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CHARLOTTE; VON STEIN UND
CHRISTIANE VULPlUS SI^ÄTErRE
VON OOETHE IN GOETHES LYRIK

VON

J. C DE BUISONJÉ

1923

C A. J. VAN DISHOECK - BUSSUM - NIEDERLANDE

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CHARLOTTE VON STEIN UND
CHRISTIANE VULPIUS SPÄTERE
VON GOETHE IN GOETHES LYRIK

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CHARLOTTE VON STEIN UND
CHRISTIANE VULPIUS SPÄTERE
VON GOETHE IN GOETHES LYRIK

PROEFSCHRIFT TER VERKRIJGING VAN DEN GRAAD VAN
DOCTOR IN DE LETTEREN EN WIJSBEGEERTE AAN DE
RIJKS-UNIVERSITEIT TE UTRECHT OP GEZAG VAN DEN
RECTOR MAGNIFICUS
MR. J. C. NABER, HOOGLEERAAR
IN DE FACULTEIT DER RECHTSGELEERDHEID VOLGENS
BESLUIT VAN DEN \'SENAAT DER UNIVERSITEIT TEGEN DE
BEDENKINGEN VAN DE FACULTEIT DER LETTEREN EN
WIJSBEGEERTE TE VERDEDIGEN OP VRIJDAG 1 JUNI
1923, DES NAMIDDAGS TE 4 UUR, DOOR
JOHANNES
CORNELIS DE BUISONJÉ H.Z
.ZN., GEBOREN

TE NIEUWEDIEP, GEMEENTE HELDER, NOORD-HOLLAND

1923

C. A. J. VAN DISHOECK - BUSSUM - NIEDERLANDE

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Het zij mij vergund bij het verschijnen van dit proefschrift mijn
dank te betuigen aan allen, die mij op eenige wijze tot het vol-
brengen van deze aangename taak in staat stelden,

in het bijzonder dank aan Professor dr. J. J. A. A. Frantzen,
mijn Hooggeëerden Promotor, voor zijn lessen aan de Universiteit
van Amsterdam, zijn privatissima aldaar en zijn welwillende aan-
wijzingen bij dezen arbeid,

aan Professor dr. B. Symons en Professor dr. G. Heymans voor
hun lessen aan de Universiteit te Groningen,

aan Professor J. H. Schölte voor den toegang, die mij door zijn
bemiddeling tot de boekerij van het Duitsche Seminarium der
Universiteit van Amsterdam werd verleend,

aan Ph. Corbach te Königswinter, Y. van Julsingha te Amster-
dam en A. van Dissel te Deventer voor hun onderricht

en ten slotte herdenk ik dankbaar wijlen Lector H. Pol te
Groningen en J. Klein te Eller-Düsseldorf.

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INHALTSVERZEICHNIS.

Quellen und Hilfsmittel...............xv—xx

Einleitung............................................1_4

Erster Abschnitt. Goethe in seiner letzten Frankfurter

Zeit. Eine Übersicht................................5—16

Zweiter Abschnitt. Frau Oberstallmeister von Stein, ehe

Goethe nach Weimar kam. Eine Übersicht......17—22

Dritter Abschnitt. Charlotte von Stein in Goethes Lyrik.
Verzeichnis samt Besprechung der lyrischen Gedichte

Goethes, welche sich auf Charlotte von Stein beziehen 23—84

1. Jägers. Abendlied. Im Felde schleich\' ich.....23

2. Wanderers Nachtlied. Der du von dem Himmel . . 25

3. Warum gabst du uns . .............26

4. Rastlose Liebe, Dem Schnee, dem Regen.....28

5. Hier bildend nach der reinen stillen........29

6. Und ich geh meinen alten Gang.........29

7. Zwischen Felsen wuchsen hier..........30

8. Ach, so drückt mein Schicksal mich...... 31

9. Ach, wie bist du mir..............31

10. Hierhergetrabt, die Brust............32

11. Ich bin eben nirgend . .............32

12. An den Geist des Johannes Sekundus. Lieber, heiliger
groszer Küsser.................
33

13. Was mir in Kopf und Herzen stritt.......35

14. An den Mond. Füllest wieder Busch und Tal . . . 36

15. Mit einer Hiazynthe. Aus dem Zaubertal.....44

16. Warnung. So wie Titania im Feen- und Zauberland 45

17. Zum neuen Jahr. 1779. Du machst die Alten ... 46

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18. Deine Grüsze hab\' ich wohl erhalten.........47

19. Man will\'s den Damen übel deuten .........48

20. Der vierte Theil meiner Schrifften. Berlin 1779 bey
Himburg. Langverdorrte, halbverweste Blätter vor\'ger
Jahre.......................49

21. Gesang der Geister über den Wassern.........

Des Menschen Seele . . . . .............49

22. Ein gleiches. Über allen Gipfeln ............51

23. a. Ein jeder hat sein Ungemach...........52

b. Es fähret die poet\'sche Wut ...........

24. Meine Göttin. Welcher Unsterblichen.........54

25i Elfenlied. Um Mitternacht, wenn die Menschen .... 55

26. Zum Tanze schick\' ich dir den Strausz........56

27. Aus Kötschaus Toren reichet euch...........57

28. Sag\' ich \'s euch, geliebte Bäume...........57

29. Versuchung. Reichte die schädliche Frucht......57

30. Nachtgedanken. Euch bedaur\' ich..........60

31. Lasz dir gefallen..................62

32. Der Becher. Einen wohlgeschnitzten vollen......63

33. An Lida. Den Einzigen, Lida, welchen du .......65

34. Das Gänslein rot im Domino.............66

35. 0 Kinder, still! reicht meinen Lehren ........66

36. Ferne. Königen, sagt man..............67

37. Arm an Geiste kommt heut\'.............67

38. Als der Undankbare floh................67

39. Frage nicht nach mir................68

40. Erwählter Fels. Hier im stillen gedachte.......69

41. Man lauft, man drängt...............69

42. Philomele. Dich hat Amor gewisz ..........70

43. Von mehr als einer Seite verwaist..........70

44. Bin so in Lieb\' zu ihr versunken...........72

45. Herzlich bat ich die Muse..............72

46. Epigramm. Was ich leugnend gestehe ........73

47. Ein anderes. Felsen sollten nicht Felsen .......73

48. Gewisz, ich wäre schon so ferne, ferne........74

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49. Zueignung. Der .Morgen i<am; . . ..............76

50. Die Geheimnisse. Ein Fragment. Ein wunderbares
Lied ..................................77

5L Warnung. Wecke den Amor nicht auf............79

52. Woher sind, wir geboren?........................80

53. Dasz du zugleich mit dem heil\'gen Christ .... 81

54. Für ewig. Denn, was der. Mensch................82

55. Zwischen beiden. Welten. Einer Einzigen angehören 83

56. Am acht und zwanzigsten August 1826. Des
Menschen Tage sind verflochten . .............83

Vierter Abschnitt. Goethe vom November 1775 bis

zum Juli 1788. Eine Übersicht....................85—107

Fünfter Abschnitt. Christiane Vulpius spätere von
Goethe in Goethes Lyrik. Verzeichnis samt Bespre-
chung der lyrischen Gedichte Goethes, welche sich

auf Christiane. Vulpius spätere von Goethe beziehen 108—201

Vorbemerkung..................108

1. Morgenklagen. 0 du. loses, .leidigliebes..............109

Der Besuch. Meine Liebste wollt\' ich......III

Frech und froh.. Liebesqual verschmäht.....113

Süsze Sorgen. Weichet, Sorgen, von mir! ... . 114
Vorbemerkung zu den angeführten Römischen

Elegien. 115
Elegien. Erstes Buch. Römische Elegien II. Ehret,

wen ihr auch wollt!...............118

Römische Elegien.
III. Lasz dich, Geliebte............121

7. IV. Fromm sind wir..............122

8. IX. Herbstlich leuchtet............125

9. X. Alexander und Cäsar ...........126

10. XII. Hörest du, Liebchen...........127

11. Xlll. Amor bleibet ein ............127

12. XV. Cäsarn wär\' ich wohl..............128

13. XVL Warum bist du, Geliebter........129

14. XVin. Eines ist mir verdrieszlich .......130

2.

3.

4.

5.

6.

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15. XIX. Schwer erhalten wir.............133

16. XX. Zieret Stärke den Mann............136

17. Zwei gefährliche Schlangen . ............... . . 137

18. Hier ist .mein Garten bestellt............138

19. Weit und schön ist die Welt............139

20. Venezianische Epigramme Cl. Ach, mein Hals ist . . 139

21. Ach! sie neiget das Haupt.............140

22. Wonniglich ist\'s, die Geliebte............140

23. Venezianische Epigramme.

III. Immer , halt ich .................143

24. X. Warum treibt sich...............143

25. XIII. Süsz,. den sprossenden Klee..........144

26. XXVI. Schläfst du noch immer...........145

27. XXVII. Alle Neun.................145

28. XXVIII. Welch ein Mädchen ich wünsche......146

29. XXXI. Das ist dein eigenes Kind nicht.......146

30. XXXIVa. Oft erklärtet .ihr euch als Freunde .... 147

31. IL. Wiszt ihr........................................148

32. LXXXIV. Göttlicher Morpheus, umsonst ......148

33. LXXXV. Liebe flöszest du ein...........148

34. LXXXVL Ha! ich kenne dich, Amor........149

35. LXXXVII. Eine einzige Nacht an\'deinem Herzen! . . 150

36. XC. Welch ein lustiges Spiel! ...........150

37. XCl. 0 wie achtet\' ich sonst auf alle........151

38. XCn. Sage, wie lebst.du?....................................151

39. XCIII. Götter, wie soll ich euch danken!.......152

40. XCIV. In der Dämmrung des Morgens .......152

41. XCVI. Glänzen sah ich das Meer..........153

42. XCVIII. Arm und kleiderlos war...........154

43. XCIX. Oftmals hab\' ich geirrt...........154

44. C. Traurig, Midas, war dein Geschick........154

45. ein. Und so tändelt\' ich mir................155

46. Lange sucht\' ich ein Weib mir...........155

47. Ob erfüllt sei was Moses und die Propheten.....156

48. Alle Weiber sind Waare..............157

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49. An den Herzog Karl August. Weimar, 24 März 1791.

Zu dem erbaulichen Entschlusz ..........157

50. An Christiane Vulpius. Karlsbad, 15 Juli 1795. Von
Osten nach Westen . . . ...............158

51. Die Spinnerin. Als ich still und ruhig spann.....159

Vorbemerkung zu den aus den Vier Jahreszeiten ange-
führten Distichen...............160

Vier Jahreszeiten.

52. Frühling IV. Viele der Veilchen zusammengeknüpft . . 161

53. Sommer XIX. Grausam erweist sich Amor an mir . . 161

54. Sommer XX. Manuskripte besitz\' ich........162

55. Sommer XXI. Wie im Winter die Saat . ......162

56. Sommer XXII. Immer war mir das Feld.......162

57. Sommer XXIII. Raum und Zeit . .....................163

58. Sommer XXIV. Sorge! sie steiget mit dir zu Rosz . . 163

59. Sommer XXV. Neigung besiegen-ist schwer.....164

60. Sommer XXVll. Sie entzückt mich .........164

61. Sommer XXVIII. Alle Freude des Dichters .....165

62. Sommer XXIX. Ein Epigramm sei zu kurz......166

63. Sommer XXXI. Kennst du die herrliche Wirkung. . . 167

64. Sommer XXXII. Das ist die wahre Liebe......167

65. Sommer XXXlll. Alles wünscht\' ich zu haben .... 168

66. Sommer XXXV. Warum bin ich vergänglich, o Zeus? .
Sommer XXXVI. Und die Liebe, die Blumen.....168

67. Sommer XXXVll. Leben musz man und lieben .... 168
Elegien.

68. Zweites Buch. Alexis und Dora. Ach! unaufhaltsam
strebet das Schiff..................169

69. Zweites Buch. Hermann und Dorothea. Also das wäre
Verbrechen.....................171

70. Zweites Buch. Der neue Pausias und sein Blumen-
mädchen. Schütte die Blumen nur her.......173

71. Der Gott und die Bajadere. Indische Legende. Mahadöh,

der Herr der Erde.................175

72. Zweites Buch. Amyntas. Nikias, trefflicher Mann. . . 178

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73. Antiker Form sich nähernd. Schweizeralpe. War
doch gestern dein Haupt............182

74. Gott und Welt. Die Metamorphose der Pflanzen.
Dich verwirret, Geliebte .............182

75. Ich wüszte nicht, dasz ich....... . . . » 185

76. Gesellige Lieder. Die Lustigen von Weimar. Don-
nerstag nach Belvedere.............186

77. Gesellige Lieder. Gewohnt, getan. Ich habe geliebet,

nun lieb\' ich erst recht!............187

78. Lieder. Gefunden. Ich ging im Walde......189

79. Wanderers Gemütsruhe. Übers Niederträchtige . . 190

80. Epigrammatisch. Vertrauen. Was krähst du mir . 192

81. Lyrisches. Frühling übers Jahr. Das Beet, schon
lockert .......................192

82. Zahme Xenien VII. Das Publikum. Wir haben dir
Klatsch....................193

83. Inschriften etc. Den 6. Juni 1816. Du versuchst, o
Sonne, vergebens...............197

84. Zahme Xenien IV.

Ich wünsche mir eine hübsche Frau......

Wäre Gott und Eine . . \'...........

Gott hab\' ich und die Kleine . .......

So laszt mir das Gedächtnis..........198

85. Zahme Xenien IV.

Sie betrog dich geraume Zeit..........

Betrogen bist du zum Erbarmen........201

Sechster Abschnitt. Goethes Ehe. Einß Übersicht . . 202—214
Siebenter Abschnitt. Schluszbemerkungen.......215

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QUELLEN UND HILFSMITTEL.

Bauer, KarL Goethes Kopf und Gestalt. Sonderheft der Stunden
mit Goethe. Mit Abbildungen im Text und zweiunddreiszig Bild-
nistafeln. E. S. Mittler und Sohn. Berlin 1908.

Baum gart, Hermann. Goethes „Geheimnisse" und seine
„Indischen Legenden". Verlag der J. G. Cotta\'schen Buchhand-
lung Nachfolger Stuttgart 1895.

Beunke, Fr. A. Christiane von Goethe. Goethes Christiane-
Gedichte mit einem Vorworte. Verlag von C. M. B. Dixon und Co.
Apeldoorn. (Niederlande) 1913.

Biedermann, Flodoard Frhr. von. Goethes Gespräche Gesamt-
ausgabe neu hrsg. unter Mitwirkung von Max Morris, Hans
Gerhard Gräf und Leonhard L. Mackall. Band 1—5. F. W. v.
Biedermann. Leipzig 1909—1911-

Bielschowsky, dr. Albert. Goethe. Sein Leben und seine Werke
2 Bde. 8. Aufl. 24—26. Tausend. C. H. Beck\'sche Verlagsbuch
handlung. Oskar Beck, München. 1905.

Bode, Wilhelm. Charlotte von Stein. Neubearbeitete und ver
mehrte Auflage. 9—10 Tausend. E. S. Mittler & Sohn. Berlin 1912

Bode, Wilhelm. Die Tonkunst in Goethes Leben. 2 Bde. Mit 10
Bildnissen. E. S. Mittler & Sohn. Berlin 1912.

Bode, Wilhelm. Goethe in vertraulichen Briefen seiner Zeitge
nossen. Auch eine Lebensgeschichte. Im alten Reiche 1749

llUOOVAi* * »MV.** ^AAAV «V- -

1803. Die Zeit Napoleons 1803—1816. E. S. Mittler & Sohn
Berlin S. W. 68. 1921.
Bode, Wilhelm. Goethes Liebesleben. E. S. Mittler & Sohn.

Berlin 1919.

Bode, Wilhelm. Goethes Sohn. Mit 16 Bildnissen. E. S. Mittler
Sohn. Berlin 1918.

-ocr page 20-

Bode, Wilhelm. Weib und Sittlichkeit in Goethes Leben und

Denken. E. S. Mittler & Sohn. Berlin 1916.
Boy-Ed, Ida. Das Martyrium der Charlotte von Stein. Versuch
ihrer Rechtfertigung. 8—10 Aufl. J. G. Cotta\'sche Buchhandlung
Nachfolger. Stuttgart und Berlin 1920.
Chamberlain, Houston Stewart. Goethe. 3 Aufl. Verlag v. F.

Bruckmann A. G. München 1921.
Croce, Benedetto. Goethe. Mit Genehmigung des Verfassers ver-
deutscht von Julius Schlosser. Amalthea-Bücherei. 14 Bnd.
Amalthea-Verlag. Zürich. Leipzig, Wien, o. J.
Dilthey, Wilhelm. Das Erlebnis und die Dichtung. Lessing.
Goethe. Novalis. Hölderlin. 4 Aufl. Verlag. B. G. Teubner Leipzig.
Berlin. 1913.

Düntzer, Heinrich. Charlotte von Stein und Corona Schröter.
Eine Vertheidigung. Verlag der J. G. Cotta\'schen Buchhandlung.
Stuttgart 1876.

Eckermann, Johann Peter. Gespräche mit Goethe in den letzten
Jahren seines Lebens. Mit einleitender Abhandlung und An-
merkungen von Otto Roquette. 3 Bnde. J. G. Cotta\'sche Buch-
handlung Nachfolger. G. m. b. H. Stuttgart, o. J.
Federn, Etta, Christiane von Goethe. Ein Beitrag zur Psychologie
Goethes. Mit 16 Bildern. 2. Aufl. 5—9. Tausend. Delphin-Verlag.
München. [1916].
Fränkel, Jonas. Marginalien zu Goethes Briefen an Charlotte

von Stein. Verlegt bei Eugen Diederichs. Jena. 1909.
Goethes Briefe an Frau von Stein nebst dem Tagebuch aus Italien.
4 Bnde. Mit Einleitung von K. Heinemann. Verlag der J. G.
Cotta\'schen Buchhandlung. Nachf. Stuttgart, o. J,
Goethe-Handbuch. Hrsg. v. Julius Zeitler. 3 Bnde. J. B. Metz-

lersche Buchhandlung in Stuttgart. 1916.
Goethe-Jahrbuch. Hrsg. v. Ludwig Geiger. Bd. 1—34. Nebst
Gesamtregister 1—3. Literarische Anstalt Rütten & Loening.
Frankfurt a. M. 1880 f.
Goethes Mutter. Briefe von —. Mit einer Einleitung Christiane

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und Goethe neu hrsg. v. Philipp Stein. Druck und Verlag von
Philipp Reclam jun. Leipzfg. o. J.
Goethe und F. H. Jacobi. Briefwechsel zwischen —. Hrsg. von

Max Jacobi. Weidmann\'sche Buchhandlung. Leipzig. 1846.
Goethes Briefe an Charlotte von Stein. Hrsg. von Julius Petersen

3 Bände. Im Inselverlag zu Leipzig. 1907.
Goethes sämtliche Werke. Jubiläums-Ausgabe in 40 Bänden
nebst Register hrsg. von Eduard von der Hellen. J. G. Cotta\'sche
Buchhandlung Nachfolger. G. m. b. H. Stuttgart und Berlin.
0. J. [1902—1912].

Anmerkung: In nachstehender Arbeit wird die Jubiläums-
Ausgabe zitiert als J. A.
Goethes Werke. Hrsg. im Auftrag der Groszherzogin Sophie von
Sachsen. I—IV. Abtheilung. Hermann Böhlau Weimar. 1887 f.
Anmerkung: In nachstehender Arbeit wird diese Ausgabe
zitiert als W. A.
Goethes Briefwechsel mit seiner Frau. Hrsg. von Hans Gerhard
Gräf. 1 Bnd. 1792—1806. Mit 6 Bildertafeln etc. 2 Bnd. 1807—
1816. Mit 6 Bildertafeln. Literarische Anstalt. Rütten & Loening.
Frankfurt a. M. 1916.
Gräf, Hans Gerhard. Goethes Liebesgedichte. Im Insel-Verlag
zu Leipzig 1920.

Gräf, Hans Gerhard. Goethe über seine Dichtungen. Versuch
einer Sammlung aller Äuszerungen des Dichters über seine poe-
tischen Werke. Epos. Drama. Lyrik. 9 Bände. Literarische Anstalt.
Rütten & Loening. Frankfurt a. M. 1901—1914.
Gräf, Hans Gerhard. Groszherzog Wilhelm Ernst Ausgabe.
Goethes lyrische und epische Dichtungen. 2 Bände. [In zeitlicher
Folge]. Im Insel-Veriag. Leipzig. 1920.
Grimm, Herman. Goethe. Vorlesungen gehalten an der Kgl.
Universität zu Beriin. 2 Bände. 7 Aufl. J. G. Cotta\'sche Buch-
handlung Nachfolger. Stuttgart und Beriin. 1903.
Gundolf, Friedrich. Goethe. 7. unveränderte Aufl. 14—16. Tau-
send. Bei Georg Bondi in Beriin. 1920.
Harnack, Otto. Die klassische Ästhetik der Deutschen. Würdi-

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XVI II

gung der kunsttheoretischen Arbeiten Schiller\'s, Goethe\'s und
ihrer Freunde. J. C. Hinrichs\'sche Buchhandlung. Leipzig. 1892,

Harnack, Otto. Goethe in der Epoche seiner Vollendung. 1805—
1832. Versuch einer Darstellung seiner Denkweise und Weltbe-
trachtung, 3. verbesserte Auflage. J. C, Hinrichs\'sche Buchhand-
lung. Leipzig. 1905,

Hehn, Viktor. Gedanken über Goethe. 6. durchgesehene Aufl.
Gebrüder Borntraeger, Berlin. 1906.

Hehn, Viktor. Über Goethes Gedichte. Aus Hehns Nachlasz, hrsg,
V. E. V. d. Hellen. 2. Aufl. J. G. Cotta\'sche Buchhandlung Nach-
folger. Stuttgart und Berlin. 1912.

Hellen, Eduard von der. Goethes Briefe ausgewählt und in chro-
nologischer Folge mit Anmerkungen hrsg, v. — 6. Bände. J. G.
Cotta\'sche Buchhandlung. Nachf. Stuttgart und Berlin. [1901—
1913].

Hofer, Klara. Goethes Ehe. 1—3. Aufl. J. G. Cotta\'sche Buch-
handlung Nachf. Stuttgart und Berlin. 1920.

Jahrbuch der Goethe-Gesellschaft. Hrsg. von Hans Gerhard
Gräf. Verlag der Goethe-Gesellschaft. In Kommission beim Insel-
Verlag zu Leipzig. 1914 f.

J. A. = s. 0. Goethes sämtliche Werke, Jubiläums-Ausgabe etc.

Leitzmann, Albert. Kleine Texte für Vorlesungen und Übungen
hrsg.
V. Hans Leitzmann. 100. Goethes Römische Elegien nach
der ältesten Reinschrift, A. Marcus und E. Weber\'s Verlag,
Bonn. 1912.

Litzmann, Berthold. Goethes Lyrik. Erläuterungen nach künstle-
rischen Gesichtspunkten. Ein Versuch. Egon Fleischel & Co.
Berlin. 1903.

Loi se au, H. L\'évolution morale de Goethe. Les années de Hbre
formation 1749—1794. Felix Alcan, éditeur. Paris. 108 Boule-
vard Saint-Germain. 1911.

Lucka, Emil. Die drei Stufen der Erotik. 12—15 Aufl. Schuster
& Loeffler in Berlin 1920.

Ludwig, Emil. Goethe. Geschichte eines Menschen. 3 Bände.

-ocr page 23-

J. G. Cotta\'sche Buchhandlung Nachfolger. Stuttgart und
Berlin. 1920.

Meester, Joh. de. Goethes liefdeleven. Em. Querido. Amster-
dam 1921.

Mend he im, Max. Goethe. Das Tagebuch (1810). Vier unter-
drückte Römische Elegien. Nicolai auf Werthers Grab. Wort-
getreue Neudrucke. Mit einer literar-historischen Einleitung unter
Benutzung eines bisher unbek. Briefwechsels. Verlag v. Adolf
Weigel. Leipzig. 1910.

Meyer, Richard M. Goethe. Mit 14 Bildnissen etc. 2 Bände.
3. vermehrte Aufl. Ernst Hofmann & Co. Berlin 1905.

Möbius, P. J. Goethe. 2 Theile. 3. unveränderte Auflage. Verlag
V. Johann Ambrosius Barth. Leipzig 1909.

Morris, Max. Goethe-Studien. 2 Bände. 2. veränderte Aufl. Verlag
von Conrad Skopnik. Berlin. 1902.

Riemer, Friedrich Wilhelm. Mittellungen über Goethe. Auf Grund
der Ausgabe von 1841 und des handschriftlichen Nachlasses
hrsg. von Arthur Pollmer. Mit 23 Abbildungen. Im Insel-Verlag
zu Leipzig. 1921.

Sa ran. Franz. Melodik und Rhythmik der „Zueignung" Goethes.
Verlag von Max Niemeyer. Halle a. S. 1903.

Schaeffer, Emil. Goethes äuszere Erscheinung. Literarische und
künstlerische Dokumente seiner Zeitgenossen. Im Insel-Verlag zu
Leipzig. 1914.

Schiller und Goethe, Briefwechsel zwischen. Mit Einleitung von
Franz Muncker. 4 Bnde. J. G. Cotta\'sche Buchhandlung Nach-
folger. Stuttgart und Berlin. [1892].

Schmidt, Erich. Charakteristiken. Erste Reihe. 2 Aufl. Weld-
mannsche Buchhandlung. Berlin. 1902.

Schrempf, Christoph. Goethes Lebensanschauung in ihrer ge-
schichtlichen Entwickelung. 2 Teile. Fr. Frommanns Verlag
(E. Hauff). Stuttgart. 1905.

Schriften der Goethe-Gesellschaft. Verlag der Goethe-Gesell-
schaft. Weimar. 1885 f.

Seillifere, Ernest. Charlotte von Stein und ihr antiromantischer

-ocr page 24-

Einflusz auf Goethe. Autorisierte Übersetzung von Lydia Jacobs.
Hermann Barsdorf Verlag. Berlin. 1914.
Sie vers, Eduard. Rhythmisch-Melodische Studien. Vorträge und
Aufsätze. Heidelberg. CarlWinter\'sUniversitätsbuchhandlung 1912.
Simmel, Georg. Goethe. 3. Aufl. Verlag von Klinkhardt & Bier-
mann. Leipzig. 1918.
Stein, Charlotte A. E. von -Kochberg geb. von Schard. Dido.
Ein Trauerspiel in fünf Aufzügen. (1794). Hrsg. von Heinrich
Düntzer. Verlag des Freien Deutschen Hochstiftes. (Leipzig, F.
A. Brockhaus). Frankfurt a. M. 1867.
Top Naeff. Charlotte von Stein. Een Episode. Em. Querido.

Amsterdam, 1921.
Vosz, Lena. Goethes unsterbliche Freundin. (Charlotte von Stein).
Eine psychologische Studie an der Hand der Quellen. Mit 8
Tafeln. Verlag von Klinkhardt & Biermann in Leipzig. 1921.
W. A. = s.
0. Goethes Werke. Hrsg. im Auftrag der Groszherzogin

Sophie von Sachsen, etc.
Weiszenfels, Richard. Goethe im Sturm und Drang. 1. Band.

Max Niemeyer. Halle. 1894.
Witkop, Philipp. Frauen im Leben deutscher Dichter. U. a.
Elisabeth Goethe. Cornelia Goethe. Christiane von Goethe. Frie-
derike Brion. Ulrike von Levetzow. H.\'Haessel Verlag Leipzig 1922.
Witkowski, Georg. Goethe. 2. umgearbeitete Aufl. Verlag von
E. A. Seemann in Leipzig. 1912.

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EINLEITUNG.

„Natur- und Kunstwerke lernt man nicht kennen, wenn sie
„fertig sind; man musz sie im Entstehen aufhaschen, um sie
„einigermaszen zu begreifen."

Goethe an Zelter, den 4. Aug. 1803.

Wie gigantisch die auf uns gekommene literarische Hinterlassen-
schaft Goethes auch sei, sie ist vom ganzen Goethe nur Fragment.
Wer als Philosoph wie Georg Simmel, mit künstlerischer Konge-
nialität wie Friedrich Gundolf, mit vielumfassenden literarhistori-
schen Kenntnissen wie Erich Schmidt an Goethe herantritt — nur
ein paar Namen aus dem Heere der Goetheforscher und -deuter
seien hier genannt — ein jeder wird gestehen müssen, dasz wir
Goethe in keiner Periode seines langen Lebens, dem tiefsten Wesen
nach, kennen, dasz wir nur soweit er uns in sich hineinblicken läszt
und wir mit ihm verwandt sind, über die Verborgenheiten seines
Innern zu urteilen versuchen können.

So ist denn zwar das richtige Verständnis Goethes aus seinen
Werken, Tagebüchern, Briefen und aus den Berichten seiner Zeit-
genossen über ihn das hohe Ziel der Kritik, es läszt sich aber infolge
der Beschaffenheit der Mittel nur annähernd erreichen. Mag schon
der Literarhistoriker das Streben nach absoluter Objektivität als
erstes Gebot anerkennen, er ist unentrinnbar durch seine Subjek-
tivität gebunden, denn jeder Kritiker urteilt aus dem Gehäuse
eigener Individualität heraus über auszerhalbliegende Phänomene,
wie überhaupt kein Urteil auf irgend einem Gebiete von der indi-
viduellen Basis loszulösen ist. Diesem Schicksal entgeht der Ver-

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fasser nachstehender Abhandlung nicht, wenn er von bestimmten
lyrischen Gedichten Goethes ausgehend, möglichst tief in die
entsprechenden Erlebnisse des Dichters eindringen will. Man darf
so verfahren, nicht nur weil der Dichter zu wiederholten Malen
seine Schriften als Konfession, als Zustands- und Gelegenheits-
dichtung gedeutet hat, weil er ausdrücklich das Gelegenheitsgedicht
die erste und echteste aller Dichtarten nennt, sondern auch weil
die Kritik diese Goethesche Ansicht im allgemeinen bestätigt hat.

Goethe ist der Dichter der eigenen Innerlichkeit. Lyriker ist er.
Lyrik ist der mütterliche Nährboden, aus dem die ganze Goethesche
Dichtung erwuchs. Es gibt in seiner hier behandelten Poesie zwei
Hauptarten, die gelegentlich als primäre und sekundäre Lyrik be-
zeichnet werden. Im allgemeinen läszt sich sagen: die primäre Lyrik
zeigt sich anfangs mehr und deutlicher als später, wo das Primäre
als Kern von sich absetzenden, verwandten Bestandteilen fremder
Herkunft umhüllt wird. Goethes primäre Lyrik weist volkslieder-
artige Züge auf und hat schon zu seinen Lebzeiten vielfach zur
Vertonung gereizt. Seine sekundäre Lyrik ist vorwiegend elegisch,
idyllisch, satirisch, didaktisch und zeigt besonders Spuren der
Reflexion über das Ästhetische. Auch das lyrisch-epische und
lyrisch-dramatische Genre, sowie die lyrische Ballade sind ver-
treten. Das weltliche Element herrscht vor, wenn auch bedeutende
freireligiöse Faktoren seiner Lyrik nicht abgehen.

Wie die Lyriker vieler Zeiten und Völker, so hat auch Goethe
die mannigfach abgestuften Gefühle der Liebe zum Ausdruck
gebracht.

Dennoch ist namentlich in dieser Abhandlung nicht zu vergessen,
dasz Mädchen und Frauen im reichen Gewebe der Goetheschen
Existenz nur als Fäden unter vielen erscheinen. Neben einer späteren
ins Metaphysische hinüberweisenden, philosophischen Liebe zum
Forschen und Erkennen zeigt sich schon früh eine freireligiöse und
besonders stark eine in vielen Nuancen schillernde sexuelle Liebe,
die nach beiden Seiten hin über die gut vierzig Jahre seines mittleren
Lebens hinausgreift, in welcher Periode die hier behandelten lyri-

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sehen Gedicht erblühten. Da er im groszen und ganzen bestimmt
als geschlechtlich normal empfindender Mann betrachtet werden
musz, der in verhältnismäszig günstigen Verhältnissen lebte und
ein hohes Alter erreichte, da nun einmal die Liebesempfindungen
besonders durch die Polarität des menschlichen Geschlechtes als
Mann und Weib bedingt werden, so ist Goethes Verhältnis zum
weiblichen Sexus von groszer Bedeutung. Durch Goethes Lyrik
gleitet von der Schwelle der Jünglingschaft bis ins Greisenalter
eine Reihe mit Namen bekannter oder nur vage angedeuteter
Mädchen und Frauen an unserem Geistesauge vorüber. Wenn sich
sein Interesse, seine tiefere Regung bekundende Fürsorge, die
ganze Gewalt seiner Liebe auf Eine konzentriert, dann erblicken
wir immer mehr oder weniger deutlich andere im Hintergrund.
Es schreitet, wenn auch bisweilen erst nach vielen Jahren, die
Auserwählte in den Chor zurück und eine Andere tritt heraus in
den Vordergrund. Das weckt Erinnerungen an polygames Männer-
leben. Allein da ist wohl nicht im geringsten die Rede von Ehe in
Goetheschem Sinne, geschweige von Liebe. Wie bedeutend Goethe
seine Zeit überragt, er fuszt im achtzehnten Jahrhundert, er wurzelt
in der religiösen, philosophischen, ökonomischen Kultur West-
europas und sein Verhältnis zur Frau im allgemeinen ist nicht denk-
bar ohne die christlichen Einflüsse vorhergehender Jahrhunderte. Wer
will genau bestimmen, wieviel Atavismus in Goethes Beziehungen
zu Charlotte von Stein, in seiner bis zum regelrechten Ende durch-
geführten Ehe mit Christiane Vulpius, ihm selbst unbewuszt, sich
auslebt? Mag er in Leben und Dichtung mehr als einmal sich über
die Schranken der Moral hinweggesetzt haben, seine freiste Poesie
läszt erkennen, wie er Rücksicht auf sie nimmt. Hat er einerseits
die primitive Empfindung, dasz alle Weiber Ware seien, grollend
gcäuszcrt, derselbe Dichter hat uns andrerseits gestanden, er erfasse
das Ideelle in weiblicher Form.

Welche Quelle nun zeigt uns Goethes Wesen am klarsten? Die
Berichte seiner Zeitgenossen über ihn mögen Interessantes bringen,
sie werden hinter Goethes, wenn auch oft Schreibern in die Feder

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diktierten, Werken, Tagebüchern und Briefen zurückstehen müs-
sen, denn sie schieben den Referenten als störenden Faktor zwischen
uns und unseren Dichter. Die Briefe sind bei aller Wichtigkeit
feinfühligst auf die Empfänger eingestellt. Die der Welt, nur nicht
immer seinem Sekretär, verborgen und sicher teilweise blosz aus
persönlichem Bedürfnis geführten Tagebücher enttäuschen, da sie
in wichtigen Angelegenheiten und auch sonst nur all zu oft sum-
marisch oder gar lückenhaft gehalten sind. Wir werden ihnen den-
noch groszen Wert zuerkennen müssen. Die Werke enthalten sicher-
lich reiche Schätze an Schilderungen von Erlebnissen persönlicher
Art, die jedoch zum Teil nie gehoben werden können, denn sie sind
vom Dichter bisweilen in kleinsten Splittern überallhin in seine
Dichtungen versenkt worden, eben damit dieses Persönliche wohl
nie wieder ans Tageslicht treten sollte. Das erschwert die Unter-
suchung ungemein, macht vieles zweifelhaft und trug u. a. wohl
besonders dazu bei, dasz die Ansichten über Goethes Beziehungen
zu Charlotte von Stein und über seine Ehe mit Christiane Vulpius
bis zur Gegenwart nicht eindeutig feststehen.

So sei es denn erlaubt an der Hand der lyrischen Gedichte Goethes,
die sich
auf Charlotte von Stein und Christiane Vulpius spätere
von Goethe beziehen, auf die beiden Frauen,
welche sein Leben
am tiefsten und am dauerndsten beeinfluszt haben, vor einem
Hintergrunde allgemein gehaltener Bemerkungen beide Verhältnisse
aufs neue zu zeichnen. Diese Gedichte können nur „einigermaszen"
begriffen
werden unter Berücksichtigung der Schichten, in denen
sie lagern, worüber sie Entscheidendes aussagen, die ihrerseits über
sie unterrichten, denn unlöslich sind diese Geständnisse mit den
andern Zeugnissen verknüpft, die uns von Goethe überliefert sind,
verwachsen sind sie mit den weiteren Werken, Tagebüchern
und
Briefen.

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ERSTER ABSCHNITT.

Goethe in seiner letzten Frankfurter Zeit.

Eine Übersicht.

Der nog nicht regierende Herzog Karl August und sein jüngerer
Bruder Prinz Konstantin von Sachsen-Weimar, von ihren Gouver-
neuren Graf Görtz und v. Knebel sowie Stallmeister v. Stein und
Leibarzt Engelhardt begleitet, machten auf einer Reise nach Frank-
reich am 10. Dezember 1774 ihre erste Station in Frankfurt. Knebel,
literarisch interessiert, besuchte Goethe, dessen erster Ruhm sich
mit „Götz von Berlichingen," „Die Leiden des jungen Werthers,"
„Clavigo" und anderen, kleineren Werken in Deutschland zu ver-
breiten begann, führte ihn den Prinzen zu, denen beide am 13.
nach Mainz folgten. Dort blieb Goethe zwei Tage in ihrer Gesellschaft.

So machte Goethe „recht wie vom Vogel Greif in eine fremde
„Welt unter alle die Sterne und Kreuze hinunter geführt" (An
Knebel, d. 28. [Dez.] Franckfurt 1774) Bekanntschaft mit dem
Manne, der sein Schicksal in neue Bahnen lenken sollte. Es war
nicht das erste Mal, dasz er mit Angehörigen höherer Stände in
Berührung kam. So waren die Grafen Christian und Friedrich
Leopold zu Stolberg-Stolberg mit Goethe in Briefwechsel getreten
und durch diese deren jüngere Schwester Auguste, mit der sich
eine bedeutende Korrespondenz entwickelte, wiewohl sich Goethe
unterdessen mit Uli Schönemann verlobte. Anna Elisabeth Schöne-
mann, die Lili seines letzten Frankfurter Jahres war die Tochter
des 1769 verstorbenen Frankfurter Kaufmannes und Bankiers
Johann Wolfgang Schönemann und seiner Frau Susanne Elisabeth
geb. d\'Orville, die das Geschäft fortführte.

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Schönemanns gehörten den vornehm bürgerlichen reformierten
Kreisen Frankfurts an. Der jungen norddeutschen Gräfin legt der
damals noch recht schreibselige junge Autor tagebuchartige Briefe
vor, welche seine Liebeserlebnisse in diesen Kreisen mannigfach
beleuchten. Auguste Stolberg ist ihm eine Gelegenheit sich vor
sich selbst zu vergegenständlichen.

Welch reizende Bilder entwirft er der nie geschauten Freundin!
Der Fastnachts-Goethe im galonierten Rock, umschimmert vom
Glänze der Wand- und Kronenleuchter, von einem Paar schöner
Augen am Spieltisch festgehalten, einer niedlichen Blondine den
Hof machend, steigt vor uns auf. Gestiefelt, im grauen Biberfrack,
ein braunseidenes Tuch um den Hals, schreitet der Wanderer an
uns vorbei, der in der Februarluft schon den Frühling ahnt, der
immer in sich strebt und arbeitet, der kämpfend und spielend seine
Gefühle sich zu Fähigkeiten entwickeln lassen will, dessen gröszte
Glückseligkeit es ist mit den besten Menschen seiner Zeit zu leben.
(An Auguste zu Stolberg Frankfurt, den 13. Februar 1775).

In Schwärm und Saus befangen, schwebend und schwirrend durch
Verworrenheiten, nicht eben fleiszig nun ihn die Frühlingsluft aus
Haus und Stadt lockt, hoffend, dasz sich dennoch aus dem „Gewürge"
was ablöse, sich selbst sogar ganz unerträglich und darum wieder
fleiszig an sinnHcher Arbeit, meint er: es nehme mit ihm kein
gut Ende.

Durch das Beichten, so hofft er, soll ihm besser werden. Aber
dumm und toll, wie er sich mitunter vorkommt, überspannt, wie
sein Kopf ist, gelingt es ihm nicht. Mit dem bloszen Beichten geht
es nicht, er musz sich die Seelenlast durch Dramas vom Herzen
schreiben, er musz zeichnen. Wenn er nicht Dramen schriebe, er
ginge zu Grunde. So werden seine Arbeiten die aufbewahrten Freu-
den und Leiden seines Lebens. „Stella", das Trauerspiel der Herzens-
irrungen entsteht. Aber alles drückt nicht aus, was er fühlt: „Beste,
„wie können wir einander was von unserm Zustande melden, da
„der von Stund zu Stund wechselt". (An Auguste zu Stolberg,
Frankfurt, den 10. März 1775).

Es sieht aus, als wenn die Zwirnsfädchen, an denen sein Schick-

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sal hängt und die er schon so lange in rotierender Oszillation auf-
und zutrillt, sich endlich knüpfen wollen. Allerlei Umstände machen
ihn ziemlich lahm, ohne ihm doch den guten jungen Mut zu nehmen
Mit diesen schleierhaften Worten, die sich auf seine Verlobung mit
Uli Schönemann beziehen, wendet er sich an den Bückeburger
Freund. (An Herder, Frankfurt, den 25. März 1775).

Das schattenhafte Bild einer andern huscht vorbei, deren Herz
sich ihm mehr als billig und erwünscht zuneigte. Er verweist sie
auf die Pflichten einer Gattin, Hausfrau und Mutter. In der Tochter
sollte nach vielen Jahren die Mutter auferstehen. Mit Bettina v.
Arnim-Brentano kam es aber zum Bruch.

„Das liebe Ding, das sie Gott heiszen, oder wie \'s heiszt", sorgt
sehr für ihn: seine Brüder, der fernen Auguste Brüder, kommen
zu Ihm. Mit der Abwesenden steht er sich gut, mit der Frankfurter
Braut lockert sich die kaum eingegangene Verbindung schon. Wie
er Federballen mit den Weibern spielt, vertraut er Herder an. Von
Mai bis Juli 1775 macht er mit Haugwitz und den Grafen Stolberg
eine Geniereise in die Schweiz, um sich von Uli frei zu machen.
Auf dieser Reise besucht er in Emmendingen seine an Schlosser
verheiratete Schwester, der er seine Herzensnöte haarklein vorträgt
Cornelia überzeugt ihn, er müsse sich von Uli trennen und verfolgt
ihii^, nachdem er wieder abgereist, mit ihren „wahrhaft schmerz-
lich mächtigen Briefen" über diesen Text. So gingen noch einige

Monate m dieser unseligsten aller Lagen hin. Er tanzt auf dem Seile
sein Leben weg!

91 \'^a^stadt machte Goethe Aufenthalt, wohin am

jl. Mai 1775 Herzog Karl August von Weimar zu seiner Braut,
der Prinzessin Luise von Hessen-Darmstadt, kam. Der „durchge-
brochene Bär" streicht „wunderlich und toll" um eine unerreichbare
Beute herum: „Louise ist ein Engel, der blinkende Stern konnte
„mich nicht abhalten einige Blumen aufzuheben, die ihr vom Busen
„fielen und die ich in der Brieftasche bewahre". (An Johanna Fahi-
mer, Straszburg, 24. und 26. Mai 1775).

Er schwärmt für die künftige Gemahlin seines künftigen Herrn.

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Da leuchtet dem Besessenen blitzartig ein, dasz er den besten
Schatz in seinem Busen trägt: „Vielleicht weil ich liebe, find ich
„alles lieb und gut." (In dem zuletzt erwähnten Briefe.)

Er ist viel in freier Luft, schläft, iszt, trinkt, badet, reitet, fährt.
Rousseau\'s Schüler pilgert mit seinen kraftgenialen Freunden zu
den Schweizer Propheten Lavater und Klijog und dennoch ist der
Zweck der Reise verfehlt. Die erste Schweizer Reise hätte eine
italienische werden können, wenn die liebe Lili in der Heimat ihn
damals schon losgelassen hätte.

Diese Liebe hält ihn noch fest, wiewohl er sich oft am weiblichen
Geschlecht betrog. (An Auguste zu Stolberg, Frankfurt, den 25.
Juli 1775). Der lieblichen Friederike in Sesenheim wird auf der
Reise gedacht, er bettelt aus Altorf in der Schweiz Lotte Kestner
in Hannover an: sie möge ihn noch ein biszchen lieb haben, und
leidet nach der Rückkehr während des Sommers wieder in der
Nähe des Mädchens, das ihn unglücklich macht ohne ihre Schuld,
dessen heitere Tage er trübt — was er „Gustgen" beichtet: „Ich
„sitze wieder in Offenbach, so vereinfacht wie ein Kind, so beschränkt
„als ein Papagey auf der Stange." (An Auguste zu Stolberg, Offen-
bach, den 3. Aug. 1775).

Fritz Stolberg, der die Reise in die Schweiz unternahm, um
einen Liebeskummer zu verwinden, denn er hatte seine Beziehungen
zu einer schönen Engländerin abbrechen müssen, hält er für elender
als sich selbst. Er fühlt, dasz er nie ganz unglücklich werden könne,
wie sehr auch die Leidenschaft in ihm rase. Manchmal, wenn die
Not in seinem Herzen am höchsten, ruft er aus: Getrost! Ausge-
duldet und es wird werden! Zu seinem altbewährten Mittel greift
der Unruhige, er zeichnet und beschreibt, wie es um ihn herum
aussieht, um die Geister „durch den sinnlichen Blick" zu vertreiben.
Aber nur den Vertrautesten und Liebsten unterbreitet er die ver-
schiedenen Elaborate seiner verworrenen Zustände und auch da
heiszt es oft: „Nicht abgeschrieben!" und „Lassen Sie um Gottes
Willen meine Briefe niemand sehen."

„Gestrandet" fühlt er sich und gesteht, er passe blosz auf eine

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Gelegenheit wiederabzudrücken. Nur fehlt das Geld zum ersten
Stosz, denn der sonderbare fünfundzwanzigjährige Frankfurter
Rechtsanwalt, der in vielen Künsten dilettierende
Patriziersohn
wird vom Vater etwas kurz gehalten, was man dem Vater kaum
verdenken kann.

Die Disproportion zwischen seinem Innern und der heimatlichen
Umwelt tritt klarer zu Tage. Er prophezeit, dasz er zu Ende des
Jahres fortmüsse, dasz er es kaum bis dahin aushalte, „auf diesem
Bassm herumzugondolieren, und auf die Frösch- und Spinnenjagd
„mit groszer Freundlichkeit auszuziehen." (An Merck, Frankfurt
etwa 8. August 1775).

^ Nur soll er Uli nicht sehen, wie der Käse, den er der Frau Rahei
d\'Orville, Ulis Tante, schickt, ein ganzer Kerl ist, solange er die
Sonne nicht spürt. Beide müssen kaltgestellt werden. Er arbeitet
fleiszig mit an der Physiognomik seines Freundes Lavater, liefert
Interpretationen zu Silhouetten, beurteilt dabei auch das Bild
emer Frau Charlotte von Stein, das ihm der mit beiden bekannte
Hannoveraner Arzt Zimmermann vermittelt.

Aber es leidet ihn nicht im elterlichen Hause, im Vaterland.
Von der Reise in die Schweiz hat „die ganze Cirkulation (seiner)
„klemen Individualität viel gewonnen." Was wird ihm eine Reise
nach Italien an Gewinn eintragen? Wird ihn „die unsichtbare Geiszel
„der Eumeniden" nicht bald fortpeitschen? Verworrener ist sein
Zustand mehr als je zuvor. Sein Herz wie ein Strumpf, das Äuszere
zu mnerst, das Innere zu äuszerst gekehrt. (An Johanna Fahimer
Frankfurt, den 11. Sept. 1775).

Schon längst strebt der starke Unterstrom in diesem Herzen
fort aus allen heimatlichen Liebesbanden, dennoch soll in der Herbst-
messe, die im September anfängt, für Uli „das Neueste, Eleganteste"
gekauft werden. Unterdessen wird der Auguste zu Stolberg nach
wie vor ausführlich gebeichtet. Der Abstand von der Beichtigerin
macht das Band, das ihn an sie fesselt, nur fester — und Ulis Nähe
das Band mit ihr immer loser? Ein neues Gewitter zieht sich zusammen.

Risz nicht auch ein wenig ganz alltägliche Eitelkeit den jungen

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Mann von diesem lieben Kinde los? War er doch schon bekannt,
befreundet mit hessischem, norddeutschem, thüringischem Adel!
Ist \'s doch, als wenn er in „Gustgen" verliebt wäre. Was will sein
Herz? Er fühlt, wie unaussprechlich fein und schnell es ist, was
darin vorgeht. Morgenfrisch und nüchtern nach fatalen Träumen
sagt er \'s sich: „Wir wollen einander nicht aufs ewige Leben ver-
„trösten! Hier noch müssen wir glücklich seyn, hier noch musz
„ich Gustgen sehn." (An Auguste zu Stolberg, den 16. Sept. 1775).

Sie bleiben sich aber fern. Nach Norden zieht er nicht und sucht
sein Inneres zu betäuben. Mit Lili — sie stehn die acht Tage her
nicht sonderlich — will er in altdeutscher Maskentracht, schwarz
und gelb, Pumphose, Wämslein, Mantel und Federstutzhut, auf
den Ball ziehen. Mit dieser „Puppe" spielt er, so lange es währen
will und ahnt zugleich, es sei nur Spiel. Lili wird am 15. aber dem
Balle nicht beiwohnen und er geht nach Offenbach um sie den Abend
des 16. nicht in der Komödie und den nächsten Tag nicht im Konzert
zu sehen. Innere Unruhe jagt ihn hin und her, wie wenn er die Ratte
wäre aus dem Liede des Brander in Auerbachs Keller, als sie Gift
gefressen hatte.

Das gehetzte Herz sehnt sich nach „wahrem Genusz und Leiden".
Er hofft, dasz es einmal eine Zeit geben wird, wo er nicht „auf den
„Wogen der Einbildungskraft und der überspannten Sinnlichkeit,
„Himmel auf und Höllen ab getrieben werden" wird.

Und wieder hat er Lili gesehen nach Tisch, in der Komödie.
Allein kein Wort hat er mit ihr zu reden gehabt und wünscht, er
wäre den Zustand los und zittert vor dem Augenblicke, da sie ihm
gleichgültig, da er hoffnungslos werden könnte. Er kann von dem
Mädchen nicht ab. Es regt sich wieder zu ihrem Vorteil in seinem
Herzen.

Dennoch geht er auf den Ball—einem andernsüszen Geschöpfe
zu lieb. Lili geht ja nicht!

Er blättert, nachdem er aus der Komödie heimkehrte um Toilette
zum Ball zu machen, die Registrierung seiner Herzenserschütte-
rungen, die er der Beichtigerin im Norden zusenden will, durch
und ist erstaunt: „Soll ich fortfahren oder mit diesem auf ewig

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enden?" Ein Armer, Verirrter, Verlorener ist er sich. (An Auguste
zu Stolberg, Dienstag [den 19. Sept. 1775j).

