeben werden mttssen als die Notirung sie verlangt:
3 ^
Hier markiren die Lesezeicben die durch die veranderte Auffassung bedingten,
die Untertheilungsmotive trennenden Verzogerungen, d. h. die punktirte Note
wird verlangert und die kurze behufs promptesten Anschlusses an die folgende
noch weiter verkiirzt. Das erste Motiv wird durch die veranderte Beziehung
inkomplet (ein ^ fehlt), das letzte iiberkomplet (ein p zu viel), d. h. das Obr
hort wieder anderes, namlich eigentlich:
4           0. « •
Eine Mischung schlichter und punktirter Untertheilung bedingt iihnliehe
Verschiebungen der Untertheilungsmotive:
*) Leopold Mozart, Violinsohule (1756), I, 3, § 11: „Der Punkt soil iiberhaupt allezeit
otwas langer gehalten werden." Daselbst IV, § 13: „Wenn vier Noten in ein Viertheil zu-
sammen kommen ... so wird, wenn die erste und dritte Note punktirt sind, jede Note mit
ilirem besonderen Striche, doch abgesondert und also vorgetragen: dass die dreimal ge-
strichene ganz spat ergriffen, die darauf folgende aber mit geschwinder Abanderung des
Striches gleich daran gespielt wird."
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.iuli-cji. wuiciiuuuig ejuuiseiJLUjr zjuijueinneHea.
. • . • . . . ». • .
3 ..'• • .         
',.
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Li f I LJ J I I J
-                           -
ij I p cr 1/ I r i;
3 ..'.
»•••••
Die Punktirung der letzten Ziihleinheit des Motivs zwingt zum Uebergang
in die Auffassung im Sinne durchgefiihrter in- und abbetonter Untertheilung,
zunachst in den bekannten Formen:
35
'
'2                3
8 5 Ci
,. II
g [y rj- ^ ^ Cjf Cd
und im zweitbeiligen Takt:
25
I/'" 5
/P
r" »cir IJ
2*1
Die aus der Mischung punktirter und sehlicht zweitheiliger in- und ab-
betonter Untertheilung sicb ergebenden Rbythinen gehoren wieder zur Kategorie
der schwierigsten Komplikationen und erscheinen in der gewohnlicben Notirung
durcb annakernd gleiche Bildungen vertreten:
-ocr page 98-
20. UntertheiJiungen im dreitheiligen Takt.
89
Es bedarf wohl keines grossen Scharfblickes, um zu bemerken, dass dies
die vom Ohr eigentlich vernommenen Ebytbmen aucb da sind, wo nicht der
Untertbeilungswerth am Ende des Taktmotivs die Auffassung anderer als
anbetonter Unteitbeilungen gebieterisch fordert, d. b. dass die weiter oben ge-
gebenen Bildungen ahnlich umzudeuten sind.
Die tibrigen Formen des dreitbeiligen Taktes ergeben sieh leicbt durch Ver-
setzung der Taktstriche und entsprecbende Veriinderung der dynamiscben Be-
zeicbnung nach Massgabe der bisher beobacbteten Gesetze. Die bier wieder
beobacbtete Stellvertretung der Rhytbmea, welcbe wir bereits im § 19 zu er-
klaren vermocbteu, wird uns immer wieder begegnen. Sie verwandelt in der
Notensclirift alle in- und abbetonten Untertbeilungen in anbetonte, ohne aber
docb bewirken zu konnen, dass die Auffassung die In- resp. Ab-
betonung aufgiebt. Der Rbytbmus:
-ocr page 99-
90          HI. Rhythmische Bildungen durch Untertheilung einzelner Zahleinheiten.
mit seinen drei verschiedenen Motivwerthen:
01 & = •/,.
i t - •/«
ware ein schlechterdings unlosbares B&thsel, wenn wir nicht seine vikarirende
Bedeutung erkannten. Die Auffassung vernimmt eben niclit die stellvertretenden,
sondern die thatsiichlich zu Grunde liegenden Werthe, welche gleich sind:
Pip- Vi.
P 5" 2/8
Dieser Nachweis ist von allerhochster Bedeutung und rektifizirt eine grosse
Zahl der im vorausgehenden gegebenen Notirungen.
§ 21. Untertheilungen im viertheiligen Takt.
a) anbetonte Untertheilung einer Zahleinheit:
• •
4
u h r i '
m a m m . " oder: 4
Ml                 Li II I I
r r.
' • • •" » 4 • I •!
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r r - r errir r ,r r c^rir
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21. TJntertheilungen im viertheiligen Takt.                                  91
Die mit der Untertheilung endigenden Motive erliegen hier wie tiberall der
Umdeutung, weil die Steigerung der Bewegung eine Erhohung der Lebenskraft
bedeutet und dalier nicht Ende sein kann; nur die Untertheilung der dynamiscben
Gipfelnote ist aus gerade diesem Grunde wirksam (ausgenommen die punktirte
Untertheilung, die ohne Umdeutung selten mbglich ist). In alien den Fallen,
wo der Schlusswerth des ersten der den viertheiligen Takt zusammensetzenden
zweitheiligen Motive untergetheilt ist, habe ich das Lesezeichen weggelassen,
weil seine Stelle zweifelhaft sein muss; denn die Untertheilung der Note,
welehe einen Abschnitt, Ruhepunkt bilden wiirde, wenn sie nicht
untergetheilt ware, giebt vielmehr einen neuen Anlauf. Diese Unter-
theilung wird also zum festeren Kitt fiir die Verbindung der beiden klcinen
Gruppen und nur melodiseh-harmonische Beziehungen konnen bestimmend sein
dafitr, ob man weiter theilen muss:
oder das ganze Motiv umdeuten in:
b) anbetonte Untertheilung zweier Zahleinheiten. Ich setze der
Kiirze wegen die drei Arten der Untertheilung durch [j", f [ * und Łj liber
3
einander; die folgende Tabelle ist daher so zu verstehen, dass irgend eine der
drei tiber einander gesetzten Untertheilungen statt des betreffenden Viertels in
den Takt eiugestellt werden kann, sodass auch gemischte Formen wie
4 » » p I p-p p i           p p p \ p p-p p
I LI I La I ° e 4 Lu I I Ld
3
entstehen. Man lese daher z. B. die vierte Form der Tabelle in folgenden
neun Varianten ab:
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92          HI. Rhythmiscke Bildungen durch Unterthcilung einzelner Zahlcinheiten.
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Denkt mau sich dazu audi nocli die Unterviertheilung durch p p p f — welelie
Ftille moglicher Bildungen! Mein Buch miisste zu unformlichen Dimensionen
anschwellen, wollte ich sie alle gesondert notiren.
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21. Untertheilungen im viertheiligen Takt.
93
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• »• »
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ir
fp» »»»
Alle nicht abbetonten, den Schlusswertb untertheilenden Rhythmen wtirden
der Umdeutung unterliegen.
c) anbetonte Untertkeilung dreier oder sammtlicher Zahleinheiten.
Dieselbe kann. fortlaufend gleich oder gemischt sein. Die Formen sind nach
dem folgenden Muster leicht zu konstruiren:
^ n J77JI JTj
^ fifnn\n
rs n n
0 0 0        0
U IS u tl \4 JT3J3J11J
us us us us                     « , « _, ,.,,
4 J3J3JTJII3 -
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94          IH. Bhythmische Bildungen durch Untertheilung einzelner Zablcinhciten.
d) abbetonte Unterzweitkeilung sammtlicher Zahleinheiten mit
einzelnen Zusammenziehungen innerhalb der kleinen Motive:
e) in- und abbetonte Unterdreitheilung:
4                  12             3                                                                                                                                    U. S. W.
f) i^unktirte Untertheilung in auftaktiger Form (inbetont); ge-
miscbte inbetonte und abbetonte Untertheilungen:
4 I I ■"> r> rjj *
12             3             4
4                    12             3
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21. Untertheilungen im viertheiligen Takt.                                  95
4
? ■:
-
1             2
2             3             4                    1
Zusammenziehungen dieser Motive sind selten, kommen aber vor:
I            llv—■ I _-~ Ih
US I VI '/ »•
12             3             4
I
Die Mischung derselben mit niclit punktirter Unterzweitheilung oder Unterdrei-
theilung fordert in der Notenschrift wieder eine vikarirende Darstellung:
4 P. •.'••>•.' ! •• " geschrieben: 4 •
12             3                  4
I              II             I
"h i___I
II             I
I ! 'A
,11           I - -. Ill
12             3             4
ll
4 t
LU Ld L-U
1                  2             3           4
oder: 4
& LŁf U lT 5
4         3
u
. I . I
P 0 P 0 P [j
12             3           4
J^.J U 1/
4         3
II           I              3 III
'I U I I'll lu
Ł/ LT CIT LT '
U. 8. W.
Wir finden auch hier wieder dieselben Verhaltnisse wie im zweitheiligen und
dreitheiligen Takt. Die in- und abbetonten Formen der Untertheilung erscbeinen
immer mehr als die eigentlicb gehorten und die friiher notirten Formen mit an-
betonter Untertheilung werden immer zweifelhafter. Es ist die Aufgabe des nach
diesem Buche arbeitenden Schiilers, die gescharfte Erkenntniss an einer neuen
Betrachtung derselben zu erproben.
-ocr page 105-
96         HI. Ehythmisohe Bildungen dureh Untertheilung einzelner Zahleinheiten.
§ 22. Untertheilungen zweiten Grades.
Der punktirte Rhythmus rjf als Untertheilungsmotiv muss theoretisch er-
klart werden als eine der Bildung des Rhythmus f T im viertheiligen Takte
ahnliche Zusammenziehung dreier Glieder der Unterviertheilung. Die Untervier-
theilung ist aber Unterzweitheilung der Unterzweitheilung, also Untertheilung
zweiten Grades. Eine Anzahl anderer moglichen Untertheilungs-Rhythmen ist in
derselben Weise auf Untertheilung zweiten Grades zu beziehen, zuniichst die
ebenfalls der Unterviertheilung entspringenden:
*)
9 9 9 = 9 9 P P oder: P P P P
( = 9 P 9 M» j
P P = P P P P
) - rtLr(= 'M'jl;)
9PP ( = P^J Synkope \
in anbetonter und abbetonter oder inbetonter Form.
Stellen wir diese Rhythmen zunachst als anbetonte Untertheilungen in den
zweitheiligen Takt ein, so gewinnen wir die Formen:
2 P P m I 9 f B I
2 B 9 9' \ m P P
i is I r is I
Lr U' I IS' IS'
2
*) Der Rhythmus PI gilt gewohnlich fur eine Eigenthiimliohkeit der magyarischen
und slavisohen Musik —■ mit Unrecht; denn er ist von je her als die regelrechte Form des
Vorschlags anerkannt, also der Musik der letzten Jahrhunderte iiberall gelaufig. Nur
als Tonrepetition (Eeperkussion) ist er bei den genannten Nationalitaten bevorzugt.
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22. TJntertlieilungen zweiten Grades.
97
oder: 2
ŁŁŁ/ r fefetf
airlr s^irlr
r I Ł=c_^ r
ŁŁLT ŁC-T I ErCT ŁŁ/
==U* ==LJ'
11. S. W.
tŁj* I Ł±j" ^-T r ŁŁ/
&ŁŁT
u. s. w.
Die Bildung P5""i ist der Unterdreitheilung so nahe verwandt, dass nur
eine sehr exakte Ausfiihrung sie von ihr unterscbeidet; es muss aber darauf
hingewiesen werden, dass die Unterdreitheilung, wo sie nicht das Motiv oder
ein Untertheilungsmotiv (z. B. im viertheiligen Takte ein zweitheiliges) beschliesst,
eine Verliingerung der Schlussnote ausscliliesst, vielmehr den knappesten An-
schluss fordert. Zwar haben wir in den friikeren Paragraphen alle Gliederung
durch Lesezeichen angedeutet und also nach der zu Anfang fixirten Bedeutung
dieses Zeiehens auch fiir den schlicht sich im metrischen Schema haltenden
vier-, seeks- und neuntheiligen Takt kleine Zeitzugaben gefordert, welche die
Taktmotive in gleiehe kleine Theile zerlegen. Der weiter sehende wird
aber bereits im § 1, scharfer aber noch im § 8 erkannt haben, dass wir die
Gliederungslehre noch nicht vollig bestimmt entwickelt hatten, da wir dort den
von uns so genannten agogischen Accent, d. h. eine das Metrum festhaltende
Zeitzugabe gegenuber einer abweichenden Motivgliederung der melodischen Be-
wegung auch bei in- und anbetonten Formen der kleinen Glieder auf die
dynamische Hauptnote der kleinen Glieder legten. Mit anderen Worten: da die
durchgehende Schattirung conditio sine qua non grosserer metrischen
Bildungen ist, so verliert das im grosseren aufgehende kleinere
Motiv seine nattirliche Dynamik, die dynamische Hauptnote muss
aber als solche kenntlich bleiben und erhalt als Ersatz der grosseren
Tonstarke eine langere Tondauer. Innerhalb der zu engerer Einheit zu-
sammengeschlossenen, dynamisch einheitlich schattirten Motive fallt daher die
in alien oben gegebenen Schemata durch Lesezeichen angedeutete gliedernde
Zeitzugabe stets auf die Tone, welche bei Zerlegung in die kleinen Motive
deren dynamische Hauptnoten sein wtirden, z. B.
Hiemann, Mus. Dynamik und Agogik.                                                                                         7
-ocr page 107-
98          HI- Rhythmische Bildungen durch Untertheilung einzelner Zahleiaheiten.
4fr
■ • nicht: p • >
r
, ^ sondern: #^j^ »
f»r
i cucj" ts •■ :dZi
& 1
Cir
Erst unter Beobachtung dieser Modification wird der Ausdruck
korrekt ausfallen.
Damit ist aber fur die Auffassung wieder eine ganz neue Bestimmung ge-
geben. Wir haben wiederholt beobacbtet, dass die gesteigertc Lebendigkeit als
Anfang und nicht als Ende gefasst wird, wahrend audi die kleinste Verlangerung
als Bubepunkt erscheint. Das bedeutet nun aber fur alle zusammengesetzten
oder untergetheilten Taktarten nichts geringeres als eine fortgesetzte Glie-
derung nach den dynamischen Hauptnoten der kleinen Motive:
r i
(1. Motiv inkomplet,
2. Motiv uberkomplet).
Wenn wir diese Auffassungsweise nicht gleicli vollig klar stellten, so ge-
schah es, um zuniicbst eine Erstarkung des Auffassungsvermogens fiir metrisch-
rhythmiscbe Verhaltnisse nach alien Seiten bin zu bewirken und eine einseitige
Entwickelung zu verhiiten. In der That spielt ja auch die Untergliederung nur
eine nebcnsachlichere Bollc. Sic ist zwar fiir Auffassung und Exekution un-
erliisslich, wenn nicbt verscbiedene Taktarten (z. B. § und f) in Konfusion ge-
ratlien sollen; das in den Vordergrund tretende soil aber die Verscbmelzung,
nicht die Unterscheidung sein. Man kann sich aber der Ueberzeugung nicht
verschliessen, dass die in der traditionellen Lebre derMetrik so neben-
siichlich bebandelte Abbetonung thatsachlich eine sebr bevorzugte
Form der Auffassung ist, wahrend die fast allein beriicksichtigte
Anbetonung nur iu den seltensten Fallen wirklich zur Geltung
kommt.
Nach dieser sebr nothwendigen Korrektur der bisherigen Darstellung ist es
wobl ersichtlich, warum die Untertheilung durch den anbetonten Khythmus J_f ?
im crescendo schleppend wirken muss. Im Diminuendo - Theile des Motivs ist
diese Wirkung nicht storend, sondern im Gegentheil sehr angemessen:
Dafiir wird der Rhythmus i —i , der als Ende unbrauchbar ist, im crescendo
desto vortrefflicher wirken, da er die dynamische Hauptnote des Untertheilungs-
-ocr page 108-
22. Untci'theilungen zwciten Grades.
99
motivs ersten Grades In) a^s hinge Note giebt oder audi einer Dreitheilung
ahnelt, deren Hauptnote iibermassig verlangert ist:
2 r t-r | r U=i I f
Auck im anbetonten Motiv ist sie wohlverstandlich:
2 • a • •         • • • •
L±d I I L-Sd I
als Untcrtheilung der Scblussnote jedocli selten brauchbar:
2 r
LŁf r LŁT
2
UiUf\ [Łf [ŁT
(in der Regel
umgedeutet).
LM r
P P P
Selir gliicklieh ist eine Vevbindung der beiden vervvandten Rhytlimen in den
die Untcrtheilung zweiten Grades in die Mitte stellenden Form:
p p p p p p p p p
Der komplizirteste der aus der Unterviertheilung abgeleiteten Untertlieilungs-
p m m
rhytlimen ist der synkopircnde ^ \ h ; die Kiirze am Schlusse hindert seine Ein-
ftihrung als Untertheilung der Schlussnote des Motivs. Uebrigens ist die
synkopirte Untertheilung in zweitheiligen Motiven selten. Die Formen sind:
2 p p p p
p p p
2 zp p
0 P-
kombinirt mit ^j gut:
p p p p p-
- ■ - i- i
p p p p p-
t r h t i
*rrj>
Cr cn I rr-
7*
iiiii
IWIIIII IIM
-ocr page 109-
100 HI- Rhythmische Bildungen duroh Untertheilung einzelner Zahleinheiten.
Durch Unterzweitheilung einzelner Tone der Motive der Unterdreitheilung,
sowie durch abweichende Wiederzusammenziehung des durchgehends unter-
getheilten Motivs:
p p p p p p
bd fad Ed
sind einige den vorausgehenden analoge Rhythmen abzuleiten, niimlich:
p p p p
H | i
r t U
in:
p p p p p
p p p p p
p p p p p
h—1 1—1
P P f P P
t±j r-r
rp i f
A =-
e-r r:
UJ
LLT
p p' p
LLT
ry
»f»
fad !
* f ?
l bd
p p"~p
Die sich dadurch ergebenden Unterdreitheilungen des zweitheiligenTaktessind:
pppp\PPPP ' »»»#»#»#
LbU I L_sj L=U I LfcU
-ocr page 110-
I
22. Untertheilungen zweiten Grades.                                     101
I lc/ i r' lcj i p
I ljlt i r' lit i ?'
I g r r -r i r' err/ir
I r i &r
I r a* i r' r &r i r'
I r i Pp ' r i ?r
Kombinationen:
i
3 r rv i P Lf '
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102 HI. Khythmische Bildungen durch Untertheilung einzelner Zahleinheiten.
00000 , 0 0 • *
a z r rj !_•
• ••
- •■*> * i p * p
r—■- u. s. w.
f p # p i » *> •
Wir betreten wieder ein Gebiet grosster Vielgestaltigkeit, wenn wir die aus
Untertheilungen zweiten Grades zusammengezogenen zwei- und dreitheiligen
Rhythmen auftaktig aufzufassen suchen. Solange wir eine Art der Untertheilung
festhalten und ausnahmslos durchfiihren, ergeben sich nur allbekannte einfache
Bildungen. Die auftaktige Form des Rhythmus F erledigten wir bereits im
§ 21, indem wir sie nicbt ganz korrekt als mit fT identisch ansahen (das ist
sie nicbt; wohl aber wird der Rhythmus flT flf in der Regel als aus Fl
und nur selten als aus H entsprossen erscheinen). Die anderen Formen durch-
gefiihrter gleichmassiger Untertheilung sind:
2 • » I * '• 0 i) « * p I • ' • 0 •> " (Bei Schumann oft so geschvieben/
0 0 0 " 0
U til
» fM MP» " MMrf P P P
Ł MM MM" M P ? > P m
3 h-T M I fe±_I
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22. Untcrthoilungcn zweiten Grades.
103
2
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» 0 0 0 » 0 0
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3
iM^r/ ^ t^ y I EiL-Y &Ł/
9 0 \ 0 » 9 0 0 0 0 0'' 0 0        0 0 0'0 V f 0 P
± 0 0 0 \ 0 0 ' 0 0 0 M          000,00 009 0 0
1                              2
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000\00'000 0 0          000\0P'000
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i? I rv' ir CY" YiL==a' l/
=— s/:
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p p p p ?
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104 HI. Rhythmisohe Bildungen durch Untertheilung einzolner Zahloinheiten.
I LLfcLT'fELT" nklY&C/
3 9 i» 5 5 '55''f'6
1                         2
I - ■*-1 r' g r p" ltIlltp
3 H I r i -t P r r -T j! I ( f !—h i ' h
1                              2
Einzelne erweisen sicli allerdings schon ziemlich sprode und die mit der
Kilrze endenden fordern eine Umdeutung. Uebrigens sci darauf aufmerkam ge-
macbt, dass Unterglieder von so prononcirter Dynamik besonders alle das sfor-
zato bedingenden (synkopirenden) nur ausnabmsweise zu volliger Einbeit ver-
schmelzen, vielmebr in der Regel als selbststandige Motive erfasst werden, auch
wenn die Taktvorzeichnung grossere Einbeiten fordert.
Einige Kombinationen verscbiedener Untertheilungen seien bier nocb zu-
sammengestellt:
a) Unterzweitbeilungen beider Glieder:
o f P I f f~~? ' f P I f f "
-ocr page 114-
22. Untertheilungen zweiten Grades.
105
2 r I rr r_r r r I C—T C—T
I CJ=T IU " l Lt=T IU
r fef g-Nr Lt=f fcŁi/
b) Unterdreitkeilungen beider Taktglieder:
p'pppp"ppp\p>ppp p
J bd_J_J I fad I i fad i &
2
* P f
=Ł_T IP LLf tLf I LI/ J
51 cj Ł=r r ■ j I lc/ i r
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p p- p p p p p " p p- p p p p p
V I LJ ! H , I 1/ I Li_J t_J
Mr td' lt
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«Łfir &feŁLr ylr Ł/ yj n--f-
1                  2
c) Unterzweitbeilung und Unterdreitheilung gemischt (selten und schwer):
> - ~ <
2 zr
• »•
I                               
11
f r " i I I * I geschrieben: 2 M
1             2
#. "geschrieben: 2
PlLL/ LJ-1 CtL-T P
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(nur wenige Kombinationen sind mit Glllck einftthrbar).
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106 ID- Rhythmischo Bildimgen (lurch Untertheilung einzelner Zahleinlieiten.
Mit der Grosse der Taktart (Zabl der untertheilbaren Taktglieder) wSchst
die Zabl der moglichen Formen zu fast uniibersehbaren Dimensioned Wir
begniigen uns nur anzudeuten, wie die Kombinationen geschehen und wie sie
verstanden werden. Die in diesem Paragraplien als Untertheilungsmotive ge-
fundenen Rbytbmen konnen natiirlieh auch in den 4-, 6- und 9theiligen Takt
eingestellt werden, zuniielist nur flir eine Zakleinheit, wodurcb Typen ent-
steben wie:
Z f
p
a. a •
p p
I I
4                 3
O P' 0 P P          B 0
oder fill- mebrere Ziihleinheiten, wodurcb ausser den durcb Zusammenrechnung
zweier Takte der oben gegebenen Untertbeilungen des zweitheiligen Taktes
resultirenden nocb Bildungen entstehen wie:
p p-3p p p p- p p
u. s. w.
p p p p p p p p
fcfju I Ed [
Das interessantere Kapitel der auftaktigen Untertbeilungen fiihrt zu den
Rhythmen:
P 0 •'••la" 0 ••' 0 P
en: 4 a a a a e \ ••"• » » a
a l_LT 11 i i i v
geschrieb
2               3
ut'u\t"zr'H'
y tu\z2U f c
-ocr page 116-
23. Mischung von Untertheiliragen mit Zusammenziehungen.
107
Das in den einfachen Taktarten gescliulte Auffassungsvermogen wird sich
in den erweiterten leiclit zurecht finden. Es kann natltiiich nicht der Plan eines
Lehrbuches sein, alle Moglichkeiten zu erschopfen, sondern nur die Phantasie
auf dieselben hinzuftthren und ihr Verst&ndniss zu bewirken.
§ 23. Mischung von Untertheilungen einzelner Zahleinheiten mit
Zusammenziehungen anderer.
Der zweitheilige Takt wird dureh eine Zusammenziehung zweier Zahlein-
beiten zu einer absorbirt; von einer Untertlxeilung kann daher danebcn niclit
die Rede sein, Dagegen ergiebt der dreitheilige rrakt die Formen:
Oder: * ?J f \ TJ {
3 »
« c -v
LTIf lj i
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3 0-0 O          •• • o
Li            Ld l
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P P
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3 0000 * I 0000 o
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3 LaT I La'_T
3 57? I 3T>
3 0006- ! 0 • s I o
3 Lj I r' La' I r
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3
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3 LTlr Lrlr
3*00
»
» »• 0
LLd
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108 HI. Ehythmisohe Bildungen (lurch Untertheilung einzelner Ziihlemheiten.
I          3
Oder: 3 p. p p p 0
3 P- P p P
p p p
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p p p e>
3
» » 0 p p p • p c>
L-±±a i i hh | |
3 P
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I             3
o P P f
o geschrieben: 3 •••[••'• • • j ••
I                     EU 11 * li 11
HI
Die anbetonten mit der L&nge beginnenden Formen wie 3 f f \ I unter-
liegen stets der Umdeutung; seltenere aber mogliche Formen sind:
3 ^^p P P P ' Pi» ?*>»'
I I I =U
3 f I
-I
■ sf:
aurir gltnr
u. a. in.
Mannichfaltiger sind die Ergebnisse im viertheiligen Takt*):
* n i j j
* j. a
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u. s. w
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u. s. w.
u. s. w.
p p
3
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*) Die folgenden Schemata sind wieder wie die des § 21 in ihren verschiedenen mo'g-
liehen Kombinationen abzulesen; die Wiederholung derselben Form iat der Kiirze wegen
weggelassen.
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23. Mischung von Untertheilungen mit Zusammenzieliungen.
109
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Einige Beispiele aus dem § Takt mogen den Beschluss bilden:
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2         3
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P f         
0000000 0
LLiU ^ i
r y | qt; ' r y | gŁf
U. 8. W.
Wird dieses Bucli dem Untenicht zu Grande gelegt, so ist von einer aus-
ftihrliclien Ausarbeitung der einzelnen sich ergebenden Kombinationen
keinesfalls zu dispensiren, da gerade die selbstthiitige Entwickelung derselben
-ocr page 119-
110            IV. Ueborgreifende Zusammonziehung untergetheilter Zahleinheiten.
das Anschauungsvermogen ausserordentlich starken und bleibend die Phan-
tasie befruchten muss. Von einer grosseren Anzahl der besten und interes-
santesten Formen aber werde eine Erfttllung mit melodischem In bait
verlangt, da erst dadurcb das voile Verstiindniss der fisthetischen Bedeutung
der einzelnen Rbvthmen sieb erschliessen kann.
IV. Kapitel.
Uebergreifende Zusammenziehung untergetheilter
Zahleinheiten,
§ 24. Engere Verkettung der Taktglieder durcb Ueberbriickung der
Scbeiden der Untertbeilungsmotive, zumichst iin zweitbeiligen Takt.
Alle im vorigen Kapitel betracbteten Untertbeilungen bielten sicb innerhalb
des Werthes einer Ziihleinkeit, derart, dass der Beginn einer neuen Zahleinheit
stets durch einen neuen Ton markirt wurde. Wir mussten aber unterscbeiden
zwiseben anbetonter und abbetonter oder inbetonter Untertbeilung, die erstere
ergab einfacbe, die letztere komplizirtere, wenigstens im Babmen der Taktstriche
und gemeinsamen Querstricbe innerbalb der Taktbalfteu u. s. w. in der Noten-
scbrift komplizirter scbeinende Bildungen. Rhythmen wie:
erscheinen dem Auge als iibergreifende Untertbeilungen, sofern durch die Takt-
striche und die Querstricbe (H 1 ) andere Grenzen gezogen erscheinen als sie
die dem Ohre sich bietenden Tonbilder ( h I i ) fordern. Nimint man die ersteren
als massgebende Einheiten, so sind allerdings die letzteren iibergreifende Bil-
dungen : wir haben aber dieses ganze Buch der Ausrottung einer solchen irrigen
Auffassungsweise gewidmet, welche die herkommliche metrisehe Theorie aller-
dings grossgezogen und fast sanktionirt hat. Die vor der Zahlnote aufoetenden
Tonwerthe sind aber nicbts anderes als ein Auftakt niederer Ordnung. So wenig
die Taktform 3 * * | *' * " j ^ auf die volltaktige 3 | |" ]" |" | bezogen und
in ihrem Sinne aufgefasst werden darf, ebenso wenig dtirfen auftaktig be-
ginnende Untertheilungen im Sinne anbetonter aufgefasst werden. Dagegen
werden wir jetzt zu Bildungen ubergehen, die wirklich tibergreifend sind,
d. h. die Scheiden der Untertbeilungsmotive iiberbrticken und unkenntlich
machen, obgleich viele von ihnen in der Notenschrift als schlichteste Bildungen
erscheinen.
-ocr page 120-
24. Engere Verkettung der Taktglieder duroh Ueberbriickung u. s. w.
Ill
Denken wir uns den zweitheiligen Takt in durchgefUhrter Unterzweitheilung:
LU LL
und ziehen die vier Werthe in drei oder zwei derart zusammen, dass der Beginn
der zweiten Zahleinheit in die Dauer einer liingeren Note fallt:
• r:
2 ••»• = •• •
I I ! I
V
• ••
so finden wir allerdings nur Khythmen, die uns schon bekannt sind, namlich
die Synkope, die Punktirung und den Vorschlag, aber die Bedeutung der-
selben erscheint uns in einem anderen Lichte. Es ist wohl nicht nothig, darauf
hinzuweisen, dass diese Bildungen erst hier ilire voile tlieoretische Erklarung
finden; der eigenthiimliche iisthetische Werth derselben liegt namlich darin, dass
sie im Hinblick auf die Zableinheiten einerseits Zusammenziebungen und dock
andererseits Untertlieilungen sind: sie lassen eine Zahlzeit beginnen, olme die-
selbe durcli einen neuen Ton zu markiren, wirken also in dieser Hinsicht als
Hemmung des gleicbmassigen (metriscben) Flusses, wahrend sie doch zugleicb
eine Zahleinheit in zwei Tbeile zerlegen, also gegeniiber dem ruhigen Gange
der metriscben Zahlzeiten ein belebendes anregendes Element bringen. Diese
Mischung kontrastirender Wirkungen ist es, was ibneu eine besondere Be-
deutung verleibt, die ihnen audi eignet, wo sie in niederer oder hoherer
Ordnung (verUingert oder verkiirzt), d. h. nur als Untertbeilung wie in:
» p f p p
oder nur als Zusammenziehung wie in:
A P P • I S O'
4 I I III I
auftreten.
In der That verlangt die Synkope als Untertheilungsmotiv (j-j j)
die energische Empfindung der ausgefallenen Einheit niederer Ord-
nung, um wirklich aufgefasst zu werden, d. h. also, sie darf nicht nur als
Untertbeilung, sondern muss zugleicb als Zusammenziehung wirken, und um-
gekebrt veranlasst die nur durch Zusammenziehung von Zahleinbeiten ent-
standene grosse Synkope (f f f) die Empfindung von Einheiten
hoherer Ordnung (zweizeitigen Zusammenziehungen), sodass auch hier die
untertheilende Eigenschaft der Synkope zur Geltung kommt. In den beiden andern
-ocr page 121-
112           IV. Uebergreifende Zusammenziehung untergetheilter Zahleinhciten.
Motiven (J h und h ! ) ist die beunruhigende Tendenz weniger stark be-
merklich, was sich dadurch erklart, dass sic nur eine Zableinbeit theilen,
wahrend die Synkope beide tlieilt:
1                  2             12                  12
Je nacbdem die unterzutheilende Taktart an- oder abbetont ist, entsteben
durch die Einfubrung obiger Tbeilungsformen die Ehythmen:
-ocr page 122-
24. Engere Verkettung der Taktglieder durcli Ueberbriickung u. s. w.           H3
Die Unterdreitheilung des zweitheiligen Taktes lasst folgende iibergreifenden
Zusammenziehungen zu:
Cu ll! = r r r
ClTlu =77 ls
llTuj
- cj r?
L_J__i L-LJ ~ ' I LJ_J
* * i* • • r = * ^ *
r r •
n: r
k r
• « •
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welche in hoherer und niederer Ordnung an-, ab- resp. inbetont Rhythmen
ergeben wie:
2                   1
Riemann, Mus. Dynamik und Agogik.                                                                                          8
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114           rV- Uebcrgreii'ondc Zusammonziehung untergetheilter ZaMeinheiten.
2 ~1
3 r
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2 ^r
3 r
i
• ■
r •:
.,»•'•••
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(meist umzudeuten in « »
u
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3 i i Ml r u
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•2
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2
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• .• ••
3
1             2
r r r * r r
3 r
3 r r r
Dureh Synkopirung der in § 22 entwickelteu Rhythmen mit theilweiser
Untei'theilung zweiten Grades ergeben sicb dazu nocli Bildungen wie:
"■>'
oder: 2
yjiya
2 ■ a •'7*. « •
-              ; - J
2 p m • • • •
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-ocr page 124-
24. Engero Verkettung dor Taktglieder durch Uebcrbriickirag' u.
1 0 0 | 0 0 f 0 > odor: 2
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e r 1/ UJ
10 0 0 0 0'               2000"
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PfPf P PPPP
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116            IV. Uebergreifende Zusammenziehung untergetheilter Zahleinheiten.
P P PP P
p r p p p p
trj yjLjj y
a rtn^ rjsx rjj tr^ zj
p p \ p p p p p p p p' p p
j=i M ' H
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3 cŁi/ r^/ c^r i r y •
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3 Łf | ŁŁLf tf'Mf ZJ | ŁŁŁŁ/ gŁŁf
sz^inujj y uju
s y I r Ł=r r' u r*a
-ocr page 126-
25. Uebergreifende Zusammenziehung der Untertheilungen im dreitheiligen Takt. H7
§ 25. Uebergreifende Zusammenziehung der Untertheilungen im
dreitheiligen Takt.
Die Unterzweitheilung des dreitheiligen Taktes ergiebt mit Zusammen-
ziehung der Grenzwerthe der Untertheilungsmotive folgende Rhythmen:
r r r r r r
= * r r p
r"r r r r
- r cl*
r7> rrr
-1 i
r rTr r r
= p r c;
r r> rTr
= ? r r
r77 r> r
__»• • •
rTrTr r
- 1 1 J
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r r rTr r
— u r \>
r r r rTr
~ Li J '
Tr r r7 r
__ • » • »
r r7 r r7
__ • • • •
r> rTr r
= f f • '
pTr r r>
_•• • •
— r u i
r rT* r7
= ^ r r
Da die Manipulation der Einstellung der Rhythmen in den Takt eine ziem-
lieh meehanische ist, der Hauptwerth aber in dem selbststandigen Durehdenken
der Kombinationen und der Ausarbeitung der natilrliehen dynamischen Schattirung,
sowie der Auffindung der itblichen Schreibweise besteht, so begniigen wir uns,
-ocr page 127-
IV. Ucbcrgreifende Zusammenzielmng untergetheilter Zalileinheiten.
118
einige Formen als anschauliche Beispiele aufzustellen unci das iibrige clem Fleisse
des ernstlieh Studirendeii resp. tier Anleitung des Lehrers zu iiberlasseii:
as*.
\> i r'
• •
I i !
r r 5
rr
(umgedeutet).
• r i
iii
• • • •
i 5 u
12             3
(umgedeutet).
• • •
5 I >
• ■ • a
1 i i r
II     fr I fr
• • •
I V !
u. s. w.
Eine grosse Mannichfaltigkeit bringt wieder die Einstellung von Unter-
theilungen zweiten Grades (vgl. die Untertheilungen des § Taktes iru § 22):
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26. Uebergrcif'endc Zusammenziehung der Untertheilungen im vierthciligen Takt. H9
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§ 26. Uebergreifende Zusammenziehung im viertheiligen Takt.
Die wichtigstcn Typen derselben sind:
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120            IV. Uebergreifende Zusammenziehung untergetheilter Zahleinheiten.
Durch dynamische Charakterisirung entstehen Rhythmen wie:
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u. s. iv.
sowie mit Zulassung von Untertheilungen zweiten Grades:
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mit untergemengter Unterdreitheilung:
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1            U. S. W.
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27. Die Triole.
121
Die analogen Bildungen im § und anderen noch grosseren Taktavten sind
leicht zu konstruiren und direkt verstandlich, wenn man die bisher entwickelten
GrundsJitze flir ihre Beurtheilung festhalt. Wir konnen daher dieses zwar kurze,
aber darum nicht weniger wichtige Kapitel abschliessen und uns der entgegen-
gesetzten Kombination von Untertheilung und Zusammenziehung zuwenden.
Y. Kapitel.
Abweichende Untertheilung zusammengezogener
Zahleinheiten.
§ 27. Die Triole.
Durch die Unterdreitheilung der durch Zusammenziebung zweier Zahlein-
heiten entstandenen Lange entsteht das unter dem Namen der Triole bekannte
rhythmische Gebilde. Die Triole hat mit der Synkope das verwandte, dass sie
auf Zeitpunkte, wo eine Zahleinheit einsetzt resp. ihren Schwerpunkt hat (also
auf Zahlpunkte), keine neuen Tone bringt, in dieser Hinsicht also als Hemmung
erscheint, auf der anderen Seite aber Tone einsetzen lasst, wo das Metrura
keine bringt:
2 J , J ,
2 r r [ r
3
Man pflegt daher die Triole in derselben Weise wie die Synkope als ab-
weichende Zusammenziehung einer Untertheilung zn definiren:
~a llTuj = 2 r f r
Auch uns ergab sich im vorigen Paragraphen die aus drei Vierteln be-
stehende Zusammenziehung des f Taktes, welche aber fur die einzelnen Langen
Accente forderte, weil dieselben auf Zeitwerthe einsetzen, die nicht in den Unter-
theilungsmotiven dynamische Schwerpunkte (Zahlpunkte) sind. Es wiirde aber
gegen den guten Geschmaek und das musikalische Geftihl verstossen, wollte
man diese Accentuation auch fur die Triole zur Norm machen. Die echte Triole
will glatt und fliissig gespielt oder gesungen sein, nicht aber mit ruckweisen
Tonverstiirkungen. Die Nothwendigkeit der Annahme jener Accente verschwindet
nun aber, wenn wir die Triole in einem anderen Sinne erklaren und begreifen,
namlick als eine wirkliche Verschiebung, Ersetzung der metrischen
-ocr page 131-
122              V. Abweichende Untertheilung zusammengezogener Zahleinheiten.
Zahleinheiten. Die echte Triole, d. h. die Ersetzung von zwei Zahleinheiten
durch drei gleiche Werthe, deren jeder also zwei Dritteln einer metrischen Zahl-
einlieit entspricht, soil eben nicht an dieser Zahleinheit bemessen, sondern als
eine Unterdreitheilung einer aus zwei Zahleinheiten gebildeten
E i n h e i t h 6 h e r e r 0 r d n u n g gefasst werden, sodass der erste Begriff der der
Zusammenzieliung ist und der zweite der der Untertheilung, nicht aber wie bei
der durch Synkopirung entstandenen Figur f f f der erste der der Unter-
theilung und der zweite der der Zusammenzieliung. Mit anderen Worten: die
metrischen Zahleinheiten werden voriibergehend durch im Verhaltniss 2: 3
schncllere ersetzt, die Triole ist also eine voriibergehende Beschleunigung des-
Tempos (das ja durch die Zahleinheiten bestimmt wird), aber unter Festhaltung
cler Dauer des Taktes. Wir sehen, dass hier das Element der erhohten
Lebendigkeit, der Beschleunigung, gegeniiber dem der Hemmung an Bedeutung
waehst, ja dass das letztere fast ganz verloren geht. Unerlasslich bleibt freilicli
fiir die rechte Auffassung der Triole auch das voriibergehende Begveifen einer
dem doppelten einer Ziihleinheit entsprechenden Einheit hoherer Ordnung:
r r
Dass diese Erklarung und Auffassung der Triole die allein richtige ist,
geht aus dem Umstande hervor, dass die Triole (fiir 2 Zahleinheiten) nur in
den Taktarten vorkommt, oder doch nur in den Taktarten von allgemein an-
erkannter Bedeutung ist, deren kleinste Gruppen von Zahleinheiten zweitheilige
sind, d. h. im zweizahligen, vierziihligen und 3.2zahligen Takte, nicht aber hn
3-, 2.3- und 3.3ziihligen Takte. Die Einstellung von drei gleichen Werthen
fiir 2 im anbetonten dreizahligen oder mehrfach dreiziihligen Takte ist wohl
kaum irgendwo nachzuweisen (ausgenommen in der Mensuralmusik des
14.—16. Jahrhunderts):
(Triole
• zweiten Grades).
<j
oder:
r
I I i
Und doch, wenn die Erklarung der Triole als Zusammenziehung aus der
Unterdreitheilung richtig ware, so mttsste sie auch in soldier Kombination vor-
kommen, da die Bildung leicht verstandlich ist:
f'l
V V
Hier flihlt aber jedermann die Nothwendigkeit der Accente, die er fiir die
richtige Triole leugnet, und eine Schreibweise
-ocr page 132-
27. Die Triole.
123
wiirde schwerlich Anerkenmmg finden. Selien wir also von der Triole flir zwei
Ziihleinheiten einer anbetonten dreizahligen Gruppe ab.
Durcli Einfiihrung der Triole in zweiz&hligen und ab- oder inbetonten drei-
zahligen Gruppen gewinnen wir folgende Khythmen:
J         | (wie alle fortgesetzt anbetonten Bil-
i* i®               dunsen zweifelhafter Natur).
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V. Abweiohende Untertheilung zusammengezogencr Zalileinheiten.