Da fühlt er, dasz es nur Häute sind, die sich von seinem Herzen
lösen, sein Blick über die Welt wird heiterer, sein Umgang mit den
Menschen sicherer, fester, weiter. Sein Innerstes bleibt ewig allein
der heiligen Liebe gewidmet. .

Am 20. September 1775 machte Goethe seine Verlobung mit
Uli Schönemann rückgängig. (J. A. Bd. 25 S 309). (An Auguste
zu Stolberg, Frankfurt, den 20 Sept. — Weimar, den 22. Nov. 1775).

Der betäubenden Zerstreuungen gibt es viele. Ende September
1775 ist Karl August in Frankfurt auf der Reise nach Karlsruhe,
wo er sich am 3. Oktober vermählt. Seit einiger Zeit ist Goethe
im Schauen der groszen Welt, sodasz die Empfindung häuslicher
Innigkeit durch das Treiben dieser Tage ganz zerflittert. Körperlich
etwas mitgenommen, bleibt er mal länger im Bett um einen Katarrh
auszubrüten. Vater und Mutter, wohl beunruhigt, kommen vor sein
Bett, es wird vertraulicher als sonst „diskurriert", er trinkt unter-
dessen seinen Tee und hat wieder ein Wohngefühl in seinen vier
Wänden. Wie lange währt es?

Anfang Oktober heiszt es unmutig zu Haugwitz und den Stol-
bergs: „Wenn ich nach Weimar kann, so tu ich\'s wohl, gewisz aber
„euch zu Liebe nicht!" (An Haugwitz und die Brüder Stolberg,
Frankfurt, den 4. Okt. 1775). Keinem Menschen zu Liebe, denn
er hat „einen Pik" auf die ganze Welt. Zwar ist „Gustgen" noch
ein Engel. Hol\'s der Teufel aber, dasz sie Reichsgräfin ist.

Der junge Herzog Karl August, am 3. Sept. groszjährig erklärt,
hat Goethe nach Weimar eingeladen. Und er wird gehen. Schon
am 7. Oktober hören wir, dasz er auf den Herzog und „Louisen"
wartet. Nur braucht er mehr Geld als der Vater, der der ganzen
Sache recht skeptisch gegenüber steht, ihm geben will, als die ge-
liebte Mutter heimlich verschaffen kann. Freund Merck soll aus-
helfen, borgen.

Er fängt an sich von Frankfurt loszulösen, fühlt sich schon frei.
Brentano braucht nicht mehr eifersüchtig zu sein. Er versucht

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von Frankfurt aus ein leidliches Verhältnis mit Wieland anzubahnen,
den er durch seine Farce beleidigt zu haben glaubt. Er erbittet
sich Briefe von Freunden nach Weimar. Am 12. Oktober treffen
die Neuvermählten in Frankfurt ein, am 13. reisen sie weiter nach
Weimar. Der Kammerjunker v. Kalb ist noch in Karlsruhe geblieben
und soll mit Goethe folgen. Dieser richtet sich ein, verabschiedet
sich, packt, zieht seine Reisekleider an — und bleibt sitzen. Am fest-
gesetzten Tage kommt v. Kalb nicht. Das Ausbleiben wird nicht
einmal entschuldigt. Nachdem er sich einmal verabschiedet hat,
mag er das Haus nicht verlassen, befindet sich in einer Art Haft,
irrt abends inkognito in Frankfurt umher. Der Vater witzelt schaden-
froh und so soll der Sohn nach Abiauf einer bestimmten Frist statt
nach Weimar nach Italien reisen.

Goethe trat tatsächlich diese Reise nach Süden an, in Heidel-
berg aber, wo er einige Tage weilte, erhielt er die Nachricht, dasz
V. Kalb in Frankfurt eingetroffen sei. Die neuen fürstlichen Be-
kannten ziehen ihn damals mehr an als aller Künste Wiege. Goethes
Italienfahrt fand erst elf Jahre später statt. So gehen die „zer-
treutesten, verworrensten, ganzesten, vollsten, leersten, kräftigsten
und läppischsten drei Vierteljahre" seiner letzten Frankfurter Zeit
zu Ende. (An Bürger, Frankfurt, den 18. Okt. 1775).

Montag, den 30. Okt. 1775 morgens um 6 Uhr verliesz er das
väterliche Haus. Am Kornmarkt machte der Spenglersjunge rasselnd
seinen Laden zurecht, begrüszte die Nachbarsmagd im dämme-
rigen Regen. Im Herzen verabschiedete er sich zum zweitenmal
von Lili und er scheidet von der holden Andern, die er wie eine
Frühlingsblume am Herzen trägt. (Reisetagebuch, Ebersstadt, den
30. Okt. 1775).

Hier endet eine Epoche in Goethes Leben, von der er seiner Mutter
später einmal schrieb: „Sie erinnern sich der letzten Zeiten, die
„ich bei Ihnen, eh ich hierherging, zubrachte, unter solchen fort-
„währenden Umständen würde ich gewisz zu Grunde gegangen
„sein. Das Unverhältnis des engen und langsam bewegten bürger-
„lichen Kreises zu der Weite und Geschwindigkeit meines Wesens

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„hätte mich rasend gemacht. Bei der lebhaften Einbildung und
„Ahndung menschlicher Dinge wäre ich doch immer unbekannt
„mit der Welt und in einer ewigen Kindheit geblieben, welche
„meist durch Eigendünkel und alle verwandte Fehler s\'ich und
„andern unerträglich wird." (An Katharina Elisabeth Goethe
Weimar, den 11. Aug. 1781).

In der Frühe des 7. November 1775 traf Goethe in Weimar ein.

Von Goethes Gedichten waren 1774 einige durch Boies „Musen-
Almanach" und den von Matthias Claudius herausgegebenen
„Deutschen (früher Wandsbecker) Boten" bekannt geworden. 1775
erschienen weitere Gedichte und auch sein Singspiel „Erwin und
Elmire m der Vierteljahrsschrift „Iris", die Georg Jacobi be-
gründet hatte.

Zu den lyrischen Liebesgedichten der letzten Frankfurter Zeit
gehören :

1- J. A. Bd. 1 S. 45. [W. A. Bd. 1 S. 70, Bd. 29 S. 39J.

„Neue Liebe, neues Leben"
„Herz, mein Herz, was soll das geben?"

Anm.: In Jacobis „Iris" März 1775 veröffentlicht, veranschau-
lichtes die „mannigfaltige Pein", die dem Dichter aus seiner Liebe
zu Uli Schönemann erwuchs. Vgl. E. v. d. Hellen a. a. 0. S 316/317.

2- J. A. Bd. 1. S. 46. [W. A. Bd. 1 S. 71, Bd. 29 S. 40].

„An Belinden"
„Warum ziehst du mich unwiderstehlich, —"

Anm.: Mit diesem anakreontischen Namen deutet der Dichter
Lili an.

3. J. A. Bd. 3 S. 79. [W. A. Bd. 4 S. 202.]
„An Lili Schönemann"
„Frankfurt 1775"
„Den kleinen Strausz, den ich dir binde,"

Anm.: Im März 1775 in Jacobis „Iris" veröffentlicht als Motto
des Schauspiels „Erwin und Elmire."

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4. J. A. Bd. 8 S. 170, Bd. 11 S. 17, Bd. 25 S. 116. [W. A.
Bd. 4 S. 96, Bd. 29 S. 160].

„Ihr verblühet, süsze Rosen —"
Anm.: Aus seinen Beziehungen zu Uli erwachsen. Vgl. Bd.
8 S. 347. Das Gedicht fehlt in Gräfs Ausgabe „Goethes Gedichte
in zeitlicher Folge", während er es wohl anführt in „Goethe über
seine Dichtungen, Lyrik II, 2 S. 1099." Gräf nimmt an, es sei im
Januar 1775 entstanden.

5. J. A. Bd. 3 S. 228. [W. A. Bd. 4 S. 95].

„Sehnsucht"
„Dies wird die letzte Trän\' nicht sein, —"
Anm.: v. d. Hellen stellt es in Goethes pietistische Periode
zwischen den Leipziger und Straszburger Studien. Vgl. J. A. Bd.
3 S. 366/367. — Gräf stellt es zweifelnd in den März 1775. „Goethe
über seine Dichtungen, Lyrik II, 2 S. 880." Bedenken wir, dasz
„Sehnsucht" durch den Generalsuperintendenten Ewald 1793 in
seiner Zeitschrift „Urania" veröffentlicht wurde, dasz Goethe mit
dem Prediger Ewald 1775 in Offenbach verkehrte, dort am 10.
Sept. 1775 seiner Vermählung beiwohnte, dasz „Wanderers Nacht-
lied" am 12. Febr. 1776 entstand und Verwandtes bringt, so läszt
sich mit Gräf das Jahr 1775 als Entstehungszeit annehmen.

6. Goethes Gedichte

in zeitlicher Folge. Insel-Ausgabe
Bd. 1 S. 175.

„An Johann Georg und Rahel d\'Orville."

„Lieber Herr Dorville, liebe Frau —"
Anm.: Dieses Gedicht fehlt in der J. A. und in der W. A. Hat
eine entfernte Verwandtschaft mit „Lilis Park" Gräf dazu veranlaszt
es sofort danach aufzunehmen? In Gräfs „Goethe über seine Dich-
tungen, Lyrik 11, 2" wird es in der chronologischen Übersicht S. 880
angeführt. Eine Äuszerung Goethes über dieses gewisz merkwürdige
lyrische Produkt der Lili-Periode scheint nicht bekannt zu sein.
Wie „Lilis Park" die drohende Loslösung als möglich hinstellt,
neigt der Dichter in unserem Gedichte sich der Geliebten hin:

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„Bin euch mit Leib und Seele nah"
„Pliz! Plaz! So bin ich wieder da."

7. J. A. Bd. 1 S. 49f. [W. A. Bd. 1 S. 76].

„An Lottchen"
„Mitten im Getümmel mancher Freuden —"

Anm.: Vgl. E. v. d. Hellen a. a. 0. S. 318. — „Die Erklärer
„streiten, welche von den vielen Charlotten, die in Goethes Leben
„eine Rolle spielten, hier gemeint sei. Am wahrscheinlichsten ist die
„Beziehung auf ein sonst fast unbekanntes Mädchen in Offenbach."

8. J. A. Bd. 1 S. 50f. [W. A. Bd. 1 S. 78, Bd. 29 S. III],

„Auf dem See."

„Und frische Nahrung, neues Blut —"

Anm.: Am 15. Juni 1775 auf dem Zürchersee entstanden, gibt
es der Leidenschaft für Lili Ausdruck.

9. J. A. Bd. 1 S. 51. [W. A. Bd. 1 S. 79, Bd. 29 S. 112].

„Vom Berge."

„Wenn ich, liebe Lili, dich nicht liebte —"

Anm.: Eine „kleine Interjektion" von derselben Schweizer Reise.

10. J. A. Bd. I S. 54. [W. A. Bd. I S. 83].

„Herbstgefühl."

„Fetter grüne, du Laub, —"

Anm.: E. v. d. Hellen bemerkt dazu S, 319: „Unter der Über-
„schrift „Im Herbst 1775" im September d. J. in der „Iris" erschie-
„nen, in Offenbach gedichtet vor der endgültigen Trennung von Lili."

11. J. A. Bd. 1 S. 63. [W. A. Bd. I S. 97].

„Wonne der Wehmut"
„Trocknet nicht, trocknet nicht —"

Anm.: Mit Gräf „Goethe über seine Dichtungen, Lyrik, II, 1"
möchte ich annehmen, dasz dieses Gedicht in den Herbst 1775
gehört, (a. a. 0. S. 128, 13 f.)

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12. J. A. Bd. 2 S. 66 f. [W. A. Bd. 2 S. 87].

„Ulis Park"
„Ist doch keine Menagerie —"

Anm.: E. v. d. Hellen bemerkt dazu S. 294: „Goethe selbst
„datiert das Gedicht in die Herbstmesse 1775; aus brieflichen
„Anspielungen auf den durchgebrochenen Bären" (an Johanna
„Fahimer, 24. Mai und 5. Juni) und aus der ganzen Entwickelung
„des Verhältnisses zu Uli Schönemann ist jedoch zu folgern, dasz
„die launigen Verse nicht erst der gespannten Situation kurz vor
„der Aufhebung des Veriöbnisses und der Übersiedlung nach Weimar
„angehören, sondern schon dem Frühling 1775, vor der Schweizer-
„reise (v. Loeper.)" — Gräf datiert unser Gedicht in den Herbst 1775.

So eigentümlich nah sind diese Uebesgedichte der Wirklichkeit,
wie sie der Dichter eriebt haben musz, dasz wir sie vorwiegend
gereimte Tagebuchblätter versrhythmischer Qualität nennen können.

Es sind Zustandsdichtungen. Es sind Urkunden über sein Inneres.
Es sind psychologische Dokumente. Der Inhalt ist dem Dichter
nicht das Wichtigste, noch viel weniger die Form. Äuszern musz
er sich. Unter verschiedenen Mitteln wie Sprechen, Musizieren,
Zeichnen, Malen, Wandern ist ihm Schreiben eines, wodurch er auf
die Wirkungen der Umwelt reagiert. Diese Gedichte sind direkte
Reaktionsprodukte.

Hier ist der sensible Apparat, das empfindende Herz, der Dichter —
da die Welt. Geheimnisvoll eins und getrennt beeinflussen sie sich
gegenseitig.

Wenn wir zu Recht annehmen, dasz alles Erieben des Menschen
„Dichten" ist, weil wir die Welt, die sich uns darbietet, zu unserer
Vorstellung umgestalten, dann ist besonders deshalb Goethes Uebes-
lyrik der letzten Frankfurter Zeit Poesie.

Es ist Dichtung primärer Art. Goethes Lyrik nun, die sich auf
Frau von Stein bezieht, ist anfangs genetisch, formell und inhaltlich
Lyrik derselben Gattung.

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ZWEITER ABSCHNITT.

Frau Oberstallmeister von Stein, ehe Goethe
nach Weimar kam.

Eine Übersicht.

Charlotte Ernestina Bernardina von Stein wurde als Tochter
des Johann Wilhelm Christian von Schardt und der Konkordia
von Irvmg am 25. Dezember 1742 geboren. Bis 1741 hatten ihr
Vater und Groszvater in eisenachischen Diensten gestanden In
diesem Jahre erbte Ernst August das Herzogtum Eisenach mit
Jena und Allstedt. Kurz nachher trat Johann Wilhelm Christian
von Schardt in weimarische Dienste und als Charlotte das Licht
der Welt erblickte, war ihr Vater Reisemarschall des Herzogs Ernst
August. Ihre erste Wohnung hatten von Schardts im fürstlichen
Schlosse zu Eisenach. Charlottens Vater war als Reisemarschall
des ruhelosen Fürsten nicht viel zu Hause. Auch bekam von Schardt
manchmal besondere Aufträge, deren Kosten ihm nicht stets zurücker-
stattet wurden. 1743 wurde er Hausmarschall des Herzogs und
zog mit seiner Familie nach Weimar.

Die Residenz der Herzöge aus der weimarischen Linie des säch-
sisch-ernestinischen Hauses war damals ein Landstädtchen von
sechtstausend Einwohnern. Hundert Jahre zuvor war das Land
in dem dreiszigjährigen Kriege verwüstet, die Bevölkerung in tiefes
Elend geraten. Noch hatten sie sich nicht völlig erholt.

In Weimar bewohnte die Familie von Schardt ein geräumiges
altes von dicken Mauern umschlossenes Haus, das dem Fürsten
gehörte.

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Das Vertrauen des Herzogs zu von Schardt wuchs. 1744 sollte
er neben anderen Amtstätigkeiten auch „vor die Pension des Erb-
„prinzen Konstantin alle mögliche Sorge tragen." Das fürstliche
Kind war mutterlos. Auch lag dem Hausmarschall, wenn der
Herzog abwesend war, ob, die durch Weimar passierenden Frem-
den von Stand zu empfangen. Öfters bewirtete v. Schardt sie
bequemlichkeitshalber im eigenen Hause, was bedeutende Kosten
verursachte. Schlieszlich wurde er zum Hofmarschall ernannt.

1748 starb Ernst August. Herzog Friedrich III von Gotha wurde
des unmündigen Prinzen Konstantin Vormund, v. Schardt bestä-
tigte man in seinen bisherigen Ämtern. Obgleich nun die Besoldung
stieg, 1800 Taler, freie Equipage und Tafel wurden ihm zugesichert,
wuchsen auch die Ausgaben, denn v. Schardt siedelte nach Gotha
über, liesz aber seine Familie in Weimar. So kam es fast zum Konkurs,
da gab Frau Konkordia v. Schardt ihr Vermögen her. v. Schardts
Aufopferungen im fürstlichen Dienste wurden jedoch finanziell
nicht nach Erwartung anerkannt.

1755 trat Herzog Konstantin die Regierung an und vermählte
sich bald mit Anna Amalie von Braunschweig, die jedoch schon
1758 als achtzehnjährige Witwe die Regentschaft für ihren ein
halbes Jahr alten Sohn Karl August übernehmen muszte. Ein
zweiter Sohn wurde nach dem Ableben des Vaters geboren. Herzo-
gin Anna Amalie verminderte ihren Hofstaat und von Schardt
wurde mit siebenundvierzig Jahren in den Ruhestand versetzt. Das
im herrschaftlichen Dienste zugesetzte eigene Geld erhielt er nicht
zurück und hatte noch Schulden dazu gemacht.

V. Schardt vertrieb sich nun die Tage mit seinen Sammlungen,
mäkelte im Hauswesen herum und überwachte die Erziehung seiner
Kinder. Er war übermäszig genau und krittlig. Er erzog seine
Kinder hart. Die Kleinen wurden im Hause von einem Kandidaten
der Theologie im Lesen, Schreiben und Rechnen unterrichtet. Dazu
kam Religionsunterricht, Französisch, Tanzen und Musik. Zum
Tanz wie zur Musik erwies Charlotte ein hübsches Talent.

Die Mutter was liebreicher als der Vater; doch war auch sie eine
ernste, das Leben schwer nehmende Frau. Sie war sehr fromm

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Uber alle Poesien, denen sie, soweit sie ernst und lieblich wohl
geneigt war, ging ihr das Bibelbuch. In des Lebens Nöten stärkte
sie sich an ihrer Bibel. Die Kinder wurden also nicht nur streng
sondern auch fromm erzogen. Die Jugend der Geschwister v. Schardt
war nicht sonnig.

Konkordias Ernst ging auf ihre Tochter Charlotte über, die von
den elf Kindern der v. Schardts — fünf starben früh
-1 als die
älteste zunächst zu versorgen war. Vermögen und Ruhegehalt
reichten ohne fürstliche Hilfe nicht aus, die Kinder, zwei Knaben
und vier Mädchen, nach der ersten häuslichen Erziehung standes-
gemäsz weiter auszubilden und zu versorgen. Da erwählte die Herzo-
gin-Regentin Charlotte v. Schardt zu einem ihrer Hoffräulein. Von
1758 an versah sie dieses Amt, bis sie sich verheiratete. Charlottens
Herrin war oft launisch und im tiefsten Grunde unbefriedigt, zu-
weilen jedoch sehr fröhlich und sogar zu übermütigem Treiben
geneigt. So haben die Erziehung im elterlichen Hause und die frühe
Erfahrung am fürstlichen Hofe Charlotte von ihren Kinderjahren
an in der gewisz nicht immer leichten adligen Lebensführung
ausgebildet.

Sie war klein und wohlgestaltet, hatte dunkles Haar, die Haut
war„italienisch", sowie die groszen schwarzen Augen, die auffallend
schön waren. Die Stimme war sanft, angenehm, bisweilen bedrückt.
Sie verstand es, sich mit den einfachsten Mitteln zu schmücken
und liebte besonders helle Kleider. Sie bewegte sich zierlich, tanzte
vorzüglich und die Hofmanieren veredelten sich bei ihr im Laufe
der Jahre zu einer seltenen Simplizität.

Um die zwanzigjährige Charlotte von Schardt bewarb sich 1763
der achtundzwanzigjährige Freiherr Gottlob Ernst Josias Friedrich
von Stein, Herr auf Kochberg unweit Rudolstadt, Stallmeister am
weimarischen Hofe. 1764 ward sie ihm in der Kirche der alten
Wilhelmsburg zu Weimar angetraut. Er war ein wohlgewachsener
Mann mit braunen Augen und Haaren, bewegte sich sicher und
weltgewandt, war gutherzig und fast immer vergnügt. Ein beson-
deres Geschick hatte er für alles Handwerkliche und Praktische.

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Er spielte die Flöte, sprach flieszend Französisch und tanzte gut.

Der weimarische Stallmeister konnte seine Güter nicht selbst
bewirtschaften. Er verpachtete sie, zwar öfters mit Mühe. Nur in
seinen Urlaubszeiten suchte er das Rittergut auf. Geldsorgen blieben
V. Steins in ihrer Ehe, sowie später der Frau v. Stein als Witwe,
nicht erspart. Sie pflegte den Hochsommer und Herbst teilweise
auf\'Kochberg zu verbringen. Überdies hatten v. Steins eine Stadt-
wohnung in Weimar. Das Amt eines herzoglichen Stallmeisters
brachte es mit sich, dasz v. Stein häufig auf Reisen war und wenn
er sich in Weimar aufhielt, oft den gröszten Teil des Tages am Hofe
verbrachte, auch asz er an der Hoftafel.

Frau Charlotte v. Stein beteiligte sich als „Hofverwandte" an
den Festlichkeiten der Hofgesellschaft, trat dabei aber nicht hervor,
obgleich sie eine gute Tänzerin war und die Musik sowie die Dicht-
kunst liebte. Sie hatte überhaupt nicht unbedeutende Geistesgaben,
las gern französische oder deutsche Bûcher und so lernte sie auch
die ersten Schriften des Frankfurter dr, Goethe „Götz von Berli-
chingen", „Werther," „Clavigo" und die Posse gegen Wieland
kennen. Seit mehr als einem Jahrzehnt verheiratet, Mutter mehrerer
Kinder, versuchte sie in die Geheimnisse der shakespearischen
Sprache einzudringen, etwas von dem lateinischen Philosophenidiom
Spinozas zu verstehen. Sie schrieb und dichtete mitunter selbst,
sie zeichnete und interessierte sich im allgemeinen für das Geistige.
Sie besuchte Theater und Konzert, war auch dem kirchlichen Leben
nicht abgeneigt, nahm, als sie schon längst freiere religiöse Auffas-
sungen als die ihres elterlichen Hauses hatte kennen lernen, noch
das Abendmahl. Hauswirtschaft und weibliche Kunstarbeiten sollen
ihr kein groszes Vergnügen gemacht haben. Dennoch war ihre
häusliche Umgebung auffällig reinlich.

Die weiblichen Lasten wurden Charlotte reichlich zuteil. Sieben
Kindern gab sie das Leben. Vier Mädchen verloren v. Steins bald
wieder durch den Tod. Drei Knaben Karl, Ernst und Friedrich,
resp. 1765, 1767 und 1771 geboren, wuchsen auf. Nur Fritz stillte
die Mutter selbst. Entschieden kinderlieb war Charlotte nicht, auch
an den eigenen Kleinen empfand sie das Verdrieszliche und Lästige

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als solches. Für Fritz hegte sie zeitlebens mehr Liebe als für seine
älteren Brüder. Ihrer Gesundheit wegen machte sie 1773 und 1774
Badereisen nach Pyrmont, damals Modebad. Hier lernte sie den
berühmten Arzt Zimmermann, Leibmedikus des Kurfürsten von
Hannover, kennen. Durch Zimmermann hörten Frau v Stein und
Goethe schon von einander, ehe sie sich persönlich trafen

Chariottens Ehe mit v. Stein, in der die Kinder verhältnismäszijz
rasch nach einander geboren wurden, war sorgenvoll und ernst
Etwas kühlen Charakters, scheint Chariottens Veriangen nach dem
andern Geschlecht nicht stark gewesen zu sein. Die ehelichen Pflich-
ten Schwangerschaften, Entbindungen, Wochenbetten und die
täglichen Sorgen einer Mutter mehrerer Kinder haben den zarten
Korper übermäszig angestrengt. Es ist merkwürdig, dasz Frau
V. Stein nach ihrem zweiunddreiszigsten Jahre keine Kinder mehr
zur W^elt brachte. Es entzieht sich, so weit mir bekannt ist, bis
jetzt den Nachforschungen, ob eine Erkrankung des Mannes oder
der Frau, sexuelle Abstinenz der Eheleute v. Stein, oder gar ein
operativer Eingriff etwa Zimmermanns oder eines anderen Arztes
diese frühe Sterilität verursachte, was dennoch zum tieferen Ver-
ständnis des Verhältnisses v. Stein — Chariotte — Goethe nicht
ganz unwichtig wäre.

Frau V. Stein war fast dreiunddreiszig Jahre alt, als Goethe in
Weimar eintraf. Schon bald machte der Freund und Gast des Herzogs
ihre und ihrer Familie persönliche Bekanntschaft. Goethe war
damals ein sechsundzwanzigjähriger, junger Mann bürgeriicher
Herkunft, seines Faches Jurist, ohne Sympathie für die juristische
Karriere, dem der junge Ruhm seiner ersten Dichtungen und das
Gerücht seiner Gefähriichkeit für die Herzensruhe von Mädchen
und Frauen nach Weimar vorangegangen waren.

Chariotte von Stein nun hat auf Goethes Werke, die den ersten
elf Weimarer Jahren entstammen, bedeutenden Einflusz ausgeübt,
weil sie für den ganzen Menschen Goethe zwischen 1775 und 1786
mehr bedeutete als vielleicht je ein anderes weibliches Wesen in
seinem Leben.

Davon zeugen die Hunderte von Billetten, Briefen, Tagebuch-

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blättern samt eingestreuten Gedichten, die uns unter dem Titel
„Goethes Briefe an Frau von Stein nebst dem Tagebuch aus Italien"
bekannt sind. Der erste datierte Brief schreibt sich vom 27. Januar
1776 her, das letzte Schreiben, — Gedicht und Brief —, trägt das
Datum: d. 29. Aug. 1826. Die meisten lyrischen Gedichte Goethes
für Charlotte von Stein stehen in oder zwischen diesen Briefen.
Die Briefstellen, in deren Nähe sie sich befinden, sind für diese
poetischen Gebilde überaus wichtig, so auch die in dieser Periode
seines Lebens gewöhnlich recht kurzen Notizen seiner Tagebücher.
Leider weist das Diarium eine grosze Lücke vom Juni 1782 bis zum
3. Sept. 1786 auf.

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DRITTER ABSCHNITT.

Charlotte von Stein in Goethes Lyrik. Verzeichnis samt Besprechung
der lyrischen Gedichte Goethes, welche sich auf
Charlotte von Stein beziehen.

1- J. A. Bd. 1 S. 64. [W. A. Bd. 1 S. 99].

„Jägers Abendlied."

„Im Felde schleich\' ich still und wild —"

Anmerkung: Anfang 1776 in Wielands Zeitschrift „Der
Teutsche Merkur" erschienen. Gräf, „Goethe über seine Dichtungen,
Lyrik II, 2 S. 1100" notiert: „»1775 Ende; an Elisabeth Schöne-
mann." Auch E.
V. d. Hellen, J. A. Bd. 1 S. 323 nimmt an, dasz „es
gewisz noch Lili ist, deren Bild dem Dichter vorschwebt." Dieses
,gewisz\' dürfte recht ungewisz sein.

Warum erwähnt Goethe dieses Lied nicht in „Dichtung und
Wahrheit," oder sonst in seinen Werken, zur Charakterisierung
seines Verhältnisses mit Lili Schönemann, wenn es sich auf sie
bezieht, während er z. B. „Neue Liebe, neues Leben", „Ihr ver-
blühet, süsze Rosen", „Ulis Park" ausdrücklich nennt? Wenn Lili
dieses Lied veranlaszte, hat der Dichter durch sein Schweigen
darüber versäumt, eine bedeutende Seite ihres Charakters auf-
zuzeigen, während er eben in den letzten Partien von „Dichtung
und Wahrheit" bestrebt ist, uns ausführlich mit ihr bekannt zu
machen.

Andere Gründe dürften schwerer ins Gewicht fallen. Goethe ergab
sich erst in Thüringen dem Weidwerk. Wenn nun zu Recht ange-
nommen wird, dasz Goethe in diesem Liede Selbsterlebtes malte
aus der ersten Zeit, die er in Weimar verlebte, dann liesze sich zwar
daran zweifeln, dasz seine schweifenden, ruhesuchenden Gedanken

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zu einer neuen Weimarer Freundin geirrt wären und nicht zurück
in die Frankfurter Heimat zu Uli Schönemann, wenn er sich nur
nicht vor kurzem nach wiederholten bangen Seelenkämpfen von
dieser Uli gelöst hätte!

Sodann ist aber dem Inhalte des Uedes ein besonders starker
Grund dafür zu entnehmen, dasz Charlotte von Stein gemeint sei,
weil der Dichter singt:

„Mir ist es, denk ich nur an dich,"
„Als säh den Mond ich an;"
„Ein süszer Friede kommt auf mich,"
„Weisz nicht, wie mir getan."

(Urspr. Fassung).

Zwar hat Goethe auch in Weimar Uli Schönemann poetisch
apostrophiert (Vgl. J. A. Bd. 3 S. 80 nr. 376. Aus einem Briefe an
Karl August. Waldeck bei Jena, 23. Dez. 1775. „Holde Uli, warst
so lang —"). Allein das Verhältnis zu Uli verebbte nach einem
Stadium gröszter Unruhe, psychischen Reiszens und Zerreiszens.
Da scheint es äuszerst unwahrscheinlich, dasz der „Mensch, der
„in aller Welt nie findet Ruh noch Rast; dem wie zu Hause, so im
„Feld sein Herze schwillt zur Last" diese blutjunge Frankfurter
Unruhestifterin in Worten, so blaszschimmernd schön, wie eine
Göttin des Friedens gefeiert haben sollte, während er Anfang 1776
Charlotte von Stein andeutet als diejenige, die ihm Ruhe gab, die
sein heiszes Blut mäszigte. (Vgl. J. A. Bd. 3 S. 83 f.)

Dasz Goethe Anfang 1776 in der Widmung, die ein Lili über-
sandtes Exemplar der „Stella" begleitete, dichtet:

„Empfinde hier, wie mit allmächt\'gem Triebe"

„Ein Herz das andre zieht —"

„Und dasz vergebens Liebe"

„Vor Liebe flieht — (J. A. Bd. 3 S. 80)"

braucht noch nicht wunderzunehmen, weil gerade bei Goethe Liebes-
yerschhngungen mehr als einmal in seinem Leben vorkommen
(Vgl. das Jahr 1775.)

Das Ued findet sich nicht unter „Goethes Briefen an Frau von

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Stein." Schickte nun der Dichter der Frau v. Stein dieses Gedicht
nicht zu, dann besagt das noch nicht viel. Es wird sie dennoch schon
bald erreicht haben, da, wie gesagt „Der Teutsche Merkur" es
Anfang 1776 brachte. Goethe dürfte sich nach seinen vorigen und
noch rezenten Liebeserfahrungen nicht getraut haben, der Frau
von Stein auf direktem Wege das Gedicht vorzulegen.

2. J. A. Bd. 1 S. 63 f. [W. A. Bd. 1 S. 98].

„Wanderers Nachtlied."

„Der du von dem Himmel bist —"

Anmerkung: Mit dem Datum „Am Hang des Ettersberg
d. 12. Febr. 76 G." an Charlotte von Stein gesandt, findet es sich
unter Goethes Briefen an sie. Es ist thematisch verwandt mit
„Jägers Abendlied."

Dasz Charlottens Mutter auf die Rückseite den Vers Ev. Joh. 14,
27 schrieb, um anzudeuten, wo sie für ihr Herz den Frieden erhoffte^
läszt sich sehr wohl verstehen, denn dieses Flehen des Dichters
um Frieden ist wesensgleich mit dem Schreien des frommen Herzens
nach Gott.

Beachtenswert ist die Anordnung, die Goethe den beiden obigen,
so wie zwei anderen verwandten Liedern gab. Die J. A. Bd. 1 s\'
63 f. bringt zuerst „Wanderers Nachtlied," — es fleht ein rastloser
Wanderer um Frieden. „Ein gleiches" antwortet, wie mit anderer
Stimme, dem Flehenden und verhelszt ihm baldige Ruhe. „Jägers
Abendlied" führt uns die zuerst gleichsam unkörperliche Stimme
plastisch als Jäger vor. Sollte etwa auch die Stellung dieses Liedes
unter den andern auf Frau von Stein hindeuten?

Schlieszlich fügte der Dichter diesen drei als viertes das zwar
schöne, aber dunkle Lied „An den Mond" hinzu, das in der 2 Strophe
der älteren Fassung (Vgl. unten J. A. Bd. 1 S. 65 „An den Mond")
den lindernden Blick der Liebsten feiert, die ihm endlich einmal
ganz die Seele löst, und das doch wohl mit genährt wurde aus seiner
Liebe für Frau v. Stein, worüber unten Näheres.

Gräf, „Goethe über seine Dichtungen, Lyrik II, 2 S. 669, 26/9"

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teilt mit: „Damals (1827) stand bereits seit 15 Jahren (1812) „Der
„du von dem Himmel bist" im protestantischen Gesangbuch von
„Bremen (aus dem es erst seit 1873 wieder verschwunden ist),
„Vers 5/8 abgeändert zum Teil nach Pestalozzi; vgl. Karl Muthe-
„sius: Goethe und Pestalozzi, Leipzig 1908, S. 230, und Stunden"
„mit Goethe 8, 308/12."

Die Affinität unseres Liedes mit lutherisch-religiöser Auffassung
könnte kaum deutlicher hervortreten. Nach althergebrachter Weise
fühlt der Dichter, das Höchste sei in überirdische Regionen, in
den Himmel projiziert, schon bald wird er uns die Frau, welcher
er dieses Gedicht zuschickte, als Mittlerin zwischen sich und dem
Höchsten vorführen.

3. J. A. Bd. 3 S. 83f. [W. A. Bd. 4 S. 97]
„Warum ggbst du uns die tiefen Blicke —"

Anmerkung: Mit dem Datum „d. 14. Apr. 76 G." kommt
es unter „Goethes Briefen an Frau von Stein" vor. Gräf notiert
in „Goethe über seine Dichtungen, Lyrik II, 2 S. 1192": „Druck I:
1848 (G.\'s Briefe an Frau von Stein 1, 24)."

Unter den hier zu behandelnden Gedichten ein verhältnismäszig
groszes macht es den Eindruck eines plötzlichen Wurfes. Es wurde
später wohl nicht überarbeitet. Vielleicht besasz Goethe nie eine
Abschrift, obgleich er Frau v. Stein am 16. April 1776 schreibt:
„Wenn\'s Ihnen einmal so ist schreiben Sie mir doch mein Gedicht
„ab, ich habs nicht mehr, möcht\'s von deiner Hand — sollst auch
„Ruh vor mir haben." Und lag ihm eine Kopie vor, dann war ihm
das Gedicht wohl all zu intim. Man hat eben durch Goethe über
seine Liebe für Charlotte wenig gewuszt bis zur Veröffentlichung
seiner Briefe an Frau v. Stein im Jahre 1848, sechzehn Jahre nach
seinem Tode.

Eben durch die Intimität steht unser Gedicht den in Prosa abge-
faszten Tagebüchern und Briefen näher als ein äuszerlich fertiges
Gedicht, ist es als streng subjektives Bekenntnis durch das Unver-
mittelte überaus wertvoll. Es ist ein unfreiwilliges Programm zum
Drama dieser beiden Seelen.

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Es klingt eine klagende Sehnsucht con sordino heraus, die des
Dichters leidenschaftliche Liebe für die verehrte Frau in grauen
Vorzeiten anfangen läszt, obgleich sie sich erst vor kurzem haben
kennen lernen. Das Schicksal — dem Dichter die alte Moira, die
höchste Gottheit — gab ihnen die tiefen Blicke, sodasz sie ahnungs-
voll die ganze Zukunft ihrer Liebe schauen, der sie sich in seligem
Wahne nie anvertrauen werden. Sie spähen durch all die seltenen
Gewühle hindurch hellseherisch ihr wahres Verhältnis aus (1—8).
Das dumpfe Glück der vielen tausend, die kaum ihr eigenes Herz
kennen, die sich lieben, ohne sich zu verstehen, die in dem andern
sehen, was er nie war, ist ihnen versagt. (9—20). Er erkennt sie
wieder. Eine Wahl steht ihm nicht frei. Höhere Gewalt zwingt ihn
diejenige zu lieben, die „in abgelebten Zeiten" seine Schwester war
oder seine Frau. Sie waren verwandt, einst und jetzt, noch näher
verwandt als Mann und Frau, nicht nur seelisch, sondern auch
leibHch: Geschwister (21—28). — Und wie es war, entsinnt er sich
nun wieder: es steigt aus dem Dunkel der Vergessenheit hervor:
Sie mäszigte sein heiszes Blut und lenkte den irren Lauf, in ihren
Armen kehrte ihm die Ruhe der Seele wieder, wie ein Spiel seliger
Wonnen vergaukelte sie ihm manchen Tag — beruhigt war er,
fühlte sich in ihrem Auge gut. (29—44). — Allein es ist nur Erinne-
rung, der neue Zustand wird ihm Schmerz. Verhüllt, in Geister-
duft, scheinen sie sich nur halb beseelt, der hellste Tag ist blosz
ein Dämmern. In allen diesen Schicksalsqualen bleiben sie aber
unverändert. Das ist ihr Glück, wenn auch verschleiert, umflort.
(45—52.)

Es liegen die charakteristischen Hauptzüge seiner groszen Passion
alle in diesem erschütternden Proömium. „Die alte Wahrheit ewig
gleich im Innern," das ist die Liebe von jeher —, „der neue Zustand,"
das sind die Hindernisse aller Art zwischen ihm und ihr. Wie ein
leise dämpfender, silbergrauer Schleier liegt der Kummer auf ihm.
Über zehn Jahre dauerte es, ehe er stark genug war dieses zauber-
hafte Gewebe zu zerreiszen. „Siegt mit Netzen" schrieb der Dichter
intuitiv richtig Ende Juli 1775 in einem Briefe an Lavater, als er

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den Charakter der Frau v. Stein aus ihrer Silhouette herauszu-
lesen versuchte.

Unser Gedicht erwähnt mehr als einmal die Fähigkeit der längst
Geliebten, sein heiszes Blut zu mäszigen und zu beruhigen. So tritt
Verwandtschaft mit den Liedern: „Jägers Abendlied", „Wanderers
Nachtlied", „Ein gleiches", „An den Mond" zu Tage. Nach vielen
Jahren veröffentlichte Goethe als Gegenstück zu diesem klagend
sehnsüchtigen Vorwort seines Seelendramas ein erhabenes Nach-
wort in der herriichen Stanze „Für Ewig".

Zu dem Begriffe der Reminiscenz wäre zu vergleichen: Lodewijk
van Deyssel, Verzamelde Opstellen, Tweede Bündel 1901, bldz
182
V., 283 V., 292 v.

Prof. dr. G. Heymans - Groningen war so freundlich mich auf
folgende Werke hinzuweisen: Osborn, Illusions of Memory, Boston
1884. - Leroy, L\'illusion de fausse reconnaissance, Paris 1898. -
Heymans, Eine Enquête über Dépersonalisation und „Fausse Recon-
naissance". Zeitschr. f. Psychologie Bd. 36 und 43 (1904 und 1906). -
Bergson, L\'énergie spirituelle, Paris 1920.

4. J. A. Bd. 1 S. 54 f. [W. A. Bd. 1 S. 84J.

„Rastlose Liebe".

„Dem Schnee, dem Regen —"

Anmerkung: In Ilmenau am 6. Mai 1776 gedichtet. Es kommt
unter „Goethes Briefen an Frau von Stein" nicht vor. Der Dichter
zeigt sich uns Im Kampfe mit seiner Liebe und wird von ihr besiegt.
Ganz anders als in den ersten drei Nummern weht dem Dichter
der Liebe seliger Sturm schon um das trunkne Haupt.

Von alten Zeiten her Verwandtes klingt in diesem stürmischen
klemen Liede an. Damals hiesz es mit Rücksicht auf eine andere:

„Liebe! Liebe! lasz mich los!"

(J. A. Bd. 1 S. 45).

Hier heiszt es nun weit weniger stark:

„Lieber durch Leiden"

„Möchf ich mich schlagen".

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„Als so viel Freuden"
„Des Lebens ertragen."
„Alle das Neigen"
„Von Herzen zu Herzen,"
„Ach wie so eigen"
„Schaffet das Schmerzen!"

„Wie, soll ich fliehen?"
„Wälderwärts ziehen?"
„Alles vergebens!"

Diese neue Liebe musz ihm schon Anfang 1776 als eine unbestimmt
drohende Gefahr erschienen sein, vor der er fliehen sollte und der
er sich doch gar zu gern aussetzte. Ein selig-unseliges Schwanken
durch zehn Jahre hindurch hat angefangen. Es sprach schon im
Mai
1776, leise aber vernehmlich, das Daimonion in Goethes Brust.

5. J. A. Bd. 3 S. 85. [W. A. Bd. 4 S. 208].

„Hier bildend nach der reinen stillen —"

Anmerkung: „Goethes Briefe an Frau von Stein" melden:
„Als ich für dich zeichnete an der Ilm. d. 29. Jun. 76. Zwischen
„Mittag und 1." Der erste Druck datiert aus dem Jahre 1848.

Das kleine Gedicht markiert auffallend deutlich den Gegensatz
zwischen der „reinen stillen Natur" und „den alten Schmerzen."
Das Gefühl des Nicht-sein-sollens musz schon recht stark gewesen
sein.

Werther ist auferstanden.

6. J. A. Bd. 3 S. 85. [W. A. Bd. 4 S. 210].

„Und ich geh meinen alten Gang —"

A n m e r k u n g: V. d. Hellen berichtet J. A. Bd. 3 S. 317: „Im
„Anschlusz an Verse des Herzogs, wie die beiden folgenden nach
„Pyrmont gesandt." Gräf, „Goethes Liebesgedichte," datiert es in
den Juli 1776. In seinem Werke „Goethe über seine Dichtungen,

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Lyrik II, 2 S. 880" zweifelt er zwischen 1776 und 1777. Leider fehlt
das Gedicht in seinen Registerangaben desselben Bandes.

Seine Liebe, die in tausend Farben spielt, ist ihm schön geworden
wie die liebe Wiese, die frühe Sonne, der Mondschein, bei dem er
badet. Neben anderer Dumpfheit ist sie ihm eine Klarheit, eine
Kraft, in der er lebt.

Das Gedicht bringt das Glück der Liebesklarheit zum Ausdruck,
besonders in leicht schadenfrohem Gegensatz zur Liebesdumpfheit
eines andern. Vorsichtig wäre es vielleicht gewesen von verschie-
denen Graden der Dumpfheit oder Klarheit in beiden zu sprechen.
Es sollte aber die Zeit noch kommen, wo der Dichter sang:

„0 wie beseliget uns Menschen ein falscher Begriff."

(J. A. Bd. 1 S. 206 nr. 6).

Jetzt lebt er im Glauben an die Liebesklarheit und -kraft. Das
macht ihn glücklich, denn aus den Tiefen des eigenen Herzens
leuchtet des Glückes Licht, steigen die düsteren Schatten der Ver-
zweiflung empor.

7. J. A. Bd. 3 S. 86. [W. A. Bd. 4 S. 208].

„Zwischen Felsen wuchsen hier —"

Anmerkung: Ilmenau, 21 Juli 1776, nach der J. A. sowie
nach Gräf. Unter den Briefen Goethes an Frau v. Stein kommt
es nicht vor. Es wurde wie das vorige und folgende nach Pyrmont
gesandt. (Vgl. J. A. Bd. 3 S. 317). Gedruckt wurde es erst 1891.

Blumen reicht er ihr treu, verwelkliche Zeichen „der ewigen
Liebe zu dir." Was heiszt hier „ewig"? Flieszt dem Dichter das
Wort nur als Gegensatz zu „verwelklich" aus der Feder? Will er
seine Liebe tatsächlich „ewig" nennen? Ist es etwa die Liebe der
„abgelebten Zeiten"? Wird sie immer sein?

Fühlt er seine Liebe als vergänglich und soll das mächtige Wort
die unverwelkliche Liebe heraufbeschwören?

Sogar liesze sich „die ewige Liebe zu dir" allgemeiner fassen als
des Dichters individuelle Empfindung.

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8. J. A. Bd. 3 S. 86. [W. A. Bd. 5 (1), S. 65].

„Ach, so drückt mein Schicksal mich —"

Anmerkung: Ilmenau, den 22. Juli 1776 nach der J. A. —
Vgl. Gräf, „Goethe über seine Dichtungen, Lyrik I Nr. 83," der
den 23. Juli als Entstehungsdatum annimmt. — Gedruckt wurde
es zum ersten Male 1893. Vgl. Goethe Jahrbuch 14, 145.

In jähem Umschwung sagt sich der neue Werther: „Ich strebe
nach dem Unmöglichen!"

9. J. A. Bd. 3 S. 86. [W. A. Bd. 4 S. 208].

„Ach, wie bist du mir —"

Anmerkung: Goethes Tagebuch meldet am 5. August 1776
u. a.: „Abends die Stein." Frau v. Stein besuchte Goethe, als sie
aus dem Bade heimkehrte, in Ilmenau. Unter dem 6. Aug. 1776
meldet das Tagebuch u. a.: „Trennung". Unser Gedicht ist vom
7. Aug. 1776 aus Elgersburg datiert. Unter demselben Datum findet
sich im Tagebuch die Notiz: „Mit Misein gekittert." (Vgl. Weigand,
Deutsches Wörterbuch, (5) kittern, v.: heimlich lachen, Anfang
des 15. Jh. kittern, kyttern, noch thüring.-fränk., hessisch-ober-
deutsch.)

Unser Gedicht wurde dann einem Briefe an Frau v. Stein aus
Ilmenau vom 8. Aug. eingegliedert. Dieser Brief enthält die merk-
würdige Stelle: „Dein Verhältnisz zu mir ist so heilig sonderbaar,
„dasz ich erst recht bey dieser Gelegenheit fühlte: es kann nicht
„mit Worten ausgedrückt werden, Menschen könnens nicht sehen."
,Heilig sonderbar\' mag ihm seine Beziehung zu dieser Frau wohl
vorgekommen sein. Dieses Herz trieb nebeneinander recht ver-
schiedene Liebespflanzen.

Jenseit der trennenden Schranken von Sitte und Gesetz hat er
den heiligen Wert seiner „Wahrheit" gefunden. Ist ihm die Trägerin
dieser „Wahrheit" aber nahe, dann fühlt er das Trennende, ist sie
fern, dann liebt er sie „so sehr!"

Das Parallele in den Beziehungen zu Lili Schönemann und Auguste
zu Stolberg ist auffällig. Vgl. Goethes Brief an Auguste zu Stolberg,

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Frankfurt und Offenbach, 14—19 September 1775: „Unglücklicher
„Weise macht der Abstand von mir das Band nur fester das mich
„an Sie zaubert." —

Es ist die Diskrepanz zwischen dem Idealen und dem Realen.

Vgl. oben Nr. 5 und 8.

10. J. A. Bd. 3 S. 86. [W. A. Bd. 4 S. 209].

„Hierhergetrabt, die Brust voll tiefem Wühlen —"

Anmerkung: Nach der J. A.: Kranichfeld, 2 Sept. 1776.
Auch Gräf führt es unter dem Datum in seiner chronologischen
Übersicht „Goethe über seine Dichtungen, Lyrik II, 2 S. 880" an.
Es fehlt im Register dess. Bds. Es findet sich auf der Rückseite
einer Bleistiftzeichnung der Kranichfelder Brücke.

Unter dem 1. Sept. 1776 schreibt Goethe an Frau v. Stein: „Es
„ist mir lieb, dasz wir wieder auf eine abenteuerliche Wirthschaft
„ziehen, denn Ich halts nicht aus. So viel Liebe, so viel Theilneh-
„mung! so viel treffliche Menschen und so viel Herzensdruck."
Vgl. die Harsreise 1777, die Schweizer Reise 1779 und die italienische
Reise 1786.

Im undatierten folgenden Briefe heiszt es: „Warum soll ich dich
„plagen! Liebstes Geschöpf! Warum mich betrügen und dich
„plagen und so fort. — Wir können einander nichts seyn und
„sind einander zu viel. — Ich seh dich eben künftig wie man
„Sterne sieht! — denck das durch."

Es gährt ihm in der Brust. Er sehnt sich ein Weilchen auszuruhn
und willlg-widerwilllg etwas für sie zu tun. Das Schicksal lenkt ihn.

>1- J. A. Bd. 3 S. 86. [W. A. Bd. 4 S. 209).

„Ich bin eben nirgend geborgen: —"

J- Oktober 1776.

7.fhn H - ^^ ^^^ Rückseite einer

Zeichnung der drei Dornburger Schlösser.

Nach Osten und nach Westen schweift er, überallhin verfolgen

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ihn Sorgen und seine Liebe zu ihr. Sie, die Krone des Lebens das
Glück ohne Ruh, die Liebe in einem Atem mit seinen vielen Sorgen
genannt 1 ®

Seine Liebe auch eine Sorge. —

12. J. A. Bd. 2 S. 295. [W. A. Bd. 2 S. 92, 316].

„An den Geist des Johannes Sekundus."

„Lieber, heiliger, groszer Küsser —"

Anmerkung: Unter den Briefen Goethes an Frau von Stein
erhalten mit dem Datum d. 2 Nov. 76. — Vgl. J. A. Bd. 2 S. 70,
wo sich eine jüngere Fassung „Liebebedürfnis" findet. — Vgl. auch
Georg Ellinger, Goethe und Johannes Secundus, Goethe Jahrbuch
XIII, S. 200: „Johannes (Janus) Secundus, (der Name Nicolai,
„den er noch zuweilen führt, nach seinem Oheim), Sohn des Rechts-
„gelehrten Nicolaus Everard, ist am 14. Nov. 1511 im Haag geboren
„und zu Utrecht am 24. Sept. 1536 gestorben. Während seines
„kurzen Lebens hat er sich nicht nur als Dichter, sondern auch
„als Bildhauer und Maler ausgezeichnet, und auf Reisen, die ihn
„durch Frankreich, Spanien und Italien, ja in dem Kriegszuge
„Karls V gegen Tunis bis an die Küste von Afrika führten, durch
„aufmerksames Beobachten der Sitten von Völkern und Menschen
„sich eine Fülle von Erfahrungen und Anregungen gewonnen.
„Goethe lernte seine Gedichte am Anfange der 70. Jahre kennen\'-
„aufs Neue griff er dann im Herbst 1776 zu diesem Gedichtcyklus\'
„Basia —" Weiter a. a. 0. S. 205:

„Das Gedicht (nr. 12 unseres Verz.) bezeugt den starken Ein-
„druck, den die Basia auf Goethe ausgeübt haben. Directe Anleh-
„nungen an dieselben finden sich in dem Gedichte nicht. —" Vgl.
J. A. Bd. 4 S. 223. „Maximen und Reflexionen", „Vis superba
„formae. Ein schönes Wort von Johannes Sekundus " — J A Bd
15. S. 158 „Pandora". J. A. Bd. 37 S. 92 (311), wo Goethe Johannes
Sekundus erwähnt.