124
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Wir wollen die zwei Zahlzeiten vertretende Triole die grosse Triole
nennen, zum Unterschied von der nur eine Ziihlzeit oder gar nur einen Unter-
theilungswertli ausMIenden kleinen. Letztere ist durchaus nur Untertheilung
und wirkt daher wie die schlichte Unterzweitheilung und Unterdreitlieilung; nur
wo zwei und dreitlieilige Untertheilungen gemisclit auftreten, tritt die Unterdrei-
-ocr page 134-
27. Die Triole.
125
theilung als etwas abweichendes, aber in der boberen Einbeit (der Zahleinbeit)
so gut wie die Unterzweitheilung aufgehendes bervor, d. h. also als richtige
Triole, wahrend eine noch grossere Art der Triole, deren G-lieder jedes aus zwei
Zableinheiten bestehen:
I
o
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2.3
r r r' r r r
nur als dureli ubergreifende Zusammenziehung (IV. Kap.) im Sinne der hbberen
Zweitlieiligkeit aufgefasst werden kann, d. h. als synkopische Bildung, aber
nicht als Triole wirkt.
Gelegentlicb der Betrachtung der aus Miscbung zwei- und dreitheiliger
Uutertbeilung entstehenden Rhytbmen macbten wir die Erfabrung, dass unsere
Notenscbrift die in- oder abbetonte Triole niebt kennt, sondern die Wertbe stets
dabin andert, dass die Triole anbetont wird. Die Moglicbkeit einer solchen
Vikarirung haben wir in § 20 erklart; ihre innere Notbwendigkeit werden wir
aber erst im IX. Kapitel (Polyrhytbmik, § 48) begreifen lernen. Dieselbe
Vikarirung wie bei in- und abbetonten Untertbeilungstriolen ist aber aucb notb-
wendig bei in- und abbetonten grossen Triolen; die Formen sind:
gesohrieben:
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u. s. w.
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126              V. Abweiohondo Untertheilung zusammerigezogcmer Ziihleinhoiten.
Die Triolen der Notenschrift erscheinen gegenliber den nicht nur von der
Theorie aufgestellten, sondern thatsiichlich von jedermann gehiirten Motiven als
tibergreifende, die Wertlie der Motive irrational gestaltende.
Schattirung gleicht aber die Differenzen ungefahr aus.
Die agogische
§ 28. Die Duole und Quartole.
Eine der Triole ahnliche Bildung ist die Duole, welebe dadurcb entstclit,
dass fur drei Zalileinheiten zwei gleicbe Wertlie gebraucht werden, deren also
jeder dem andertbalbfacben Werthe einer Zithleinheit entsprieht. Die Duole ist
also wie die Triole eine voriibergebende Veranderung des Werthes der Zalil-
einheiten unter Beibehaltung des Werthes der hoheren Einbeit (des Taktes oder
der Takthalfte u. s. w.); aber wahrend die Triole die Zalileinheiten verktirzte,
verlangert sie die Duole. Die Duole wird aber ebenso wie die Triole nur dann
vollig ricbtig aufgefasst, Avenn bei ihrem Auftreten die hohere Einbeit vorgestellt
wird. Wie die Triole nicht in dreizahligen oder zwei- resp. dreimal-dreizlihligen
Takten auftritt, so die Duole nicht in zwei- oder dreimal-zweizahligen, etwa:
c
u. s. \v.
Die Auffassung der Duole als Zusammenziehung aus Unterzweitheilungen ist
moglich, aber nur ausnahmsweise richtig; das aus Unterzweitheilung des drei-
tbeiligen Taktes zusammengezogene Gebilde
erfordert stets die Accente der Synkopirung, welche der gewohnlichen Duole
nicht zukommen.
Die Duole ist in vielen Lehrbiichern nicht einmal definirt, obgleich sie docb
kaum minder wichtig ist als die Triole. Duolenrhythmen sind z. B.:
r r r r r
geschrieben: o
lr
3 f
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r r r r
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28. Die Duole und Quartole.
127
1                     2                                                        U. S. W.
Eine von der Duole wolil zu unterscbeidende, niclit ohne weiteres als Unter-
theilung derselben anzusehende Bildung ist die Quartole, welche fur drei
Ziihleinlieiten vier setzt, also gegeniiber der Bewegung des Metrums eine Be-
sclileunigung und niclit wie die Duole eine Verlangsamung bedeutet. Die
Quartole ist also im dreizahligeu ungefahr das, was im zweizaliligen die Triole
ist. Die Quartole durch Zusammenziebungen aus Untertlieilungen erklaren zu
wollen, wtirde die Annahme von Untertlieilungen zweiten Grades voraussetzen:
6 i I i ' ',; ■, i "ill Li u lj
Die Quartole mtisste dann natttrlich Synkopenacconte erbalten. Wo es sicb
uni die genaue Eiutheilung von vier gleichen Noten auf drei gleicbe desselben
Gesammtwertlies handelt (vgl. Kapitel IX, „Polyrhytlimik", § 48), muss man
allerdings auf diejenige Untertheilungsart rekurriren, deren Gesammtzabl der
kleinsten Theile gleich dem Produkt der Zalil der Zahleinbeiten und der Tbeilzahl
des Ersatzgebildes ist (3.4= 12):
3 ŁŁQ> tŁg Łcq = r r ^
3 ^if'yXf^Q = r r r r
12                    3                    4                                          ^
Urn aber zunachst die Quartole recht zu verstehen, miissen wir sie mono-
rbytbmisch, d. h. als in unbegleiteter Melodie auftretend denken und baben
-ocr page 137-
128             V. Abweiohende Untertheilung zuaammengezogener Zahleinlieiten.
dann zu verfakren wie bei der Triole und Duole, d. k. wir mlissen die hokere
Einheit erfassen, in der die 3 Zahleinlieiten und die 4 an ikre Stelle gesetzten
Quartolentheile aufgeken und miissen diese in vier start in drei Theile zerlegen:
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Im 2.3-Takt sind die Formen rnit anbetonter Quartolenbiklung:
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In- und abbetonte Formen der Quartole erfordern vikarirende Notirungen:
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Dagegen ist die Ersetzung von 6 Zahleinheiten durch vier gleiche Noten
von demselben Gesammtvvertli eine Hemmung, nicht eine Beschleunigung; wir
-ocr page 138-
29. Die Qumtole.
129
haben dann aber nicht einc eigentliclie Quartole, sondern cine Verbindung von
zwei Duolen, eine Doppeldaole:
rnr'r.r
2-3 r r r r r r
d. h. die Schemata mttssen in jeder Beziebung gleicb mit dem der Duolen-
bildung im 2.3-Takt ausfallen. Im 3.2 Takt endlich ware die Quartole eine
Beschleunigung der hbheren Einbeiten, das Versteben derselben ist aber kaura
noeh moglich:
Wenn eine Quartolenbildung im 3.2- Takt vorkommt, so wird sie besser
als synkopisehe Bildung, als Zusammenziebung axis Unterzweitlieilungen ver-
standen werden:
3-2 r"f r"r r"r r"r = f'ff V' ?
und erhalt zur Verdeutlicbung der Kombination fiir den Horer Synkopenaceente.
§ 29. Die QuintQle.
Die Erklarung durch Zusammenziebung aus Untertheilungen ist nun aber
ganz unmoglich bei der Quintole; zum miudesten wiirde diese Erklarung wenig
erleichternd ausfallen. Die Quintole kann in jeder Taktart vorkommen und hat,
da die 5 Primzahl ist, in jeder eine etwas andere Wirkung und ein anderes
Verhilltniss zu den vertretenen Eiuheiten. So selten der fiinftbeilige Takt in
langercr Durcbfiihrung ist, so beliebt ist docb, wenn auch als rhythmische Fein-
kost, die gelegentliche Ausfiillung eines Taktes oder einer Takthalfte (lurch fiinf
gleiche Werthe. Je grosser die Zahl der Zahleinhciten ist, welehe die Quintole
zu vertreten bat, desto mehr wird dieselbe als hemmend ersclieinen; je kleincr
die Zahlzabl, desto mehr wird sie treiben: zugleich wird sie in jenen mehr durch
Zusammenziebung, in diesen mehr (lurch Untertheilung entstanden wirken:
a) treibende Quintolen:
# » B # »
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Riemann, Mns. Dynamik mid Agojrik.
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V. Abweichende Untertheilung zusammengezogener Zahleinheiten.
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geschrieben: 2 P \ P P P P \ P P
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Eine einigermassen exakte Ausflihrung der Quintole ist nur nach Erfassung
der hoheren Einbeit moglich. Eine minutiose Eintheilung von fiinf auf zwei
oder drei wiirde Unterftinftheilung voraussetzen:
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Hat ein und derselbe Spieler beide Bewegungsarten neben einander zur
Geltung zu bringen (auf Instrumenten, die der Polyrbytbmik fahig sind, wie
Klavier, Orgel u. s. w.), so ist es allerdings unerlasslieh, dass er sich diese Art
der Eintheilung klar mache; eine glatte Ausfuhrung wild ihm nur gelingen,
wenn er die mehrzahlige Gruppe zum Ausgang nimmt, d. h. in den beideu
bisher betrachteten Fallen die Quintole und die Tone der minderzabligen Gruppe
dazwischen schlagen lasst. Er muss also nothwendig die hohcre Einbeit nach
Moglichkeit zu erfassen sucben.
Dieses Erfassen wird gewohnlich durcb vorher vorkommende Zusammen-
ziehungen wesentlich erleicbtert, z. B.
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2 P P
-ocr page 140-
29. Die Quintole.
131
3 r r r
u. s. w.
Die Quintole im vierzahligen Takt sclireibt man wohl besser mit den Werth-
zeichen der Zahleinheiten:
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Der Versuch, die in- und abbetonte Quintole im vierzahligen Takt zu be-
greifen, stosst auf kaum iiberwindbare Schwierigkeiten, da sich der vierzahlige
Takt naturgemass als zweimal zweizahliger gliedert; immer wild man deshalb
die Quintole in 3 + 2 oder 2 + 3 zu zerlegen geneigt sein. Diese Zerlegung
wird nock dureh zwei andere Umstancle begtinstigt: erstens die durch die
agogische Schattirung bedingte kleine Wertkmodifikation, welcke folgende Formen
fast gleichmaclit:
• •
r r
j i r
(im ersteren Falle erleichtert das Treiben der drei Quintolentheile im crescendo
deren Auffassung als Triole, im letzteren werden die drei im diminuendo
stehenden Quintolentheile nicht als unverstandlicher Ballast erseheinen, da eine
im diminuendo stehende Triole nachlassend vorzutragen ist, sodass ihr Werth
dem der drei Quintolentheile etwa gleich kommt); zweitens miisste, wie die
vikarirenden Notirungen ausweisen, unsere Notenschrift aus Griinden, welche
die Untersuchung der Polyrhythmik (IX. Kapitel, § 48) vollends klarstellen
wird, statt der in- oder abbetonten Quintole doch eine anbetonte bringen, also
ganz ahnliche Werthverschiebungen vornehmen.
9*
-ocr page 141-
132             V. Abweichende Unterthoilung zusammengezogcner Zahleinheiten.
Es kann wohl kaum ein Zweifcl bestehen, dass statt einer Modifikation
auch nooh der Schlusswerthe des vorausgehenden Taktmotivs, die unbedeutende
Veranderung der 2/5 - und 3/5 - auftaktigen Quintole durcli Zerlegung in 3 + 2
oder 2 -f 3 vorzuziehen ist; nur far die 1/&- und 4/5-auftaktige Form muss
auf die verschobene (anbetonte) Quintole rekurrirt werden.
Eine Hemmung bedeutet die Quintole ftir 6, 8 oder 9 Zahleinheiten; die
Auffassung stosst aber bier immer auf dieselben erschwerendeu Umstande wie
im viertheiligen Takt; die natUrlieke Gliederung der grosseren Taktarten in
kleine Gruppen macht das Versteben von Ersatzbildungen, welche keine Unter-
gliederung zulassen, zu einer komplizirten Aufgabe:
2-3 r r r' r r r i r r
2,3 #•#•»• •»!••• gesohrieben: 2.3 & &
2-s r i i 11 i i i i i ii t                         2-j i i r11 i
2.3 f ,• ,• f f i-         f i# ,• f f geschrieben:
2-3 r r r r r r r r r r r gesch«ebe»: r r r r r r r
2.3
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oder:
d. h. im 2.3 Takt wird, wo es angeht, die Zerlegung der Quintole in
3 + 2 (Duole) oder 2 (Duole) -f- 3 vorgezogen, in den anderen Fallen aber die
Quintole verscboben (anbetout).
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-ocr page 142-
30. Quartole, Quintole, Sextole, Septimole, Oktole und Novemolc als Untertheilungsmotive. 133
2-3 r nr r'r r" r rlr r r"geschrieben:r rlr r r'
.)..;;'.■ . I. • . . "                    ......
6-2 i i i i i i i i i r [ i r " i I r i "5 i i i
32 • •'»I • ■ ■ •" • -i tt^p " •"=r» i»' • ^" ^ pi p p f
d,i i i i 11 i i i i i r! i - miImi i311 r r i
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^-j yn rf^) I
d,i i t i i i 11 i i r r i i " i i i i 111 i i i i 11
^5                                                                                                             3
Die hier von mir gcwahlte Sehreibweise einer Triole in den nachstgrosseren
Werthen als Ersatz fur vier Zeiteinheiten ist zwar nicht gebrauchlieh, aber an-
schaulich und dem fur die Polyrhythmik bemessenen Ausbau unserer Noten-
schrift angemessen; die als Ersatz fiir die in- und abbetonte Quintole im
2.3 Takt eingestellte Duole in grosseren Werthen ist dem ganz entspreehend.
Das Hemmende beider Bildungen findet darin direkt seinen adaquaten Ausdruck.
Uebrigens ist der Wertb der Quintole doeli nur ein massiger; sie notbigt
fort und fort zu Kompromissen und kann nur selten exakt wiedergegeben vverden.
Je grosser die Zahl der Zahleinheiten waebst, desto prekarer wird ihre Ein-
ftihrung; wir sehen desbalb davon ab. sie auch fiir die achtzahligen und neun-
zahligen oder gar noch grosseren Taktarten, die sets besser in kleinere zerlegt
warden, nachzuweisen, erkennen dagegen der Quintole einen bohen Werth als
Untertheilungsmotiv zu, als welches sie thatsachlich zumeist auftritt.
§ 30. Quartole, Quintole, Sextole, Septimole, Oktole und Novemole
als Untertheilungsmotive.
Wo die Quintole nur eine Zahlzeit in fiinf statt in zwei, drei oder vier
Theile zerlegt, ist ihre Ausfiihrung leicht, da ja ihr Gesammtwerth eben durch
die Ziihlzeiteu des Metrums direkt gegeben ist. Einige Beispiele anbetonter
Quintolen-Untertheilung mogen das beweisen:
77.
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p p p p p
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oder: 2 ?????
EL'
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V. Abweichende Untertheilung zusammengezogener Zahleinheiten.
134
2 000 0000
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/oder:§r=r=y/
oder:
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3 Lf_P
oder: ? ? ? ??
f f f Oder: 3
u
ULf
3
m*r_f
H
y Lr
u. s. w.
Hier ist die Ausfiihrung der Quintole kaum irgendwie schwerer als die der
anderen Untertheilungsmotive.
Die Quartole ist als Untertheilungsmotiv nur dann auffallend, wenn ihr die
Unterdreitheilung als das gewohnliche gegentibersteht; schwierig ist ihr Ver-
standniss auch dann nicht:
Der Begriff der Sextole ist im Gemeinbewusstsein etwas verwirrt, weil
man eigentlich nicht recbt weiss, wann die Komponisten eine untergetheilte
Triole und wann sie eine Doppeltriole meinen. Nach Analogie des 6li, 6/s, 6/i6
und 6/2 Taktes sollte man meinen, dass die Bezeichnung einer Figur mit 6
darauf hinweisen mtisste, dass dieselbe als § verstanden werden soil. Statt
dessen ist es Gebrauch, die Doppeltriole in ihre beiden Halften zu zerlegen:
a               a
* * * 0 0 0
&
0 0 0 0
riii
und mit 6 die sechstb'nige Untertheilung zu bezeichnen, die nicht in 2.3 zerlegt
werden darf, sondern wie man sagt „ohne Accente" gespielt werden soil, mit
auderen Worten die untergetheilte Triole (f):
-ocr page 144-
30. Quartole, Quintole, Sextole, Septimole, OktoleundNovemole alsUntertheilungsmotive. 135
Diese ist also die eigentliche Sextole. Es versteht sich, dass man ihr den
Namen nicht in dreizahligen oder unterdreitheiligen Taktarten beilegt, wo er
eine schliehte Bildung und kein rhythmisehes Problem ist, sondern nur in
zwei- oder viertheiligen Takten oder Untertheilungen. Die Sextole ist auch als
ein die Beschleunigung der Zahleinheiten des vierzahligen Taktes bedeutendes
Motiv begreiflich:
doch ist das immerhin selten; aucb konnte man darin immer die hemmende (in
grosseren Wertben auszudriickende) Triole (3 fur 4) sehen. Eine ganz gewohn-
licbe Bildung ist dagegen die Sextole im zweizahligen Takt:
oder, was dasselbe ist, far zwei Zahleinheiten des viertheiligen:
besser:
I I
Die gewohnliche Anweisung, dass die Sextole ungegliedert zu spielen sei,
ist nur cum grano salts verstanden richtig. Allerdings soil man sie nicht in
drei zweizeitige Gruppen zerreissen; es ist aber durchaus erforderlich, dass der
Ausfilhrende sie als untergetheilte Triole versteht, wenn er sie nicht so un-
bestimmt vortragen will, dass der Horer freies Spiel hat, sie als Doppeltriole
aufzufassen. Wie viel darauf ankommt, dies zu verhiiten, geht zur Geniige
daraus hervor, dass die Doppeltriole fur zwei Zahleinheiten diese ganz schlicht
untertheilt, wahrend die untergetheilte Triole eben an Stelle von zwei Zahl-
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136              V- Abweiohende Untorthcilung zusammengezogoner Zahleinheiten.
zeiten drei setzt, also das Grundmass verandert. Die Triole in der Ordnuug der
Ziiblemheiten (grosse Triole) ist eben ein ungleich bedeutsameres Gebilde als
die Untertheilungstriole.
Da icb filr die Taktvorzeicknung 6/8 u. s. w. neue vorgeschlagen babe, so
habe ich natilrlich gegen die Bezeielmung der ecbten Sextole (untergetbeilten
Triole) mit 6 nicbt das mindeste einzuwenden; doeh mochte ich sehr darauf
hingewiesen haben. dass absolute Uebereinstimmung und Bestimratheit in solchen
Dingen unerlasslieb ist, wenn nicbt schone Wirkungen verloren geben sollen.
Ueber die Septimolen, Oktolen, Novemolen brauchen wir nicbt viel Worte zu
machen, wir konnten sonst audi den Undecimolen und noch vielen mehrtheiligen
unregelmiissigen Untertheilungen, die zufallig sicb hier und da ergeben, ebenso
besondere Paragraphen widmen. Septimolen (siebentonige Untertheilungen)
kommen vor fur 6 oder fiir 8 Werthe derselben Schrcibweise:
Da die Septimole wie die Quintole keiner gleichtbeiligen Untergliederung
fiihig ist (7 ist Primzahl), so ist sie nur in rapider Bewegung von guter Wir-
kung, wenn sie in ihrer Gesammtheit einer Ziihleinheit entspriclit; anderenfalls
beunrubigt sie stets, erweckt durch ibre Schwerverstandlichkeit iisthetisches
Missbehagen. Die Oktole bringt acht gleicbe Werthe fiir 6 oder 9; im § Takte
ist sie nicbts anderes als eine Doppel-Quartole oder Verbindung zweier unter-
getbeilten Duolen, im | oder ft Takte aber eine untergetheilte Quartole:
rn i—I
• • • »
2   J         J.
3    • o e • • 0
J ! i I
J J J J
1 I '■ ! r i ;
3 J.        J.        J.
3 UJ LIT LIT
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31. Bndpauseu.
137
Die Novemole bringt neun gleiche Werthe fiir 8 oder fur 6; in ersterem
Sinne ist sie eine interessante Bildung, da sie eine unterdreitheilige Triole, eine
potenzirte Triolenbildung ist:
Hier ist sie durch die Schreibweise im ersteren Falle als untergetheilte
bemmende Triole (drei flir vier), im letzteren als treibende Triole (drei fiir zwei)
in Unterdreitbeilung erlautert. Die gewohnliche Schreibweise in denselben
Werthen wie die durch sie vertretene acht ist:
Docb mochte ich die andere Motiviruugsweise fiir besser halten, welche die
Triole stets als Werthverkiirzung erscheinen lasst, sei es in der Ordnung der
Zahlzeiten (grosse Triole) oder in der nachst hoheren (bemmende Triole).
VI. Kapitel.
Die Pausen.
§ 31. Endpausen.
Pause*) ist die Negation des musikalischen Lebens, des Tones; sie hat
nur im Gegensatz zum Tonen Bedeutung und kann nur am gegliederten Ton
gemessen werden. Darum sind Vorpausen, d. h. Pausen, die dem Anfang des
Tonens vorausgehen, eigentlich ein Nonsens und nur praktische Manipulationen
(Ermoglichung pracisen Einsatzes mehrerer Instrumente oder Stimmen durch
vorausgeschickte Taktschlage des Dirigenten) konnen zu einer musikalischen
Gliederung der Zeit flihren, die nicht durch Ton erflillt wird. Dagegen ist es
wohl denkbar, class wir die gleiehmassige Gliederung der Zeit noch eine Weile
*) Vom griechischen 7iaveo9cu: aufhoren.
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VI. Die Pausen.
138
fortsetzen, wenn das T6nen aufhort; besonders wird das dann der Fall sein,
wenn ein Zeitraum, den wir nach Analogie vorausgegangener als Einheit auf-
zufassen gewillt oder bestimmt sind, nicht ganz mit Tongebilden erfullt ist, viel-
mehr das Tonen vor Ablauf desselben aufhort. Der dadurch entstehende eigen-
artige asthetische Eindruck ist die Empfindung kleiner Zeitabsehnitte von
bestimmtem dynamischem Werthe entsprecbend der Dynamik der Tone, welche
bei einer der vorausgegangenen Entwickelung entsprechenden Fortspinnung des
melodischen Fadens diese Zeitabsehnitte erfullen wiirden. Wenn z. B. eine
Melodie in anbetont zweitheiliger Taktart irgendwo mit der dynamisclien Haupt-
note des Taktmotivs abbricbt:
2 n i n i n i r
so werden wir die zweite Zahlzeit des letzten Motivs doeh nocli empfinden, ob-
gleicb kein Ton sie vertritt, d. b. wir werden nocli einen kleinen Zeitabscbnitt
(ein Viertel) mit dynamischem Werthe erfullen, wahrend die weitere Zeit musi-
kalisch indifferent wird. Der dynamische Werth der Pause wird in dem ge-
wahlten Falle der des diminuendo sein:
i i I I ill Mr*
Bricht dagegen eine Melodie in abbetonter zweitheiliger Taktart mit der
crescendo-Note, also vor der dynamisclien Hauptnote ab:
Mr Mr rU
2 •
so muss nothwendig der Pause, die wir in solchem Falle ebenfalls empfinden,
der dynamische Werth des Schwerpunktes im Taktmotiv zufallen. Dem durch
die vorausgegangenen theoretischen Betrachtungen und vielseitigen Vorstellungs-
iibungen geklarten und erstarkten Auffassungsvermogen wird es nicht schwer
werden, den ganz wesentlich verschiedenen tisthetischen Werth der aufgezeigten
beiden Arten von Endpausen zum Bewusstsein zu bringen.
Wie wir wissen, schliessen sich aber viel grcissere als zweitheilige Gruppen
zu Gebilden von Einheitsbedeutuug zusammen und es miissen daher auch, wo
mehrere metrische Einheiten (Zablzeiten) am Ende fehlen, diese als Pausen von
verschiedenem dynamischen Werthe empmnden werden konnen. Zunachst im
dreitheiligen Takte:
3 • o m           » 0            000           0 . .
rrrirrrirrrirMi
:>0 00»000 000i .
i ii r i 11 i i 11 i i I ii I
i\ i
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31. Endpausen.
139
oder im viertheiligen:
4 rTr r i r r r r i r r r r i r n j
4 rl pTp'pI rTr'rlrTr'rl HI1
1 • •
riih r r r 11 r r r 11 r * 111
Von einer eigentlichen Dynamik der Pause kann ja nun nattlrlich nicht
die Rede sein, wenigstens nicht in dem Sinne, in welchem wir das Wort bisher
gebrauchten und in welchem es gewohnlich gebraucht wird, namlich dem von
Tonstarke; es kann sich vielmehr nur um einen verschiedenen Werth handeln,
den das Nicht-Tonen fur unser Empfinden erhalt, je nachdem es als Negation
eines starkeren oder schwacheren Tonens auftritt: mit anderen Worten, die
Pause ist das Nacbbild des Tones resp. des aus einer Reihe von
Tonen verschiedener Dynamik bestehenden Tonbildes. Wie man
nach kraftiger Einwirkung von hell beleuchteten Korpern auf das
Auge ein negatives Bild derselben sieht, wenn man die Augen plotz-
lich fest schliesst, wie eine hellere Liclitflache einen desto intensiver
dunklen Fleck giebt, so entspricht der ausfallenden dynamiseh werth-
volleren Note eine intensivere Empfindung des Nicht-Tonens, eine
starkere Negation, eine bedeutungsvollere Pause. Hieraus geht zur
Genttge hervor, dass die das letzte Motiv beginnenden, aber nicht beendenden
Tone nicht zusammen mit den Pausen eine continuirliche Empfindung geben
konnen; vielmelir stehcn beide in scharfem Kontrast und die Empfindung springt
vom positivcn zum negativen um; daraus erklart sich das ablehnende Verhalten
unsercr Auffassung gegen Bildungen wie die drei letzten des viertheiligen und
die beiden letzten des dreitheiligen Taktes. Nicht als ob es unmoglich ware,
dieselben zu verstehen, oder als ob sie nie vorkiimen — sie wirken aber stets
verletzend, das plotzliche Abreissen des Fadens im crescendo, ehe das Motiv
seinen Schwerpunkt gefunden hat, verursachte eine Unlustempfindung, ahnlich
etwa einer unaufgelost bleibenden Dissonanz. Der tonende Theil sehmilzt eben
nicht mit dem durch Pausen erfiillten derart zusammen, dass das Motiv seinen
Schwerpunkt in der auf den betreffenden Zeitabschnitt fallenden Pause linden
konnte; vielmehr wird das Aufhoren des Tonens stets als wirkliches Ende
empfunden und die zur Erfiillung der imaginaren Zeitform erforderlichen Pausen
bestimmen nur den asthetischen Eindruck dieses Endes. Als Schluss, d. h. als
rechtzeitiges Aufhoren wird dasselbe nur dann erscheinen, wenn das letzte
Motiv seinen Schwerpunkt bereits vor den Pausen gefunden hat, also nicht
mehr in der positiven Entwickelung nnterbrochen wird.
Die Pause ist aber auch audererseits der rechten Schlusswirkung
unentbehrlich und zwar die in den Zeitraum eines begonnenen Motivs hinein-
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VI. Die Pausen.
140
fallende Pause — em pausenloses Auslebcn des musikalischen Gedankens, eiue
Erfiillung der metrischen Form mit tonendem Inhalt bis zum letzten Moment
wird selten eine befriedigende Schlusswirkung machen, vielmebr stets eine Art
Verwunderung erwecken, weshalb es nicht nocli weiter geht. Das musi-
kaliscbe Leben muss erst negirt werden und zwar in einem Zeit-
abschnitte negirt werden, der fttr unsere Vorstellungen einen dyna-
mischen Werth bat; erst dann wird die weiter nachfolgende Zeit
wirklicb musikaliscb indifferent wirken konnen.
Wir haben bereits oben darauf bingewiesen, dass die Gruppenbildung mit
der Feststellung zwei-, drei- oder viertbeiliger Motive ihre Endschaft nicht er-
reicbt hat, dass vielmebr die kleinen Gruppen sieb wieder zu zweien oder dreien
enger an einander scbliessen und so festgescblossene Einbeiten von 16, 18, 24
oder gar nocb mebr Zahlzeiten bilden konnen; die dynamiscbe Schattirung
musste stets so weit einheitlich ausgedehnt werden, wie das einheitlicbe Gebilde
reicbte. Es ist sonach klar, dass unter Umstanden der dynamiscbe Schwerpunkt
ziemlicb weit vom Ende der zu erfiillenden Form liegen kann, dass daher die
Zabl der durcb Pausen auszudriickenden Zahlzeiten erheblich wachsen kann.
Die Motivbildung hoherer Ordnung, welcbe man Phrasirung nennt, werden
wir im X. Kapitel ausfiibrlicber zu untersuchen babeu; es sei aber zum Voraus
bemerkt, dass zusammengesetzte Taktarten der metrische Ausdruck dessen sind,
was man in nielodisch-rhythmiseher Erfiillung Pbrase nennt. Wer unserer Dar-
stellung aufmerksam gefolgt ist oder sicb selbst durcb die grosseren metrischen
Formen und die Moglicbkeiten ihrer rhythmischen Modifikation durchgedacbt und
durehgeffihlt hat (Rhythmen muss man durchaus empfinden, um sie zu versteben),
wird mit der wacbsenden Ausdehnung der Bildungen immer mebr Interesse an
den auftaktigen Formen genommen haben, wahrend die anbetonten sich nur in
engeren Rahmeu lebensfahig erwiesen. Letzten Endes wird er zu der Ueber-
zeugung gelangen, dass fttr die langathmigen weiter ausgeftihrten Tongebilde,
welcbe man Phrasen oder Satze oder Perioden nennt, die allein naturgemasse
Entwickelung ein zuerst wachsen, steigern, werden und dann wieder abnehmen,
schwinden, vergehen ist, mit anderen Worten: die Inbetonung. Die Steigerung
muss schliesslich irgendvvo ein Ende erreichen; folgt ihr dann nicht das wieder
abnehmen, so muss der asthetischc Eindruck nothwendig der sein, dass das
Kunstgebilde nun in vollem Glanze vor uns steht, aber nicht wieder vergehen
will, dass wir es nicht wieder los werden konnen; wahrend die Ruckbildung
dasselbe wie eine Vision wieder verschwinden macht und in uns eine Art
Webmuthsempiindung erzeugen muss. Die nur negative Bildung der von An-
fang bis zu Ende abnehmenden Phrase vermag aber unser Interesse von vorn-
herein nur in geringem Grade zu fesseln. Wenn daher auch alle die hier in
Frage gestellten anderen Formen moglich sind und vom Komponisten mit Ab-
sicht und Bedeutung ausgefiihrt werden ki3nnen, so wird dock die Inbetonung
als die schlichte Form grosserer Ausdehnung angesehen werden mlissen, der
gegenuber die anderen als Ausnahmebildungen erscheinen.
Wenden wir uns darum zuniichst den Schliissen der inbetonten Formen zu,
um zu untersuchen, welche Rolle dabei die Pausen spielen, so mttssen wir von
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31. Endpausen.                                                      141
den einfachen Taktarten (2 und 3) ganzlich absehen, weil nie ein wetter aus-
geftihrter musikaliscber Gedanke aus einfach aneinander gehangten Taktmotiven
besteht, diese vielmehr stets zu grossere Gruppen zusammentreten, welche ent-
weder als grossere Taktarten notirt werden oder als sogenannte Taktgruppen
als zusammengeborig betracktet werden mttssen. Die kleinsten derartigen Bil-
dungen sind die Verkettungen zweier zweizahligen oder zweier dreizahligen
Takte; natiirlich muss aber sebon eine derartige Bildung vorausgegangen sein,
wenn in der njichsten eine Schlusswirkung moglich sein soil:
'I'll
r r r r i
iii ii
3
r r r r r r r r r r i i
I I I I I I I I I I I I I I I X
Hier drangt sieh vor allem eins unserer Walirnebmung auf, namlicli, dass
die das letzte Motiv beginnenden Tone dieses nur in dem Falle noch zur
Geltung zu bringen vermogen, dass eine von ihnen die dynamisclie Hauptnote
desselben ist, wahrend sie in alien iibrigen Fallen fest mit dem anderen Motiv
verwacbsen. Dadurch entsteben fttr die Auffassung Bildungen, wie wir sie
beieits im § 8 u. m. kennen lernten, namlich inkomplete und ttberkomplete
Motive, letztere durch Tone, erstere durch Pausen vertreten:
2 •
r i
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VI. Die Pausen.
142
Es stimmt das ganz zu den Erfahrungen, die wir bei auftaktigen (in- und
abbetonten) Motiven macbten, indem wir fanden, dass die dynaniische Haupt-
note derselben stets den Zahlpunkt hoherer Ordnung bestimmt: Feblt den
Pausen dieser Zahlpunkt, so erscbeinen sie lediglicb als Appendix
des letzten Motivs, dessen Zahlpunkt ein Ton war; fallt dagegen der
Zahlpunkt auf eine Pause, so lost sich ein wirklickes Pausenmotiv ab.
Wir erbalten so zwei grundverscbiedene Arten von Scblusspausen, solcbe,
die selbst ein Motiv vertreten und solcbe, die ins diminuendo eines tonenden
Motivs fallen. Die letzteren konnen obne grosse Veranderung der Wirkung
durcb eine Verlangerung des Schlusstones ersetzt werden:
ahnlich: 2
r r ! r a
iihnlich: 3
iii i r i                ' M h
ahnlich: 3
• • •        f
m 0        • i l
I                               \ I I                                 III
ahnlich: 3
Man versucbe in ahnlicher Weise die Ersetzung der Scblusspausen der
anderen Falle durcb Verlangerung der letzten Note und man wird finden, dass
die Wirkung eine ganz wesentlich verschiedene ist. Die Intensitat der Pausen-
empfindung ist bei dem Pausenmotiv eine so grosse, dass sie nicht durch ein-
facbes Fortklingen des Tones ersetzbar ist. Die Synkopirung der dynamiscben
Hauptnote des letzten Motivs wtirde eine Verstarkung des Anfangs der Lauge
(Synkopenaccent) verlangen, also die dynamiscben Wertbe verschieben:
I I
r I r r rtr
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31. Endpausen.
143
r r I r rTr
17
r
r
r f
wahrend bei Ersetzung der Schlusswerthe durch Pausen nur die vor der dyna-
mischen Hauptnote endenden crescendo-Tone, die aber in der grosseren Form
olmeliin ins diminuendo gestellt sind, in ihren dynamischen Werthen in sofern
vcrandert werden, als sie schneller zum dynamischen Nullpunkte herabfuhren,
wahrend die Pausen im negativen die vollen dynamischen Werthe der durch
sie ersetzten Tone des vollen Schemas erhalten.
Wollte man die Dynamik der Pausen und der Tone graphisch darstellen,
so mtisste man das thun mittelst Linien, die sich tiber den' dynamischen Null-
werth erheben (Tone) und unter denselben hinabtauchen (Pausen); da, wie wir
wissen, die dynamische Potenz der einfachen Motive auch bei deren Zusammen-
ziehung zu grosseren Formen von Bedeutung bleibt, wenn sie audi zufolge der
durchgehenden Starkeabstufung der grosseren Form nur durch Accente (dyna-
mische und agogische) zum Bewusstsein gebracht werden kann, so muss die
graphische Darstellung die Gestalt einer mehrfach gezackten Linie annehmen,
deren Form sich aus der Zusammensetzung erklart:
1.
(dreitheilig inbetont)
(in niederer Ordnung inbetont)
r \r rir \r J
(in hoherer Ordnung abbetont)
r |r rL,Jr_ir i
(kombinirte Dynamik)
r ir r r
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VI. Die Pausen.
144
(dreitheilig abbetont)
(J) |(J)
(in niederer Ordnung abbetont)
(in hoherer Ordnung' anbctont)
(kombinirte Dynamik)
r r r r
* I*
Diese beiden Beispiele mogen geniigen, den Empfindungswertli der Pausen
zu veranscbaulicben; die Erhebungen liber die Null-Lime nach der + Seite be-
zeiclmen die Tonstarke, die (schraffirten) Senkungen unter dieselbe nacb der
— Seite die Pausenstarke. Letztere entspreelien genau den vertretenen klingen-
den "Werthen.
Die nur das diminuendo im letzten Taktmotiv erfiillenden Pausen treten
haufig mit nocb geringerem Werthe als dein einer Zahleinheit auf, z. B.
! -
• B            B B -
I              ill              ' •
und sind solchergestalt selbst fUr die Falle moglieh, wo im abbetontcn Schluss-
motiv die dynamiscbe Hauptnote nocb vertreten ist:
2 a
Bereits im § 4 definirten wir den dynamischen Nullpunkt als die
natiirliche Scbeidegrenze der Motive und verstauden unter dynamischem
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31. Endpausen.                                                      145
Nullpunkt entweder das wirkliohe Aufhoren ties Tonens (also die Pause) oder
ein dessen Stelle vertretendes Minimum der Tonstarke. Konnte innerhalb eines
Tonstttckes eine solche Vertretung des wirklichen Nullpunktes als moglich er-
scheinen, indem thatsachlich oft lange Eeihen von Takten ohne eigentliche
Unterbrechung des Tonens vorkommen, so ist der dynamische Nullpunkt
im strengsten Wortsinne am Schlusse des Tonstttckes selbstverstandlich
unersetzbar. Aber auch im Verlauf des Tonstttckes ist seine Vertretung durch
ein dynamisclies Minimum zwar etwas sehr hiiufiges, doch keineswegs die Kegel.
Es ist etwas ganz bekanntes, dass die Schlusstone der Phrasen oder wo die
Verkettung loser ist, aucb der Motive, zumeist abgesetzt, d. b. nicht in ununter-
broclienem Tonflusse zu den Anfangstonen der folgenden Phrasen oder Motive
fortgefiihrt, sondern von diesen durch kleine Pausen geschieden werden. Vielfach
sind diese Pausen nicht anders, als durch das Ende eines Bogens oder auch
gar nicht angedeutet und mttssen also ad libitum, d. h. nach Massgabe des
guten Geschmacks, durch Abzttge vom Werthe der letzten Note gewonnen
werden; Gesichtspunkte, welche mangels einer Andeutung von Seiten des Kom-
ponisten dafttr entscbeidend werden konnen, ob man Uberhaupt die Phrasen-
resp. Motivtrennung durch wirkliches Absetzen oder aber nur durch eine un-
bedeutende Verlangerung der letzten Note bewirkt, werden wir weiterhin kennen
lernen (VII. Kapitel).
Die Grosse des Ton-Ausfalles, der eingcsehalteten Pausen, steht im all-
gemeinen in direkter Proportion zu der Grosse der durch die Lttcken gegen
einander abzugrenzenden Abschnitte und beim endlichen letzten Abschlusse
konnen dieselben noch ttber die Grosse eines Taktmotivs hinaus wacbsen.
Folgende Bildungen dttrfen als normale gelten (unter der Einschrankung, dass
noch wcitere Zusammenziebungen ohne Pausen moglich und nicht als Ausnahme-
bildungen anzusehen sind):
1 r r I " r 11
» 0             m 0            00             0 j               v i
r 1 p' r 1 r r 11 w r i r r i r r i r 111
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0 0 0' 000" i 0 0 0 ' 0 0 \ \\ 0 0 0 ) 0 0 0 \ 0 0 0 \ 0 \ v
1 1 r 1 r 1 v711 r r 11 i i n r i i mm i r m i i
r r r I r r r I r r r l r r r l r r r l r r r I r 111 x 11
Hi em an n, Mus. Dynamik unci Agogik.                                                                    10
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146                                                    VT. Die Pauscn.
r r I r i
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v r rir r piiiir nr
r i m 11
I ill i i I f XX I X
mi i in riii i mi
»• *
11
rm
rrr
I I XI I, M I i
Die zusarumengesetzten Taktarten stellen sich, wie niclit anders zu erwarten,
als identisch mit den einfachen heraus, d. h. ein viertheiliger Takt maeht die-
selbe Wirkung wie zwei zu engerer Einheit zusammengezogene zweitkeilige; mit
der Vereinigung zweier viertkeiligen Takte sind wir daher bereits bei der Wir-
kung angelangt, welche die Vereinigung von vier zweitheiligen Takten maclit.
Die Schlusspause von drei Zahleinheiten ist also im Sinne der kleinsten Motiv-
gliederung bereits cine Pause von mehr als einem ganzen Motiv und liber sie
kommt man nicbt leicbt hinaus. Zwei dynamische Hauptnoten (lurch Pausen
zu ersetzen, gelingt nur unter besonderen Voraussetzungen, als letzter Absehluss
aber nur dann, wenn die Taktmotive zu Zalileinbeiten hbberer Ordnung ge-
worden sind, z. B.
o-
o-
XXX XXX
(dieselbe Wirkung baben Falle, wo statt der den ganzen Takt ausfttllenden
Note kurze mit nacbfolgenden Pausen eintreten). Weitaus in der Mchrzahl der
Falle ziehen es aber die Komponisten vor, die dynamisehen Hauptwerthzeiten
durch Tone zu markiren, wenn auch nur vielleicht durch kurze echoartige
Wiederholung des Schlussakkordes oder Schlusstones, so z. B. im Schluss des
Allegretto der E-dur-Sonate. op. 14, No. 1 von Beethoven:
H=HH§ps|gsi^i
3=3i niR
statt:
z=t
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32. Innenpausen.
147
Die nach clem letzten c noch eingezeiclineten Pausen (I I w) sind in sofern
tiberfliissig, als die metrische Form ohne sie bereits erfilllt ist. Sie deuten also
inn- die Einschaltung eines musikalisch iudifferenten Zeitabschnittes (das
Gegentheil eines attacca-Weitergehens) an. Man kann solche einzelne das Ton-
stuck abschliessende Schlage haufig geradezu als Vertreter von Pausen
bezeielmen, besonders dann, wenn die Harmonie sowohl als die Melodie sich
ausgelebt liaben und lediglieh die Metrik und Rbytlimik noch die letzten Athern-
ziige thun.