Der 1. Druck der älteren Fassung erschien 1848 als Goethes
Briefe an Frau von Stein herausgegeben wurden.

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Goethes zweiter Weimarer Herbst ist da. Eine deutliche Krise
in seinen Beziehungen zu Charlotte von Stein tritt in diesen Wochen
ein. Vgl. seine Briefe an sie vom 10. Sept. 1776 und vom 7. Okt. 1776.
Aus dem Oktober 1776 sind wahrscheinlich die der Frau von Stein
zugeschriebenen Worte:

„Obs unrecht ist was ich empfinde —"

„und ob ich büszen musz die mir so liebe Sünde"

„will mein Gewiszen mir nicht sagen;"

„vernichf es Himmel du! wenn michs je könnt anklagen."

Charlotte vermeidet, wie mir scheint absichtlich Weimar, um
das Verhältnis zu klären. Das Tagebuch meldet am 5. Okt. 1776
mit dem bekannten Sonnenzeichen ihre Rückkehr nach Weimar.
Am 7. lesen wir „Nach Tisch O finsterniss." Am 8. „Die O weg".
Erst am 31. Okt. heiszt es: „Stein (sie) angekommen mit ihr zu
Nacht gessen." Nun lesen wir aus der zweiten Oktoberwoche 1776
die Mitteilung „12. — Zu Musaeus getanzt gemiselt bis 3 Uhr
„Morgends." Wenn wir bedenken, dasz Johannes Sekundus beson-
ders die freie Liebe verherrlicht, (Goethe Jahrbuch XIII, S. 205:
„Johannes Secundus haszte den Zwang der Ehe,") dann gehen
wir vielleicht nicht fehl, wenn wir jedenfalls in Goethes Neigungen
unter dem Einflüsse von Charlottens Haltung eine Tendenz in die
niederen Regionen der Liebe vermuten. Sollte er deswegen eben
zu den „Basia" gegriffen haben?

Er las laut Tagebuch vom 1. und 2. Nov. 1776 im Liber Basiorum
des Johannes Nicolai Secundus. Er sandte am 2. Nov. \'76 eine
Dichtung, die deutlich unter dem Einflüsse dieser spätlateinischen
Gedichte steht, an Frau v. Stein und wandelte sein Gedicht, das
gewisse Härten aufweist, später in ein höher stilisiertes um,\' das
durch Form und Inhalt einer andern, spätem Periode der Go\'ethe-
schen Kunst angehört. Wir haben es hier mit der älteren Fassung
in erster Linie zu tun.

Der Dichter sitzt mit gesprungener Lippe am Feuer seines Herdes.
Mit „Traubensaft" und „Saft der Bienen" will er sich helfen, aber
„von der Liebe alles heilendem Gift-Balsam ist kein Tröpfchen
„drunter."

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Wie in mehreren der vorhergehenden Gedichte für Charlotte
von Stein, ist dem Dichter Liebe und Leid eins. Die erste Fassung
des Gedichtes steht mit seinem „Gift-Balsam" der Realität viel
näher als die spätere Überarbeitung „Liebebedürfnis" (J A Bd
2 S. 70), wo blosz über „Balsam" der Liebe gesprochen wird" Vgl\'
auch Goethes Brief an Frau v. Stein vom 3. Nov. 1776: „Ich bitte
„Sie um das Mittel gegen die Wunde Lippe. —"

Die Reihe der bisher stark tagebuchartigen poetischen Gebilde
(nr. 1—11), denen eine unvermittelte Innigkeit eignet, wird hier
von emem Versuche durchbrochen, das Individuelle, Zuständliche
nach gegebenem Muster zu modeln.

Die ältere Fassung unseres Gedichtes zeigt uns Goethe weit
weniger „klassisch" als die jüngere. Er ist vor Liebe krank Noch
erhebt er sich nicht leicht und strahlend über der Liebe Leiden
wie m dem späteren, geglätteten: „Liebebedürfnis."

Das Gedicht: „An den Geist des Johannes Sekundus" hat einen
ganz andern Ton als die vorhergehenden Gedichte für Frau von
Stein. Es ist verglichen mit den vorigen weniger zärtlich und weniger
grüblerisch, es hat etwas Heftiges an sich, es übertreibt und man
könnte sogar vermuten, es sei weniger ernst. Die Art und Weise,
wie der Dichter von der Liebe spricht, erinnert an Verse seiner
Leipziger Studentenzeit und deutet schon hin auf die Periode der
Elegien.

Nicht nur in diesem Gedichte ist Goethe mit Johannes Secundus
verwandt. Auch in der Auffassung von Ehe und Liebe überhaupt
zeigt sich Ähnlichkeit zwischen beiden, sowie sie ein höchst indi-
viduelles Interesse für klassisch-lateinische Kunst, die Lust am
Reisen, die Mehrseitigkeit in der künstlerischen Veranlagung gemein
haben, worüber uns Georg Ellinger, Goethe-Jahrbuch XIII S 199—
210 des Näheren belehrt.

13. J. A. Bd. 3 S. 87. [W. A. Bd. 4 S. 99].

„Was mir in Kopf und Herzen stritt _"

Anmerkung: Das Datum steht nicht fest. Gräf „Goethe
über seine Dichtungen, Lyrik II, 2 S. 880 "führt es in der chron.

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Übersicht mit Vorbehalt unter dem 28. IV. 1777 an. Es fehlt in
seinem Register dess. Bds. - Unter den Briefen Goethes an Frau
von Stein steht es zwischen dem 28. April und dem 29. April 1777.
Am 28. April schreibt er ihr: „Gestern hab ich einen wunderbaaren
„Tag gehabt, habe nach Tisch von ohngefähr Werthern in die Hand
„gekriegt, wo mir alles wie neu und fremd war."

Die Erinnerungen an Werthers Leiden mehren sich. Sowohl
dieses kleine Gedicht, wie zu vermuten ist, als auch die Briefe von
der Reise in den Harz aus dem November und Dezember 1777
reichen mit ihren Wurzelfasern in die Wertherschicht.

Es wäre hier der Ort zu betonen, dasz die landläuifige Ansicht,
Goethe habe sich seine Gefühle durch seine Werke von der Seele
geschrieben, sie besiegt, sie abgetan auf immerdar, nicht Stich hält
Die lyrischen Gedichte Goethes, wie seine Werke überhaupt sind
nur als Glieder in der Kette unbewuszter, halbbewuszter,\'ganz
bewuszter und wieder ins Unterbewuszte zurückflutender Seelen-
regungen zu betrachten. Die Wertlierempfindungen des Wetzlarer
Goethe entstanden, wuchsen, traten gipfelnd u. a. durch seinen
berühmten Jugendroman in die Erscheinung, flauten ab, schliefen
ein, sind aber vor Goethes eignem Tode potentiell nie in ihm unter
gegangen.

Wir hätten sonst nie „Goethes Briefe an Frau von Stein" die
hier besprochenen Gedichte, nie den „Tasso", die Umarbeitung des
ursprünglichen Werther, und die „Trilogie der Leidenschaft" aus
den Händen dieses Mannes erhalten.

Dennoch dürfen wir Goethes Zustände, die den Werther zeitigten
und die in Weimar nicht ohne weiteres identisch nennen Es sind
verwandte Seelenstufen. Die ältere deutet er als ,;träumend " die
Jüngere als „wachend" an. \'

14. J. A. Bd. 1 S. 65. [W. A. Bd. I S. 100, 393].

„An den Mond".
„Füllest wieder Busch und Tal —" (F G II)

9 ^^RRr\'VJ V f\' Dichtungen, Lyrik II,

2 S. 881 notiert als Zeit der Entstehung „1777 VII Ende (1778-?)" -

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Goethes Briefe an Frau von Stein" bringen zwischen Zetteln aus

dem Ma, 1778 eme ältere Fassung, die von der jetzt vorliegenden
mehrfach bedeutend abweicht. vurnegenden

Erschütternd brachen die Werther-Gedanken Anfang des lahres
778 Uber den Dichter herein, als seine Diener, wie er am 7
Januar 1778 m den Tagebüchern berichtet, die Leiche der Chri^iane
von Laszberg unweit seines Gartenhauses aus der Ilm zogen Go h"
Werther trug die Selbstmörderin noch im Tode bei
sifh ,An den
Mond , emes der dunkelsten und schönsten Gedichte Goethes wer-

scheinTchTeilw " -

Fntl c^\' dJ^ der Tod der Laszberg _

^olge emer Seelenverfassung welche mit Goethes eigenen WertLr
gedanken verwandt war - in ihm auslöste.
Besehen wir erstens die ältere Fassung:

„An den Mond."

„Füllest wieder\'s liebe Thal"
„Still mit Nebelglanz"
„Lösest endUch auch einmal"
„Meine Seele ganz"

2- „Breitest über mein Gefild"

„Lindernd deinen Blick"
„Wie der Liebsten Auge, mild"
„Über mein Geschick."

„Das du so beweglich kennst"
„Dieses Herz in Brand"
„Haltet ihr wie ein Gespenst"
„An den Flusz gebannt"

4. „Wenn in öder Winternacht"

„Er vom Todte schwillt"
„Und bei Frühlingslebens Pracht"
„An den Knospen quillt."

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5. „Seelig wer sich vor der Welt"
„Ohne Hasz verschlieszt"
„Einen Mann am Busen hält"
„Und mit dem geniest,"

6. „Was dem Menschen unbewust"
„Oder wohl veracht"

„Durch das Labyrinth der Brust"
„Wandelt in der Nacht." (F. G. I.)

In dieser Form kommt das Gedicht mit hinzugefügter Vertonung
der ersten Strophe bei Heinemann zwischen den Billetten vom
Mai 1778 vor. Ob die Komposition von S. von Seckendorff oder
von Kayser ist, scheint nicht festzustehen. (Vgl. Gräf, „Goethe
ü. s. Dichtungen, Lyrik I S. 52, 26"). Julius Petersen, der Heraus-
geber von „Goethes Briefen an Charlotte v. Stein" im Insel-Verlag,
setzt das Gedicht auch in den Mai 1778 (1 Bd. S. 109 f.) Suphan
teilte zuerst eine Abschrift Herders mit, wo in F. G. I Strophe 3, 3
nicht ,haltet\', sondern ,hallet\' zu lesen ist. Obgleich die Herderische
Lesart der Verszeile einen ganz anderen Sinn gibt, vielleicht sogar
Goethes ursprüngliche Absicht ausdrückt, ist diese Änderung gering
verglichen mit den anderen, mit den Erweiterungen die F. G. II
aufzeigt, wenn wir F. G. I zur Vergleichung heranziehen.

Das Tagebuch Goethes erwähnt am 24. Juli 1777: „Im Garten
,.geschlafen in herriichem Mondschein aufgewacht." Am 27. Juli
d. J.: „Abends Gespenster." Damals war Frau v! Stein abwesend
Unter dem 29. Juli d. J. meldet uns Goethe: „Abends die Stein
„zurück von Pyrmont unerwartet." Am 9. Nov. 1777 heiszt es-
„Schöne Mondnacht". Am 12. Nov. d. J.: „Herri. Mondnacht
„auf den schönsten Tag". Am 16. Januar 1778: „Hatte traurig in
„mich gezogene Tage". Am 17. Januar buchte Goethe den Tod
der „Cristel v. Lasberg". Weiter: „Nachmittags beschäfftigt mit
„der Todten die sie herauf zu ©gebracht hatten." Am 18 Januar-
„Viel über der Cristel Todt. Dies ganze Wesen dabey ihre lezten
„Pfade pp." „In stiller Trauer einige Tage beschäfftigt um die

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„Scene des Todts, nachher wieder gezwungen zu theatrahschem
„Leichtsinn". Am 13. Februar 1778: „Abends im Garten". „Nachts
„zu O wieder in Mondsch. mit ihr spazieren". Am 12. Februar
1778 meidet das Tagebuch: „fortdauernde reine Entfremdung von
„den Menschen." Ohne Datum Anfang März 1778: „Stockende
verschlossene Tage".

Sollte nun dieses herrliche Lied Goethes keine Herzensbeichte
sein? Drückt er in diesem Gedichte wohl die Empfindungen eines
Mannes aus, aber nicht die eigenen, sondern die eines andern, z
B. Plessings?Ist etwa „der Liebsten," F. G. 1 Strophe 2, verschlepptet
Schreibfehler für „des Liebsten"? Dadurch könnte mit Rücksicht
auf Strophe 5 der Fassung F. G. 1 das ganze Gedicht als eine Frauen-
klage aufgefaszt werden, was zwar bei einem Dichter wie Goethe,
der vorzugsweise Selbstbekenntnisse gibt, für ein so wertvolles
Lied nicht ohne weiteres angenommen werden darf.

Drückt dieses Lied Empfindungen aus, die dem Dichter das
Verhältnis zu Corona Schröter, deren er im Tagebuch jener Zeit
öfters gedenkt, oder einem andern „Misel" einflöszte? Derartig
innige Gedichte sind aus dieser Periode Goethes für andere Frauen
als Charlotte von Stein nicht sehr wahrscheinlich.

Nein, nach allem, was zu nr. 1 und 3 gesagt wurde, unter Berück-
sichtigung der oben aus dem Tagebuch zitierten Stellen, liegt die
Hypothese auf der Hand, dasz in der zweiten Strophe des Liedes
„An den Mond" F. G. 1 die Beschwichtigerin seiner Seelenqualen,
Frau
V. Stein, verherrlicht und mit dem Mond in der dritten Strophe
durch „ihr" angeredet wird. Vorausgesetzt sei hier, dasz wir die
abweichende Herderische Lesart auszer Betracht lassen.

Wenn wir weiter annehmen, die dritte Strophe der Fassung F.
G. 1 sei nach dem Tode der Laszberg entstanden, dann kann „Ge-
spenst" als eine Anspieiing auf sie gedeutet werden. Schreibt Goethe
doch am 19. Januar 1778 an Frau v. Stein:

_____ich kans meinen Jungen nicht verdenken die nun Nachts nur

„zu Dreyen einen Gang hinüber wagen, eben die Saiten der Mensch-
„heit werden an ihnen gerührt, nur geben sie einen rohem Klang."

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Trifft das niclit zu, entstand die Stroplie vor dem Tode der
Christiane von Laszberg, dann ]<önnte man an die merl^würdige
Notiz vom 27. Juli 1777 denken: „Abends Gespenster."

Goethe vergleicht jedenfalls sein Herz mit einem Gespenste, das
steht durch die dritte Strophe F. G. I fest. Das läszt sich so zurecht-
legen, ob er nun an die „Cristel" denkt ja oder nein: Goethe, der
Dichter, sieht sich indem das Ich ein zweites Ich abspaltet\', als
Gespenst, als ,revenant\' aus früheren Zeiten, weil er wertherartig
fühlt, wieder derartiges erlebt. Eine ähnliche Spaltung der eigenen
Person kommt bekanntlich auch in dem Gedichte „Ilmenau" vor.

Wie dem auch sei: in den Strophen 1, 2, 3 und 4 der älteren Fas-
sung dieses Liedes, F. G. I, spricht der Liebhaber, Goethe, ein direktes
Selbstgeständnis aus, daran ändert die Annahme oder Ablehnung
der Herderischen Lesart „hallet" nichts.

Die 5. und 6. Strophe bereiten aber Schwierigkeiten. In der
5. Strophe, F. G. I, finden wir:

„Einen Mann am Busen hält"
„Und mit ihm genieszt,____"

Das Wort „Mann" könnte auf ein neues Thema neben dem ersten
Motiv hinweisen. Nicht die Liebe zwischen Mann und Frau wie
in den Strophen 1^, sondern die Freundschaft, oder gar die Liebe
zwischen Mann und Mann wäre gemeint?

Soweit bekannt ist, war Goethe um 1778 mit keinem Manne

so sehr befreundet, dasz er dies hätte schreiben können. Überhaupt

hatte Goethe wohl nie in seinem Leben eine solche Männerfreund-
schaft.

Spricht der Dichter aus der Seele der Einsamen heraus? Oder
ist es etwa die Geliebte, die nach dem Liebenden aus den Strophen
1—4 sich äuszert in den beiden letzten?

Da wäre das Gedicht als eine Art poetischen Dialogs zu fassen,
der in zwei ungleiche Teile zerfiele. (4 Strophen gegen 2).

Es sei erlaubt die oben ausgesprochene Hypothese weiter durch-
zufuhren: Das ganze Gedicht älterer Fassung, F. G. I, wie es uns

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vorliegt, ist nicht die Verkörperung der\'ursprünglichen Absicht
Goethes. Wir haben schon gesehen, dasz die Strophen 1—4 als
direktes Selbstbekenntnis Goethes aufgefaszt werden können. So
hat Goethe auch in den beiden letzten Strophen seine geträumte
Seligkeit bekennen wollen, es aber aus irgend welcher Rücksicht
nicht getan.

Es steht nämlich fest, dasz Goethe bei den Gedichten, die er
nicht in der Mappe behielt, die er nicht ausschlieszlich der Geliebten
vorlegte, bisweilen auf die Gesellschaft, in der sie lebten, Rücksicht
nahm und das Individuellste wohl einmal verschleierte. (Vgl. z. B.
die Korrespondenz vom 20. Sept. 1781, Goethe an Frau von Stein).
Er kann auch Rücksicht auf das Gedicht als Kunstwerk genommen
haben, worüber weiter unten mehr.

Wir haben es m. E. mit einer Umbiegung des ursprünglichen
Gefühles zu tun. Goethe gibt in den Strophen 1—4 direktes Selbst-
bekenntnis, in den beiden letzten legt er seine Entzückung in den
Mund eines Mädchens oder einer Frau.

Das vernichtet in der vorliegenden älteren Fassung des Gedichtes,
F. G. I, die einheitliche künstlerische Komposition, Frau von Stein
verstand den Sinn aber. Die Verschleierung ist ja auch durchsichtig
genug, besonders da in der zweiten Strophe „der Liebsten"
stehen blieb.

Es war Goethes ursprüngliche Absicht den Liebenden das ganze
Lied sagen zu lassen.

Nun erfuhr aber das Gedicht sehr bedeutende Erweiterungen
und Umänderungen. Es erfuhr in Goethe eine fast total neue Kris-
tallisation, die wir die neuere Goethesche Fassung, F. G. II, nennen,
in welcher das Lied uns jetzt unter seinen anderen Gedichten ge-
druckt vorliegt.

Dieser Neubildung geht etwas anderes vorher. Als Goethe Anfang
Sept. 1786 die Reise nach Italien antrat, ohne dasz Frau v. Stein
um seine Pläne wuszte, als ihr die Ahnung, sie sei von ihm „ver-
lassen", allmählich zur Gewiszheit wurde, da dichtete Charlotte
von Stein eine Parodie zu dem Goetheschen Liede „An den Mond",

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nach ihrer Manier, und legte in diese Nachdichtung manches von
ihren Liebesschmerzen hinein. (Vgl. Goethe-Jahrbuch XXX S.
86—113 „Goethes Gedichte in künstlerischer und in wissenschaft-
licher Erläuterung" von Eugen Wolff; Bode „Charlotte von Stein"
S. 259 f.; Litzmann „Goethes Lyrik" S. 110 f.)

Die Frau von Steinsche Form des Goetheschen Liedes lautet
(F. St.):

„An den Mond nach meiner Manier."

1. „Füllest wieder Busch und Tal"
„Still mit Nebelglanz,"
„Lösest endlich auch einmal"
„Meine Seele ganz."

2. „Breitest über mein Gefild"
„Lindernd deinen BUck,"
„Da des Freundes Auge mild"
„Nie mehr kehrt zurück."

3. „Lösch\' das Bild aus meinem Herz\'"
„Vom geschiednen Freund,"

„Dem unausgesprochner Schmerz"
„Stille Tränen weint."

„Mischet euch in diesen Flusz!"
„Nimmer werd\' ich froh:"
„So verrauschte Scherz und Kusz"
„Und die Treue so."

„Jeden Nachklang in der Brust"
„Froh\' und trüber Zeit"
„Wandle ich nun unbewuszt"
„In der Einsamkeit."

»Selig, wer sich vor der Welt,"
„Ohne Hasz verschlieszt,"
„Seine Seele rein erhält,"
„Ahndungsvoll genieszt,"

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7, „Was dem Menschen unbekannt"

„Oder wohl veracht\' "
„In dem himmlischen Gewand"
„Glänzet bei der Nacht".

Diese Parodie der Frau von Stein hat nun den Dichter auf irgend
einem Wege erreicht und wurde ihm so die Brücke zu seiner letzten
Redaktion, F. G. II. Die chronologische Reihenfolge der Fassungen
wäre demnach:

F. G. I. _ F. St. — F. G. II.

Die letzte Fassung erschien 1789 zum ersten Male gedruckt.
(Vgl. Gräf „Goethe ü. s. Dichtungen Lyrik II, 2 S. 1070").

So hätten wir in der neueren Goetheschen Fassung, F. G. II,
ein Beispiel produktiver Kritik Goethes. Auch später hat sich
Goethe wohl in einen poetischen Wettstreit mit einer Frau einge-
lassen. (Vgl. Marianne von Willemers Anteil an dem „West-öst-
lichen Divan.")

Nicht nur erweitert jedoch, inhaltlich neu wurde das Gedicht.
F. G. II ist: Frauenklage. Einsam ist die Verlassene. Scherz und
Kusz und Treue sind verrauscht. Was sie doch einst besasz, was
so köstlich ist, zu ihrer Qual wird sie es nie vergessen. Und die
ganze Seligkeit der entschwundenen Zeiten steigt auf.

So bildet das Gedicht einen mehrfachen Gegensatz zu der Absicht,
die hinter der älteren Goetheschen Redaktion, F. G. I, angenommen
wurde. Die ältere Fassung drückte Klage des Einsamen aus, dem
die Liebste zwar fehlt, jedoch nicht verloren ging. Die neuere ist:
Klage der Verlassenen, die in ihren Erinnerungen lebt.

Dabei mag besonders ins Gewicht gefallen sein, dasz die Rolle
des Verlassenseins dem Mädchen, der Frau natürlicher liege als
dem Manne, oder dem Jünglung, und so dürfte der Dichter seine
Seelenschmerzen u. a. auch aus künstlerischen Rücksichten, wozu
Ansätze schon in der älteren Fassung da waren, durch die Maske
des Mädchens, der Frau gesprochen haben.

Zu guter Letzt hat vielleicht sogar die Stellung unter den übrigen
Gedichten zu der heutigen Form etwas beigetragen. Seit dem Jahre

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1789, wo es zuerst im Druck erschien, gehen „Wanderers Nacht-
lied" und „Jägers Abendlied" vorher. Seit dem Jahre 1815 (Werke
Cotta (2) Bd. 1 nr. 73, 74, 75 und 76 der Lieder) folgen sich „Wande-
rers Nachtlied", „Ein gleiches", „Jägers Abendlied" und „An den
Mond". Das wieder darauf folgende Gedicht liesz Goethe den Platz
wechseln. Ich vermute, dasz Goethe diese Gedichte als eine Einheit
inmitten der anderen aufgefaszt hat. Wenn es nun gestattet ist,
diese thematisch unbedingt verwandten Lieder wechselnd als von
männlicher und weiblicher Stimme gesprochen sich zu denken,
dann käme selbstverständlich nach der männlichen vox humana
des Jägerliedes in unserem Gedichte die weibliche an die Reihe

15. J. A. Bd. 3 8. 88. [W. A. Bd. 4 S. 21IJ.

„Mit einer Hiazynthe".

„Aus dem Zaubertal dortnieden, —"

Anmerkung: Das Gedicht wurde am 25. April 1778 an Char-
lotte von Stein geschickt. Gedruckt wurde es zum ersten Male 1848.

Duftig milde Frühlingsfrische atmet aus diesen beiden Strophen.\'
Der Zauber einer besseren Welt webt seinen Frieden im Gemüte
dessen,

„Der dich immer treu und besser,"
„Als du glauben magst, geliebt."

Ob jedoch die Geliebte ihrerseits unrecht hatte, als sie ihn nicht
stets für so treu und gut ihr gegenüber hielt wie an jenem Früh-
hngsmorgen? Seit dem 14. Februar 1778 bis Ende April, wo unser
Gedicht entsteht, wird Corona Schröter neun Mal im\'Tagebuch
genannt, Frau v. Stein acht Mal, ein Mal „Steins" (am 18 März
1778). Am 13. März heiszt es: „Nachts zu Cr. War in schönem be-
stä igtem Wesen." Am 15. März dagegen:
„zu 0 zu Tische. Leb-
hafftes Gespräch. Seltsame Gährung in mir." Am 13. April geht

^^\'■t\'-ägen und Aufsätzen"
zwar sSn ir Hilfsmittel philologischer Kritik" u.a.

Xr nS die ve JhVH\'\'\'^^";.^ beleuchtet, leider

Sn re Gedichtes Steinsche Bearbeitung

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er von Ilmenau zu Fusze nach Stüzzerbach und notiert ... leicht-
fertige Mädels." Am 14. April: „Tags über Tohrheiten." \'

Mag das alles recht unschuldig gewesen sein, wir sehen, wie sich
sein Herz nach verschiedenen Richtungen ziehen läszt. Das wird
Frau von Stein, schon einmal durch Goethe selbst, nicht ganz un-
bekannt gewesen sein. Sie wird sich eben eine, wenn auch besondere
auserwählte, unter vielen gefühlt haben. \'

Besser fühlt sich der Dichter aber, dieser idealen Auserwählten
näher, und er möchte seine bessere Stimmung auf sie hinüberhau-
chen wie Hiazynthenduft des jungen Jahres.

16. J. A. Bd. 2 S. 161. [W. A. Bd. 2 S. 270T(354)].

„Warnung"

„So wie Titania im Feen- und Zauberland —"

Anmerkung: Das kleine Gedicht kommt ohne Überschrift,
mit dem Anfange:

„Wie einst Titania im Traum- und Zauberland.—" vor zwischen
einem Briefchen Goethes an Frau von Stein vom 10. Dez. 1778.
Nachm. 2 Uhr und einem andern vom 11. Dez. 1778.

E. V. d. Hellen macht J. A. Bd. 2 S. 321 die Bemerkung: „Vgl.
Shakespeares „Sommernachtstraum" IV, 1. Wie dort Titania, so
„soll der Angeredete — der Dichter selbst — eine Enttäuschung
„erleben, indem er, von lieblichem Traum erwachend, ein Märchen-
„wesen, d. h. nichts im Arme hält; vg. Venez. Epigr. nr. 100, 6
„(Bd. 1, S. 226)." Fritz von Stein hat zu diesen Versen bemerkt:
„Ein Vers, der Goethen geträumt hatte." (Vgl. „Goethes Briefe
an Frau v. Stein" hrsg. von Adolf Schöll, dritte umg. Aufl. besorgt
V. Julius Wahle. 1, 529 Anm. 4 zu S. 136).

Es ist ein wichtiger Monat, in den man diese abstrusen Verszeilen
gestellt hat. Im Tagebuch des Dez. 1778 heiszt es vor dem 5.: „War
„zugefroren gegen alle Menschen." Am 8.: „Nach Tiefurt wo mich
„alles an den Menschen ärgerte. Drum macht ich mich weg nach
„Hause. Hatte Lust zu nichts." Am. 9.: _____leidig Gefühl der

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„Adiaphorie so vieler wiclitig seyn sollender Sachen. Zu O essen,
„wenig aber gut nach Tisch gesprochen, sie kommt mir immer
„liebenswürdig vor, obgleich fremder. Wie die übrigen auch." In
Goethes Briefchen an Frau v. Stein vom 10. Dez. 1778 Nachm.
2 Uhr.finden wir: „Behalten Sie mich lieb auch durch die Eiskruste."
Darauf folgt unser kleines Gedicht. Am 11. Dez. schreibt Goethe
ihr: „Dancke liebste, dasz Sie nach meinen Verworrenheiten fragen.
Am 14. Dez. (vgl. das Tagebuch wieder) hat er ein wichtiges Gespräch
mit dem Herzog über Ordnung, Polizei, Gesetze und bemerkt dazu:
„Verschiedene Vorstellung. Meine darf sich nicht mit Worten aus-
„drücken, sie wäre leicht misverstanden und dann gefährlich." —
Auch die weiteren Eintragungen im Dez. 1778 sind bedeutend.

Der innere Goethe wächst in diesen Wochen sichtbar in die Tiefen
der Einsamkeit. Etwas Mehrschichtiges wird vor uns geöffnet.
Wir können diese verschiedenen psychischen Schichten an seinen
Notizen ablesen. Dazu gehört das kleine Gedicht.

Er fühlt sich in seiner Liebe entzaubert. Wie nach einer vehe-
menten Explosion in den lautlosen Bereichen der Seele ist der
ganze Aspekt ein anderer geworden:

„Be as thou wast wont to be;"
„See as thou wast wont to see —",

(Shakespeare. A Midsummernight\'s dream IV, 1.)

Sogar wenn Goethes Zeilen aus träumendem Zustande herrühren,
werden wir ihnen bedeutenden Sinn beilegen müssen, denn erstens
hat Goethe sie der Geliebten zugeschickt wohl mit dem dunklen
Gefühle ihrer sibyllinischen Bedeutung, zweitens liesz er sowohl
1815/17 als auch 1827/28 den kleinen Vers mit der Überschrift
„Warnung" abdrucken, hat das merkwürdige poetische Produkt
also nach vielen Jahren mehr als einmal der Aufnahme unter seine
anderen Gedichte wert gefunden. —

17. J. A. Bd. 3 S. 89. [W. A. Bd. 4 S. 100].

„Zum neuen Jahr"
„1779"

„Du machst die Alten jung, die Jungen alt —"

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Anmerkung: Vgl. zum Titel und zur Jahreszahl Goethes
Briefe an Frau v. Stein." - Tagebuch d. 30. Dez. 1778: , Nachm
„nach Apolda mit Seckend. gefahren. War die Jagd Parthie vergnügt
„Nachts bis halb.
1. mit S. die Neuiahrsw. geschmiedet" 1779
Januar 1.: „die Posse mit den Neujahrs Wünschen volführt zu Q
„essen. Bey Hofe. Mit den Leuten gut." — Vgl. weiter J. A Bd 3
S. 319, wo
V. d. Hellen sagt: „Goethes Anteil an diesen flüchtigen
„Reimscherzen scharf abzugrenzen, wird nie gelingen. —" Dagegen
bemerkt Gräf „Goethe über s. Dichtungen, Lyrik I S. 55, 19".
„Von den 23 Neujahrswünschen hat Burkhardt 22 nach der Hand-
„schrift Philipp Seidels im Goethe-Jahrbuch XXV, 55/61 veröffent-
„licht; nur bei zweien (7 und 15) ist Goethes Verfasserschaft ganz
„sicher."

Spöttisch chargierend drücken diese Zeilen aus, dasz Frau v. Stein
die Gabe bezitzt „das menschliche Geschlecht" umzuwandeln,
geistige Werte in ihren Gegensatz zu verkehren. Absichtlich ge-
handhabt wird ein solches Talent Quertreiberei. Hat der Dichter
durch die Blume seines Spottes so etwas andeuten wollen?

18. J. A. Bd. 3 S. 90. [W. A. Bd. 4, S. 213].

„Deine Grüsze hab\' ich wohl erhalten. —"

Anmerkung: Am 19. April 1779 der Frau v. Stein zuge-
schickt, wurde es zum ersten Mal mit Goethes Briefen an sie gedruckt
1848.

Es malt unser Gedicht die Liebe in tausend Gestalten. Es sind
alles Emanationen derselben Gottheit: die Grüsze der Geliebten,
der Blumen Farbe und Duft. Und diese oft „zu" herrliche Gottheit
ist die Liebe. „Neues bringt sie täglich hervor," allein es bleibt
nicht, es flieht wie ein schwankender Traum. Es ist alles flieszendes
Gleichnis.

In diesem Gedichte liegt der chorus mysticus, womit der zweite
Teil des Faust in erhabener Weise schlleszt, jugendlich vorgebildet
verborgen.

„Alles Vergängliche"
„Ist nur ein Gleichnis —"

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woran wir uns wie am Himmel ergötzen. Der Dichter sieht seine
Liebe im Zusammenhang mit allem Bestehenden, auf Erden sowie
im Himmel und ordnet sie einer höheren Liebe unter, deren Abbild
ihm auch die seinige ist.

19. J. A. Bd. 3, S. 93. [W. A. Bd. 4, S. 213].

„Man will\'s den Damen übel deuten —"

Anmerkung: Unter „Goethes Briefen an Frau von Stein"
findet sich das Gedicht zwischen Billetten vom 13. und 14. Mai
1779. Gedruckt wurde es zum ersten Mal 1848. E. v. d. Hellen,
J. A. Bd. 3, S. 322 nr. 65 setzt es auf den 9. Mai 1781 und vergleicht
Goethes Briefchen dieses Datums an Frau von Stein mit dem Gedicht.

Es handelt sich wahrscheinlich in beiden Fällen um die Gabe zu
einem Fest, z. B. einem Geburts- oder Namenstag irgend einer
sowohl der Frau v. Stein, Goethe als auch Knebel bekannten Person.
Frau von Stein verschickt Gebäck als „Andenken", sowohl im Mai
1779 als auch im Mai 1781. Nur sprechen 1781 die Briefe ein paar
Tage früher darüber, da Goethe eine Überschrift liefern soll, und
damit versehen wird das Herz den 9. Mai 1781 von Goethe der Frau
V. Stein zurückgesandt, die es etwa als Gratulationsgeschenk weiter
schickt. („Hier ist das Herz und die Überschrift.") Um welches
Fest es sich handelt, entzieht sich meiner Beobachtung.

V. d. Hellens Datierung nun möchte ich ablehnen, da Goethe den

13. Mai 1779 der Frau v. Stein schrieb: „Ihr Frühstück habe ich

„noch in Tiefurt genossen. Knebel danckt fürs Andencken. Dasz

„Sie\'s durch mich gegeben haben war auch freundlich, denn ich

„hätte doch sonst einige Eifersucht gehabt ob ich schon das grösere

„Herz gekriegt habe. Zu Tische komme ich bald. Hier schick ich

„indesz ein doppelt A. Ich möchte Ihnen jede Stunde was zu geben

„haben." In unserem Gedichte nun ist tatsächlich leise Eifersucht
fühlbar:

„— 0 du, des Hofes Zierd und Ehre!"

„Du schonst gar weislich deins"

(= Herz, de B.)

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„Und hast gelegentlich für jeden eins",

„Und wenns auch nur von Mehl und Farben wäre."

Vorsichtig scherzend macht er ihr im Grunde den Vorwurf dasz
sie „gelegentlich für jeden" ein Herz habe!

Ein anderer im Gedichte ausgedrückter Grund fällt noch schwerer
ins Gewicht: Goethes Beziehungen zu Charlotte waren 1781 weit
intimer als 1779. Konnte er im Jahre 1779 noch stichelnd, vor-
wurfsvoll scherzen: „Du schonst gar weislich" dein Herz! — im
Jahre 1781 lebt er in ihrer Liebe schönem Besitze.

Unser Gedicht ist spöttischer poetischer Dank für die Gabe der
Frau von Stein, deren Goethe am 13. Mai 1779 erwähnt. Es ist
eine Spielerei und dennoch nicht ohne tiefere Bedeutung, wie so
mancher Witz, da es uns deutlich sagt, „die Teilung der Herzen"
sei in Weimarer Hofkreisen nicht ohne Bedenken gebilligt worden.
Und doch liegt eben in dem Spott ein Sich-erheben über solches
Geträtsch.

20. J. A. Bd. 25 S. 284. [W. A. Bd. 5 (1) S. 161 etc.J

„Der vierte Theil meiner Schrifften"
„Berlin 1779 bey Himburg."

„Langverdorrte, halbverweste Blätter vor\'ger Jahre, —"

Anmerkung: Für Überschrift und Anfang vergleiche man
„Goethes Briefe an Frau von Stein", wo das Gedicht zwischen den
Briefen aus dem Juli 1779 vorkommt. J. A. Bd. 25 S. 11 bringt
auch eine neuere bedeutend umgearbeitete Fassung.
. Das Gedicht bezieht sich nicht auf Goethes Liebe für Charlotte
von Stein, wurde ihr aber zugeschickt. Nur kann der damals Ver-
ehrten und Geliebten eine Ahnung von des Dichters Interesse für
die Überreste entschwundener Liebeszeiten aufgestiegen sein. —
Alles flieszt.

21. J. A. Bd. 2 S. 44. [W. A. Bd. 2 S. 56].

„Gesang der Geister über den Wassern."

„Des Menschen Seele —"

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Anmerkung: „Vgl. Goethes Briefe an Frau von Stein."
Thun d. 14. Okt. 1779: „Von dem Gesänge der Geister habe ich
„noch wundersame Strophen gehört, kann mich aber kaum bey-
„liegender erinnern."

Wie bei der Harzreise, so drängt sich auch hier die Frage auf:
Welche tiefere Bedeutung haben für Goethes Psyche die kleinen
und groszen Reisen gehabt, die ihn von Weimar entfernten? Haben
sie nie eine Verwandtschaft mit seiner fluchtartigen Reise nach
Italien gehabt? Sind sie nicht als deren Vorstufen zu deuten?

Am 25. Juli 1779 heiszt es in seinem Tagebuch: „Es weis kein
„Mensch was ich thue und mit wieviel Feinden ich kämpfe um
„das wenige hervorzubringen." Am 30. dess. Monats: „Neue Con-
„duite fürs künftige. Vorsicht mit dem Herzog. Von einem gewissen
„Gang nicht abzuweichen."

Am 10. Okt. 1779 hören wir aus der Schweiz: „Der Herzog wollte
„es auch noch immer toller (Steine abwälzen, de B.), ich sagt ihm
„das wäre das und mehr fänden wir nicht." Der Herzog liebte es
bekanntlich den Speck zu spicken. Da nun Goethe den Herzog als
immer noch im geistigen Wachsen begriffen ansah, da er fand,
dasz Karl August fast täglich an „innerer Kraft, Fassung, Aus-
dauern, Begriff, Resolution" zu nehme (Tagebuch, Anfang Juli
1779), hat Goethe den Herzog wahrscheinlich wohl bewuszt aus
den kleinlichen Verhältnissen In Weimar einmal loslösen wollen
und als Menschen ihn den Menschen und der grandiosen Natur
der Schweiz gegenüberstellen wollen, um den dämonischen jungen
Fürsten das menschliche Masz der Dinge besser finden zu lassen ■—
und hat für sich selbst wohl auf dieser Reise auch etwas zu errei-
chen gehofft.

Seine lebenslängliche Neigung den Ort zu wechseln, die enorme
Reihe der Beschäftigungen in Kunst, Studium und Amt, der Hunger
nach Menschen, mit denen seine Beziehungen so oft wechselten,
so selten gleichartig blieben, seine Innere Unruhe überhaupt sind
äuszere Symptone für seelisches Anderswerden, für
Entwickelung.
Dieses Sichentwickeln, das Anderswerden war Schicksal. „Bewegung
ist mir ewig nötig." (Tagebuch, den 31. Sept. 1779).

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Er war innerlich anders geworden, anders werdend. Ein derartiges
Stadium hatte dieser Mensch erreicht, dasz er mal von den Menschen
und Dmgen seiner nächsten Umgebung abrücken, weiter als sonst
sich entfernen muszte. Er miszt sein Inneres an den Eltern an Lili
an Schlossers, an Lavater und er kehrt nach Weimar zurük mul\'
„tum mutatus ab illo." (Wieland an Merck, den 17. Januar 1780)

Der Dichter zeigt uns in diesem auf der Schweizer Reise ent-
standenen Gedichte, wie in nr. 18, den Menschen als eins mit der
weiteren Natur. Dort war das All eudämonistisch: die Liebe Nicht
so sehr Eros, als vielmehr die christliche „Liebe Gottes" schimmerte
durch. (Vgl. zu dieser Auffassung auch die 4. und 5. Strophe des
Maihedes J. A. Bd. 1. S. 46/47).

In dem Liede „Gesang der Geister über den Wassern" stehen
wir nun nicht der Liebe, sondern der erhabenen Gewalt des Schicksals
pgenuber. Die Stimmung des vorliegenden Gedichtes ist nicht
lieblich wie jene Verherrliching der All-Liebe, sondern schwermütig
ernst. In jenem Gedichte wurde auch die Liebe der Menschen einer
herrlich strahlenden, alles umfassenden Liebe eingeordnet, hier
lüftet den Schleier die ewige Moira.

Diese männhchen Strophen Goethescher Gedankenlyrik enthalten
das poetische Bekenntnis zum Determinismus. Alles ist voherbe-
stimmt, auch der Liebe Entstehen und Vergehen.

Er fühlte „seine dreiszig Jahr und Weltwesen" (An Lavater,
Genf, den 2 Nov. 1779). Er steht an einem Wendepunkte seines
Lebens: das Ende des jungen Goethe.

Vgl. noch „Goethe und Johannes Secundus von Georg Ellinger."
Goethe-Jahrbuch XIII, S. 210.

22. J. A. Bd. 1 S. 64. [W. A. Bd. 1 S. 98].

„Ein gleiches"
„Über allen Gipfeln —".

Anmerkung: Wohl am Abend des 6. Sept. 1780 an die Bret-
terwand der Jagdhütte auf dem Gickelhahn bei Ilmenau geschrie-
ben. (J. A. Bd. 1 S. 322). Vgl. auch „Goethes Briefe an Frau v.
Stein" d. 6. Sept. 1780: „Auf dem Gickelhahn dem höchsten Berg

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„des Reviers — hab icii mich gebettet, um dem Wüste des Städt-
„gens, den Klagen, den Verlangen, der unverbesserlichen Verwor-
„renheit der Menschen auszuweichen," — „Es ist ein ganz reiner
„Himmel und ich gehe des Sonnen Untergangs mich zu freuen.
„Die Aussicht ist gros aber einfach. Die Sonne ist unter. Es ist
„eben die Gegend von der ich Ihnen die aufsteigenden Nebels zeich-
„nete ietzt ist sie so rein und ruhig, und so uninteressant als eine
„grose schöne Seele wenn sie sich am wohlsten befindet."

Wenn man aus der durch obenangeführte Briefstellen beleuchte-
ten Situation heraus urteilt, dürfte im Grunde nichts anderes ge-
meint sein, als die Ruhe, die dem Körper und der Seele die kommende,
schöne Nacht im Gebirge verspricht.

Bedenken wir jedoch, dasz dem jungen „Geheimderath" die
Last der Geschäfte 1780 schwer obliegt, heiszt es doch in seinem
Briefe vom 30. Juni 1780 an Frau von Stein: „Mir mögten manchmal
„die Knie zusammmenbrechen so schweer wird das Kreuz das man
„fast ganz allein trägt," dasz ihm „eine Liebe und Vertrauen
„ohne Grenzen" zur Gewohnheit worden ist, dasz er derselben aber
öfters durch die fortwährenden Schwankungen in den Beziehungen
zu Charlotte, oder durch räumliche Trennung von ihr, verlustig
geht, dann bedeutet dieses kleine Lied mehr. Es ist nicht nur realis-
tisches, poetisches Tagebuchblatt, sondern es hat sich eine höhere
symbolische Bedeutung wie ein Edelrost darübergezogen. Es ist
ein leuchtendes Beispiel dafür geworden, wie man Wort für Wort
ein rassereiner Realist und zu gleicher Zeit ein Symbolist hohen
Ranges sein kann.

Aus allem Realistischen hat sich dieses kleine, aber wundervolle
Lied erhoben und ist zum Symbol geworden für eines Menschen
Weltflucht. Auch wohl geheimes Zeichen für des Dichters anhebende
Abkehr von seiner Liebe, die ihm zur Leidenschaft, zur Krank-
heit wurde.

23. J. A. Bd. 3 S. 90. [W. A. Bd. 4 S. 215J.

a. „Ein jeder hat sein Ungemach —" (1—6)

b. „Es fähret die poet\'sche Wut —" (7—12)

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Anmerkung: Diese beiden kleinen Gedichte kommen unter
„Goethes Briefen an Frau von Stein" zwischen einem Schreiben
vom 8. und vom 9. Sept. 1780 vor. Sie entstanden wohl in der ersten
Hälfte des Sept. 1780. Vgl. Goethes Brief an Frau v.
Stein vom H
Sept. d. J.: „Stein entzückt sich über alle Ochsen " —

in d^rblfweis"\'\'

•...„Der Prinz ist gutgesinnt fürs Bett"
„Und ach, wenn ich ein Misel hätt\',"
„So schwätzt\' ich nicht mit Basen.\'\'

War dieses Basen" schon nicht auf Charlotte von Stein gemünzt

w^ r" ^^^ ^"tstand, leicht auf die

Weimarer Verhältnisse bezogen und sich den Damen zugezählt

haben, die hier mit dem Worte bezeichnet werden. Goethe hatte
Ihr vor mehreren Jahren schon geschrieben: „Liebe Frau, leide
„dass ich dich so lieb habe. Wenn ich jemand lieber haben kann\'
„will ich dir s sagen. Will dich ungeplagt lassen." (Goethe an Frau
von Stein den 28. Januar 1776).

Das zweite Gedicht b) ist wohl nicht für Charlotte v. Stein bestimmt
gewesen. Weil Prinz Konstantin, des Herzogs jüngerer Bruder,
damals durch eine leidenschaftlich erwiderte Liebe zu einer wei-
marischen Dame, Karoline von Ilten, den Hof in Verlegenheit
setzte, dürfte sich unser Gedicht b) auf des Prinzen Liebesfieber
beziehen und der Karoline von Ilten gewidmet gewesen sein. Da
diese nun mit der Frau von Stein befreundet war, ist es sehr wohl
möglich, dasz Goethe diese poetische Produktion seiner Korre-
spondenz an Charlotte von Stein zur weiteren Beförderung bei-
gelegt hat. Vgl. Goethe an Frau von Stein, den 12. und den 29.
Okt. 1780.

Am 14. Sept. schreibt Goethe aus Kalten-Nordheim an Frau
von Stein: „Caroline könnte mir wohl für meine Verse auch was
„artigs sagen. Vielleicht ists unterweegs." Wenn sich diese Worte

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Goethes auf unser Gedicht b) beziehen, hat denn etwa der Vers
Karoline von Ilten nie erreicht? Hielt Charlotte diese Verszeilen
vielleicht absichtlich, etwa aus Eifersucht, zurück? Vgl. zur „poe-
tischen Wut" E.
V. d. Hellen J. A. Bd. 3 S. 321.

24. J. A. Bd. 2 S. 45. [W. A. Bd. 2 S. 58].

„Meine Göttin"
„Welcher Unsterblichen —"

Anmerkung: Unter „Goethes Briefen an Frau von Stein"
erhalten mit dem Datum „d. 15. Sept. 1780." Wegen der Über-
schrift, die im Journal von Tiefurt „Ode" lautete, vgl. J. A. Bd. 2
S. 281 f. Goethe bemerkt über Poesie in Odenform J. A. Bd. 37
S. 181, 24 f.: „Eine Ode besteht nicht an und für sich: sie musz
„aus einem schon bewegten Elemente hervorsteigen." Erlebnis und
Dichtung bilden für diese „Ode" die Basis, worauf sie sich erhebt.
Sie kann u. a. durch eine vorhergehende Äuszerung der Frau von
Stein veranlaszt sein, denn Goethe fügte dem Gedichte hinzu:
„Dieses zum Danck für Ihren Brief und statt alles andern, was
„ich von heut zu sagen hätte."

Bekanntlich fehlen uns leider die Briefe der Frau von Stein an
Goethe, woraus vielleicht ein besserer Einblick in die Genesis dieses
bedeutsamen, gedankenlyrischen Gedichtes zu gewinnen wäre.

Die „Ode" drückt poetisch kunstphilosophische Gedanken des
einunddreiszigjährigen Dichters aus. Dem Poeten ist klar bewuszt
geworden, welch reiche Gabe eine allerhöchste Macht ihm in der
Phantasie verliehen habe, „der gestaltenden, gegebenes Vorstel-
„lungsmaterial, Vorstellungselemente zu neuen, nicht gegebenen
„Gebilden anschaulich (nicht begrifflich) verarbeitenden, synthe-
„tischen Tätigkeit des Geistes." (Vgl. Eisler, Philos. Wörterbuch
Bd. 2 S. 1005). Denn auf die künstlerische Phantasie, die sich durch
besondere Anschaulichkeit auszeichnet, bezieht sich Goethe hier.
Seinen reiferen Jahren als Mann, seinem Alter war es
vorbehalten
aus dieser künstlerischen Phantasie eine wissenschaftliche imaginatio
zu entwickeln.

Jugendlich ist die Freude an der proteusartigen Versatilität seiner

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Göttergabe. Kennzeichen des Künstlers ist es, dasz er der Phantasie
eine höhere Bedeutung als der Hoffnung oder gar der S
bedegt. Bei der endlosen Beweglichkeit seiner Phantasie ist ihm
sel|g-wohl wie m der Nähe der Geliebten, mag sie auch „Launen^
haben, mitunter eine „verzärtelte" „Törin" sein. Die praktische
Hoffnung die Schwester seiner wie eine Gattin geliebten, aber sp ele-
risch tande nden Phantasie
strebt fort aus dem Ich zui^ Nicht Ich

enl. R h \' ein schau

endes Ruhen im eigenen ruhelosen Ich. Die unlustbetonte Vor-
stellung der Weisheit steht im Hintergrunde. Erst in späteren

den Vorstellungen des Ich und den Objekten der Umwelt herzustellen

War es nun für Charlotte von Stein eine hohe Ehrung, dieses
Poem von ihrem Dichter zu empfangen, wenn sie tief genug hinein-
gesehen hat in das Wesen dieser Gedankenlyrik, die sie vielleicht
mit in Ihm ausgelöst, dann wird sie mit trauriger Befremdung den
Dingen und Menschen gegenüber eine gewisse Kühle in diesem
Manne gefühlt haben, dann wird sie beobachtet iiaben, wie für
diesen Künstler die objektive Wirklichkeit hinter seinen subjek-
tiven Vorstellungen zurückstand. Um diese Zeit fängt Goethe mit
der Niederschrift des Tasso an. (Tageb. Okt. 1780).

25. J. A. Bd. 2 S. 70. [W. A. Bd. 4 S. lOIJ.

„Elfenlied"

„Um Mitternacht, wenn die Menschen erst schlafen —"

A n m e r k u n g: In der Nacht auf den 15. Okt. 1780 einem Briefe
an Charlotte von Stein nach Kochberg eingereiht.