§ 32. Innenpausen.
Die im vongen Paragraphen betraehteten Endpausen erseheinen theils als
Verkiirzungspausen (Untertheilung der abschliessenden Zahleinheit in einen
klingenden und eiuen nichtklingenden Tbeil), theils als Zahlpausen (d. b.
Pausen fiir ganze Ziihleinlieiten), diese aber in hoherer Ordnung meist auch nur
als Verkiirzungspausen, seltener als Vertreter eines Motivs (Motivpausen).
Diese selben Kategorien von Pausen werden wir nun auch innerhalb der
theinatischen Bildungen wiederfinden. Der Werth der Innenpausen bestimmt
sich nach denselben Gesicbtspunktcn wie der der Endpausen, d. h. die Pause
erbalt negativ denjenigen dynamiscben Werth, welcher dem durch sie vertretenen
Tonwerthe zukommt. Die Innenpausen haben aber an und fiir sich eine ganz
andere asthetische Bedeutung als die Endpausen; wahrend letztere das Ende
eines Tonstiickes oder eines mebr oder minder in sich abgeschlossenen Gliedes
eines solchen, das aufboren des musikalischen Lebens, das ausleben des musi-
kalischen Gedankens bedeuten, ist die Innenpause eine Unterbrechung der musi-
kalischen Entwiekelung, ein abreissen und wieder ansetzen der dynamiscben
Sehattirung, welches dieser jederzeit einen Tbeil ibrer Energie nebmen muss,
dafiir aber durch das anregende Element eines neuen Toneinsatzes entscbiidigt:
r r i \ r i \ r i i
Hier ist im ersten Falle die Innenpause eine Motivpause, die Endpause eine
Zahlpause, aber in hoherer Ordnung Verkiirzungspause; im zweiten Falle sind
die Innenpausen Zahlpausen (in hoherer Ordnung Verkiirzungspausen), die End-
pausen vertreten ein ganzes Motiv. Die grapbiscbe Darstellung der Dynamik
wiirde sich gestalten:
10*
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148
im ersten Falle:
VI.
r r it
O ' lusiiiiiiiii
r |p
1
(in niederer Ordnung anbetont)
(in hoherer Ordnung inbetont)
(kombinirte Dynamik)
im zweiten Falle:
t \r t It
r t
(in niederer Ordnung abbetont)
(in hoherer Ordnung anbetont)
(kombinirte Dynamik)
llliiii^—
Ieh weise noehmals darauf hin, dass die dynamische Potenz der zwei-
theiligen Motive nicht direkt zur Geltung kommt, vielmehr in der Dynamik der
grosseren Bildung aufgelit; dennoch liisst sich niclit leugnen, dass ihre Wertlie
ein mitbestimmender Faktor des Eindrueks sind, den die Bildung maclit.
Der auslibende Musiker kann unmoglich bewusst dynamische Abstufungen
von solcher Vielgestaltigkeit machen; aber er empfindet die natiirliclie Gliederung
in zweitheilige Motive und bestrebt sick, diese zu hoherer Einheit zu ver-
sehmelzen dureh dynamische Schattirung im grossen; moglich, dass diese
Schattirung die innere Gliederung verriith — jedenfalls wird sie dem Horer be-
greiflich. Vieles wird ohne Zweifel nur Sache der Vorstellung und nicht der
Exekution sein — das geht allein schon aus den zweifellos verschiedenen
Werthen der Pausen hervor, welche der grosste Virtuose nicht zu schattiren
-ocr page 158-
32. Innenpausen.
149
vermag, wenigstens nicht dynamisch; in wie weit aber etwa die Agogik, die ja
im allgemeinen mit der Dynamik parallel geht, in den Fallen ganzlicher Negirung
der Dynamik (Pause) flir letztere Ersatz schaffen kann, das wage ich bisher
nicht zu entscheiden. Vielleicht wird die an Stelle des starkeren Tons gesetzte
Pause verlangert.
Die Pause innerhalb des Motivs oder der Phrase bedeutet so gut wie die
am Ende derselben das Aufhoren des gebundenen Vortrags, d. h. diejenigen
Tone, denen Pausen folgen, erscheinen abgesetzt, von weiterhin folgenden Tonen
abgetrennt, die Pause bedingt also das Non legato. Untertheilungspausen werden
bei lebhafterer Bewegungsart geradezu das wirkliche staccato bedingen, sodass
der staccato-Vortrag als eine Verktirzung der einzelnen Tonwerthe durch Pausen
erscheint:
LU
: -> i
Das Staccato ersetzt den zusammenhangenden Fluss des Tonens durch eine
Art tropfenweisen Abfallens; crescendo und diminuendo sind ihm zwar moglich,
doch nicht in Kontinuitat, sondern ruckweise (accentuirend) mit steter Unter-
brechung durch Tonvacua, durch negative Werthe, deren Bedeutung mit dem
crescendo immer mehr wachst und mit dem diminuendo wieder abnimmt, bis
der dynamische Nullpunkt fur positive und negative Werthe definitiv eintritt.
Fassen wir den Begriff des Staccato oder Non legato so weit, dass er auch
die durch Zahlpausen isolirten Zahltone umfasst, wie in dem zweiten der oben
graphisch versinnlichten Beispiele, so haben wir damit ein klar unterscheidendes
Merkmal fur eine grosse Kategorie von Iunenpausen gewonnen; wir wollen die-
selben wie bisher Verkiirzungspausen nennen, doch mit dem bestimmten Hin-
weise, dass Verktirzung in dem flir diese Terminologie gewahlten Sinne stets
nur die partielle oder ganzliche Ersetzung des Diminuendotheils eines Motivs
oder einer Zahleinheit durch Pausen ist, z. B.
I llfi
PP HP1 '*'•*' I ' *
r i r r i r I r i r I r n
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3 rvrifj
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tins1
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VI. Die Pausen.
150
Die kleineren Verklirzungspausen werden in der Notenschrift gewcilmlich
nicht ausgesehrieben, sondern durch die Bezeiclmimg staccato (non legato, por-
tato) oder durch Punkte iiber den Noten gefordert:
J (staccato)
f
        |* J (mezzostaccato)
oder: 2
oder: 2
J (portalo)
I I
Ich glaube aber, durch die veranschaulichenden Zusammenstellungen in
diesem Paragraphen die Bedeutung des Staccato als einer rhythmischen Ver-
auderung des nietrischen Schemata (cben durch Untertheilung der Werthe in
einen klingenden und einen nicht klingenden Theil) klar gemacht zu liaben, so-
dass die bereits im § 2 kategorisch ausgesprochene Ablehnung des Staccato
als schlichter Vortragsweise hinreichend motivirt erscheint.
Die Verklirzungspausen erweisen sich zuletzt stets als Endpausen; denn
auch in dem Falle
u. ?. w.
l
I \ \ \ I
wird die Auffassung unvermeidlich vom Verstandniss anbetonter zu dem in-
betonter Motive umspringen, sodass die Pausen die Motive absehliessen:
J
I i
Dagegen sind Falle moglich, wo eine im crescendo stehende Pause ohne
Umdeutung des Motivs verstanden wird, namlich:
3 rrff' rTr?'
Die Umdeutung dieser Bildung in:
3 r
r i
i
wiirde demselben alle Kraft rauben, etvvas ganz anderes aus ihm machen.
Allerdings muss die agogisehe Schattirung kraftig zur Verstandlichung mithelfen:
Nil.
q • 1               • *f
6 I     i I " ^
string.
d. h. die erste Note des Motivs wird voll ausgehalten, die Innenpause moglichst
knapp bemessen (stringendo), die Schlussnote verkiirzt und die Verkiirzungs-
pause reichlich ausgehalten (7-)-
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32. Innenpausen.
151
Aehnliche Bildungen mit solclien wahrbaften Innenpausen sincl im vier-
theiligen Takt:
I 1     II     I i I I I
\ I \                        I I I I I
4 •
i r
Die beiden ersten dieser Bildungen sind ganz den obigen des dreitheiligen
Taktes analog und bediirfen derselben agogisehen Scbattirung. Dagegen weieht
die letztere in sofern ab, als die Pause im Motiv niederer Ordnung (dem zwei-
theiligen) nicbt End- sondern Anfangspause ist. Wir raussen nun der Frage
naher treten, ob die Anfangspause ausnahmslos von der Auffassung abgelelmt
id. h. umgedeutet) wird, oder ob sie unter besonderen Bedingungen verstandlich
werden kann. Dabei seben wir zunachst von der Rbythmik des mebrstimmigen
Satzes (Polyrhythmik) ab, welche durcb die schlichten Rbytbmen einer Stimme
die komplizirtesten Verhaltnisse der anderen verstandlich machen kann.
Einer der oben graphisch veransebaulicbten Rbytbmen, namlich:
III ill ill III
weist die Anfangspause im Motiv niederer Ordnung dreimal auf (das dritte Mai
im Pausenmotiv). Springt man hier unserer Auffassung nun zu:
■>
i          ill*          11
oder halt sie die Abbetonung der zweitheiligen Gruppen fest? Die Frage ist
nicbt in dem einen oder dem anderen Sinne kurzweg zu entscbeiden. Beide
Auffassungen sind tbatsachlich moglich und jede derselben bedingt eine andere
Ausfiibrung; wird die Note als Schluss des Motivs angenommen, so wird sie
nacb unserer bisherigen Erfabrung zur besseren Gelteiidmachung der Abbetonung
verkUrzt werden:
2 Pi) ' 1 ) Pi) )
I I 1/ ~ * I V 7 * I P T * | *
die dann im crescendo stebenden Pausen sind knapp zu geben. Springt da-
gegen die Auffassung um zur Aunabme der Pausen als Motiv-Enden, so sind
die Noten auszuhalten und auch die Pausen fallen, da sie im diminuendo (dem
agogiscli das ritardando entspricht) steben, reichliclier bemessen aus:
2 r I M I f i I r i 11
-ocr page 161-
VI. Die Pausen.
152
Der ganze Rhythmus erscheint also in dem ersteren Falle gedrungenev,
lebensvoller als im zweiten, obgleich dieser mehr Ton und jener melir Pause giebt.
Betrachtungen wie die vorliegende lassen es docli als wlinschenswerth er-
scheinen, dass dem Komponisten die Mdglickkeit gegeben sei, eventuell aucb fttr
die Motive niederer Ordnung die Grenzen andeuten zu konnen, wenn es aucli
in der Regel nicht von besonderem Belang sein wird, ob der vortragende
Kttnstler diese oder jene Auffassung vorzieht. Eine gewisse Freiheit der Deutung
darf der letztere auch mit Reckt beanspruchen; um so unerlasslicher erscheint
es aber, dass das Verstandniss der Metrik und Rhvtlimik auf eine hohere Stufe
gehoben und der Kiinstler befahigt werde, sich iiber das, was er thut, genau
Recliensehaft geben zu konnen. Damit ist noch lange nicht gesagt, dass er das
immer und iiberall wirklich thun soil und dass die von Reflexion fieie Spontaneitlit
des Ausdrucks verbannt werden sollte. Nach dieser Richtung kann ich nicht
genug von einem Missverstehen meiner Absichten warnen; das Studium der
Metrik und Rhytbmik soil so gut wie das der Harmonik und Melodik nur eine
Uebung der Vorstellungskraft, eine musikalische Geistesgymnastik
sein, welche die Phantasie und Auffassungskraft nach alien Seiten hin starkt
und vor Einseitigkeit bewahrt.
§ 33. Rhythmische Pausen.
Wenn auch alle Pausen rhythmisch sind, d. h. zu den Umgestaltungen ge-
horen, welche das schlichte Metrum bei der Erfiillung mit musikalischem Leben
erleidet, so standen doch alle bisher betrachteten Arten der Pause in sofern in
engerer Beziehung zum Metrum, als sie entweder selbst metrischen Zahlzeiten
entsprachen oder (die kleineren Verkurzungspausen) die metrischen Zahlpunkte
als tonerfttllte bestehen liessen und dieselben nur durch kleine Tonvacua von
einander schieden. Wir werden deshalb diejenigen Pausen ganz speciell als
rhythmische bezeichnen dtirfen, welche die rhythmischen Bildungen der zu-
sammeugezogenen Untertheilung und untergetheilten Zusammenziehung voraus-
setzen.
Die durch Zusammenziehung aus der Unterzweitheilung entstehenden rhyth-
mischen Motive des zweizeitigen Taktes sind: die Punktirung, die Synkope und
der Vorschlag:
J. }
.N.
Ein ttberaus haufiger Rhythmus ist die Ersetzung des Punktes der ersten
Bildung durch eine Pause:
2 r' m r i' i r' m r i
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33. Khythmische Pausen.
153
War schon bei der Punktirung der Uebergang der Auffassung zu der auf-
taktigen Form " | | geboten, so ist das natiirlich hier um so bestimmter der
Fall, da kein vernlinftiger Grand ersichtlich ist, weshalb man die Pausen als
Anfange des kleinen Motivs ansehen sollte:
i
2 • - •
H M M M r ' M n
Die Pausen liier sind unzweifelhaft Verktirzungspausen, aber in dem Sinne,
wie Zablpausen Verklirzungspausen sein konnen (§ 31), da die Pausen auf
die Zahlpunkte fallen:
Die Zalileinheit ist also umgekehrt untergetheilt als in den bisher betrach-
teten Fallen der Verkiirzung des Endwertbes (Staccatovortrag), sofera hier der
nicht klingende Theil der erste ist und der klingende nachfolgt. Diese Art der
Untertheilung kann auch langere Zeit fortgesetzt werden und giebt dann eine
Bildung, die man negatives Staccato nennen konnte:
i r i
• u. s. w.
Die Wirkung dieses Ehythmus ist der Synkopirung verwandt:
21 r (T: r p
und tritt bfters fur dieselbe ein. Wir wissen ja, dass die Synkope, sofem sie
Tone auf Zeittheile anfangen lasst, die zwischen die Zahlpunkte fallen, Accente
verlangt, welche den Starkegrad, welcher dem nachsten Zablpunkte zukame,
nacb rttekwarts verscbieben (wobei man sicb natiirlich fur die Untertheilungen
selbststandige Schattirung zu denken hat):
r" rr rr S? far: r7 u LLLJ
Natiirlich erscheint der Ton, so schwach er auch sein mag, starker als die
Pause; die Wirkung muss daher ganz ahnlich sein:
2 r=T~7 fi Tl J Mr: T} T} t"? ^?
Ein zahes Festbalten an der Auffassung im Sinne der Anbetonung der
Untertheilung wlirde den Werth der Pause etwas verlangera und ein verktirzendes
absetzen der isolirten Tone gestatten:
' '
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VI. Die Pausen.
154
da die Pause auf den dynamischen Hauptvverth fiele und die Note das Motiv
abschlosse; umgekehrt erfordert die minutiose agogisclie Schattirung im Sinne
verschobener (synkopirter) Bildung das aushalteti (eigentlicli crescendo, da der
dynamische Hauptwerth nachfolgt, mindestens in gleicher Starke tenuto) und
einc kurze Fassung der Pause:
Eine Pausensynkopirung mtisste die Ersetzung der Lange der Synkope
durch Pausen ergeben:
v * v I v I v \
Die Wirkung dieses Gebildes ist aber vielmehr fast der der Pausenpunk-
tirung gleich:
Hier wie doit erfolgt die Umdeutung in die 1jiauftaktige Form, sodass die
Pausen ans Ende kommen (nur zwingende harmonisebe und melodiscbe Be-
ziebungen konnen im polyrliytbmisclien Satze die Umdeutung verhindern):
25
t l
und unter keinen Umstanden wird die Synkopirung der Pausen verstanden
werden:
) fur: *J *J           oder: • } • fiir: ••<•»•
da es einen zwingenden Grad fiir ilire Zusamnienziebung nicbt geben kann,
wenn Veranlassung zu ibrer gesonderten Auffassung vorbanden ist.
Als eigentlicbe Pausensynkopirung (Synkopenwirkung mit Iliilfe von Pausen)
erscbeint also die oben als negatives Staccato bezeiclmete Bildung, besonders
wenn eine Anfangspause vermieden ist und nur Innen- und Endpauseu an-
gewandt sind, wie oben gescheben.
Die Vorschlagswirkung (J** J.) wird entsteben, wenn in inbetonten Motiven
die beginneudc dynamiscbe Hauptnote durcb eine kurze Pause ersetzt wird und
der Rest des Notenwertbes zusammengezogen mit der zweiten Z&bleinbeit als
ein Ton erscheint:
Vorausgesetzt, das durch vorgangige schlichte Bildungen die Auffassung des
Taktes genugend bestimmt ist, wird die an Stelle der dynamischen Hauptnote
eiutretende Pause eine negative Empfindung von erbeblicber Intensitiit ver-
-ocr page 164-
33. Bhythmische Pausen.
155
ursachen. Diese Verzogerung der langen Note durch eine auf den guten Takt-
theil vorausgeschickte Pause war ein den alten Klavieristen wohlbekannter
Effekt, die sogenannte „suspension":
Man muss indess sehr vorsichtig sein in der Aunahme von Motiven mit
Anfangspause; denn die Pause ist weitaus in der Mehrzahl der Falle bestimmend
fur die Auffassung der Motivgrenzen und zwar im Sinne der Endpause. Innen-
pausen, die etwas anderes sind als schlichte Vevklirzungen (staccato), sind schon
selteu, Anfangspauscn aber nocb viel seltener; die Haufigkeit und Seltenbeit
stehen aber in direkter Beziebung zur Leiclit- oder Schwerverstandlicbkeit.
Formen wie:
311 r?] 11 n] °der: 31 \Tri
werden nur durcli klare Auspriigung der Metrums in einer anderen Stimme ver-
standlich werden konnen. Wenn das fiir das Metrum gilt, wieviel mehr fur
Untertbeilungsmotive, deren Auffassung bunt wecbseln kann, oline dass die Be-
deutung des Metrums verandert wird.
Die inkompleten und uberkompleten Untertbeilungsmotive sind uns bereits
gelautig; die Einfiilirung von Pausen in die Untertbeilungsrhytbmen wird uns
dieselben nocb unenfbehrlicber erscbeinen lassen. Dabei wird, wenn das Tempo
nicbt sebr langsam ist, von einem Empfindungswertb der Pause kaum die Kede
sein kiinnen, dieselbe vielmehr nur als Motivgrenze bervortreten; man vergleicbe
nur folgende Motive ihrer Wirkung nach:
und man wird fmden, dass dieselben keinerlei prinzipielle, sondern nur Grad-
unterschiede aufweist. D. b. also die gar nicbt notirten, im dritten Falle durch
das Lesezeichen ausgedriickten und die durcb ljs- resp. i/^-Zahleinheit wieder-
gegebenen Pausen baben alle drei dieselbe Bedeutung, namlich die der Motiv-
scheiden; sie differiren nur unbedeutend durcli ihre Dauer und deren Verbaltniss
zu den ubrigen Wertben des Motivs.
In den folgenden Rbythmen werden die Untertbeilungsmotive stets von
Pause zu Pause verstanden werden, sodass die Pausen weitere Lesezeichen
iiberfliissig machen:
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VI. Die Pausen.
156
r u r u r u r
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34. Abbetonte Pausen.
157
[13/ [13/ .[lid' I m/ 'Hi/ P"
3 ! I-1 I p                     T LI           ! *-< 1 [/               A
u. s. w.
Es verstelit sich, dass hier in alien den Fallen, wo Untertheilungswerthe
zweiten Grades (Sechszehntel) die letzten Noten im Takt sind, audi die Grenzen
der Taktmotive unbedeutend versclioben werden, indem das zweite Taktmotiv
von der letzten Pause des ersten Taktes an gerechnet wird. Im letzten Falle
ist sogar ein Achtel und ein Sechszehntel zum zweiten Motiv zu nehmen.
In der Weise des letzten und drittletzten Schemas werden oft grossere
Theile der Motive durch Pausen ersetzt, die natiirlich zum Theil Verklirzungs-
zum Theil Motivpausen sein mtissen:
iT'pgrc
41%' :'
I T
(Beethoven, Sonate pathetiqne.)
§ 34. Abbetonte Pause.
Die intensivste Wirkung muss eine Pause kervorbringen, welche am Schlusse
eines creseendo-Motivs statt der dynamischen Hauptnote eintritt. Da die Pause,
wie wir sehen, iiberall lieber als Ende denn als Anfang verstanden wird, so
sollte man meinen, dass sie auch, wo sie die dynamische Hauptnote vertritt,
leicht als Abschluss verstandlich sein mttsste; dem scheint indess die Praxis zu
widersprechen. Die Dynamik des ganzen Motivs hangt aber in solchem Falle
von der Auffassung der Pause ab. Fasst man z. B. im Presto der cis moll-Sonate,
op. 27, No. 2 von Beethoven das doppeltaktige Anfangsmotiv als anbetontes,
so fiillt die Motivgrenze auf den Taktstrich und das ganze Motiv verlauft metrisch
diminuendo; wird dasselbe crescendo gemacht, so kann das nur damit moti-
virt werden, dass sich das Motiv aus der Tiefe in die Hohe emporarbeitet;
das sf kann dann nur eine miissige Wucht bekommeu und muss sich auf die
Note, bei der es steht, beschranken:
Pi
-ocr page 167-
158                                                    VI. Die Pausen.
Fasst man dagegen die Motive als abbetonte mit Ersetzung der dynainischen
Hauptnote durch eine Pause (If), so fordert die natiirliche Dynamik und Agogik
eine durchgeliende Steigerung bis zur Schlusspause, d. h. die durch das sf an-
gedeutete Tonstarke wird ein wirkliehes forte und zwar kein plotzliches, sondem
ein gewaltig erwachsenes und gilt nicbt nur fiir den vorletzten, sondem audi
fur den letzten Akkord: die fiir die noch stiirkere Hauptnote eintretende Pause
ist dann ein plotzliches gewaltsames Unterdriicken. Wer Beethoven
kennt, weiss, dass ikm solche Intentionen niclit fremd sind: und doch, man iiber-
zeuge sich durch nachfragen, wie wenige Musiker von der gewaltigen Leiden-
schaftlichkeit dieses Satzes eine Ahnung haben. Dass die Untertheilungsmotive
abbetont laufen, lehrt ein fliichtiger Blick auf die Passage:
Dass die thematischen Gedanken Takt 9 if. (zweitaktige Phrascn), 33 if.
(halbtaktig), 43 ff. (eintaktig) abbetont laufen, ist so sonnenklar, dass es niemand
leugnen wird, der sich nicht im Banne der unabanderlich volltaktigen Auffassung
(von Taktstrich zu Taktstrich) befindet, d. h. der uberhaupt noch eine Spur
rhythmischen Gefiihls hat. Dazu kommt die charakteristische Tempobezeichnung
Presto agitato als Fingerzeig fiir das Verstandniss des aufgeregten Charakters
des Satzes, der anbetonte Motive uberhaupt gar nicht kennt. Die allein richtige
Dynamik ist daher fiir die x\nfangsmotive:
Hatte Beethoven der ersten Note des dritten Taktes, dem His des Basses, das
ihm zukommende sf beigeschrieben, so wiirde er die Halfte des durch den Aus-
fall der starksten Melodienote erzielten Effektes zerstoren; das His darf vielmehr
nur piano angegeben werden, wenn auch allenfalls etwas starker als der dirckt
daran ansetzende neue Motivanfang. Diese Folge dreier zweitaktigcu und eines
eintaktigen crescendo-Motivs mit Eistickung der erreichten Tonstarke durch eine
an Stelle der dynaniischen Hauptnote gesetzten Pause ist von fast beiingstigender
Wirkung, und die endlich im neunten Takt wirklich durch einen vollen Akkord
vertretene dynamische Hauptnote erscheint wie die Summe aller der in den acht
vorausgegangenen Takten aufgespeicherten Kraft. Sie macht gleichsam diese
acht Takte zu einem einzigen riesenhaften crescendo-Motiv, das in ihr sein ab-
-ocr page 168-
34. Abbetonte Pausen.
159
betontes Ende findet. Der ganze Satz ist ausserst belehrend fiir diejenigen,
welclie ail die Lehre von der natiirlicheii Dynamik der auftaktigen Fornien
niclit glauben sollten. Man sehe nur zu, wie weit man da mit der Accentuations-
tlieorie kommt! man wird statt Beethoven's zottigen Titanenhauptes einen ge-
miithlichen Philister daraus herausschauen seben.
Etwas dem Effekte der Unterdriickung der dynamischen Hauptnote ver-
wandtes, aber keineswegs auf eine Stufe mit ihr zu stellendes ist das sogenannte
Beethoven'sche piano, die unerwartete Ersetzung der grossten Ton-
starke durcb eine auffallend geringere. Dasselbe ist iibrigens keineswegs
so original beetliovensch wie man wohl glaubt; es findet zum mindesten seine
Vorgangerscbaft in dem bei Haydn und Mozart, ja bei Bacb so haufigen fp fiir
abbetonte zweitbeilige Motive:
• | • fiir: • I ,•
welches wir als eine iibermassige Verstarkung des Motivanfangs-Aceents gegen-
iiber der dynamischen Hauptnote erkannten (§ 5). Der emfachste Fall der An-
wendung dieses Eifekt-piano ist der direkt auf den Anfangsaccent zu beziehende
der piano-Abbetonung eines crescendo-Motivs wie (op. 14, No. 1, Bondo):
cresc.
ppr.
imm
zt==±
I
~0-
WEt
oder auch der Inbetonung mit iiberraschendem Eintritt des piano fiir die grosste
Tonstarke wie (op. 22, Adagio):
cresc.
und (daselbst):
cresc.
Beethoven geht aber weiter und verkettet mehrere Motive in der Art, dass
die ersten crescendo auf einen dynamischen Gipfelpunkt hinarbeiten, der dann
unerwartet durch piano ersetzt wird, z. B. (op. 2, No. 1):
-ocr page 169-
VI. Die Pausen.
160
sf                sf                sf                sf                  p
oder (op. 22, Rondo):
oder (op. 26, Thema):
(vgl. aucli op. 26, Scherzo, Takt 22 des Trio; daselbst, die letzten Phrasen des
Trauermarsches; op. 27, No. 1, c dur Allegro, die beiden ersten Phrasen;
op. 27, No. 2, Allegretto, 2. Theil und Trio; ich nenne nur, was mir der Reihe
nach beim Blattern vorkommt, es vergeht aber kaum eine Stunde, in welcher
ich nicht meinen Schiilera die Natur des Beethoven'schen piano erklaren mtisste,
so haufig ist dessen Vorkommen).
Ich behauptete oben eine Verwandtschaft dieses Effekt-piano mit der Pausen-
Abbetonung; diese Verwandschaft besteht darin, dass bei beiden die grosste
Tonstiirke negirt wird, das eine Mai durch wirkliches abbrechen des Tonens,
das andere Mai durch Reduktion auf ein Minimum — in beiden Fallen kommt
der asthetische Werth der dynamischen Hauptnote gerade durch die Negirung
der regularen Dynamik desto intensiver zur Geltung. Wiihrend aber die Pausen-
Abbetonung immerhin eine natiirliche dynamische Bildung ist, hat das Beethoven-
sche piano die Bedeutung eines willkiirlichen Effekts, allerdings aber eines Effekts
von bestrickender Schonhcit. Alle iritellen aber, in denen dieser Eff'ekt angewandt
ist, wiirden vielleicht minder interessant, minder raffinirt, meinetwegen auch
minder schon, keinesfalls aber minder natlirlich erscheinen, wenn statt des piano
die grossere Tonstiirke, die dem dynamischen Gipfelpunkte zukommt, mit nach-
folgendem diminuendo eingestellt wiirde.
-ocr page 170-
35. Rhythmus als Metrum (Grundrhytkmen).
161
VII. Kapitel.
Legato- und Staccato-Vortrag der rhythmischen Formen.
§ 35. Rhythmus als Metrum (Grundrhythmen).
Wir haben in den letzten Paragraphen die rhythmischen Motive stets wie
in den frtiheren die metrischen als sich melirmals wiederliolend gedacht und
dem entsprechend die Schemala notirt. Wenn es audi moglich ist, durch eine
Reihe von Takten das Metrum immer wieder anders rhythrmsck auszubauen, so
wiirde doch eine solche Vielgestaltigkeit auf die Dauer nicht von guter Wirkung
sein konnen und als Zerfahrenheit erscheinen miissen; das oberste G-ebot alles
Kunstschaffens, das der Einlieit in der Mannichfaltigkeit, fordert vielmehr eine
weise Beschrankung in der Auswahl der zu verarbeitenden Formen, d. h. im
einzelnen Falle die Durchfiihrung wenn auch nicht nur eines oder zweier, so
doch nur weniger Rhytbmen.
Die alten Griecken, deren poetische Metrik, wie wir bereits erwahnten, auf
Unterscheidung langer und kurzer Silben basirt war (vgl. § 12), stellten als
Grundtypen fttr die musikalische Bewegung rhythmische Reihen auf, deren Unter-
schiede nicht sowohl auf dem Gebiet der Dynamik als dem der Tondauer lagen;
auch die mittelalterlichen Musiktheoretiker stellten eine beschrankte (noch be-
schranktere) Anzahl von Normaltypen auf, die sogenannten Modi*), von denen
die ersten und wichtigsten sind:
(3) r • i ' ' i r ' i r pu-s-w-
(3) .N J ' JM J ' } I J ' .N J - B. w.
®r lt i r w i r lm r u * s. *.
(2) u i r' lt i r' lt i rw\ r'*•s-w-
und erst in zweiter Linie zogen sie Bildungen in Betracht, die sich in gleich-
langen Werthen bewegen:
<*>r r i r pip pip pu-s-w-
(3) LU I LU I LLP I LLP "•s-w-
indem sie erstere als durch Zusammenziehung (J. J. = J^J* J^^), letztere als
durch Auflosung (f f f = f *)entstanden erklarten. Die Griinde, weshalb wir
*) Vgl. meine „Studien zur Gesohichte der Notensohrift", S. 209.
K i e in ;i it n, Mus. Dynamik und Agogik.                                                                                       \\
-ocr page 171-
162                YH. Legato- und Staccato -Vortrag der rhythmischeii Formen.
das Verbaltniss jetzt umgekehrt auffassen, sind aus den friiheren Kapiteln er-
sichtlich; wir fussen eben nieht mehr auf der verschiedenen Tondauer,
sondern der verschiedenen Dynamik als erstem Fundament. Trotzdem
lasst sich nicht leugnen, dass auch die regelmassig zwischen Liingen und Klirzen
in bestimmter Folge wechselnden Rhythmen eine typische Bedeutung haben,
welche wir (§ 12) auf die Verwandtschaft der Wiikung von
2 P P mit 3 P P
II                  i '
zuruckfuhren zu miissen glaubten.
Thatsachlich erscheint oft genug ein Rliythmus langere Zeit streng fest-
gebalten, sodass er ganz ahnlich wirkt wie ein glatt verlaufendes Metrum. Seine
Auffassung ist selbst dann nocli moglich und oft genug nothwendig oder aus-
driicklicb gefordert, wo einzelne seiner Glieder untergetbeilt oder zusammen-
gezogen sind. Dadurch entsteben aber fur den Vortrag ganz neue Anforderungen,
Accente zur Herausbebung der Zeitpunkte, welche den zu Grunde liegenden
Rliythmus markiren, engere Vereinigung (legato) der Werthe, welclie Unter-
theilungen einer Note des Rliythmus sind, scharfere Trennung derjenigen, welche
der Rliythmus unterscheidet u. s. w. Der dem anbetonten zweitheiligen Takt
verwandte Rliythmus:
3 • p * p P P P P \
(nacb uuseren bisherigen Erfahrungen aber in der Regel umgedeutet in N 1)
wird auch dann far die Auffassung bestimmend bleiben, wenn die Lange
einzelne Male aufgelost wird:
u:\rnr
Der natiirlichste Vortrag wird dann der sein, dass die beiden Achtel, in
welchen die Lange aufgelost ist, verbunden und von dem dritten Achtel los-
getrennt werdon:
^SE^E^
-P^B-----
±:
=p=
Nur das Interesse der Vermeidung allzugrosser Gleiehformigkeit kann Ver-
anlassung werden, liebcr einen Weclisel des Rhythmus als eine innerliehe Um-
gestaltung desselben anzunehmen, und vom Absetzen des zweiten Achtels
dispensiren. Eine strenge Priifung des Eindrucks soldier festgehaltenen Rhythmen
erweist, dass die beiden zur Lange verwachsenen Einheiten nicht mehr
als zwei, sondern als eine Einheit von grosserem Gewicht empfunden
werden; der Rliythmus J J^ ist fiir die Auffassung, da wo er nicht erst
nacb vorausgegangenem glattem Metrum als Zusammenziehung auftritt, that-
-ocr page 172-
35. Ehythmus als Metrum (Grundrhythmen).
163
sachlich nur zweitheilig, aber die beiden Theile sind nicht gleichwerthig.
Das enveist sich besonders audi, wenn fiir die Lange erne Pause eintritt:
' I f
i i r ii *
u
\
Die Pause wird dann nicht zerlegt (in •/«/), was, wie wir in § 33 sahen,
so leicht und so gem geschieht, sondern ebenfalls als Einheit empfunden.
Riickwirkend wird nun aber cine haufigere Untertheilung der Lange und
der dadurch bedingte Weclisel zwischen Bindung (legato) und Trennung (staccato)
zur Ursache der Aufhebung des Legato fiir den grundlegenden Rhythmus selbst,
und in Folgen wie:
i
m
m
*=
H
w^
?5^
/--
wird die Sonderung der Glieder Jl_f f f sich gem fortsetzen, wenn die
Untertheilung wegfallt; statt des absetzens der Lange wird dann auch ofter
eine Verkiirzungspause eintreten:
Diese feine Gliederung eignet besonders dem graziosen und capricciosen
Stil, wahrend der seriose und sentimentale dieser Zerstiickclung der Phrasen,
dem Zerfallen in kleinste Elemente, eine langathmigere Verschmelzung der
Motive vorziehen werden. Man wird darum diese festgehaltenen Rhythmen in
Satzen von tieferem Emste und intensiverer Leidensehaftlichkeit iiberhaupt
seltener antreffen, wahrend sie fiir das Scherzo, Rondo, Capriccio und alle Arten
von Tanzstiicken etvvas ganz gewohnliches sind.
Bei komplizirteren Untertheilungen wird die Lostrennung der Kiirze von
der Lange sich als noch nothwendiger herausstellen, z. B.
1/ H
Wiihrend der volltaktige troehaische Rhythmus gewohnlich in den auf-
taktigen iambisehen umgedeutet wird, ist der volltaktige iambische an sich
11*
i
-ocr page 173-
164:                 VJJL. Legato- und Staccato-Vortrag der rhythmischen Formen.
wohlverstandlicb, wenn auch nicht besonders haufig; die Auflosung der Lange
erfordert ftir das Auflosungsmotiv Bindung und ftir die Glieder des Grund-
rhythmus Trennung:
u I i
r
r
Die oben erwahnten rhythmischen Accente werden den Anfangen der rhyth-
mischen Einheiten (Mer J^ und J) gegeben; sie sind von Bedeutung bei reich-
licberer Untertbeilung:
ri rs
?*????
V I
ffffff
P P P' 9 P
r -T i h i
Die Aecentuirung
wiirde die Auffassung im Sinne
des Grundrbytbmus J j* [ J J^ | bedingen.
Der Accent bleibt als alleiniges Mittel zur Kenntlichmacbung eines Grund-
rhythmus, wo Tonwiederbolung eine Unterscheidung von Legato und Staccato
unmoglich macbt:
t t-
t- Ł
I
l^^^i^iigi
Da dem Legato und Staccato an sich astbetiscbe Wertbe eignen (vgl. das
VI. Kapitel), welclie der Komponist nach Belieben zur Anwendung bringen kann,
so wird haufig auch da, wo die melodiscbe Bewegung die Auspragung eines Grund-
rhythmus durcb legato und staccato gestattet, von diesem Mittel kein Gebraucb
gemacht, sondern die Aecentuirung allein zu dem Zwecke angewandt. Eine
dem durcb die Accentuation angedeuteten Grundrbytbmus geradezu wider-
sprecbende Anwendung des legato und staccato ist zwar moglicb:
$
-#-•-
mm-
diirfte aber kaum verstandlich sein, da sie keinen verniinftigen Zweck haben
kann. Dagegen sind allerdings in der Polyrbythmik verschiedenartige Grund-
rbytbmen in verschiedenen Stimmen zu begreifen (IX. Kapitel).
Die Vortragsart (legato und staccato) vermag selbst den zwingendsten
melodisch - barmoniscben Gegengriinden zum Trotz eine Untertbeilung anbetont
verstandlich zu machen:
fur:
i
f#P%^slpPiil
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36. Absetzen vor Aocenten.
165
Beide Spielmanieren stellen die Untertheilung in einer Weise in den Vorder-
grund, wie sie nur dem Miniatur-Genre oder dem tibermtithigen Capricciovortrag
angemessen ist. Die erste Manier setzt ftlr die Auffassung vollstandig die
Viertel als selbststandige Glieder:
i
und ein crescendo oder diminuendo ist nur nur durch abgestufte Accentuation
moglich. Der schlicbte Vortrag zerlegt dagegen die Viertel ganz gleichmassig
in Achtel und gestattet das absetzen weder nach der ersten noch nach der
zweiten Note. Mit wohlbedachter ktinstlerischer Disposition hat Schumann in
der Nummer ,Coquette' seines „Carnaval" die Theilung nach dem Leitton (aber
in abbetonten Untertheilungsmotiven) angewandt. Jedermann kennt die ganz
eigenartige Wirkung der Stelle: die Unnatur ist zur Charakteristik geworden.
Ein anderes minder pikantes aber doch sehr interessantes Beispiel ist das
Rondo von Beethoven's c dur-Konzert, dessen erstes Thema gespielt werden soil:
P^m^
d. h. im Sinne eines Staccato von lauter Achteln:
S
Ich mochte daher die substituirte Bezeichnung:
i
Ą—F=
nicht filr richtig, d. h. von Beethoven intendirt, halten.*)
§ 36. Absetzen vor Accenten.
Der Accent, die von der schlichten dynamischen Schattirung der Metra ab-
weichende Extraverstarkung einzelner Tone ist selbst schon eine Unterbrechung
des glatten Anschlusses und wird daher leicht eine noch weitergehende Trennung
der betreffenden Note von der vorausgehenden nach sich ziehen. Diese Los-
*) Bei der Korrektur dieses Paragraphen steigen mir starke Bedenken auf, die ich
nicht unterdriicken will. Doch mag der Paragraph stehen bleiben und eventuell zu leb-
hafter Diskussion Anregung geben. Br offnet dem AViederdurchbruch der in den fruheren
Kapiteln so energisch bekampften anbetonten Auffassung eine Hinterthiir. Nicht zu leugnen
ist, dass das tenuto der Schlussnote abbetonter Untertheilungen ein heilsamos Mittel bildet
gcgen das Zerbrockeln in die kleinsten Elemente; ob es aber zu einem gegentheiligen Zer-
brockeln in anbetonte Untertheilungen Veranlassung werden muss — das bleibt doch noch
stark zu bezweifeln.
-ocr page 175-
166                VII. Legato- und Staccato -Vortrag der rhythmischen Formen.
losung erweist sicli als das Verstandniss des Accents, also mittelbar audi das
der betreffenden rhythmischen Bildung erleichternd. Wir werden daher folgende
durch Zusammenziehung zweier Zahleinheiten in eine Lange entstandenen
Rhythmen, welche ftir die Lange einen (mehr oder minder hervortretenden)
rhythmischen Accent erfordern, haufig, ja meist mit Unterbrechung des legato
vor dem Accent antreffen:
r r
i i
r I -' Mr
. sf _             sfZ
r rrr ■r r
r r: irr
.■i
r I p
o
4 f f I r r f I r
4 r rrr r r rr
r r r i r
Im viertheiligen Takt wird, wo die beiden nicht zusammengezogenen Zahl-
einheiten als anbetontes zweitheiliges Motiv der Lange gegenliberstehen, auch
noch die Trennung beider von einander nothwendig (• p ,«?Y wenn nicht der
Grundrhythmus f* f* verstanden werden soil If f f*\.
Analoge Unterbrechungen des Legato aus rhythmischen Grunden sind
im I Takt:
1 i \ r1' lt"M r'p lt
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36. Absetzen vor Accenten.
167
5 M LLT r ' \LU r
3 M • r lt • • r u
I i -II
3 u I 5 p r lt I p 5 r
• • • »
3 rj
* * cjr I f ' p
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P LT LLT I P
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S/I
LT LL/TP LT LL/T'
3 M r u Mr c:
M 5 f Lf M i CU
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168                VII. Legato- und Staccato-Vortrag der rhythmischen Pormen.
I U I r p" 3 I r p
I p r I lt " fl* I u
lu r\ :uu rip
unci im f Takt:
i P I P LLP" P T CJLT
i p I p p p pt" p I p p p p
1 P I LP P P" P I CJ P P
i P I L/ { P'' P I LP P P
lU I P LT " LT I P LP
3
2 LP i P P P LP P P P
1 Lf I LP P" L' I LP f
2 ll? I p p " llp I p p
2 I ! I ! P I            ' i I              P I
I P P I LLP" P P I LL/
i P
             Lf
ILr rlLr"U pIcj
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37. Absetzen nach Untertheilungen.
169
i p p r M r 0 f r m g "
i mjT:" rro 11"
u. s. w.
Das Prinzip ist in den angefiihrten Beispielen anschaulich genug zur Geltung
gebracht; jedermann wird leicht ftir andere zusammengesetzte Taktarten die ent-
sprechenden Gebilde sich zurecht legen konnen. Es handelt sich aber wie ge-
sagt nicht um eine nothwendige, sondern nur urn eine nattirlich sich ergebende
Vortragsweise, die aucb als statthaft angesehen werden kann, wo der Komponist
mit Anweisungen gekargt bat (Handel, Back und andere iiltere).
§ 37. Absetzen nacb Untertheilungen.
Wie bei den durch Zusammenziehung entstehenden Rhythmen ein absetzen
vor der Liinge, so ist bei den durch Untertheilung entstandenen eine Verkiirzung
(absetzen) des ersten auf die Untertheilungswerthe folgenden Werthes der tiber-
wiegenden Bewegungsart, d. h. bei einfacher Untertheilung der nachsten Z&hl-
einheit, bei Untertheilungen zweiten Grades des nachsten Untertheilungswerthes
ersten Grades etwas sehr gewohnliches und nattirlich sich ergebendes. Die
asthetische Motivirung wird darin zu suchen sein, dass die durch die Unter-
theilung eingefiihrte schnellere Bewegungsart sich gern fortsetzt und eine nach-
folgendo Bindung langerer Werthe leicht als Hemmniss, als Last empfunden
wird. Beim zweitheiligen Takt resp. zweitheiiigen Unterthoilungsmotiven ist
kein Raum fiir diese Bildung, da die abzusetzende Lange der Endwerth des
Motivs ist, der aus anderen Griinden (um der klaren metrischen Gliederung
willen) abgesetzt werden darf:
2 • • P         t a i
o a a          •           moo
' LJ I I U I
Fiir den dreitheiligen Takt ergeben sich die Rhythmen:
3 h I r r u* I f r
odei: 3 ?jj | . (.
3
hi i r r
3
'! a a a ■ 1 i
1 a a m ill
" 3 hj\\\ r
3
" 3 LLJ* f f
3
hi r l r
3
1 HI f P
3
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VII. Legato- und Staccato-Vortrag der rhythmischcn Formen.
170
Mit Untertheilungen zweiten Grades:
Auch einige Beispiele aus dem viertheiligen Taktc mogen noch hier Platz
finden:
4 r c_j- r r I r ir f r I
4 u I r r r' u I r r r I
4
lt r r r i i/ r r r i
r I lt f r' r I ST7
m i n' eh i n
1
L_r r r I i lt r r i r
Alle diese Vortragsarten sind nicht mit gebieterisclier Strenge gefordert, er-
scheinen aber doch als die natlirlichsten Abweichungen vom schlichten Legato-
vortrag, wo nicht die Auspriigung eines Grundrhythmus bereits erne andere Art
der Gliederung veilangt oder das ganze Motiv staccato gegeben werden soil,
was stets vom Willen des Komponisten abhiingt oder richtiger ausgedrliekt von
Haus aus eine andere Emanation der sckopferischen Phantasie, eine andere
thematische Erfindung bedeutet. Mancbe Interpreten gefallen sicb darin, otter
wiederkehrende thematische Gebilde innerhalb desselben Kunst-
werkes wohl gar jedesmal anders vorzutragen. Die dadurch entstehende
Buntscheckigkeit ist ein arger Verstoss gegen die obersten Gesetze der Form-
gebung; die betreffenden Themen erscheinen als eharakterlos, denn jede andere
Art der Gliederung giebt dem Motiv einen andern asthetischen Werth, d. h. einen
-ocr page 180-
38. Natiirliche Dynamik der melodischen Bewegung.
171
andern Inhalt, der betreifende Gedanke bleibt gar nicht derselbe, sondern wird
eia anderer, und die Einkeitlichkeit des Aufbaues wird somit zerstort. Aus-
nahmen sind moglich, z. B. wenn aus dem ursprilnglichen scblichten Legato-
vortrag sicb ein immer mebr pointirter, gegliederter herausbildet, was fttr den
capricciosen Stil ausgezeichnete Wirkungen ergeben kann; aber dieser Stil bat
ja sein Wesen im capriccio, d. b. der Laune, dem Abweichen vom scblichten,
selbstverstandlichen. Man tbut aber einen argen Missgriff, wenn man, was dem
capricciosen Stile angemessen ist, auf den seriosen ubertragt, ohne zu bedenken,
dass dieser durch sclilicbte Grosse wirken muss. Handelt es sicb z. B. urn den
Vortrag Bach'scher und Handel'scher Werke, in denen mit Vortragsanweisungen
gespart ist, so mag man verschiedene Ntiancen probiren; schliesslich aber, wenn
es sicb um die definitive Keproduktion bandelt, heisst es, sicb fur cine ent-
scheiden und diese festhalten, und ist es durcbaus gescbmacklos, dem Horer
eine Musterkarte von Interpretationsmoglichkeiten vorzulegen und ibm die Wabl
der einen oder der anderen als der besseren zu tiberlassen.*)
YIII. Kapitel.
Melodische und harmonische Dynamik.
§ 38. Natiirlicbe Dynamik der melodischen Bewegung.
Die im ersten Kapitel aufgestellte und seither festgehaltene Lebre von der
Dynamik der Taktarten in strenger Abhaugigkeit von der Lage des Schwer-
punktes im Motiv (der dynamischen Hauptnote) ist sowohl ihrer Form als ibrem
Inhalt nach neu, wenn sie auch wohl ernstlichen Widersprucb nicht zu fiirchten
haben wird. Die Unmoglicbkeit der Accenttheorie (Accente als natiirliche Grund-
lage der Vortragsdynamik) glaube ich klar genug erwiesen zu haben (§ 4 und 7),
was indess nicht hinderte, dass auch uns eine Anzahl rhythmischer Accente aus
verschiedenen Grtinden sicb als nothwendig erwies; diese Accente waren nicht
von grundlegender, sondern nur von sekundiirer Bedeutung, erwiesen sicb als
Modifikationen der natiirlichen Dynamik, ohne selbst etwa diese ersetzen zu
kiinnen. Wie oft wir auch bei Untertheilungen und Zusammenziehungen ein
Umspringen der Auffassung zur Annahme anders laufender Motive konstatiren
*) Das bodonkliche dieses ganzen Kapitels verhehle ieh mir durohaus nieht und be-
trachto dasselbe mohr als eine Anregung zur Ventilation bisher ganz unberiihrter Fragen,
denn als eine Durcharbeitung des bez. Materials. Dass fur Legato- und Staccato-Vortrag
schliesslich auch Gresetze sich werden eruiren lassen kiinnen (abgesehen natiirlich von dem
durcbgefiihrten Legato und Staccato) scheint mir jedocb nicht zweifelhaft.
-ocr page 181-
Vili. Melodische und harmonische Dynamik.
172
mussten, so konnte doch der Fundamentalsatz der Lehre von der Dynamik, das
Crescendo zur dynamischen Hauptnote und das Diminuendo von ilir
weg, niemals ins Wanken kommen.
Ein scheinbarer Konflikt ergiebt sich aber nun, wenn wir unsere Aufmerk-
samkeit der bekannten Hausregel zuwenden, welcbe fur die Mehrzahl der aus-
iibenden Musiker den einzigen positiven Anhalt fiir eine verntinftige dynamische
Schattirung bildet, namlich:
crescendo fiir steigende Tonbobe und
diminuendo fiir fallende Tonhohe.
Dass die dynamische Hauptnote eines Motivs oder einer Pbrase nicbt immer
zugleicb die melodiscbe Gipfelnote ist, erweist ein Blick auf jedes beliebige
Musikstiick; ein Widerspruch der bezeichneten Hausregel und unseres Fun-
damentalsatzes ist daber fiir biiufige Falle ganz unvermeidlicb und es handelt
sich nun darum, zu untersuehen, welcbes Gesetz das hohere ist, ob eins das
andere ausser Kraft setzt, oder ob die Ergebnisse beider compensirt werden
miissen.
Die Steigerung der Tonbobe ist an und fiir sicb etwas der Steigerung der
Tonstarke nabe verwandtes. Beide sind das Ergebniss schnellerer Bewegung
der tonend schwingenden Kiirper. Die Vermebrung der Bewegungsgeschwindig-
keit ergiebt bei Festbaltung der Schwingungsperiode (von der die Tonhohe ab-
hiingt) weitere Abweicbungen aus der Grleichgewichtslage, eine grossere Aus-
giebigkeit (Amplitude) der Scbwingungen, d. h. einen starkeren Ton; wo dagegen
die Scbwingungsperioden selbst durch die scbnellere Bewegung verkttrzt werden
(z. B. bei scbnelleren Umdrebungen der Sirene) bleibt die Tonstarke gleicb, aber
es entstebt ein hoherer Ton. Das Wesen der Tonerhohung wie der Tonverstiir-
kung ist also eine Vergrosserung der lebendigen Kraft, eine Steigerung; die
Abschwlichung der Tonstarke und die Verminderung der Tonbobe erklaren sich
durch die Verminderung der Bewegungsgeschwindigkeit in ganz analoger Weise.
Crescendo und melodiscbes Steigen als positive Entwickelungsformen werden
sonach naturgemsiss sich am ungezwungensten fiir das erste Werden, den Beginn
des musikalischen Lebens eignen, wie umgekebrt diminuendo und Fallen der
Melodie fiir das letzte Absterben, den Scbluss. Als dritte Form gesteigerter und
geminderter Lebendigkeit fanden wir die agogischen Scbattirungen, das stringendo
als positive Bildung fur das Werden und das ritardando als negative fiir das
Vergehen. Alle drei Arten der Steigerung konnen sich verbinden und verbinden
sich oft, in der Hauptsache fiir die grossen Umrisse der Formgebung sogar
regelmassig; im kleineren Detail aber fallt oft das eine oder das andere Mittel
aus oder tritt gar mit der ihm unleugbar innewohnenden, die Auffassung be-
stimmenden Kraft in Gegensatz zu der Wirkung der anderen Faktoren.
Nun hat aber die Tonbohenveranderung ausser dem hier gekennzeichneten
noch einen anderen astbetiscben Werth, der gerade die Verbindung mit den
entgegengesetzten dynamischen Schattirungen begiinstigt. Die tieferen Tone er-
scbeinen allerdings als minder lebendig, als schwerfalliger gegeniiber den hoheren;
aber die Volubilitat der letzteren erscheint zugleich als KOrperlosigkeit und die
-ocr page 182-
39. Die melodischen Motive.
173
zunehmende Last der ersteren als anwachsende Masse. Ein crescendo bei fal-
lender Tonhohe ist daher keineswegs unnatiirlich; es wirkt im Gegentheil ausser-
ordentlicli wuchtig und gehaltvoll. Andererseits ist das diminuendo bei ab-
nehmender Tonhohe seiner Wirkung nach ein verfliichtigen, ein vergeben im
leicbten Aetlier.
Die durch die veranderte Kombination der Faktoren (Dynamik und Melodik)
bedingten Ideen-Associationen sind also ganz veranderte; die vier Formen sind:
a)  Dynamische Steigerung und steigende Melodie = gesteigerte Lebens-
kraft bei abnehmender Masse (Emporwachsen).
b)  Abnehmende Dynamik und fallende Melodie = abnehmende Lebens-
kraft bei wachsender Masse (Zusammensinken).
c)  Dynamiscbe Steigerung und fallende Melodie = gesteigerte Lebens-
kvaft bei wachsender Masse (Festwurzeln).
d)  Abuelimende Dynamik und steigende Melodie = abnehmende Lebens-
kraft bei abnehmender Masse (Verfliegen).
Die in Klammern gegebenen Deutungen erschopfen die Bedeutung der
Kombinationen auch nicht entfernt, sie sollen nur beispielsweise der schnelleren
Veranschaulichung derselben dienen. Das Ergebniss dieser Betrachtung ist,
dass sieh Steigen und Fallen der Melodie in der ungezwungensten Weise mit
den verschiedenartigsten Formen der Dynamik verbindet und dass aus der
melodischen Bewegung sich nicht ein der erwahnten Hausregel entsprechendes
bindendes Gesetz ableiten liisst. Die Existenz und das Ansehen der Hausregel
deuten allerdings darauf bin, dass die Kombinationen a) und b) die haufigeren
sind, vermogen aber die Berechtigung der Kombinationen c) und d) in keiner
Weise zu erschilttern.
§ 39. Die melodischen Motive.
Scheint es sonach, als vermoge die melodische Bewegung keine bestimniende
Bedeutung ftir die dynamische Schattirung zu gevvinnen, so werden wir bald
des Gegentheils inne, wenn wir der Frage naher treten, welchen Einfluss
die melodische Bewegung bei Bestimmung der Motivgrenzen ausiibt. Hier ist
sie niimlich beinahe allein bestimmend und wird es daher mittelbar in um-
fangreichstem Masse auch ftir die Dynamik.
Ein melodischer Gang wie:
gliedert sich durchaus in viertonige Motive und zwar am natiirlichsten derart,
dass die Motive mit jeder Wendung der melodischen Richtung abschneiden:
-ocr page 183-
174                              VIII. Melodische unci harmonische Dynamik.
Die Dynamik tier Motive ist bestimmt, sobald una die Taktart und die erste
dyuamische Hauptnote gegeben ist; d. h. die durch die Mclodiebewegung ab-
gegrenzten Motive vermogen noch eine mehrfach verschiedeno Bedeutung zu ge-
winnen, je naeb dem Metrum, in welehem sie auftreten, z. B.
b)
m^^^-
S=f=E
ŁeŁES§
4
■f-
$
Nit.
d)
t^^^^^gl
-S^-3=I
fe
±E?
^=F
■ F----C----pqzp----j-----1----[J=,
■+-+^
Die Fiille a)—c) bedttifen keiner Erlauterung, es sei dcnn, dass vor der
volltaktigen Auffassung:
a)r
m
-i by
t-t^rtss^-t-tXis-L-t-
1
±~t
gewarut werden miisste, welcbe nur uuter ganz besonderen harmonischen Ver-
haltnissen zulassig ist, wie
a) J
Ik^^mm^m
±u
aber selbst danu nicht zweifellos ist und aus dem allgeineiuen Grunde, der fur
die Figuration die Volltaktigkeit beinahe ganz unmoglick maeht (dass namlich
die weitergehende Bewegung in einer Stimme gegentiber der stoekenden in
einer andercu inuner lieber als neues Lebensclement, auf das folgcnde weisend,
gefasst wild (vgl. § 43), besser auftaktigen Umdeutungen des melodischen Motivs
weieht wie:
b)-
c)
±±±
4-L
-I-
:3t;
<5>
-s
-a
g
Interessant ist der Fall bei d); obgleich bier das melodiscbe Motiv sicb mit
dem Takt deckt:
-ocr page 184-
39. Die melodischen Motive.
175
so ist doch die volltaktige Auffassung durch die drei Viertel Auftakt zur Un-
moglickkcit geraacbt, welche nicbt als selbststiindiges Motiv vcrstanden werden
konnen, weil die dynamiscke Hauptnote feldt. Es ist also durckaus geboten,
die erste Note des folgenden Taktes als abschliessende dynaniiscke Hauptnote
hinzuzunehmen, also der Melodiebewegung widersprecliend in dem oben auf-
gezeichueten Sinne aufzufassen. Nock komplizirter liegen die Verhiiltnisse bei e),
wo die viertonigen Motive in den dreitheiligen Takt eingezwangt sind; die Motiv-
grenzen sind dann nur in den Fallen zweifellos bestimmt, wo nur eine dyna-
mische Hauptnote des Metrums in das melodiscke Motiv fiillt:
3
B
=t=3
3=^
d. h. bier horen wir iiberkomplete Taktmotive (§ 8). In den auderen Fallen
werden nur hannonische Kiicksichten entscheidend sein konnen, ob die Takt-
motive als komplet oder inkomplet verstanden werden, z. B.
a^
-:
-v-'-gl
rij m tii f j
b) i
±*=±=±
3=±
m
-jg&z
2-
d. h. ein Vorhaltverkaltniss verscbiebt nothwendigerweise die Motivgrenze bis
nach der Auflosung, wahrend sonst aus dem obengedacbten Grunde die ab-
betonte Auffassung vorgezogen wird. Aeknliclie wecksolnde dynamische Ge-
staltungen der melodischen Motive ergiebt auch das Auftrcten zweizeitiger Motive
im dreitheiligen Takt oder dreizeitigcr im viertbeiligen, z. B. die Gauge:
-^^^^m^}^z^Ł3^
-i-
Das erstere ergiebt die Bildungen:
b)
HIB
fflP'j^l^
* j r-
*—---
l^i^^Ei^iir^^^l
d. h. die im ersten Takt von a) durch das Melodiemotiv bestimmte Grcnze er-
giebt ein inkompletes Taktmotiv, wogegen das zweite iiberkomplet werden muss,
-ocr page 185-
Vm. Melodische und harmonische Dynamik.
176
da das dritte melodische Motiv (e g) nicht zersehnitten werden darf; selbststandig
aufzufassen ist das letztere darum nicht, weil ihm die dynamische Hauptnote
fehlt. So erhalten wir also abweehselnd ein zweizeitiges und ein yierzeitiges
Motiv. Bei b) und c) ist das Ergebniss ein ahnliches, nur dass hier das der
dynamischen Hauptnote entbehrende melodische Motiv mit dem folgenden statt
mit dem vorausgehenden verbunden werden muss. Die Bildung bei b) ist die
bereits im § 8 erklarte im Menuett von Beethoven's op. 10, No. 3 und im
Scherzo von desselben op. 14, No. 2. Das dreizeitige Motiv im viertheiligen
Takt fiihrt zu den Bildungen:
?Ł&=Ł
§^^
Wir wissen bereits, dass die nachgewiesene Dynamik der Taktmotive nur
selten voll zur Geltung kommt, vielmehr meist in der grosserer Formen aufgeht;
wir wissen aber auch, dass die rechte Auffassung der kleinen Motive trotz der
durchgehenden Schattirungen von Bedeutung bleibt, dass eine langere Tonreihe
stets von der Auffassung gegliedert wird, sowie dass eine wohldurchdachte oder
gut empfundene Beproduktion durch den Motiv-Anfangsaccent (§ 5) die melo-
dischen Motive und durch den agogischen Accent (Verlangerung der dynamischen
Hauptnote; vgl. § 22) die Taktart kenntlich erhalt. Die Untergliederung der
Phrasen ist daher von einem durchaus nicht zu unterschatzenden asthetischen
Werthe, selbst da, wo die Accente und Verlangerungen gar nicht bewusst ge-
geben werden; es wurde bereits mehrmals darauf hingewiesen, dass die richtige
Auffassung der Motivgrenzen auch ohne Wissen und Willen des Vortragenden
jene kleinen dynamischen und agogischen Ntiancen mit sich bringt, und dass
eine durchweg volltaktige Auffassung sich dem orientirten Horer sofort verrath.
Die Bedeutung der melodischen Bewegung ist aber fur die grosseren Formen
eine noch viel hervortretendere als fur die kleinen Motive. Die vergleichende
Betrachtung einer grosseren Zahl ausgedehnterer musikalischen Bildungen er-
weist, dass weitaus in der Mehrzahl der Falle (man kann geradezu sagen regel-
massig, da eine beschrankte Zahl von Ausnahmen nur die Regel bestatigen
kann) der dynamische Schwerpunkt der Phrasen da liegt, wo die
Melodie wendet, gleichviel ob in der Hohe oder der Tiefe; ersteres ist aller-
-ocr page 186-
39. Die melodischen Motive.
177
dings der haufigere, letzteres aber auch ein keineswegs seltener Fall — ieh er-
innere nur an die beiden gegensatzlichen Phrasen in Beethoven's op. 2, No. 1:
Beethoven schreibt fttr erstere die dynamische Schattirung gar nicht vor,
fur letztere nur mit einem sf bei dem fes. Das crescendo ist aber in beiden
Fallen selbstverstandlich. Es ist Usus, die dynamische Hauptnote der Phrase
nicht weiter zu kennzeichnen, wenn sie die melodische Gipfelnote ist, d. h. der
Punkt der hochsten ErhebuDg der Melodie. Die oben mehrfach erwalmte Haus-
regel fur die dynamische Schattirung ist fur solche Falle richtig, in dem ent-
gegengesetzten aber nattirlich grundfalsch, wie das zweite der eben notirten
Beispiele (Steigerung nach unten) beweist. In sehr vielen Fallen ist die Phrase
nicht auf einmaliges steigen und wieder fallen oder einmaliges fallen und wieder
steigen beschrankt, sondern beschreibt statt der gradeauf steigenden und gradeab
fallenden Linie eine mannichfach gewundene; dann ist es durchaus verkehrt,
zwischen crescendo und diminuendo hin und her zu schwanken (das kann nur
da statthaft erscheinen, wo der Vortragende die Wirkung einer sp&ter folgenden
grossen Steigerung erhohen will), vielmehr muss das crescendo unentwegt
durchgefiihrt werden. Ein interessantes Beispiel ist das folgende (Beethoven,
op. 22, 2. Satz):
Q , ti—7i-------------s-p-i—I------\-<rP-m------------t-------1------|-h-<—t—^-»—r -•—»—1 m u—a—H-m—r-»-
^              ^^^        cresc-         *^>J "?" sf             -==dim.                         V
Beethoven hat dem herabgehenden Arpeggio vorsichtiger Weise ein crescendo
beigeftigt; von imposanter Wirkung ist der Doppeloktavensprung, welclier das
starkste Forte wieder von der Tiefe nach der Hohe versetzt, eine (wenn man
die ganze melodische Entwickelung mit einem Blicke zusammenfasst) gleich-
zeitige Ausbreitung des melodischen Stromes nach oben und nach unten. Der
dynamische Hohepunkt ist durch sf bezeichnet; nach dem erwiihnten gewaltigen
Melodieschritt ist eine weitere Steigerung kaum moglich (Beethoven hatte dann
noch weiter hinauf gehen mtissen bis ins esw oder /'") und wird daher hochstens
die erreichte Tonstarke festgehalten werden bis zum Eintritt des metrischen
diminuendo, wenn man nicht eine wirkliche Verschiebung des dynamischen
Hohepunktes annehmen will. Dass es eine solche giebt, sahen wir bereits im
§ 13 (Synkopirung der dynamischen Hauptnote mit der vorausgehenden Zahlzeit
und Verschiebung des Schwerpunktes auf diese). Wie dort aus rhythmischen
Griinden kann aber auch der Schwerpunkt aus melodischen oder harmonischen
Grlinden unbedeutend nach riickwarts oder auch nach vorwarts verschoben
werden. Ziemlich haufig erfolgt die Verschiebung, indem ein zweizeitiges ab-
Riemann, Bins. Dynamik und Agogik.                                                                            12
-ocr page 187-
VIII. Melodische und harmonische Dynamik.
178
betontes Motiv einen auffallend verstarkten Anfangsaccent erbalt (§ 3); nach
den Ergebnissen des § 35 diirfen wir auch die Verstarkung der ersten von zwei
durcb legato zu engerer Einheit verbundenen Zablzeiten einer Zusammenziebung
vergleichen, der Grund der Verschiebung des dynamiseben Sebwerpunktes ware
dann derselbe wie bei Synkopirung der dynamiseben Hauptnote. Ein wirklicb
melodiscber ist der Grund der Verscbiebung dann, wenn die Melodie kurz voi-
der dynamiseben Hauptnote des Metrums ihre boebste Note bringt und von ilir
ab sicb abwarts zum Scblusse wendet, wie dies in dem oben notirten
Beispiele geschieht. Ein anderer abnlicher Fall, typischer als der obige, ist
(Beetboven, op. 78):
Hier ist es unbedingt delikater, den dynamischen Hobepunkt von eis auf
fis zu verscbieben.
In abnlicber Weise kann der dynamiscbe Hobepunkt unbedeutend nacb
vorwarts gertickt werden, wenn die Melodie gleicb nacb der dynamiseben Haupt-
note ibren Hobepunkt erreicbt, z. B. (daselbst):
(Beetboven scbreibt die Scbattirung im dritten Takte vor.) In solchem Falle
kann selbst die Auflosung starker werden als der dissonante Ton, z. B.
(Beetboven, op. 31, I, 2. Satz):
s/„
Sfs
■p-w.
-M=Łz
m
-VH+-
ba=^l
3t
(Wer bier den Zweiundreissigstel - Lauf wieder crescendo spielt, zerstort
mutbwilliger Weise die grossen Linien der Beethoven'scben Zeicbnung). Ein
auffallender Aufschwung der Melodie macht die Verscbiebung des dynamiseben
Hobepunktes nocb begreiflicher, z. B. (Beetboven, op. 7, 2. Satz, dreimal nacb
einander):
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39. Die melodischen Motive.
179
I
-»—j -—nr s-
ESE
P
In dieser Weise kann auch das oben zuerst gegebene Beispiel aus op. 22,
2. Satz verstanden werden, sodass der Doppeloktavensprung den dynamisehen
Sckwerpunkt aus der Tiefe (V1) in die Hohe (cin) verlegt. Die sich dadurch
ergebende Scbattirung ist dieselbe, wie wenn man eine Ktickwartsverschiebung
des Schwerpunktes annimmt, was wir oben gethan.
Eigenartige Anforderungen stellt in dynamischer Beziehnng der sogenannte
Melodievortrag, d. h. der Vortrag der im mehrstimmigen Satze dominirenden
speziell als Melodie erscheinenden Stimme, meist der Oberstimme, doch nichl
selten auch einer Mittel- oder der Unterstimme. Der Melodievortrag erfordert
eine durchsehnittlich etwas starkere Tongebung, Uberwiegend strenges legato
und gute Durcbfiihrung grosser angelegter dynamisehen Schattirungen unter
Berticksichtigung der kleinen Wendungen der Melodie, welche indess die grossen
Ziige nicbt unkenntlich und unwirksam maohen diirfen. Besondere Schwierig-
keiten maclit der Melodievortrag nur hier und da beim Pianofortespiel (abgesehen
natiirlich von rein technischen Scbwierigkeiten der Applikatur u. s. w., die nicht
hierher gehoren), wenn die Melodiestimme nicht selbststiindig notirt ist, sondern
vom Spieler erst gefunden werden muss. Ein interessantes Beispiel ist das
Minore des Scherzo-artigen 3. Satzes in Beethoven's Sonate, op. 7:
• 5* 3* ^V ^V dv g:* i* 3* ++ U* i*
ffp
Wollte hier jemand pianissimo bis zum dritten Takt spielen und das as
fortissimo herausschlagen, so wiirde er ausgelacht werden; und doch ist nichts
a,nderes vorgeschrieben. Vielleicht erweise ich doch diesem und jenem, deni
meine Phrasirungsausgabe nicht zur Hand ist, einen Gefallen, wenn ich die
sozusagen latente Melodie (die aber im Vortrag nur ja nicht latent bleiben darf)
aus dem Satzchen herausziehe und vollstandig hier folgen lasse. Die dynamische
Scbattirung richtet sich genau nach Beethoven's Winken; der Khythmus (J | J)
ist durch das Nachspiel, wo in der rechten Hand die Triolen wegfallen, deutlich
genug angezeigt. Das Beispiel mag als Typus fur die Ausftihrung so mancher
ahnlich notirten Stelle gelten:
12*
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180                              VHI. Melodische und harmonische Dynamik.
Ein nur leises andeuten tier Melodie in dem harmonischen Gesiiusel der
Triolen ist nicht statthaft, da Beethoven fur die dynamischen Hauptnoten die
starksten Grade verlangt, in der dritten Phrase das Effektpiano: aus solehen
Stellen muss die Melodie herausgezogeu und in derselben Weise dynamiseh und
agogiseh gegliedert, d. h. phrasirt werden, als wenn sie gesondert notirt stiinde.
Man kann aber auch mit dem Bestreben, den wirklich melodischen Kern und
die harmonische Schale zu scheiden, zu weit gehen, etwa indem man grossere
Melodieschritte ausscheidet und nur die melodischen Anschliisse im Auge behiilt.
So ist z. B. der Anfang- des Allegretto {quasi presto) in Beethoven's op. 10, No. 1
trotz der vielen harmonischen Schritte rein melodisch aufzufassen, in Schlangen-
linien sich bis zum asy empor windend:
d. h. die dynamische Schattirung ist auf sammtliche Tone gleichmiissig aus-
zudehnen und nicht etwa:
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40. Dynamik der Verzierungen.
181
Uebrigens beginnt hier das Gebiet der „Ansichten". In minder zweifellosen
Fallen als den gegenwiirtigen ist dem Komponisten die Schuld beizumessen,
wenn der melodisehe Gehalt verschieden aufgefasst werden kann; er hatte ja
leiclit die Zweifel unmoglich machen konnen: in solehen Fallen ware es Ver-
messenheit, dem ausftihrenden Ktinstler eine Auffassung als die massgebende
oktroyiren zu wollen. Unerliisslich ist es dagegen, sich klar zu machen, dass
alle wirklick zur Melodie gehorigen Tone an den durchgelienden Scbattirungen
Tlicil nehmen mlissen und dass ein Einstreuen vcrcinzelter schwacherer
Tone einen scblecbten Effekt machen muss.
§ 40. Dynamik der Verzierungen.
Es diirfte wo hi hier der rechte Ort sein, auch ein Wort liber die Dynamik
der Verzierungen zu sagen. Der vielfach verbreitete Usus, die Verzierungen
schwacher zu spielen, scheint iisthetisch zu rechtfertigen zu sein, wenn man
,,Verzierung" dem Wortsinne nach als ausserliche Ausschmtickung, als mit dem
Kunstwerk nur in losem Zusammenhang stehenden Tand auffasst. Eine solche
Auffassung hat indess doch sehr ihre bedenklichen Seiten. Ein echtes Kunst-
werk kennt keinen iiberfliissigen Zierrath; der nicht iiberflUssige aber ist ein
orgauischer Bestandtheil desselben, bringt einzelne Theile desselben zu voll-
kommenerer Wirkung, ohne den Eindruck des ganzen zu schadigen. Es ist klar,
dass iu diesem Sinne auch die musikalischen Verzierungen sich den asthetischen
Zwecken der grosseren Theile, an welchen sie angebracht sind, anzupassen
haben, d. h. mit anderen Worten, dass ein Triller im crescendo-Theile einer
Phrase nicht diminuendo gebracht werden darf und ein Schleifer im diminuendo-
Theile nicht crescendo. Das charakteristische sammtlicher Verzierungen
(mit Ausnahme des langen Vorschlags oder Vorhalts, der eben darum heute
nicht mehr als Verzierung behandelt wird) ist nicht die schwache Ton-
gebung, sondern die Ktirze der Notenwerthe, welche sich mit den ge-
wohnlichen Werthzeichen ohne eine gewisse Umstiindlichkeit nicht ausdriicken
lassen. Die Verzierungen sind also Untertheilungen, zum mindesten zweiten
Grades in dem § 22 entwickelten Sinne. Schon die Erwagung, dass Unter-
theilungsmotive so gut wie Taktmotive den Anfangsaccent erhalten konnen, muss
die Accentuirung der Vorschlage, Schleifer u. s. w. als etwas durchaus natiir-
liches und asthetisch gerechtfertigtes erscheinen lassen. Es spricht aber noch
etwas anderes dafiir, besonders die aus nur einem oder wenigen Tonen be-
stehenden Verzierungen nicht zu schwach zu geben. Die Verzierungstone werden,
wenn sie ganz leicht und schwach gegeben werden (wie es u. a. Leopold Mozart
in seiner Violinschule ftir die Vorschlage verlangt), wegen ihrer Ktirze nicht
hinreichend aufgefasst, was eine Unlustempfindung erwecken muss, wie alles
ungeniigende Verstehen (z. B. bei Querstand der Harmonie; vgl. meine Harmonie-
lehre, § 11). Die melodisehe Zeichnung wird in solehen Fallen etwas verwiseht
erscheinen, wahrend eine scharfere Hervorbringung der kurzen Noten resp. eine
leichte Accentuirung helle Lichter aufsetzt. Die kurzen Vorschlage blitzen,
wenn sie accentuirt werden, wie Brillanten, sind ein echter werthvoller Schmuck.
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YTTT. Melodische und harmonische Dynamik.
182
Das gilt besonders von den spezifisch melodischen Vorschlagen (kleine oder
grosse Ober- oder Untersekunde), wabrend die springenden, besonders wo sie
in grSsserer Zahl nach einander auftreten, manchmal besser leicbt gegeben
werden; damit wird freilich die eigentliche Vorschlagsbedeutung aufgehoben und
die Vorschlagsnote als Vertreter einer Nebenstimme dargestellt, d. h.
Ł=
ŁŁ
mit leicht gespielten Vorschlagen wirkt als:
^feel
$=&=}
also als Mehrstimmigkeit; die leicbt gespielten Tone fallen aus der Melodie
heraus, wabrend sie bei dem accentuirten Vortrage:
%M
|lM
~
als vollberechtigte Glieder in die Melodie eintreten.
Aber aucb die Nachscbliige diirfen nicht zu leicht genommen werden.
Was flir die in Notenwerthe ausgedritckten punktirten oder doppelt punktirten
Rhythmen gilt, bcsteht gleichermassen fur die abbreviirten, als Nachscbliige ge-
schriebenen analogen Bildungen, namlich, dass man sich nicht durch die Kiirze
des Notenwerthes zu schwacber Tongebung verleiten lassen darf. Eine sehr
verbreitete Neiguug dazu ist nicht wegzuleugnen und man kann oft genug horen:
s
H.
oder:
-&-
3
nf
mf p mf
u. dergl., anstatt dass die kurzen Tone in gleicher Tonstarke wie die folgenden
langeren gegeben werden. Die besondere Kiirze des Werthes ist aber wie gesagt
sogar ein schwerwiegender Grund fiir verstarkte Tongebung.
Vorschlage und Nachschliige von mehreren Tonen sind der Abschattirung
fahig. Zu den ersteren gehoren der Schleifer und anschlagende Doppel-
scblag. Die Wahl des crescendo oder diminuendo fur die Ausftihrung derselben
wird abhangen von der Stellung der verzierten Note in der Phrase und beim
Schleifer nocb obendrein von der Richtung der Tonfolge des Schleifers selbst,
d. h. im crescendo-Theil der Phrase wird der crescendo-Ausfiihrung der Vorzug
zu geben sein, im diminuendo-Theil der diminuendo-Ausftihrung, und wenn die
dynamische Hauptnote selbst verziert wird, so wird der steigende Schleifer (wenn
die Melodie ihren Schwerpunkt in der Hohe hat) den dynamischen Hohepunkt
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40. Dynamik der Verzieruagen.                                         183
vorwarts schieben (auf die gross geschriebene Note), wahrend der fallende den-
selben fttr seine erste Note in Anspruch nehmen wird:
Der umgekehrte Doppelschlag wird entsprechend dem steigenden
Sebleifer den dynamischen Hohepunkt auf die Hauptnote schieben konnen:
Von den aus mebreren Tonen bestehenden Nachschl&gen ist die wichtigste
Species der nacbschlagende Doppelschlag. Derselbe fiigt sich vollstandig
in die dynamisehe Sehattirung der Phrase ein und ist eines wirksamen crescendo
resp. diminuendo fahig. Den dynamischen Hohepunkt verriickt er so wenig als
irgend ein anderer Nachschlag; nur scheinbar ist das der Fall in dem oben an-
gefiihrten Beispiel aus dem 2. Satze von Beethoven's op. 7, wo die Verschiebung
durch den folgenden steigenden Melodieschritt, nicht aber durch den Doppel-
schlag bedingt wird. Typische Falle sind also:
Besondere Beachtung fordern die so haufig vorkommenden Schlussver-
zierungen, d. h. Auszierungen einer der letzten Noten, meist der vorletzten der
Phrase oder Periode. Nach dem von uns aufgestellten und konsequent fest-
gehaltenen Prinzip mttssen solche als in den diminuendo-Theil der Phrase fallend
diminuendo vorgetragen werden, eingefugt in die natUrliche Entwickelung der
dynamischen Sehattirung. Langere Kadenzen gliedern sich aber oft in mehrere
selbststandige Phrasen; es versteht sich, dass fur solche die Regel nicht gilt:
die Schreibweise mit kleinen Noten bedeutet dann nichts anderes als eine An-
weisung zum freien Vortrag. Sind solche Phrasen ganz ohne Takteintheilung
geschrieben, so ist damit nicht gesagt, dass sie rhythmisch amorph waren,
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Ig4                              VIII. Melodische und harmonische Dynamik.
sondern nur, dass sie sich nicht in eine Kette gleicher Takte zerlegen lassen,
vielmehr zwei-, drei- oder viertheilige Takte bunt miscben; es gilt dann die
dynamischen Hauptnoten berauszufinden (wofiir der Komponist regelmassig durcb
sf oder andere Accentzeicben Anhaltepunkt giebt, wenn sie nicht zugleich die
hcichsten Punkte der melodischen Steigung sind), die melodiscben Motive heraus-
zulesen und das luftige rhythmische Gebilde zu festen Formen zu kondensiren,
z. B. (Cbopin, cis moll-Nokturne):
Die bier eingefiibrten Taktstriobe ergeben abwechselnd filnf und vier Viertel,
zuletzt drei Viertel; die FttnfVierteltakte lassen sich ebenfalls in Viervierteltakte
verwandeln, wenn man im zweiten Takt eine Acbtel-Sextole (Vierteltriole) am
Schluss und im vierten Takt eine Vierteltriole zu Anfang aunimmt. Das zweite
und dritte Motiv werden vielleicbt besser nicht getrennt, sondern zu einer Phrase
zusammengezogeu, deren Scbwerpunkt die balbe Note a bildet (von Chopin mit >-
als dynamische Hauptnote gekennzeichnet); auch das nach dem a vorgeschriebene
ritardando findct dann seine voile Erklarung. Der abschliessende Dreivierteltakt
kann wohl als J J J verstanden werden.
Die bei Chopin so haufigen eigentlichen Nacbschlagsverzierungen von
mehreren Noten stehen meist im diminuendo; in solchen Fallen wird stets eine
ausgezeichnete Wirkung entstehen, wenn das diminuendo starke Gradienten an-
nimmt, d. b. schnell ins pianissimo gelangt, z. B.
(Chopin, Nokturne, fis-dur.)
Manchmal wendet Chopin das beethovensche Effekt-piano an (§ 34), z. B. in
den zwei folgenden Takten derselben Nokturne, wo die Steigerung dieser Phrase
die dynamische Hauptnote pianissimo bringt; dann fallt die Verzierung ohnehin
ins pianissimo und wirkt nur noch durch Ktirze der Werthe als weitere Min-
derung der Dynamik. Seltener sind die Falle, wo der Nachschlag zwischen die
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40. Dynamik der Verzierungen.
185
beiden Glieder eines abbetonten zweitheiligen Motivs tritt, dessen Dynamik durch
Verstarkung des Anfangsaccents umgekehrt ist (§ 5):
(Chopin, Nokturne, f-Dur.)
>-           dolciss._____
*-, nf firing
4"
Aucb hier vvird der Nachschlag gleich ins diminuendo fallen.
Ganz verkehrt wttrde es aber sein, dieselbe Art der Ausfiihrung vorschreiben
zu wollen, wo der Nachschlag im crescendo steht, wie (Chopin, Nokturne, g Moll):
Hier fallt vielmehr dem Nachschlag die Aufgabe zu, den dynamischen Schwer-
punkt vorwarts zu schieben. Und solche Falle sind sehr hiiufig.
Der Pralltriller und Mordent konnen wie der kurze Vorschlag in
dynamischer Beziehung nur eine untergeordnete Eolle spielen, da der durch sie
absorbirte Zeitwerth ein tiberaus geringer ist. Die drci Tone miissen, um deutlich
unterscheidbar zu sein, ziemlich scharf gegeben werden, d. h. der Pralltriller
sowohl als der Mordent verlangen leichte Accentuirung.
Der voile T r i 11 e r hat die Bedeutung des ausgehaltenen Tones, bietet aber
gegenliber diesem den Vorzug rhythmischer Lebendigkeit; letzteren Vorzug theilt
er mit dem Tremolo, das aber durch die intermittirende Angabe desselben
Tones einen unter Umstanden unangenehmen Eeiz auslibt, wahrend der Triller
durch den Wechsel zweier Tone stets melodischen Schluss behalt. Triller und
Tremolo treten wie der lange Ton in der Regel einfach in die dynamische Ent-
wickelung ein; besonders lange Tone konnen aber (beim Gesang, bei Streich-
instrumenten und Blasinstrumenten) einen eigenartigen schonen Effekt hervor-
bringen, wenn sie unabhangig von der Dynamik der Phrase geschwellt werden,
d. h. den dynamischen Kreislauf -< =- oder >- -= durchmachen. Wie der schlichte
Triller werden auch die trillerartigen Verzierungen manchmal in dieser Weise
selbststandig schattirt, indem sie ihren Ausgang von der Dynamik der betreffenden
Stelle der Phrase nehmen und schliesslich wieder in dieselbe einmunden, z. B.
(Chopin, Nokturne, es-Dur):
8va
hr ZH^nJ>zAn±1M) hut
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Vm. Melodische und harmonische Dynamik.
186
§ 41. Harmonische Dynamik.
Auch in der Harmonik giebt es eine positive und negative Entwickelung
und zwar denke ich dabei nicht an den polaren Gegensatz von Dur und Moll,
von denen das erstere gern als das positive, das letztere als das negative
Harmonieprinzip bezeichnet wird, sondern an das harmonische Nacheinander,
die Klangfolge. Da alles harmonische Geschehen seine Existenzbedingung wie
seine Erklarung in der Beziehung auf einen Hauptklang (die Tonika) findet, so
kann die positive Entwickelung in der Harmonik, das harmonische Werden, nichts
anderes sein als die Wegbewegung von der Tonika, und die negative, das har-
monische Vergehen, nichts anderes als die Eiickkehr zur Tonika, der harmonische
Schluss. Mit dieser Definition ist bereits ein sicherer Anhalt fiir das natlirliche
Verhaltniss zwischen Harmonik und Dynamik gegeben: die schlichte Verbindung
beider Faktoren muss das crescendo fur das harmonisch - positive und das
diminuendo fur das harmonisch-negative sein; wenn die gegentheilige Kombination
vorkommen kann, so wird sie dock als das ungewohnlichere, abnorme erscheinen.