Zieht man den interessanten Brief Goethes an Frau von Stein
vom 10. Okt. 1780, sowie die Schreiben vom 11. 12. und 13. heran,
dann wird auch mit Rücksicht auf das Tagebuch vom 14. Okt!
1780 deutlich, dasz Goethe eine Periode der Unruhe durchmachte.

„Ich bin durch die neuen Wege gelaufen, da sieht die Nacht
„himmlisch drein" (Goethe an Frau v. Stein, den 13. Okt. 1780).
„.... noch im Mondschein spazieren gerannt und im Bette die
„Mönchsbriefe gelesen". (Tagebuch vom 14. Okt. 1780).

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Dieses nächtliche Tanzlied der Elfen verkörpert in Rhythmen
und Lauten eben diese Unruhe. Es ist zu den sehr starken Akzenten
des Briefes vom 10. Okt. 1780 ein Ausläufer zartester Schwingungen.

Noch ist die Ruhe aber nicht in sein Herz wieder eingezogen.
Am 29. Okt. 1780 heiszt es in Goethes Brief an Frau von Stein:
„Ich weis nicht warum, aber mir scheint Sie haben mir noch nicht
„verziehen." Sogar am 2. Nov. 1780 zittert die Erschütterung
noch nach.

Eifersucht auf selten des Dichters hat sicher zu den Ursachen
gehört, die das Zerwürfnis herbeiführten. (Goethe an Frau v. Stein,
den 13. Okt. 1780). War auch Frau v. Stein eifersüchtig, weil Goethe
ein Interesse, das Grenzen der allgemienen Höflichkeit überschritt,
für Karoline von Ilten zeigte, — weil Beziehungen zu Corona Schröter
recht freundschaftlicher Art weiter bestanden?

26. J. A. Bd. 3 S. 90. [W. A. Bd. 4 S. 215].

„Zum Tanze schick\' ich dir den Strausz —"

Anmerkung: Unter „Goethes Briefen an Frau von Stein"
erhalten mit dem Datum: „den 9. Dez. 1780." Vgl. E. v. d. Hellen,
J. A. Bd. 3 S. 221 (nr. 59): „Zu einem Balle bei dem Grafen v.
„Werthern-Beichlingen in Weimar."

Einen Strausz „mit himmelfarbnem Band" schickt der Liebende

der Geliebten zum Tanze. Nach seiner Beichte vom. 3. Dez. 1780

befindet er sich „um ein gros Theil leichter und besser." Er wohnt

aber, obgleich das Verhältnis wieder in ein besseres Stadium trat,

dem Balle nicht bei. Arbeit mag ihn wohl zurückgelialten haben,\'

denn den Dezember 1780 liesz er sich sauer werden. (Vgl. Tagebuch

Dez. 1780). Düntzer vermutet, dasz er unwohl gewesen sei. (Vgl.

„Charlotte von Stein und Corona Schröter" von Heinr. Düntzer
1876, S. 197).

Die Eifersucht war aber sicher nicht fern, wo es heiszt:

„— Und siehst du andern freundlich aus"
„Reichst andern deine Hand,"
„So denk\' auch an ein einsam Haus"
„Und an ein schöner Band!"

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Das zeigte sich kurz vorher klar in Goethes Brief an Frau v
Stein vom 13. Okt. 1780 als er schrieb: „Es ist
wunderbaar und
„doch ists so, dasz ich eifersüchtig und dummsinnig bin wie e"n
„kiemer Junge wenn Sie andern freundlich begegnen."

27. J. A. Bd. 3 S. 91. [W. A. Bd. 4 S. 216].

„Aus Kötschaus Toren reichet euch —"

Anmerkung: Vgl. „Goethes Briefe an Frau v. Stein" zwischen
dem 0 und 12. Dezember 1780. Die Adresse lautet: „^ F^ u
Oberstanmeister von Stein und ihre Gesellschaft nach Kötschau"
uas Gedicht ist gutmütig scherzend und vorsorglich, auch im
Materiellen, wie Goethe es für seine Lieben war. Seine Korrespon-
denz mit der Frau von Stein enthält dafür mehrere Belege, sowie
m späteren Jahren der briefliche Verkehr mit Christiane Vulpius
und seinem Sohn August.

28. J. A. Bd. 3 S. 92. [W. A. Bd. 4 S. 101].

„Sag\' ich \'s euch, geliebte Bäume, —"

Anmerkung: Vgl. „Goethes Briefe an Frau von Stein."
Datum: den 16. Dez. 1780.

Mag der alte Hexenmeister, der einen seiner Geister als Boten
mit Konfekt und süszem roten Wein an die verehrte und geliebte
Frau Oberstallmeister absandte, ein munterer Spaszmacher gewesen
sein, — hier spricht ein tiefempfindendes Herz zwei wunderweiche
Strophen reinen Gefühls für die Reinste. Eine herrliche Stimme
ertönt wie ein dunkler Bariton in einem Beethovenschen Adagio:

„Bringet Schatten, traget Früchte,"
„Neue Freude jeden Tag:"
„Nur dasz ich sie dichte, dichte,"
„Dicht bei ihr genieszen mag!"

Das Melos schlieszt im gehauchten Pianissimo.

29. J. A. Bd. 1 S. 252. [W. A. Bd. 2 S. 130, Bd. 5 (1), S. 66].

„Versuchung."

„Reichte die schädliche Frucht einst Mutter Eva dem Gatten. —\'

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Anmerkung: Vgl. J. A. Bd. 1 S. 367 nr. 15: „begleitete am
„I.Juni 1781 eine Erdbeeren-Sendung an Frau v. Stein, während
„diese das Abendmahl nahm." — Ohne Überschrift, mit abweichen-
dem ersten Vers: „Eine schädliche Frucht reicht unsere Mutter
„dem Gatten", kommt unser Gedicht nach Goethes Brief an Frau
V. Stein vom 1. Juni 1781, wohl als Beilage dazu, vor.

Diese Zeilen, die sich antiker Form nähern, und schon im ersten
Druck des Jahres 1789 die Überschrift „Versuchung" tragen, sind
in mehrfacher Hinsicht merkwürdig für Goethes Verhältnis zu der
Frau von Stein.

Formell sind es wohl die ersten klassischen Versuche Goethes
in seiner Lyrik für Charlotte von Stein. Dieser antiken Form ent-
spricht stilgerecht der antichristliche Inhalt, der einen entschiedenen
Zug ins Diesseitige hat. Es ist weiter besonders auffällig, dasz dieses
spöttelnde Gedicht den von oben herab gesprochenen leichtsinnigen
Ausdruck: „liebliches, büszendes Kind" enthält.

Es ist das für Goethes Beziehungen zu Charlotte von Stein wich-
tige Jahr 1781, in dem wir uns mit diesem Gedichte befinden. Am
15. Febr. heiszt es: „— your lover for ever." — Am. 3. März: „Aus
„Zerstreuung tauch ich eben die Feder in den brennenden Wachs-
„stock der auf dem Tische bey mir steht, sie scheint nach dem
hefftigsten und reinsten Element zu verlangen, da ich im Begriff
„war Ihnen zu sagen dasz ich Sie unendlich liebe". — Am 8. März:
„Ich habe mein Herz einem Raubschlosse verglichen, das Sie nun
„m Besiz genommen haben, das Gesindel ist draus vertrieben,
„nun halten Sie es auch der Wache werth; nur durch Eifersucht
„auf den Besiz erhält man die Besiztühmer." „Ich habe das 1 i e b e
„Band im Schreiben um die Hand gebunden." — Am 10 März-
„Ich hab ihn (= Ihren Brief, de B.) gleich sechsmal hintereinander
,,gelesen und les ihn immer wieder." (Vgl. „Vier Jahreszeiten,
Sommer 26, J. A. Bd. 1 S. 238). - Am 12. März: „Meine Seele
„ist fest an die deine angewachsen, ich mag keine Worte machen,
„du weist, dasz ich von dir unzertrennlich bin und dasz weder
„hohes noch tiefes mich zu scheiden vermag. Ich wollte dasz es
„irgend ein Gelübde oder Sakrament gäbe, das mich dir auch sieht-

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„hch und gesezlich zu eigen machte, wie werth sollte es mir sevn
„Und mem Noviziat war doch lang genug um sich zu bedencken —
„Ich kan nicht mehr S i e schreiben wie ich eine ganze Zeit nicht
„D u sagen konnte." Also im sechsten Jahre seiner Liebe für Char
lotte von Stein fühlt sich Goethe noch Novize, Neuling»

Wir werden in die seltsam gewundenen Gedankengänge einer

rehgiös anmutenden Liebesphilosophie geführt: „Ich bitte dich

„fusfälhg vollende dein Werck, mache mich recht gut! du kannsts

„nicht nur wenn du mich liebst, sondern deine Gewalt wird unend-

„hch vermehrt wenn du glaubst dasz ich dich liebe." (den 12
März 1781).

Das von diesem Minnesänger-Raubritter berannte Herz der Ge-
hebten hat sich endlich ergeben, so müssen wir schlieszen aus den
Billetten vom 22. und 23. März dieses Jahres.

Das Sinnliche fehlt dem neufundierten Verhältnis auf selten
des Dichters sicherlich nicht: „Ich habe Sie in Frizzen aufs herz-
„lichste umarmt." (Nachschrift zum Billett vom 25. März 1781).
„Frizzen hab ich in deine Seele geküsst." (den 31. März 1781).

Er schreibt seine Billetdoux so flieszend, dasz die Sätze sich
bisweilen wie die eigenartige Rhetorik einer Liebeskanzlei aus-
nehmen: „Kommen Sie ia zeitig und lassen mir Ihre lieben Augen
„unter dem schönen Himmel, sagen dasz ich geliebt bin. Adieu. Adieu."
(den 14. April 1781). — „Ich habe gleich am Tasso schreibend dich
„angebetet. Meine ganze Seele ist bey dir." (den 20. April 1781). —
„Ich küsse dich mit dem Kusz der Gedancken." (den 31. März 1781).

Wie viel Schönes die zitierten Stellen auch ausdrücken, eine
gewisse Überladung deutet auf Hypertrophie der ganzen Beziehung.

Unterdessen schreibt Goethe der Frau von Stein am 27. April
1781: „Hierbey ist eine Epistel wenn Sie meynen So schicken Sie
„das Blat dem Herzog, reden Sie mit ihm und schonen Sie ihn nicht.
„Ich will nichts als Ruhe, und dasz er auch weis woran er ist. Sie
„können ihm auch sagen, dasz ich Ihnen erklärt hätte, keine Reise
„mehr mit ihm zu thun. Mach es nach deiner Klugheit und Sanft-
heit." — Am 27. Mai 1781: „— die Hofnoth steh ich nicht den
„ganzen Tag mit aus." Es kracht also in den Beziehungen zum Herzog.

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Nach den schönen, süszen, heiszen Worten der ersten fünf Monate
1781 bedeutet unser Gedicht auf dem Gebiete der Liebe gleichfalls
ein Anderswerden. Es ist ein Hinüberschillern in neue Farbentöne.

Die Ehrerbietung von unten herauf, die für das ganze Verhältnis
Goethes zu Frau v. Stein bis in die spätesten Zeiten charakteristisch,
ist, fehlt in unserem Gedichte. Es ist von einem andern psychischen
Standpunkt aus gesprochen: es ist von oben herab.

Der anakreontische Ton des blutjungen Leipziger Studenten wird
noch einmal hörbar. Die intellektuelle, bewuszt antikisierende Struk-
tur der nachitalienischen Elegien und Epigramme wird präformiert.

Die Religion wird aus der ironischen Perspektive gesehen und
die Liebe ist nahezu Tändelei. —

30. J. A. Bd. 2 S. 79. [W. A. Bd. 2 S. 108].

„Nachtgedanken".
„Euch bedauer\' ich, unglücksel\'ge Sterne —"

Anmerkung: Vgl. Goethes Brief an Frau von Stein vom
20. Sept. 1781: „Was beyliegt ist dein. [In einer Fusznote sagt
„Heinemann: Das Gedicht Nachtgedanken.] Wenn du willst so
„geb ich\'s in\'s Tiefurter Journal und sage es sey nach dem Grie-
„chischen." — Vgl. weiter J. A. Bd. 2 S. 297, wo v. d. Hellen sagt:
„— beide Gedichte („Der Becher" und „Nachtgedanken" erschienen
„im Tiefurter Journal mit den Überschriften „Aus (Nach) dem
„Griechischen", und diese Verschleierung des Bezuges wurde dadurch
„noch wirksamer, dasz Goethe dem „Becher" die wirklich aus dem
„Onechischen übersetzte „Cikade" voranstellte; da auch der „Becher"
„wirklich anakreontische Motive enthält, konnte die Täuschung
„um so eher gelingen."

Unser Gedicht nun, wovon Goethe wahrscheinlich schricb- Es
ist dem! erhielt sich nicht unter den Briefen, die Frau von Stein
von der Hand des Geliebten aufbewahrte.

Wer ist „die Liebste" der vorletzten Zeile? Ist das nicht die Frau,
der er das Gedicht mit den Worten zugeeignet haben soll: Es ist
dem? Hat Düntzer recht, der in „Chariotte von Stein und Corona
Schröter S. 238 bemerkt: „Wenn er sagt, „es ist Dein," so ist

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„diesz nicht von einer persönlichen Beziehung auf sie zu verstehen
^ondern das Gedicht gehört ihr, wie alles, was ihm JuT-^i
Warum fehl das wichtige kleine Gedicht unter Goethes Briefen an
Frau von Stern? Hat er es zurückverlangt? Ist es
gestohl . "der
unterschlagen worden? Ist es in Verlust geraten? Hat es Frau
von Stein vernichtet aus Scham, aus Eifersucht oder überhauo
aus Abneigung gegen die Gefühle und Gedanken, die unser Gedicht
zum Ausdruck bringt?

Denn, wie dezent gewählt jedes Wort dieser zehn Zeilen auch
sei, Goethe erreicht mit diesen nicht gereimten, etwas steif schrei-
tenden Versen einen stark sinnlichen Effekt. Er hat es verstanden
menschliche Verhältnisse intimster Art wie mit dem Finger anzu-
deuten, ohne sie mit einem einzigen Worte zu nennen. Egmont
hätte so über Klärchen sprechen können. Hier erklingt ein Ton,
der dem sinnlichen vieler nachitalienischen Gedichte zum Ver-
wechseln ähnlich ist.

Hier ist ein anderes Feuer als die weiszlohende Liebesflamme
der ersten Weimarer Zeiten. Kein Aufschwung zum Himmel eines
geahnten Ideals. Mit beiden Beinen steht er starkknockig auf dieser
Erde und bedauert die unglückseligen Sterne dort oben. Hier wird
nicht gekniet, nicht angebetet, hier wird genossen.

Man fragt sich, hat Charlotte von Stein die Veröffentlichung
dieser Zeilen im Tiefurter Journal tatsächlich erlaubt? Sie erschie-
nen noch am selben Tag mit der Überschrift „Nach dem Grie-
chischen". (Vgl. Schriften der Goethe-Gesellschaft, Bd. 7 S. 49 &
360). Zwar kannte nur die Herzogin Mutter, der die Beiträge zum
handschriftlich verbreiteten Tiefurter Journal eingereicht wurden,
die Namen der Verfasser und so hat es Charlotte vielleicht gewagt^
ihre Bewilligung zu erteilen. Eine Art Wagnis bleibt es, denn Lite-
raturkenner und Schriftsteller wie Herder, Wieland, Knebel werden
schon bald, besonders nach einiger Umfrage, in Erfahrung gebracht
haben, wer der Verfasser sei.

Wie Charlotte von Stein sich zu den in unserem Gedichte ange-
deuteten Tatsachen verhielt, läszt sich aus vorliegendem Material
nicht entscheiden.

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Wer Goethes Verhältnis zu ihr als „nicht-platonisch" bezeichnet,
kann diesem Gedichte keinen schlagenden Beweis entnehmen. Es
kann Poesie sekundärer Art sein. Ein primär Gegebenes kann
Goethe nach gewissen kunsttechnischen Prinzipien frei durchge-
führt haben, sodasz etwas Sekundäres entstand. Darüber läszt uns
der Dichter im ungewissen.

Eins steht jedoch fest: Goethe verarbeitete im Jahre 1781 Stark-
sinnliches als Stoff zu einem Gedichte, das er wahrscheinlich Char-
lotte von Stein widmete. Goethe liebte in dieser Zeit, wie in Weimar
stadtbekannt war, Frau von Stein und wenn er auch dieses Gedicht
anonym und verschleiert veröffentlichte. Eingeweihte können
Schluszfolgerungen gezogen haben, mögen es schon falsche gewesen
sein. Dem setzte Goethe Frau v. Stein zwar nicht ohne Bedenken aus.

Poesie hat durch die Veröffentlichung auch eine soziale Seite.

31. J. A. Bd. 3 S. 93. [W. A. Bd. 4 S. 217].

„Lasz dir gefallen —"

Anmerkung: Vgl. „Goethes Briefe an Frau von Stein", wo
das Gedicht zwischen Briefen vom 20. und vom 22. Sept. 1781 vor-
kommt. — Gräf „Goethe ü. s. Dichtungen, Lyrik II, 2 S. 880"
setzt es in das Jahr 1776 VII 1/15. In seinem Register dess. Bandes
fehlt es. - Mit v. d. Hellen J. A. Bd. 3 S. 322 nr. 66 läszt sich an-
nehmen, dasz dieses Gedicht zu dem Billett gehört, das Goethe
mutmaszllch am 22. Sept. 1781 der Freundin sandte; darin
heiszt
es: „Hier schick\' ich die Flasche, aus der ich tranck". Er fuhr an
diesem Tage mit Charlottens Sohn Fritz nach Leipzig. So
erklärt
sich das „wir" der 4. und 5. Zeile ganz natürlich als: Goethe und Fritz.

Obgleich Goethe der Frau von Stein verhältnismäszig wenig
Objekte gröszeren Wertes schenken durfte, - einen Schlitten im
Jahre 1776 lehnte sie ab, eine Schreibkommode akzeptierte sie
1779, sowie einen gelben Achat, der Psyche mit dem
Schmetterling
auf der Brust darstellte, 1781, - steuerte er öfters seine Gaben
in Ihre Küche bei, war er ja viel bei v. Steins zu Tisch.

Mich dunkt, „Glas" In unserem Gedichte und „Flasche" aus

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dem angeführten Billett könnten identisch sein. Jedenfalls handelt
es sich um ein kleines Zeichen seiner groszen Liebe.

32. J. A. Bd. 2 S. 78. [W. A. Bd. 2 S. 106].

„Der Becher."

„Einen wohlgeschnitzten vollen Becher —"

„Goethes Briefe an Frau von Stein".

99 \\\\ o\\ ^^ folgende Bemerkung macht: „Den

\' Q LP"" Herausgebers

Rückseite eines halben Oktav-
„blättchens, an deren unterm Rande in hiergegen verkehrt stehender
„Schrift noch die zwei Zeilen „wenn ich dir es gönnte, Dir mit
„anderm Nektar es erfüllte," aus dem Gedichte der Becher zu
„lesen sind."

Goethe schreibt der Frau v. Stein aus Merseburg am 22. Sept. 81
u. a.: „Ohne den mindsten Zufall hat unsre Tagreise sich geendet
„die ewigen Stoppeln machten Fritzen Langeweile, indessen ich an
„einigen Gedichten mich sinnend ergötzte, die ich in das Tiefurter
„Journal schicke von da aus sie erst meiner Besten die Cour machen
„sollen."

Am 1. Okt. 1781 schreibt er aus Weimar: „Auch hab ich dir ein
„Gedicht gemacht das du durch den Weeg des Tiefurter Journals
„sollst zu sehen kriegen."

Seit dem Drucke der Schriften Goethes aus dem Jahre 1789 sind
„Der Becher", „Nachtgedanken", „Ferne" und „An Lida" in
dieser Folge verbunden. „Lida" ist Charlotte von Stein; in den
an sie gesandten handschriftlichen Fassungen steht dafür „Psyche"
oder „Lotte."

Es besteht eine abweichende Lesart, der die 4. Verszeile unserer
Textausgabe fehlt und wo es anstatt wie in der J. A. im 15. Vers:

„Wenn ich deinen lieben Leib umfasse —"

mit geringer Abweichung heiszt:

„Wenn ich deine lieben Hüften halte —"

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was der Bedeutung nach wohl gleich bleibt. Vgl. W A Bd 2
S. 319 f. & • .

Dem Gedichte „Nachtgedanken" kann „Der Becher" an die
Seite gestellt werden mit den Verszeilen 12—18:

„0 wie freundlich hat er Amor) Wort gehalten,"
„Da er, Lida, dich mit sanfter Neigung"
„Mir, dem lange Sehnenden, geeignet!"

„Wenn ich deinen lieben Leib umfasse"
„Und von deinen einzig treuen Lippen"
„Langbewahrter Liebe Balsam koste,"
„Selig
Sprech\' ich dann zu meinem Geiste:" etc.

Von diesem Gedichte hat Goethe zwar nicht geschrieben: Es ist
dein! Auf welches andere Gedicht aus diesen Tagen jedoch sollte
sich wohl die oben zitierte Briefstelle vom 22. Sept. 1781 oder
die Mitteilung aus dem nächsten Schreiben vom 1. Okt. 1781 be-
ziehen, wenn nicht auf unser Poem? Dadurch dasz Goethe das
Gedicht, ohne dasz Frau von Stein es kannte, ins Tiefurter Journal
schickte, nahm er ihr die Möglichkeit eines Protestes, wozu es

doch gewisz Anlasz gab. Hat Goethe ihren Einspruch ausschalten
wollen?

Ob „Der Becher" nun Wahrheit enthält, oder nur Dichtung ist,
diese Veröffentlichung wird der Frau von Stein trotz Verschleie-
rung und Anonymität kaum angenehm gewesen sein. Wie bei
„Nachtgedanken" erhebt sich die Frage: Warum fehlt das
Gedicht
unter den hinterlassenen Papieren der Frau v. Stein? Sie hat cs
besessen, so dürfen wir aus Obigem schlieszen.

Sollte sich das Gedicht nun nicht im geringsten auf Charlotte
von Stein beziehen, - unverrückbare Tatsache bleibt es, dasz der
Dichter „Lida" anredet, die sonst „Psyche" oder „Lotte"
genannt
wurde, unter welchen Decknamen die Eingeweihten Charlotte von
Stein kannten, Tatsache bleibt, wie für „Nachtgedanken" das
Bestehen stark sinnlicher Hintergedanken.
Wie weit die Realität der Beziehungen zwischen Goethe und
Frau

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V. Stein der Sinnlichkeit des Gedichtes „Der Becher" entsorach
kann an diesem Material nicht festgestellt werden. Aus den h^^
hierher besprochenen Gedichten
läszt sich
das Verhältnis was den Dich\'r t^ff^\'nah: ZTtZtZ

Liebe ri«^^^^^^ tnn^ re^ H^m^^^^^^^^^^^^

find" von Übersinn icfe^Li^be

fmd n sich m den lyrischen Gedichten Goethes für Frau von Stein
deutliche Spuren. Vgl. die Stanze „Für Ewig", nr. 54

Bechf " "h" .Versuchung" „Nachtgedanken", „der

Ve h tni^r Gedichte, die aus dem

V rhältnis Goethes zu Christiane Vulpius erblühten, dann ist der

Grad der Sinnlichkeit in der Lyrik, die Charlotte von Stein gewid-
met war, gering. Sinnlichkeit auf
Seiten Goethes in seinen Bezie-
hungen zu Charlotte war da, allein die Hemmungen müssen bedeu-
tend gewesen sein, welche verhinderten, dasz Goethes latente Sinn-
lichkeit so richtig frei wurde, wie in seinen Beziehungen zu Christiane.

33. J. A. Bd. 2 S. 80. [W. A. Bd. 2 S. 109).

„An Lida."

„Den Einzigen, Lida, welchen du lieben kannst —"
Anmerkung: Vgl. Goethes Brief an Frau von Stein vom
9. Okt. I78I aus Gotha datiert, der mit unserem Gedichte anfängt
Brieflich in der ersten Zeile „Lotte", wo J. A. „Lida" hat. Aucli
eine Überschrift fehlt in den Briefen.

Aus diesen Zeilen hören wir deutlich Goethes Beschwichtigung
der eifersüchtigen Geliebten heraus, die „mit Recht" den Geliebten
„ganz" für sich fordert. Goethes Liebe war der Frau von Stein
nicht exklusiv genug und vertrug schlecht die Örtliche Entfernung.
Wie denn auch später, wo Charlotte einmal verreist ist, Goethes
Bekenntnis auf Ähnliches hindeutet. Vgl. J. A. Bd. 3 S. 96:
„Nicht allein meine Liebe verreist,"
„Meine Tugend verreist mit dir —"

Sept. 1782.

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Merkwürdigerweise geht unserem Gedichte ein kleines Billett Goethes
an Frau v. Stein vom 2. Okt. 1781 voran, wo es heiszt: „Ich bitte
„dich meine Geliebte die Ringmaase zu probiren und an den der
„dir gerecht ist ein Fädgen oder Bändgen zu knüpfen damit ich
„den Stein darnach kan fassen lassen schicke mir es bald wieder.
„Adieu. In Eile."

Es folgt im Briefe vom 9. Okt. 1781 der frappante Satz: „Ich
„bin ganz dein und habe ein neu Leben und ein neu betragen gegen
„die Menschen, seit ich weis, dasz du davon überzeugt bist."

So wäre denn in diesem Verhältnis alles beisammen: die über-
sinnliche sowie die sinnliche Liebe — letztere wenigstens wohl auf
Seiten des Mannes—, die landläufigen Liebessymbole: Ring und
Stein, und auf beiden Seiten fehlt sogar die Eifersucht nicht. Vgl.
nr. 26 und 33 dieses Abschnitts.

34. J. A. Bd. 3 S. 93. [W. A. Bd. 4 S. 218J.

„Das Gänslein rot im Domino —"

Anmerkung: Vgl. J. A. Bd. 3 S. 322 zu unserem Gedichte.
Es fehlt unter Goethes Briefen an Frau von Stein, v. d. Hellen und
Gräf geben als Datum den 26. Febr. 1782 an.

Das Gedicht bezieht sich nicht direkt auf Goethes Liebe für
Charlotte v. Stein.

J. A. Bd. 3 S. 94. [W. A. Bd. 4 S. 219],

„0 Kinder, still! reicht meinen Lehren _"

Anmerkung: Vgl. J. A. Bd. 3 S. 322. Es fehlt unter Goethes
örieftn an Frau v. Stein. Als Datum wird der 4. März 1782 angegeben.

Wie das vorige, so ist auch dieses Gedicht ohne tiefere Bedeutung
für Goethes Verhältnis zu Charlotte von Stein.

Nr. 34 und 35 sind vornehm-gesellige Scherzlieder und charakte-
risieren den Ton der Kreise, denen Charlotte v. Stein,
Karoline
V.
Ilten, Luise v. Göchhausen, die Gräfin Wartensleben, Goethe,
V.
Knebel u. s. w. angehörten.

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36. J. A. Bd. 2 S. 80. [W. A. Bd. 2 S. 108, 320].

„Ferne"

„Königen, sagt man, gab die Natur vor andern Gebornen —"

Anmerkung: Mit Abweichungen in Goethes Brief an Frau
v. Stern vom 12. April 1782 aus Meiningen enthalten. Die I A
^bt m der letzten Zeile „Lida" wo die Briefe „Psyche" lesen. VgT
V. d. Hellen J. A. Bd. 2 S. 298. ^

, die Empfindung hinter diesen Worten gleich innig war als
früher? D,e klassischen Formen mit dem v^ornehmsclfreit
Len
Rhythmus muten kalt an. Es ist Distanz in diesen vier Verszeilen
Ent remdung. Die anfängliche, heisze Innigkeit fand kaum Zei^
richtige Verse zu bilden. Da war die Empfindung Hauptsache
Hier ist die Liebesempfindung Stoff zur Bildung schulgerechter,
literarischer Formen geworden.

Doppelt merkwürdig ist es, dasz der feierlich werdende, kühlere,
Verse feilende Dichter spricht von „festhalten."

37. J. A. Bd. 3 S. 97. [W. A. Bd. 4 S. 121].

„Arm an Geiste kommt heut\' —"

Anmerkung: Für dieses Distichon ist mit v. d. Hellen an-
zunehmen, daSz die metrische Unvollkommenheit auf die erste Zeit
der Distichenperiode Goethes, in das Jahr 1782, deutet. Es fehlt
unter seinen Briefen an Frau v. Stein.

Wie im vorigen Vierzeiler, so schreitet auch hier die Empfindung
in steifen Schulformen einher.

38. J. A. Bd. 3 S. 97. [W. A. Bd. 4 S. 121].

„Als der Undankbare floh, o Göttin ewiger Treue —"

Anmerkung: Es fehlt unter „Goethes Briefen an Frau von
Stein."
V. d. Hellen meint J. A. Bd. 3 S. 323, dasz diese Zeilen
auch in das Jahr 1782 gehören dürften. Gräf „Goethe ü. s. Dichtun-
gen, Lyrik II, 2 S. 882," datiert die beiden Distichen in den Anfang
des Jahres 1786. Im Register desselben Bandes fehlt unser Gedicht.

Die metrische Struktur dieser Goetheschen Hexameter und

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Pentameter gestattet, wie mir scheint, recht wohl Gräfs spätere
Datierung. Der Anlasz zu unserem Gedichte scheint unbekannt zu
sein. Es fand sich im Nachlasz Charlottens, aus deren Sinn es wohl
zu verstehen ist; der Dichter hat ihre Gesellschaft verschmäht und
wird zur Strafe von einer Alten festgehalten.

Haben wir es etwa mit einem Spottgedichte Charlottens zu tun?
Hat Goethe daran gebessert, es emendiert an die Verfasserin zurück-
geschickt, wie er in späteren Jahren Marianne von Willemers
Gedichte verbessert unter die seinigen stellte?

Ist es ein poetischer Scherz Goethes, der Chariotte über seine
Abwesenheit und vermeinte Untreue trösten soll? Er versetzt sich
in ihre Lage, nennt von diesem Standpunkte aus sein Fortgehen
zwar eine Flucht und sich selbst undankbar, gesteht aber vom
Interesse für eine Graulockige ergriffen zu sein, das heiszt wohl:
eine der Geliebten Ungefähriiche.

39. J. A. Bd. 2, S. 82 nr. 4. [W. A. Bd. 4, S. 120].

„Frage nicht nach mir, und was ich —"

Anmerkung: v. d. Hellen teilt J. A. Bd. 2 S. 299 mit:
„Bezieht sich mutmaszlich auf die Genannte [= Charlotte von
Stein], aus deren Nachlasz es bekannt wurde, und gehört wohl
„auch dem Anfang der achtziger Jahre an."

Verwandtschaft zeigt unser Gedicht mit „Ilmenau" I A Bd
I S. 278 2. 92 f.: \'

mO frage nicht! denn ich bin nicht bereit,
„Des Fremden Neugier leicht zu stillen;
„Sogar verbitt\' ich deinen guten Willen:
»»Hier ist zu schweigen und zu leiden Zeit."

Der Dichter drückt in unserem Gedichte aus, dasz erst das, was uns

selbst verborgen bleibt, wirklich den Namen „Geheimnis" verdiene.

Goethe hebte es bekanntlich, dasjenige, was ihm zwar recht wohl

bewuszt, jedoch aus irgend einem Grunde unerwünscht war, dadurch

dasz er es mit keinem Worte berührte, abzulehnen, gleichsam tot-
zuschweigen.

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40. J. A. Bd. 1 S. 250. nr. 9. [W. A. Bd. 2 S. 1271

„Erwählter Fels."
„Hier im stillen gedachte der Liebende seiner Geliebten

Anmerkung: Dieses Gedicht kommt nicht nntPr r .u

Iis - ■■ 1H.«"," ■ -fj";

verwandt In / ^^ Stimmung

verwandt m,t dem Gedichte „Nachtgedanken". Wie letzteres ist

es retrospektiv glückselig, diesseitig. Es hat nichts von dem Langen

und Bangen, von der Sehnsucht, die Goethe doch auch so wohl
bekannt waren.

Es nähert sich antiker Form, so wie Goethe als Leipziger Student
der Anakreontik und in seinem Alter der persischen Dichtkunst
nahe stand. Ein derartiges Schauspielertum rückt eben die Form
in den Brennpunkt der Aufmerksamkeit. Der Inhalt wird der Form
untergeordnet, mag das hier vielleicht auch weniger auffallen als
in dem oben besprochenen „Ferne" (nr. 36).

Der Mensch in Goethe fängt sich dem Dichter unterzuordnen an
Goethe musz solche Poesien selbst deutlich als Drapierung seines
tieferen Wesens gefühlt haben, denn er stellt der ganzen Gruppe
den Vorspruch voran:

„Stehn uns diese weiten Falten"
„Zu Gesichte, wie den Alten?
Worauf die Antwort passen dürfte: Nein! Sowenig wie die vom
Urgroszvater ererbten Kleider dem späten Nachkommen stehen,
weil sich die Zeiten geändert haben und alles mit ihnen. Es gibt
bestenfalls eine gelungene Verkleidung. —

41. J. A. Bd. 2 S. 187. [W. A. Bd. 4 S. 165].

„Man lauft, man drängt, man reiszt mich mit —"

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Anmerkung: Vgl. J. A. Bd. 2 S. 332. v. d. Hellen setzt
das Gedicht in den Mai 1782. Goethe auf einer Dienstreise an die
Höfe zu Meiningen, Koburg, Hildburghausen, und Rudolstadt
sandte das Gedicht wohl um die Mitte des Mai 1782 von Meiningen
an Charlotte v. Stein. — Gräf „Goethe ü. s. Dichtungen, Lyrik II, 2,
S. 882" datiert 1782 V 12/5. Im Register dess. Bandes führt er das
Gedicht nicht auf.

In diesen sechzehn Verszeilen, mit dem achtmaligen Reimschema
a—b kritzelt uns der Dichter ein Augenblicksbild hin, zeigt er uns
die Diskrepanz zwischen Wirklichkeit und Wunsch. Nicht die
Phantasie (vgl. nr. 24) wird besungen, sondern Pegasus wird ange-
rufen, das Flügelrosz, das den Dichter aus der mit sechs Pferden
bespannten Staatskarosse entführen möge, denn mehr als ein Leben
in Glanz und Herrlichkeit dünkt ihn die Flucht ins weite Land
der Begeisterung.

Der Liebe wird mit keinem Wort erwähnt.

42. J. A. Bd. 1 S. 251. [W. A. Bd. 2 S. 128].

„Philomele"

„Dich hat Amor gewisz, o Sängerin, fütternd erzogen: —"

Anmerkung: In Goethes Brief an Frau v. Stein vom 26.
Mai 1782 mit Abweichungen erhalten, v. d. Hellen teilt J. A. Bd.
1 S. 367 mit, dasz dieses Gedicht „eine Huldigung für Corona
„Schröter bergend, einen öserisclien Amor____schmückte."

Beide Fassungen enthalten in der 3. Zeile das Wort „Gift" („Gifft").
Amor hat die Sängerin kindisch mit Gift gefüttert. Nun trifft Philo-
mele, die Sängerin, ihrerseits das Herz „mit der Liebe Gewalt."
Merkwürdig ist die Andeutung der Liebesnahrung als Gift. Darin
liegt eine gewisse Ablehnung der Liebe. Vgl. nr. 12 „An den Geist
des Johannes Sekundus," wo Goethe seine Liebe für Frau v. Stein
mit Gift-Balsam vergleicht.

43. J. A. Bd. 3 S. 96. [W. A. Bd. 4 S. 214].

„Von mehr als einer Seite verwaist, —"

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Anmerkung: In der Heinemannschen Ausgabe der Briefe
Goethes an Frau v. Stein stehen die vier ersten Zeilen zwischen
Briefen vom 17. Juni 1778 und dem 23. dess. Ms. Sie sind auer
über die Rückseite eines Billetts der Frau v. Stein geschrieben des
einzigen, das uns aus dieser Periode, von ihrer Hand an Goethe
geri^chtet, erhalten ist. Es lautet: „Ich geb nicht gern wieder was
„ich von Ihnen habe. In Belvedere seh ich Sie heute " Der erste
Satz bekundet Tenazität. Die längere Fassung findet sich zwischen
Goethes Brief vom 7. und vom 14. Juni 1780 an Charlotte. - v d
Hellen bemerkt J. A. Bd. 3 S. 323: „Die Datierung.... habe ich
„m der W. A. der Briefe Bd. 6 S. 431 begründet. Am 10. Sept
„1782 übersiedelte die Freundin für vier Wochen nach Kochberg."
Gräf „Goethe ü. s. Dichtungen, Lyrik I S. 81 Z. 17/23" bemerkt:
„Die kürzere Fassung, nur Vers 1/4, stammt vermutlich aus 1778
„nach Oktober 21."

Das Gedicht drückt Beschönigung der Untreue bei Abwesenheit
der Geliebten aus. Dasz das Gedicht mehr als einmal, wenn auch
in verschiedener Gestalt vorkommt, dürfte ausdrücken, dasz er
sich mehr als einmal in derselben Lage befand. „Meine Tugend
verreist mit dir." „Mein Herz gerät in Brand." „Sie soll nicht schel-
ten, soll den Freund beklagen." Das heiszt doch wohl, er sei ohn-
mächtig der Liebe für andere zu wehren, sie überwältige ihn, er
könne nicht dafür, wenn er auch andere Frauen liebe! Charlotte
möge ihn retten! Wer entsönne sich hier nicht der verwandten Stelle
aus Goethes Brief an Frau von Stein vom 8. Juni 1789, wo er sich
auf sein Verhältnis zu Christiane mit den Worten bezieht: „Hilf
„mir selbst, dasz das Verhältnisz das dir zuwider ist, nicht ausarte,
„sondern stehen bleibe wie es steht."?

Er fleht „zur Linderung seiner Plagen" um ,,das geheimnisvolle
Band", das sie trägt und das ihr Blick ihm oft versprochen. Durch
diesen Fetisch hofft er die neuen Liebesgeister zu verbannen, die
alten zurückzuführen. Es liesze sich diese Bitte mit einer andern
vergleichen, die Goethe am 14. Juli 1803 an Christiane Vulpius
richtete:

„Schicke mir mit nächster Gelegenheit Deine letzten, neuen.

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„schon durchgetanzten Schuhe, von denen Du mir schreibst, dasz
„ich nur wieder etwas von Dir habe und an mein Herz drucken kann."

Nur drückt diese Bitte wohlwollend liebende, etwas steif höfliche
Neugierde nach einem Kuriosum aus, während jene an Frau v. Stein
gerichtete aus verworrener Liebesqualen stürmender Leidenschaft
erwuchs.

In beiden Fällen symbolisiert die Bitte wohl ein Nachlassen der
primären Liebeskraft. —

\' 44. J. A. Bd. 3 S. 97. [W. A. Bd. 5 (2) S. 360].

„Bin so in Lieb\' zu ihr versunken," —
Anmerkung: Goethe schreibt der Frau von Stein am 23
Nov. 1782: „Heut fand ich einen alten Vers" und schickt ihr obige
Verszeilen. - v. d. Hellen bemerkt J. A. Bd. 3 S. 323.: „Es handelt
„sich wohl um ein eignes Fragment."

Die Form erinnert an den Knittelvers, den Goethe im Urfaust
verwandte. Auch der Vergleich: „als hätt\' ich von ihrem Blut ge-
„trunken" paszt eher in die Gretchentragödie als in den Stil dieser
höfischen Liebe. Wenn also wohl nicht anläszlich seiner Liebe für
Frau
V. Stein in dieser Zeit, vielleicht überhaupt nicht von ihm
auf sie bezüglich geprägt, so hat Goethe diese Verszeilen doch auf
seme Empfindungen für sie bezogen. Sie haben auffallend stark
plastischen Charakter.

45. J. A. Bd. 2 S. 82 nr. 3. [W. A. Bd. 4 S. 119].

„Herzlich bat ich die Muse, mich liebliche Worte zu lehren —"

Anmerkung: Unter „Goethes Briefen an Frau von Stein"
findet sich dieses Gedicht zwischen Billetten vom 24 und vom 27
August 1783 nebst den Worten: „Hier das befohlene und die frey-
„wil Ige Liebe." Es wäre mit Suphan zu vermuten, dasz
Charlotte

la l o\\ T ß^tellung erhielt, um sie zu Herders Geburts-
tag, am 25 August, als Widmungsverse einer Festgabe zu ver-
wenden. Vgl. J. A. Bd. 2 S. 298 f.

RphI!\'. kommandierter Poesie, ohne tiefere

Bedeutung für das Verhältnis Goethes zu Charlotle v. Stein.

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46. J. A. Bd. 1 S. 256 nr. 26. [W. A. Bd. 4 S. 119].

„Epigramm."

„Was ich leugnend gestehe und offenbarend verberge

Anmerkung: In Goethes Brief an Frau v Stein vnm o-j
Juni 1784 erhalten. Vgl. oben nr. 40 ""

Merkwürdig wegen der psychologisch interessanten Oxymora-
„leugnend pstehen" und „offenbarend verbergen". Es ist ein kS"

Table 1784 mft""""\'" ^^^^ ^^ Dichter auch t

Jahre 1784 mit seinem „einzigen Wohl", seinem „reichlichen Schatz"

nicht unbedingt zufrieden war, denn er musz leugnen, verbergen.

47. J. A. Bd. 1 S. 256 nr. 27. [W. A. Bd. 4 S. 120].

„Ein anderes."

„Felsen sollten nicht Felsen und Wüsten Wüsten nicht bleiben —"

Anmerkung: Vgl. Goethes Brief an Frau v. Stein vom 24.
Juni 1784, wo sich dieses Epigramm in recht merkwürdiger Um-
gebung findet. Goethe schreibt der Frau v. Stein über seinen Aufent-
halt in Eisenach: „Gestern war ich bey Streibers zu Tische und
„ganz vergnügt. Du kannst meine treue Seele auch daran erkennen
„dasz ich auch meiner hiesigen Inklination treu bin. Da Vicktorgen
„[Viktoria, die Tochter des Bürgermeisters Streiber in Eisenach.
„de B.] nicht koquett ist und doch artig, unterhaltend und nicht
„zärtlich. so erlaubst du mir ia wohl dasz ich ihr freundlich bin "
Nachdem er das Epigramm mitgeteilt, schlleszt er: „Es wird mir
„so ein unüberwindlich Bedürfnisz dich zu sehen dasz mir wieder
„einmal für meinen Kopf bange wird. Ich weis nicht was aus mir
„werden soll."

So haben wir in prägnanter Weise bei einander: den liebelnden
Goethe, der seine Konsequenz in der Liebelei mit der einen als
Beweis für seine Treue In der Liebe, die er der anderen entgegen-
bringt, anführt, — den künstelnden Dichter, der in Poesie experi-
mentiert, seine Empfindungen zu feinstem Golddraht zieht und
daraus irgend eine poetische Filigranarbeit wirkt, —den Berauschten,
der seiner Handlungen kaum Herr ist.

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48. J. A. Bd. 3 S. 98. [W. A. Bd. 5 (1) S. 66].

„Gewisz, ich wäre schon so ferne, ferne —"

A n m e r k u n g: V. d. Hellen schreibt J. A. Bd. 3 S. 324: „Die
„Stanze wird in dem französischen Briefe Goethes an Frau v. Stein,
„21—24 August 1784 aus Braunschweig, eingeführt mit den Worten:
„Je finis par un vers allemand qui sera placé dans le Poeme que
„je chéris tant, parceque j y pourrai parler de toi, de mon amour
„pour toi sous mille formes sans que personne l\'entende que toi
„seule." Das Poem: „Die Geheimnisse," s. J. A, Bd. I S. 287 f. f.
„301, 379 f."

Man musz unter den lyrischen Gedichten Goethes für Charlotte
von Stein bis zum Jahre 1780 (nr. 28) zurückgreifen, ehe man auf
ein Gedicht trifft, das denselben vollen, milden, liebenden Ton
erklingen läszt wie diese Stanze. Dazwischen liegen fast nur lyrische
Sachen ganz andern Gehaltes, teilweise poetische Experimente ent-
schieden frostigen Charakters.

Wie mag es nun sein, dasz die Stanze einen derartigen Eindruck
macht, während sogar das mit gröszter Sorgfalt gebaute Gedicht
„Erwählter Fels" (nr. 40), in dem eine selige Bejahung der Dinge
lebt, hinter den acht Verszeilen dieser Stanze zurückstehen musz?

Einmal handelt es sich dabei um etwas Formelles, das allerdings
von hoher Bedeutung ist. Ebenso wenig wie bei Goethes Hexa-
und Pentametern ist die Stanzenform seine Erfindung. Wie Brockes,
Heinse, Wieland u. a. hat Goethe sie, wenn auch frei schaltend,
den Italienern nachgebildet. Sic mutet aber wie Goethes Eigentum
an, als die einzig mögliche Erscheinungsform, wozu sich seine Stim-
mung verkörpern muszte. Was bei Goethes oben besprochenen,
klassischen Versuchen durchaus nicht immer der Fall ist. Nun
bleibt freilich alles Dichten ein Künstlerexperiment. Es soll aber
eben der Versuch als Versuch gar nicht auffallen. Und diese Selbst-
verständlichkeit der Form hat Goethe in unserer Stanze
erreicht.
Sie gleitet leichtbeschwingt und edel dahin, sie ist Spezimen vor-
nehmer, deutscher Verskunst.

Sodann musz die Stanze inhaltliche Qualitäten besitzen, die sie

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ausnehmend wertvoll machen. Das Gefühl der Freiheit und das
demutvolle Wissen um die absolute Abhängigkeit alles Mensch
liehen von Höherer Gewalt ist darin. Das Streben des Dichters
nach dem, was über ihm ist, richtet sich auf die Geliebte die ihm
verkörpert was er werden möchte.

Wie wohl diese herrliche Stanze sicherlich für die „Geheimnisse"
besümmt war, möchte ich sie Goethes Dichtung primärer Art zu-
zählen Die Hauptfragmente der „Geheimnisse", obgleich auch der
Charlotte v. Stein gewidmet, liegen weiter, mit ihnen schreitet der
Dich er aus dem Gebiete der primären Poesie in das der sekundären
Die Lyrik erweitert sich zur Epik.

Worüber hat der Dichter nun in den „Geheimnissen" sprechen
wollen? Doch wohl über die Emanationen der „Wahrheit" durch
die Hüllen verschiedener wichtiger Religionen der Erde hindurch,
über die „Wahrheit", die sich in tausend Formen offenbart.

Es scheint mir ausgeschlossen, dasz dem Dichter etwa die Geliebte
absolut-identisch mit dieser allerhöchsten „Wahrheit" gewesen
wäre. Vgl. Goethes merkwürdige Äuszerung in seinem Briefe vom
8. Aug. 1784 an Frau v. Stein: „Um mich zu beschäfftigen und
„meine unruhigen Gedancken von dir abzuwenden habe ich den
„Anfang des versprochenen Gedichtes gemacht." [= die „Ge-
heimnisse," urspr. verbunden mit der „Zueignung", de B.] 1

Ich möchte es so auffassen: die Geliebte hat ihm in den Momenten,
wo er unser Gedicht konzipierte in menschlicher Gestalt ein höch-
stes Erdenmasz von überirdischer „Wahrheit" verieiblicht. In ihr
blitzt momentan „Wahrheit" auf, die glänzt ihm, die musz er sehen,
weil auch er aus dieser „Wahrheit" ist, die sieht er schimmern durch
die äuszern Hüllen in den heiligen Überiieferungen verschiedener
Religionen. Eine Idee, die wieder zusammenhängt mit seinem regen
Interesse für die Gedanken Spinozas, Herders, Lessings.

Goethe spricht über „Wahrheit", aber mich dünkt, er meint das
Wesen, das andere „Gott" nennen,

„Name ist Schall und Rauch."
„Umnebelnd Himmelsglut."

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Denn was hier in Goethes Herzen brennt, ist mir die Glut des Gött-
lichen, wie sie auch aus der schönen Stelle im Faust I J. A. Bd. 13
S. 149, Z. 3431 f. leuchtet, wie sie nach vielen Jahren noch einmal
aus der Marienbader Elegie des greisen Weisen strahlt:

„Dem Frieden Gottes, welcher euch hienieden"
„Mehr als Vernunft beseliget — wir lesen\'s —
„Vergleich\'"ich wohl der Liebe heitern Frieden"
„In Gegenwart des allgeliebten Wesens;
„Da ruht das Herz, und nichts vermag zu stören"
„Den tiefsten Sinn: den Sinn, ihr zu gehören."

„In unsers Busens Reine wogt ein Streben,"
„Sich einem Höhern, Reinem, Unbekannten"
„Aus Dankbarkeit freiwillig hinzugeben,"
„Enträtselnd sich den ewig Ungenannten;"
„Wir heiszen\'s: fromm sein!____"

J. A. Bd. 2 S. 209 Z, 123 f.

Mit Baumgart, „Goethes „Geheimnisse" und seine „Indischen
Legenden" S.76ff.", nehme ich an, dasz „Der Gott und die Bajadere"
und die Trilogie „Paria" in den Stoffkreis der „Geheimnisse" ge-
hören dürften. Vgl. Goethe an Frau v. Stein den 5. Sept. 1785:
„Sehr schöne Indianische Geschichten haben sich aufgethan." Nur
möchte ich ausdrücklich darauf hinweisen, dasz m. E Goethes
Lebenserfahrungen, die der Ausführung seiner indischen Legenden
vorangingen, seitdem die „Geheimnisse" schon Jahre ruhten tief-
gehenden Einflusz auf den Gehalt dieser Legenden übten. \'

49. J. A. Bd. 1 S. 3-6. [W. A. Bd. 1 S. 1].

„Zueignung."
„Der Morgen kam; es scheuchten seine Tritte —"

Anmerkung: Vgl. J. A. Bd. 1 S. 301, wo v. d. Hellen bc-

...... Sommer 1784 begonnen...." Gräf Goethe ü.

s Dichtungen, Lyrik II, 2 S. 1028" setzt den Anfang\'auf den 8.
Aug. 1784. - Goethe an Herder und seine Frau den 8 Aug.
1784,

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sowie Goethe an Frau v. Stein unter demselben Datum, W. A.
Briefe Bd. 6 S. 333 f.

Die „Zueignung" kommt nicht unter „Goethes Briefen an Frau v.
Stein" vor, bildete aber den Anfang des 1784 begonnenen, „für seine
„Lage zu ungeheuren," fragmentarisch gebliebenen Gedichtes „Die
Geheimnisse" (vgl. nr. 48 oben) und wurde von ihm seit 1815 als
Einleitung zu seinen sämtlichen Werken gebraucht.

Wir haben es in der „Zueignung" mit einer bewuszten Transfi-
guration des Wirklichen zum allegorisch Überwirklichen zu tun.
Wie schon oben angedeutet wurde, nehme ich an, dasz Charlotte
von Stein dem Dichter in gewissen Momenten die irdische Vertre-
terin der hohen Überirdischen war. Durch sie als Mittlerin offenbart
sich ihm das Göttliche. So werden wir an den majestätischen Schlusz
des Chorus mysticus gemahnt:

„Das Ewig-Weibliche"
„Zieht uns hinan."