Eine tiberaus grosse Zahl Themen, besonders der klassischen Meisterwerke, be-
ginnen mit zwei kurzen Phrasen, deren karmonisches Schema ist:
I.                                                     II.
Tonika - Dominante.                           Dominante - Tonika.
d. h. die erste Phrase ist harmonisch-positiv, die zweite harmonisch-negativ, die
erste tritt aus der ruhenden Einheit der Tonika heraus, die zweite kehrt zu ihr
zurtick; die erste wird also ein crescendo, die zweite ein diminuendo erfordern.
In Fallen, wo der Komponist keinen Anhalt fiir die dynamische Schattirung ge-
geben hat, vermag daher die harmonische Entwickelung diese hinreichend zu
bestimmen, z. B. (Beethoven, op. 7, 2. Satz):
Auch wo die melodische Richtung nach den in den letzten Paragraphen
entwickelten Gesichtspunkten eine andere Schattirung bedingen wiirde, erweist
sich die Harmonie als bestimmender Faktor (Beethoven, op. 49, No. 2):
Man beachte wohl, dass das harmonisch-negative fur viele Falle der schein-
baren Anwendung des Beethoven'schen piano (§ 34) eine schlichte Erklarung
giebt. Das tritt besonders bei grosseren Phrasen hervor, z. B. (Beethoven,
op. 31, No. 3, Menuett):
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41. Harmonische Dynamik.                                             Jg7
Hier muss das diminuendo der zweiten Phrase unbedingt vor dem letzten
Taktstriche beginnen; ware nicht der Vorhalt as—g, so wtirde auf die Stelle
der dynamischen Hauptnote ein wirkliches piano fallen, wie das anderwarts
wirklich geschieht, z. B. (Beethoven, op. 27, Schlusssatz):
Modulationen machen zwar Schltisse zu einer neuen Tonika, sind also in
diesem Sinne negative Bildungen; urn aber solche Harmoniewendungen als Rtick-
bildungen auffassen zu konnen, mfisste man die kiinftige neue Tonika bereits
als gegeben annehmen. Die neue Tonart bedeutet aber gegenuber der alten
ebenso gut eine positive Entwickelung wie der schlichte Quintschritt: Tonika-
Dominante. Die Wegwendung von der Haupt-Tonart bedingt daher regelmassig
ein crescendo, wie umgekehrt die Rttckkehr zur Haupttonart gewohnlich im
diminuendo geschieht. Es versteht sich, dass ein solches Parallelgehen von
Harmonik und Dynamik nicht konsequent und fur grossere Formen durchfiihrbar
ist; eine Konsequenz des Prinzips wtirde z. B. sein, dass jeder Seitensatz in
anderer Tonart starker vorgetragen werden mtisste als die in der Haupttonart
stehenden Anfangs- und Schlussthemen. Ganz abgesehen davon, dass die Dynamik
ja nicht allein von der Harmonik, sondern in erster Linie von der Metrik und
Rhythmik und in zweiter auch von der Melodik abh&ngig ist, wtirden die grossen
dynamischen Kontouren, wenn ein solches Gesetz giltig ware, stets dieselben
oder annahernd dieselben sein miissen, d. h. eine sterile Einformigkeit wtirde
zur Norm erhoben sein. Innerhalb der bezeichneten Grenzen gehen aber Dynamik
und Harmonik wirklich parallel. Das Wegwenden vom Centralpunkt be-
dingt das crescendo, das zurtickwenden das diminuendo. Daraus folgt
aber, dass, wenn eine neue Tonika durch eine (crescendo ausgefiihrte) Modulation
gewonnen worden, in deren Bannkreise gleichfalls das diminuendo fur Schluss-
wendungen bedingt ist, und dass eine neue Modulation von ihr aus ebenfalls
wieder ein crescendo bedingt, an dessen Stelle das diminuendo nur dann tritt,
wenn der definitive Rtickgang zur alten Tonika gemacht wird: ohne Zweifel
liegt gerade in diesem diminuendo trotz der Modulation eins der
wesentlichsten Mittel zur Verstandlichung der vollen Bedeutung des
Riickgangs. Dass der Komponist eine andere Dynamik fordern kann, steht
ausser Zweifel; wo aber besondere Vorschriften fehlen, darf man die angedeuteten
Gesichtspunkte als massgebende ansehen.
Aus dem aufgestellten Grundsatz folgt ferner, dass diejenigen Tone, welche
speziell eine Modulation einleiten, d. h. im allgemeinen die der herrschenden
Tonart fremden Tone der Auffassung besonders nahe gertickt werden mtissen
und daher eine starkere Tongebung, einen Accent bedingen. Desgleichen
ergiebt sich weiterhin die Accentuirung dissonanter Tone. Der Uebergang
aus einem konsonanten Accorde in einen dissonanten wird fur letzteren starkere
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VIII. Melodisohe und harmonische Dynamik.
188
Tongebung verlangen, wahrend die Auflosung einer Dissonanz stets eine negative
Bildung, die Losung eines Konflikts, eine Rtickwendung ist und daher auf
diminuendo-Vortrag Anspruch hat. Erscheint als Penultima (vorletzte Zahlzeit)
in abbetonten Motiven oder Phrasen eine Dissonanz, die sich auf die Ultima
(letzte Zahlzeit) lost, so wird der dynamische Hohepunkt fast immer von letzterer
auf erstere verschoben werden, z. B. (Beethoven, op. 31, Nr. 1, 2. Satz):
oder (Sonata appassionata, 1. Satz):
oder (Op. 10, Nr. 3, 2. Satz):
oder (daselbst):
So und nicht anders mlissen die dynamischen Zeiclien fur diese Stelle geordnet
werden. —
Das innige Verwachsensein der Dynamik und Agogik ist uns aus friiheren
Kapiteln bekannt, wir wissen auoh, dass die Verlangerung des Tones oft die
Accentuirung vertreten muss (agogischer Accent, § 22). Es wird uns daher
nicht iiberraschen, zu finden, dass diejenigen harmonischen Bildungen, welche
zu accentuiren sind, zugleich eine Verlangerung erfordern, namlich die Disso-
nanzen und fernliegenden Harmonien. Tritt z. B. in c-Dur der des-Dur- oder
fis-Dur-Akkord oder dergl. auf, so wtirde es sehr verkehrt sein, leicht ttber den
schwerverstandlichen Akkord hinwegzugehen; derselbe erfordert vielmehr die
nachdrilcklichste Einftihrung durch starkere Tongebung und Verlangerung.*)
*) Die Pedanten werden gegen diese wiederholten Anweisungen zu Fehlern gegen den
Takt eifern; aber die Einsichtigeren erkannten deren Nothwendigkeit sehon vor lOOJahren.
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42. Sequenzen.
189
Diese agogisehen Aceente sind besonders dann nothwendig, wenn die Stimmen
im glatten Metrum fortschreiten, wahrend sie entbehrlich sind, wenn den be-
treffenden Akkorden ohnebin langere Notenwerthe zugetheilt sind, wie dies ja
zumeist die musikalische Erfindung mit sich bringt. Wo der Komponist aus-
drticklich das Gegentbeil vorsehreibt, namlich ein festgehaltenes piano bei den
kiihnsten Harmonienfolgen, wird er stets die Wirkung des sonderbaren, aben-
teuerlicben, spukhaften oder griiblerischen u. s. w. hervorbringen, was ja sehr
wohl mit ktinstlerischer Absicht gescbeben kann.
§ 42. Sequenzen.
Eine stets in der Harmonielehre abgehandelte, doch eigentlich mehr melo-
dische als harmonische Bildung macht bei der Abgrenzung der Phrasen einen
entscbeidenden Einfluss geltend, namlich die Sequenz. Sequenz ist die mehr-
malige stufenweise (innerhalb der Tonleiter) steigende oder fallende Wiederbolung
einer rnelodiscben Figur; man kann daher auch von einer einstimmigen Sequenz
reden, versteht aber gewohnlich unter Sequenz eine gleichzeitige derartige Bil-
dung in mehreren Stimmen, z. B.
ft*#pftptep^
rr r
b)
,
c)
mm
I 0 r-
1—^r
P — *v
T ! ♦
iUU
-I)
-&-
-in
Ein mebreres tiber die yersebiedenen Arten der Sequenzen findet man in meiner
„Neuen Schule der Melodik", § 45. Die Sequenz scbiebt, wie Fetis ricbtig er-
kannt hat (in ,Traite de l'harmonie'), die eigentliehe harmonische Entwickelung
hinaus, sie ist nicbts anderes als ein komplizirter Durchgang, eine mannichfacb
gebrochene Skala. Haufig lauft eine der an der Sequenz betbeiligten Stimmen
einfach durch die Tonleiter, wie oben bei b) und d); die eigentliehe Melodie-
stimme aber fithrt eventuell eine seln kunstreicbe Figuration als Sequenz durch,
z. B. (Bach, Wob.lt. Klav. I, 17. Pral.):
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VET. Melodisohe und liarmomsohe Dynamik.
190
gfcBŁŁg
rn^mm
*.—*v-
is—■**-
was nichts anderes ist als eine Figuration von:
8 va_____________________
afe^a^p
Die Sequenz ist die Negation des freien Kunstschaffens, ein Bild der eisernen
Naturnothwendigkeit; ist ihr Anfang gegeben, so wiekelt sie sich sozusagen von
selbst ab, bis der Wille des Komponisten eingreift und die Stimmen in andere
Bahnen lenkt. Nur Anfang und Ende der Sequenz baben eigentlicbe harmoniscbe
Bedeutung, der ganze Verlauf wirkt dagegen nur melodiscb. So scharf gegliedert
die Sequenz ist (sofern ja ihre formelle Existenz in der Weiterschiebung eines
Motive berubt), so ist sie docb niemals in mehrere Phrasen zerlegbar, ja sie
reprasentirt sogar niemals eine vollstandige Phrase, sondern stets nur einen
Theil einer solcben; notbwendig gebort zu der Phrase nocb die Wendung der
Sequenz zu freier Gestaltung. So endet die mit obiger Sequenz beginnende
Phrase erst mit folgenden an die oben notirten anschliessenden Takten:
m^&
i»=p=
m
J^tTCf
^^^rhe^^^^M^^S
Uppig^^^
i^S
ŁeEe
m&
V^T—t
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43. Schliohte Polyrhythmik (Polymetrik).                                  191
d. h. der Bass halt zunachst noch das Motiv der Sequenz streng fest, schiebt
es aber wieder nach oben statt nach unten, wahrend die Oberstimme die Sequenz
nur nocb theilweise (unter Festhaltung des es") mitmacbt, bis endlich in dem
mit forte bezeicbneten Takte vollige Freiheit der Bewegung eintritt und ein
wirklicber Scbluss gemacbt wird.
Wo also eine Sequenz auftritt, wird nicht allein die barmonische Schluss-
bildung hinausgescboben, sondern oft aucb das metriscbe Gleichgewicht ge-
stort, sofern ganz erbeblicbe Verlangerungen der Pbrasen durcb dieselbe bewirkt
werden. Die natiirliche Dynamik der Sequenz ist ein zahes festhalten
an der einmal eingescblagenen Richtung, sei diese die positive (crescendo)
oder die negative (diminuendo); ein wenden des crescendo zum diminuendo
wird erst deim Uebergang zur freien Bewegung stattbaft erscbeinen. Die dyna-
mischen Verschiedenbeiten der Taktmotive, welcbe aus der Festhaltung melo-
discher Motive in audertheiliger Taktart entstehen, untersucbten wir bereits im
§ 39; es verstebt sich, dass dieselben aucb dann zu Recht besteben bleiben,
wenn alle Stimmen in denselben Konflikt mit dem Takte treten, d. h. bei der
Sequenz.
Dass das Motiv der Sequenz baufig genug verkebrt aufgefasst wird, namlicb
meist volltaktig, sei nicht vergessen anzumerken; es ist das ja nichts anderes
als ein Symptom des Kardinalfeblers, dessen Ausrottung dies Buch bezweckt.
Es verstebt sicb, dass die fur die Auffassung der rbythmisch-melodiscben Motive
iiberhaupt geltenden Gesichtspunkte in vollem Masse fur die Sequenzmotive
gelten (lange Noten oder Pausen als Ende, Untertbeilungen als Anfang, Sprttnge
der Melodie als Grund der Trennung u. s. w.).
IX. K a p i t e 1.
Polyrhythmik,
§ 43. Scblicbte Polyrbytbmik (Polymetrik).
Die einfacbste von der Homorbythmik, d. h. der gleichmassigen Rhythmisirung
sammtlicher Stimmen eines mebrstimmigen Satzes (Note gegen Note) abweicbende
Bildung ist die, dass eine Stimme (oder mebrere) sich in den Werthen der Zahl-
zeiten bewegt, wahrend eine andere dieselben gleichmassig untertheilt und viel-
leicht eine dritte nur in den Werthen boherer Einheit (Motivwertben, Taktwertben)
fortschreitet:
H71 J772
rm
J73"
r i i r r
r r
r r
r i r
r
f
miniii'i
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IX. Polyrhythmik.
192
Da es eintheilige (d. h. also ungetheilte) Motive nicht geben kann (§ 2),
sofern die Aeusserung der immanenten Lebenskraft eines Tones erst durch das
abgrenzende Eintreten eines zweiten, gegen ihn gesteigerten oder geminderten
verstandlich wird (das crescendo oder diminuendo ist gegenstandslos, wenn es
nicht zu etwas anderem hin geschieht), so miissen nothwendig zwei oder drei
Tone der in Taktwerthen sick bewegenden Stimmen zu Gruppen (Motiven) zu-
sammentreten. Lassen wir zunachst die dreitaktige Bildung bei Seite, so haben
wir zweierlei Moglichkeiten fiir die zweitaktige, namlich die anbetonte oder abbetonte:
?
oder:
r
!
Das schlichte Metrum (in Zahlzeiten) erscheint gegeniiber diesen Motiven
hoherer Ordnung als Untertbeilung nnd es ist selbstverstandlich, dass seine
Dynamik sich naeh der des Metrums hoherer Ordnung richtet; die Untertheilung
in Achtel erscheint entsprechend als Untertheilung zweiten Grades und nimmt
ebenfalls die gleiche Schattirung (dynamisch und agogisch) an:
und:
Die Polyrhythmik fordert also mit gebieterischer Nothwendigkeit das Zu-
sammenschliessen mehrerer einfachen Motive zu engerer Einheit, und die Aus-
dehnung der dynamischen Schattirung auf die so gebildete grossere Gruppe,
welohe vom Standpunkte der Monorhythmik (Khythmik einer einzigen Stimme)
immerhin als willktirliche, d. h. vom Willen abhangige erscheinen musste
(vgl. § 7), ergiebt sich so als logische Konsequenz. Die entsprechenden Bil-
dungen des dreitheiligen Taktes sind:
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43. Schlichte Polyrhytlimik (Polymetrik).
193
und:
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unci die des viertheiligen [der viertbeilige Takt gestattet als zusamrnengesetzte
Taktart (2.2) zwei Zusammenziebungen zu hoheren Zahlwertben, zunilcbst zu
den Einheiten der kleinen (zweizeitigen) Motive und dann zu den grosseren
(vierzeitigen) der ganzen Takte]:
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Nun kann aber jedes der drei oder vier parallelen Metra, wie wir bereits
aus § 8 wissen und seitker genauer untersuchten, aus volltaktiger (anbetonter)
Motivbildung jederzeit zu auftaktiger (in- oder abbetonter) ubergehen, sobald
Wendungen oder Sprtinge der Melodie (§ 39) oder Zusammenziehungen (§ 12)
oder Untertheilungen (§ 19) oder Pausen (§ 31) die Auffassung anders be-
stimmen. Die Zahlpunkte hoberer Ordnung (§ 19) bleiben dabei unverriickt,
d. b. die in kingeren Werthen einhergehenden Metren werden dadurch nicbt ge-
stort, wenn auch harmonische Grlinde eine dauernde Verkoppelung verschiedener
Metren misslich macben werden und nothwendig zu ofteren Verkiirzungen der
langen Noten (dureh Pausen), wo nicbt zur Auflosung in kleinere Wertbe fiibren
miissen. Die sick unter Festbaltung der angenommenen drei oder vier Be-
wegungsarten ergebenden Kombinationen sind:
Riemann, Mus. Dynamik und Agogik.
13
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IX. Polyrhythmik.
194
a) Zweitlieiliger Takt.
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43. Schlichte Polyrhythmik (Polymetrik).
195
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b) Dreitheiliger Takt.
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*) Dor Kurze wegen sind die beiden moglichen dynamischen Formen iiber einander
notirt; man verstehe das aber so, dass nur die Formen zusammengehoren, bei denen die
Lage des dynamischen Hohepunkts iibereinstimmt, also
und
13*
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IX. Polyrhythmik.
196
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43. Schliohte Polyrhythmik (Polymetrik).                                  197
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IX. Polyrhythmik.
198
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43. Sohliohte Polyrhythmik (Polymetrik).
199
Diese Schemata werden geniigen, die Bedeutung paralleler Metra klar zu
machen. So seltsam sich bei den in Achteln mehrfach auftaktigen Formen das
Hinliberragen der Halben und Ganzen in die Zeit des folgenden Taktmotivs
ausnimmt, so finden sich dock solche Kombinationen ziemlich haufig, z. B.
(Beethoven, Sonate pathetique):
----r^~          -            \-&---------            \-zr=5_         =rrz=
'hK
ŁW
Hier bilden sogar die vier Ganzen im Bass ein einziges abbetontes Motiv,
die Taktmotive in Vierteln (Mittelstimmen) sind gleichfalls abbetont, an Stelle
der dynamischen Hauptnote jedes Motivs erscheint zwar eine Pause, doch kommt
diese nicht zur Wirkung, da Melodiestimme und Bass die dynamische Hauptnote
(den Motiv-Z&hlpunkt) hinreichend markiren. Wir werden diese Vernichtung
der Pausenwirkung tiberall mehr oder weniger vollkommen wiederfinden, wo
zwei Rhythmen sich erganzen (§ 44, koinplementare Rhythmen).
Eine Frage von schwerwiegender Bedeutung drangt sich uns bei Betrachtung
der am Ende iiberragenden Werthe der langsameren Bewegungsarten und der
am Anfang vorragenden der schnelleren Bewegungsarten auf; namlich die, ob
nicht audi Bildungen gegentheiliger Art moglich sind, ein spa teres einsetzen
der Untertheilungsmotive und zufolge dessen ein iiberragen dieser tiber das
Ende der Motive in langeren Noten, z. B.
J
r;
m
Das spittere Einsetzen der untergetheilten Bewegung kommt oft genug vor,
z. B. (Bach, Wohlt. Klav. II, f-moll, Pral.):
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W-
E^igi
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200                                              IX. Polyrhythmik.
oder (Beethoven, Sonate, op. 10, No. 2):
Die Frage ist nun aber, ob in diesen beiden vcillig gleichen Fallen unci
anderen ahnlichen die kleine Pause als Anfangs- oder Eudpause aufgefasst
werden muss. Betrachtet man die Oberstimme allein (monorhyhthmisch), so
unterliegt es keinem Zweifel, dass nicht die Pause, sondem der erste Ton als
Motivaufang aufgefasst wird, d. h. die Pause ist Schlusspause. Giilte dieselbe
Bedeutung audi fur die vorliegenden polyrbyfhmischen Kombinationen, so witrde
thatsaehlieh das Motiv der Oberstimme itber das der Unterstimme hinausragen,
d. h. es miisste nocb als weiter dauernd empfunden werden, nachdem die Unter-
stimme sclion wieder einen neuen Anfang gegebeu hat. Das bedenkliche der
Annahme springt sofort in die Augen: die Verschmelzung einer Anfangs- unci
einer Endemptindiing.*) FSlle, wo statt der Pause ein langerer Notenwerth das
Untertheilungsmotiv abschliesst, bringen schon etwas Licht in das Dunkel, z. B.
(Beethoven, op. 10, No. 2):
Hier sind die Motive der Oberstimme monorliythmiseh klar verstandlich (V4 auf-
taktig), desgleichen die der zusammengehenden Begleitstimmen (abbetont); aber
die Verbindung beider bringt einen ganz anderen Effekt hervor, welcher der
folgenden Schreibweise entspricht:
d. h. die zweite Halfte des Viertels der Oberstimme wird zur (vorbereiteten)
Vorhaltsdissonanz, die unmoglich von ihrer sofort nachfolgenden Auflosung
*) Ein Hinuborrag'en des Endes in den neuen Anfang ist auch polyrhythmiseh stets
eine Anomalie; man vergleiche die Bogenkreuzungen in memer Phrasirungs-Ausgabe.
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43. Schlichte Polyrhythmik (Polymetrik).                                 201
getrennt werden kann. Die Motivgrenze wird daher in die Mitte des Viertels
fallen, und da dies nicht zerrissen werden kann, so verwachsen die Motive fest
mit einander; das Bestreben, die Viertel einheitlich zu verstehen und doch eine
Motivgliederung zu gewinnen, wird daher vielmehr zu der Auffassung hinleiten,
dass im zweiten Takt die Oberstimme vorschl&gt:
Nehmen wir aber, urn in der Sache ganz klar zu sehcn, an, Beethoven hatte
statt der Vorhalte gleich die Akkordtone geschrieben und dieselben nochmals
angegeben:
f T f f r '
so wiirde deutlich hervortreten, dass die Motive der Oberstimmen nicht spater,
sondern frither einsctzen.
Mit anderen Worten: immer wird das Bestreben sich bemerklich machen,
die gesteigerte Bewegungsart als neuen Bewegungsanstoss, als vorgreifen, nicht
aber als nachkommen, spaterkommen aufzufassen. Wenn wir uns erinnern, dass
die Untertheilung einer Zahlzeit sich stets der Auffassung dieser Zahlzeit als
Ende des Motivs hinderlich envies (§ 19), vielmehr zur Annahme eines neuen
Anfangs hindrangte, d. h. eine Umdeutung des Motivs veraulasste, so konnen
wir uns angesichts der almlichen Ergebnisse unserer letzten Untersuchung der
Einsicht nicht verschliessen, dass die Bedeutung der Figuration (der Auf-
losung eines Werthes in mehrere kleinere) ganz allgemein die Verkniipfung
der grosseren Werthe durch Untertheilungsmotive ist, welche aus dem
einen Werthe herauswachsen und in den folgenden hineinragen; d. h.
dass die Figurationsmotive kleinster Theilzahl (die zwei und dreitheiligen)
niemals anbetont, sondern stets abbetont oder inbetont sind. Eine
solche Bedeutung kann natiirlich nur in metrisch-rhythmischem Sinne gemeint
sein; in diesem Sinne kann sie aber auch da gelten, wo die Harmoniebedeutung
der Tone die anbetonte Auffassung fordert, wie oben bei den vorbereiteten Vor-
halten. Mit dieser Erkenntniss haben wir erst das eigentliche Fundament fur
die Beurtheilung polyrhvtlimischer Bildungen gewonnen; aber auch die mono-
rhythmischen erscheinen nun theilweise in ganz anderem Lichte. Da die Dauer-
zeit eines Taktmotivs bei der Folge mehrerer Motive stets zur Einheit hoherer
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IX. Polyrhythmik.
202
Ordnung wird (§ 13), so sind im Sinne dieser hoheren Zahlzeiten die schlichten
Zahlzeiten offenbar als Untertheilungswerthe verstandlich, und es maclit sich
auch fiir sie die Neigung zu abbetonter oder inbetonter Auffassung bemerklich,
d. h. die Anbetonung verliert, je tiefer man in die Ergriindung des Prinzips ein-
dringt, immer mehr am Boden und erscheint schliesslich nur noch als Anfangs-
bildung begreiflicb, zu der es nocb kein hinstreben eines vorhergegangenen giebt.
Erst jetzt begreifen wir vollig die Natur des rhythmischen Schlusses, der nur
abbetont oder inbetont sein kann. Wir m'ussen freilicb gerade umgekebrt defi-
niren wie Hauptmann. Wir sagen: der rbythmische Schluss kann nie auf ein
erstes fallen. Hauptmann dagegen: er kann nie auf ein letztes fallen (N. d. s.
u. d. M., § 31). Hauptmann hat aber dabei die Zahlzeiten zwischen den Takt-
strichen oder in den Takthalften u. s. w. im Auge, wir dagegen die Lage des
dynamischen Schwerpunkts im Taktmotiv. Beim anbetonten Motiv ist der
Schwerpunkt erstes, beim abbetonten letztes; sofern also die Schlussbildung ein
Enden auf dem Zahlpunkt hoherer Ordnung, dem dynamischen Schwerpunkt ist,
setzt sie ein abbetontes Motiv als letztes voraus. Diese Auffassung stimmt vollig
tiberein mit der Hauptmann's, wenn er sagt (ibid., § 80):
„Bei einer fortgesetzten positiven Keihe
12121212
wird man leiolit wahrnehmen, dass es die darin auch enthaltene negative Keihe
2 1 2 1 2 1
ist, welche mit zusammenschliessender Kraft die Doppelglieder der ersten aneinanderkettot,
den Schluss nnter ihnen bewirkt."
Dagegen kann ich Hauptmann ganz und gar nicht beistimmen, wenn er in
den Ausnahmefallen, wo der Schluss doeh auf eine andere als die dynamische
Hauptnote fallt, die Schlusswirkung auf eine mogliche, aber nicht vorhandene,
also latente Untertheilung bezieht (§ 82), z. B.
-#— =
Nicht auf Untertheilungen, sondern auf Einheiten hoherer Ordnung scheint mir
Bezug genommen werden zu miissen, urn den Schluss zu gewinnen; ein Gang wie:
pmtfrn^wm
fordert durch die Sekundenschliisse innerhalb der Takte entschieden die an-
betonte Auffassung; wenn wir auch im § 35 Ausnahmen als moglich kennen
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43. Sohliohte Polyrhythmik (Polymetrik).
203
lernten (Schumann's ,Coquette'), so erschien doch deren Sinn nicht zweifellos.
Verzichten wir also auf die Auffassung:
welclie fur den Anfang ein unvollstiindiges und fiir das Ende ein iiberkompletes
Taktmotiv erg&be, so miissen wir dagegen betonen, class keinesfalls die einzelnen
Takte als isolirt nebeneinander stebend gefasst werden konnen, wenn eine zu-
sammenhangende Auffassung aucb des kleinsten melodischen Gebildes moglich
sein soil. Wir werden vielmebr zwei und zwei Takte zusammenzufassen haben
und zwar bier in abbetontem Sinne und aucb die beiden Gruppen von je zwei
Takten werden wieder abbetont zu versteben sein:
o                 IJ                 * ||
Ausgehend von dieser Beziehung auf die hoheren Einheiten gewinnen wir
fur die Viertel die Bedeutung von Untertheilungswerthen und die Melodie gliedert
sicb in der ungezwungensten Weise:
pgjpgggjgj
d. b. das Scblussmotiv wjichst aus dem vorletzten Taktwerthe heraus in den
letzten binein; der Scbluss wilie ebenso wohl befriedigend gewesen, wenn statt
des Vorhaltes d—c gleicb der Akkordton c gebraucbt ware, das Vorhaltsverbalt-
niss des d zwingt aber, die Scblussbedeutung, die eigentlich dem ersten Viertel
zukame, auf das zweite Viertel mit auszudehnen. Daber die eigenthiimliche
weicbe Wirkung der weiblichen Scblilsse im zweitheiligen Takt. Dieselben sind
stets Hinausschiebungen des Scblusses, Vorbalte.
Erheblich weniger bervortretend ist eine solche Wirkung bei dem Sclduss
auf dem zweiten Taktglied im dreitbeiligen Takt:
Das inbetonte Motiv wachst aus der Dauerzeit der vorausgehenden Einheit
hoherer Ordnung (weicbe als von Zablpunkt zu Zahlpunkt reichend verstanden
wird, wie wir wiederholt saben) hintiber; von einem Verschieben des Scblusses
kann nicht die Rede sein, da das zweite Viertel noch zum Motiv gehort. Da-
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IX. Polyrhythmik.
204
gegen haben wir wieclev die voile Wirkung des hinausgeschobenen (weiblichen)
Sehlusses, wenn derselbe bis zur dritten Taktzeit reicht:
S
mm
Denn bier miissen wir, um die Schlusswirkung zu gewinnen, nothwendig zum
mindesten eine Taktzeit des vorausgebenden Taktes hinzunehmen, d. h. das
Motiv wird uberkomplet, wie oben beim weiblichen Scbluss im zweitheiligen
Takt. Wir gewinnen also zwei sehr wohl zu unterscbeidende Arten des so-
genannten weiblichen Sehlusses, den motivisch ttberkompleten (den eigentlichen
weiblichen Scbluss) und den motivisch kompleten oder noch Sehlusspausen er-
fordernden; iibersichtlich zusammengestellt:
a) ^.
$
as
uberkomplet (einzige Form im 2theiligen Takt).
b)
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&
t
komplet.
-*-p-
m
^
=F*
*=t=;
Ł
komplet (Pause entbehrlich).
uberkomplet.
e)
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dt:
uberkomplet.
^mmm^mmm
komplet (Pause entbehrlich).
Ł
UjM^A
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4=:
m
komplet (mit Pause).
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43. Schlichte Polyrhythmik (Polymetrik).
205
10
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E^
±=±i
iiberkomplet.
Ł**
r i r f f T-\^=r^m
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uberkomplet.
Die naturliclie Schlussbildung in Werthen hochster Ordnung (die — wohl
ausnahmslos — zweitheilige Motive bilden) wird also die abbetonte sein, d. h.
wenn sie aucb anfanglich anbetont giuppirt sind, so wird doch die abbetonte
Beziebung im Sinne einer hochsten Einheit bald Platz greifen, so dass der letzten
anbetonten Gruppe der zweite Werth feblt. Die scbeinbar durchaus anbetonte
Form des viertbeiligen Taktes in vierfachen Parallel-Metren wird daber in der
Regel die folgenden Scblussbildungen aufweisen:
J__I
J__l_J L
r I
\
r
I                     I                     I
4 <
o
d
V
o
<J
o
a
o
a
Die beigefttgten dynamischen Zeicben sind cum grano sails zu versteben;
denn sie losen die zweitbeiligen Motive jeder Bewegungsart von einander los,
wahrend dieselben thatsachlick immer in grosserer Zahl in innigen Verband
treten und durchgehende Scbattirung bedingen. Die Zeichen driicken also bier
nicbt die effektive dynamische Scbattirung (die ja docb von verscliiedenen anderen
Faktoren mit abbiingig ist, wie wir wissen), sondern nur die dynamische
Potenz der Motive in rein metrisch-rhythnrischer Bedeutung aus. Das Enden
mit Werthen von soldier Verschiedenheit wie J** und a wird gleiehzeitig kaum
jemals vorkommen; es soil aber damit nur ausgedrtickt werden, dass der Zahl-
punkt hochster Ordnung (der Einsatz der letzten Note) in langsten Werthen be-
stimmend ist fur das Ende aucb der Bewegung in kiirzeren Werthen.
Der in zwei oder drei Ordnungen dreitlieilige Takt (eine noch weitere
Potenziruug der Dreitheiligkeit nach oben oder nach unten ist iiusserst selten)
liisst zwei befriedigende Schlussformen zu, namlich:
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IX. Polyrhythmik.
206
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Es ist nicht nothig, darauf hinzuweisen, class die inbetonte Form des einen
Metrums nicht zugleich die des grosseren oder kleineren bedingt; es ist vielmelir
moglich, dass die Achtelmotive abbetont sind, die Viertelmotive inbetont und die
Motive in Halben abbetont oder andere Kombinationen, nur fiir das Motiv hochster
Ordnung 1° f'\ °' &\ ist die Abbetonung ftir die Scblussbildung unerlasslich,
wahrend fiir den Anfang auch fiir diese grossten Werthe (Motivwertbe) der Be-
ginn mit dem dynamischen Hauptwerth moglicb ist, doch so, dass die Auffassung
sogleich zur Annahme der Abbetonung oder Inbetonung (im Ritmo di tre battute
moglich) tibergehen muss.
§ 44. Komplementtire Rhythmen.
Wir haben bereits im vorigen Kapitel darauf hingedeutet, dass die Pausen-
wirkung im polyrliythmischen Satze oft ganzlich oder doch fast ganzlich ver-
nichtet wird, wenn regelmassig sicb wiederholenden Pausen in einer Stimme ebenso
regelmassig eintretende Tone in einer andern entsprechen. Gleichermassen wird
durch eine solche Erganzung mehrerer Stimmen zu glatt fortlaufender Bewegung
die hemmende Wirkung der Zusammenziehuugen oder die vorwarts treibende
der Untertheilungen in den einzelnen Stimmen aufgehoben. Mit anderen Worten,
die Polyrhythmik wirkt bis zu einem gewissen Grade als Mono-
rhythmik; in dieser Thatsache haben wir einen Hauptgrund fiir die Ver-
kiimmerung des rhythmischen Elementes in der mehrstimmigen Musik zu suchen.
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44. Komplementare Khythmen.
207
Es ist ja bekannt, wie buntgestaltig und tiberaus lebendig im Vergleich zur
unseren die Rhythmik der Volker ist, welche die Mehrstimmigkeit gar nicht oder
nur in der primitivsten Gestalt liegender Basse kennen. Der vorige Paragraph
gab uns in seiner ersten Halfte einen hinreichenden Erklaruugsgrund ftir das
Ueberhandnehmen der volltaktigen Auffassung; seine zweite Halfte fiihrte frei-
lich zu einer fast ganzlichen Negierung der Anbetonung. So wird auch die
Untersuchung der komplementaren Rhythmen uns manchen auf monorhythmischem
Gebiete zwingenden Grund ftir inbetonte und abbetonte Auffassung in Frage
stellen, um sehliesslich doch wieder diesen zu ihrem Rechte zu verhelfen.
Die einfacbsten komplementaren Rbythmen sind diejenigen, welche aus zwei
Stimmen thatsachlich eine in gleichen Werthen fortlaufende machen, indem die
Tone der einen stets auf die Pausen der anderen fallen, so z. B. in der 34. und
37. Etude von J. B. Cramer (in Billow's Auswahl, No. 34 und 33):
te^
SŁ3EgyEJE|^
8/
9±$3^E^E&1
JTTTPF
S*1^
und
Der Klangeifekt der ersteren ist:
der der letzteren:
d. h. wir horen in beiden Fallen zunacbst ein glatt fortlaufendes Metrum; an-
statt aber darum die beiden Stimmen wirklich als eine einzige zu betrachten,
-ocr page 217-
IX. Polyrhythmik.
208
moclite icb vielrnelir aus solchen Fallen umgekebrt die Lehre ziehen, dass vieles,
was als eine Stimme gesclirieben wird, thatsachlieb nichts anderes als eine Zu-
sammenziehung zweier rhythmiscb komplementaren Stimmen 1st. Die Mehr-
stimmigkeit durch Brecbung, welcbe in der Harnionielebre und im Kontrapunkt
eine Kolle spielt, 1st auch in rhythmischer Beziehung nicbt ausser Aeht zu lassen,
und eventuell miissen die Motiygrenzen und Phrasengrenzen aus dem Gange
einer solcbeu maskirt geschriebenen Stimme eikannt wcrden. Das erste der
beiden Cramer'schen Beispiele ist genau genommen dreistimmig, namlicb:
t^Ł^
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jf -j""^
N -
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JS
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j—^j
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d. b. wenn wir die Verkiirzungspausen der Ober- und Unterstimme ignoriren
und die Mittelstimme an den Wertben der Oberstimme Tbeil nebmen lassen:
4-
Ł-ff
T
wie oft genug gesclirieben wird und dem thatsachlichen Effekt entspricht, so
baben wir die drei Bewegungsarten (Parallelmetren):
J J IJ J J J
Iry^ry
r r r r r r r r
1 —_____
<v
Das zweite Beispiel f'tihrt uns zu der zweiten Art komplemeutarer Bbytbmen,
namlicb denjenigen, bei welcben nicbt Pausen, sondern langere Noten den
gleiehmassigen Fortgang der Bewegungsart in den einzelnen Stimmen unter-
brecben. Statt der 16tel-Pausen der Oberstimmen hatten ohne wesentliche Aende-
rung des Effekts Punkte an den Noten steben kcinnen:
Sva
Da in diesem Beispiele die Oberstimme strengen melodiseben Anschluss bat.
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44. Komplementare Ehythmen.
209
so erscheint deren Verscbmelzung mit der Oberstimme minder nattirlich als im
anderen Beispiel, wo die Melodie der Oberstimme sich in barmonischen Scbritten
bewegte. Hier haben wir daher reiner ausgepragt die nur rbytbmisclie Er-
ganzung, wahrend dort die Erganzung zugleich melodisch aufgefasst werden
konute. Die beiden Stimmen erganzen sicb zu einem acbttbeiligen (zweizabligen
aber dureb vier untergetheilten) Metrum, dass in jeder der beiden Stimmen durch
Zusammenziebungen und Pausen rbythmiscb verandert ist, aus ibrem Ensemble
aber wieder glatt hervorgebt:
Derartige Bildungen sind in grosser Zald moglich; sie spielen besonders im
Satze J. S. Bach's und seiner Zeit eine dominirende Rolle. Der strong poly-
phone Stil langt in der Regel nacb wenigen Phrasen beim glatten Metrum in
scbnellen Untertheilungswerthen an, derart, dass keine Stimme dasselbe allein
durchfiibrt, sondern jede einzeln, indem sie ibren Tbeil zu der scbnelleren Be-
wegung beitragt, docb in sich rbythmiscb vielgestaltig ist und Zusammenziebungen
(im Sinne des Untertheilungsmetrums), Untertheilungen ersten und zweiten Gra-
des (im Sinne des Metrums der Zahlzeiten) und Pausen aufweist. Besonders
fiir die Fugen ist diese Art des rhythniischen Ausbaues durcbaus typiscb. Wenn
aucb unsere Zeit diesen gothiscben Stil in der Musik (durcbbrochen und doch
massiv) nicbt mehr so ausschliesslich oder vorzugsweise kultivirt wie das vorige
Jabrhundert, so haben doch die komplementaren Rhytbmen auch beute nocb
eine hervorragende Bedeutung, da sie nachst den Parallelmetren die einfachsten
polyrhythmischen Bildungen sind. Wir werden daher, wenn unsere Darstellung
nicbt skizzenhaft erscheinen soil, wenigstens fiir die einfachsten Taktarten die
komplementaren Bildungen systematisch untersucben miissen. Dabei wollen wir
zunachst zu grosserer Anschaulichkeit die Lage der Stimmen (ob Ober- oder
Unterstimme) beriicksichtigen, spater aber die Umkehrung der Verbaltnisse dem
einsichtigen Lelirer uberlassen. Wir beginnen mit dem schlichten Metrum der
Zahlzeiten des zweitheiligen Taktes:
1.
JflfHPMff (Synkope).
la.
sf^nrrirrirr (^we).
Eiemann, Mus. Dynamik und Agogik.
14
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IX. Polyrhythmik.
210
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* r i * r
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) ,•    (Pausensynkopirung,
'      negatives Staccato),
2 a.
) P    (Pausensynkopirung).
* r i * r
3.
r *
J I* (Pausensynkopirung).
3 a.
J P (Pausensynkopirung).
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4.
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r fTr r'
r i i r *
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if
r i
(Synkope).
i i
P P (Synkope).
r i
Hierzu ist zweierlei zu bemerken: erstens, dass die Wirkung der Koinbi-
nation eine wesentlicb verscbiedene ist, je nachdem die in Synkopirung oder
Pausensynkopirung auftretende Stimme Oberstimme oder Unterstimme ist, und
zweitens, dass dock in jedem Falle die synkopische Bildung nieht so intensiv
zur Geltung kommt, als wenn sie monorhythmisch erscbeint. Die erstere Wirkung
bestimmt sich danacb, ob die Oberstimme Melodiestimme und die andere Stimme
Begleitstimme ist, oder umgekehrt. Sobald diese Bedeutung wecbselt, kebrt sicb
auch die Wirkung urn. Die Synkopirung derjenigen Stimme, welcbe als Haupt-
stimme gefasst wird (d. b. derjenigen. welcbe den thematischen Faden fortspinnt,
in der Fuge derjenigen, welcbe gerade den Dux oder Comes vortragt; wir
ktinnen also sagen: Synkopirung im Tbema) wird stets als wirkliche Synkopirung
wirken, nur darum weniger intensiv, weil die durch die Synkope ubergegangenen
dynamiscben Hauptzeiten in der anderen Stimme vertreten sind. Die Synkope
wird dadurch leicbter verstandlich und auch das cbarakteristische ihrer Wirkung,
die Verrttckung der Schwerpunkte etwas abgeschwacht, da das Festbalten der
Zeitpunkte der letzteren nicbt der Pbantasie iiberlassen bleibt, wie bei der mono-
-ocr page 220-
44. Komplementare Rhythmen.
211
rhythmischen Synkope, sondern durch eine sehlicht gebildete Stiinme vermittelt
wird. Diese Abschwachung wird bemerklich sein, wenn wie im oben gegebenen
Schema die synkopirende Stimme die spater einsetzeude ist; zwar wird die
Synkopirimg der Melodiestimme nie die Bedeutung des Nachschlagens bekommen
kijnnen, weil ihre Auffassung stets die massgebende nicht aber durch die
andere Stimme bedingte ist; aber eine in solchen Fallen nothwendige Vorpause,
ein Spezies der Pause, welche wir im 6. Kapitel als nur polyrhythmisch ver-
stiindlich bezeichnen mussten, bedeutet ein spater beginnen (was etwas ganz an-
deres ist als nachschlagen) der Melodiestimme*). Dagegen wirkt die Synkopirung
der nur als begleitend aufgefassten Stimme thatsachlich als nachschlagen, wenn
auch in dem durch den vorigen Paragraphen genauer prazisirten Sinne des
herauswachsens aus dem einen Werthe und hintiberragens in den anderen.
Denn wie in derHarmonie nie zwei Auffassungen neben einander
moglich sind, sondern stets ein Klang (Dur- oder Mollakkord) die
Bedeutung des Zusammenklangs bestimmt, so ist fur metrisch-
rhythmische Bildungen die Annahme zweier Ausgangspunkte un-
moglich. Es ist also ein rythmischer Nonsens, dass die Phrasen in einer
Stimme um einen Motivwerth spater anfangen als in der anderen; vielmehr treten
dann die Vorpausen mit aller Bedeutsamkeit ein:
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r Tr
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Z. B.
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^
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r
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Da die volltaktig einsetzende Unterstimme den Ausgangspunkt bestimmt, so
ist natilrlich nicht moglich, die Melodiestimme als auftaktig beginnend zu ver-
stehen; das die Melodiestimme beginnende Pausenmotiv (bedingt durch den
Ausfall der ersten dynamischen Hauptnote) ist also inkomplet. Ebensowenig
ist es statthaft, selbst nachdem die Synkopirung der Melodiestimme eingeleitet
und begriffen ist, die vor dem Beginn der nachsten Phrase in der Begleitstimme
fallende Pause der Melodiestimme als mit der folgenden Vorpause ein Motiv
bildend zu erklaren; denn die Wiederholung der synkopischen Bildung ist keine
*) Die Melodiestimme beginnt spater, d. h. sie setzt ein, nachdem die Begleitstimme
bereits das neue Taktmotiv begonnen hat; sie fiillt also nicht die ganze Zeitdauer mit Ton -
gehalt. Dagegen schlagt sie aber nicht nach, da es ein wirkliches Nachschlagen, d. h. eine
Beziehung von TJntertbeilungswerthen auf die vorausgehenden Zahlpunkte nur da geben
kann, wo die fiir die Auffassung massgebende (Melodic i'iihrende) Stimme die Zahlpunkte
markirt; aber selbst da bedarf es noch harmonischer Griindc, die Annahme eines Vorschlagcns
zu verbieten (vgl. § •' 3).
14*
-ocr page 221-
IX. Polyrhythmik.
212
Naturnothwendigkeit, muss sich vielmehr erst von neuem verstandlich maclien.
Das letzte Taktmotiv der Melodiestimme wird also durch die Pause tiberkomplet:
2 -frhn
Die volltaktige Bildung der Begleitstimme erweist sich hiernach thatsachlich be-
stimmend flir die Phrasenabgrenzung der Melodiestimme, ohne aber deren auf-
taktige Untergliederung verhindern zu kbunen. Wir linden also von neuem
einen Erkliirungs- aber keinen Rechtfertigungsgrund flir das Ueberhandnebmen
volltaktiger Auffassung der Rhythmen.
Absicbtlich haben wir oben die Rhythmen nur volltaktig dargestellt; be-
ginnen sie auftaktig, so fallt die Motiv-Vorpause weg, d. b. die Bildungen sind
viel einfacher zu verstehen:
lb.
2' ?Tr ?Tr ?Tr ?Tr
lc.
211 irrii i irrii
& ! ? \ & If
' I I I I ! I I
u. s. w.
Die iibrigen Bildungen sind ebenso leieht verstandlich. In der praktischen
Notirung wird die volltaktig einsetzende Stimme eine Vorpause erhalten, die
aber nicht Motivbedeutung hat, da sie nicht auf den dynamischen Schwerpunkt
fallt. Der Schlusswerth muss aus den im vorigen Paragraphen ersichtlichen
Grtinden verkilrzt werden.
Buntere Gestaltungen ergeben sich, wenn wir zur komplementaren Unter-
zweitheilung des zweitheiligen Taktes ubergehen. Wir nehmen auch hierfur
nur zwei Stimmen an (wenn audi die gegenseitige Erganzung dreier Stimmen
vorkommt, so ist sie docb selten und aus dem fur zwei komplementare Stimmen
entwickelten verstandlich; meist wird indess eine dritte und vierte Stimme sich
schlicht in einem Parallelmetrum bewegen):
5.
5 a.
11 ilC\uC\uC\Ut
(r 11 r n r : i r 5
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44. Komplementare Rhythmen.
6.
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6 a.
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9 a.
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213
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IX. Polyrhythmik.
214
10.
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Je naebdem an Stelle (lev zusammengezogencn (oder nicbt untergetlieilteu)
Wertbe mehr oder weniger Verkiirzungspausen treten, modifizirt sich das Aus-
sehen und audi die Wirkung der Rhytbmen; ihre Motivbedeutung wird dadurch
nicbt alterirt. Die Bildungen zu entwickeln, welcbe im strengsten Sinne kom-
plementar sind und die zwei Stimmen effektiv als eine erseheinen lassen, indem
die eine verstummt, sobald die andere einsetzt, z. B.
lib.
2 ( LLU I 'HI I U2I I U2I
A i ti\i ti\T ;i\i ;-<
diirfen wir unterlassen; jedcr Scbuler wird das obne Schwierigkeit vennogen.
Dagegen miissen wir auf einige Bildungen aufmerksam niacben. die durch nur
tbeilweise Beseitigung der Langen entstehen:
5 b.
a j I Ml Ml Ml 1/
5c.
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44. Komplementare Khythmen.
215
6 b.
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Die Bestimmung tier Phrasengrenzen wird stets von der zuerst einsetzenden
Stimme abbangen, die der motiviseben Gliederung dagegen in der Regel von
der tbematiscb zu verstebenden Stimme. Eine Ausnabme wird in letzterer Be-
-ocr page 225-
IX. Polyrhythmik.
216
ziehung aber stets dann eintreten, wenn das Motiv der Melodiestimme volltaktig
einsetzt; in solchen Fallen wird die begleitende Stimme stets die Motive auftaktig
machen: Bei 5 und 5b sind die Motive ]/4 auftaktig; bei 5 a und 5 c dagegen
3/4 auftaktig (abbetont):
d. h. in letzterem Falle mit abbetonter Pause in der Melodiestimme (§ 34).
Das Ueberragen der langeren Werthe der Unterstimmen kennen wir aus dem
vorigen Paragrapben. Die scheinbar anbetonten Motive der Melodiestimme er-
wiesen sicb bereits im vorigen Paragrapben als nothwendigenvcise auftaktige;
(lurch die Unterstimme werden sie zu 3/4 auftaktigen (abbetonten) gesteigert:
^ r :\ *
Bei 6a und 6b sind die Motive dureh die Oberstimme abbetont gefordert, in
letzterem Falle mit abbetonter Pause:
(r ' FT-
Sammtliche Formen von 7 sind 2/4taktig, was bei 7 a und 7 c (lurch die Melodie-
stimme, bei 7 uud 7b (lurch die Begleitstimme bedingt wird:
8 ist selbstverstandlich in alien Formen 3/4 auftaktig, 9 in alien Formen ijlauf-
taktig :
-ocr page 226-
44. Komplementare Rhythmen.
10 ist 3/4 auftaktig in alien Formen:
I                                 1             I 1
r jsir u resp, i\ " JJ
217
11 endlich ebenfalls in alien Formen 3/4auftaktig:
^J
N t
resp.: ~ ;
Eine weitere Modifikation der komplementaren Rythmen, die liaufiger ist
als die nacbgewiesene, aber deshalb hier spiiter aufgefiibrt wird, weil sie das
Verlialtniss der gegenseitigen Erganzung minder evident hervortreten liisst und
auf einzelne Ziiblzeiten doppelte Toneinsatze bringt, ist die folgende:
(1, 2, 3, 4).
J J
I J I I
• • I •
2a, 3a, 4a).
(la,
i j
I I
I !
(i
2, 3, 4).
(la, 2a, 3a, 4a).
J J
J JU
TFT]
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IX. Polyrhythmik.
(5, 5 b).
«Err i irf i err i err
(5 a, 5 c).
Mi Mi Mi
(6).
10          0        10          0        I 0          0         I •
• 0       » 1 • 0       0 \ 0 0       0 \ 0 0
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(6 a, 6 b).
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(7, 7 b).
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(7a, 7 c).
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0 0- \ 0 »■
I o »• ! • a
(8, 8 b).
2) JTT11 J7J3 IJ7731 f
If J if i i'i i;
(8 a, 8 c).
. 0 * \ 0 * I « * I 0
r'rrr i r'r r r | r'rrr i • ■
Die iibvigen Formen ergeben nur mit den aufgewiesciien itbereiiistimmende
Bilduugeu, z. B. 9, 9 b = 5 a, 5 c; 9 a, 9 b = 5, 5 b u. s. w.
-ocr page 228-
45. Komplementarc Bhythmen im dreitheiligen Takt.
219
Ganz iihnlicbe Bildungen entstehen, wenn der zweitlieilige Takt durch drei
statt durch zwei untergetheilt wird; wir wollen solches durch e'm paar Beispiele
andeuten:
• i 0 »• i • i 0 •• i 0 i 0 •• i0i
§ 45. Komplementare Rhythmen im dreitheiligen Takt.
Wie der dreitheilige Takt tiberhaupt reicher an metrischen und rhythmischen
Formen ist als der zweitlieilige, so muss er audi eine grcissere Zahl komplemen-
tarer Rhythmen ergeheu. Die sich zum schlichten Metrum der Zahlzeiten er-
ganzenden Kombinationen sind:
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220                                                   IX. Polyrhythmik
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2a.
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* • i • * • i •
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' r'i i F7'i i FT
*) Wir unterlassen, hier wieder alle die moglichen Formen vollstandig zu regiatriren,
welcho dnrch voile oder theilweise Synkopirung entstehen oder aber durch Snbstituirung von
Pausen fur die Zusammenziehungen, begniigen uns vielmelir, fiir jede Grundf'orm nur die
wichtigsten oder haufigaten Formen herauszugreifen. Die Grundform stelle man sich einfach
mit Vertretung der Zahlpunkte durch Toneinsatze ohne Ruckaieht auf deren Dauer vor,
also 1 als: • . " | • . " u. s. w. 1 ist also zugleich Typus fiir die Formen:
J * J I J 1 j
in \ *n
J
ft       
If
u. s. w.
unci 3
und 3
I
I I I
Auch die halb parallelen, halb komplementaren Formen:
\ ' 1
I
J1T
~j >'J
\ \
resp.:
:!)
ni
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von denen oben nur einige beriieksiehtigt sind, mogen dabei als mitbedaeht angesehen
werden.
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45. Komplementare Eliythmeu im dreitheiligen Takt.                        221
I JJJjt JJjJ JJJJ
r'Mir'Mir'Mir
3 a.
I          II          I I          II
e>.               I d.               \ <*•               ! •
*'r rU'rTu'r rl*
Zum unterzweitlieiligen Tripeltakt erganzen sieh die folgenden Rliytbmen (es
sind wieder nur Typen mitgetbeilt, die nach Massgabe der obigen Aumerkung
nocb verscbiedene Abarten zulassen):
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IX. Polyrhytlimik.
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46. Erganzung zu Grundrhythmen.
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Es kann nicht im Plane meines Buches liegen, ersehopfende Tabellen aller
moglichen rhythmischen Kombinationen zu geben. Wenn ich auch den wichtigen
Zweck im Auge liabe, durch direkt anscbaulich gemaehtc Bildungen anregend
zu wirken, so handelt es sicb dock in erster Linie darum, systematiscbe Er-
klarungen der einzelnen Kategorien von monorhythmischen und polyrbytbmiscben
Bildungen zu geben. Zur Erliiuterung der letzten Schemata ist niclits hinzu-
zufugen, da die dynamischen Schattirungen und Lesezeichen geniigender
Kommentar sind. Es sei nur noclimals darauf aufmerksam gemacht, dass be-
stimmend fur die Motivabgrenzung in erster Linie die thematisch aufgefasste
Stimme ist, dass aber die Begleitstimme in vielen Fallen die Auftaktigkeit steigert,
d. b. die Motive der Abbetonung naher riickt.
§ 46. Erganzung zu Grundrhythmen.
Wir sahen im § 35, dass ein langere Zeit festgehaltener Rhythmus
(z. B. J J | J J | ) zu ahnlicher grundlegender Bedeutung gelangt, wie ein
glatt verlaufendes Metrum und nannten solche Bildungen Grundrhythmen. Nun
sind aber im polyrhythmischen Satze komplementare Bildungen sehr hiiufig,
deren Ergebniss nicht ein schlichtes Metrum, sondern eben ein solcher Grund-
-ocr page 233-
IX. Polyrhythmik.
224
rhytbmus ist. Diese einfachsten Ergiinzungen zu Grundrhythmen kommen auch
dann zur Geltung, wenn die liier (1, 2, 7, 8) init J_ Noten gegebene Stimme
sich im schlichten Metrum bewegt; die den Khythmus markirende zweite Stimme
ist dann dispensirt von dem § 35 naehgewiesenen Absetzen und Binden und
kann sich fortgesetzt legato und staccato bewegen, z. B.
±U
is=M
1-J
<?
in in
±=±M±
j j
mm
r
Denn ausser dem durch die zweite Stimme hervorgebobenen Zalilpunkt wird
der dynamische Scbwerpunkt fur die Auffassung stets in den Vordergrund treten,
sodass die bezeichneten Ehythmen sich thatsilchlich ergeben. Dieser Gesichts-
punkt ist aucb fur diejenigen der folgenden Rhythmen festzubalten, bei denen
jede Stimme nur einen Ton giebt (No. 6, 7, 24). Einige Beispiele werden ge-
niigen, nacb dieser Seite bin die Auffassung zu klaren:
j.
J
J J
- r
la.
- = J J u
r
3 J — « — • -- •
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2.
J.
J JN
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46, Erganzung zu Grundrhythmen.
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IlieiiKuin, Mus. Dyuamik und Agogik.
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IX. Polyrhythmik.
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13.
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46. Erganzung zu Grundrhythmen.
17.
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I iVpf |lVpr | JtVpr I <h
21.
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22.
J3 J
W'jJ^j'jJ
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IX. Polyrhythmik.
228
23.
3<
J\'J.H.NJJ^
24.
sf —
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s/ =
A
I jhl j jh
a
-5
3
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Die Betrachtung dieser und ahnlicher komplenientaren Bildungen fiihrt in
letzter Instanz nothwendig dazu, don polyrhythmischen Satz einheitlich aufzu-
fassen und die Rhythmik der Einzelstimmen als Glieder des Gesammtrhythmus
zu verstehen. Dass aber die Rhythmik der Einzelstimme nicht im Gesammt-
rhythmus aufgeht, lehit die Vergleickung der Formen 10, 11 und 12; 13 und 14;
15 und 16; 17 und 18; 19 und 20; 21, 22 und 23; von denen jede rhythmisch
ihren eigenartigen Sonderwerth hat, obgleich der Gesammtrhythmus der Gruppen
derselbe ist. Vielleicht treffe ich das rechte, wenn ich den Einsatzen der die
Hauptstimme erganzenden Stimme filr jene einen negativen Werth beimesse, ahn-
lich dem der Pause, wie wir ihn in § 31 erkannten, nur mit dem Untersehied,
dass diese tonenden Pausen sich beliebig gliedern lassen und selbst Synkopirungen
deutlich ausdriicken, was sich der wirklichen Pause als unmoglich erwies. Die
Wirkung des Beispiels 23 ist eine ahnliehe wie:
nur dass solche Pausen monorhythmisch nie verstandlich sein wttrden, vielmehr
stets als:
3 ^ 7 I 7 Ł | J^ 7 I 7 f
gehort werden wttrden. Die zweite Stimme gliedert also die Pausenwerthe deut-
lich im Siune der Synkope:
^UJ> fill f
im
e. * • «/
7 | | 7
Die Pausen der Hauptstimme sind ja aber nicht nothig; die Wirkung wird
rhythmisch eine ahnliehe bleiben, wenn die Hauptstimme statt der Pausen die
Liingen behalt: wir mogen dann so definiren, dass die Erganzungsstimme den
langen Notenwerth verschiedenartig zerlegen kann, z. B.:
-ocr page 238-
46. Erganzung zu Grundrhythmen.
229
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Damit gewinnen wir wieder einen Ausblick auf ganz neue Wirkungsbedingungen
und Wirkungen der Rhythmik; der lange, ausgelialtene Ton tritt aus seiner
starren Massivitat beraus und vermag sogar End- und Anfangsbedeutung zu
vereinigen, denn es versteht sicli, dass mit dem Moment, wo die Gliederung des
fortklingenden Tones ihren Anfang nimmt, die Motivgrenzen der beiden Stimmen
auf gleicbe Zeitpunktc riieken, d. b. der lange Ton geht, wenn die Motivgrenze
in ihn bineinfallt (wie es in sebr vielen der aufgefiibrten Beispiele der Fall war)
aus der diminuendo-Bedeutung in die crescendo-Bedeutung iiber:
[1.]
[2.]
8 JJPJVJO
[6.]
[7.]
[8.]
I M I' h .
• • 0 0      0 0 0
• ■ 0
[9.]
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\ t\\ \'t\\ \ t\\
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230                                              IX. Polyrhythmik.
Man unterschiitze die Bedeutung dieses Nachweises nieht. Dass die langc Note
nicht in der verlangten wechselnden Weise bei der praktischen Ausfiilirung
wirklich dynamiscli schattirt werden soil, gent ja zur Genlige aus den Funda-
mentalsatzen der Dynamik hervor. In der Regel wird diese Schattirung so gut
wie jede andere der Taktmotive in der Schattirung der Phrase aufgehen und
nur in einzelnen Fallen kiirzester Phrasenbildung diirfte sie ausgefiihrt werden.
Wir wissen aber, (lass die natiirliche Dynamik eines Motivs nur eine Veran-
schaulichung von dessen immanenter lebendiger Kraft, seiner dyuamischen
Potenz ist, die sclbst da noeh verstanden wird, wo aus anderen Griinden die
gegentheilige St&rkeabstufung angewendet wird, wie z. B. fur abbetonte Motive
im Diminuendo-Tbeil der Phrase. Der Einsatz der langen Note wird daher
seinen Accent (§ 13) und das Motiv der Einzelstimme seine Dynamik behalten
und dennoch werden die nachgewiesenen Qualitaten den asthetischen Eindruck
mit bestimmen. Wie ein machtiger Quader durch ein auf seiner Oberflache aus-
gearbeitetes oder selbst nur aufgeheftetes Ornament gegliedert erscheint, ohne
es doch zu sein, so gewinnt der lange Ton wechselnde dynamische Werthe durch
die Rhythmik anderer Stimmen.
Wir unterlassen es aus oft gedachten Griinden, auch fiir den vier-, sechs-
und mehrtheiligen Takt und seine Untertheilungen die komplementaren Bildungen
nachzuweisen; dieselben sind, nach Analogie der vorgehenden entwickelt, leicht
aufzustellen und zu begreifen. Die Mehrzahl derselben kann nichts anderes
sein, als eine Potenzirung oder Kombination von Bildungen des zwei- und drei-
-ocr page 240-
47. Seitenrhythmen.
231
theiligen Taktes, da die grosseren Taktarten sammtlich zusammengesetzt aus
diesen beiden sind (2. 2., 2. 3., 3. 3 u. s. w.). Auch die komplementare Bildung
von Rhythmen, die eine Untertlieilung zweiten Grades voraussetzen
(§ 22), ist aus den vorhergehenden leicht begreiflich, z. B,
J..
J..          0 - 4 4
4.4
4. 4 4.4 4.4 I •
I 0
VI
Hire Entwickelung sei als Uebungsaufgabe angelegentlichst empfohlen.
§ 47. Seitenrhythmen.
Bei den in den letzten Paragraphen entwickelten Rhythmen betrachteten wir
den Gesammtrhythmus als in erster Linie in Betracht kommend, ohne
doch verneinen zu konnen, dass audi der Rhythmus der einzclnen Stimme
seine Bedeutung behalt. Wir werden einige neue Gesiehtspunkte gewinnen,
wenn wir uns einmal auf den entgegengesetzten Standpunkt stellen und eine
selbststiindige Rhythmik der einzelnen Stimmen als beabsichtigt voraussetzen.
Soil nieht gegen den Willen des Komponisten die Auffassung komplemen-
tarer Bildung sich in den Vordergrund drangen, so muss vor allem dasjenige
vermieden werden, was das Wesen der gegenseitigen Erganzung ausmaclit, d. h.
die eine Stimme darf nieht schweigen oder aushalten, wenn die andere Ton-
einsatze bringt. Vollig selbststandig neben einander hergehend ersehienen die in
§ 43 entwickelten Kombinationen (Parallelmetra), in denen jede Stimme ein
sehlichtes Metrum darstellte, die eine in Zahlzeiten, die andere oder die anderen
in Untertheilungen oder hoheren Einheitswerthen. So werden wir auch parallele
Rhythmen gewinnen konnen, wenn die Rhythmen der Einzelstimmen auf parallele
Metra basirt sind. Der Vollstandigkeit wegen diirfen wir die einfachere Kom-
bination nieht libergehen, wo eine Stimme ein Metrum schlicht durchftthrt, wahrend
die andere dasselbe oder ein paralleles rhythmisirt; doch wollen wir uns beim
Nachweis derselben auf den dreitheiligen Takt beschranken:
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IX. Polyrhythmik.
3.
232
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47. Seitenrhythmen.
10.
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14.
J i J3 J3
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i n Hi.
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Die Zalil der fiir den 3-Takt noch weiter mogliehen Kombinationen ist sebr
gross, wie auf deii ersten Blick ersiclitlicli ist. Wir gehen nun zur Kombination
verschiedener Rhythmen liber, die auf Parallelmetra benachbarter Grade
(Untertheiluugen ersten Grades und Metrum der Zahlzeiten, oder Untertheilung
ersten und zweiten Grades) basirt sind (Seitenrhythmen):
15.
J -T3 JIJ -T3 JIJ -T3 JIJ
r ' rlr ' rlr ' r
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IX. Polyrhythmik.
16.
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22.
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47. Seitenrhythmen.
235
23.
J.
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24.
te= n
p=n li^H n
p p
^ p
Damit dtirfen wir auch liier abbrechen; die Bedeutung der Seitenrythmen als
neben einander verstandlicher verschiedenen rhythmiscben Bildungen verschiedener
Stimnien obne bervortretende Erganzungstendenz ist aus den auigefiihrten Bei-
spieleu hinreichend klar ersichtlich. Komplementiire und Seitenrhythmen baben
mit den Parallelmetren das gemeinsame, dass die dynamiscben Schwerpunkte
der Taktmotivo stets zusammenfallen und nur die Ausdehnung des crescendo
resp. diminuendo mebr odcr weniger differirt. Eine Kombination von Motiven,
deren dynamiscber Schwerpunkt nicht zusammenfallt, ist die komplizirteste
aller rhythmiscben Bildungen, denu sie bedingt eine Verkoppelung verschiedener
Taktarten z. B. des zweithciligen und dreitheiligen Taktes:
JU
J
2 J.
r r
r
i r
Der Eff'ekt einer solchen Verbindung ist nur in wenigen genialen Leistungen
wie in der bekannten Verkoppelung dreier Tanzarten in der Bankettscene in
Don Juan ein anderer, als der des Imbroglio, der Verwirrung, oder aber die
Rhythmen wirken komplementar und ergeben einen sechstheiligen Takt, dessen
Gliederung sich darnacb bestimmt, ob die dreitheiligen oder zweitheiligen Gruppen
der als Melodie fiibrend aufgefassten Stimme angehoren:
j ju ji j. *
• ••
i
»•
3.2
oder: 2.3
'' \tir \ts i
Um Verkoppelungen verschiedener Taktarten voll verstandlich zu machen, be-
darf es vor allem einer die Taktart scharf bervortreten lassenden Melodik und
der Beiblilfe von Pausen und einer meisterlich balancirenden Harmonik. Dass
dieselben in dem hier entwickelten System ihre Erkliirung finden, gebt aus dem
-ocr page 245-
IX. Polyrhythmik.
236
angedeuteten schon hervor; naher auf das Thema einzugehen, verbietet sich
aber dadurch, dass jeder Spezialfall eine Fttlle schwieriger Detailfragen mit
sich bringt, welehe zu erortern uns der Raum fehlt. Eiue andere Art wider-
streitender Bildungen, namlich Phrasen mit verschiedenen dynamischen Hohe-
punkten werden wir im nachsten Kapitel kennen lernen (§ 51).
§ 48. Triolen, Duolen, Quartolen, Quintolen u. s. w. im polyrhytb-
miscken Satze.
Wir baben im 5. Kapitel (abweichende Untertheilung zusammengezogener
Zahleinbeiten) darauf hingewiesen, dass die Triole monorbythmiscb eine leicht-
verstandliche Bildung ist, sofern man nur den Gesammtwertb derselben als
Einbeit verstebt; nur in den Fallen, wo die Triole die Zahlpunkte verscbob,
mussten wir sie als sebwer fassbar bezeichnen. Audi im polyrliytbmiscben
Satze kann die Verstiindlichkelt der Triolen bald leicbter bald schwerer sein
und ibr Auftreten daher bald ungezwungen bald mehr oder weniger gewaltsam
und belastigend erscbeinen. Ganz ungezwungen ist es, wo die Triole als
Untertbeilung auftritt und die Parallelstimmen ibr ungetheilte Wertbe gegen-
iiberstellen:
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48. Triolen, Duolen, Quartolen, Quintolen u. s. w. im polyrliytlimisohen Satze. 237
Schwieriger ist bereits die Auffassung und beunruhigender die Wirkung der
Triolen, wo sie der Zwei- und Viertheilung gegeniiber stent:
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• *
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Doeh sind beide Kombinationen sogar fortgesetzt als Parallelmetren moglicb. und
kornmen nicht selten vor:
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resp.
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3
J I
3
3
Trifft die Triolenbildung die Zableinheiten, d. b. tritt an Stelle von zwei Zabl-
einheiten eine Triole, so ist dieselbe polyrbytbmiscb leichter verstandlich als
unter gleicben Verhaltnissen monorbythmisch, ihre Ausfiibrung aber, wenn die
betreffende Stimme allein von einem Spieler ausgefuhrt wird, natiirlicb eben so
schwer, und wenn der polyrbytbmiscbe Satz wie auf dem Klavier oder der Orgel
in seiner Gesammtheit einem Spieler zufallt, sogar sclivverer:
J1 J
2<J • •
oder:
cjiL'ir
Die scbwierigsten Komplikationen entstehen endlicb, wenn der Triole ein dureh
Zusammenziebung aus Untertbeilungen entstehendes rhytbmisches Motiv gegen-
tiberstelit und wold gar die Triole selbst nocb rhythmisch verandert ist:
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IX. Polyrhythmik,
238
J J       J J J
Oder: 2
1 cjlt m*
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j j. > j
11 '■
3
4-4 m
identisch mit: 2 '
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Die 2. Etude von Chopin Op. 25 bringt gar in beiden Stimmen Triolen, in
der Oberstimme Untertheilungstriolen, in Bass Triolen fur je zwei Ziihleinheiten.
Monorbythmisch hat keine von beiden Stimmen Triolen, sondein fortgesetzte
schlichte Tripelbewegung aber mit einander verglichen, bildet jede gegen die
andere Triolen:
fn fr. fn fh
fn J73 fn J73
r f r r r r
r f r r f r
Ftir die Oberstimme ware indess in diesem Falle die Triolenbezeichnung tibrig,
wahrend eine synkopirende Sehreibweise der Unterstimme nicht statthaft ware:
37
If
n r
v v\
denn der fiir die Bildung des dritten und vierten Achtels nothwendige Syn-
kopenaccent (§ 24) ist offenbar von Chopin nicht intendirt. Dagegen witrde
eine verschiedene Taktvorzeichnung (12/8 und 6/4) insofern identisch mit der von
Chopin gewaklten Sehreibweise sein, als sie die Triolenbezeichnung nur in die
Vorzeichnung versetzte:
I /73 m J73 JT3
r r r
i i
Offenbar zog Chopin die grossere Anschaulichkeit der anderen Sehreibweise vor.
Die 3 iiber den Achteltriolen ist allerdings auf alle Falle entbehrlich. Da
Allabrevetakt vorgezeichnet ist, dlirfen wir nicht |, sondern mussen -223 schreiben,
durch diese vorgeschriebene Zahlweise ist aber auch die Hauptschwierigkeit der
Kombination gehoben; denn die Zahleinheiten sind die hoheren Einheiten beider
Bewegungsarten:
v
UJ ill
3
r r r
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48. Triolen, Duolen, Quartolen, Quintolen u. 8. w. im polyrhythmischen Satze. 239
Dass die Triole nicht in- oder abbetont vorkommt, sondern stets nur anbetont,
muss zunachst sehr auffallen, nachdem wir erne volltaktigo Bildung nach der
andern zu Gunsten auftaktiger verschwinden sahen. Wir haben aber bereits im
§ 19—20 erkannt, dass die in- oder abbetonte Triole theoretisch sehr wohl
denkbar ist und oft genug wirklieh verstanden wird, dass sie nur eine vika-
rirende Schreibweise verlangt. Eine Bildung wie:
JMJ
wtlrde die Zahlpunkte verriicken, wie man leicht einsieht, wenn man N statt N
schreibt:
12                            3
d. h. die Dauer von 2 (bis zum Einsatz von 3) ist um i!6 (j$) langer und die
von 3 um */, ktirzer als die von 1. Das wtirde an und flir sick nicht schlimm
sein; die Schwierigkeit, solche Dauerverhaltnisse korrekt zum Aus-
druck zubringen, ware aber unttberwindlich, zumal polyrhythmisch, wenn
eine andere Stimme sick in gleichen nicht derartig verschobenen oder aber gar in
anders verschobenen Werthen (mit der auftaktigen Triole an andererStelle)bewegte.
Das ist der Grund, weshalb stets diejenige Zahlzeit in eine volltaktige Triole
zerlegt wird, auf welche zwei Glieder der Triole fallen:
j i * jti ^ = .n f n i ?
}\n .nj = tin/mj*
Dabei kommt nur scheinbar anbetonte Auffassung zur Geltung;
denn die anbetonte Triole zerfallt in zwei Theile, die auftaktigen Motiven an-
gehoren. Nur auf solche Weise konnen polyrhythmische Komplikationen ver-
mieden werden, wie:
}
JV H JV JS
,N
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dafur:
r r r'r
J
m n
dafur: 2
1                     2
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IX. Polyrhythmik.
240
F SI : P * I J
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daffir: 2<
LJ I V
2                            1
u. s. w.
Wie die Triole kommen auch alle andercn abweickenden Theilungen, die Duole,
Quartole, Quintole, Sextole u. s. w. nur in anbetonter Schreibart vor, wahrend
sie bei auftaktiger Motivbildung — d. b. nach unseren neuesten Fortschrittcn
der Erkenntniss (§ 43) immer— auftaktig vers tan den werden, z. B. (Chopin,
Mazurka Op. 24. II):
m:^M^
m^
^
Oder (derselbe Op. 30, II):
==
iigi
denn die Untertbeilung eines grosseren Werthes erkannten wir als stets iiber-
leitend zum folgenden Zahlpunkt. Die folgenden Beispiele bediirfen daber keiner
weiteren Erlauterung als der Lesezeichen und dynamiscben Scbattirungen.
(Chopin, Nokturne, Op. 9, II):
i^^
Ł=!Ł=«=
8va O*1 15ma |x^          [/
8va
*) Die ganze Nokturne hat die Taktstriche an verkehrter Stelle; anstatt die Motive
wie hier in der Mitte zu durchschneiden, rahmen sie dieselben ein; damit man nicht meine,
in dem haufigen Vorkommen solcher, nach der hier cntwickelten Lehre unrichtig gestellten
Taktstriche bei zusammengesetzten Taktarten cine Wafl'e gegen diese Lehre selbst machen
zu konnen, etwa indem man mir vorwurfe, den Taktstrichen eine Bedeutung beizulegen, die
sie traditionell gar nicht haben, verweise ich auf des ganz ausgezeichneten und niemals (auch
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48. Triolen, Duolcn, Quartolen, Quintolen u. s. w. im polyrhythmischen Satze. 241
(deiselbe, Op. 9, III):
(devselbe, Op. 15, II):
Doppio movimento.
bei Lebzeitcn nicht) nach Verdienst gewiirdigten Heinrich Christoph Koch „Anleitung zur
musikalischen Komposition" (Leipzig, 1782, 1787, 1793, 3 Bde.), aus der man, sich uber Takt,
Rhythmus und Phrasirung mehr Rath holen kann, als aus der ganzen seitherigen Litteratur
zusammengenommen. Dort wird man im 2. Abschnitt der 2. Abtheilung des 2. Bandos,
J5 50 ft', die klarste Formulirung der Bedeutung des Taktstrichs finden. Koch gestattet zwar,
dass beim 4/4 Takt einzelne Casuren auf das 3. Viertel fallen, allein eine fortgesetzte der-
artige Ordnung wiirde schwerlich seinen Beifall gefunden haben. Wer Koch's Werk, das
antiquarisch zur Zeit i'ttr nichts geachtet wird, erlangen kann, versaume nicht die Gelegen-
heit, sich in Besitz dieses ausserst werthvollen Schatzes zu setzen.
11 ic maun, Mus. Dynamik und Agogik.                                                                                        16
-ocr page 251-
IX. Polyrhythmik.
242
(derselbe, Op. 48, II):
Das Ergebniss dieser Betrachtung ist von schwerwiegender Bedeutung, denn
es lasst sich daraus fiir den Vortrag der Triolen u. s. w. eine Regel deduziren,
an welche man vor Erkenntniss des Wesens der vikarirenden Notirung unmog-
lieh denken konnte, namlich dass diese problematisehen rhythmischen Bildungen
moglickst im Sinne der durch die vikarirende Sclireibweise ersetzten Motive
zu gliedern sind. Wenn dass aucli vielleicht niclit in alien Fallen nothwendig
geschehen muss (die Ubergreifende Triole u. s. w. ist ja wohl eben so gut
moglich wie die Ubergreifende Zusammenzielmng, vgl. Kap. IV), so wird es zum
mindesten in vielen Fallen geschehen diirfen, da jene Motivbildungen sehr wohl
auffassbar sind und eine exakte Notirung ftir sie nicht existirt. Fiir die meisten
Falle ist das Resultat eine kleine Verliingerung des ersten Tones der
Triole, Quartole u. s. w. gegeniiber ihren ttbrigen Theilwerthen.
Damit mogen auch diese Spezial-Betracbtungen ihren Abschluss iinden;
wir uberblicken nun in dem letzten Kapitel die Resultate der neun vorausge-
gangenen, uni zu priifen, wie weit wir fiir die Phrasenabgrenzung und motivischc
Gliederung der einer Phrasenbezeichnung entbebrenden Werthe feste bestimmende
Gesetze gewonnen baben, zugleieh um den Komponisten der Gcgenwart und
Folgezeit ein Mittel an die Hand zu geben, das almlichen Missdeutungen, wie
die Werke der Klassiker sie zu erleiden haben, ein fiir alle Mai vorbeugt. Denn
mit dem padagogisehen Zwecke der Geistesgymnastik, der Uebung im Auffassen
metrischer und rhythmischer Bildungen aller Art verband ich von Anfang an
bei Abfassung dieses Buches den praktisehen Zweck der Vorbereitung einer
folgenschweren Verbesserung unserer Notenschrift, namlich der Er-
setzung der Legatobiigen durch Phrasenbbgen.
-ocr page 252-
49. Motiv -Verkettung.
243
X. Kapitel.
Phrasirung.
§ 49. Motiv-Verkettung.
Yergleicken wir die einfachen Taktaiten (2, 3) mit den zusainmengesetzten
(2. 2, 2. 3, 3. 2, 3. 3, 4. 3), so erscheinen erstere offenbar als die Keimbildungen
ans denen sicli letztere entwickeln, d. h. die Vorzeicknung einer der grosseren
Taktaiten giebt fiir eine iiber die einfache Motivbildung hinausgehende grossere
Gruppenbildung direkte Bestimmungen, insofern sie zwei, drei oder vier einfaebe
Motive zusammenschliesst. Allerdings erweisen sicli die 6, 9, 12 oder gar noch
mcbrtbeiligenTaktarten bei naherer Betraehtung in der Kegel als nuv zwei-, drei-
oclervierzablige, wahrend man es vorziebt, die mehrzahligen Taktarten in kleinere
Takte zu zerlegen; gerade diese Moglichkeit verscbiedener Schreibweise muss uns
aber fiir die Auffassung von Taktfolgen den Schliissel geben, d. b. wir diirfen in
ilmen nichts anderes sucben, als eine Erweiterung desselben Prozesses der Gruppen-
bildung, der zuniichst die einiachen Taktarteu ergab. Die ungemein schwankende
Tcrminologie der metrisch-rhythmischen Verhaltnisse bezeiclmet gewohnlich die
Gruppen der zu hoherer Einbeit zusammengeborigen Takte als Rbytbmus, und
man spricbt daber von zwei-, drei- oder viertaktigen Rbytbmen (litmo di due,
tre, quattro battute); der einfaebe Takt beisst italieniscb misura, franzosisch
ntesure, aber was wir speziell als Rbytbmen bezeicbnet baben, beisst auch in
anderen llpracbeu so, niimlicb die durch Wecbsel langerer und ktirzerer Tone
oder Pausen entstehenden Tonbilder. In neuerer Zeit ist es gebraucblieb ge-
worden, die hobere Einbeit, zu welcher Taktmotive zusammenwachsen, Phrase*)
zu nennen, wodurcb der Doppelsinn des Wortes Rhytbmus beseitigt wird. Die
Lebre von der Phrasenbildung lasst zunacbst eine Fassung zu, welche nur auf
die Metrik Bezug nimmt; wir wissen aber bereits, dass die rbythmischen Umge-
staltungen des Metrums fiir die Auffassung der Motivanfange und -Enden und
demzufolge auch der Phrasenanfange und -Enden bestimmende Bedeutung ge-
winnen. Wir wollen uns daher des unfruchtbaren Schematismus entschlagen,
nacb Art der im ersten Kapitel aufgestellten Tabellen bier lange Reiben er-
weiterter metrischen iSchemata einzuriicken, diirfen vielmebr versuchen, gleich
ausgeriistet mit dem ganzen Apparat der Ergebnisse der vorausgegangenen
Kapitel sowobl in nietrisch-rhytbmischer als harmoniscb-melodiscber Hinsicbt
die Frage der Pbrasenbildung nacb alien Seiten bin umsichtig zu ventiliren.
*) J. P. A. Schulz, der Verf'asser des Artikels: „Vortrag" in Sulzer's ,Theorie der
schonen Kiinste' (1772) braucht bereits diesen Ausdruck, doch soheint derselbe sp'ater wieder
in Vergessenheit gerathen zu sein.
16*
-ocr page 253-
244
X. Phrasirung.
Zunachst mtissen wir konstatiren, dass die zur Phrase verwachsenden Motive
keiueswegs immer rbythmisch, ja auch nur metrisch glcick sind.
Wir haben uns im vorigen Kapitel zu der Erkenntniss durchgearbeitet, dass
die Anbetonung nur eine metrische Scheinform 1st, da sie die Einheiten
hoherer Ordnung olme inneren Zusammenhang neben einauder stellen, eine Kette
von lauter Enden anstatt ein gliederweises Weiterwachsen vorstellen wiirde.
Da nun aber unleugbar eine grosse Zalil musikalisuher Themen mit einem
starken Accent, einem dynamischen Ilauptwerth volltaktig anfangen, so ist aus
unseren bisherigen Resultaten mit Bestimmtheit zu schliessen, dass dieser an-
betonte Anfang entweder stets ein prokatalektiscber ist, d. b. class er ein aus-
gelassenes Werden voraussetzt und uns gleich das gewordene giebt, odcr aber,
dass sogleicb nach dem anbetonten Anfange die Auffassung zu in- oder ab-
betonten Formen iibergehen muss. Westphal halt an der Prokatalexis, die ein
Begriff der antiken Metrik ist, fest; ich glaube jedoch, sie fallen lassen zu miissen.
Denn vor dem wirklichen Anfang kann nur musikaliscb indifferente
Zeit liegen; die Annahme der Prokatalexis wiirde aber Pausenwerthe von be-
stimmter Qualitat bedingen. Da nun die Ausdehnung der Auftaktigkeit der
Motive innerhalb der Phrasen in der ungezwungendsten Weise weehselt (wovon
freilieh Westphal nicht redet), so wiirde die Bestimmung der Ausdehnung der
Prokatalexis nur eine ganz willktirliche sein ktinnen.
Der Einsatz mit dem vollen Takte und in der vollen Tonstarke eines
dynamischen Hohepunktes hat keine andere Bedeutung als die Aufstellung
eines festen Ausgangspunktes fur das rhythmische Empfinden, die gar
nicht misszuverstehende Betonung eines ersten Ziihlpunktes hoherer Ordnung.
Durch den Abstand dieses Zahlpunktes von der ersten dynamiscven Hauptnote
des folgenden Motivs erhalten wir so gleich die sichere metrische Orundlage fiir
die Auffassung der sich entfaltendenRhythmen, wahrend bei auftaktig ^etzenden
Ehythmen dieser sichere Massstab ebenfalls erst mit der zweiten tv ijamischen
Hauptnote, d. h. also mit dem Schwerpunkt des zweiten Motivs gegeben ist.
Z. B. konnte der Anfang der Beethoven'schen Sonate, op. 14, Nr. 2 sich ja
auch so weiter entwickeln:
d. h. im dreitheiligen statt zweitheiligen Takt. Man darf sich nicht durch das
Vertrautsein mit dem Werke daruber tauschen lassen, dass thatsachlich die Taktart
erst durch den dynamischen Hohepunkt des zweiten Motivs bestimmt wird, nicht
aber durch die Dauer des ersten Motivs. Die Anuahme, dass die Dauer des
zweiten Motivs nachtraglich das erste als prokatalektisch bestimme, scheint mir
nicht zutreffend; vielmehr miisste die Definition dahin prazisirt werden, dass das
zweite Motiv einen Zuwaehs an Auftaktigkeit, eine Bereicherung des crescendo-
-ocr page 254-
49. Motiv-Verkettung.
245
Theiles erfahren hat auf Kosten des diminuendo -Theiles des ersten, d. h. das
erste ist zwar verklirzt, aber nicht a parte ante, sondern a parte post.