Faust II J. A. Bd. 14 S. 286.

Ich möchte nun vermuten, dasz in den Tiefen des Herzens die
erhabene Idee des Schluszchores am Ende des Faust u. a. aus
Goethes Verehrung für diese Frau gespeist wurde.

Allen Goetheschen Werken geht auf immerdar die „Zueignung"
als eine stille, der Frau v. Stein gewidmete Huldigung voran. Die
göttliche „Wahrheit" reichte dem Begnadeten all seine Werke als
Geschenk:

„Aus Morgenduft gewebt und Sonnenklarheit"
„Der Dichtung Schleier aus der Hand der Wahrheit."

Es wirkt durch die Vermittlung dieser Werke der göttliche Kern
Goethes auf uns ein, das bedeutet uns die „Zueignung".

50. J. A. Bd. 1 S. 287 f. [W. A. Bd. 16 S. 171 f.]

„Die Geheimnisse"
„Ein Fragment."
„Ein wunderbares Lied ist euch bereitet —"

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Anmerkung: Das Fragment kommt nicht unter Goethes
Briefen an Frau v. Stein vor, würde hier auch, da es zur Epik
gehört, nicht unter einer eigenen Nummer angeführt werden, wenn
es nicht mit der „Zueignung" und einigen anderen Stanzen (nr. 48
und nr. 54) so eng zusammenhinge.

In der zweiten Strophe singt der Dichter:

„Doch glaube keiner, dasz mit allem Sinnen"
„Das ganze Lied er je enträtseln werde: —"

J. A. Bd. 1 S. 287 Z. 9-10.

Diese Worte beziehen sich also auch auf Frau v. Stein. Da hätten
wir es mit dem Bruchstück eines Werkes zu tun, worin Goethe
sich sowohl der Welt als auch der Geliebten gegenüber in Rätseln
ausdrückt, während er in demselben Gedichte „unter tausend
Formen von seiner Liebe für sie spricht!"

Es sei mit Rücksicht auf die Nummern 48, 49 und 54 die Inter-
pretation eines in den „Geheimnissen" mehr als einmal aufleuch-
tenden Symbols gestattet:

„Es steht das Kreuz mit Rosen dicht umschlungen."

„Wer hat dem Kreuze Rosen zugestellt?"

„Es schwillt der Kranz, um recht von allen Seiten"

„Das schroffe Holz mit Weichheit zu bekleiden."

„Und leichte Silber-Himmelswolken schweben,"

„Mit Kreuz und Rosen sich empor zu schwingen,"

„Und aus der Mitte quillt ein heilig Leben",

„Dreifacher Strahlen, die aus einem Punkte dringen."

J. A. Bd. 1 S. 289 Z. 69 f.

Goethe, der Hypsistarier (vgl. seinen Brief an Sulpiz Boisserec
vom 22. Mai 1831), hat dem Kreuz, dem alten Symbol himmlischer
Liebe, das noch ältere Symbol irdischer Liebe, die Rosen
zugesellt,
Ihn
strahlt das Rosenkreuz mit dreifachem heiligen Licht an. Um
fuhrt nicht nur das eine, sondern auch das andere Zeichen in den
Kern des göttlichen Lichtes. Auf den mystischen Gehalt
seines
vielleicht bedeutendsten religiösen Gedichtes haben wohl Spinoza,

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Andrea Hemsterhuys der Jüngere, Hamann, Lessing, Jacobi und
Herder Einflusz ausgeübt. °

Das groszartige Denkmal, das der Dichter seiner irdisch-über
irdischen Liebe hätte errichten wollen, blieb unvollendet Uns
bleiben nur die Anfänge dieses ungeheuren Baus, dessen Totalaspekt
wir blosz ahnen können.

51. J. A. Bd. 1 S. 249 nr. 6. [W. A. Bd. 2 S. 125].

„Warnung."

„Wecke den Amor nicht auf! —"

Anmerkung: Vgl. v. d. Hellen, J. A. Bd. 1, S. 367, wo es heiszt:
„Poetische Ausgestaltung der Schluszwendung eines Briefs an Char-
„lotte
V. Stein (22. Nov. 1784), in Anlehnung an ein Epigramm der
„Griechischen Anthologie." Vgl. „Scheintod". J. A. Bd. 1 S. 35."
Gräf „Goethe ü. s. Dichtungen, Lyrik 11, 2 S. 1198" stellt das Epi-
gramm in den Spätherbst 1784. Das Gedicht fehlt unter Goethes
Briefen an Frau v. Stein. Im Zusammenhang mit unserem Gedichte
sei aber hingewiesen auf Goethes Brief an Frau v. Stein, den Heine-
mann nach dem 5. Mai 1784 stellt:

„Recht feyerlich liebe Lotte mögt ich dich bitten vermehre nicht
„durch dein süses Betragen täglich meine Liebe zu dir. Ach meine
„Beste warum musz ich dir das sagen! Du weist doch wohl wie
„voll Dankes mein Herz für dich ist. Seit Deianirens Zeiten ist
„wohl kein gefährlicher Gewand einem Geliebten gegeben worden,
„ich habe es in meine Brieftasche geschlossen, es hätte mich auf-
„gezehrt." —

Hierher gehört auch Goethes Billett an Frau v. Stein vom 22.
Nov. 1784 mit den Worten:

...... Herder hat mir seine Abh. über das griechische Epigramm

„geschickt----wenn eine Bitte bey dir statt findet so wecke den

„Amor nicht wenn der unruhige Knabe ein Küssen gefunden hat
„und schlummert."

Deutlich liegen in Goethes Lyrik dieser Zeit die verschiedenen

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Seiten seiner Liebe für Charlotte v. Stein zu Tage. In den „Geheim-
nissen" fanden wir Spuren einer poetischen Theorie, laut welcher
übersinnliche und sinnliche Liebe verschiedene, aber gleichwertige
Strahlen desselben göttlichen Lichtes seien. Praktisch liegen im
Herzen des Dichters nun wiederum sinnliche und übersinnliche
Liebe mit einander im Streit.

Goethes „amor" wurde nach seinem Dafürhalten zu kräftig. Er
fühlte sich dazu verpflichtet seinen „amor" zu bezähmen. Hat
etwa Chariotte früher einmal Goethes Mäszigung in eroticis kate-
gorisch gefordert? Mir scheint das äuszerst wahrscheinlich.

Aus unserem Gedichte, sowie aus den zitierten Briefstellen, geht
hervor, wie es unter der kühleren Oberfläche in Goethes Herzen
brannte. Weiter sollte es brennen bis zur Unleidlichkeit! Vgl, Goethes
Brief an Frau v. Stein, Rom den 21. Febr. 1787.

52. J. A. Bd. 3 S. 101 f. [W. A. Bd. 4 S. 102].

„Woher sind wir geboren? —"

Anmerkung: Vgl. v. d. Hellen, J. A. Bd. 3 S. 324: „Zu
„Grunde liegen Verse aus des Johann Valentin Andreae (1586—
„1654) „Chymischer Hochzeit Christiani Rosencreütz Anno 1459"
„(Straszburg 1616), vgl. Schriften der Goethe-Gesellschaft II, 365 f."

Gräf „Goethe ü. s. Dichtungen, Lyrik I S. 98 Z. 27": _____kein

„eigenes Gedicht, sondern eine leichte Umarbeitung von Satz H
„und IV der Nyniphen-Cantate aus der Dichtung
„Chymische
„Hochzeit" etc."

Unter „Goethes Briefen an Frau v. Stein" kommt das Gedicht
vor in einem Billett, dessen Datum, Ende Juni 86, Heinemann
anzweifelt. Unser Gedicht hängt wohl mit Goethes\' Studien zu
seinen „Geheimnissen" zusammen. Dieses kleine, nüchterne, „Lie-
besgedicht," das wie ein Fragment aus einem
weltlich-frommen
Katechismus berührt, ist das letzte lyrische Produkt Goethes für
Chariotte von Stein, das uns aus der Periode vor der
italienischen
Reise bekannt ist. Falls es wenigstens gestattet ist, eine derartig
minderwertige Bearbeitung einer älteren Voriage als ein poetisches

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Produkt Goethes zu betrachten. Erst nach fast dreiszig Jahren

.st uns nochmals eme späte, sehr kleine Nachernte lyrischer Gedichte
Goethes für Charlotte erblüht. «-»cuiLnie

Das gänzliche Fehlen solcher Gedichte seit dem Jahre 1785 nach
der Entstehung des groszen, teilweise höchst bedeutenden Torsos
der „Geheimnisse" und der Nummern 50 und 51, wirkt befremdend
scheint mir aber symptomatisch für das ganze Verhältnis auf lange
Jahre hinaus. - Vgl. Erich Schmidt. Charakteristiken Erste
Reihe. S 303. Fusznote.

53. J. A. Bd. 3 S. 140. [W. A. Bd. 4 S. 249].

„Dasz du zugleich mit dem heil\'gen Christ —"

Anmerkung: Vgl. v. d. Hellen Bd. 3 S. 337: „....Goethe
„hielt sich zu Hause, da die „Sonnenferne" des Dezembers, wor-
„über er seit langer Zeit fast alljähriich klagte, seiner Gesundheit
„nachteilig war." — Gräf „Goethe ü. s. Dichtungen, Lyrik II, 1
S. 76 Z. 14 f.": „Nach W. Bode: Stunden mit Goethe 1 (4), 299
„Anm. ist als gut verbürgt anzunehmen, dasz G. dieses Gedicht
„gleichzeitig an seines Sohnes Freund Brunnquell gesandt habe —
„G. hatte, diesz scheint mir (= Gräf) der Sachverhalt zu ergeben,
„zuerst Vers 1/8 als Begleitung einer Weihnachtsgabe für Brunn-
„quell geschrieben, dann erst kam ihm der Gedanke, die Verse
„auch zu einer Gabe für Chari. v. Stein zu benutzen, und er fügte
„deszhalb die allein für sie bestimmten und verständlichen Schlusz-
„verse hinzu." — Im Concept ist der Schlusz, Vers 9 f. — wie Gräf
a. a. 0. bemerkt, sichtlich erst näch traglich hinzugefügt
worden.

Unter „Goethes Briefen an Frau v. Stein" erhalten mit dem
Datum „am 25. Dez. 1815." Frau v. Stein wurde
an dem Tage 73,
August 26 Jahre alt. Goethe selbst war damals 66 Jahre.

Besonders durch die Existenz des August v. Goethe war die
gesellschafthche Verbindung zwischen dem Gatten der Christiane
Vulpius und der verwitweten Frau v. Stein schon längst wieder-
hergestellt worden. Unser Gedicht ist eine poetische Höflichkeit,
wie sie Goethe so vielen andern, auch der Frau v. Stein wohl er-

6

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wiesen hat. Dennoch hat das kleine Gedicht einen innigen Ton.
Höflich ist es, demütig, dankbar, — der heilige Christ, die Verehrte,
sowie August, der werte schlanke, bilden eine Trias, wofür er Gott
im Herzen dankt. Wo Goethe fromm wird, ist die Liebe nicht fern.
(Vgl. „Trilogie der Leidenschaft" J. A. Bd. 2 S. 209). Womit
allerdings dieses Gedicht den Leiden des späten Werther nicht
gleichwertig an die Seite gesetzt werden soll.

Unser Gedicht ist nur eine gesellschaftliche Spielerei, die mit
den beiden letzten Verszeilen an das Ernste, Tiefempfundene streift:

„Der ich, wie sonst, in Sonnenferne"
„Im stillen liebe, leide, lerne."

Denn nur dem Scharfsichtigen leuchtet blasz der silberne Schein
einer zweiten Bedeutung hinter der ersten allen sichtbaren auf:
Frau von Stein war unserem Dichter vor vielen Jahren im Sommer
seines Lebens die Sonne. Vgl. die Zeichen im Tagebuch Bd. 1 S. 346.

54. J. A. Bd. 2 S. 219. [W. A. Bd. 3 S. 44].

„Für ewig."

„Denn was der Mensch in seinen Erdenschranken —"

Anmerkung: Vgl. v. d. Hellen J. A. Bd. 2 S. 343: ......in

„der Stanze „Für Ewig", einem Paralipomenon der „Geheimnisse"
„von 1784, hat der Dichter seinem Dank für die schönste und
„schmerzlichste Liebe seines Lebens unmittelbaren Ausdruck ge-
„liehen." Zu Goethes Worten am
30. Aug. 1784 in seinem Briefe
an Frau v. Stein: „J\'ai écrit de nouveau quelques versets du poemc
[„Die Geheimnisse"] —" bemerkt Gräf „Goethe ü. s. Dichtungen,
Lyrik
I S. 88 Z. 30 f.": „Wahrscheinlich die in einer Handschrift
„aus dem Besitz der Frau v. Stein auf einem Blatt vereinigten
„drei Stanzen: I— 2 „Denn was der Mensch etc." —

Das Datum läszt sich also nicht genau bestimmen. Die Stanze
kommt nicht unter „Goethes Briefen an Frau v. Stein" vor. Mag
sie nun schon 1784/85 entstanden und der Frau v. Stein
mitgeteilt
worden sein, sie wurde erst 1820, mit den Gedichten „Zwischen
beiden Welten" und „Aus einem Stammbuch von 1604" verbunden

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in „Kunst und Altertum" veröffentlicht. Vgl. J. A. Bd. 2 S 343
Die erhabenen Worte dieses kleinen , Hohen Liedes\' der Liebe
Goethes für Charlotte von Stein müssen sie, als die Stanze ihr ge-
druckt vorlag, wegen gar mancherlei getröstet haben, das ihr das
Schicksal einst in alten Zeiten durch den Geliebten auferlegte.
Versunken ist alles Leid. ^

Es handelt sich gar nicht darum festzustellen, ob Frau v. Stein
„war", wie sie der Dichter erschaute. Der Dichter sah sie so, sie
war in ihm, wie sie durch diese Worte aus ihm herausleuchtete.

Wir haben das Residuum eines der höchsten Seelenzustände
Goethes vor uns.

55. \' J. A. Bd. 2 S. 219 f. [W. A. Bd. 3 S. 45].

„Zwischen beiden Welten."

„Einer Einzigen angehören —"

Anmerkung: Vgl. nr. 54. Unter „Goethes Briefen an Frau
V. Stein" nicht erhalten. — v. d. Hellen, J. A. Bd. 2 S. 343 bemerkt:
„Ob Goethe das mittlere Gedicht [= nr. 55 de B.] erst zu diesem
„verbindenden Zwecke dichtete (v. Loeper,\' Düntzer, Pniower) oder
„ob er nur die drei letzten Verse damals einem älteren Gedichte
„anfügte (Hildebrand) wird sich nie entscheiden lassen." — Gräf
„Goethe ü. s. Dichtungen, Lvrik II, 2 S. 896" datiert es zweifelnd
in den Frühling 1820. In seinem Register dess. Bds. fehlt es.

Lida, d. h. Charlotte von Stein und William, d. h. Shakespeare,
sind es, denen der siebzigjährige Dichter verdankt, was er ist, auf
denen nach so vielen Jahren noch seines „Wertes Vollgewinn" ruht.

Drückte der Dichter in der Stanze „Für Ewig" aus, welch seltenen
Seelenreichtum er in der Einzigen entdeckt und für sich gefunden
hatte, hier läszt sich ahnen, welchen erzieherischen Einflusz auf
sein ganzes Wesen Goethe den Beziehungen zu Charlotte v. Stein
noch im hohen Alter, wo er sein Leben zum gröszten Teil übersehen
konnte, beilegte.

56. J. A. Bd. 3 S. 159. [W. A. Bd. 4 S. 274],

„Am acht und zwanzigsten August 1826"
„Des Menschen Tage sind verflochten —".

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Anmerkung: Unter „Goethes Briefen an Frau v. Stein"
mit dem letzten Billett dieser durch fünfzig Jahre hindurch geführ-
ten Korrespondenz erhalten. Die Begleitworte lauten:

„ Beyliegendes Gedicht, meine Theuerste, sollte eigentlich schlieszen:
„Neigung aber und Liebe unmittelbar nachbarlich angeschlossen
„lebender durch so viele Zeiten sich erhalten zu sehen, ist das aller-
„höchste was dem Menschen gewährt seyn kann. Und so für und für!

„W. d. 29. Aug. 1826. Goethe." v. d. Hellen berichtet J. A. Bd.
3 S. 347: „Laut Tagebuch entstand ein „kleines Gedicht zum
„nächsten Fest" schon am 16. Aug. 1826. Goethe liesz es in Jena
„drucken und versandte es vom 26. ab an zahlreiche Freunde, am
„29. an Charlotte von Stein."

Unser allgemein gehaltenes Gedicht, das an Sulpiz Boisser&i;
Frommann und Frau, Hose, die Mittwochs-Gesellschaft in Berlin,
Nees
V. Esenbeck, Nicolovius, Sternberg, Wagner, Weller, Zelter
und Adele Schopenhauer, sowie wohl noch an andere gesandt wurde,
war also nicht speziell für Frau v. Stein bestimmt. Vgl. Gräf „Goethe
ü. s. Dichtungen, Lyrik II, 2 S. 1031."

Die erste Strophe dieses poetischen Sendschreibens drückt die
Vergänglichkeit der schönsten Güter, das Einsamwerden in rüh-
render Weise aus. Die zweite verherrlicht die Freundschaft. Die
dritte drückt die Hoffnung aus, dasz die Freunde in eins verflochten
bleiben mögen. Unverdrossen sollen sie das Beste schaffen:

„Wohlwollen unsrer Zeitgenossen,"
„Das bleibt zuletzt erprobtes Glück."

Der Zusatz in Prosa, welchen Goethe dem Gedichte hinzufügte,
als er es der alten Freundin zusandte, verinnerlicht die Idee des
vorhergehenden Gcdichtes. Zwar bleibt der Dichter auch in dieser
Prosa allgemein, aber durch das Allgemeine hindurch und
über alles
Trennende hinweg deutet er auf ihre Neigung, auf ihre Liebe hin.
die zum Allerhöchsten gehörten, was ihm gewährt wurde.

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VIERTER ABSCHNITT.

Goethe vom November 1775 bis zum Juli 1788.

Eine Übersicht.

Eine Italienfahrt als Abschlusz der Erziehung seines Sohnes hat
sich schon der alte Frankfurter Rat Goethe gedacht. Wir wissen,
dasz der „Wanderer" im Oktober 1775 eine italienische Reise antrat,
allein er führte diesen Plan nicht aus. Es sollte mehr als zehn Jahre
dauern, ehe er das Land sah, das er schon so lange „mit der Seele
suchte."

Wie eine wunderliche Schlittenfahrt glitt Goethes Leben die
erste Zeit in Weimar „rasch weg und klingelnd und promenierend
„auf und ab." (An Johanna Fahimer, den 22. Nov. 1775.) Wieland
war eine brave Seele, die Fürstenkinder edel, lieb und hold. Herder
wird bald nachher auf Goethes Rat zum Generalsuperintendenten
ernannt. Die waldigen, wilden Gegenden Thüringens und die ein-
fachen, natürlich guten Menschen werden ihm lieb. Der verlassenen
Lili wird zwar gedacht, aber sein Herz fängt an sich einem neuen
Herzen zuzuneigen. Es ist die Zeit, wo er sich den herrlichen Mor-
genstern zum Wappen wählt, wo allerlei Geniestreiche den jungen
Fürsten und seine Freunde wie eine fröhliche Jagd durch das kleine
Herzogtum und die Nachbarstaaten treiben.

Mancher schüttelt nachdenklich den Kopf. Klopstock spricht und
wird fast derb abgewiesen. Man äuszert Bedenken in der Frankfurter
Heimat, aber Goethe nimmt seine Gastrolle auf dem theatro mundi
zu Weimar als Mission. Im Innern ist ihm dieser Hof Staffel zu
Höherem, das sich seinem Blick, wie eine Bergspitze im Nebel,
entzieht. Eine Weltrolle will er spielen, ob in Weimar oder sonstwo.

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bleibt vorläufig unentschieden. Aber dieser Hof hält ihn fest, bindet
ihn mit vielen Banden. Die ersten Billetdoux werden gewechselt.
Geht denn auf höherem Plan das alte Leben wieder an? Oder gehört
das zur Gewandung eines grandseigneurs? Denn er wird ein vor-
nehmer Herr, dessen stolzes Rückgrat sich nach Klopstock auch
Lavater zeigt.

Der Herzog ist ein „goldner" Junge und noch ein anderes „Gold"
hat er gefunden. Wieland fühlt schon, dasz Goethe nicht wieder
von Weimar loskommen wird. Der Unruhige risz sich aus dem
bürgerlichen, untätigen Leben in Frankfurt los und hat hier ein
paar Herzogtümer „vor sich." Man Ist mit dem Herzog nicht zu-
frieden, weil er dem Hofe nicht nach der Pfeife tanzt, heimlich und
öffentlich gibt man dem Doktor Goethe die Schuld, was dieser
gerne auf sich nimmt: das ist eine Art Lob!

„Bruder und alles eines Fürsten" ist er geworden. Der grillen-
hafte Vater mag „kochen", was er will, darum kann er sich
weiter
nicht kümmern. Städte wie Frankfurt und Leipzig werden Ihm
verächtlich, Weimar bedeutet Erdgeruch, Erdgefühl. Die Gesell-
schaft, in welcher er vor einem Jahre selig-unselig lebte, ist ihm
„das Voick," „so eine Race" geworden. Neben der neuen Liebe
für die stille, wahrheitsliebende, melancholische und etwas misz-
trauische Frau Oberstallmeister von Stein keimt schon bald
Anderes
für Corona Schröter, die er seinem Herrn wohl gepriesen hat, war
sie ihm doch bekannt aus seiner Leipziger Zeit, — und die er nun
aus Leipzig nach Weimar holt.

Aber die eigenen Herzensangelegenheiten, die aufdämmernden
Umrisse künftiger Werke müssen zurücktreten vor dem Wohl des
kleinen Staates, dem er dienen will. Er Ist Mann geworden,
hat
männliche
Interessen, wie die Ilmenauer Bergwerke. Ein Garten-
häuschen unweit der Ilm, Geschenk seines fürstlichen Freundes,
nennt er schon sein eigen. Der merkwürdige Junggeselle wohnt
drauszen vor dem Tore allein im Grünen, wo er an stillen Tage"
nur seine Uhr, den Wind, und das
ferne Wehr hört. Er hat sich
in Thüringen niedergelassen. Wohnung, Amt und Titel fallen dem
Glücklichen in den Schosz.

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Land und Leute werden ihm so lieb, dasz er weint bei dem Gedan-
ken, „wenn du auch das zu verlassen gedrungen würdest, mit einem
„Stab in der Hand, wie du dein Vaterland verlassen hast." (An
Charlotte von Stein, den 16. Juli 1776).

Lenz und Klinger können in Weimar nicht wurzeln, Fritz Stol-
berg läszt Karl August und Goethe im Stich, er will nicht an diesen
übelberüchtigten Hof ziehen. Goethe bleibt, aber rückt den frü-
heren Freunden ferner und hüllt sich ihnen gegenüber in Schweigen,
Unsichtbar wächst unterdes sein heilig sonderbares Verhältnis zur
älteren Freundin. Mit Worten kann es nicht ausgedrückt werden,
Menschen können es nicht sehen. (An Charlotte v. Stein, den 8.
Aug. 1776). Ohne Herzenskämpfe geht es aber nicht, denn im ersten
Jahre schmollt er schon mit ihr und meldet nebenbei der Charlotte,
dasz Luise ein „unendlicher" Engel ist. Dennoch ist sie die liebe
Einzige, die ihn ohne ihm weh zu tun glücklich macht, — zwar peinigt
sie ihn wie das Schicksal, allein man kann sich nicht darüber bekla-
gen, so weh es tut! (An Charlotte v. Stein, den 10—12. Sept. 1776).
Dann wieder kommt sie ihm wie Madonna vor, die gen Himmel
fährt: sie ist nur in den Glanz versunken, der sie umgibt und voll
Sehnsucht nach der Krone, die ihr überm Haupte schwebt. (An
Charlotte v. Stein, den 7. Okt. 1776).

Seit Lenz Weimar verlassen hat, macht Goethe im neuen Jahr
den englischen Sprachmeister der Frau v. Stein. Sie hilft ihm, sich
durch das Leben durchzuziehen. Die übrigen kleinen Leidenschaften,
Zeitvertreibe und „Miseleyen" hängen sich nur so an dem Faden
der Liebe zu ihr an.

Im Garten wird sein Interesse für die Pflanzenwelt rege. Der
Geliebten zieht der Poet und Liebhaber seine Blumen und Gemüse.
Als Cornelia Schlosser im fernen Emmendingen stirbt, beerbt Char-
lotte seine Schwester: diese Frau ersetzt ihm alles andere. Er ist
verändert, was er am meisten fühlt, wenn eine sonst bekannte
Stimme zu ihm spricht. Der Herzog will Merck nach Eisenach
ziehen, aber Goethe gesteht dem alten Freund, dasz er abgeraten
habe. Kestners wollen fort aus Hannover und Goethe rät auf dem
Platze zu bleiben. Wer seinen Zustand verändert, verliert immer!

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Goethe rückt den Leuten immer ferner, sodasz die Blüte des
Vertrauens welkt. Seine Seele ist eine Stadt, die hinter sich eine
Zitadelle auf einem Berge hat, nicht nur das Schlosz bewacht er
jetzt, auch die Stadt wird befestigt. Lieber mögen ihm die Götter
das Ende vorrücken, als ihn den letzten Teil des Zieles „lausig"
hinkriechen lassen. Das Wesen der Groszen, Mittlern und Kleinen
wird ihm ein ekelhaftes Durcheinander. (An Charlotte v. Stein,
den 17—24 Mai 1778.)

Man fängt an, ihn gelegentlich stolz zu nennen, während er in
demselben Jahre dem verdüsterten Sekretär Krafft mit allen mög-
lichen Mitteln im geheimen aufzuhelfen sucht, während er Peter
im Baumgarten schon längst als seinen Schutzbefohlenen betrachtet.

Es ist die Zeit, wo er fühlt, dasz Charlottens Schwesterseele ihn
aus der beängstigenden Macht der Eumeniden befreie. „Ein Quatro
„neben in der grünen Stube," so sitzt er und ruft die fernen Gestalten
leise herüber. „Iphigenie" entsteht.

Heiszere Töne werden vernehmbar. Seine Herzenserlebnisse be-
rühren sich mit der Wertherstimmung früherer Jahre. „Wenn ich
„wieder auf die Erde komme, will ich die Götter bitten, dasz ich
„nur einmal liebe, und wenn Sie nicht so feind dieser Welt wären,
„wollt ich um Sie bitten zu dieser lieben Gefährtin." (An Charlotte
von Stein, den 2. März 1779). Mit ihrer Hilfe erzieht er sich so weit,
dasz er mit den Menschen dieser Welt leben kann, ohne dasz ihm
sein inneres Leben dadurch verrückt wird.

Die Lasten, die er trägt, drücken bald weniger, bald mehr. Eine
bedeutende Harzreise unternimmt er 1777 allein, eine wichtigere
Schweizerreise mit dem Herzog arrangiert er 1779. Zum ersten
Male wird er ganz wohl, vergnügt und so ehrenvoll als
möglich in
sein Vaterland und Vaterhaus zurückkehren. Uli und
Friederike
besucht der Untreue, denn er fühlt sich in geheimnisvoller Weise
noch gebunden. Lavater, der alte Paradiesvogel, wird besucht, aber
ihre Wege fangen an sich zu trennen. „Ich dencke auch aus der
Wahrheit zu seyn, aber aus der Wahrheit der fünf Sinne." (A"
Lavater, den 28. Okt. 1779).

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Obgleich sein Einflusz immer wächst, denn er wird jungen
Musikern und Malern ein Förderer und Gönner, er wird Freimaurer,
und bleibt mit den nachbarlichen Höfen nicht unbekannt, dennoch
befriedigt ihn sein reichhaltiges Leben nicht. Der alte Unfriede
des Innern zeigt sich öfters als „böse Zusammengezogenheit,"
„Kälte", „Unteilnehmung." (An Merck, den 3. April 1780).

Die Last der Geschäfte steigt. Die Schriftstellerei subordiniert
sich dem amtlichen Leben, da er auszer seiner Geheimratsstelle,
auch noch die Direktion des Kriegsdepartements und des Wege-
baus hat. Gelingt es ihm in Apolda, wo er die jungen Leute zum
Militärdienst ausheben musz, nicht an seinem Drama zu arbeiten,
alsob kein Strumpfwirker hungerte, der Künstler regt sich immer
wieder. „Wilhelm Meister" wird gefördert. Und die Begierde, die
Pyramide seines Daseins, deren Basis ihm angegeben und gegründet
ist, so hoch als möglich in die Luft zu spitzen, überwiegt alles.
(An Lavater, den 20. Sept. 1780).

Der Talisman jener schönen Liebe, womit „die Stein" sein Leben
würzt, tut sehr viel, zwar ist er dieser Liebe noch immer nicht ge-
wisz. Das Verhältnis musz dennoch allmählich bedeuiende Verände-
rungen erfahren haben, denn in dieser Zeit liegen die Anfänge des
Tasso und schreibt er am Tasso, so ist es ihm, als schriebe er an sie.
Charlotte von Stein schreitet durch „Iphigenie" als schwesterlich
heilende Priesterin, im Tasso ist sie menschlich nahe wie eine den-
noch unerreichbare Geliebte.

Goethe und Charlotte nähern sich stets mehr. Bald herrscht in
Goethes Briefen an sie fast nur das traute „du". Anfang des Jahres
1781 treten sie trotz dem Gerede in Weimar hei Festhchkeiten am
Hofe in einer Maskerade zusammen auf: er gibt die Rolle des Schlafes,
Charlotte die der Nacht im „Aufzug des Winters". Wie Lavater
die Feste der Gottseligkeit ausschmückt, so schmückt er die Auf-
züge der Torheit. So übertäubt man mit Maskeraden und glänzenden
Erfindungen oft eigne und fremde Not. (An Lavater, den 19. Febr.
1781). Die Liebe wird zur Passion. Sechsmal bester hintereinander, was
sie ihm schreibt und liest es immer wieder. (Vgl. J. A. Bd. 1 S. 238.
„Vier Jahreszeiten. Sommer 26", wo es sich um Christiane handelt.)

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Das Verhältnis zum Herzog verschiebt sich. Goethe scheut sich
nicht der geliebten Frau offen zu gestehen, dasz es mit Karl August
nicht „nach Proportion vom Flecke" will, „das Kind und der Fisch-
„schwanz gucken, eh man sich\'s versieht, wieder hervor." (An
Charlotte v. Stein, den 10. März 1781). Als Goethe der Frau v.
Stein so offen beichtet, befindet er sich mit seinem Herrn auf
Besuch bei der schönen Gräfin v. Werthern in Neunheiligen, für
die sich Karl August damals besonders interessierte. Wie er früher
durch seine Mitteilungen über die Branconi Charlottens Neigung
zu ihm anzufeuern suchte, so hält er ihr jetzt das Verhältnis zwischen
Karl August und der Gräfin Werthern als einen Spiegel vor. Sein
Noviziat habe nun lange genug gedauert „um sich zu bedenken".
„Ich wollte, dasz es irgend ein Gelübde oder Sakrament gäbe, das
„mich dir auch sichtlich und gesetzlich zu eigen machte, wie wert
„sollte es mir sein." — „Mache mich recht gut!" (An Charlotte v.
Stein, den 12. März 1781).

Aus den Zetteln des Frühjahrs 1781 fühlen wir, dasz Goethes
Empfindungen sich inniger als je zuvor äuszern. Den 7. März 1781
nennt er sie zum ersten Male „meine Gellebte." Am 22. März 1781
schreibt er ihr: „Deine Liebe ist mir wie der Morgen und Abend-
„stern, er geht nach der Sonne unter und vor der Sonne
wieder
„auf. Ja wie ein Gestirn des Pols das nie untergehend über unserni
„Haupt einen ewig lebendigen Kranz flicht. Wir haben noch so
„keinen schönen Frühling zusammen erlebt, niögte er keinen
Herbst
„haben. Sagen kann ich nicht, und darfs nicht begreifen, was deine
„Liebe für ein Umkehrens in Meinem Innersten wirkt. Es ist ein
„Zustand, den ich so alt ich bin noch nicht kenne. Wer lernt aus
„in der Liebe." — (An Charlotte v. Stein, den 23. März 1781).

Im Sommer desselben Jahres vernehmen wir wieder andere Töne,
denn Sorgen und Unmut gewinnen die Oberhand. „Ein böser Genius
„miszbraucht meiner Entfernung von euch, schildert mir die läs-
„tigste Seite meines Zustandes und rät mir, mich mit der
Flucht
„zu retten." (An Charlotte v. Stein, den 8. Juli 1781). Aber die
Macht der Geliebten überwiegt, ein Blick, ein Wort von liir ver-

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scheucht die Nebel. „In sorglichen Augenblicken ängstigt mich
„dein Fusz, und deiner Kinder Husten. Wir sind wohl verheuratet,
„das heiszt: durch ein Band verbunden, wovon der Zettel aus
„Liebe und Freude, der Eintrag aus Kreuz, Kummer und Elend
„besteht. Adieu, grüsze Steinen. Hilf mir glauben und hoffen."
(An Charlotte v. Stein, den 8. Juli 1781 Postscriptum).

Das Verhältnis zu Corona Schröter wird allmählich auf den
üblichen höflichen Umgang beschränkt. Leider erlaubt der einzige
Brief Goethes an Corona, der uns überdies undatiert erhalten blieb,
keinen genaueren Einblick. Aus Goethes Tagebuch geht jedoch
hervor, dasz auch der Herzog auf Goethes Verhältnis zu der schönen
Künstlerin auflösenden Einflusz gehabt haben dürfte. (Vgl. Tagebuch
vom 10. Januar 1779 und vom 1. April 1780).

Mit Herder, zu dem die Beziehungen auch oft schwankten, steht
Goethe im September 1781 auf solchem Fusz, dasz er sich für die
Zukunft alles Gute verspricht. Allerdings fügt er seinen Äuszerungen
über diesen Punkt in seinem Schreiben an Knebel vom 21. Sept.
1781 die merkwürdigen Worte hinzu: „Man schont sich selbst,
„wenn man nicht streng und grausam in gewissen Lagen gegen
„Menschen ist, die uns oder den Unsrigen wieder näher werden
„können."

Im Juni 1782 bezieht Goethe die Stadtwohnung am Frauenplan.
Mit Unterbrechung vom Herbst 1789 bis zum Frühjahr 1792 wohnte
er darin bis zu seinem Tode und zwar seit 1792 durch Schenkung
des Herzogs als Eigentümer. Er kam dadurch der Geliebten räum-
lich näher und man konnte sich nachbarlich bequem besuchen,
denn der Ausgang durch den Garten war nicht das geringste von
den Annehmlichkeiten dieser Wohnung. (An Charlotte v. Stein,
den 14. Nov. 1781). Das Wohnen in dem Städtchen mag auch den
amtlichen Verkehr des Geheimrats mit den Behörden erleichtert
haben. Er richtet sich ein in dieser Welt, ohne ein Haar breit von
dem Wesen nachzugeben, was ihn innerlich erhält und glücklich
macht, so heiszt es zu Merck am 14. Nov. 1781, aber amselben Tage
zu Lavater: „Die Unruhe, in der ich lebe, läszt mich nicht über
„dergleichen vergnüglichen Arbeiten bleiben." Er arbeitet am Tasso.

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Das Bedürfnis seiner Natur zwingt ihn zu vermannigfältigter
Tätigkeit. „Sind denn auch Dinge, die mir nicht anstehen, — heiszt
„es zu Knebel am 3. Dez. 1781 —so komme ich darüber gar leichte
„weg, weil es ein Artikel meines Glaubens ist, dasz wir durch Stand-
„haftigkeit und Treue in dem gegenwärtigen Zustande ganz allein
„der höheren Stufe eines folgenden wert und, sie zu betreten, fähig
„werden." — Hinter dieser spekulativen Betrachtung höre ich eine
gewisse Unruhe, die ihn heimlich treibt dieses Leben abzubrechen
und ein anderes anzufangen. Die hohe Schule der merkwürdigsten
Liebe seines Lebens ist jedoch noch nicht durchlaufen: er bleibt,
er übt sich „Steinen gefällig zu sein und ihm leben zu helfen!"
(An Charlotte von Stein, den 10. Dez. 1781). Er bittet die Liebste,
ihn auf alles zu führen, was ihr gefallen kann, denn er fühlt\'s nicht
immer.

Schroff abfällig urteilt er in dieser Zeit über seinen Herrn. „Der
„Herzog hat doch im Grunde eine enge Vorstellungsart, und was er
„kühnes unternimmt ist nur im Taumel, einen langen Plan durch-
„zudenken, der in seiner Länge und Breite verwegen wäre, fehlt
„es ihm an Folge der Ideen und an wahrer Standhaftigkeit" — so
vertraut Goethe am 12. Nov. 1781 der Geliebten an. Am 10. Dez.
1781 schreibt er ihr: „Der Herzog ist vergnügt und gut, nur find
„ich den Spasz zu teuer, er füttert 80 Menschen in der Wildnis
„und dem Frost, hat noch kein Schwein, weil er im Freien hetzen
„will, das nicht geht, plagt und cnnuiert die Seinigen und
unterhält
„ein paar schmarutzende Edelleutc aus der Nachbarschaft, die es
„ihm nicht danken." Am 12. und 13. Dez. 1781: „Der Herzog thut
„was Unschickliches mit dieser Jagd, und doch bin ich nach
seiner
„Herzoglichkeit mit ihm zufrieden.... es geht nichts besser und
„nichts schlimmer als sonst, auszer dasz der Herzog weit mehr
„weisz, was er will, wenn er nur was bessers wollte. — Sein Unglück
„ist, dasz ihm zu Haus nicht wohl ist.... Wenn diese Hast und
„Hetze vorbei ist, und wir wären um eine Provinz reicher, so
wollt
„ich\'s loben da es aber nur auf ein Paar zerbrochne Rippen, ver-
„schlagne Pferde und einen leeren Beutel angesehen ist, so hab

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ich nichts damit zu schaffen. Auszer dasz ich von dem Aufwand

„nebenher etwas in meine poHtisch moralisch dramatische Tasche
„stecke.

Das sind recht ungeschminkte Vorarbeiten zu „Ilmenau" dp.
Goethe dem Herzog als Angebinde zum Geburtstag 1783 darreichte
Dasz Goethe der Frau v. Stein sein tadelndes Urteil über den
Landesherrn in dieser Form schriftlich mitteilt, beweist wie fest
das Bündnis zwischen den beiden Liebenden damals war, beweist
aber auch, dasz der Boden, auf dem Goethes ganze Weimarer
Existenz, auch seine Liebe, erblüht war, schütterte: „Die Stein
„hält mich wie ein Korkwams über dem Wasser, dasz ich mich
„auch mit Willen nicht ersäufen könnte" — so schreibt er Knebel
am 3. Febr. 1782.

Neben der Jagdpassion regt sich auch des Herzogs Liebe für
das Militär. Goethe schreibt Knebel am 26. Febr. 1782 darüber:
„Das alberne Geschäft der Auslesung junger Leute zum Militare
„setzt mich in die Notwendigkeit, nächstens vier Wochen im Lande
„herum zu reiten. Ich denke mir die Reise angenehm und auf alle
„Weise nützlich zu machen. Es giebt gar vielerlei Weisen, die Welt
„anzusehen und Vorteil von ihr zu ziehen." Das Wort „albern"
zeigt, wie fern Goethe innerlich seinen Amtestätigkeiten steht.
Bald nachher gesteht er der Geliebten: „Das Zwecklose macht
„mich rasend." (An Charlotte v. Stein, den 2. April 1782). Seinem
Freunde Knebel schreibt er am 17. April 1782:

„----wir haben\'s soweit gebracht, dasz oben immer in einem

„Tage mehr verzehrt wird, als unten in einem organisiert (= bei-
„gebracht) werden kann."

Goethe, der NichtChrist, „der weder auf diesem noch auf jenem
„Berge betet, noch vorgeschriebne Stunden hat, Gott zu ehren,"
parodiert Lavaters Pilatus und gesteht ihm das. Goethes Entfrem-
dung von dem Jugendfreunde schreitet weiter vor. Goethe, der
herzogliche Beamte, der Dichter, zeichnet auch und zwar mitunter
leidenschaftlich, aber über seine Fortschritte in dieser Kunst ist
er höchlich unzufrieden: „Es ist alles vergebens, ich bringe nichts
„vor mich im Zeichnen, jetzo seh ich täglich mehr, wie eine anhal-

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„tende mechanische Übung endlich uns das Geistige auszudrücken
„fähig macht, und wo jene nicht ist, bleibt es eine hohle Begierde,
„dieses im Flug schieszen zu wollen." (An Charlotte v. Stein, den
9. April 1782). Bald nachher am 10. Aug. 1782 lesen wir diese Worte
an Frau v. Stein: „Eigentüch bin ich zum Schriftsteller geboren."
So dehnt sich in seinem Kerker der gebundene Künstler.

Am 10. April 1782 wird der bürgerliche Geheimrat geadelt. Wenn
man seine Notizen im Tagebuch vom 6. Sept. 1779 und sein Schrei-
ben an Charlotte vom 7. Sept. 1779, als er „den Geheimden-raths
Titel" erhielt, vergleicht mit dem, was er ihr jetzt unter dem 4.
Juni 1782 über seine Nobilitierung meldet, dann sieht man klar,
wie weit Goethe innerlich über die Weimarer Verhältnisse hinaus-
gewachsen
war. 1779 am 6. Sept. heiszt es im Tagebuch: „Kriegt
„ich das Dekret als Geheimderath. Der Wirbel der irrdischen Dinge
„auch allerley anstosende Persönliche Gefühle griffen mich an. Es
„ziemt sich nicht diese Innern Bewegungen aufzuschreiben." Brief-
lich äuszert er 1779 zu Charlotte: „----cs kommt mir
wunderbaar

„vor dasz ich so wie im Traum mit dem 30ten Jahre die höchste
„Ehrenstufe die ein Bürger in Teutschland erreichen kan, betrete."
— 1782 aber nennt er sich so wunderbar gebaut, dasz er sich gar
nichts dabei denken kann. „Wieviel wohler wäre mlr\'s, wenn Ich,
„von dem Streit der politischen Elemente abgesondert, in deiner
„Nähe, meine Liebste, den Wissenschaften und Künsten, wozu ich
„geboren bin, meinen Geist zuwenden könnte." (An Charlotte v.
Stein, den 4. Juni 1782). Nach der Verabschiedung des
Kamnier-
präsidenten von Kalb übernimmt Goethe dessen Stellung, etwa die
eines Finanzministers.

Charlotte hilft Ihm das Haus am Frauenplan einrichten, es kommt
vor, dasz die Herzogin von „der Stein" In Goethes Haus bewirtet
wird.
Von jetzt ab lebt Fritz von Stein mehr und mehr bei Goethe,
seit dem Mai 1783 bis zum Sommer 1786 ganz. Dennoch ist cr der
Einzigen, die ihn tiefinnerlich trägt und hält, nicht gewisz. Im Som-
mer 1782
hören wir von einem Miszverständnis Charlottens, das
sie veranlaszt Goethe ein Billett zu
schreiben, wodurch cr „be-
täubt" ist. „Es war der Tod." „öffne mir dein Herz wieder. Hebe

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Lotte (den 23 Juh 1782).-Jeder Zweifel der Liebsten löst ein
Erdbeben in den Tiefen seines Herzens aus. Sein Glüek ist Tna
tielies. Er lebt in einem anhaltenden Entsagen Nicht sein w if"
der Wille einer höhern Macht geschieht. (An\'^.s^rderse^\'S

Frühjahr 1783 regt sich leise Angst in Goethes Herzen • ich
,we.sz nicht warum, seit einiger Zeit bin ich in Sorgen. Wi^\'wunder
„sam, wenn des Menschen ganzes schweres Glück an so einem
, einzigen Faden hängt." (An Charlotte v. Stein, den 4. Mai 1783)
Am 24. April schreibt er ihr: „Das ganze Jahr sucht mich kein an-
„genehmes Geschäft auf und man wird von Not und Ungeschick
„der Menschen immer hin und wider gezogen." Welche Kleinig-
keiten an Goethe rissen, wird deutlich aus dem Briefe an Fritsch
vom 6. Mai 1783, wo Goethe gegen eine unwohlwollende Auffassung
seines Ausdrucks: „Meine Herrn Cameralen" in ausführlichem
Schreiben ankämpft. Eine gewisse Spannung in dem Verhältnis
Goethes zu diesem älteren Kollegen scheint sich nie verloren zu haben.

Goethe ist in diesen Jahren des Fürsten Faktotum. Prinz Konstan-
tin, der mit einer Pariserin nach England durchgegangen war und
sie dann nach Weimar sandte, verlangte ihre ehrenvolle Aufnahme.
Man brachte sie in Tannroda unter. Goethe erhielt den „angeneh-
men" Auftrag, „sie zu bedeuten." Die „Verworrenheit" des Prinzen
hatte aber einige Knoten, die mit Geduld gelöst werden muszten.
Goethes Diener Seidel geleitete schlieszlich die Französin in ihre
Heimat zurück. Während ihm so die Lösung prinzlicher Herzens-
konflikte obliegt, gesteht er der Geliebten, dasz Werthers Lotte
auf sie vorgespukt habe.

Schwankungen in seinen Beziehungen zu Charlotte stellen sich
immer wieder ein. Schreibt er doch am 9. Sept. 1783: „Lasz uns
„ja nie, auch nur vorübergehend verkennen, was wir einander
„sind." — Von Herder trennen ihn bisweilen „leidige Wolken."
Von der Herzogin Luise löst er sich, wie er Lavater Ende 1783
schreibt, täglich mehr. Anfangs waren Goethes Empfindungen für die
Herzogin nicht frei von Leidenschaft. So beobachten wir in seinen
Freundschafts- und Liebesbeziehungen ein unablässiges Fluktuieren.

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Während er sich einen Sklaven der Pflicht fühlt (An Jacobi,
den 3. März 1784), befreit er den Geist nicht nur durch seine Versuche
auf dem Gebiete der Kunst, sondern immer mehr durch Streifzüge
in die Domänen der Wissenschaft. Die Botanik hat schon längst
seine Liebe, nun treibt er mit Loder in Jena vergleichende Anatomie
und freut sich sehr, das os intermaxillare am Menschen zu entdecken.
Er tut aber recht geheim damit, denn er scheint sich vor der Ver-
öffentlichung der Schiuszfolgerungen aus seiner Entdeckung zu
scheuen.

So lebt er in kleinem Kreis oder ganz für sich mit den Dingen,
die ihm „alle Eingeweide bewegen." Chariottens Ring, den er in
Gotha ansteckt, musz er in Eisenach vor dem weimarischen Hof.
der dahin kommt, verbergen. Eisenach ist die Stadt, wo Viktoria
Streiber wohnt, von der das Gerücht vor Jahren sagte, er sei mit
ihr verlobt. Er bittet Charlotte nachträglich zu erlauben, dasz er
der Viktoria freundlich sei, „da Viktorchen nicht koquett ist und
„doch artig, unterhaltend und nicht zärtlich." (An Frau v. Stein,
den 24. Juni 1784).

Von demselben Tage liegt uns sein Geständnis an den Musiker

Kayser vor: ...... ich finde Ursache, Sie zu beneiden, dasz Sie

„das Land (= Italien, de B.) betreten und durchwandern, das ich
„wie ein sündiger Prophete nur in dämmernder Ferne vor mir
„liegen sehe."

Am 28. Juni 1784 schreibt er Charlotte: „Auf einer Seite bin ich
„gewaffnet und gestählt, auf der andern wie ein rohes Ei, weil ich
„da versäumt habe, mich zu hämischen, wo du mir Schild und
„Schirm bist. Wie freue ich mich, dir ganz anzugehören." Wenn
wir gut zu hören, macht uns das Wort „versäumt" stutzig. Dasz
er sich mit allen seinen Schwächen an sie anlehnt, ist also ein Ver-
säumnis! Das heiszt: er wünscht sich also ganz selbst helfen zu
können. Er verrät durch den feinen Kanal dieses einen
Wortes
seine Absicht, sich vollständig zu hämischen, nicht teilweise.

Noch ist es so weit nicht. Ist er auf Reisen und bleiben ihre Briefe
lange aus, dann ist ihm, als beginne die Luft ihm zu fehlen. „C\'est
comme si l\'air commencoit a me manquer." (Brunswic ce 21. d
\'Août

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1Auf dieser Reise gesteht er ihr, dasz er schon so ferne, so weit
d\'e Welt nur offen liegt, gegangen wäre, hätten ihn nicht über-
niachtige Sterne bezwungen, die sein Geschick an ihres „angehangen."
Nur am Faden ihrer Liebe hängt sein Bleiben in Weimar. Und
nimmt sich Folgendes nicht schon wie eine Art edler Rhetorik der
Liebesleidenschaft aus, wo es heiszt: „.... le desir d\'etre avec
\'»toi, le besoin de te communiquer toutes mes idees existe encore
vdans mon coeur avec la meme vivacité."? (ce 19. du Sept. 1784).

Sommer 1784 fängt Goethe seine „Geheimnisse" an, das Gedicht,
wonn er unter tausend Formen über seine Liebe für Charlotte
sprechen wollte, das Gedicht, in dem wir Spuren einer poetischen
neorie fanden, laut welcher übersinnliche und sinnliche Liebe
verschiedene, aber gleichwertige Strahlen desselben göttlichen
Lichtes seien. Vgl. oben die nrn. 48, 49, 50 und 51. Speziell sei noch
einmal hingewiesen auf die beiden unter nr. 51 („Warnung." „Wecke
aen Amor nicht auf —") angeführten Briefstellen, resp. wahrschein-
\'•cji aus dem Mai und aus dem Nov. 1784. Es handelt sich auf Goethes
^ite nicht um „platonische Liebe" allein, sondern in den erwähnten
Briefzitaten und in dem Gedichte „Warnung" (nr. 51) um sinnliche.

Sinnlichwerden Goethes haben wir auch schon aus den Gedich-
w" "^^^\'^^gedanken" (nr. 30) und „Der Becher" (nr. 32) erfahren.
Wir wissen aus dem später anzuführenden Brief aus Italien vom
L Febr. 1787, dasz Goethe den vollen Besitz Charlottens begehrt
„Ach, liehe Lotte, du weiszt nicht, welche Gewalt ich mir
"«ngethan habe und anthue, und dasz der Gedanke, dicht nicht
"Zu besitzen, mich doch im Grunde, ich mag\'s nehmen und stellen
..und legen, wie ich will, aufreil^t und aufzehrt."