Wahlen wir als weiteres Beispiel das Grave des ersten Satzes von Beethoven's
Sonate pathetique. Wie die eiserne Hand eines unerbittliehen Schicksals greifen
die Forte-Schliige der Taktanfiinge in unser Empfindungsleben und machen die
Klagen des eigentlichen thematischen Motivs verstandlich. Am Ende des Satzes
hat Beethoven die Forte - Schlage weggel#ssen und bringt nur die klagenden
Motive mit halbtaktigen Pausen; man stelle sich den Unterschied der Wirkung
vor, wenn Beethoven auch am Antang die Schlage weggelassen hatte!
Wollten wir in diesem Falle anbetonte Motive resp. Phrasen (beide BegrirTe fallen
bier zusammen) annehmen, so ware die beste Kraft und Wirkung dahin:
Eine solehe Auffassung ist aber schon aus den § 19 entwickelten Griinden
ganz unzulassig und bliebe, wenn wir im Hinbliek auf die Vorzeichnung des
C-Taktes die Motive in solcher Ausdehnung fassen wollten, nur der Ausweg,
das erste Zwdunddreissigstel als Anfang und den Forte -Schlag des zweiten
Taktes als Enr.d des zweiten Motivs zu fassen, wahrend das erste dann wiederum
a parte posf 'erkiirzt erschiene:
1
8va
Allein selbst die scharfste Auspragung des Crescendo von es nach d wttrde
nicht verhindern konnen, dass der Hoier die Pause (ein Achtel im Grave schon
ein betrachtlicher Zeitwerth), welche der Auflosung der Dissonanz des ver-
minderten Septimenaccordes folgt, als Ende und das vorschlagende Zweiund-
dreissigstel im Bass als neuen Anfang versteht. Wir werden daher durchaus
darauf hingewiesen, einen Wechsel zweier kontrastirenden Motive, eines durchaus
forte gehaltenen und eines aus dem piano aufseufzenden anzunehmen; das erstere
ist zunaclist nur durch den forte-Schlag vertreten, erhalt dann 1f3t, im sechsten
und siebenten Takt aber 9/3S (*/4 und ijS2) Auftakt. Diese beiden Motive ver-
wachsen nicht zu langeren Phrasen, aber im 4./5. und 8./9. Takt erscheinen
-ocr page 255-
246                                                      X. Phrasirung.
verlangerte Bildungen, die ungefiihr (nicht genau) der Ausdehnung ganzer Takte
entsprechen. Das ganze Grave erfordert also die Bezeichnung:
8va
piu cresc.
Das beginnende cl! der vorletzten Phrase hat man wohl nur als durch
Phrasenanfangsaccent verstarkt anzusehen, nicht aber von der Phrase ab-
zulosen nnd ihm etwa verstarkt eine ahnliche Bedeutung zuzucrkennen, wie den
forte-Schliigen des ersten Anfangs; dagegen spricht einma] die geringe Dauer
und dann der veranderte Satz, da das cM allein auftritt und nicht getragen von
einem wuchtigen vollen Accorde. Auch das csvi der letzten Phrase, wie die
beginnenden Tone des es'', /" und a" im 5., 6. und 7. Takte dtirften wohl
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49. Motiv - Verkettung.                                                 247
einen massigen Anfangsaccent zu beanspruchen baben. Die Verschiebung des
dynamischen Schwerpunkts im 4. Takte von f auf as kennen wir aus § 39,
und das sf des as1 der letzten Phrase muss aus harmonischen Grlinden erklart
werden; dieser starke barmonische Accent, dem sich zugleich eine erhebliche
Verliingerung (^) zur Erhohung der Wirkung der Dissonanz zugesellt, wird
die Ursache des piano der dynamischen Hauptnote (§ 41, Verschiebung des
dynamischen Hohepunkts eines abbetonten Motivs auf die dissonante Penultima).
Die von mir hier durchweg den Phrasen beigegebenen crescendo- und
diminuendo-Zeichen sind sammt und sonders die aus den ersten Kapiteln unserer
Untersuchung sich ergebenden naturlichen Schattirungen, also fur jeden ent-
bebrlicli, der tiefer in die dynamiscbe Natur der metrisch-rhythmischen Bildungen
eingedrungen ist. Nun blicke man aber zuriick auf die alte Lehre.der Accen-
tuation und sehe zu, was aus dieser intensiv leidenschaftlichen Einleitung wird,
wenn man sie nach den Vorscbriften jener vortragt; was wir als grossten Febler
erkannten, die schwachere Tongebung kurzer Noten, die nicbt relativ dynamische
Hauptnoten sind, gebietet die Accentlebre geradezu. Das Hauptmotiv ware
daher zu spielen:
P.J f mf
und vollends wiirden die Zweiunddreissigstel- und Vierundsecbzigstel-Gauge in
einen kunterbunten Wecbsel starker und schwacher accentuirter und accentloser
Tone zu zerfallen baben. Wer die Unnatur soldier Bestimmungen, welche jeden
griisseren Zug zur Unmoglichkeit machen und den vom Komponisten hier und
da vorgesckriebenen durchgehenden Schattirungen vollig fremd und zusammen-
bangslos gegenttberstehen, nicbt einseben will, dem ist freilich nicbt zu belfen.
Das evidente Ergebniss der Betrachtung dieses Beispiels ist die Bestiitigung
des von uns aufgestellten Satzes, dass Motive als Einbeiten hohercr Ordnung
vevstanden werden, und dass ihre Entfernung von einander nicbt nach ihren
Anfangen, sondern nach ihren dynamiscben Schwerpunkten, welcbe ihre Zahl-
punktc sind (§ 2), bemessen werden muss. Zwischen diesen Zahlpunkten liegt
die Grenzscheide der Motive, sei cs, dass der Ziiblpunkt selbst Anfang oder
Ende eincs derselben ist (An- oder Abbetonung) oder dass Anfang und Ende
mehr in die Mitte des Zeitraums zwischen den Zahlpunkten fallen (Inbetonung);
mit andern Worten, es ist kein Grund vorhanden, eine dynamische Form der
Motive langere Zeit festzubalten, sondern der Uebergang aus einer in die andere
ergiebt sich jederzeit ungezwungen, wenn nur die Entfernung der dynamiscben
Schwerpunkte dieselbe bleibt. Dass aber audi diese wechseln kann, werden
wir gar bald sehen.
Wir haben es zunachst mit der Verkettung von Motiven zu thun, deren
dynamiscbe Hohepunkte einander in gleicben Abstanden folgen. In dem obigen
Beispiele betragt die Entfernung der dynamischen Hohepunkte zwei Viertel; dass
beim Verwachsen zweier Motive zu einer liingeren Phrase nur der dynamische
Hobepunkt des einen derselben zum Hobepunkt der Phrase werden kann, wilhrend
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X. Phrasirung.
24S
der andere in das durchgebende crescendo oder diminuendo (ohne Extraaccent)
eintritt, verstelit sich nacli dem, was sich bei der Erweiterung einfacher Takt-
arten zu zusammengesetzten ergab (§ 7 ff.) von selbst; wir wissen aber auch,
dass der Zahlpunkt dem umgeacbtet seine Bedeutung bebalt und durcli eine
Verliingerung (den agogisclien Accent, § 22) markirt wird; in der Phrase vom
8. zum 9. Takt kommt dieser agogische Accent dem <? " zu, iiber welches nicht
zu knapp hinweggegangen werden darf, wilhrend er in der Phrase vom 4. zum
5. Takte gegenstandslos wird, da die dynamische Hauptnote des ersten Motivs
der Phrase (/;) die Schlussnote ist, nach welclier ohnehin nicht prompt weiter
gegangen werden darf. Die halbtaktigen Motive gliedem sich, da sie fast
sammtlich komplizirte Untertheilungen aufweisen, noch weiter in Untertheilungs-
motive, die ich, sofern sie nicht durch langere Noten ( uj \ genugsam charak-
terisirt sind, durch Lesezeichen abgegrenzt habe. Es versteht sich, dass auch
den dynamischen Hauptnoten dieser die besagten Verlangerungen in bescheidenem
Masse zukommen; aus § 20 wissen wir, dass dadurch die punktirten Rhythmen
verscharft werden, wenn auch selten die Dehnung der Lauge solche Dimensionen
annimmt wie bei dem letzten as1 mit der Fermate. Im 9. und 10. Takte ist die
Einfugung des Lesezeichens sehr angebracht als Warnuug vor der Theilung:
mi-
Das Grave der Sonate pathetique hatte sonach im Hinbliek auf die Dauer
der fur dasselbe charakteristischen Hauptmotive volligc korrekt im 2/4-Takt statt an
C-Takt aufgezeichnet werden konnen; dass Beethoven doch die letztere Scbreib-
weise vorzog, diirfte einmal aus dem bereits aufgewiesenen gegensatzlichen Ver-
haltuiss der beiden Hauptmotive, die sich anfanglieh in der That zu weiteren
hoheren Einheiten ergiinzen (ohne jedoch zu verschmelzen), dann aber auch in
dem Umstande zu suchen sein, dass die gehauften Taktstriche im anderen Falle
ftir den Leser, wenn derselbe nicht rhythmisch gut geschult ist, die ohnehin
grosse Zahl der Einschnitte leicht noch vermehren. Beethoven liebt es aber
tiberhaupt, Satze von Scherzocharakter in kleinster Taktart zu schreiben, sodass
oft genug der Takt nur einer Zahlzeit entspricht, (3/8 = »/g, 3/4 = 1/g)*), wahrend
er den asthetischen Eindruck langsamer Bcwegung noch durch die Wahl grosser
Taktarten fflr's Auge verstiirkt. Damit ist eine Anregung gegeben, jene in recht
kleine, diese in moglichst ausgedehnte Phrasen zu zerlegen, resp. bei jenen die
motivische Untergliederung deutlich merken zu lassen, bei diesen dagegen sie
durch die durchgebende dynamische und agogische Schattirung zu verdeckeu.
Von unserem Standpunkte aus, d. h. die Durchfiihrung der Phraseubezeich-
nung vorausgesetzt, konnte man zweifelhaft sein, ob nicht die Taktstriche
tiberhaupt entbehrlich sind? und ich gestehe often, dass ich, nachdem mir
die voile Erkenntniss aufgegangen war, wie viel Schuld an der Verktimmerung
des rhythmischen Verstandnisses ihnen beizumessen ist, zuerst willens war, gegen
sie zu Felde zu Ziehen. Die dem entgegenstehendeu praktischen Bedenken ent-
gingen mir zwar gleich anfangs nicht; doch stand ich von ihrer Bekampfung
*) Der alte Koch eifert bereits gegen diesen Brauch der Komponisteu 1. c, II, 2, § G4.
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49. Motiv -Verkettung-.
249
erst dann definitiv ab, als ich in der Amvendung des Lesezeichens ein Gegen-
gewicht gegen ihren fare leitenden Einfluss gefunden hatte. Der letzte Rest
von Abneigung gegen den Taktstrich schwindet aber naeh Erkenntniss der Be-
deutung der Zaklpunkte hoherer Ordnung, welche durch die Taktstriche direkt
gegeben werden; audi die gegen die Motivgliederung verstossende tibliche
Anwendung der gemeinsainen Querstriche der Acbtel, Seehszehntel u. s. w. ist
durch die Ueberlegung gereebtfertigt, dass der Anfang der Zeitwertlie der Zfihl-
zeiten Ziihlpunkt fur Untertbeilungsmotive ist, z. B. (Beethoven, Op. 27, I,
Schlusssatz):
Es wird denen, die meiner Darstellung aufmerksam gefolgt sind, nieht entgangen
sein, dass alle die Zeitpunkte, welche die alte Lehre der Metrik accentuirt, sich
in der That als bedcutsamere gewichtigere erweisen; trotzdem bleibt aber zwiscken
den Ergebnissen beider Theorien ein tief einscbneidender Unterscbied bestehen,
namiich die einer lebenswarmen Gestaltung unentbebrliche Variability der dyna-
miscben Werthe in meiner und die starre Stabilitiit derselben in der alten
Lehrc. Dass die alte Accentlehre einen halbwegs brauchbaren Kern enthalt, ist
selbstverstiindlich; denn sonst batten sie sich unmoglich so lange Zeit halten
konnen. —
Die einfachste Form der Motivverkettung ist die Folge von Motiven gleicher
Dauer und gleicher Betonung, letztere Bezeichnung nicht im Sinne gleicber
aktuellerdynaniischerSchattirunggefasst, sondcrn im Sinne gleicher dynamischer
Potenz. Denn wir wissen, dass, wenn zwei Motive gleicher dynamischer Potenz
zur engern Einbeit der Phrase verbunden werden, das eine seine Dynamik ver-
andern muss und nur durch den agogischen Accent noch seine dynamische
Hauptnote bemerklich machen kann. So zerfallt z. B. das Scherzo der cisMoll-
Sonate (Op. 27, I) von Beethoven in lauter doppeltaktige Motive (da jeder
Takt nur einc Ziihlzeit enthalt), von denen fast durchweg je zwei zu Phrasen
zusammentreten, d. h. einen gemeinschaftlichen dynamischen Hohepunkt be-
konnnen. Beethoven hat fur die Dynamik nur wenige Anhaltspunkte gegeben;
wir linden dieselbe aber ausreichend und obne Willkttr in volliger Ueberein-
stimmung mit den von uns aufgestellten Gesetzen:
Allegretto.
^^^m^^^F^f^
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X. Phrasirung.
250
f^fe^g^^^M^^g^fTfefc
cresc.               sf ~===^~~ P
Zu Bernerkungen geben die fiinfte sowie siebente unci aehte Phrase Veran-
lassung; jene ist doppelt so lang, letztere sind nur halb so lang als die Ubrigen.
Die Verschmelzung von vier Taktmotiven zur Phrase im ersteren Falle ist ge-
boten durch das Sequenzverhiiltniss der beiden ersten derselben; nach § 42 halt
die Sequenz dieselbe dynamische Entwickehingsform fest und bedingt den An-
schluss an die nachstfolgende freie Bildung, d. h. wir erlialten ein durchgehen-
des crescendo bis zu dem von Beethoven bezeichneten sf und somit eine Phrase
von 8 Takten. Der gegentheilige Fall der Phrasenverkiirzung ist von gleich
typischer Bedeutung; sein Sinn ist ein dreimaliger Anlauf zur Schlussphrase,
ein zweimaliges Absetzen und Wiederansetzen. Man denke sich die beiden
eintaktigen Phrasen weg und die Form wird ebenfalls erftillt, nur freilich die
Schlusswirkung wesentlich abgeschwacht erscheinen. Man beachte die kleinen
Veranderungen, welche Beethoven bei der dreimaligen Wiederholung des
crescendo-Theiles der Schlussphrase (so etwa konnte man definiren) ange-
wandt hat: das zweite Mai Synkopirung des ersten Zahlwerthes, das dritte Mai
auch Synkopirung der dynamischen Hauptnote und Verzogerung des letzten
Accordtones durch Vorhalt. Der Diminuendo - Theil der Phrase ist in seiner
Wirkung verstarkt durch Auslassung des Auftaktes, sodass das Motiv nach der
Pause sogleich piano einsetzt. Wenn man will, mag man auch die Anlaufe
zur Schlussphrase in diese hineinrechnen; sie erscheint dann verlangert. Nur
vergesse man nicht, dass das absetzen seine asthetische Bedeutung hat und be-
merkbar werden muss: es wlirde durchaus verkehrt sein, die drei Anlaufe in
einem Zuge zu spielen. Als weiteres Beispiel fur die sequenzartige Phrasen-
ausreckung diene das folgende (Beethoven, Op. 10, III):
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49. Motiv - Verkettung.
251
Die andere Bildung, das ansetzen der thematisehen Bildung unci wieder ab-
brechen, um schliesslich einen weiteren Flug zu nehmen, ist so sehr typisch fur
alle thematische Arbeit, class wir kaum auf sie naher eingehen konnen, ohne
direkt in die Kompositionslehre zu gerathen.*) Die sogenannten Durchfiihrungs-
tbeile der Sonatensfitze treiben ja in der Regel zunachst ein buntes Spiel mit
Motiven der Hauptthemen, zersttieken dieselbe weiter, setzen sie kaleidoskopiscb
weehselnd zusammen, verlangern sie abweichend u. s. w. In soleheu Fallen ist
es oft sehr schwierig, die recbte Phrasirung heraus zu finden, d. b. die grosseren
Linien zu erkennen, welche diese Mosaik allein rechtfertigcn.
Beethoven der grosse Meister der freien thematischen Arbeit, bietet eine
Fiille hoehinteressanter Bildungen verschiedenster Art; bald spinnt er aus un-
scheinbaren Fadchen das Haupttbema heraus, z. B. (op. 22):
*) Wie herrlich fassto H. Chr. Kooh die Lehre vom Aui'bau der Tonstiicke beim Schopf!
Wenn ich es einmal untemehmen sollte, die Kompositionslehre ankniipfend an die Ergeb-
nisse dieses Buches zu bearbeiten, so wiirde ioh nur dem Grundriss des Koch'schen Werkes
zu i'olgen brauohen.
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252                                                      X. Phrasirung-.
oder (daselbst, beim nachsten Einsatz des Themas):
bald wiederholt er den Schlusstheil einer Phrase, z. B. (Op. 22):
mmm^s^^smM^smm
oder (das., 2. Satz):
oder (Op. 28, 2. Satz):
Fur die Abgrenzung solcher kleinsten Motive als selbststiindiger Phrasen ist
natiirlich ein genaues Verfolgen der thematischen Entwickclung nothwendig; da
ein solches nur bei einem sehr kleinen Theile der austibenden Musiker voraus-
gesetzt werden kann, so milssen Ausgaben, wie die von mir veraustalteten, in
denen die Phrasen nacb den liier entwickelten Gesiclitspunkten bestimmt und
bezeichnet sind, viel gutes scbaffen konnen. Solche Phrasimngsausgaben baben
eine ahnliche Bedeutung zu beanspruchen, wie die commentirten Ausgaben der
Schriftsteller des Altertbuines, d. h. sie sind wirklicbe Auslegungen, fortlaufende
tbematiscbe Analysen, zugleicb das dienlichste Material flir den Kompositions-
uuterricht.
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49. Motiv -Verkettung.
253
Es wild ohne Zweifel nicht ausbleiben, dass verschiedene der Sache ge-
wachsene Herausgeber die Phrasen hie und da verschieden bestimrnen werden,
da sich mit apodiktischer Gewissbeit die von Komponisten gewollte Phrasirung
manchmal uiclit feststellen liisst. Die Debatten jiber die vorzuziehende Phrasirung
werden aber werthvolles Material zur Vervollkommnung des rhythmischen Ver-
standnisses und zurAbklarung derLehre der Phrasirung beitragen und einen immer
starkeren Druck auf die lebenden Meister ausiiben, dass sie ahnlichen Zweifeln
durch bestimmte Bezeichnung der Phrasen bei Lebzeiten vorbeugen.
Mit bevvunderungswiirdiger Kunst verlangern die Meister die Phrasen in
den als fresco gemalten Werken grosster Dimension wie Symphonien, Chor-
werken, Konzerten u. s. w. Audi da ist Beethoven den anderen Uberlegen, wenn
sich auch einzelne besonders langathmige ZUge bei den anderen Klassikern
finden. Man denke z. B. an die freien kadenzartigen Einleitungsphrasen des
Beethoven'schen esDur-Konzertes oder an die Verlangerung der ersten Phrase
des ersten Themas in der Pianofortestimrae:
Man denke sich die 10 Takte zwischen den beiden f weg; die Phrase erscheint
dann immer noch verlangert, gegentiber der Form, in welcber sie das Orchester
vortragt:
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X. Phrasirung.
254
^See^eS^^
aber leicht iibersichtlicli und abgerundet.
Es mag vielleicht mancliem tiberfltissig erscheinen, wenn icli darauf hinweise,
dass solche ausgeftibrte G&nge als eine einzige Phrase verstanden werden miissen;
dem holier begabten oder vorziigiich gesehulten Musiker mag das selbstverstand-
lich seheinen, dem in der Entwickelung begriifenen Schtiler wird es dagegen
eine wesentliche Hiilfe zu sehnellerer Weiterentwickelung sein, wenn er auf die
einheitliche Bedeutung grosserer Gebilde hingewiesen wird. Nur zu leicht be-
schrankt er sich auf die Erfassung der kleineren Gruppen, in welche sich die-
selben naturgemass zerlegen und liest, wenn auch nicht von Taktstrich zu
Taktstrich (weleher Fehler ja hoffentlich bald versebwindea wird), so doch von
Taktmotiv zu Taktmotiv, oder auch itber mehrere Taktstriche hinweg bis zu den
entschiedenen Wendepunkten der melodischen Bewegung, ohne sich der grosseren
Ziige vollbewusst zu werden. Selbst vorausgesetzt (was nicht anzunehmen ist),
dass die Beproduktion darunter nicht litte, wtirde doch die Einbusse an iistke-
tischem Genuss eine sehr betrachtliche und bedauernswerthe sein.
§ 50. Phrasentrennung.
Ueberblickeu wir nun im Zusammenbang die Zeichen, aus deneu die Aus-
dehnung der Phrasen erkennbar ist, so finden wir, wie nicht anders zu er-
warten, dieselbe in volliger Uebereinstimmung mit den fur die Auffassung der
Motivgrenzen massgebenden. Fanden wir doch bereits im vorigen Paragraphen
Falle, wo Motiv und Phrase zusammenfallen, wie andererseits solche, wo ein
Motiv in eine Anzahl Untertheilungsmotive zerfallt. Wir ersahen auch aus
Kap. VIII, dass die melodische Bewegung und harmonische Entwickelung un-
abhangig von dem Metrum und Rhythmus oder denselben widerspreehend Motive
bilden konnen, welche zwingend die Auffassung des Metrums und Rhythmus
(und demzufolge die Dynamik) bestimmen; wir fanden aber, dass dabei die Be-
deutung des Metrums und Rhytbmus niemals durch die anderen Faktoren negiert
werden konnte, sondern dass es sich nur um den Wechsel verschiedener metrisch-
rhythmischen Formen handelte, deren dynamische Potenz zu Recht bestehen blieb.
Erkannten wir so als Wesen des Motivs eine bestimmte dynamische Potenz,
so ist die Phrase zu definiren als ein Tongebilde von bestimmter dynamischer
Qualitat, d. h. die Phrase ist nicht mehr eine metrisch-rhythmische Form,
sondern ein dieselbe ausfttllender Inhalt und es ist daher nicht zulassig, ein-
seitig vom metrisch-rhythmischen Gesichtspunkte aus die Phrasenbildung zu be-
trachten. Wie die dynamische Potenz der Untertheilungsmotive sich der Dyna-
mik des Taktmotivs unterordnen muss, ohne doch darum asthetisch werthlos zu
werden (§ 22), so ordnet sich die dynamische Potenz des Taktmotivs der Dyna-
mik der Phrase unter, ohne doch darum ihre Bedeutung zu verlieren; ja die
Dynamik der Phrase wird durch die dynamische Potenz des Taktmotivs insofern
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50. Phrasentrennung.                                                 255
bestimmt, als nur die dynamische Hauptnote eines Taktmotivs den dynamischen
Gipfelpunkt der Phrase bilden kann. Es versteht sich von selbst, dass das
Ende der Phrase stets auch das Ende eines Taktmotivs ist*), und dass auch der
Anfang' der Phrase mit dem Anfang eines Taktmotivs zusammenfallen muss.
Die Phrasengrenzen sind also tkatsachlich immer Motivgrenzen; aber die Motiv-
grenzen sind natiirlich nicht immer Phrasengrenzen.
Gaben die Komponisten immer hinlangliche Vorschriften fllr die Dynamik, so
ware es anscheinend leicht genug, die Ausdehnung der Phrasen zu bestimmen;
denn eine Phrase wtirde dann soweit reichen, bis ein dynamischer Nullpunkt
(§ 4) das Ende vom neuen Anfang scheidet. Denn was wir bei Betrachtung
der Motive als selbstst&ndiger dynamischen Formen als Scheidegrenze der Motive
fanden, muss doch wohl zur Scheidegrenze der Phrasen werden, so bald wir die
effektive dynamische Ausstattung vom Motiv auf die Phrase ausdehnen. Die
Phrase erscheint sonach als ein grosses Motiv, dessen Untertheilungsmotive auch
Taktmotive sein konnen. Geben wir dem Worte Motiv diese erweiterte Be-
deutung, so schwindet das scheinbar paradoxe der Thatsache, dass eine Phrase
auch gelegentlich nur ein Taktmotiv begreifen kann, oder gar nur eine Zahl-
zeit, wahrend man doch gewohnt ist, sie als eine Bildung hoherer Ordnung an-
zusehen, zu der die Taktmotive zusammentreteu. Leider lassen uns aber die
Komponisten hinsichtlich der Vorschriften fur die Dynamik oft genug im Stick
und wir sind ungekehrt darauf angewiesen, die Dynamik von der richtigen Er-
kenntniss der Phrasengrenzen aus zu bestimmen. Unter solchen Umstanden
sind es besonders die melodische Bewegung und die harmonische Entwickelung,
welche uns verliissliche Anhaltepunkte fur die Abgrenzung der Phrasen geben.
Grossere Pausen werden natiirlich fiihlbare Einsclmitte markiren und daher meist
Phrasengrenzen bedeuten, fallen aber oft genug sogar zwischen Tone, die zu
demselben Motiv zusammengehoren.
Ein seltsames Buch, die „Kompositionsschule" von W. Dyckerhoff (Leipzig 1876)
hat den Versuch gewagt, von der melodischen Bewegung allein ausgehend, zu
nmsikalisclier Formbildung zu gelangen; man kann leider nicht behaupten, dass
das Experiment erfreulich ausgefallen ware, es ist aber doch im Grunde ein
guter Gedauke, von dem der Verfasser ausging. Ohne Frage geben uns ahn-
liche melodische Figuren, Dyckerhoff's „Tonbilder", wohl unterscheidbare Kon-
turen, denen die Auffassung mit Leichtigkeit folgt. Wiederholen sich solche
Figuren so schnell, dass die Gesammtdauer einer Figur einer Zahlzeit oder gar
nur einen Theil einer solchen entspricht (vgl. § 11), so werden sie als Unter-
theilungsmotive verstanden. d. h. sie werden in grosserer Zahl als zu hoherer
Einheit zusammengehorige verstanden, z. B. (Beethoven, Op. 31, II, Rondo):
H
=fc^=
---------s-----ta^------■-------------------m^^^h--------------------------bimmi-----J--------------*-
*) Nur einen seheinbaren Widerspruch ergeben die abbrechenden Phrasen, die ich in
der Phrasirungsausgabe mit " bezeiclmet habe.
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X. Phrasirung.
256
Sind dagegen die Figuren grosser oder ist die Bewegung langsamer, sodass sie
melirere Zahlwerthe fullen, so treterj sie einander selbststandiger gegentiber, z. B.
(daselbst, 2. Satz):
oder (Beethoven, Op. 27, I):
NB. (zweimal)
d. li. wahrend jene sich einer durchgehenden Schattirung leiebt fiigen, werden
diese ihre eigene dynamische Potenz zur Geltung bringen wollen und zur Ab-
tbeilung selbststandiger Phrasen Anlass geben. Eine solche Parallelitat der
melodischen Zeichnung wird erkannt, mag das zweite Tonbild eine notengetreuc
Wiederholung des ersten sein wie im letzten oder eine [stufcnweise oder sprung-
vveise] Transposition wie im vorletzten Falle, und audi dann, wenn die einzelnen
Schritte der Melodic nicbt genau entspreebende sind, sondern nur eine anniihernde
Uebereinstimmung konstatirt werden kann (Beethoven, Op. 10, I):
Solche Erweiterungen oder Verengungen einzelner Schritte individualisiren die
einzelnen Gebilde und fuhren das musikalische Lebcn weiter, ohne doch die
Nachahmung unkcnntlich zu machen. Selbst wenn einmal ein Scbritt fiillt, statt
zu steigen (oder umgckehrt), was besonders am Ende der Figur etwas sehr ge-
wohnlicbes ist (vgl. das obige Beispiel aus Beethoven Op. 31, II, Rondo), wild
die Nachahmung noch verstanden, ja eine spezielle Form der Nachahmung ist
die Umkehrung (vgl. meine Neue Schule der Melodik § 45), z. B. Beethoven,
Op. 10, III:
Erkannt wird die Uebereinstimmung der melodischen Zeichnung aucb, wo sie
der Taktordnung widerspricht; wir wissen aus § 39, dass die melodischen Motive
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50. Phrasentrennuiig.
257
die Untergliedcrung der Phrase, wenn audi nicht allein, so doch pravalirend
bestimmen und dtirfen daher schliessen, dass langere oder sich in langsamer
Bewegung entwickelnde Bildungen als Plirasen verstanden werden konnen, auch
wenn sie sich der Taktordnung nicht gleichrniissig fiigen. Es versteht sich aber,
dass ihre Dynamik durch die metrischen Verhaltnisse abweichend bestimmt wird
z. B. (Beethoven, Op. 31, I):
                             »
Das nachgeahmte Motiv ist .J. j_, also ein zvveitheiliges, bei dreitheiliger Takt-
art; die sich ergebende zweite Phrase von zwei solchen Motiven entspricht ganz
den in § 39 nachgewiesenen Bildungen, die dritte gliedert sich in ahnlicher
Weise, das fortgesetzte stufenweise fallen — die einfachste Form der Sequenz
(§ 42) — erfordert aber die Zusammenziehung zur grdsseren Phrase. Das sf
der ersten Phrase zeigt die Vorausnahme des dynamischen Hohepunktes ftir die
dissonante und den melodischen Gipfel bildende Penultima an (§ 41); es diirfte
korrekt sein, auch ftir die dritte Phrase, deren metrischer Schwerpunkt der
Akkord hinterm ersten Taktstrich ist, die grbsste Tonstlirke ftir die Dissonanz
(d 9^~) vorwegzunehmen. Die ganze notirte Stelle konnte aber auch als eine ein-
zige grosse Phrase gefasst werden, deren dynamischen Hohepunkt dann das
hochste gn resp. au bilden muss. Ftir den Ausdruck wtirde daraus die Aus-
dehnung des stringendo auf die ersten drei Takte resultiren, wahrend die Dyna-
mik zufolge der Accente, welche die Dissonanz erfordern, nicht viel verandert
werden wtirde, wenigstens nicht gleichmassig gesteigert ausfallen konnten. Auf
die hone astketisehe Bedeutung der langen Phrasen babe ieh schon wiederholt
hingewiesen; sie machen so recht eigentlich Stimmung und verleihen der Em-
pfindung grossere Energie. Da die tibliche Bogenbezeichnung nicht auf Ab-
grenzung der Phrasen berechnet ist, so helfen sich die Komponisten, um die
weitere Ausdehnung der Phrasen anzudeuten, entweder durch die langeren
Schattirungszeichen:
oder durch die Wortvorschriften crescendo und diminuendo. Nicht umsonst haben
wir aber im VIII. Kapitel den Einfluss erortert, den die melodische Bewegung
und die harmonisehe Entwickelung auf die Dynamik der Phrasen austiben. Die
im strengsten Sinne durchgehende Schattirung wird dadurch oft genug unmoglich
gemacht, und langere Phrasen, die im crescendo-Theil wirklich von Zahlwerth
zu Zahlwerth gleichmassig zunehmen, sind daher selten. Selbst die agogische
Schattirung ist nicht im grosseren Rahmen durchflihrbar, wenn man nicht schliess-
lich geradezu in ein anderes Tempo gerathen soil, oder aber die Beschleunigung
so uubedeutend machen, dass sie ftir die Taktmotive vollig unmerklich wird;
Itiomann, Mus, nynamik und Agoglk.                                                                                        yj
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X. Phrasirung.
zudem wissen wir ja, dass die dynamische Potenz der kleinen Motive durch
Verliingerung der dynamischen Hauptnoten angedeutet werden muss. Mit an-
deren Worten: fftr grosse und griisste Bildungen tritt nicht die Verschmelzung
sondern die Trennung der Motive in den Vordergrund und zwar durch Geltend-
machung der dynamischen Potenz im engeren, wenn auch nicht engsten Kreise.
Wenn trotzdem die grosseren Bildungen als solche verstandlich bleiben sollen,
so kann das nur durch eine Abstufung der Tonstarke der dynamischen Hohe-
punkte der selbstandig schattirten Gebilde geschehen, d. h. ein Motiv resp.
eine kleine Phrase (was ja dann dasselbe ist) erscheint gegenuber der anderen
gesteigert oder abnehmend, und ein von Komponisten derselben beigeschriebenes
crescendo oder diminuendo ist nicht dahin zu verstehen, dass die Phrase selbst
crescendo oder diminuendo vorzutragen ist, sondern dahin, dass sie gegenuber
der vorausgehenden ein crescendo oder diminuendo bedeuten soil, z. B. (Beethoven,
Op. 14, I):
w
non dim. it
dim.
, s/
/'/'
Hier sind die Phrasen zweitaktig, aber die zweite gegen die erste und die dritte
gegen die zweite gesteigert, der Hohepunkt des ganzen ist das sf des sechsten
Taktes, das letzte Motiv sinkt gebrochen ins pianissimo zuriiek. Diese acht
Takte bilden also eine Phrase hoherer Oidnung, die man gewohnlich Periode
nennt, eine Bildung, die zwar ein mehrmaliges crescendo und diminuendo auf-
weist, aber innerhalb eines einmaligen crescendo und diminuendo hoherer Ord-
nung. Ebenso sind die weiter oben auf'gcfiihrten Beispiele zu verstehen. Es
werden nur wenige Fiille vorkommen, wo nicht deutlich zu erkennen wilre, wo
der Gipfelpunkt hoherer Ordnung liegt. Die alte Ilausregel der Klavierschulen,
dass man einen sich wiederholenden Gedanken nicht beide Male gleich vortragen
tliirfe, sondern das zweite Mai entweder starker oder schwacher, erweist sich
hierdurch als wohlbegriindet. Das haufigere ist die Steigerung; die Wieder-
holung dessen, was man bereits gesagt hat, geschieht in der Kegel mit Nach-
druck, mit verscharfter Accentuation, sodass man, wo der Komponist keine
Fingerzeige gegeben hat, gewohnlich ein crescendo annimmt, z. B. (Beethoven,
op. 14, 1):
pm cresc.
cresc.
Doch ist das Gegentheil, die Wiederholung im diminuendo, keineswegs selten;
seine Bedeutung ist ein abklingen, verblasseu des Bildes, z. B. (Beethoven,
op. 2, I):
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50. Phrasentrennung.
259
Eine bekannte Species desselben ist das sogenannte Echo, die piano-Wieder-
holung eines Motivs in anderer Oktavlage, ein sehr bequemes Effektmittel und
daher bei Beethoven nur sehr selten, z. B. (op. 7, Rondo):
Man sieht am Fortgange dieser Stelle, dass Beethoven das hanale Echo damit
uberhaupt nicht beabsichtigte. Auch in der Sonate op. 81, wo er thatsachlich
mit echoartigen Wiederholungen spielt (iibrigens nicht forte-piano, sondern nur
piano), verandert er mehrmals die nachahmende Stimme and spinnt gerade da-
durch den Faden weiter; der Einsatz des Echos wartet dort auch nicht das Ende
des nachzuahmenden Ganges ab, sondern setzt frtther ein.
Ueber die Natur der harmonischen Motive habe ich mich in meiner „Musi-
kalischen Syntaxis" (1877) zieinlicb ausfuhrlich ausgelassen; eigentlich ist jenes
ganze Buch ihrer Erklarung gewidmet. Was icli dort These nannte, ist nichts
anderes als ein harmonisches Motiv, eine kurze Phrase, ihrer harmonischen Natur
nach analysirt. Ich habe dort (S. 74) aber auch darauf hingewiesen, dass die
Auffassung soldier kleinsten Bildungen durch den Takt bestimmt wird. Was
ich dort kurz vorher sage (S. 73), dass man die metrischen Formen tiberhaupt
nicht abstrakt von ihrem musikalischen Gehalte betrachten konne, ohne in halt-
lose Spekulationen zu verfallen, scheint zwar meiner gegenwartigen neuen Arbeit
ein bedenkliches Progrosticon zu stellen; indess wird man bei naberer Betrachtung
finden, dass ich eiuerseits den musikalischen Gehalt stets im Auge behalten,
andererseits aber der Theorie der Metrik ein anderes Fundament gegeben habe,
welches jenen Ausspruch zu mildern Veraulassung giebt. Ich schrieb jenen Satz
im Hinblick auf die hier negirte Accenttheorie.
Heute mochte ich den Satz beinahe umkehren und sagen, dass an sich ver-
standlich nur eine harmonische Bildung ist, namlich der Schluss. Da wir hier
nicht mehr wie in der „Musikalischen Syntaxis" einseitig auf harmonischem
Boden stehen, so ist es uns nicht schwer, das Zusammenfallen eines harmonischen
Schlusses und einer abgerundeten metrischen Bildung zu erkennen, welches stets
das Ende einer Phrase bedeutet. Nun sollte man meinen, dass das auftreten
eines dissonanten Accordes oder einer fremden Harmonie an der Stelle, wo der
Eintritt der Tonika einen vollkommenen Schluss ergeben wtirde, die Empfindung
eines Abschnittes suspendiren und die Moglichkeit einer derartigen Verkettung
zweier Phrasen geben miisste, dass der Schlusston der einen zugleich der An-
fangston der andern ist; aber das ist keineswegs der Fall; vielmehr erweist sich
17*
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260                                                      X. Phrasirung.
die metrisck-rhythmisclie und melodische Formgebung in der Weise bestimmend
ftlr die Auffassung, dass wir deutliche Einschnitte empfinden, wo die harmonische
Entwickelung keinerlei Ruhepunkt aufweist: die Wirkungen des Halbschlusses
und Trugsclilusses basiren gerade hierauf; sie sind nicht harmonische, sondern
metrisch-rhythmische Schlusse, wie man sich leicht Uberzeugen kann, wenn man
ihre Wirkung unter uugenilgenden metrisch-rhythmischen Bedingungen zu erzielen
sueht, d. h. wenn man z. B. die Havmoniefolge:
T f ! ! I I i I ' I I Ł I
rhythmisirt:
in welchem Falle der im 4-Takt den Halbschluss machende gDur-Accord im
3-Takt als Anfang der neuen Phrase erscheinen wird. Dass auch der wirkliche
Schluss ohne Htllfe des Metrums und Rhythmus nicht recht zur Geltung kommen
kann, beweist der letzte Takt des Beispiels; die Wendung Dominante-Tonika
ohne vorgangige Modulation milsste doch abschliessend wirken, wenn sie dies
als rein harmonische Bildung allein vermochte. Im 4-Takt wirkt sie oben wirk-
lich schliessend, weil durch sie die zweite Phrase gleiche Ausdehnung mit der
ersten erhalt; im 3-Takt bildet sie aber den Anfang einer dritten Phrase und
konnte nur einigermassen befriedigend schliessen, wenn der letzte Accord noch
bis zum Beginn des nachsten Taktes verlangert wurde oder (noch besser) auf
diesem Zeitwerth nochmals angegeben; die voile Schlusswirkung wurde aber
erst entstehen, wenn ausserdem noch die erste oder zweite Phrase ganz wieder-
holt wurde, sodass zwei zweitaktigen Phrasen zwei ebensolche gegeniiberstanden.
Dass unsere Auffassung eine derartige Korrespondenz metrischer Gruppen
fordert, ist schlechterdings nicht in Abrede zu stellen; dieselben brauchen aber
nicht immer zweigliedrig, sondern konnen auch dreigliedrig sein, wenn auch
jenes das gewohnliche ist. Wenn es gelingt, ungleiche Glieder zu verbinden,
sodass 5-, 7- oder 9-taktige Phrasen entstehen, so geschieht das zufolge einer
Tauschung der Auffassung durch lange Noten, welche nach § 12 ahnlich wirken
wie durch agogischen Accent verlangerte dynamische Hauptnoten, oder um-
gekehrt durch kilrzere, welche fttr die langeren eintreten, oder durch wiederholte
Anlaufe oder wiederholte Endmotive der im vorigen Paragraphen gekennzeich-
neten Art. Auch Sequenzen (§ 42) suspendiren das Verfolgen der metrischen
Kon-espondenz. Das erste Allegromotiv der Sonate op. 31, II, von Beethoven
ist vom Meister so geschrieben, dass die metrische Korrespondenz gewahrt ist:
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50. Phrasentrermung.                                                 261
Adagio.
allenfalls hatte, um das noch evidenter zu mŁchen, die Schlussnote als Viertel
geschrieben sein konnen. Durch die Bezeichnung Adagio wachst aber der letzte
Takt effektiv etwa zur Dauer zweier Takte an:
sodass die Periode fttnftaktig, die letzte Phrase dreitaktig ist. Das Adagio ist
aber nichts anderes als eine Verstarkung des natiirlichen ritardando des
diminuendo-Theils der Phrase, wozu noch die Verlangerung der Dissonanz und
die Zeitzugabe fur das Pbrasenende in Betracht gezogen werden mogen.
Das abschliessende Allegro der asDur-Sonate, op. 26, wechselt mit 3-tak-
tigen und 2-taktigen Phrasen, doch nicht so, dass ungleiche Phrasen in Korre-
spondenz treten; vielmehr korrespondiren in den ersten 12 Takten und ihren
mehrfachen Wiederholungen nur 3-taktige Phrasen miteinander, wahrend im
tibrigen 2 und 2 resp. 4 und 4 Takte in Korrespondenz treten. Die Btiekkehr
zur 3-taktigcn Phrasenbildung ist jedesmal hochst geschickt durch Motive ge-
macbt, die eigentlicher Korrespondenz im Grossen entbehren, das erste Mai durch
drei eintaktige und zwei halbtaktige Anlaufe:
wodurch natiirlich das Bewusstsein der vorausgangigen zweitaktigen Gliederung
verloren geht. Das zweite Mai leitet derselbe gebrochene Terzengang aber ohne
Pausen und chromatisch zu den Anfangsnoten des Themas:
Die Coda bringt den Hauptgedanken zweitaktig.
Das Allegretto (Schlussatz) der Sonate op. 31, II ist im 3/8-Takt notirt, geht
aber, wie bereits oben bemerkt, so geschwind, dass jeder Takt nur einer Zahl-
zeit entspricht. Die harmonische Entwickelung giebt uns den Aufschluss, dass
je vier Takte zu einem Motiv zusammengehoren. Schwieriger ist aber die Frage
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X. Phrasirung.
262
nach der Ausdehnung des Auftaktes dieser grossen viertheiligen Takte und zu
ihrer Beantwortung mtissen wir auf die vom Meister gegebenen dynaniischen
Werthzeichen rekurriren; aus der Stellung der in regelmassigen Abstanden
wiederkehrenden / mtissen wir schliessen, dass der Schwerpunkt des dritten
Motivs der der Phrase sein soil, sodass wir, wollten wir nur aller vier Takte
Taktstriche geben, diesen folgende Platze anzuweisen batten:
^F=f:
^S^gipi^^ll^i^i
cresc.
nr,.                    ^^
cresc.
J^F
l^fe*
rfr ^ ^ & k0
p                        cresc.               ^
==s
g
t=
fefe*fttfrŁ
w^r?*
*/
i *3
•VV            W AV           -W           AV AV
g-f-n->
J-----1----1----;----^
!=b
^ifcg^Eff^f^^
t^
i :{♦*■ ? 3"""* *
8/
ESSaf^P^
«/:
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50. Phrasentrennung.
263
Die gleich anfangs abbetonte Auffassung:
zu welcher man bei oberfliichlicher Betrachtung des Satzes neigt, vevbietet sich
dadurch, dass der Aufbau bereits nach wenigen Takten asymmetrisch wilrde;
es ist zwar denkbav, doch keineswegs walirscheinlich, dass Beethoven die erste
Motivfolge sick niit wechselnder Ordnung dachte, namlich:
sodass der dritte Takt (der vergrosserten Art) nur drei statt vier Zahlpunkte
umfasste. Ein solcb.es Umspringen ist allerdings moglich; doch moehte ich im
Interesse eines glatten Verlaufs dieses reizenden perpetuum mobile der oben an-
gedeuteten seblichteren Auslegung den Vorzug geben.
Unmoglich kann es das Zicl raeiuer DarsteJlung sein, iiberall zweifeliose
Entseheidungen iiber die reclite Art der Pbrasenbestimnmng zu eruiren; angesiehts
der bisberigen grossen Unsicherheit moehte die Behauptung einer solchen plotzlich
gewonnenen Zweifellosigkeit mit Recht Misstrauen erwecken. Ich bezweckte aber
vielmehr nur, das rfletrisch-rhytlimiscbe Auffasungsvermogen derart
fortzuentwickeln, dass ihm eine bestimmtc Phrasirung Bediirfniss-
sache wird, dass es grossere Kontouren sucht und findet, auch wo der Kom-
ponist unterlassen hat, durcli bestimmte Vorschriften alien Zweifeln zu begegnen.
Die Einbusse, welche der asthetische Genuss des Kunstwerkes durch
ein paar nieht ganz richtige Phrasenbestimmungen erleidet, ist ver-
schwindend gegen die, welche entsteht, wenn man eine bestimmte
Phrasirung gar nicht versucht, sondern sich lediglich an die dynamische
Vorschrift der Komponisten halt und wohl gar nach den traditionellen Vorschriften
taktmassig accentuirt. Erst durch die Bestimmung der Grenzen und Schwer-
])unkte der Phrasen kann man nicht nur fur das crescendo und diminuendo,
sondern auch fur das stringendo und ritardando, also fur die dynamische wie
fur die agogische IScliattimng, die beiden Hauptfaktoren ausdrucksvollen Vor-
trags, sicherc Anhaltepunkte gewinnen, wiihrend man im andern Falle, wenn
man taktweise abliest und taktmassig accentuirt, keinerlei Anlass hat, von einer
starren Gleichlormigkeit der Bewegung irgenwie abzuweichen. Der sentimentalstc
Dilettant kann daher unter Umstiinden hundertmal musikalischer spielen als der
griindlichst geschulte Fachmusiker, weil er nicht durch pedantische Kegeln irre
geleitet wird,
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X. Phrasirung.
264
§ 51. Doppelphrasirung.
Nacb den Ergebnissen des IX. Kapitels ist eine wirkliche Doppelphrasirung
unmoglich, vielmehr wird, wo verschiedene Stimmen abweiehend gcgliedert sind,
stets eine Art der Phrasenbildurjg die Auffassung bestimmen, wahrend die andere
als von ihr abweiehend erscheint (§ 44). Bei den § 43—48 betrachteten parallelen
und komplement&ren polyrbythmischen Bildungen fielen die dynamischen Hohe-
punkte der ihren Grenzen nach oft verschiedenen Rythmen zusammen; wir
wiesen aber bereits dort darauf bin, dass es auch Falle giebt, wo die Dynamik
zweier Stimmen eine durch verschiedene Lage des Schwerpunktes bedingte vollig
verschiedene ist. Diese Falle widerstreitender Dynamik gilt es nun, einer
naheren Betrachtung zu unterziehen, um der Phrasirungslehre den letzten Schluss-
stein einzufiigen.
Nicht hierher gehorig sind die bereits § 46 beriihrten Falle, wo in einer
Stimme der dynamische Scbwerpunkt seine natlirliche Stelle hat, wahrend er in
einer anderen Stimme durch Synkopirung oder aus melodischen Griinden voraus-
genommen, oder wo er aus melodischen Griinden vorwarts geschoben ist; die
Dynamik der beiden Stimmen ist in solchen Fallen immerhin annahernd parallel,
z. B. (Beethoven, Op. 10, III):
.i.r
A- t-
P 2
i
Ganz anders liegen aber die Verhaltnisse z. B. in folgender Stelle (Beethoven,
Op. 14, I, I. Satz):
r?
^
SI
m
i
^
Hier bringt die tiefere Stimme die notengetreue Wiederholung der Phrase der
Oberstimme mit Abstand eines halben Taktes und fordert nattlrlich dieselbe
Dynamik, wie sie vorher die Oberstimme hatte.
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51. Doppelphrasirung.
265
Das Beispiel fiihrt uns in der einfachsten Weise zur Erkenntniss der Be-
dingungen, unter welchen solche Bildungen verstandlich sind. Wenn wir nam-
lich die beiden Phrasen in Taktmotive zerlegen, so finden wir, dass diese in
beiden Stimmen zusainmenfallen; aber die Schwerpunkte der Taktmotive sind
abweehselnd in der Ober- und Unterstimme Schwerpunkte der Phrasen. Das
Resultat dieser Doppelphrasirung ist also einers&ts eine deutliche Hervorhebung
der Taktmotive (da die Schwerpunkte aller wirklich dynamisch zur Geltung
kommen) und andererseits ein festeres Verwachsen der Phrasen, da alle Pausen
durch die Bewegung der anderen Stimme ausgefiillt werden und das diminuendo
der einen Stimme durch das crescendo der anderen Stimme balancirt wird; es
versteht sich, dass das ritardando des diminuendo-Theils der Phrase durch den
parallel gehenden crescendo- [und stringendo-] Einsatz der anderen Stimme zur
Unmoglichkeit gemacht wird. Es ist sonach begreiflich, dass der durch die
widerstreitende Dynamik hervorgebrachte Effekt das Hinausschieben einer wirk-
licheu Schlussempfindung ist, d. h. dass trotz des fehlens einer durchgehenden
Schattirung, die wir sonst als conditio sine qua non grosserer Phrasenbildung an-
sehen mussen, langere Taktreihen als fester zusammengehorig erscheinen. Wie
die Sequenzen das Ende hinausschieben, bis die strengen Nachahmungen auf-
horen (§ 42), so schieben auch die widerstreitenden Phrasen das Ende hinaus,
bis die eine Doppeldynamik bedingenden Nachahmungen aufhoren. Geradezu
unter die Sequenzen gehorig sind Doppelphrasirungen wie (Beethoven, Violin-
sonate, Op. 24):
(Klav.)                             ^^---------~7^                           1_^_---------
Man beachte hier die Anwendung des Beethoven'schen piano (§ 34) als dyna-
mischen Gipfelpunkts der letzten Phrase. Die dominirende Bedeutung der Phra-
sirung der Violinstimme ist leicht zu erkennen; das Klavier wirft nur nach-
ahmend seine Phrasen in die Lticken zwischen die Phrasen der Violine. Gleicher-
massen dominirt in dem oben angeftihrten Beispiele aus Op. 14, I, die Phrasirung
der Oberstimme tiber die der Unterstimme. In der c Moll-Violinsonate Op. 30, II
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X. Phrasirung.
266
findet sich ein ahnliches Wechselspiel zwischen der Violine und dem Klavier-
bass, doch ohne Pausen:
Hier kann man im Zweifel sein, wie der Klavierbass dynamisch auszustatten,
d. h. zu phrasiren ist. Das Motiv desselben ist das des ersten Anfangs des
Satzes; seine melodische Zeichnung konnte leicht zur diminuendo -Auffassung
Veranlassung geben:
Doeh sprechen dagegen alle die Ledenken, welche wir gegen anbetonte Anfange
Uberhaupt anzufiihren batten. Die Sechszehntel drangen zur Annahme eines
neuen Anfangs und die | Note erscbeint daher nur als Merkzeicben der Zahl-
zeit boherer Ordnung; diese Annahme findet ibre Restatigung durch den 10. Takt,
wo das c desselben Motivs als Vertreter des c dur-Akkordes, d. h. iiberleitend zum
folgenden fMoll-Akkord erscheint:
(Klav.)
NR!
K
g^^ggg^Ep
f b? f fa? *
=5d =S3
d. h. die Sachlage ist gerade wie beim einleitenden Largo der Sonate pathetique;
die lange Note ist von folgendem Motiv zu sepaiiren; dagegen verwachst dies
mit der folgenden Lange, sobald die Pausen verschwinden, wie in der obigen
Durchftihrung.
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52. Schluss.
267
§ 52. Schluss.
Die Zwcifel, welohe sich besonders fur die Bestimmung grosserer Phrasen-
umfange immer wieder einstellen, mogen zur Ursache werden, dass die Kom-
ponisten kiinftighin der Interpretation weniger freits Spiel lassen. Es kann ja
freilich fraglich erscheinen, ob eine minutiose Vorschrift der Phrasirung seitens
des Komponisten etwa den ausftihrenden Ktinstler degradirt, ob er nicht zum
Automaten wird, wenn man ihm eine bestimmte Auffassung oktroyirt; dieser
Einwurf ist wenigstens gegen meine Bestrebungen wirklich scbon erhoben wor-
den. Zur Entkraftung solcher Argumente mochte ich aber mit dem alten Tiirk
fragen, ob scbon jemand die Interpunktion der Schriftspracbe fiir eine bedauer-
uclie Einschrankung der Freiheit des Deklamators gehalten hat? Thatsaehlich
ist doch die Phrasen- und Motiv-Bezeichnung nichts anderes als musikalische
Interpunktion, wie der musikalische Vortrag nichts anderes ist als musikalische
Deklamation. Vergleichen wir mit Kecht die taktmassige Musik nicht der un-
gebundenen, sondern der gebundenen Bede, so dlirfen wir noch weiter geben
und die Abgrenzung kleiner oder grosserer Phrasen auch dem absetzen klirzerer
und langerer Verszeilen vergleichen. Gothe wusste wohl, warum er viele seiner
lyrisehen Gedicbte in kiirzeste Zeilchen absetzte; man schreibe dieselben zu
zweien oder dreien in lange Zeilen um und man wird finden, dass man ein
eigenartiges asthetisches Wirkungsmittel vernichtet hat — ganz vernichtet frei-
lich nicht, denn die kleinen Zeilchen haben aueh ihre innere Berechtigung, Gothe
dachte in ihnen, sie sind die Form, welche sich der Gedanke von Haus aus
wahlte, und seicn es Reime oder Parallelismen des Inhalts, sie bleiben auch in
den Langzeilen noch kenntlich: nur muss man sie nun erst wieder suchen und
finden, wahrend sie der Meister zu sicherer Wirkung direkt gab. So haben
auch in der Musik die kurzen und langen Bildungen ihren besonderen asthe-
tischen Werth, und es erscheint darum nicht tiberfliissig, wenn sie dem Auge
direkt veranschaulicht werden. Der einzige Einwurf von Belang kann nur sein,
ob es denn aber auch moglich ist, nun nachtraglich in den Werken eines Bach,
Handel, Mozart, Haydn, Beethoven u. a. die Phrasenumfange richtig zu erkennen,
nachdem diese Meister es unterlassen haben, selbst bestimmte Angaben zu
machen? Und da muss freilich zugestanden werden, dass in weiterem und weitstem
Rahmen cine solche Bestimmung mit apodiktischer Gewissheit nicht durchftihrbar
ist. Im engeren Rahmen aber fanden wir allerdings eine Bestimmung moglich;
die Abgrenzung der Motive und klirzeren Phrasen erschien nur zum kleinsten
Theil von der Willktir des Komponisten abhangig, vielmehr durch rhythmische,
melodische und harmonische Bedingungen in der Regel hinlanglich festgestellt.
Wenn wir daher zum Schluss die Frage aufwerfen, ob die Aufnahme der
Phrasenbezeichnungen in die Notenschrift einen positiven prak-
tischen Nutzen zu bringen geeignet ist, so miissen wir das in der aller-
bestimmtesten Weise bejahen. Deun die Zeichen werden in der bequemsten und
schnellsten Weise das Verstandniss der musikalischen Formgebung entwickeln,
zunachst aber das treffen des richtigen Ausdrucks erleichtern.
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X. Phrasirung.
268
Moge man es mir nicht als Vermessenheit auslegen, wenn ich die Anlaufe
zu Phrasirungsausgaben, welche von den Herren H. v. Billow, J. Faisst, S. Lebert,
K. Klindwortli, H. Scholz u. a. gemacht worden sind, vom Standpunkte der
Ergebnisse meines Bucbes aus nicbt als vollig gelungen anerkennen kann.
Man wird zwar finden, dass in einer grossen Zahl von Fallen die Phrasenbe-
stimmungen jener Herausgeber durch meine Aufstellungen als nothwendig er-
wiesen werden; doch ist wirkliche Konsequenz zu vermissen, es stellen sicb. an
anderen Stellen die auffallendsten Widersprtiche lieraus, weil was sie leitete,
nicbt eine woblgeordnete und klar erkannte Theorie war, sondern das natttrliche
musikalische Empfinden, das unmoglich dauernd mit gleicber Precision arbeiten
kann. Ich muss daber jene Ausgaben allerdings als hochst bedeutsame Symptome
des sich geltend macbenden Bedtirfnisses klarer Pbrasirung anerkennen, glaube
aber nicht, dass die schwierigen Aufgaben bereits als durch dieselben gelost
angesehen werden dtirfen. Dagegen bekenne ich von Herzen, die starkste An-
regung zu der von mir angebahnten radikalen Reform der Bezeiehnung durch
jene Ausgaben, besonders die Btilow's erhalten zu haben, dessen untibertroffene
praktische Interpretation der Meisterwerke Beethoven's jedoch noch hoch ttber seinen
redaktionellen Arbeiten steht und mir flir die Natur sowohl der Dynamik als
der Agogik den Schliissel gab. Es ist darum keine leere Form, dass ich seinen
Namen an die Spitze der Phrasirungsausgabe setzte. Wenn es etwas wertb ist,
was ich bringe, so moge man sicb bei Hans von Bulow bedanken.
Als eigentlicher Abschluss meines Bucbes sind meine phrasirten
Ausgaben anzusehen: ich verweise daher auf diese als den eigentlichen prak-
tischen Theil meiner Untersuchungen und boffe durch den direkten Nutzen, den
dieselben stiften werden, in weiteren Kreisen tiberzeugender zu wirken, als
durch noch so konsequente und umsichtige Deduktionen. Weiterer Erklarungen
als der den Ausgaben selbst beigegebenen bedarf es nicht, die Zeichen reden
deutlich genug und ersparen in jedem einzelnen Falle eine lange Auseinander-
setzung. Einen vortrefflichen Kommentar hat iibrigens Herr Dr. Carl Fuchs in
seinem in der Einleitung genannten Werke geschrieben, das ich noch wirksamer
empfehlen dtirfte, wenn Herr Fuchs nicht meine Person zu sehr in den Vorder-
grund gestellt hatte. Uebrigens hat Herr Dr. Fuchs weder mein Buch gesehen
noch ich das seine, bevor die Drucker ihre Arbeit gethan. Die Divergenz in
manchen Details wird das genugsam erweisen.
Von mir selbst kann ich getrost sagen, dass diese meine Arbeit mir viel
Nutzen gebracht hat; mein rhythmisches Empfinden machte mehrmals Wandlungen
durch, doch wie das Buch bcweist, nicht hin und her schwankend, sondern stetig
in derselben Richtung vorwarts dringend. Vielleicht werde ich manchem in der
Negierung der Anbetonung zu weit gegangen erscheinen, ich warne aber vor
zu schnellem Urtheil, und rathe, keinesfalls mit der Lektlire der letzten Kapitel
zu beginnen, sondern die Reihenfolge meiner Darstellung innezuhalten — die
ersten Kapitel stehen durchschnittlich der ublichen Auffassung metrischer und
rhythmischer Verhalsnisse naher als die letzten und manche Bestimmungen der
ersten Kapitel erleiden in den spateren eine wohlmotivirte Rektifikation. Ich
hielt es flir richtiger, flir zweckdienlicher, den Leser dieselben Stadien durch-
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52. Schluss.
269
machen zu lassen, die ich bei der Ausarbeitung zu durchlaufen hatte; es ware
ja ein leielates gewesen, die am Schluss meiner Arbeit gewonnenen Resultate
bei der Revision der Anfangskapitel derart zu beriicksichtigen, dass alle erheb-
lichen Abweichungen beseitigt worden waren. Ich zog es aher vor, mich auf
Einfiigung von Hinweisen auf die spateren Paragraphen zu besehranken. Mogen
diejenigen scharfer blickenden Leser, welche die tfnzulanglichkeit mancher Be-
stimmungen der ersten Kapitel erkennen, verzeihen, dass ich sie so lange auf
nothwendige Zusatze warten lasse. Wahrscheinlich wird aber filr viele auch in
den ersten Kapiteln schon des neuen und die Auffassung anstrengenden genug
sein, sodass sie mir fur eine gewisse raumliche und zeitliche Vertheilung der
Schwierigkeiten Dank wissen.
Es sei mir feme, zu wahnen, dass ich etwas vollkommenes oder erschopfen-
des geleistet hatte — wenn ein solches Resultat ttberall unerreichbar ist, so ge-
wiss erst recht auf einem bisher so vernachlassigten Gebiete. Wenn ich nur
kraftig anregend wirke, so wird mir das eine vollig geniigende Befriedigung
gewiihren, auch wenn nach mir andere kommen sollten, welche meine Auf-
stellungen rektifiziren oder widerlegen. Das Fundament, auf welchem icli haute,
wird, denke ich, einem kraftigen Anprall zu trotzen vermogen; ich fiirchte nicht,
dass es gelingen wird, die Accentuationstheorie gegeniiber meiner Theorie der
durchgehenden Schattirungen aufrecht zu erhalten, und auch dem weiteren
Umsichgreifen der volltaktigen Auffassung hoffe ich einen kraftigen Damm ent-
gegengestellt zu haben. Wenn aber diese beiden Pfeiler meines Baues bestehen
bleiben, so werde ich nicht umsonst gearbeitet haben.
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»
Alphabetisches Inhaltsregister.
(Die Zahlen beziehen sich auf die Paragraphen.)
Crescendo zum Schwerpunkt des Motivs 2,
4, 22; der steigenden Melodie (aber auch
der fallenden) 38; fur Modulationen (aber
nicht fur Riickgange) 41.
Crescendomotive s. Abbetonung.
Diminuendo vom Schwerpunkt des Motivs
zum Ende 2, 4, 22; fiir fallende Melodie
(doch nicht nur fiir diese) 30; fiir Riick-
gange 41.
Diminuendomotive s. Anbetonung.
Doppelduole 28.
Doppelschlag, Dynamik desselben 40.
Doppeltzweitheiliger Takt, unterschieden
vom viertheiligen 7.
Doppelphrasirung 51.
Dreidupel-Takt (») 8.
Dreitheiliger Takt 4, 12, 20, 25, 36, 45.
Dreizeitige Zusammenziehung 18, 20.
Duole 28; polyrhythmisch 48.
Dupeltakt s. zweitheiliger Takt.
Durchgehende Schattirung 4, 22.
Dynamik der metrischen Grundformen 2;
melodisehe 38; harmonische 41; der
Pausen 31; der Verzierungen 46; der
Sequenzen 42.
Dynamische Hauptnote in abbetonten Mo-
tiven ohne eigentliches diminuendo 4, 20.
Dynamischer Schwerpunkt 2; verschoben 12,
39, 51; durch eine Pause ersetzt 34; be-
stimmt durch Wenden der Melodie 39;
doppelt vetreten 51.
Dynamische Schattirung hoherer Ordnung
(Abstufung der Hohepunkte) 50.
| Dynamische Potenz und Qualitat 31,32, 46, 50.
Abbetonung 2 ff.; in Untertheilungen 19—22;
als bevorzugte Form der Figuration 22, 42.
Absetzen vor Acoenten 36; nach Unter-
theilungen 37.
Abbrechende Phrasen 50.
Abwechslung in der Vortragsart desselben
Themas 37.
Accent des Motivanfangs 5, 49; Agogischer
Accent 8,12, 22; Accent fur Dissonanzen 41;
fur chromatische Tone 41.
Accenttheorie, ihrer Unhaltbarkeit nach er-
wiesen 4, 7, 9, 10, 49.
Accentuation im staccato statt der durch-
gehenden Schattirung 32.
Achttheiliger Takt 9.
Achtzehntheiliger Takt 10.
Agogik 1, 7; der Pausen 32.
Agogischer Accent 8, 12, 22.
Anfangsaccent 5, 49.
Anbetonung 2 ff.; fur Duolen, Triolen, Quin-
tolen u. s. w. gelaugnet 48; als metrische
Scheinform 49.
Anfangspausen (Vorpausen) 32, 43, 44.
Aristoxenos, Einleitung.
Aesthetische Bedeutung der dynamischen
Formen 2, 3, 31; der Zusammenziehung 12;
der Untertheiluug 19; der Pausen 31; der
Tonhohenveranderung 38.
Auftaktigkeit s. Inbetonung und Abbe-
tonung.
Beethoven'sches piano 34.
Bogenkreuzung, eine Phrasenverschriinkung
anzeigend 52.
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Alphabetisches Inhaltsregister.
272
Effektpiano 34.
Endpausen 31.
Erganzung zu Grundrhythmen 46.
Figuration stets aui'taktig 22, 43.
Puchs, Dr. C, Einleitung; 52.
Fiinftheiliger Takt 6, 14.
Gipfelnote, melodisolie 39.
Grundrlrythmen 35; in komplementarer Poly-
rhythmik 45.
Hauptmann, M., Einleitung; 1, 4, 6, 7, 43.
Harmonische Dynamik 41.
Harmonisohe Motive 41, 50.
Inbetonung 2, 4; der Untertheilung 17, 22.
Inkomplete Motive 8, 10, 12, 43.
Innenpausen 32.
Koch, H. Chr. 48, 49.
Kullak, A., Einleitung.
Komplementare Rhythmen 44.
Kiirze, asthetische Wirkung derselben 19;
nicht s Irwach, sondern starker zu geben 22.
Lange Note, asthetische Wirkung 12, 16, 35;
durch Polyrhythmik belebt 46.
Legato als natiirliche Form der Tonverbin-
dung 2.
Legatobogen und Phrasirungsbogen 52.
Legatovortrag der rhythmischen Formen VII.
Lesezeichen 1 ff., 55.
Lotze 12.
Lussy, M., Einleitung.
Melodievortrag (espressivo) 39.
Melodische Dynamik VIII, 38.
Melodische Motive 1, 8, 10, 39.
Metrik I; Fundament derselben 1.
Modi der alten Mensuralisten 35.
Monorhythmik 44.
Mordent, Dynamik desselben 40.
Motiv, metrisches 2; melodisches 8, 10, 39;
harmonisches 41, 50; Motiv als Einheit
hoherer Ordnung 7, 49.
Motivanfangsaccent 5.
Motivabgrenzung durch den dynamisehen
Nullpunkt4; durch eine Lange 12,16; durch
melodische Wendungen oder Spriinge 39.
Motivpausen 31.
Mozart, Leop. 20.
Nachahmung, Bedeutung derselben fur die
Phrasirung 50.
Nachschlage, Dynamik derselben 40.
Neuntheiliger Takt 10, 16, 17.
Novemole 30.
Nullpunkt, dynamischor 4, 41.
Oktolo 30.
Parallelmetra 43. 47.
Pausen 2, VI.
Pausenabbetonung 34.
Pausensynkopirung 33.
Phrasenanfangsaccent 49.
| Phrasenabgrenzung in polyrhythmischen
Bildungen 44; durch melodische Figureu
(Imitation) 50.
Phrasenverschrankung (durch Bogenkreuzung
angezeigt) 52.
Phrasirung X.
i Phrasirungsbogen, Einleitung; 1, 49, 52.
Piano, das Beethoven'sche 3-i.
Polymetrik 43.
Polyrhythmik IX.
Poetische und musikalische Metrik 2, 12, 35.
Pralltriller, Dynamik desselben 18.
Prokatalexis 49.
Punktirung 18, 20, 24; Verscharfung der-
selben 20.
Quartole 28, 30; polyrhythmisch 48.
Quadrupeltakt s. viertheiliger Takt.
Quint01° 29, 30; polyrhythmisch 48.
Rhythmik, Kap. II fl'.
Bhythmische Motive 12, 16, 20.
I Bhythmische Pausen 33.
Rhythm isches Aut'fassungsvermogen, Ver-
kiimmerung desselben, Einleitung, 6; prak-
tische Uebungen zu seiner Vervollkomm-
nung 18.
Schlussbildung 31, 43, 50.
Schlusspausen 31.
Schulz, J. A. P., Einleitung.
| Schwerpunkt, dynamischer, s. Dynamischer
Schwerpunkt.
Schleii'er, Dynamik desselben 40.
Sechstheiliger Takt 8.
Scchszehntheiliger Takt 9.
Seitenrhythmen 47.
Septimole 30.
Sequenzen 39, 42.
Sextole 30.
Sforzato furdieSynkopirung der dynamisehen
Hauptnote 12.
Siebentheiliger Takt 6, 14.
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Alphabetisches Inhaltsregister.
273
Verschiebung des dynamischen Schwer-
punktes 12, 39, 51.
Verzierungen, Dynamik derselben 40.
Vikarir^nde Schreibweise gemischter Rhyth-
men 19, 20, 21, 22, 48.
Viertheiliger Takt 7, 13, 18, 21, 22, 26.
Vierundzwanzigtheiliger Takt 40.
Volltaktigo Auffassung, Einleitung; 3, 9,
24, 44.
Volltaktigkeit s. Anbetouung.
Vorpausen (Anf'angspausen) 32, 43 44.
Vorschliige, Dynamik derselben 40.
Vorschlagsrhythmus 22, 24.
Wechsel der Tonhohe erleichtert die Auf-
fassung der dynamischen Schattirung 3.
Weiblicher Schluss 43.
Westphal, R., Einleitung; 49.
Wiederholtes Ansetzen des crescendo-Theils
der Phrase 49.
Wiederholung (meist abkiirzend) desPhrasen-
schlusses 49.
Zahleinheiten, Bedeutung der richtl^en Wahl
derselben 11, 19.
Zahlzeiten, Verschiebung derselben 27.
Ziihlpunkt hoherer Ordnung 2; in IJnter-
theilungen 19.
Zahlpausen 31, 32.
Zeitverlust, irrationaler, zur Scheidung der
der Motive 1.
Zweitripel-Takt (§) 8, 15, 17, 18, 22, 24, 36.
Zweitheiliger Takt 3, 12, 19, 22, 24, 44;
doppelt zweitheiliger Takt 7.
Zwolftheiliger Takt 10.
Zusammenziehung von Zahleinheiten II; ge-
mischt mit Untertheilungen 23; iiber-
greifend 24.
Silbeumessung und Silbenwagung 12, 35.
Staccato 2, 32; negatives 33.
Staccatovortrag der Rhythmen VII.
Suspension 33.
Synkope 12, 13, 22, 44; schwere u. loichte 13.
Synkopirung durch Pausen 33.
Takt (historische Namenserkliirung) 3.
Takthalten, strenges, als unmusikalisch 2.
Taktstrich 3; ob entbehrlich? 49.
Taktvorzeiclmung, niclit, stets in Ueberein-
stimmung mit der Motivbildung 7; Vor-
schlage zu einer Reform 11.
Temposchattirungen s. Agogik.
Tenuto (non diminuendo) 12, 20.
Tone als Vertreter von Pausen 31, 46.
Triole 27; polyrhythmisch 48; iibergreifend
(in alien Mensuralnotirungen) 19.
Tripeltakt s. dreitheiliger Takt.
Turk, D. G., Einleitung.
Ueberkomplete Motive 8, 10, 12, 43.
Umbetonung 4; scheinbare 5.
Umdeutung der metrischen Motive 8, 10, 12,
19, 20, 22, 3>.
IJntertheilungen von Zahlzeiten 19; zweiten
Grades 22, 48; gemischt mit Zusammen-
ziehungen 23; abweichende Untertheilung
von Zusammenziehungen V.
Untertheilungsmotive 22.
Vcrkoppelung verschiedener Taktarten (Im-
broglio) 47.
Vorkiirzungspausen 31, 32.
Verliingerung, agogische, des dynamischen
Haupttones 8. 22.
Verliingerung dissonanter Tone 41.
Verliingerung der Phrasen durch Sequenzen
etc. 49.
Rieuiann, Mils. Dynamik und Agogik.
18
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Verlag von
D. Rahter in Hamburg,
(A. Biittner in St. Petersburg.)
Vergleichende theoretisch-praktische
Eine Anweisung
zum Studium der hervorragendsten Klavier-Unterrichtswerke
nebst ergiinzenden Materialien
von
Dr. Hugo Riemann.
I. Theil: System (Darlegung der fur das Klavierapiel sowolil in mechanischer und technischer
als in iisthetischer Hinsicht massgebenden Prinzipien unter Vergleichung der An-
sichten der hervorragendsten iilteren und neueron Klavierpadagogen). XVI und
82 S. Buchdruck in 8°. Preis 2 Mark 50 Pf. netto.
II. Theil: Methode (Anweisung fur den Onterricht; Auswahl und Stufenfolge des Materials;
Spezialbetrachtungen fiber das Studium einzelner Schulwerke). IV und 120 S.
Buchdruck in 8°. Preis 2 Mark 50 Pf. netto.
I. Theil: Erganzende Materialien:
1.  Heft: Elementarschule. Gleichzeitige Erlernung der Violin- und Bassnoten.
Anfangsgriinde der Takt- und Vortragslehre, Einfiihrung in die Kenntniss
der Akkorde und Tonleitern. 39 S. gr. Musikformat. Preis 4 Mark netto.
Daraus separat: Tonleitern. Preis 1 Mark 50 Pf. netto.
2.  Heft: Technische Vorstudien zur Entwickelung der Kraft, Selbstilndigkoit
und Geliiufigkeit der Finger, zur Ausbildung der verschiedenen Anschlags-
arten und zur sicheren Beherrschung der dynamischen Schattirungen.
42 S. gr. Musikformat. Preis 4 Mark netto.
3.  Heft: Ornamentik. Anweisung fur die korrekte und stilgemiisse Ausfiihrung
der Verzierungen. 14 S. gr. Musikformat. Preis 1 Mark 50 Pf. netto.
4.  Heft: Rhythmische Probleme. Auswahl klassischer Beispiele mit Triolen,
Duolen, Quartolen, Quintolen und anderen Kombinationen. 15 S. gr.
Musikformat. Preis 1 Mark 50 Pf. netto.
Das Werk ist keine Klavierschule im gewohnlichon Sinne, d. h. nicht eine
Zusammeustellung des Materiales, dureh dessen Verarbeitung technische Meisterschaft und
kiinstlerische Bildung erworben wird, sondern nur ein Wegweiser zur Aul'findung dieses
Materiales und einBerather zur erfolgreiohen Benutzung desselben. Der dritte Theil steht
daher ausserhalb des Rahmens der eigentlichen Schule und bringt nur erganzende
Materialien, die nicht geschrieben worden wiiren, wenn die vorhandenen einsehlagigen Materialien
den Verfasser vollig befriedigt hlitten. Die Schule steht in innigerBeziehung zu derPhrasirungs-
Ausgabe des Verfassers, und bahnt systematisch das Verstiindniss der Gesetze der Phrasirung
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an. Die technischen Vorstudion erlialten eine charakteristische Physiognomie durch die
nachdrfickliche Betonung der dynamisohen Schattivungen im kleinsten Rahmen und der
verschiedenen Anschlagsmodifikationen. Neu ist auck die strenge Durchfuhrung des Prinzips
der Wechselfinger bei Tonrepetitionen. Wahrend diese ergiiiizenden Materialien fur die
Schuler bestiramt sind, wendet sich das Buoh (System ui^I Methode) an die Lelirer oder docli
die vorgeriiekteren Sehiiler, besonders solche, welehe selbst wieder unterrichten. Der erste
Theil stellt in fortlaufenden Anmerkungen die einander so oft schnurstracks zuwiderlaufenden
Vorsehriften der bekanntesten und angesehensten Sehulen zusammen, sodass der Text selbst
als das Resultat dieser Vergleiehung erscheint, doch nnter Wahrung einer bemerkenswerthen
Selbst'andigkeit in Kardinalfragen. Besonderes Iuteresse beanspruchen die Paragraphen
10 (Stil) und 11 (Phrasirung, Ausdruck). Der zweite Theil ist der eigentliche Leitfaden fur
den Unterricht, ventilirt zuniiohst die verschiedenen Ausgangsmoglichkeiten des Unterrichts
und fasst die Bekiimpfung der sich herausstellendenFehler bei bereits anderweit vorgebildeten
Schulern ins Auge, motivirt die Neuerungen der Elementarschule, giebt Vorschrift fur die
Benutzung der technischen Vorstudien und weist sodann die Wege durch die beste Studien-
litteratur (Etiiden und Stiicke). Dabei sind nur wenige Stufen unterschieden, namlich eine
Vorstufe, drei Schulklassen und eine vierte fiir den mehr akademischen Unterricht des
teehnisch und 'asthetisch gereiften Spielers. Die wichtigsten Etiidenwerke wie Czerny's
op. 299, 834, 740, 335, 355, 337, 365, Cramer's 84 Etiiden, dementi's Gradus sind eingehend
analysirt, fiir andere (Heller op. 46, 45, 90, 16, Berger, Moscheles, Reinecke, Chopin, Tausig,
Kullak etc.) sind werthvolle Winke gegeben. Eine besoudere Abtheilung bildet die Schule
des polyphonen Spiels, u. a. eine progressive Ordnung der Praludien und Fugen des Wohl-
temperirten Klaviers. Der sich auf das nothwendigste und werthvollste beschr'ankende Ffihrer
durch die zwei- und vierh'andige Litteratur, durch die Ensemblemusik und die Klavier-
konzerte wird denen willkommen sein, die bei iihnlichen Werken sich fiber das Zuviel
beklagen mussten. Den Abschluss bildet ein Hinweis auf die nothwendigste bildende Lektiire
auf musikhistorischem und asthetischem Gebiete.
Die Ausstattung des Werkes, aus der C. G. Roder'scben Offizin hervorgegangen, ont-
spricht den an das Aeussere eines Studienwerkes zu stellenden Anforderungen.
Bestellungen auf die vollstiindige Klavierschule sowohl als auf einzelne Theile und
Hefte nimmt jede Musikalien- oder Buchhandlung ontgegon.
Herr Dr. Hans von Bttlow schrieb dem Autor fiber die Schule;
Hochgeehrtor Herr!
Durch die gfitige Zusendung Hirer ,,vergleichenden theoretisch-praktischen Klavierschule"
haben Sie mich in eine hochuothpeinliche Verlegenheit gosetzt, Zu dem sich bei fortgesetzter
Einsichtnahme steigernden Aerger, nicht nach solch rationeller Methode unterrichtet worden
zu sein, wodurch mir viele Jahre dilettantischer Irrlichtelirerei erspart worden wiiren, gesellt
sich namlich noch das nicht minder herbe Bedauern, zn der von Ihnen gewfinschten Empfeh-
lung Hires wirklich urvortrefflichen piidagogischen Werkes gar nicht berechtigt zu sein.
Warum? fragen Sie. Weil ich mich, wie weit bedeutendere Celebritiiten, durch alberne
Gutmiithigkeit im Drange des Tagesverkehrs so hiinfig habe verleiten lassen, mein Zeugniss
zu Gunsten so vieler mittelmassigen Publikationcn dieser Gattung zu kompromittiren. Ihr
System, noch mehr Hire Methode, in welchen ein so geliiutert kritischer Eklektizismus
dominirt, dass alio Einwiinde, Ausstellungen von vornherein „abfallen" mfissen, fiberragen
nicht nur die Arbeiton Hirer Vorgiingei' um ein gutes Vierteljahrhundert, nein sie kassiren
dieselben. Wohl hatte ich von dem Autor, als einem der wenigen Musikpiida-
gogen, welehe sich riihmen kounen, mit der ganzen Bildung ihrer Zeit be-
waffnet zu sein, ein bedeutendes reifes Werk erwartet: die Vereinigung von
so viel Griindlichkeit, Priizision, summarischer Tfichtigkeit und minutioser
Feinheit in Darlegung wie Losung aller erdenklichen Problome der Kunst des
Klavierspieles hatte ich nieht erwartet.
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b\
Naehst Matliis Lussy's „Traite" de l'expression musicale", insonderheit des funften
Kapitels, „de raccentnation rhythmique", habe ich seit Jahren keine so erba"liche, be-
friedigende, von Anfang bis Ende hochinteressante Lektiire genossen. Ihre Theor^ ist keine
„graue", sie enthiilt die goldenste Praxis. Nehmen Sie meinen Gliickwunsch zu dem frucht-
baren Ergebnisse Hires vieljahrigen Sinnens und Traohtens, welcher Gliickwunsch sich natiirlich
auf alle diejenigen Lehrenden und Lernenden ausdehnt, welche von dem Erscheinen Ihror
„vergleicbenden Klavierschule" so viel Gewinn ziehen, als es ihnen ihre Fiihigkeiten erlauben.
Mit vorziiglicher Hoehachtung
Ihr ergebenster
H. v. Bttlow.
Hamburger Naclirichten: „Es ist in unserer Zeit, die fin- Unterrichtszwecke
im Pianof'ortespiel seit einigen Jahrzehnten Massen von bedeutenden oder geringeren
Lehrwerken geliefert hat, eine ausserst schwierige Aufgabe, neue Methoden der Unter-
weisung zu erfinden und zu begriinden, denn alles erdenkbare Gute und Niitzliche ist
schon gesagt worden. Der Verfasser des vorliegendeu Werkes erhebt jedoch nicht den
Anspruch, eine ganz neue Schule zu stiften und alles Vorausgegangene als unbrauchbar zu
verwerfen, er beabsichtigt nur, in seinem Buche die einander widerspi-echenden Ansichten
fiber die einzelnen Zweige der Klavier-Padagogik und -Technik zusammenzustellen und den
Lehrer event. Schfiler auf die bequemste Weise mit den strittigen Problemen vertraut zu
machen. Eine lange Praxis als Lehrer und die genaueste Bekanntschaft mit den Klavier-
Lehrwerken ersten Ranges befahigen zur Erreichung des in vorrigem Satze angedeuteten
Zweckes und die Durchsicht und Priifung der theoretisehen Entwickelungen, sowie der Noten-
Materialien uberzeugen, dass das Gewollte vollkommen erlangt ist und zwar nicht bloss in
einer mechanischen Zusammenstellung der Hauptsiitze friiherer Methoden,
sondern in der Scharf'sinnigkeit und Ueborlegung eiues denkenden Lehr-
meisters, der mit dem auf theoretisehen und praktischen Wege Gefundenen
das vorhandene Lehrmaterial ergilnzt und ihin auch Neues hinzufiigt. Da das
Buch schon im Konservatorium der Musik in Hamburg eingefuhrt ist, wurden ihm die ersten
Wege der Verbreitung geoffnet; sie werden sich bald weiter ausdehnen, sowohl dureh den
Inhalt des Lehrwerkes selbst, als durch den angesehenen und beglaubigten Namen seines
Verfassers."
                                                                                                 A. F. Riccius.
Musikalisches Wochenblatt, Leipzig: „Im Allgemeinen habe ich fiber den Text
dieser Schule zu sagen, dass derselbe kurz und bfindig, von logischer Schilrfe, dabei leicht
verstandlich ist und stets den Nagel auf den Kopf triff't. Alles unnothige Aesthetisiren ist
vermieden, aus jeder Zeile spricht der vortreff'liehe Musiker und denkende Padagog, aus
jedem Worte Ernst und heilige Ueberzeugung. Der Verfasser stfitzt sich bei seinen Aus-
spriichen auf die Lehren alter und neuer Meister des Unterrichts, wie Ph. Em. Bach, Turk,
A. E. Miiller, Hummel, Kalkbrenner u. s. w., entwickelt aber dabei neue Ansichten, die sein
eigenstes Eigen sind."
                                                                                             Aldorf.
Pfidngogischer Jahresfoericht: „Das bedeutsamste Werk, was auf unserem Gebiete
im letzten Jahre erschienen ist. Es wird voraussiehtlich fur liingere Zeit seine Bedeutung
behalten."
Druuk von C. G. Koder in Leipzig.
A