Goethe wurde nicht sinnlich nach der italienischen Reise, er war
^s schon vor der Zeit. Vgl. dagegen Karoline Herder an ihren Mann,
^en 15. Aug. 1788. „Die Stein meint: er sei sinnlich geworden."
vgl. auch: Charl. v. Stein an Charlotte v. Schiller, den 27. Juli
^795: „Bei Gelegenheit dieser Elegien (= Römische Elegien, de B.)
..sagte Herder der Herzogin (= Luise, de B.) Goethe sei in Italien
\'.sehr sinnlich geworden, ihn aber habe es daselbst angeekelt."

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Und Charlotte von Stein war eine spirituell-sinnliche Natur,
deren eheliche Erfahrungen — wie mir scheint — derart waren,
dasz sie nach weiteren sexuellen Genüssen nicht verlangte. Goethes
Trieb zur Wissenschaft, sowie seine Neigungen in der Liebe haben
eine gleiche Tendenz: er wird immer mehr aus der „Wahrheit der
fünf Sinne." Er will auch das volle Sinnenleben des Mannes kennen
lernen. Die ältere Frau, die nach langjährigen ehelichen Erfahrungen
sich den kritischen Frauenjahren nähernde Mutter dreier halb-
wüchsigen Söhne kann und mag dem vollkräftigen Manne das nicht
gewähren, was er ersehnt. Werden sie sich das nicht klipp und klar
gestanden haben, so wird es unausgesprochen zwischen ihnen ge-
schwebt haben. (Vgl. J. A. Bd. 28 S. 148 Z. 33 f.)

In diesem Winter liest Goethe mit Frau v. Stein Spinoza lateinisch.
Der Herzog reist im Interesse des Fürstenbundes, dessen Gründung
er, gegen Goethes Ansicht, leidenschaftlich förderte. An Charlotte
schreibt Goethe den 19. Nov. 1784 darüber: „Möge diese Reise
„zu Berichtigung seines Wesens beitragen." Immer stärker zeigt
es sich, dasz bedeutende Meinungsverschiedenheiten Karl August
und Goethe innerlich trennen, wenn sie auch äuszerllch bis zum
Tode vereinigt bleiben. Offen legt der Diener seinem Herrn vor,
dasz auch der Fürst des Landes nicht das Recht habe, sich wilde
Schweine ohne Einfriedigung zu halten. Mag Goethe Aristokrat
geworden sein, hier steht er auf selten der niedern Stände. Wir
sehen ihn zwischen dem seinem Fürsten gegenüber schweigenden
Volke und dem Landesherrn, der sich wegen der wühlenden Bewoh-
ner des Ettersbergs kaum Sorgen gemacht haben wird. Zwar hofft
sich Goethe auch die Vorwürfe der Bevölkerung vom Halse zu
schaffen, denn „alle vereinigen sich darinne, dasz die Schuld an
„denen liege, die statt Vorstellungen dagegen zu machen, Sic durch
„gefälliges Vorspiegeln verhinderten, das Unheil, das dadurch an-
gerichtet werde, einzusehn." (An Karl August, den 26. Dez. 1784). ist
der wichtige Brief nicht ohne Humor geschrieben, einen anderen Ton
läszt er im nächsten Frühling hören, wo er von einem kleinen Brief
an Herder sarkastisch sagt: „Geben vom Rade Ixions d. 20. Febr. 1785."

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Im August 1785 hebt Karl August, mit auf Goethes Veranlassung,
aus Sparsamkeitsgründen die alte Ordnung auf, dasz die Hofbeamten
an der Hoftafel speisen. Von da an nimmt also der Oberstallmeister
V. Stein die iVlahlzeiten zumeist im eigenen Hause ein. Obwohl
Goethe und Stein gute Freunde waren, stand nun der Eheherr
doch häufiger zwischen der Dame des Hauses und ihrem Freunde.

Goethes wissenschaftliches Interesse erweitert sich immer mehr.
Durch Mineralogie, Geologie, Osteologie und Botanik sucht er sich
neben fragmentarischen poetischen Arbeiten über das viele Widrige
m seinem Zustande hinwegzusetzen, allein es wird ein Flicken am
Bettlermantel, der ihm von den Schultern fallen will.

\'n diesem Jahre erhält Goethe eine Besoldungszulage und eine
Sunmie auf die Karlsbader Reise. Auf dem Wege dorthin von Zahn-
schmerzen gequält treibt er Hamlet-Studien für „Wilhelm Meister."
Er erlaubt sich kein Murren: „Wird die Sonne doch schön leuchten,
„wenn wir im Grabe liegen." Auch Frau v. Stein ist mit in Karlsbad.
Das Zusammensein führt aber zu einer Verstimmung, welche wahr-
scheinlich durch Chariottens Eifersucht verursacht wurde, weil
Goethe nicht ausschlieszlich ihr den Hof machte. Darauf mag sich
Goethes Äuszerung dem Herzog gegenüber beziehen: „Auch ich
»»habe von den Leiden des jungen Werthers manche Leiden und
.»Freuden unter dieser Zeit gehabt." (An Karl August, Karlsbad,
den 15. Aug. 1785). Goethes „Miselei" mit der Gräfin Brühl dürfte
Charlotte in Karlsbad verletzt haben. (Vgl. J. A. Bd. 3 S. 98 f.
"r. 77, 78, 79).

\'n Weimar will sich die mündliche Unterhaltung mit Charlotte
"icht recht bilden, sie verreist nach Kochberg und Fritz von Stein
besucht Goethes Mutter in Frankfurt.

Unterdessen schlieszt sich Karl August dem Fürstenbunde an.
Goethe hat seinen Widerstand gegen die Gründung desselben als
erfolglos aufgegeben. Der Nachkomme weimarischer und braun-
schweigischer Helden sehnt sich nach „Kriegsruhm" und wird im
Sept. 1787, als Goethe in Italien weilt, zum preuszischen Generalmajor,
bald auch zum Kommandeur der Kürassiere in Aschersleben ernannt.
Sodann jagt der Herzog wieder, womit Goethe bekanntlich auch

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in vorigen Jahren nicht ganz einverstanden war. „Er schafft die
„Hofleute ab und die Hunde an, es ist immer dasselbe, viel Lärm,
„um einen Hasen tot zu jagen." (An Charlotte v. Stein, den 5. Sept.
1785). In diesen Tagen fesselte Goethe die neue Schrift des fran-
zösischen Finanzministers Necker „De l\'administration des finances
de la France."

Goethe entschlieszt sich eine autorisierte Ausgabe seiner gedruckten
und ungedruckten Schriften zu veranstalten. Daran hat er bis weit
über die italienische Reise hinaus gearbeitet, die er teilweise aus
dem Honorar für seine Werke bezahlte. Zwar heiszt es am 30. Dez.
1785 zu Knebel: „Was mit mir das nächste Jahr werden wird,
„weisz ich noch nicht. Groszen und weiten Aussichten mag ich den
„Blick nicht zuwenden." Die thüringer Verhältnisse lasten aber
so sehr auf ihm, dasz er Charlotte von Stein den 26. Januar 1786
schreibt: „Meine arme angefangene Operette dauert mich, wie man
„ein Kind bedauern kann, das von einem Negersweib in der Sklaverei
„geboren werden soll. Unter diesem ehrnen Himmel! den ich sonst
„nicht schelte, denn es musz ja keine Operetten geben. Hätte ich
„nur vor zwanzig Jahren gewuszt, was ich weisz. Ich hätte mir
„wenigstens das Italienische so zugeeignet, dasz ich fürs lyrische
„Theater hätte arbeiten können, und ich hätte es gezwungen. Der
„gute Kayser dauert mich nur, dasz er seine Musik an diese barba-
„rische Sprache verschwendet."

Zu seinen gewöhnlichen Geschäften gesellt sich so manche Lieb-
haberei, dasz er oft nicht weisz wo hinaus. Auch die Mikroskopie
tritt in seinen Interessenkreis. Gott hat ihn mit der Physik gesegnet,
damit es ihm im Anschauen Seiner Werke wohl werde, deren er
ihm nur wenige zu eigen hat geben wollen. Jacobi sagt, man könne
an Gott nur glauben, Goethe antwortet: „Ich halte viel aufs
Schauen."
Spinoza macht ihm durch seine Worte über dic Scientia intuitiva
Mut, sein ganzes Leben der Betrachtung der Dinge zu widmen,
die er riechen und von deren esscntia formali er sich eine adäquate
Idee zu bilden hoffen kann, ohne sich im mindesten darum zu be-
kümmern, wie weit er kommen werde und was ihm zugeschnitten

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sei. Er lebt allerdings in einer Einsamkeit und Abgeschiedenheit
von aller Welt, die ihn zuletzt „stumm wie einen Fisch macht."

In diesem Frühjahr versucht Goethe sich sogar der Mathematik
zu nähern. Das Handwerk liegt jedoch ganz auszer seiner Sphäre,
es bleibt für ihn historische Kenntnis.

Zeichen, dasz er sich mit einer Reise nach Süden trägt, werden
sichtbar. An Kayser schreibt er den 5. Mai 1786: „Hätt ich die
..italienische Sprache in meiner Gewalt wie die unglückliche Teut-
..sche, ich lüde Sic gleich zu einer Reise jenseits der Alpen ein, und
„wir wollten gewisz Glück machen." Wie im vorigen Jahre plant
Goethe auch 1786 eine Reise nach Karlsbad. Charlotte reist voran.
Goethe bliebt zurück, um die Niederkunft der Herzogin abzuwarten.
Auch weilte die Gräfin Brühl in Weimar, was vielleicht zu seinem
Entschlusz erst später nach Karlsbad abzureisen, mitwirkte.

Aus dem Mai des Jahres 1786 wissen wir, dasz es mit vielem
nicht recht mehr fort will. Es hat sich das alte Verhältnis zu Char-
lotte sehr getrübt, sonst hätten wir die merkwürdigen Worte Goethes
an Frau von Stein vom 25. Juni 1786 nicht: „Behalte mich nur
..lieb und lasz uns ein Gut, das wir nie wiederfinden werden, wenig-
stens bewahren, wenn auch Augenblicke sind, wo wir dessen nicht
..genieszcn können." Mit Lavater steht er auf so gespanntem Fusz,
dasz er Ihn, als der Prophet nach Weimar kommt, wo eben dem
lierzogllchen Paare ein Töchterlein geboren ist, nur gezwungen
sieht. Goethe schreibt der Frau v. Stein: „Ich habe auch unter seine
..Existenz einen groszen Strich gcmacht und weisz nun, was mir
..per Saldo von ihm übrig bleibt." (An Charlotte v. Stein, den 21.
Juli 1786). Vor wenigen Tagen schrieb cr Charlotte mit Rücksicht

auf Lavater: _____ aus Verbindungen, die nicht bis in\'s innerste

..der Existenz gehn, kann nichts kluges werden. So wie ich dein
..bin. Ist\'s die alleinige Freude, ienianden anzugehören; wenn ein
..Verhältnisz nicht aufgehoben werden kann." (An Charlotte v.
Stein, den 12. Juli 1786).

Goethe bittet Karl August um Urlaub. Auch dem Herzog bleibt
das Ziel der Reise unbekannt. Erstens geht er nach Karlsbad, wo

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er mit einem Teile der Weimarer Gesellschaft zusammentrifft. Am
14. August geleitet er die Freundin bis Schneeberg zurück. Am 23.
heiszt es: „Auf alle Fälle musz ich noch eine Woche bleiben, dann
„wird aber auch alles so sanfte endigen und die Früchte reif abfallen.
„Und dann werde ich in der freyen Welt mit dir leben und in glück-
licher Einsamkeit, ohne Namen und Stand, der Erde näher kommen
„aus der wir genommen sind." — Am. 1. Sept. 1786 folgt ein Schrei-
ben aus Karlsbad, das wichtiger ist, weil es deutlicher in das Dunkel

dieses Verhältnisses hinein leuchtet: -----das wiederhohl ich dir

„aber, dasz ich dich herzlich liebe, dasz unsre letzte Fahrt nach
„Schneeberg mich recht glücklich gemacht hat, und dasz deine
„Versicherung: dasz dir wieder Freude zu meiner Liebe aufgeht,
„mir ganz allein Freude ins Leben bringen kann. Ich habe bisher
„im Stillen gar mancherlei getragen, und nichts so sehnlich ge-
„wünscht, als dasz unser Verhältnis sich so herstellen möge, dasz
„keine Gewalt ihm etwas anhaben könne. Sonst mag ich nicht in
„deiner Nähe wohnen und ich will lieber in der Einsamkeit der
„Welt bleiben, in die ich jetzt hinausgehe."

Dem Herzog begründet er in einem recht ausführlichen Briefe
seine Bitte um unbestimmten Urlaub. Eine Reihe von Gründen
führt er an, betont u. a., dasz er „sterben" dürfte,, und es würde
„keinen Ruck tun." So befreit sich Goethe aus Amtes- und Liebes-
banden. Kammerpräsidium, Kriegs-, Wegebau-, und Bergwerks-
kommission, die Mitgliedschaft im Geheimen Conseil eine Reihe
von Geschäften, die ohne dekretierte Stellung Goethes Tätigkeit
in Anspruch nahmen, von einer auszerordentlichen Liebe nicht
mehr aufgewogen, wurden dem Dichter zu schwer, denn dasz schliesz-
lich das Verhältnis zur Einzigen gründlich erschüttert wurde, dürfte
den Ausschlag gegeben haben. Die fluchtartige Reise nach Süden
war Folge dieser Erschütterung. Wie sehr er gelitten hat,
erhellt
aus der denkwürdigen Stelle in seinem Briefe an Charlotte v. Stein
aus Rom, den 21. Febr. 1787: „An dir häng ich mit allen
Fasern
„meines Wesens. Es ist entsetzlich, was mich oft Erinnerungen
„zerreiszen. Ach, liebe Lotte, du weiszt nicht, welche Gewalt ich
„mir angethan habe, und anthue, und dasz der Gedanke dich
nicht

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„zu besitzen, mich doch im Grunde, ich mags nehmen und stellen
„und legen, wie ich will, aufreibt und aufzehrt. Ich mag meiner Liebe
„zu dir Formen geben, welche ich will, immer immer — Verzeih
„mir, dasz ich dir wieder einmal sage, was so lange stockt und
„verstummt. Wenn ich dir meine Gesinnungen, meine Gedanken
..der Tage, der einsamsten Stunden sagen könnte! —"

Auch die brennende Sehnsucht, Italiens heilige Kunstschätze mit
eignen Augen sehen, mit eignen Händen zu betasten, trieb Goethe
mit geheimnisvoller Gewalt nach Süden. Er trat die Reise gleich-
sam unter den Auspizien des Johannes Secundus an, in dessen
Werken sich der Gegensatz zwischen dem düstern Norden und
dem heitern Italien, der bei Goethe so häufig auftaucht, schon
vorgebildet findet. (Vgl. Georg Ellinger, Goethe und Johannes
Secundus, Goethe Jahrbuch XIII S. 209). „Die letzten Jahre ward
„es eine Art von Krankheit, von der mich nur der Anblick und
„die Gegenwart heilen konnte. Jetzt darf ich es gestehen: zuletzt
..dürft ich kein lateinisch Buch mehr ansehn, keine Zeichnung
..einer italienischen Gegend. Die Begierde dieses Land zu sehn, war
„überreif. (An Karl August, Rom, den 3. Nov. 1786).

Die Begierde war überreif. Gegen heimatliche Einflüsse sperrte
er sich möglichst vollkommen ab. Den nächsten Freunden blieb
das Ziel der Reise verborgen. Es konnte ihm niemand dreinsprechen.
Sogar befahl er seinem Diener Seidel, dem allein informierten Ver-
mittler mit seinen Weimarer Freunden, ihm zunächst nichts nach-
zuschicken. „Denn ich will Rom ohne Erwartung nordischer Nach-
„richten betreten." (An Seidel, den 18. Sept. 1780).

Frau von Stein und den Herzog hat er durch seine Handlungs-
weise gekränkt. Herders scheinen sich leichter drein gefunden zu
liaben, war doch öfters das Verhältnis zu ihnen weniger innig.
Frau von Stein fordert ihre Briefe zurück. Goethe bittet sie flehcnt-
iich die Kasten auf dem Archive, welche seine Handschriften, Tage-
bücher und Briefe enthalten, die er vor der Abreise deponierte,
nicht eher zu öffnen, als bis sie Nachricht von seinem Tode hat.
„So lang ich lebe, lasz mir die Hoffnung, sie in deiner Gegenwart
„zu eröffnen." (An Frau v. Stein, den 8. Dez. 1786.) Charlotte

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nimmt ihren Sohn Fritz, den Goethe bei seinem Diener zurück-
gelassen hatte, wieder zu sich.

Seit dem Tode seiner Schwester hat ihn nichts so sehr betrübt
als die Schmerzen, die er ihr durch sein Scheiden und Schweigen
verursacht. „Vor allen Dingen soll ein ganz reines Vertrauen, eine
„immer gleiche Offenheit mich aufs neue mit dir verbinden." (An
Frau
V. Stein, Rom, den 6. Januar. 1787). Er gesteht ihr in demsel-
ben Briefe, dasz seine erste Liebschaft in Rom ein kolossaler Juno-
kopf gewesen sei. Über andere Liebschaften in Italien erfährt sie
nichts. Wohl vollendet Goethe während des zweiten römischen
Aufenthalts im Sommer 1787 seinen „Egmont." Herder besorgte
in Deutschland den Druck, sodasz dieses Werk 1788 bei Göschen
erschien. An Karl August schreibt er darüber am 17. Nov. 1787:
„Ich habe grosze Freude an der Art, wie ihn die Freunde aufge-
„nommen haben. Auch Ihnen und Ihresgleichen darf er sich, hoffe
„ich, präsentieren, denn ich möchte nun nichts mehr schreiben,
„was nicht Menschen, die ein groszes und bewegtes Leben führen
„und geführt haben, nicht auch lesen dürften und möchten." Karl
Augusts Liebesleben war bekanntlich nicht unbewegt. Der Frau
V. Stein werden zweifelsohne die Klärchen und deren Mutter auf-
gefallen sein, von denen sich Iphigenie, Prinzessin Leonore und
Leonore Sanvitale bedeutend abheben. Dasz Goethe recht gern
nach dem Leben schilderte, war ihr bekannt. Wie sehr sich Goethe
von Italien aus darum schriftlich bemühte, eine richtige Versöhnung
mit Frau von Stein fand nicht statt. Zu diesem negativen Resultat
dürfte auch „Egmont" beigetragen haben.

Besser gelingt es ihm, den Herzog zu versöhnen. Er wird auf
unbestimmte Zeit von seinen Pflichten losgebunden, damit er des
Lebens im Süden, das ihm eine zweite Jugend ist, eine Wieder-
geburt, die ihn von innen heraus umarbeitet, geniesze. Sogar
unter-
nimmt Goethe es, sein Dienstverhältnis zum Herzog schriftlich neu
zu regeln. „Mein Verhältnis zu den
Geschäften ist aus meinem
„persönlichen zu Ihnen entstanden, lassen Sic nun ein neu Ver-
„hältnis zu Ihnen, nach so manchen Jahren, aus dem bisherigen
„Geschäfts-Verhältnis entstehen. Ich bin zu allem und jeden bereit,

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,.wo und wie Sie mich brauchen wollen----Ich lege mein ganzes

„Schicksal zutraulich in Ihre Hände." (An Karl August, Neapel,
den 27. Mai 1787).

Ende 1786 heiszt es zu Charlotte: „Nach Sizilien geh ich nicht;
„ich bin nicht vorbereitet genug, habe weder Geld noch Zeit genug.
..Den April und Mai bring ich auf meiner Rückreise bis an die Alpen
..zu. Den Juni und Juli durch die Schweiz, den Rhein hin, bis
..Frankfurt, und im August seh ich dich wieder."

Den 27. Mai 1787 schreibt er dem Herzog: „Anfangs September
..bin ich hoffentlich in Frankfurt, kann ich alsdann einige Zeit bei
„meiner Mutter bleiben, um meine vier letzten Bände in Ordnung
..zu bringen, meine
Reisebeobachtungen besser auszuführen, viel-
..leicht an „Wilhelm" und einigen neueren Ideen zu arbeiten; so
„werde ich mich sehr erleichtert finden, denn einmal müssen diese
..Arbeiten doch hinter mich."

Den 11. Aug. 1787 bittet er Karl August, ihn noch bis Ostern
1788 in Italien zu lassen.

So werden die nicht ganz oder kaum versöhnten Freunde all-
mählich darauf vorbereitet, dasz cr bis Sommer 1788 fortbleiben wird.

Er arbeitet in Italien sehr fleiszig. Natur- und Kunstbetrach-
tungen gibt cr sich mit groszcr Ausdauer hin. Er denkt die Lehre
von der Metamorphose der Pflanzen durch. Er redigiert an seinen
Schriften. Die Singspiele erhalten ihre definitive Gestalt. „Egmont",
..Iphigenie", „Tasso", „Faust" werden gefördert oder vollendet.
Der epischc Jugcndplan vom „Ewigen Juden" wird wieder aufge-
nommen. „Iphigenie In Delphi" und „Nausikaa" werden neu konzi-
piert. (Vgl. Ludwig Geiger, Einleitung zur italienischen Reise, J. A.
Bd. 26 S. V—LV). Er treibt die Kunst, „die eine so ernsthafte Sache
ist," immer ernsthafter. Er fühlt sich Künstler. Inkognito lebt cr
als Jean Philippe Möller vorwiegend in deutschen Künstlerkreisen.
Den religiösen und moralischen Auffassungen seiner nordischen
Heimat entfremdet er sich entschieden. Vor wenigen Jahren dichtcte
er an einem religiösen Epos und widmete die „Geheimnisse" seiner
Freundin. Nun schreibt er ihr am 8/9. Juni 1787 anläszlich Herders

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„Ideen," dasz er zwar dafür halte, die Humanität werde endlich
siegen, nur fürchte er, die Welt werde zu gleicher Zeit ein groszes
Hospital und „einer des andern humaner Krankenwärter werden."
So berührt sich Goethe mit Nietzsche.

In demselben Briefe lesen wir: „Übrigens habe ich glückliche
„Menschen kennen lernen, die es nur sind, weil sie ganz sind.
„Auch der Geringste, wenn er ganz ist, kann glücklich und in seiner
„Art vollkommen sein, das will und musz ich nun auch erlangen,
„und ich kann\'s, wenigstens weisz ich, wo es liegt und wie es steht,
„ich habe mich auf dieser Reise unsägHch kennen lernen. Ich bin
„mir selbst wiedergegeben und nur um so mehr dein. Wie das Leben
„der letzten Jahre wollt ich mir eher den Tod gewünscht haben,
„und selbst in der Entfernung bin ich dir mehr, als ich dir damals
„war." Das Leben der letzten Jahre, das er hier so bestimmt ablehnt,
das er weiter fortzuführen nicht gedenkt, umgreift auch sein Ver-
hältnis zu Frau von Stein. Klar formuliert legt er es uns hier vor:
dieses Leben war nicht glücklich und in seiner Art nicht vollkommen,
denn es war nicht „ganz." Seine Flucht nach Italien, sein fast zwei-
jähriger Aufenthalt im Süden, seine Lebensführung in Weimar
nach seiner Rückkehr sind Versuche „ganz" zu sein, sich dem
ersehnten Ideal des Glückes und der Vollkonimenheit-in
-seiner-Art
anzunähern.

Als er mit Tischbein, Moritz, Angelika Kaufmann und anderen
im Spätsommer 1787 als Jenkins Gast in Castel Gandolfo weilt,
lernt er Maddalena Riggi, die „schöne Mailänderin" kennen, was
Anlasz gab zu einem der wenigen lyrischen Gedichte, welche die
italienische Reise zeitigte: „Amor als Landschaftsmaler." In diesem
fremden Lande spürt er nur zu sehr, dasz er nicht jung mehr ist.
Alle Verbindungen knüpfen sich langsamer und loser. „Meine beste
Zeit" — so wendet er sich am 23. Okt. 1787 verbindlich an Karl
August — „meine beste Zeit habe ich mit Ihnen, mit den Ihrigen
„gelebt." Ein paar Monate später heiszt es zu Karl August, dem
er öfters Menschliches beichtet: „Mich hat der süsze kleine Gott
„in einen bösen Weltwinkel relegieret.... Was das Herz betrifft;
„so gehört es gar nicht in die Terminologie der hiesigen Liebes-

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kanzlei." (An Karl August, den 29. Dez. 1787). Und etwas später:
„Das Herz wird in einem fremden Lande, merk ich, leicht kalt
„und frech, weil Liebe und Zutrauen selten angewandt ist." (An
Karl August, den 25. Januar 1788). Als er schon in Mailand auf
der Rückreise ist, nennt er sich „ganz entsetzlich verwildert" und
fügt hinzu: „Ich habe zwar in meinem ganzen Leben nicht viel
„getaugt." Gegen Ende des lustigen Briefes bekennt er, er wolle
ein „Madonnenbild" malen, das noch bei seinen Lebzeiten in Rom
Wunder tun solle. (An Karl August, den 23. Mai 1788). Vielleicht,
werden hier zuerst die Erotica Romana angedeutet, die späteren
„Römischen Elegien." (Vgl. dagegen Ludwig Geiger über Goethes
Verhältnis zu „Faustina". J. A. Bd. 26 S. XLIV f.)

Der Herzog wünscht, Goethe möge die Herzogin-Mutter in Italien
erwarten. Aber Goethe weisz es so zu lenken, dasz er nach Weimar
zurückkehrt, ohne dem Wunsche seines Herrn Folge geleistet zu
haben.

So kehrte denn Goethe aus Italien zurück mit einem unverlier-
baren Schatze innerer Erfahrungen und mit groszen Anforderungen
an sich selbst, was betrifft seine Kunst. In der fast zweijährigen
Einsamkeit hatte er sich als Menschen und Künstler wiederentdeckt.
Die Hauptabsicht seiner Reise war: „Mich von den physisch-mora-
„lischen Übeln zu heilen, die mich in Deutschland quälten und
..mich zuletzt unbrauchbar machten; sodann den heiszen Durst
..nach wahrer Kunst zu stillen. Das erste ist mir ziemlich, das letzte
„ganz geglückt." (An Karl August, Rom, den 25. Januar 1788).

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FÜNFTER ABSCHNITT.

Christiane Vulpius spätere von Goethe in Goethes Lyrik. Verzeichnis
samt Besprechung der lyrischen Gedichte Goethes, welche sich
auf Christiane Vulpius spätere von Goethe beziehen.

Vorbemerkung.

Am 1. Juni 1765 erblickte Johanna Christiana Sophia Vulpius
als die Tochter des Amts-Copisten Johann Friedrich Vulpius und
der Christiane Margarethe geb. Riehl zu Weimar das Licht der Welt.

Christiane Vulpius entstammt einem verarmten Juristenhause.
Ihr Vater und Groszvater väteriicherseits waren Juristen. Ihr Grosz-
vater mütteriicherseits ein Manufaktur-Verieger. Als Johann Frie-
drich Vulpius, der Weimarer Amts-Copist, der zweimal verheiratet
war, 1786 starb, blieb seine zahlreiche Familie in Not zurück. Die
Weimarer Tradition, welche nicht einwandfrei sein dürfte, erzählt,
er sei an der Trunksucht zugrunde gegangen. Christiane arbeitete eine
^itlang in der kleinen Bertuchschen Blumenfabrik, und versuchte
sich wohl in der Weise eine Nebeneinnahme zu verschaffen. In
Bertuchs Blumenfabrik soll der Überiieferung gemäsz vor der ita-
lienischen Reise das erste Zusammentreffen Goethes mit Christiane
erfolgt sein. Als Goethe mit einem jungen Offizier in die Fabrik
gmg, eriaubte sich dieser einen unziemlichen Witz gegen Christiane,
worauf sie den frechen Witzbold scharf abfertigte. Dieses Erlebnis
soll im „Neuen Pausias und sein Blumenmädchen" nachklingen.
Am 26. Januar 1786 erwähnt Goethe in seinem Briefe an Char-
\\u\' Vulpius: „Unglücklicher

„Weise habe ich den Pariser Theater Almanac auch hier gefunden,
„von dem der deutsche eine deutsche Nachahmung ist. Du kannst
„dir das Elend dencken, Seckendorfs Prolog des Improvisatore,

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„Vulpius Lob Gedichte auf HE. Kurz und Mad. Ackerm(ann),
„ein Prolog von Kotzebue auf dem Jen(aischen) Bubentheater
„machen die Gedichte aus. Mit den Exkrementen der Weimarischen
„Armuth würzt HE. Reich(ard) seine oder vielmehr die deutsche
„Theater Miserie."

Während der italienischen Reise und nach seiner Rückkehr
gedachte Goethe wohl nicht der Familie Vulpius. Erst ein Bitt-
gesuch, das Christiane am 12. Juli 1788 dem Herrn Gehelmrat im
Park überreichte, sollte ihn wieder an den notleidenden Schrift-
steller, der das Haupt der Familie Vulpius war, gemahnen. Der Fall-
Vulpius scheint mir anfangs dem Fall-Plessing, -Krafft, -Peter Im
Baumgarten ähnlich. Man geht Goethe um Hilfe an. Er sagt zu-
Dieses Bittgesuch nun führte die Bekanntschaft der Christiane Vul-
Pius mit Goethe herbei.

l. J. A. Bd. 2 S. 73 f. (W. A. Bd. 2, S. 98).

„Morgcnklagen."

„0 du loses, leidigliebes Mädchen."

Anmerkung: Im Briefwechsel zwischen Goethe und F. H.
Jacobi, hrsg. von Max Jacobi, Leipzig, Weldmann\'schc Buchhand-
lung, 1846, kommt „Morgen Klagen" als Beilage des 51. vom 31.
Octbr. 88 datierten Briefes vor. Goethe nennt das Gedicht in sei-
nem Schreiben „ein Erotlkon." Am 15. Februar 1789 antwortet
Jacobi: „Deine Morgenklagen sind trefflich". Vgl. Gräf „Goethe
über seine Dichtungen, Lyrik I, S. 117 Z. 23 f." — Wie Ellingcr
im Goethe-Jahrbuch XIII S. 209 gezeigt hat, sind In
unserem Ge-
dichte von Goethe Motive des Johannes Secundus gestaltet worden.
Mit Max Morris
„Goethe-Studien 2 Bd. S. 76 f." nehme ich an,
dasz sich dieses feinlüsternc Gedieht auf Christiane Vulpius bezieht.
— Gräf stellt chronologisch den „Bcsuch" (nr. 2 dieses Abschnitts)
vor „Morgenklagen". Ich möchte mit v. d. Hellen die zeitliche
Folge umgekehrt nehmen. Mages nun auch, wie v. d. Hellen bemerkt,
aus der Zelt der Römischen Elegien sein, so glaube ich nicht mit
ihm, dasz es ganz aus deren Stimmung herrührt. Vgl. J. A. Bd.

-ocr page 134-

no

2 S. 296, — Die poetische Behandlung sinnlicher Gefühle ist zwar
lieblich spielend, steht aber auf spieszbürgerlicher Moralstufe, wagt
es nicht sich selbstherrlich frei zu erheben:

„Angelehnet liesz ich meine Türe:

„Hatte wohl die Angeln erst geprüfet

„Und mich recht gefreut, dasz sie nicht knarrten."

Goethe verheimlicht seine Liebesangelegenheit, ist nicht erhaben
übersittlich, wie gerade er es sein kann, zwar ist er auch nicht zy-
nisch wie Mephistopheles. Er schildert uns das Mädchen als ein
„loses, leidigliebes." In erster Linie glaubt er, an ein vexierendes
Liebesspiel mit seinen Empfindungen denken zu müssen. Es dünkt
ihn, er könne etwas „verschuldet" haben, dasz sie ihn so auf die
Folter spannt, dasz sie ihr „gegeben Wort" gebrochen. Dennoch
braucht eine Neckerei des Mädchens der Grund noch nicht ge-
wesen zu sein, dasz sie ausblieb. Wer weisz worauf die Heizsersehnte
Rücksicht nehmen muszte? Weimar war klein und klatschsüchtig.

Die nicht gelöste Spannung des sich sehnenden Mannes bleibt
bis an den Schlusz des Gedichtes gewahrt, wird sogar noch zwei
Mal unterstrichen:

„Und nun bist du weder in der Laube"
„Noch im hohen Lindengang zu finden."

Das Gedicht ist der poetische Auftakt zu einem überraschend
schnell geschlossenen Bund fürs Leben. Wir sehen in einen Nexus
vielverschlungener Schicksalsfäden des Goetheschcn
Lebens hinein.
Was veranlaszte den jungen Vulpius gerade seine Schwester Chris-
tiane, die frische, eben dreiundzwanzigjährige, als Bittstellerin zu
dem Herrn Geheimrat von Goethe zu senden? Hat Vulpius dabei
mit dem Eindruck gerechnet, den Christiane machen würde? Es
steht fest, dasz Goethe sich bewogen fühlte in dieses
Familienleben
helfend einzugreifen, sei es, weil er es in seiner Stellung als seine
Pflicht betrachtete, sei es aus Herzensgüte, sei es aus Eitelkeit, die
sich neben dem Gefühle helfen zu können, so leicht im
Menschen-
herzen regt, sehr sicher auch des Gefallens wegen, das er an Chris-
tiane, fand. — Vgl. J. A. Bd. 1 S. 223 nr. 88, —

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2. J. A. Bd. 2 S. 75. [W. A. Bd. 2 S. 101].

„Der Besuch"
„Meine Liebste wollt\' ich heut\' beschleichen —"

Anmerkung: E. v. d. Hellen bemerkt J. A. Bd. 2 S. 296:
.»Das Gedicht entstand etwa gleichzeitig mit dem vorigen und
»war wie dieses für die Ausgabe von 1789 bestimmt; aber während
..des Drucks zog G. es zurück (an Göschen, 6. Nov. 1788) und
..publizierte es erst in Schillers Musenalmanach für das Jahr 1796.
..Dort stand 9 „Bette" statt des erst 1806 eingeführten „Sofa":
..hierdurch wird in Frage gestellt, ob die imjahrbuch XV repro-
..duzierte Zeichnung Goethes mit der Situation dieses Gedichtes
..wirklich identisch ist.—" Seit dem Drucke 1806 stehen „Morgen-
•^lagen" und „Der Besuch" in dieser Folge neben einander.

Obgleich die Sinnlichkeit sich in „Morgenklagen" stärker aus-
spricht als in unserem Gedichte, scheint mir der Inhalt des Ge-
dichtes „Der Besuch" ein späteres Stadium des Liebesverhältnisses
auszudrücken, denn der Liebhaber hat den Schlüssel zur Tür der
Liebsten schon in der Tasche, „beschleicht" sie am Tage — fest steht,
dasz es noch nicht „Nacht" ist — es mag also etwa Nachmittag
sein zwischen 3 und 6 Uhr, die gröbste Hausarbeit ist bewältigt,
man hat zu Mittag gegessen und sich, vielleicht etwas besser an-
gezogen, mit dem Strickzeug auf das Sofa gesetzt und ist darüber
eingenickt. Goethe selbst pflegte um 2 Uhr zu essen.

Nur bereitet dieses „Sofa", das früher ein „Bette" war, Schwierig-
keiten, die dennoch vielleicht in sich zusammenfallen. Besteht doch
die Möglichkeit, dasz ein und dasselbe Möbel „Bett" und „Sofa"
\'St, wie das in einfachen Kreisen in Holland mit einem Divan vor-
kommt. Trifft diese Hypothese zu, dann könnten Goethes Zeich-
nung und das Gedicht mit dem neuen Worte „Sofa" einerseits und
das Gedicht mit dem alten Worte „Bett" andrerseits dieselbe
Situation darstellen.

Goethe ersetzt das ursprüngliche Wort durch ein feineres. Eine
Neigung, die er bei Bearbeitungen mehr zeigt. Vgl. J. A. Bd. 25
S. 301:

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„Ich saug\' an meiner Nabelschnur"
„Nun Nahrung aus der Welt etc,"

während es später heiszt, J. A. Bd. 1 S. 50:

„Und frische Nahrung, neues Blut,"
„Saug\' ich aus freier Welt: —"

Vgl. Urfaust 1098, J. A. Bd. 13 S. 245:

„Mein Schoos! Gott! drängt"
„Sich nach ihm hin —"

während wir nun lesen, J. A. Bd. 13, S. 147:

„Mein Busen drängt"
„Sich nach ihm hin," —

Vgl. Goethes Römische Elegien nach der ältesten Reinschrift
hrsg. V. Albert Leitzmann, Bonn 1912: S. 21 Vers 47 f.:

„Sie beyde"

„Müssten gestehen es sey über dem Busen zu ruhn"
„Dieses herrlichen Weibes ein schöner Gedanke —",

während in der Fusznote bemerkt wird: „über dem Busen" aus
„zwischen den Schenkeln."
Vgl. J. A. Bd. 1 S. 163, Römische Elegien XII, 23 f.:

„Und was war das Geheimnis? als dasz Demeter, die grosze,"
„Sich gefällig einmal auch einem Helden bequemt," —

während Leitzmann (s. oben) S. 14 Fusznote zu 24notiert: „einem
Helden bequemt" aus „auf den Rücken gelegt."

Diese Bearbeitungen zeigen dieselbe Tendenz: der Dichter ersetzt
das realistisch Direkte durch das Gewählte und legt so eine
grüszere
Distanz zwischen sich und seinen poetischen Gegenstand.

Goethe scheut sich nicht in diesem Gedichte bestimmte Worte
und die
dadurch symbolisierten Gedanken und Empfindungen bis
zu drei Mal zu variieren, was den totalen Stimmungsgehalt des

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Gedichtes verstärkt. Wie überaus wichtig sind hier die Worte
..leise", „zart", „süsz", die je drei Mal, „sachte", das zwei Mal,
..zierlich", „schön", „still", „freundlich", „herzlich", „hold", „ge-
liebt", die je ein Mal vorkommen! Eben diese Adjectiva und Ad-
verbia bestimmen den milden Charakter dieses Poems. Das prickelnd
erregte Impetuoso der „Morgenklagen" hat sich gelegt, die Stim-
mung sich verinnigt, der Liebende ist viel fester gebunden, obgleich
er so leise auftritt. Es liegt eine entfernte Verwandtschaft mit Faustens
Lage vor, wie er zum ersten Mal In Gretchens Kammer weilt.

3. J. A. Bd. 2 S. 161. [W. A. Bd. 2 S. 271J.

„Frech und froh"
„Liebesqual verschmäht mein Herz, —"
A n m e r k u n g: E. v. d. Hellen bemerkt J. A. Bd. 2 S. 321:
..Die undatierten, I8I5 zuerst gedruckten Verse dürften In der
..nächsten Zeit nach der italienischen Reise entstanden sein." —
Gräf, „Goethe ü. s. Dichtungen, Lyrik II, 2 S. 883" stellt es zweifelnd
in den August 1788. Im Register dess. Bds. fehlt es. — Max Morris
^ülirt es In seinen
Goethe-Studien Bd. 2 S. 76 nicht an. — E. v. d.
Hellen bemerkt a. a. 0. anläszlich des 4. Verses: „Zum Äugeln
..ygl. Bd. 5, S. 31 und die In den Briefen an Christiane so häufigen
..Äugelchcn."" — Ich möchte mit Gräf, der dieses Gedicht In „Goe-
thes Liebesgedichten" S. 123 auf Christiane bezieht, annehmen,
tiasz unser Gedicht aus Goethes Liebe für die junge Vulpius erwuchs.
Vgl. „Mädchen" In 7. — Auch das Wort „Äugeln" scheint mir in
die Christianesphäre zu deuten. Gräf zählt In „Goethes Briefwechsel
mit seiner Frau" (Bd. 2 S. 460) 35 Belege für dieses der Goetheschen
Familien- und Ehespraclie angehörige Wort auf. — Obgleich
V. d. Hellen auf J. A. Bd. 5 S. 31 aufmerksam macht:

„Geheimes"
„Über meines Liebchens Äugeln"
„Stehn verwundert alle Leute; —"

stellt er es doch auch in die nächste Zeit nach der italienischen
Reise (s. oben).

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Dieses kleine, eine zynisch verzweifelte Bravour zum Ausdruck
bringende Gedicht stellt zwei Arten der Liebe einander gegenüber.
Liebesqual mit sanftem Jammer und süszem Schmerz, Lust mit
Pein gemischt, steht dem Tüchtigen, dem heiszen Äugeln, den
derben Küssen, der Lust ohne Pein gegenüber.

Der Gegensatz zwischen Goethes Verhältnis zu Charlotte von
Stein und zu Christiane Vulpius dürfte durch diesen poetischen
Stoszseufzer ausgesprochen sein.

4. J. A. Bd. 1 S. 257 nr. 30. [W. A. Bd. 2 S. 93J.

„Süsze Sorgen."

„Weichet, Sorgen, von mir!____"

A n m e r k u n g: E. V. d. Hellen bemerkt S. 369: „G. legte diese
„dem Kreis der Römischen Elegien zugehörigen Distichen am 16.
„Nov. 1788 einem Brief an Karl August bei und schob sie in die
„gerade im Druck befindliche erste Ausgabe seiner Gedichte."

Die Sorge haucht ihm ihre Schatten übers Herz, der Dichtcr
aber rafft sich auf und öffnet sein Herz wohlbewuszt den neuen
Eroberern, den Sorgen seiner Liebe. Das Gerede, die Verleumdung
machten ihm das Herz schwer. Das Gerücht hatte sich der Bezie-
hungen Goethes zu Christiane Vulpius bemächtigt. Am selben Tage
schreibt er von Jena aus seinem jungen Freunde, seinem
ehemaligen
Zögling und Pflegesohn Fritz von Stein: „Das Fegefeuer von der
„andern Seite wird auch immer greulicher. Sage deiner Mutter,
„dasz ich viel lerne und viel denke. Was meine Tugend
betrifft»
„so kann ich mich nur italienisch ausdrücken: Crescono le mie
„virtü, ma
la mia virtü cala."

Offener, derber zeigt er sich in dem Briefe an den Herzog vom
gleichen Tag, worin er von seinem Besuch beim Vizekanzler von
Ziegesar erzählt, um dessen „Blut (= die grosz gewachsenen Mäd-
chen) zu beschauen": „Ich schäme mich vor Ihnen
der Studentenader
„nicht, die sich wieder in mir zu beleben anfängt." Gräf „Goethe
u. s. Dichtungen, Lyrik I S. 120 Z. 24" bemerkt: „Die Worte beziehe
„ich — auf die unmittelbar vorhergehende humorvolle Schilderung

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„seines Besuchs in Drakendorf, wo er mit Knebel November 13
»gewesen war." Da nun Goethes Satz: „Ich schäme etc." direkt
der Schluszformel seines Briefes an Karl August „Leben Sie wohl"
folgt, möchte ich annehmen, dasz Goethe seinen Brief, nachdem
er die Abschiedsworte schrieb (schreiben liesz?) noch einmal durchlas
und dann zur nachträglichen Erläuterung seines „Erotikons", so
heiszt unser Gedicht in dem zitierten Brief an Karl August, die
Bemerkung hinzufügte, dasz er sich vor Karl August seiner Stu-
dentenader nicht schäme. Allenfals könnte der Satz sich zusammen-
fassend sowohl auf sein Erotikon als auf den Besuch in Drakendorf
beziehen. Vgl. auch Düntzer, „Erläuterungen zu Goethes Werken
19/21, 280."

Der merkwürdige Satz reiszt einen Augenblick den tieferen Grund
in Goethes Herzen auf. Anders ist es als in den gehobenen Distichen,
die gleichsam ein trotziges Verteidigen seiner bemäkelten, auch
von ihm selbst beanstandeten Neigung enthalten. „Studentenader":
also ein Verhältnis auf Kündigung, ein Jugendabenteuer im vier-
zigsten Lebensjahr!

»»

Vorbemerkung zu den unten angeführten
„Römischen Elegien.

Der mütterliche Nährboden, aus dem Goethes „Römische Elegien"
erwuchsen, ist seine schon vor der italienischen Reise bestehende
Sinnlichkeit. Weil seine Sinnlichkeit einen gewissen Grad erreichte,
weil sie bestimmte sexuelle Qualitäten besasz, glaube ich, dasz er
in Italien Erlebnisse hatte, die er später mit anderen ähnlichen
in seinen Römischen Elegien verarbeitete.

Ich nehme mit E. v. d. Hellen an, dasz die Stelle aus seinem

Briefe an Karl August vom 23. Mai 1788 aus Mailand: ......ich

(„richte) meine gröszte Spekulation darauf----: ein Madonnenbild

„zu malen, das noch bei meinen Lebzeiten in Rom Wunder thun
„soll" eine erste Anspielung auf seine „Erotica Romana" sein kann.
(Vgl. Goethes Briefe, ausgew. und hrsg. von E. v. d. Hellen Bd. 2
S. 327 Fuszn. zu 27).

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Sodann weise ich auf eine Äuszerung Böttigers hin, der den 27.
Juli 1795 an Fr. Schulz schreibt: „— Die meisten Elegien sind
„bei seiner Rückkunft [aus Italien, de B.] im ersten Rausche mit

„der Dame Vulpius geschrieben. Ergo____" Nach Böttiger gibt es

also unter den Römischen Elegien eine Minderheit, die nicht auf
deutsche Erlebnisse zurückgeführt werden kann. Sein Wissen um
die Genesis der ,,Römischen Elegien" dürfte besonders aus Herderi-
scher Quelle geflossen sein.

Mögen von verschiedenen Händen notierte „Gespräche mit Goethe"
keine absolute Beweiskraft besitzen, so mache ich doch aufmerksam
auf Goethes Unterhaltung mit W. Zahn zwischen dem 7. und 10.
Sept. 1827 zu Weimar: „Kennen Sie [Zahn] auch die Osteria alla
„Campana? —In dieser Osteria hatte ich meinen gewöhnlichen
„Verkehr. Hier traf ich die Römerin, die mich zu den Elegien
„begeisterte." —

(Goethes Gespräche. Hrsg. v. Biedermann Bd. 3 S. 445).

Auch folge hier eine Stelle aus Eckermanns „Gesprächen mit
Goethe" vom 8. April 1829: „Ja, sagte Goethe, „die Elegien"
„[= Römische E. de B.] liebt er [König Ludwig von Bayern
„1786—1868 de B.] besonders; er hat mich hier viel damit geplagt,
„ich sollte ihm sagen, was an dem Faktum sei, weil cs in den Ge-
„dichten so anmutig erscheint, als wäre wirklich was Rechtes daran
„gewesen. Man bedenkt aber selten, dasz der Poet meistens aus
„geringen Anlässen was Gutes zu machen weisz." Daraus lese ich,
dasz Goethe für die Römischen Elegien „geringe" italienische
„Anlässe" nicht verneint.

Goethes Bemerkung in den Annalcn (J. A. Bd. 30 S. 10) deutet
Ähnliches an: „Angenehme häuslich-gesellige Verhältnisse geben
„mir Mut und Stimmung, die Römischen Elegien auszuarbeiten
„und zu redigieren." Diese Notiz bezieht Goethe auf das Jahr 1790.
Was nicht stimmen dürfte, denn Gräf „Goethe über seine Dichtun-
gen Lyrik II, 1, S. 226 Z. 36 f." sagt: „Dasz die Elegien im
Wcscnt-
„lichen nicht erst im Frühjahr 1790 vor der Reise nach Venedig
„entstanden oder „ausgearbeitet" worden sind, beweist I, >24,

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\'.12/7. — 125, 16/20. 25.— 126, 13/7. — nr. 290. — nr. 292/3.—
»sowie 1, 141, 6.-^90, 4. — und nr. 2363. —"

Gräf hat den Beweis erbracht, dasz Goethes Arbeit an den Rö-
mischen Elegien vor 1790 einsetzte, höchst wahrscheinlich liegt
seine Beschäftigung mit diesen Poesien auch noch vor dem 6. April
1789. (Vgl. Goethe an Karl August. W. A. Briefe Bd. 9 S. 102,
20/4. 27.- S. 103, 7. 21/5. -)

Bedeutend ist in diesem Zusammenhang Knebels Tagebuchnotiz
unter dem 24. Okt. 1788: „Abends an Goethe, nebst Properz."
Nun geht aus Goethes Antwort an Knebel vom 25. Okt. 1788 hervor,
dasz diese Ausgabe nicht nur Gedichte des Properz enthielt:
»Danke für das Kleeblatt der Dichter, ich besasz es nicht." Es han-
delt sich um eine Ausgabe der „Triumvirn Amors." (Vgl. Goethes
Briefe, ausgcw. und hrsg. v. E. v. d. Hellen, Bd. 3 S. 17. Fusz-
note zu 7.)

Ich vermute, dasz Goethes „Ausarbeiten" und „Redigieren"
schon im Spätsommer 1788 anfing. Aber ausarbeiten und redi-
gieren konnte Goethe nur, was schon vorlag.

Dabei verfuhr Goethe wahrscheinlich nach einer ihm geläufigen
Methode. Das den italienischen Liebeleien parallele Weimarer Erleb-
nis, seine Gewissensehe mit Christiane Vulpius, hatte schon be-
gonnen. Die betreffenden italienischen und deutschen Erlebnisse
waren gleich gerichtet. Wie Goethe bei der Bearbeitung des Werther
Erlebnisse mit Frau von Stein benutzte, so verwandte er zur Be-
lebung seiner italienischen Reminiscenzen deutsche Erfahrungen
neuesten Datums. Wir können, scheint mir, mit Rüttiger anneh-
men, dasz in den Römischen Elegien der deutschen mehr sind
\'"^Is der italienischen.

Uterarischen Einflusz des Johannes Secundus auf die Römischen
Elegien hat Georg Ellingcr im Goethe-Jahrbuch Bd. XIII S. 208
nachgewiesen. Aus Goethes pignen Andeutungen wissen wir das-
selbe, was Properz, Catull und Tibull betrifft. Auch Horaz und
Ovid blieben nicht ohne tiefere Bedeutung, war z. B. Goethes an-
fängliches Motto des Titelblattes:

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„Nos Venerem tutam concessaque furta canemus"
„Inque meo nullum carmine crimen erit,"

aus des Ovid ars amatoria 1, 33 entlehnt.

Ich behaupte, dasz Ludwig Geiger (J. A. Bd. 26 S. XLV) in seiner
bedeutenden Einleitung zur Italienischen Reise zu weit geht, wenn

er sagt: „----die von Goethe in stark erotischer, aber darum nicht

„weniger entzückender Weise Besungene ist Christiane."

Auch Max Morris geht wohl zu weit, wenn er in seinen „Goethe-
Studien (2) 1902 Bd. II S. 76 Fusznote „alle Römische Elegien
„auszer 7 und 11" auf Christiane bezieht.

Vorsichtiger äuszert sich Herman Grimm „Goethe Bd. 2 S. 42:"
„Das schönste Denkmal hat Goethe seiner Frau und Rom
zugleich
„in den Römischen Elegien gesetzt, deren Hauptträgerin in seiner
„Phantasie sicheriich ihrem Anblicke entsprach."

Besonders E. v. d. Hellen hat unser Problem nach allen Seiten
hin vortrefflich beleuchtet: J. A. Bd. 1 S. 348—351.

5. J. A. Bd. 1 S. 154 f. [W. A. Bd. 1 S. 234].

»Elegien"
„Erstes Buch"
„Römische Elegien"

II

„Ehret, wen ihr auch wollt! —"

Anmerkung: Vgl. E. v. d. Hellen J. A. Bd. 1 S. 351. — Bei
allen Römischen Elegien, die hier besprochen werden,
benutzte ich:
„Goethes Römische Elegien nach der ältesten Reinschrift hrsg. v.
„Albert Uitzmann. Bonn. A. Marcus und E. Weber\'s Veriag 1912."

Am 6. Januar 1787 gelobte Goethe der Frau von Stein aus Rom:
„Vor
a len Dmgen soll ein ganz reines Vertrauen, eine immer gleiche
„Offenheit mich aufs neue mit dir verbinden." Aus dem Jahre
17ÖÖ sind uns nur sehr wenig Briefe
Goethes an Frau von Stein
aus Italien bekannt. Näheres um
italienische Liebschaften erfuhr
die Frau, der er „ein ganz reines Vertrauen, eine immer gleiche

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„Offenheit" gelobt hatte, soweit wir wissen nicht durch ihn. „Eg-
mont" war höchstens eine indirekte Äuszerung.

Karl August gegenüber hat Goethe den Schleier des Schwelgens,
den er in Italien über sein intimes Leben breitete, etwas gelüftet.

Erst Carletta hat 1899 über Maddalena Riggi und Faustina, die
früh verwitwete Wirtstochter vom Monte Caprino ausführlich be-
richtet. Mit Richard M. Meyer nehme ich zwar an, dasz Carletta
zu weit geht, wenn er die Römischen Elegien nur auf Faustina di
Giovanni vedova Antonini deutet. (Vgl. Das Lit. Echo 2. Jahr,
Sp. 462).

Indem seine Beziehungen zu Frau von Stein nach seiner Rück-
kehr aus Italien stets kühler wurden, was 1789 zum förmlichen
Bruch führte, machte er sich neben der Arbeit am Tasso daran
durch die Blume der römischen „Erotica" Weimarer Erlebnisse
auszusprechen. Wie sehr Goethe Selbstbekenner war, er liebte es,
sich dem Publikum
verschleiert zu zeigen. Daher auch wohl die
Finte in seinem Brief vom 5. Juli 1791 an seinen Verleger Göschen:
..Ein Büchlein Elegien, die ich in Rom schrieb."

Anfänglich zeigte er seine deutsch-italienische Liebe in klassischem
Gewände nur wenigen Bekannten, nach einigen Jahren erst der
ganzen Welt. Die äuszere Form dieser Elegien ist nicht das eigent-
lich Klassische daran. Metrum, Vers, Satzbau, Gebrauch mytho-
logischer Namen, Bildung neuer Göttergestalten ergeben das Klas-
sische noch nicht. Es liegt in der Haltung dem Leben gegenüber.
So weit in den Römischen Elegien die Bejahung des Lebens zum
Ausdruck kommt, nenne ich sie klassisch. Der Dichter der Rö-
mischen Elegien fühlt das Leben als schön, als wert gelebt zu werden,
obgleich er es nicht nach den Regeln der allgemeinen Moral lebt.
Schon seit Jahren befand sich Goethe in seinem intimsten Leben
jenseit der Grenzen landläufiger Moralansichten. In Italien zog er
weiter in dieses Gebiet hinein. Mit seinem ersten Motto aus Ovids

ars amatoria I, 33.

„Inque meo nullum carmine crimen erit,"
glaubt er sich noch verteidigen zu müssen gegen die Moral der
anderen.

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„Wie wir einst so glücklich waren!"

„Müssen\'s jetzt durch euch erfahren,"

hat er nach vielen Jahren nicht verteidigend, sondern rückblickend
und vergleichend „elegisch" seufzend diesen Gedichten als Vor-
spruch vorgesetzt.

Der vierzigjährige Schüler Rousseau\'s schiebt entschieden die
schönen Damen und die Herren der feineren Welt beiseite, sowie
er das „gebundene" Gespräch mit den über die ganze Welt verbrei-
teten zwecklosen politischen Dummheiten und das „traurige" Spiel
ablehnt. Als er seine Harzreise vor gut zehn Jahren unternahm,
schrieb er der Frau von Stein: „Wie sehr ich wieder auf diesem
„dunklen Zug, Liebe zu der Klasse von Menschen gekriegt habe!
„die man die niedere nennt! dic aber gewisz für Gott dic höchste
„ist —(Vgl. Goethe an Frau von Stein, den 4. Dez. 1777). Dic
Liebste, die er unter dem königlichen Schutze des Fürsten Amor
im einfachen Asyle findet, gehört dieser Klasse von Menschen an.
Sie freut sich an dem Geliebten, der ihr von fremden Ländern
erzählt, sie liebt ihn heisz, wie er sie! Es fehlt ihr fast an nichts
mehr, ihr Tisch ist besser bestellt als früher, Kleider schenkt er ihr,
sogar ein Wagen ist zur Stelle, der sie nach der Oper fährt. Mutter
und Tochter erfreuen sich des Gastes, dem dic Rechte eines Gatten
gegönnt werden.

Leitzmann a. a. 0. S. 6 f. und E. v. d. Hellen J. A. Bd. I S. 351
erwähnen eine kleinere Fassung, deren 14. Vers lautet:

„t\\ennet den Nahmen des Manns der sie sich eignete kaum."

Dieser Vers kann sich nicht auf Christiane Vulpius beziehen, denn
sie kannte den Namen des Geheimrats von Goethe schon längst.
Die Zeile bezog sich auf die junge Italienerin, der es schwer
gewesen
sein durfte, die ungewöhnlichen Laute des fremden Namens richtig
auszusprechen. Diese Verszeile blieb mit der vorigen aus der end-
gültigen Fassung fort!

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Die gröszere Fassung enthält auszerdem wichtige neue Züge.
Seine Liebste kümmert sich nicht um „wütende Galller." Nun
Wurden die Inneren revolutionären französischen Unruhen ganz
Europa erst nach dem 5. Mai 1789, als die états généraux nach
Versailles berufen wurden, sichtbar. Die endgültige Fassung nennt
auch die „Mutter" der Liebsten, was m. E. hindeutet auf Christianens
Tante Juliane, welche die verwaisten Kinder ihres verstorbenen
Bruders betreute.

Wir gehen wohl kaum fehl in der Annahme, dasz die ältere, kleinere
Fassung dem italienischen Abenteuer näher stand, dasz aber die
endgültige Gestalt mehrere Züge aus dem Verhältnisse mit dem
deutschen Volkskinde entlieh.

Es bilden die beiden Erlebnisse Zettel und Einschlag eines einzigen
dichterischen Gewebes.

J. A. Bd. I S. 155 f. [W. A. Bd. 1 S. 236J.

„Römische Elegien."

III.

„Lasz dich, Geliebte, nicht reun, —"

Anmerkung: Im Anfang unserer Elegie wendet sich der
Dichter tröstend an die Gellebte, die sich In Augenblicken der
Verzweiflung Vorwürfe gemacht haben dürfte. Er sucht ihre Selbst-
Anklagen mit seinen stolzen Worten, dasz Götter und Göttinnen
in der heroischen Zeit so gellebt haben, zu übertönen.

Er beschreibt die vielfache Wirkung der Pfeile des Amor:

„— einige ritzen,"

„Und vom schleichenden Gift kranket auf Jahre das Herz."

Es ist m. E. wahrscheinlich, dasz Goethe mit diesen abfällig
urteilenden Worten die Liebe seiner ersten Weimarer Zeit ablehnt.
Besonders, wenn wir in Betracht ziehen, dasz der 5. Vers anfangs
lautete:

„0 so giebt es die rechten unabgenutzten sie zünden —"

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(vgl. Leitzmann S. 7 Fusznote zu III, 5). Sowohl die „Pfeile des
Amor", welche Frau v. Stein, die verheiratete Frau, schwirren
liesz, als auch diejenigen, welche die verwitwete römische Faustina
abschosz, dürfen wir, mit des Dichters Worten zu reden, als „abge-
nutzt", die „Pfeile" der Christiane dagegen als „unabgenutzt"
betrachten.

Beim 9. Vers anzufangen wird eine Reihe rasch liebender Götter
vorgeführt, deren Vorbild das einfache in der nächsten Gegenwart
lebende Herz der Geliebten, die diese mythologischen Namen kaum
gekannt haben wird, beschwichtigen soll. Was weisz diese Geliebte,
die sich sogar um die herannahenden groszen Ereignisse der Ge-
genwart nicht kümmert, von den alten Sagen ferner Zeiten? Nur
einer kleinen esoterischen Gemeinde bedeuten diese Götternamen
und flüchtig angedeuteten Götterabenteuer etwas, dem Geiste des
ungebildeten Naturkindes sind sie unverständlich, es müszte denn
der Geliebte ihr dieselben erläuternd vordozieren.

7. J. A. Bd. 1 S. 156 f. [W. A. Bd. 1 S. 237 f.]
„Römische Elegien"
IV.

„Fromm sind wir Liebende, —"

Anmerkung: E. v. d. Hellen merkt zu dieser Elegie nichts
an. — Gräf „Goethe ü. s. Dichtungen, Lyrik II, 2" nenrtt sie nicht
im Register.

Zu unserer Elegie sind erstens einige Christiane-Bilder zu ver-
gleichen, die Gräf in „Goethes Briefwechsel mit seiner Frau" li«"»^
wiedergeben lassen.

Im 1. Band:

1. Christiane. Federzeichnung Goethes, um 1789.

2. Christiane, auf dem Sofa im Gartenhäuschen am Park ein-
geschlafen. Bleistiftzeichnung Goethes, 1788 oder 1789.

3. Christiane und der dreijährige August, Gemälde in Wasser-
farben von Heinrich Meyer, 1792.

4. Christiane, Kreidezeichnung von Friedrich Bury, 1800.

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Im 2. Band:

5. Christiane, Miniaturölgemälde von Joseph Raabe, 1811.

6. Christiane, Büste von K. G. Weiszer, 1811 oder 1812.

„Einst erschien sie auch mir, ein bräunliches Mädchen, die Haare"
„Fielen ihr dunkel und reich über die Stirne herab,"
„Kurze Locken ringelten sich ums zierliche Hälschen,"
„Ungeflochtenes Haar krauste vom Scheitel sich auf —"

Wie Max Morris „Goethe-Studien Bd. 2 S. 76," Etta Federn
„Christiane von Goethe S. 213", und Wilhelm Bode „Goethes
Liebesleben S. 282," nehme ich an, dasz die Göttin „Gelegenheit",
die Goethe oben besingt, die Gestalt der Christiane angenommen
hat. Mit dichterischer Freiheit vertauscht der seine Leser wohl
absichtlich täuschende Sänger die Zeiten, er verweist das ganze
Erlebnis mit der Göttin „Gelegenheit" in die Vergangenheit:

„— die Zeit ist vorüber,"

„Und umwunden bin ich, römische Flechten, von euch."

Die W. A. Bd. 5 (2) S. 373 bringt ein Paralipomenon, das m. E.
eine Vorstudie zu dieser Elegie bildet. Da neben der W. A. nur
Leitzmann S. 24 und Biedermann, Archiv für Literaturgeschichte

538, diese Skizze geben und sonst weder die J. A. das Gedicht
abdruckt, noch Gräf „Goethe ü. s. Dichtungen" es erwähnt, so
"löge es hier folgen:

„Edelknabe und Wahrsagerin."

„Kennt ihr die Dirne mit lauerndem Blick und raschen

Geberden?"

„Die Schalkin, sie heiszt Gelegenheit; lernt sie nur kennen!"

„Sie erscheint euch oft, immer in andrer Gestalt."

„Gern betrügt sie den Unerfahrnen, den Blöden,"

„Schlummernde neckt sie stets, Wachende flieht sie eilends,"

„Und die Unschuld bethört sie, der kömmt sie am leichtsten."

„Einst erschien sie dem Knaben, ein bräunliches Mädchen,

die Arme,"

„Nacken und Busen und Leib nicht allzu sittig verhüllt."

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„Zukünftges deutend zeigte ihr Finger nach oben,"
„Bog ihren Hals sie nach vorn;"
„Ungeflochtnes Haar krauste vom Scheitel sich auf;"
„Lockend war ihre Miene, doch schaute der Bube nicht auf,"
„Wie sehr sie sich mühte des Harmlosen Auge zu fangen,"
„Er hört sie nur halb,"

„Dacht\' an sein Lieb. Doch Stille! — Die Dirne ist weg —"
„Degen und Schärpe verschwunden, die ihm die Liebste gab."

Hat die Göttin Gelegenheit in der endgültigen Fassung unserer
Elegie etwas Dämonisches, das blosz die menschliche Gestalt
annimmt als eine unter vielen um leichter den Unerfahrenen, Blöden
zu berücken, die Wahrsagerin des Fragmentes mutet als eine fast
nicht stilisierte, realistische Gestalt aus „Wilhelm Meister" an.
„Dirne" wird sie genannt, „Dirne mit lauerndem Blick und raschen
Geberden," ein bräunliches Mädchen, Arme, Nacken, Busen und
Leib „nicht allzu sittig verhüllt," so lockt sie den Harmlosen, be-
trügt sie den Unerfahrnen, Blöden, bestiehlt ihn wohl gar, denn
„Degen und Schärpe" sind „verschwunden", nachdem sie fort ist.

Die innere Distanz zwischen dem Edelknaben und der Wahrsagerin
ist so grosz, dasz ich annehme: dic Göttin Gelegenheit in der vierten
Elegie und die Wahrsagerin des Fragmentes sind nicht identisch.

Das Paralipomenon handelt von einer wciblichen Erscheinung,
die sich etwa auf der Reise nach Rom zwischen Goethe und seine
.Liebste", Charlotte von Stein, schob.

Das neckend Betörende, das plötzlich den Harmlosen versuchend
überfällt, deutet auf Verwandschaft mit der „allerlieblichstcn
Gestalt hehren Jünglings, den des Gottes uranfänglich
schöncs
Denken aus dem ew\'gen Busen" zur Prüfung der brahmanischcn
Frau in der Parialegende schuf. (Vgl. J. A. Bd. 2 S. 200).

Goethe hat wohl Verwandtschaft zwischen der Wahrsagerin und
Christiane gefühlt. Hinter beiden wirkt dasscll)c Urwesen, das sich
in wechselnder, verschieden gestufter Gestalt verkörpert.
Daher
verwendet der Dichter in der vierten Elegie Partien des Fragmentes.

Wie Goethe auch in späteren Jahren Christiane sah, in den ersten

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Zeiten ihrer Bekanntschaft war die innere Distanz zwischen ihnen
nicht so grosz wie zwischen dem Edelknaben und der Wahr-
sagerin. —

8. J. A. Bd. 1 S. 161. [W. A. Bd. 1 S. 244].

„Römische Elegien"
IX.

„Herbstlich leuchtet die Flamme —"

Anmerkung: E. v. d. Hellen macht zu dieser Elegie keine
Bemerkungen. Gräf erwähnt sie nicht im Register seines Werkes
"Goethe ü. s. Dichtungen, Lyrik II, 2."

ich möchtc diese Elegie auf Christiane Vulpius beziehen, erstens,
weil das Leuchten der Flammen „herbstlich", zweitens, well der
Herd „ländlich gesellig" genannt wird. „Herbstlich leuchtet die
Flamme" heiszt entweder: obgleich es noch nicht Herbst ist, er-
innert mich die Flamme an den Herbst, oder: es ist Herbst, die
Flamme leuchtet herbstlich. Da es nun In Weimar schon im Sommer
herbstlich kühl sein kann, sodasz ich auf einer Fusztour durch
Thüringen Anfang August 1913 des Morgensam Frühstück im Speise-
saal des Gasthofes den Ofen geheizt fand, da nun auch Goethe
über das Klima in Thüringen wiederholt geklagt hat und am 31.
August 1788 der Frau von Stein schreibt: „Die Witterung macht
»niich ganz unglücklich, und ich befinde mich nirgends wohl als
..in meinem Stübgcn, da wird ein Caminfeuer angemacht und es
..mag regnen wie cs will, —" so nehme Ich an, dasz cr hier einen
kühlen Sommer- oder Herbstabend In Thüringen beschreibt.

Mit Rücksicht auf Goethes Brief an Karl August vom 16. Febr.
1788 aus Rom
möchtc ich intimere Beziehungen Goethes zu einer
Italienerin, etwa
Faustina, in das Frühjahr 1788 stellen um die
Karnevalszelt.

Sodann wird Goethe in der ersten Zeit seines Verhältnisses mit
Christiane Vulpius öfters in dem etwas entlegenen Gartenhaus am
Stern gewohnt haben, um das, was vorging den Beobachtungen der

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Weimaraner möglichst zu entziehen. Da nun das Gartenhaus ein-
fach eingerichtet war, scheint mir das Wort „ländlich" recht wohl
auf den Herd in diesem Gartenversteck hindeuten zu können. —

9. J. A. Bd. 1 S. 161. [W. A. Bd. 1 S. 245].

„Römische Elegien"
X.

„Alexander und Cäsar und Heinrich und Friedrich, —"

A n m e r ku n g; In Gräfs Register zu „Goethe ü. s. Dichtungen,
Lyrik II, 2" fehlt unsere Elegie.

Das kleine Gedicht schlieszt mit den Worten:

„Freue dich also, Lebend\'ger, der lieberwärmeten Stätte,"

„Ehe den fliehenden Fusz schauerlich Lethe dir netzt."

Goethe fühlte sich im Sommer 1788 trotz seiner heimlichen Liebe
mitunter zerstreut, trüb, zerrissen, verzweifelt und gänzlich unnütz
(Vgl. Goethes Briefe an Frau von Stein nach der it. Reise bis zum
8. Juni 1789).

Frau von Stein, wohl leicht gereizt durch die körperlichen
Leiden ihres kritischen Alters, in Sorgen wegen der Gesundheit
ihres Gatten, nachdem sie vor kurzem ihren Sohn Ernst durch den
Tod verlor, war „ohne Herz" für Goethe. Der Herzog hütete im
Sommer 1788 längere Zeit das Zimmer mit einem kranken Fusz.
Die englische Familie Gore, welche Goethe nicht in jeder Hinsicht
sympathisch war, hatte Karl August nach Weimar gezogen. Die
Herzogin-Mutter Anna Amalie, Herder, v. Einsiedel, Fräulein v.
Göchhausen und Kayser, der Komponist, waren auf Reisen.

Das Leben nahm seinen unaufhaltsamen Fortgang. Vor der
italienischen Reise war ihm in Weimar nicht immer wohl, nach
derselben war für Goethe „die Art", wie Charlotte von Stein ihn
empfing, wie ihn andre „nahmen" äuszerst empfindlich. (Vgl.
Goethe an Frau von Stein, den 1. Juni
1789).

Da mag es Goethe im Gefühl der Vergänglichkeit alles Irdischen
gedrängt haben, den Gegensatz zwischen dem ewig dunkel-herauf-

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drohenden Tod und dem vergänglichen, „lieberwärmeten" Leben
zu gestalten.

Färb- und gestaltlos lag die nordische Welt wieder um ihn. Die
Stunden der einsamen Nächte wollte er wenigstens nicht mehr
darben im „sittlichen" Bette (Vgl. Leitzmann. S. 11 Fusznote
zur Vlll. Elegie, Zeile 5/6).

Hier hatte er die leibhaftige Erinnerung an das südliche Land
seiner Sehnsucht vor sich in dem bräunlichen Mädchen mit den
dunklen Augen.

10. J. A. Bd. 1 S. 162 f. [W. A. Bd. 1 S. 247 f.].

„Römische Elegien"

xn.

„Hörest du, Liebchen, das muntre Geschrei —"

Anmerkung: Vgl. Gräf „Goethe ü. s. Dichtungen, Lyrik 1
S. 129 Z. 31 f." „— Nach der Vermuthung Düntzers (Erl. 24, 66)
„ist das kaum leserliche Datum am Schlusz einer Handschrift der
„Elegie Xll.... zu lesen „d. 8. Feb. 90", anstatt „d. 8. 8^ 90." —"

Ein Herbst- und Fruchtbarkeitsbild bietet uns diese Elegie,
die eine Goethesche Deutung der Eleusinischen Mysterien enthält.
Eben weil Goethe so sehr die weihevolle Verehrung des Geschlecht-
Hchen, die mysteriöse Erhabenheit der Frucht in den Mittelpunkt
stellt, wozu auch das rührende 102. Venezianische Epigramm zu
vergleichen ist, nicht nur des angezweifelten Datums wegen, möchte
ich diese Elegie auf Goethes Gewissensehe mit Christiane Vulpius
beziehen, in der er sich „nach mancherlei Proben und Prüfungen"
den geheiligten Kreis der Vaterschaft aufschlieszen sah.

11. J. A. Bd. 1 S. 163 f. [W. A. Bd. 1 S. 249 f.].

„Römische Elegien".

XIII.

„Amor bleibet ein Schalk, und wer ihm vertraut —."

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T dieser Elegie die listige

Macht der Liebe, die nach Gutdünken mit uns schaltet und waltet
Amors Worte, des heuchlerischen Schalks, Goethes Spott über den
Sophisten, sein Entzücken über die Geliebte:

„Find\' ich die Fülle der Locken an meinem Busen! Das Köpfchen"
„Ruhet und drücket den Arm, der sich dem Halse bequemt —"

sein bewusztes Ruhen in dem Erworbenen:

„Herzliche Liebe verbindet uns stets und treues Verlangen "
„Und den Wechsel behielt nur die Begierde sich vor —

es sind alles wechselnde Ansichten in Liebesangelegenheiten eines
und desselben Gemütes,

Die „Locken" (vgl. nr. 7 oben) und die Ablehnung des „Wechsels"
scheinen mir den Bezug auf Christiane zu rechtfertigen.

12. J. A. Bd. 1 S. 165 f. [W. A. Bd. 1 S. 253 f.J.

„Römische Elegien."
XV.

„Cäsarn wär \'ich wohl nie —"

Anmerkung: Trotz des groszen Aufwandes italienischer
Requisiten kann sich unsere Elegie teilweise auf Christiane Vulpius
beziehen wegen der Verse:

„Denn ihr zeigtet mir heute die Liebste, begleitet vom Oheim "
„Den die Gute so oft, mich zu besitzen, betrügt —" etc
Das typische Urverhältnis wäre gewesen: die Tochter betrügt
Vater und Mutter, um heimlich mit dem Geliebten zusammen zu
sein Es lag kaum ein Grund vor, die natürliche Lage der Dinge mit
Rucksicht auf Faustina di Giovanni vedova Antonini, welche unter
die Tu ela^des Vaters zurückgekehrt war, in eine weniger typische
umzubiegen. ^^

Hat nun Goethe in seinem Gespräch mit W. Zahn zwischen dem
7. und 10. Sept. 1827 in Weimar diesen nicht schalkhaft angeführt,

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dann entspricht unsere Elegie der dort erzählten italienischen Wirk-
lichkeit in direkter Weise: „Hier traf ich die Römerin, die mich
„zu den Elegien begeisterte. In Begleitung ihres Oheims kam sie
„hierher, und unter den Augen des guten Mannes verabredeten wir
„unsere Zusammenkünfte indem wir den Finger in den verschüt-
„teten Wein tauchten und die Stunde auf den Tisch schrieben —"
(vgl. Goethes Gespräche, hrsg. von Biedermann Bd. 3 S. 445).

Trifft dies nicht zu, dann kann Goethe die Erzählung, wie die
Geliebte ihm „in der Schenke\' schlau ein Zeichen zu geben gewuszt,

„um welche Stunde er kommen dürfe____einer Elegie des Tibul-

„lus nachgebildet haben. (Vgl. Viktor Hehn. Über Goethes Gedichte
(2) S. 266).

Wenn wir schlieszlich nicht annehmen, dasz die Verwandten der
Christiane stets um ihr Verhältnis mit dem vornehmen Geheimrat
gewuszt haben, dann müssen wir neben obigen etwaigen Einflüssen
die Möglichkeit ins Auge fassen, dasz Goethe und Christiane sich
anfangs wohl nur unter Täuschung der Familie Vulpius haben
treffen können. Da dürfte Goethe die Weimarer Sachlage: Christiane
täuscht ihre Tante Juliane (1734—1806) und ihren Bruder Christian
(1762—1827) in die Verhältnisse unserer Elegie umgewandelt haben:
die geliebte Römerin betrügt Oheim und Mutter.

13. J. A. Bd. 1 S. 167. [W. A. Bd. 1 S. 255].

„Römische Elegien."

XVI.

„Warum bist du, Geliebter, —"

Anmerkung: Fehlt in Gräfs Register zu „Goethe über seine
Dichtungen Lyrik II, 2." —

Auch diese Elegie könnte man wegen der Wörter „Oheim"
und „Nichte" wie die vorige auf Christiane Vulpius beziehen. Im
Gegensatz zur 15. Elegie handelt es sich in der 16. um die misz-
lungene Täuschung des „Oheims."

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14. J. A. Bd. I S. 168. [W. A. Bd. 1 S. 257J.

„Römische Elegien"
XVIII.

„Eines ist mir verdrieszlich vor allen Dingen —"

Anmerkung: Unser Gedicht fehlt in Gräfs Register zu „Goethe
über seine Dichtungen Lyrik II, 2." — Die 18. Elegie gehört inhalt-
lich zu den kühnsten, die Goethe publizierte. Man versteht mit
Rücksicht auf dieses Gedicht, dasz Goethe lange Anstand nahm
die Elegien zu veröffentlichen, dasz sogar die nächsten Freunde
und berufensten Kritiker nicht ohne weiteres günstig urteilten.

Vgl. Goethe an Knebel, den 1. Januar 1791: „Die Büchlein Elegien
„und Epigramme habe ich auch so ziemlich gefaltet und gelegt
„Auch war ich nicht abgeneigt die ersten herauszugeben. Herder
„Widerrieth mirs und ich habe blindlings gefolgt." —

Schiller an Lotte, den 20. Sept. 1794: „Er (= Goethe, de B.)
„las mir seine Elegien, die zwar schlüpfrig und nicht sehr decent
„sind, aber zu den beszten Sachen gehören, die er gemacht hat, —"
Schiller an den Herzog Friedrich Christian von Augustenburg
den 5. Juli 1795: „Die Elegien, welche es (= das 6. Stück, der
„Hören, de B.) enthält, sind vielleicht in einem zu freyen Tone
„geschrieben, und vielleicht hätte der Gegenstand den sie behandeln
„sie von den Hören ausschlieszen sollen. Aber die hohe poetische
„Schönheit, mit der sie geschrieben sind, risz mich hin, und dann
„gestehe ich, dasz ich zwar eine conventionelle, aber nicht die

„wahre und natüriiche Decenz dadurch verietzt glaube _"

Kari August an Schiller, den 9. Juli 1795: „Wenn sie (= die
»Elegien, de B.) vor dem Druck in den
Händen mehrerer Freunde
„wären gegeben worden, so würde man vielleicht den Autor vermocht
„haben einige zu rüstige Gedanken, die er wörtlich ausgedrückt
„hat, blosz errathen zu lassen; andere unter geschmeidigeren Wen-
„dungen mitzutheilen, noch andere ganz zu unterdrücken —"

Alxinger an Böttiger, den 25. März 1797 - Wilhelm, Briefe des
Dichters Alxinger S. 93 = Studien zur vergleichenden Literatur-

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geschichte, Schillerheft S. 350 = Leitzmann, „Goethes Rom. Ele-
gien S. 55":

„Properz durfte es laut sagen, dasz er eine glückliche Nacht bey
„seiner Freundin zugebracht habe. Wenn aber Herr von Goethe
„mit seiner Italienischen Mätresse vor dem ganzen Deutschland
„in den Hören den concubitum exercirt, wer wird das billigen?"

Die sittliche Entrüstung in Deutschland läszt sich vergleichen
mit dem Lärm, den man in Frankreich schlug, als Gustav Flaubert,
„Madame Bovary", in Holland, als Lodewijk van Deyssel „De kleine
Republiek" veröffentlichte.

Kunst und Wissenschaft sind übersittlich und Goethe hatte als
Künstler das Recht, zu versuchen, ob sein Abscheu vor „den Schlan-
gen auf dem Wege der Liebe" Poesie werden wolle. Dieser Versuch
liegt uns in der 18. Elegie vor.

Es gibt noch eine andere Elegie von Goethes Hand, welche die
J. A. nicht, und die W. A. Bd. 1 S. 419, „drei Distichen unter-
drückend" nur unter den Lesarten bringt:

„Zwei gefährliche Schlangen, vom Chore der Dichter gescholten" etc.
Sie behandelt dasselbe Thema, worüber weiter unten (S. nr. 17).

In der 18. Elegie sagt der Dichter:

„— ganz abscheulich ist\'s, auf dem Wege der Liebe"

„Schlangen zu fürchten, und Gift unter den Rosen der Lust,"

„Wenn im schönsten Moment der hin sich gebenden Freude"

„Deinem sinkenden Haupt lispelnde Sorge sich naht."

Darauf rühmt er Faustine. Es ist das erste Mal, dasz Goethe
der Geliebten in den Römischen Elegien einen Namen beilegt.
(Leitzmann „Goethes Röm. Elegien" teilt S. 19 zu XX, 9 mit,
dasz statt des ursprünglichen „mein Mädchen" erst später „Faustine"
eingesetzt worden sei.) Gerne teilt sie das Lager mit dem Geliebten
und er fühlt sich durch ihre Treue sicher:

„— wir wechseln sichere Küsse,"

„Atem und Leben getrost saugen und flöszen wir ein."

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Mir scheint nun eben dieses Gefühl der „Sicherheit" darauf hin-
zudeuten, dasz der Dichter die deutsche Geliebte und nicht eine
italienische meinte.

Denn, wie Goethe über „Sicherheit" in Italien dachte, zeigen uns
folgende Stellen aus seinen Briefen dorther an Karl August: Goethe
an den Herzog Karl August, Rom d. 3. Febr. 1787: „Die Mädgen
„oder vielmehr die jungen Frauen, die als Modelle sich bey den
„Mahlern einfinden, sind allerliebst mit unter und gefällig sich
„beschauen und genieszen zu laszen. Es wäre auf diese Weise eine
„sehr bequeme Lust, wenn die französchen Einflüsze nicht auch
„dieses Paradies unsicher machten. Ich bringe das Portrait von
„so einem Geschöpfe mit, man kann nichts zierlichers sehn." —

Goethe an den Herzog Karl August, Rom, d. 29. Dec. 1787 „— Mich
„hat der süsze kleine Gott in einen bösen Weltwinkel relegirt. Die
„öffentlichen Mädchen der Lust sind unsicher wie überall.\' Die
„Zitellen (unverheurathete Mädchen) sind keuscher als irgendwo,
„sie lassen sich nicht anrühren und fragen gleich, wenn man artig
„mit ihnen thut: e che concluderemo? Denn entweder man soll
„sie heurathen oder sie verheurathen und wenn sie einen Mann
„haben, dann ist die Messe gesungen. Ja man kann fast sagen,
„dasz alle verheurathete Weiber dem zu Gebote stehn, der die
„Familie erhalten will. Das sind denn alles böse Bedingungen und
„zu naschen ist nur bey denen, die so unsicher sind als öffentliche
„Creaturen. Was das Herz betrifft; so gehört es gar nicht in die
„Terminologie der hiesigen Liebeskanzley. —"

Goethe an den Herzog Karl August Rom d. 16. Febr. 1788:
„— Sie schreiben so überzeugend, dasz man ein cervello tosto sein
„müszte, um nicht in den süszen Blumen Garten gelockt zu werden.
„Es scheint dasz Ihre gute Gedancken unterm 22. Jan. unmittelbar
„nach Rom gewürckt haben, denn ich könnte schon von einigen
„anmutigen Spaziergängen erzählen. So viel ist gewisz und haben
„Sie, als ein Doctor longe experientissimus, vollkommen recht,
„dasz eine dergleichen mäszige Bewegung, das Gemüth erfrischt
„und den Körper in ein köstliches Gleichgewicht bringt. Wie ich
„solches in meinem Leben mehr als einmal erfahren, dagegen auch

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„die Unbequemlichkeit gespürt habe, wenn ich mich von dem
„Wege, auf dem engen Pfad der Enthaltsamkeit und Sicherheit
„einleiten wollte." Diese drei Belegstellen: W. A. IV Abth. 8 Bd.

Daraus geht m. E. hervor, dasz Goethe sich bei einer italienischen
„Faustina" kaum „sicher" gefühlt haben kann. War sie doch die
Tochter eines ihm fremden Volkes, dessen Sprache er nur teilweise
beherrschte, dessen Bräuche ihm nicht von frühster Jugend auf
bekannt waren.

Bedeutend anders lagen die Verhältnisse in Weimar. Christiane
lebte seit ihrer Geburt mit mehreren Verwandten in derselben
kleinen thüringischen Stadt, deren Verhältnisse Goethe, der Beamte,
seit mehr als zehn Jahren genau studiert hatte. Wie leicht muszte
es ihm da nicht werden auf allerhand Wegen Erkundigungen über
das junge Geschöpf einzuziehen?

Und hat er sich vielleicht auch bei Christiane vor den gefürchteten
„Schlangen" nicht ganz sicher gewuszt, das Gefühl der Unsicher-
heit wird in dem fremden Land gröszer gewesen sein. (Vgl. zu 3/4
der 18. Elegie das 26. Venezianische Epigramm, J. A. Bd. 1 S. 210).

15. J. A. Bd. 1 S. 169 f. [W. A. Bd. 1 S. 258 f.].

„Römische Elegien."

XIX.

„Schwer erhalten wir uns den guten Namen, —" ^

Anmerkung: Leitzmann „Goethes Römische Elegien, S. 22
zu XXI, 70" bemerkt: „am schluss: 24. Dec. 89". — Gräf „Goethe
über seine Dichtungen, Lyrik II, 2 S. 1161" datiert gleichfalls:
„1789 XII 24." — Ist das Datum richtig, dann dürfte Goethe an der
19. Elegie gedichtet haben, als er auf Christianens bald bevorstehende
Niederkunft wartete, die am 1. Weihnachtstage 1789 erfolgte.

Wer dem Datum nicht traut, möge Folgendes beachten:

„Ja vom guten Rufe geht etwas verlohren," so lautet nach Leitz-
mann „Goethes Römische Elegien S. 20 zu XXI, 1" eine Varia-
tion zum 1. Hexameter. Die gröszte unter Goethes Elegien handelt
vom Streit zwischen Fama und Amor. „ Die Fabel dieser Elegie

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„ist aus verschiedenen Motiven der antiken Tradition in freier
„Umgestaltung gebildet," so notiert E. v. d. Hellen, J. A. Bd. 1
S. 353 unter XIX. Ausführlich malt der Dichter, wie Amor den
Liebling der Fama, Herkules, und das Weib des Vulkan, zur „necki-
schen Gruppe" vereint, —

„Als das verständige Netz im rechten Moment sie umfaszte,"

„Rasch die Verschlungnen umschlang, fest die Genieszenden

hielt —"

dem ganzen Olymp zeigte.

Seitdem steht Fama mit Amor in Streit, darunter leiden die
Menschen, deshalb sagt der Dichter gegen das Ende seiner Elegie:

„Und so geht es auch mir: schon leid\' ich ein wenig —"

Über Goethes italienische Leibeleien ist mit Bestimmtheit wenig
bekannt geworden. Herder berichtete an seine Frau unter dem 28.
März 1789 aus Rom: „Was Du mir von Goethens Klärchen schreibst,
„miszfällt mir mehr, als dasz es mich wundern sollte. Ein armes
„Mädchen — ich könnte mir\'s um Alles nicht erlauben I Aber die
„Menschen denken verschieden, und die Art, wie er hier unter
„rohen, obwohl guten Menschen gelebt hat, hat nichts Anderes
„hervorbringen können." Diese fernen Gerüchte aus Rom werden
Goethes Ruf in Weimar wenig geschadet haben.

Etwas ganz Anderes war es, als das Gerücht seiner Beziehungen
zu der „Mamsell Vulpius" sich in dem kleinen Weimar verbreitete.
Ein paar Belege mögen genügen. Karoline Herder schreibt den 8.
März 1789 an ihren Mann nach Rom: „Ich habe nun das Geheim-
„nis von der Stein selbst, warum sie mit Goethe nicht mehr recht
„gut sein will. Er hat die junge Vulpius zu seinem Klärchen und
„läszt sie oft zu sich kommen usw. Sie verdenkt ihm Dies sehr. Da
„er ein so vorzüglicher Mensch ist, auch schon vierzig Jahr alt ist,
„so sollte «er nichts tun, wodurch er sich zu den Andern so her-
„abwürdigt. —"

Wieder Karoline Herder an ihren Mann den 8. Mai 1789:

„Sie (= Frau v. Stein, de B.) ist den Dienstag nach Ems ins

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„Bad gegangen. Er (-= Goethe, de B.) hat sein Herz, wie sie glaubt,
„ganz von ihr gewendet und sich ganz dem Mädchen, die eine all-
„gemeine H — vorher gewesen, geschenkt."

Mehr als Stadtgespräch wurde dieses Liebesverhältnis, als Chris-
tiane Vulpius dem Herrn Geheimrat von Goethe am 25. Dezember

1789 einen Sohn gebar und nach einiger Zeit mit dem Neugeborenen,
mit ihrer Tante Juliane und ihrer Schwester Ernestine zu dem Vater

ihres Kindes ins Haus zog.

Hautain und spitzig bemerkt Charlotte von Stein am 3. Juli

1790 in einem Briefe an Knebel: „Der Herzog läszt den Geheimrat
„von Goethe nach Schlesien kommen. Dem wäre es unstreitig
„bei seinem Christelchen hier wohler. —"

Schiller meldet am 1. Nov. 1790 hart und schadenfroh an Körner:
„Er wird, wie ich fürchte, eine Torheit, begehen und das gewöhn-
„liche Schicksal eines alten Hagestolzen haben. Sein Mädchen ist
„eine Mamsell Vulpius, die ein Kind von ihm hat und sich nun
„in seinem Hause fast so gut als etabliert hat. Es ist sehr wahr-
„scheinlich, dasz er sie in wenigen Jahren heiratet. Sein Kind soll

„er sehr lieb haben. —"

Milder tönt es aus Körners Antwort vom 11. November heraus:
„Seine Heirat mit der Vulpius würde mich nicht sehr befremden.
„Erstlich fragt sich vielleicht, ob die schlimmen Gerüchte von ihr
„gegründet sind, und dann wäre es wohl möglich, dasz man ihn
„sein bisheriges Verhältnis nicht in Ruhe fortsetzen liesze, Denke
„Dir nun den Fall, dasz er dem Mädchen gut ist, dasz alle Welt
„auf sie loshackt, dasz er ihr in einer kleinen Stadt keine erträg-
„liche Existenz verschaffen kann, ohne sie zur Frau zu nehmen.
„In Weimar scheint man über das Konkubinat noch etwas anders
„zu denken als in Berlin."

Karoline von Dacheröden an Wilhelm von Humboldt, den 19.
Dec. 1790:

„Die Weimaraner plagen und verschrauben ihn auch. Was für
„ein Lärm über das Kind ist, ist unglaublich." —

Mit Rücksicht auf solche Äuszerungen ist es wohl erlaubt Goethes
19. Elegie auf seiii Verhältnis mit Christiane Vulpius zu beziehen. —

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16. J. A. Bd. 1 S. 171 f. [W. A. Bd. 1 S. 261 f.].

„Römische Elegien."

XX.

„Zieret Stärke den Mann und freies mutiges Wesen —"

Anmerkung: Auch die letzte der Römischen Elegien, welche
Goethe publizierte, möchte ich in diese Reihe stellen. Heiszt es
doch im 7. Vers:

„Ach, schon wird es so schwer, der Könige Schande verbergen 1"
und im 9.:

„— der nächste Diener entdeckt es."

Daraus hört man heraus: noch schwerer ist es, die „Schande" des
einfachen Mannes zu verhüllen.

Es ist, alsob man Goethe zu dieser Elegie ironisch lächeln sieht.
Durch seine Taten hat er das schöne Geheimnis schon preisgegeben,
jetzt kann er, da ihm die Muse, da ihm Amor, der Schalk, „den
verschlossenen Mund" lösten, allen gestehen, was schon so viele
wissen.

Er macht sich schlieszlich aus dem Publikum und seinen deut-
schen und italienischen schönen Geheimnissen herzlich wenig. Zwar
wurden die Elegien durch den Druck in den Hören erst 1795 anonym,
seit 1800 durch seine „Neuen Schriften. Band 7" verbreitet.

Sowohl seine erotischen Erlebnisse in Italien, soweit sie bekannt
wurden, als sein Liebesverhältnis mit Christiane Vulpius in Weimar
und deren Verschmelzung zu einer poetischen Einheit ungewöhn-
lich freier Art muten als Kraftgenialitäten höheren Ranges an.
Der derbe Stürmer und Dränger, der unter dem Einflüsse der ver-
ehrten und einst über alles geliebten Frau von Stein weltkundig
und hoffähig geworden, wohl aber nie gänzlich abgestorben war,
kommt „klassisch" stilisiert zum Vorschein. Die letzte Römische
Elegie enthält im 17. Vers die poetische Andeutung, dasz dasjenige,
was er in den letzten Jahren vom Leben verlangte, eine tiefe kaum
zu überbrückende Kluft zwischen ihn und Charlotte von Stein auf-
gerissen hatte:

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„Keiner Freundin darf ich\'s vertrauen: sie möchte mich schelten."

17. W. A. Bd. 1 S. 419.
„Zwei gefährliche Schlangen, vom Chore der Dichter gescholten" —

Anmerkung: Dieses Gedicht, Paralipomenon zu den Römi-
schen Elegien, von vier unterdrückten die zweite, findet sich unter
den Lesarten der W. A., nicht in der J. A.

Gräf „Goethe über seine Dichtungen, Lyrik I, S. 125, 1—5, und
27—28" zitiert Goethe an den Herzog Karl August, den 6. April 1789:
„Sagen Sie mir
gelegentlich ein Wort, wie Sie sich befinden. Ich
„fürchte, das leidige Übel hat Sie noch nicht verlassen. Ich werde
„ihm ehstens in Hexametern und Pentametern auf\'s schmählichste
„begegnen; das hilft aber nicht zur Kur. — "Fusznote dazu: „Es
„geschah in der - Elegie „Zwei gefährliche Schlangen...."

In der 18. Elegie hat Goethe dasselbe Thema berührt wie in dieser
unterdrückten. Weil nun Goethe in diesem von ihm nicht veröffent-
lichten Gedichte sagt:

„Schützet mir mein kleines, mein artiges Gärtchen, entfernt"
„Jegliches Übel von mir, reichet mir Amor die Hand,"
„0! so gebet mir stets sobald ich dem Schelmen vertraue"
„Ohne Sorgen und Furcht ohne Gefahr den Genusz —"

möchte ich dessen Inhalt auf Christiane, bei der er sich.relativ
„sicher" gefühlt haben mag (vgl. oben nr. 14), beziehen.

Es läszt sich denken, warum Goethe diese Elegie unterdrückte.
Wenn nicht die Rücksicht auf seine „übrigen Verhältnisse" (vgl.
Goethe an Schiller, den 6. Dez. 1794), so dürfte ihn diejenige auf
Christiane selbst dazu veranlaszt haben. Schreibt der Dichter doch:

^ _ wer hütet sich nicht langweilige Treue zu brechen"
„Wen die Liebe nicht hält, hält die Besorglichkeit auf."
\'\',Und auch da, wer weisz! gewagt ist jegliche Freude."

Wie würden seine „merkaere" über ihn hergefallen sein, gehöhnt
haben: „Gewagt ist jegliche Freude! Der erhabene „Brauer," der

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„Weimarer „Oberbonze" traut der eignen Maitresse nicht!"

Dem durfte Goethe die Geliebte nicht aussetzen und am Ende
wollte er sich selbst aus den Gedanken schlagen, was er dennoch
als Möglichkeit sah. Er liesz die Beschäftigung mit diesem Thema
fallen, gab die Elegie nicht in Druck.

Aber wir blicken unter die künstlerische und künstliche Ober-
fläche der Römischen Elegien.

18. W. A. Bd. 1 S. 423.

„Hier ist mein Garten bestellt, —"

Anmerkung: Dieses Gedicht, Paralipomenon zu den Römi-
schen Elegien, von vier unterdrücken die dritte, findet sich unter
den Lesarten der W. A., nicht in der J. A.

Wegen des Bildes „Garten" möchte ich auch diese unterdrückte
Römische Elegie auf Christiane Vulpius beziehen und sie in den
Herbst 1789 stellen, als Christiane guter Hoffnung war, weil es heiszt:

„Früchte biegen den Zweig, die goldenen Früchte des Lebens,"

„Glücklich pflanzt ich sie an, warte mit Freuden sie nun."

Christiane, die sich neben dem Haushalt besonders um Garten
und Acker verdient machte, regte den Dichter öfters dazu an, sie
poetisch durch ein Motiv aus der Pflanzenwelt zu bezeichnen.
(Vgl. Die 2. unterdrückte Röm. Elegie. W. A. Bd. 1 S. 419. — „Vier
Jahreszeiten. Frühling nr. 4." J. A. Bd. 1 S. 235 — „Amyntas"
J. A. Bd. 1 S. 193 f. — „Gefunden". J. A. Bd. 1 S. 18).

Goethe verherrlicht hier sein Verhältnis als „reine Natur" und
bringt es zu den Gelüsten der „Heuchler", der „entnervten, ver-
schämten Verbrecher" in Gegensatz.

Mir scheint, dasz der Dichter nicht nur mit Rücksicht auf seine
„übrigen «Verhältnisse" und seine sittlichen Tadler, sondern, wie
in der vorigen Nummer zur 2. unterdrückten Elegie bemerkt wurde,
auch um Christiane zu schonen, diese kleine, künstlerisch nicht
recht durchgearbeitete Elegie ausfallen liesz.

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19. J. A. Bd. 1 S. 362. [W. A. Bd. 1 S. 466].

„Weit und schön ist die Welt! —"

Anmerkung: Dieses ausgeschaltete Venezianische Epigramm
sandte Goethe an Caroline Herder aus Venedig in seinem Briefe
vom 4—7 Mai 1790. Es geht der Satz vorher: „Meine Gesinnungen
„sind häuslicher als Sie denken." In demselben Briefe heiszt es:
„Ich danke Ihnen für die Inlage, die Sie mir schickten; sie enthielt
„die Nachricht, dasz mein Kleiner wieder besser ist, (d. h. Goethes
„junger Sohn August, de B.); er war 14 Tage sehr Übel. Es hat
„mich sehr beunruhigt, ich bin daran noch nicht gewohnt."

Diese Andeutungen erlauben, unser Epigramm, das wieder das
Bild „Gärtchen" bringt, welches obgleich „beschränkt", „zierlich",
ihm „eigen gehört" auf Christiane Vulpius zu beziehen, die er durch
die Reise nach Venedig zum ersten Mal seit ihrer Bekanntschaft
auf längere Zeit allein zu lassen gezwungen war.

Der Gebrauch des Bildes „Gärtchen" für die Geliebte deutet auf
nahe Verwandtschaft mit der 2. und 3. unterdrückten Elegie hin.
(Vgl. oben nr. 17 und 18). Da er nun die beiden erwähnten Römi-
schen Elegien dem Publikum vorenthielt, mag das verwandte
Epigramm deshalb auch fortgefallen sein.

Es wäre auch möglich, dasz Goethe sich seinem Fürsten gegen-
über nicht zu sehr blosz geben wollte. Karl August wünschte in
dieser Zeit öfters Goethes
Abwesenheit von Weimar, betonte nun
der Dichter öffentlich seine Neigung für das Weimarer „Gärtchen",
so sah alle Welt, dasz Diener und Herr nicht stets einer Meinung
waren, was den Eingeweihten sowieso nicht verborgen blieb. (Vgl.
Charlotte von Stein an Knebel, den 3. Juli 1790. — Vgl. J. A. Bd. 2
S. 121 nr. 2 „Hausgarten", 1821 entstanden. — Vgl. nr. 50 dieses
Abschnitts).

20. J. A. Bd. 1 S. 226. [W. A. Bd. 1 S. 330].

„Venezianische Epigramme 101."

„Ach, mein Hals ist ein wenig geschwollen! —"

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Anmerkung: Vgl. E. v. d. Hellen, J. A. Bd. 1 S. 357. f. und
S. 362. — Dieses schöne Gedicht, das durch die klassische Form
hindurch recht menschlich warme Empfindung bekundet, beziehe
ich auf Christiane Vulpius, als sie 1789 mit ihrem Sohne August
schwanger war. Besonders vor der Geburt des ersten Kindes werden
die begleitenden Umstände den Eltern aufgefallen sein.

21. W. A. Bd. 1 S. 468.

„Ach! sie neiget das Haupt, —"

Anmerkung: Ein ausgeschaltetes Venezianisches Epigramm,
das in der J. A. fehlt. — Mit Gräf nehme ich an, dasz es 1789 im
Sommer entstand und dasz der Dichter wieder unter dem Bilde,
das er der Pflanzenwelt entnimmt, von der Geliebten spricht. Dié
Ermüdung der Holden dürfte teilweise der Schwangerschaft zu-
zuschreiben sein, zwar sind wie beim Dichter auch wohl ,,Sorgen
und Mühe" mit im Spiel.

Der schäumende Wein dient den beiden Liebenden in diesem
Depressionszustand als Reizmittel, was uns daran erinnert, dasz
Goethe in einer Gegend geboren wurde, wo der Wein „wächst und
getrunken wird." (J. A. Bd. 22 S. 184), dasz in seinem Brief-
wechsel mit Christiane Weine überhaupt oft erwähnt werden, dasz
er wohl prophylaktisch gegen den Kaffee geeifert hat (Goethe an
Frau von Stein, den 1. Juni 1789), so weit mir aber bekannt nicht
gegen den Weingenusz, während Sachverständige unserer Zeit bei
Schwangerschaft grosze Vorsicht im Genüsse geistiger Getränke
verordnen.

22. J. A. Bd. 1 S. 227. [W. A. Bd. 1 S. 330].

„Wonniglich ist\'s, die Geliebte verlangend\'—"

Anmerkung: Mit Gräf „Goethe über seine Dichtungen,
Lyrik 11, 2 S. 883" stelle ich dieses Venezianische Epigramm in den
Herbst 1789 (Vgl. oben nr. 20). Es fehlt in Gräfs Register zum ge-
nannten Bande.

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Ein so rührend zartes Gebilde finden wir unter den klassischen
Poesien, die Goethe auf Christiane dichtete nicht wieder. Hier
spricht der Naturbeobachter und Dichter, der liebevoll-väterlich-
priesterlich das im Mutterschosz werdende Kind segnet.

Eigentümlich berührt es, dasz die Geliebte als Geliebte so zarte
Laute im Herzen dieses naturbeobachtenden, dichtenden Gatten
kaum zu wecken wuszte. Nur entfernt verwandt mit der Zartheit
der hier geäuszerten Empfindungen ist das Liebevolle in dem Ge-
dichte „Der Besuch". (Vgl. oben nr. 2).

Wenn es erlaubt ist aus dem Grad der Innigkeit in Goethes Ge-
dichten, die sich auf Christiane beziehen, etwas zu folgern, so wäre
es dies: Goethe ist mehr Vater als Gatte. (Vgl. Goethes Verhältnis
zu Fritz
v. Stein, das den Bruch mit dessen Mutter überdauerte
und teilweise wieder überbrückte. — Vgl. E. v. d. Hellen, „Goethes
Briefe, ausgewählt etc. Bd. 4 S. 274 Fusznote zu 14", der vermutet,
dasz Goethe Christiane ehelichte um August seinen Namen geben
zu können).

In diesem zehnzeiligen Gedichte gipfelt Goethes Diesseitigkeit.
Hier liegt die Bejahung, die Verehrung des Lebens liebend
zutage.

Es läszt sich jedoch nicht absehen, warum zum Ausdruck so
zarter Gedanken Hexameter und Pentameter notwendig sein sollten,
noch viel weniger weshalb der Hinblick auf irgend eine römisch-
griechische Gottheit nottäte. Denn leider kommen in unserem
Gedichte die „Hören" vor. Es sind zwar die Göttinnen der Ordnung
in der Natur, welche die Jahreszeiten in ihrer natürlichen Folge
wechseln und alles zu seiner Zeit entstehen, blühen und reifen lassen.
Das sind aber gelehrte Erwägungen.

Wie stilgemäsz die Hören das junge Kind auf allen Pfaden des
Lebens führen werden, wie sinnig zwischen den mythischen Hören
und dem menschlichen Kinde Verwandtschaft besteht, wie be-
deutend die Hören der kleineren Vordergrundfigur des Kindes einen
Hintergrund übermenschlicher Gestalten schaffen sollen — dennoch
behaupte ich, dasz das quasi-antike Metrum, der Gebrauch des

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mythischen Namens das Tiefempfundene gelehrt belastet und
entstellt.

Nicht „nach den Römischen" Elegien beginnt in (dem deutschen)
„Schrifttum eine Zeit der alexandrinischen Experimente", wie
Friedrich Gundolf in seinem Werke „Goethe S, 451." behauptet,
sondern mit ihnen und den zum Teil gleichzeitig entstandenen
Venezianischen Epigrammen.

Goethe zeigt durch die Römischen Elegien und die Venezianischen
Epigramme, dasz er bewuszt zum Diesseitigen strebt. Insoweit
mag seine Kunst mit gewissen Produkten des römisch-griechischen
Altertums wesensverwandt sein. Diese Dichtungen kamen zwar in
berühmten, aber nur den Alten ganz gemäszen Formen auf ihn.
Er studierte sie in Übertragungen und auch in der Urform. Sodann
erlaubten ihm seine Verhältnisse sich eingehend mit den Überresten
der römisch-griechischen Plastik in Italien und speziell in Rom
zu befassen. Heimatliche, französische, englische sowie italienische
Renaissance-Einflüsse hatten dieses sehnsüchtig ergriffene Kunst-
studium vorbereitet, machten sich neben der Antike auch in Italien
fortwährend geltend.

Mir scheint es nun, dasz Goethe sich zwar dem Wesen der römisch-
griechischen Kunst näherte, es aber nicht verstanden hat, eine
deutsche Kunst hervorzubringen, die sich aller spezifisch römisch-
griechischen, bei Goethe zu Äuszerlichkeiten werdenden, Eigen-
tümlichkeiten enthalten hätte.

Friedrich Schlegel hat vor mehr als hundert Jahren recht gehabt,
indem er schrieb: „Ja man kann wohl voraussehen, dasz manche
„der schönen Göthischen Lieder noch — vielleicht nach Jahrhun-
„derten [vielen Jahren] — im Munde des Gesanges leben werden,
„während diese antiken Nachbildungen als nothwendige, aber vor-
„übergegangene Stufe der Bildung nur in der Kunstgeschichte ihre
„Stelle haben werden." (Fr. Schlegel. Rezension von Goethes Wer-
ken 1808. Sämmtl. Werke (2) 8, 128= Leitzmann, Goethes Röm.
Elegien S. 44 f.).

Dem Gebrauche des Wortes „Hören" ist der des Begriffes „Schick-

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sal" in unserem Epigramm nicht ohne weiteres gleichzusetzen.
Auch dieses Abstraktum kann man auf römisch-griechischen Ein-
flusz zurückführen. Allein Goethe glaubte nicht an die „Hören",
wie ehrerbietig er dieses tote Requisit auch zu handhaben und
scheinbar zu beleben wuszte, es ist religiöser Begriff einer ver-
sunkenen Welt. An das „Schicksal" jedoch glaubt er, mag es zu-
gleicherzeit Verdeutschung des lateinischen fatum oder des grie-
chischen
fioTpx, slfixpiisvy^ sein. (Vgl. „Gesang der Geister über
den Wassern", „Harfenspieler", „Das Göttliche." resp. J. A. Bd.
2, S. 44, 88, 63.)

An diesem sehr bedeutenden Epigramm ist das zarte Gefühl
für das werdende Kind der tiefere Goethe. Die Form ist Maske.

23. J. A. Bd. 1 S. 205. [W. A. Bd. 1 S. 308].

„Venezianische Epigramme 3."

„Immer halt\' ich die Liebste —"

Anmerkung: Da Goethe Weimar am 10. März 1790 verliesz,
ist das Gedicht Ende März in Italien entstanden, schreibt er doch:

„Schon den zwanzigsten Tag schleppt mich der Wagen dahin."

Die Präsensformen der Sätze in den ersten vier Versen deuten
den starken Grad der Erinnerung an. Im fünften Vers wird uns deut-
lich, dasz der Dichter das innere Gesicht beschreibt.

Das Epigramm, das Sehnsucht nach der Geliebten und Unzu-
friedenheit mit den italienischen Verhältnissen ausdrückt, bezieht
sich auf Christiane Vulpius, die Goethe zum ersten Mal auf längere
Zeit allein zu lassen gezwungen war. — (Es fehlt in Gräfs Register
zu „Goethe über seine Dichtungen, Lyrik 11, 2.")

24. J. A. Bd. 1 S. 207. [W. A. Bd. 1 S. 310].

„Venezianische Epigramme 10."

„Warum treibt sich das Volk so, und schreit? —-"

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Anmerkung: E. v. d. Hellen bemerkt J. A, Bd. 1 S. 359:
„Eingekleidet in den Schein eines fast cynischen Pessimismus, ein
„Ruf herzlicher Sehnsucht." —

Ich höre in diesen wenn auch an sich haltenden Versen einen
mephistophelischen Ton und werde an Merck gemahnt. Die Stim-
mung steht Goethes Brief an Herder vom 3. April 1790 aus Vene-
dig nahe:

„Ein wenig intoleranter gegen das Sauleben dieser Nation als
„das vorige Mal. Meine Elegien sind wohl zu Ende; es ist gleichsam
„keine Spur dieser Ader mehr in mir. Dagegen bring\' ich euch ein
„Buch Epigrammen mit, die, hoff ich nach dem Leben schmecken
„sollen." —

Weshalb drückt unser Epigramm „herzliche Sehnsucht" aus, wie
V. d. Hellen behauptet? Weshalb kann es nicht einmal wie mit
Peitschenhieben des Geistes über Christiane, über das eigene Ich,
über den Menschen im allgemeinen hergehen?

Eine pessimistische Stimmung waltet überhaupt in den Epigram-
men von sechs bis elf. Bis zu Tränen gerührt ist der Dichter in sechs,
mit erstickter Stimme tönt es aus dunkler Tiefe herauf in sieben,
ergeben-sorglos ist er in acht, ironisch-lächelnd in neun, schnei-
dend-höhnisch in elf und verzweiflungsvoll schwingt er die Peitsche
der Verneinung alles Höheren, das sich aus der Verbindung des
Mannes und des Weibes erheben möchte, in dem zehnten Epi-
gramm. — (Es fehlt in Gräfs Register zu „Goethe über seine Dichtun-
gen, Lyrik II, 2").

25. J. A. Bd. 1 S. 207. [W. A. Bd. 1 S. 310].

„Venezianische Epigramme 13."

„Süsz, den sprossenden Klee —"

Anmerkung: Goethe schreibt den 4. Mai 1790 aus Venedig
an Caroline Herder: „Seit acht Tagen ist sehr schön Wetter, nur
„das Grüne fehlt hier dem Frühling."

Im Innern erblüht, was drauszen fehlt, aber die Diskrepanz
zwischen Traum und Wirklichkeit bleibt fühlbar.

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26. J. A. Bd. 1 S. 210. [W. A. Bd. 1 S. 313].

„Venezianische Epigramme 26."

„Schläfst du noch immer?" —

Anmerkung: E. v. d. Hellen bemerkt zu den beiden letzten
Versen J. A. Bd. 1 S. 359, 26, 3 f.: „Nach Martial, der Sardinien
„als das ödeste Land dem herrlichen Tibur entgegensetzt." —

Das Epigramm zeigt auffallende Verwandtschaft, mit der 18.
Römischen Elegie, wo es heiszt:

„— Ich will es euch. Freunde, gestehen:"
„Gar verdrieszlich ist mir einsam das Lager zu Nacht,"

sowie mit dem Paralipomenon zu den Venezianischen Epigrammen
(W. A. Bd. 1 S. 467)

„Alles was ihr wollt, ich bin euch immer gewärtig,"
„Aber einsam des Nachts schlafen! 0 Freunde, verzeiht!"

(Es fehlt in der J. A. und in Gräfs Register zu „Goethe über seine
Dichtungen, Lyrik II, 2.")

Wir sind mit diesen Gedichten im Bereiche des Nur-Sinnlichen.
Es ist m. E. Christiane, die dem Dichter in allen dreien als Bei-
schläferin erwünscht ist, was für die 18. Römischc Elegie schon
oben, nr. 14, des Näheren nachgewiesen wurde.

27. J. A. Bd. 1 S. 210. [W. A. Bd. 1 S. 313].

„Venezianische Epigramme 27."

„Alle Neun, sie winkten mir oft, —"

Anmerkung: Dieses Epigramm zeigt inhaltlich Verwandt-
schaft mit der 13. Römischen Elegie, Vers 27/30. (Vgl. oben nr. 11).

In unserem Epigramm waltet ein etwas steif-rhetorischer Spott,
bis es gipfelt in der komischen Apotheose:

„Langeweile! du bist Mutter der Musen gegrüszt."

„Das Mädchen im Schosz," das alle Neun ausstach — er meint
die Musen — war wohl Christiane Vulpius.

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28. J. A. Bd. 1 S. 210 f. [W. A. Bd. 1 S. 313].

„Venezianische Epigramme 28."

„Welch ein Mädchen ich wünsche zu haben? —"

Anmerkung: Das Epigramm fehlt in Gräfs Register zu
„Goethe über seine Dichtungen, Lyrik II, 2." ,

Es zeigt Verwandtschaft im Bilde und auch wohl im Sinne mit
dem 12. Venezianischen Epigramm, das lautet:

„Mache der Schwärmer sich Schüler wie Sand am Meere

— der Sand ist"

„Sand; die Perle sei mein, du, o vernünftiger Freund!"

Während es nun im 12. Epigramm wünschend heiszt: „— die
Perle sei mein —" heiszt es im 28.: „Ich habe sie. Es (= das „Perl-
„chen, de B.) bleibt nun mir am Herzen verwahrt." Die Geliebte
ist dem Dichter etwas Kostbares, das er zufällig fand. Insoweit
ist unser Epigramm auch wieder verwandt mit dem volkstümlich
gehaltenen Liede, das Goethe am 26. August 1813 der „Frau von
Goethe" widmete: „Gefunden", J. A. Bd. 1 S. 18 und S. 307.

Ich möchte sowohl das 28. als auch das 12. Epigramm auf Chris-
tiane Vulpius beziehen. —

29. J. A. Bd. 1 S. 211. [W. A. Bd. 1 S. 314].

„Venezianische Epigramme 31."

„Das ist dein eigenes Kind nicht, —"

Anmerkung: Es fehlt in Gräfs Register zu „Goethe über
seine Dichtungen, Lyrik II, 2." — Vgl. auch das 30. Ven. Epigramm.

Der Dichter beschreibt uns eine italienische Bettlerin, von der
er weisz, dasz sie nicht mit dem eignen Kinde die milden Herzen
zu rühren sucht. Dennoch „redet" diese mit dem Kinde auf dem
Arm bettelnde Frau „mit Macht an das Herz" des Fremden, der
der Vater eines heiszgeliebten Söhnleins in der fernen Heimat ist,
der aufseufzend an diejenige gemahnt wird, die ihm sein eigenes
Kind entgegentragen wird.

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Die Rührung deutet darauf hin, dasz eine starke Macht diesen
Mann mit der Mutter seines Kindes verbindet. —

30. J. A. Bd. 1 S. 212. [W. A. Bd. 1 S. 315J.

„Venezianische Epigramme 34a."

„Oft erklärtet ihr euch als Freunde des Dichters, —"

Anmerkung: Laut Tabelle IX, 42 in Gräfs Werk „Goethe
über seine Dichtungen, Lyrik II, 2 S. 911" zuerst in Schillers Musen-
Almanach für das Jahr 1796 (Druck 1795) erschienen. — Laut
Tabelle Xlll, 97 wurde erst 1800 Epigramm
34b:

„Klein ist unter den Fürsten Germaniens —"

wahrscheinlich das Lobgedicht, dessen Goethe am 10. Mai 1789
in seinem Briefe an Karl August erwähnt, hinzugefügt. — In E.
V. d. Hellens Bemerkung, J. A. Bd. 1 S. 357 vorletzte Zeile, ist
statt nr. 34a zu lesen: nr.
34b.

Der Dichter zählt uns auf, was er bedarf, was er von den Göttern
verlangt. Erstens „natürliche Dinge", dann was das Leben ziert
und bedeutend macht.

Unter den fünf natürlichen Dingen, die er vor allem verlangt,
fällt die Erwähnung eines „Liebchpns des Nachts" auf, „das ihn
von Herzen begehrt." Keine seelenverwandte, eheliche Freundin
braucht er, und die Liebe, die er einst hatte, die ihm lieber war als
alles, hat er sich aus dem Sinn geschlagen: Ein Liebchen des Nachts.
Naturalia non sunt turpia.

Es liegt eine verhaltene, aber trotzige Selbstverteidigung darin,
dasz der Dichter uns das Liebchen neben Wohnung, Speise und
Trank, Kleidung, Gespräch mit Freunden, alten und neuen Sprachen,
Künsten, Ansehn im Volke und Einflusz bei Mächtigen vorführt.

Er will sein Verhältnis zu Christiane Vulpius — denn darum
handelt es sich hier wohl — durch die „Natürlichkeit" an und für
sich als saktioniert hinstellen.

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31. J. A. Bd. 1 S. 216. [W. A. Bd. 1 S. 320].

„Venezianische Epigramme 49".

„Wiszt ihr, wie ich gewisz —"

Anmerkung: Unser Epigramm hat innere Verwandtschaft
mit dem 27. und 46. Venezianischen Epigramm, sowie mit dem
Vorspruch zu sämtlichen. Das Dichten ist ihm Zeitvertreib, sich
über die Tage der Trennung von der Liebsten hinwegzuhelfen.

32. J. A. Bd. 1 S. 223. [W. A. Bd. 1 S. 327].

„Venezianische Epigramme 84".

„Göttlicher Morpheus, umsonst —"

A n m e r k u n g: E. V. d. Hellen, J. A. Bd. 1 S. 361, macht die
Bemerkung: „83—102. Hier scheinen mehrfach Fragmente unaus-
geführter „Römischer Elegien" verwertet zu sein."

Man könnte in unserem Epigramm an irgend eine venezianische
„Lacerte" denken, wie Goethe die zierlichen, leichtsinnigen Mäd-
chen Venedigs mit einem gefälligen Bilde nennt. (Vgl. Ven. Epigr.
nr. 67, 68 und 70). Wegen seiner Sorglichkeit in eroticis scheint
mir das nicht wahrscheinlich. (Vgl. Röm. Elegien nr. XVIII). Ich
beziehe unser Gedicht auf Christiane. —

33. J. A. Bd. 1 S. 223. [W. A. Bd. I S. 327].

„Venezianische Epigramme 85."

„Liebe flöszest du ein, —"

Anmerkung: Unser Epigramm zeigt Verwandtschaft mit
der zweiten unterdrückten Römischen Elegie. (Vgl. nr. 17 dieses
Abschnitts, W. A. Bd. 1 S. 419: „Zwei gefährliche Schlangen —".)

Mangel an Vertrauen mag ja zu den Motiven gehört haben, die
Goethe so viele Jahre davon zurückhielten, seine Gewissensehe
kirchlich legalisieren zu lassen.

Riemers überaus wichtige Notiz vom 15. Mai 1808 in seinen

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„Mitteilungen über Goethe, hrsg. v. Arthur Pollmer, 1921. S. 292":
„Goethes Geschichte amoris uxoris suae post expertam fidem"
deutet m. E. auf anfängliches Misztrauen bei Goethe hin, was unser
Epigramm poetisch zum Ausdruck bringt. —

34. J. A. Bd. 1 S. 223. [W. A. Bd. 1 S. 327].

„Venezianische Epigramme 86."

„Ha! ich kenne dich, Amor —"

Anmerkung: Eines der schönsten Venezianischen Epigramme.
In seiner Allgemeinheit bezieht es sich auch auf Goethes dunkel-
verworrenes, neuestes Weimarer Liebesabenteuer, ist aber zugleich
umfassender, erhebt sich über den Einzelfall. Wir hören, wenn
auch nichts vom seligen Liebesrausch:

„Alle das Neigen"
„Von Herzen zu Herzen,"
. „Ach wie so eigen"
„Schaffet das Schmerzen! —"

wir hören und sehen Verwandtes, aber des Hellen ist recht wenig
in diesem kleinen Chiaroscuro.

„Ihr himmlischen Mächte,"
„Ihr führt ins Leben uns hinein,"
„Ihr laszt den Armen schuldig werden,"
„Dann überlaszt ihr ihn der Pein;
„Denn alle Schuld rächt sich auf Erden —"

das steht unserem Epigramm schon näher. Das Venezianische
Epigramm läszt nun aber wieder das Erhabene vermissen, das
dem Liede des Harfenspielers eigen ist.

In unserem Epigramm wird der Verführte gehänselt von dem
kleinen falschen Quälgeist, dem er eben folgen musz, bis Amor ihn
seinen Weg im Dunkel weiter tappen läszt.

Es irrt der Mensch____

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35. J. A. Bd. 1 S. 223. [W. A. Bd. 1 S. 327].

„Venezianische Epigramme 87."

„Eine einzige Nacht an deinem Herzen! —"

Anmerkung: Das Epigramm wird von Gräf nicht in seinem
Register zu „Goethe über seine Dichtungen, Lyrik II, 2" erwähnt.

Das starke Verlangen nach der Geliebten scheint mir für Goethe
sehr wohl in die Zeit des Wartens zu Venedig zu passen.

Er lebt der sichern Hoffnung, dasz er sie nach der Trennung in
„Nebel und Nacht" wieder am Busen haben wird, bis sie der Mor-
gengott weckt.

Wir müssen dabei annehmen, dasz alles, was dem Dichter wider-
fährt von dem allmächtigen Amor über ihn verhängt wird. Auch
diese Trennung hat ihm Amor auferlegt.

36. J. A. Bd. 1 S. 224. [W. A. Bd. 1 S. 328].

„Venezianische Epigramme 90."

„Welch ein lustiges Spiel! —"

Anmerkung: Es fehlt in Gräfs Register zu „Goethe über
seine Dichtungen, Lyrik II, 2." —

Wenn wir auch nicht aus den Augen verlieren dürfen, dasz die
Venezianischen Epigramme etwas Maskenhaftes an sich haben, so
ist zu diesem höchst merkwürdigen Gedichte erstens eine Stelle
aus Frau v. Steins Brief an Zimmermann vom 6. und 8. März 1776
zu vergleichen:

„Ich fühl\'s, Goethe und ich werden niemals Freunde. Auch seine
„Art, mit unserm Geschlecht umzugehn, gefällt mir nicht. Er ist
„eigentlich, was man c o q u e t nennt. Es ist nicht Achtung genug
„in seinem Umgang." Zweitens eine Stelle aus Goethes Schreiben
an Frau v. Stein vom 27. Januar 1776: „Ich log und trog mich bey
„allen hübschen Gesichtern herum, und hatte den Vorteil, immer
„im Augenblick zu glauben was ich sagte." —

Während wir in seinem Liede „Neue Liebe, neues Leben" einen
inneren Kampf wider die Liebe beobachten, zugleich aber fühlen.

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dasz er liebend selbst leidet, während wir ihn selig-unselig zwischen
Neigen und Nichthinneigen schwanken sehen in dem andern Liede
„Rastlose Liebe", ist er in unserem Epigramm Jongleur mit dem
eigenen Herzen, oder aber er will es scheinen.

Betrachten wir das Gedicht unter der kritischen Lupe, dann
sehen wir, wie die Schadenfreude nicht weit gewesen sein kann.
Leicht und spielend gelingt es ihm immer wieder die Schönen zu
betören.

Das sollte sich etwa nicht auf eine Christiane oder gar Charlotte
beziehen?

Dann gefällt er sich in der Rolle des Untreuen blosz anderen
gegenüber?

Uns steigt die Ahnung auf: diesem Manne waren Liebesangelegen-
heiten zeitweise Allotria.

37. J. A. Bd. 1 S. 224. [W. A. Bd. 1 S. 328].

„Venezianische Epigramme 91."

„0 wie achtet\' ich sonst auf alle Zeiten des Jahres, —"

Anmerkung: Das Epigramm fehlt in Gräfs Register zu:
„Goethe über seine Dichtungen, Lyrik 11, 2." —
, Der Inhalt unseres Epigramms ist verwandt mit dem des farben-
frohen, heitren „Frühling übers Jahr", J. A. Bd. 2 S. 218f. und S. 343.

Das 91. Venezianische Epigramm möchte ich sowie das später zu
besprechende „Frühling übers Jahr" auf Christiane Vulpius beziehen.

38. J. A. Bd. 1 S. 224. [W. A. Bd. 1 S. 328].

„Venezianische Epigramme 92."

„Sage, wie lebst du? —"

Anmerkung: Das Epigramm fehlt in Gräfs mehr erwähntem
Register.

Diese allgemeine Verherrlichung des Lebens enthält implizite
auch die Bejahung seiner Liebe, die er schon im vorigen Epigramm
als „ewigen Frühling" feierte.

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39. J. A. Bd. I S. 224. [W. A. Bd. I S. 328].

„Venezianische Epigramme 93."

„Götter, wie soll ich euch danken! —"

Anmerkung: Fehlt in Gräfs oben erwähntem Register,

Inhaltlich verwandt mit dem Venezianischen Epigramm 34ö ist
es zugleich eine Steigerung desselben:

„Ihr [,Götter,] habt mir a 11 e s gegeben,"
„Was der Mensch sich erfleht —"

E. V. d. Hellen bemerkt J. A. Bd. I S. 361: „(Das Epigramm 93
„Zeile 2) ist in einer Handschrift als verbesserungsbedürftig ange-
„merkt, aber ungeklärt geblieben. (Die Glücksgüter, die der Mensch
„in der Regel erfleht, haben geringen Wert.)" — Mit v. d. Hellen
nehme ich an, dasz der Ausdruck „in der Regel" die Schwierigkeit
verursacht. Ich möchte jedoch dieser scheinbar formelhaften Wen-
dung einen prägnanteren Sinn beilegen als er. Ich nehme an, dasz
„in der Regel" hier heiszt „der Regel gemäsz." Der Dichter sagt:
„Götter, ihr habt mir alles gegeben, was der Mensch sich erfleht —
„nur fast nichts auf regelmäszige Weise." Vgl. Seine ganze Wei-
marer Existenz. —

40. J. A. Bd. 1 S. 225. [W. A. Bd. 1 S. 328].

„Venezianische Epigramme 94."

„In der Dämmrung des Morgens —"

Anmerkung: Gräf „Goethes Liebesgedichte S. 393" datiert
unser Epigramm aus Schlesien, 1790 Sommer.

Die Beschreibung seiner herrlichen Morgenspaziergänge als Jüng-
ling erinnert daran, dasz Goethe sich, als er 1782 geadelt wurde,
den Morgenstern ins Wappen wählte.

Jetzt sind ihm die „himmlischen Augen" seiner Geliebten die
Boten des Tags, stets kommt ihm die Sonne zu früh.

Ich vermute hinter den Worten des letzten Distichons des Mannes
heimliche Sehnsucht nach der „Wonne des Jünglings."

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41. J. A. Bd. 1 S. 225. [W. A. Bd. 1 S. 329].

„Venezianische Epigramme 96."

„Glänzen sah ich das Meer, —"

Anmerkung: Keine Sehnsucht mehr nach Süden, des Dich-
ters Blick wird von dem „groszen Magnet" im Norden nach dem
Schnee des Gebirgs gezogen: die junge Mutter und das Söhnlein
ziehen ihn unwiderstehlich zurück.

Vor wenigen Jahren zog er wie ein Pilgrim nach der heiligen
Stadt seiner brennenden Sehnsucht, nach Rom.

Goethe sagt in seiner „Kampagne in Frankreich", J. A. Bd.
28 S. 148 f.: „Das Sehnsüchtige, das in mir lag, das ich in früheren
„Jahren vielleicht zu sehr gehegt und bei fortschreitendem Leben
„kräftig zu bekämpfen trachtete, wollte dem Manne nicht mehr
„ziemen, nicht mehr genügen, und er suchte deshalb die volle,
„endliche Befriedigung."

„Das Ziel meiner innigsten Sehnsucht, deren Qual mein ganzes
„Inneres erfüllte, war Italien, dessen Bild und Gleichnis mir viele
„Jahre vergebens vorschwebte, bis ich endlich durch kühnen Ent-
„schlusz die wirkliche Gegenwart zu fassen mich erdreistete. —"

„In Italien fühlt\' ich mich nach und nach kleinlichen Vorstellungen
„entrissen, falschen Wünschen enthoben, und an die Stelle der
„Sehnsucht nach dem Lande der Künste setzte sich die Sehnsucht
„nach der Kunst selbst: ich war sie gewahr geworden, nun wünscht\'
„Ich sie zu durchdringen." — So wird die Zeit vor und während
der groszen italienischen Reise der Jahre 1786—1788 gewertet.

Zu gleicher Zeit trat „die entschiedenste Wendung gegen die
Natur" in Goethes Leben ein. „Die Römischen Elegien", die
„Venezianischen Epigramme" fallen in diese Zeit.

Nicht die Kunst, jetzt ziehen ihn Naturmächte. Er musz zurück
„zu dem zurückgelasznen Erotio und zu dem kleinen Geschöpf
„in den Windeln." (Goethe an Karl August, den 3. April 1790.
Venedig.)

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42. J. A. Bd. 1 S. 226. [W. A. Bd. 1 S. 329].

„Venezianische Epigramme 98."

„Arm und kleiderlos war, —"

Anmerkung: Fehlt in Gräfs mehr erwähntem Register.

Ich nehme an, dasz dieses Venezianische Epigramm sich auf
Christiane Vulpius bezieht, die mit ihren nächsten Verwandten in
recht dürftigen Verhältnissen lebte, als sie der Dichter im Jahre
1788 kennen lernte.

43. J. A. Bd. 1 S. 226. [W. A. Bd. 1 S. 330].

„Venezianische Epigramme 99."

„Oftmals hab\' ich geirrt, —"

Anmerkung: Fehlt in Gräfs oben erwähntem Register.

Der Glaube allein macht selig, und wäre es der Glaube an einen
Irrtum, wenn er nur nicht als solcher erkannt wird. (Vgl. Venezia-
sche Epigramme 6).

Aber ganz im seligmachenden Glauben steht der Dichter schon
nicht mehr, denn er weisz, dasz er „dies Mädchen" nur sieht, wie
es den Göttern gefällt, deren Blendwerk sein Glück vielleicht ist.

Goethe verzeichnet hier poetisch ein Stadium geringerer Glück-
seligkeit als in den Venezianischen Epigrammen 91 und 92. Das
dürfte der Grund sein, weshalb er das 99. Venez. Epigramm ans
Ende seines libellums gerückt hat.

44. J. A. Bd. 1 S. 226. [W. A. Bd. 1 S. 330].

„Venezianische Epigramme 100."

„Traurig Midas, war dein Geschick —."

Anmerkung: Das Gedicht deutet, wie das 99. Venezianische
Epigramm, m. E. an, dasz Goethes Liebe sich zu verflüchtigen
beginnt, dasz er zu zweifeln anfängt an der Identität seiner „Vor-
stellung" und der entsprechenden „Wirklichkeit." Der schicksalhafte
Lauf der Liebe strebt in seinem Innern heimlich-offenbar dem
Ende zu.

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45. J. A. Bd. 1 S. 227. [W. A. Bd. 1 S. 331].

„Venezianische Epigramme 103."

„Und so tändelt\' ich mir, —"

Anmerkung: Fehlt in Gräfs oben erwähntem Register.

Für den Dichter ist das Leben in seinen Vorstellungen charakte-
ristisch, mehr als für den Nicht-Dichter. Besonders aber, wenn
sich zwischen „Vorstellung" und „Wirklichkeit" die typische Diffe-
renz zeigt, wird sich der eo ipso zur Beschaulichkeit hinneigende
Poet in seine Vorstellungen zurückziehen,

„Erinnerung" und „Hoffnung", mit diesen Worten bezeichnet
der Dichter das Gebiet der Vorstellung in unserem Epigramm,
beziehe ich in diesem poetischen Schluszwort des ganzen Zyklus
auf Christiane Vulpius, die Goethe den 10. März 1790 verliesz und
aus Venedig zurückkehrend am 18. Juni wiedersah. —

46. W. A. Bd. 1 S. 465.

„Lange sucht\' ich ein Weib mir, ich suchte, da fand ich nur

Dirnen,"

„Endlich erhascht\' ich dich mir. Dirnchen, da fand ich ein Weib!"

Anmerkung: Dieses Distichon, ein Paralipomenon zu den
Venezianischen Epigrammen, fehlt in der J. A. — Auch Gräf erwähnt
es nicht in seinem oben genannten Register.

Grimm sagt in seinem Wörterbuch unter ,Dirne\' (3): „mulier
„impudica; amica, amicula; stuprata, concubina, pellex, meretrix;
„prostibulum, lupa. Man sagt eine leichtfertige, liederliche, unzüch-
„tige, feile dirne."

Paul notiert in seinem „Deutschen Wörterbuch (2)": „Dirne____

„Grdbd. „Dienerin", „Magd" daneben schon frühzeitig „Jungfrau",
„Mädchen", vorzugsweise von Mädchen niederen Standes gebraucht,
„daher endlich euphemistisch für Hure." —

Goethe nun hat das Wort , Dirne\' in guter und schlechter Bedeu-
tung verwandt. Vgl. Faust I, 828: „Blitz, wie die wackern Dirnen
schreiten!" —

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Dagegen Faust I, 126: „Der eine wilde Nacht an einer Dirne Busen."

Faust I, 3174: „Mit dieser Dirne gradehin zu handeln." — „Die
Braut von Korinth (143)": „Gibt es hier im Hause solche Dirnen." —

Ich nehme an, dasz in unserem Paralipomenon sowohl „Dirnen",
wie „Dirnchen", wenn auch weniger derb als Diminutiv, euphe-
mistisch gebraucht worden sind für Hure(n) und dasz sich deshalb
das Distichon auf Christiane Vulpius bezieht. Denn, was Karoline
Herder den 8. Mai 1789 an ihren Mann schrieb: „Er (= Goethe,
„de B.) hat sein Herz, wie sie (= Frau von Stein, de B.) glaubt^
„ganz von ihr (Frau v. Stein, de B.) gewendet und sich ganz dem
„Mädchen Christiane, de B.), die eine allgemeine H. — vorher
„gewesen, geschenkt," wird Goethe auf irgend einem Wege als Ge-
rücht auch schon erfahren haben, dafür war Weimar klein —
und Goethes Ohr scharf genug.

Zwar nehme ich einen ironischen Nebenton in unserem Distichon
an. Goethe äuszert in galligster Weise seinen Ärger über die Ver-
leumdung, mit der man Christiane Vulpius traktierte.

Da es sehr schwer hält die Grenzlinie zwischen Spott und Ernst
zu ziehen, da Goethe vermutet haben dürfte, dasz nicht jedem ohne
weiteres die ironische Qualität dieses Distichons einleuchten würde,
da ein für bare Münze Nehmen die Sache noch viel schlimmer ge-
staltete, mag er sich entschlossen haben, das verletzende Epigramm
zu unterdrücken.

Unser Distichon zeigt Verwandtschaft mit Goethes Ballade „Der
Gott und die Bajadere," J. A. Bd. 1 S. 150 f.

Ob auch inhaltliche Beziehung zu dem „zahmen Xenion", J. A.
Bd. 4 S. 121, 580/581,

„Die ihrem Mann allein gewährt vergnügte Stunden —"

„Ich gehe noch herum! ich hab\' sie nicht gefunden,"
besteht, wage ich nicht zu entscheiden, besonders weil die Stellung
des Wortes „allein" in der ersten Verszeile zwei Deutungen zuläszt.
Vgl. auch E.
v. d. Hellen, J. A. Bd. 4 S. 298 und 303.

47. W. A. Bd. 1 S. 465.

„Ob erfüllt sei was Moses und die Propheten gesprochen"

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„An dem heiligen Christ, Freunde das weisz ich nicht recht."

„Aber das weisz ich, erfüllt sind Wünsche, Sehnsucht und Träume,"

„Wenn das liebliche Kind süsz mir am Busen entschläft."

Anmerkung: Dieses Paralipomenon zu den Venezianischen
Epigrammen kommt nicht in der J. A. vor. Auch fehlt es in Gräfs
oben erwähntem Register.

Es ist inhaltlich verwandt mit den Venezianischen Epigrammen
26, 34a, 87, 91, 94 und gehört wohl in die Zeit, da der Dichter von
seiner Liebe für Christiane ganz begeistert war.

48. W. A. Bd. I S. 465.

„Alle Weiber sind Waare____"

„Glücklich ist die Beständige die den Beständigen findet"

„Einmal nur sich verkauft und auch nur einmal verkauft wird."

Anmerkung: Diese] Fragmente zu den Venezianischen
Epigrammen kommen nicht in der J. A. vor. Auch fehlen sie in
Gräfs oben erwähntem Register.

Weniger stark schrieb Goethe schon früher brieflich an Karl
August aus Rom, den 29. Dec. 1787: „Ja man kann fast sagen,
„dasz alle verheurathete Weiber dem zu Gebote stehn, der die
„Familie erhalten will." (W. A. IV Abth. 8. Bd.) Vgl. auch nr. 14
dieses Abschnitts.

Die derbe Schroffheit der verallgemeinernden Fragmente deutet
auf Goethes üble Laune. Dasz Goethe bei diesen eine merkantile
Auffassung der Beziehungen zwischen den Geschlechtern bekun-
denden Worten auch an Christiane Vulpius gedacht hat, die aus
ihrem „Liebeshandel" mit Goethe bedeutenden materiellen Vorteil
zog, scheint mir wahrscheinlich.

49. J. A. Bd. 3 S. 105. [W. A. Bd. 4 S. 230].

„An den Herzog Karl August"
„Weimar, 24 März 1791."

„Zu dem erbaulichen Entschlusz, —"

A n m e r k u n g: Vgl. E. V. d. Hellen J. A. Bd. 3 S. 325: „Der

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„Herzog hatte zu seinem preuszischen Regiment nach Aschers-
„leben gewollt. Gegenstand der Sendung war vielleicht ein Werk
„Kants (vgl. 11), mit dem Goethe sich damals beschäftigt hatte;
„vgl. an Reichardt, 25 Okt. 1790. [Kants
Buch — die unlängst er-
„schienene Kritik der Urteilskraft — hat mich sehr gefreut.]"

Goethe wohnte zu der Zeit im „Jägerhaus" vor dem Frauentor.
Ob Christiane damals schon in seinem Hause lebte, scheint nicht
ganz fest zu stehen. Doch heiszt es am 1. Nov. 1790 in Schillers
Brief an Körner, sie sei in Goethes Hause „so gut als etabliert."
Vgl. W. Bode „Goethes Sohn S. 5." —

50. J. A. Bd. 3 S. 106.

„An Christiane Vulpius."

„Karlsbad, 15 Juli 1795."

„Von Osten nach Westen"

„Zu Hause am besten."

Anmerkung: Es fehlt in der W. A. — E. v. d. Hellen bemerkt
J. A. Bd. 3 S. 326: „Die Verse stehen schon im Tagebuch der
„schlesischen Reise von 1790." — Vgl. „Goethes Briefwechsel mit
seiner Frau, hrsg. v. Gräf, Bd. 1 S. 50 f." — Ende Juni 1795 begab
sich Goethe nach Jena und reiste am 2. Juli nach Karlsbad ab,
wo er eine vierwöchige Badekur gebrauchte.

Am 7. Juli 1795 schreibt er an Christiane: „Äugelchen setzts
„auch genug." — An Schiller, den 8. Juli 1795, in ganz anderem
Tone, offener: „Auf alle Fälle habe ich gleich einen kleinen Roman
„aus dem Stegreife angeknüpft, der höchst nötig ist, um einen
„Morgens um 5 Uhr aus dem Bette zu locken. Hoffentlich werden
„wir die Gesinnungen dergestalt mäszigen und die Begebenheiten
„so zu leiten wissen, dasz er vierzehn Tage aushalten kann."
Am 15. wieder an Christiane:

„Es gibt manchen Spasz und Äugelchen die Menge, wobei ich
„mich immer mehr, überzeuge:

„Von Osten nach Westen"
„Zu Hause am besten."

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Der Brief schlieszt mit den merkwürdigen Worten: „Liebe mich
»wie ich am Ende aller Dinge nichts Besseres sehe, als Dich zu
»lieben und mit Dir zu leben."

Und wenn er nun wohl etwas „Besseres" gesehen hätte? Der
briefliche Kommentar zu unserem zweizeiligen Gedicht sagt, nur
ins Milde abgetönt: „Ich werde dich faute de mieux weiter lieben."

Am 19. meldet er: „Ich lebe sehr zerstreut, den ganzen Tag unter
„Menschen, es werden viel Äugelchen gemacht, die Dir aber keinen
»Abbruch thun, denn man sieht erst recht, wie sehr man Ursache
»hat, seinen treuen Hausschatz zu lieben und zu bewahren."

Am 25. heiszt es: „Die Äugelchen nehmen sehr ab, denn es kann
„von beiden Seiten kein Ernst werden. Behalte mich nur recht
ernstlich lieb."

Am 29. noch einmal: „Ich freue mich herzlich, Dich wiederzusehen
„und Dir zu sagen: dasz zu Hause, bei seinem Liebchen, das Beste
„in der Welt ist, denn am Ende wers nicht hat, sucht ein Zuhause
„und ein Liebchen."

Er weisz es nicht, ob er die „Gesinnungen" mäszigen und die
„Begebenheiten" leiten kann, wenn er auch sagt, e r habe aus dem
Stegreif einen kleinen Roman angeknüpft! Während es unter seinen
gemäszigt-freundlichen, aus der Ferne leiten wollenden Worten wie
heimliche, vielleicht nicht unbeabsichtigte, Drohung liegt: Bereite
mir mein Heim und liebe mich, sonst —! Vgl. J. A. Bd. 2 S. ,121
nr. 2 „Hausgarten", 1821 entstanden. — Vgl. nr. 19dieses Abschnitts.

51. J. A. Bd. 1 S. 117 f. [W. A. Bd. 1 S. 184].

„Die Spinnerin."

„Als ich still und ruhig spann." —

Anmerkung: Vgl. E. v. d. Hellen Bd. 1 S. 341 f. _ Das
Gedicht, so führt v. d. Hellen dort näher aus, musz nach 1792 und
vor 1796 entstanden sein. Es gehört, wie er S. XVllI seiner Einlei-
tung zum 1 Bde. bemerkt, in die Gruppe der Umdichtungen c. q.
Parodien, wie „Heidenröslein," „Nähe des Geliebten", „Gefunden",

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„Gewohnt, getan" u. s. w. Die Ballade ist also eines der Beispiele
für Goethes produktive Kritik.

Da auch Gräf „Goethe über seine Dichtungen, Lyrik II, 2 S. 992"
annimmt, das Gedicht sei zwischen 1792 und 1795 (Sommer) ent-
standen, scheint es mir äuszerst wahrscheinlich, dasz Goethe dabei
auch an Christiane gedacht hat.

Die Fabel der Ballade hat mit der Gretchentragödie aus Faust
eine gewisse Verwandtschaft. Auszerdem ist unser Gedicht verwandt
mit „Vor Gericht", J. A. Bd. 1 S. 118 f., das nach v. d. Hellen und
nach Gräf schon in den 70er Jahren entstand.

Gretchen wird die Mörderin ihres Kindes und sühnt das Verbrechen
mit dem eignen Leben.

Die werdende Mutter der Ballade „Vor Gericht" lehnt sich trotzig
gegen geistliche und weltliche Macht auf, verteidigt ihr individuelles
Glück gegen die ihr feindlich gesinnte soziale Ordnung.

Trotz dem Schatten, der teilweise auf unserem Gedichte liegt,
hat „Die Spinnerin" etwas Idyllisches, worin ich Reflexe der Goethe-
schen Gewissensehe mit Christiane Vulpius vermute.

Vorbemerkung zu den aus den
„Vier Jahreszeiten" unten angeführten Distichen.

E. V. d. Hellen bemerkt J. A. Bd. 1 S. 364: „Vier Jahreszeiten."
„Die unter diesem Titel vereinigten Distichen gehören ihrer Ent-
„stehung nach dem Kreise der „Xenien" an und erschienen (auszer
„vieren) schon mit diesen in Schillers Musenalmanach auf 1797.
„Frühling", „Sommer" und „Winter" bildeten dort geschlossene
„Gruppen mit den Überschriften „Vielen", „Einer" (d. h. Christiane
„Vulpius). Wie der Vorspruch — andeutet, wollen die „Vier Jahres-
„zeiten", der vorigen Abteilung darin vergleichbar (= Weissa-
„gungen des Bakis, de B.), nicht im einzelnen nüchtern ausgelegt,
„sondern als poetisches Ganze"aufgefaszt werden. Demgemäsz strich
„Goethe schon 1800 die Überschriften der ersten Gruppe (—4
„C. G." -)"

Max Morris „Goethe-Studien (2) Bd. 2 S. 76 Fusznote" bezieht

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»Vier Jahreszeiten, Frühling 4, Sommer ganz" auf Christiane
Vulpius.

Gräf „Goethes Liebesgedichte" bezieht nur „Einer" (= „Sommer"
in der J. A., de B.) auf Christiane, und führt in seinem Register
zu „Goethe über seine Dichtungen, Lyrik II, 2" zwar die „Vier
Jahreszeiten" mehrfach an, die einzelnen Distichen jedoch nur
ausnahmsweise, was ich unten durch den Vermerk andeute: Fehlt
in Gräfs Register.

Etta Federn „Christiane v. Goethe" sagt S. 240: „— die Gedichte
„Einer" (= „Sommer" in der J. A., de B.) sind fast alle ihr zuge-
„eignet (= Christiane, de B.)" —

52. J. A. Bd. 1 S. 235. [W. A. Bd. 1 S. 345].

„Vier Jahreszeiten. Frühling. 4."

„Viele der Veilchen zusammengeknüpft, —"

Anmerkung: Fehlt in Gräfs Register. — 1800 strich Goethe
die Initialen „C. G.", die er unserem Distichon in Schillers Almanach
auf 1797 beigab. — Die Überschrift war allen Verleumdungen
gegenüber eine Huldigung Christianens. Das Distichon, welches das
häusliche Mädchen einem VeilchensträuszIein vergleicht, hebt das
bescheiden Liebliche an ihr hervor.

53. J. A. Bd. 1 S. 237. [W. A. Bd. 1 S. 348].

„Vier Jahreszeiten. Sommer. 19."

„Grausam erweist sich Amor an mir! —"

Anmerkung: Fehlt in Gräfs Register. Amor spielt mit dem
Menschen und der Dichter fühlt sich abhängig von dem kleinen
Gott, der es „grausam" treibt. Mir scheint ein Quantum Ironie
beigemischt zu sein, wodurch er sich über Unbequemes ja sogar
Lästiges in seiner Liebe hinwegzusetzen sucht.

Auch die Bitte an die Musen, mit seinen „Schmerzen" zu spielen,
deutet an, dasz der Dichter seine Empfindungen in eine höhere

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Sphäre hinaüfzuläutern strebt, zu verklären sucht, wie Goethe
überhaupt gern drückend Empfundenes in spielend Getragenes
umzuwandeln trachtete, wenn nicht gar schweigend verneinte.

54. J. A. Bd. 1 S. 237. [W. A. Bd. 1 S. 348].

„Vier Jahreszeiten." Sommer. 20."

„Manuskripte bezitz" ich," —

Anmerkung: Fehlt in Gräfs Register. — Das Distichon ent-
hält wohl einen Scherz, da Christiane Vulpius nur mit Anstren-
gung schrieb, wenn auch ihr Stil frisch war, Dasz Goethe bei seinen
bedeutenden pädagogischen Neigungen versucht haben wird, ihr
weitere Übung im Schreiben angedeihen zu lassen, scheint mir
wahrscheinlich. — Auch nr. 26 des Zyklus „Sommer" dürfte eine
leicht scherzende Färbung besitzen: „Welche Schrift ich zwei-, ja
„dreimal hinter einander lese?" Vgl. Goethe an Christiane, den 14.
Juni 1793: „Du hast recht wohl gethan, an meine Mutter zu schrei-
„ben, sie wird es ja wohl lesen können," sowie Goethe an Christiane,
den 9. Juni 1797: „Für deinen langen Brief danke ich Dir recht
„sehr, es geht schon wirklich mit dem schreiben, wenn Du es nur
„recht üben willst."

55. J. A. Bd. 1 S. 237. [W. A. Bd. 1 S. 348].

„Vier Jahreszeiten. Sommer. 21."

„Wie im Winter die Saat nur langsam keimet, —"

Anmerkung: Fehlt in Gräfs Register. — Goethes Liebe zu
Christiane brach im Sommer seines Lebens plötzlich hervor. —

56. J. A. Bd. 1 S. 238. [W. A. Bd. 1 S. 348],
« „Vier Jahreszeiten. Sommer. 22."

„Immer war mir das Feld —"

Anmerkung: Fehlt in Gräfs Register. — Christianens wirt-
schaftliches Interesse erstreckte sich nicht nur auf Haus und Haus-

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Haltung, sondern auch auf Garten und Acker, was unser Distichon
veranlaszt haben dürfte. Sie war eben ein „häusliches Mädchen".
(„Frühling 4.")

Der Raum wird als leer und unbegrenzt gedacht, der Ort bezeichnet
einen Raum auf der Erde, auf welchem sich Menschen angesiedelt
haben und zusammenwohnen. (Vgl. Eberhards Syn. Handwörter-
buch (15), nr. 1052 und 1040).

57. J. A. Bd. 1 S. 238. [W. A. Bd. 1 S. 348].

„Vier Jahreszeiten. Sommer. 23."

„Raum und Zeit, ich empfind\' es, —"

Anmerkung: Fehlt in Gräfs Register. Das scherzend ange-
hauchte Distichon deutet auf Beschäftigung mit der Philosophie
Kants hin. Schon 1790 befaszte sich Goethe mit Kants „Kritik
der Urteilskraft". Vgl. Goethe an Reichardt, den 25. Okt. 1790.—
Goethe an Herder, den 7. Juni 1793. — Goethe an Jacobi, den 7.
Juli 1793.

58. J. A. Bd. 1 S. 238. [W. A. Bd. 1 S. 348].

„Vier Jahreszeiten. Sommer. 24."

„Sorge! sie steiget mit dir zu Rosz, —"

Anmerkung: Fehlt in Gräfs Register. — Man ist erstaunt
über die rücksichtslose Offenherzigkeit, womit sich unser Dichter
zu Christianens Lebzeiten, als unfreundlich gesinnte Beobachter
alles, was sein Liebesleben betraf, peinlich genau observierten,
über seine intimen Angelegenheiten aussprach.

„Amor", eine Bürde „zudringlicher" als die Sorge! Die Schwere
der Last scheint mir gröszer als in dem kleinen verwandten Gedicht
für Charlotte von Stein, das er am 16. Okt. 1776 in Dornburg schrieb:
„Ich bin eben nirgend geborgen —" J. A. Bd. 3 S. 86. (Vgl. nr. II
des 3. Abschnitts).

Der tiefernste Ton des 24. Distichons aus dem Zyklus „Sommer"
gemahnt an Faust 1, 644 f.

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„Die Sorge nistet gleich im tiefen Herzen, —" J. A. Bd. 13, S. 29.
Vgl. auch Goethes Äuszerung über Christiane zu Reinhard: „Wis-
„sen Sie denn, dasz für meine Frau meine Werke ein Buch mit
„sieben Siegeln sind? Sie hat nicht eine Zeile davon gelesen. Die
„geistige Welt existiert nicht für sie." Lit. Echo 1900—1901. 3.
Jahr. Sp. 1272. Nur
unter Vorbehalt zu akzeptieren.

59. J. A. Bd. 1 S. 238. [W. A. Bd. 1 S. 349].

„Vier Jahreszeiten. Sommer. 25."

„Neigung besiegen ist schwer; —"

Anmerkung: Fehlt in Gräfs Register. Dasz man Neigung
faszt, ist allgemein menschlich, dasz der Mensch den Drang emp-
findet, seine Neigung bekämpfen zu müssen, ist weniger verbreitet.

Goethe versuchte es, unterlag aber; er hat sich nicht auf immer
von Christiane losgemacht. Seine Ehe wurde ein Kompromisz
zwischen Gebundenheit und Freiheit. So glaube ich die zahlreichen
Entweichungen nach Jena sowie einen Teil seiner anderen Reisen
deuten zu müssen.

Lieben war ihm ein vorübergehender Prozesz, nicht Dauerzu-
stand. „Es endet Leben und Liebe." Die Neigung hätte er, wenn
auch schwer, besiegen können. Die damit verbundene Gewohnheit
und m. E. besonders das Gefühl seiner Vaterschaft waren un-
überwindlich.

Mit Schiller verspüre ich in Goethes Charakter eine edle Schwäche
und Weichherzigkeit. Vgl. Schiller an Körner, den 21. Okt. 1800 —
und Schiller an die Gräfin Schimmelmann, den 23. Nov. 1800. —

60. J. A. Bd. 1 S. 238. [W. A. Bd. 1 S. 349].-

^ „Vier Jahreszeiten. Sommer. 27."

„Sie entzückt mich, und täuschet vielleicht. —"

Anmerkung: Fehlt in Gräfs Register. — Durch dieses Dis-
tichon will Goethe Glauben an die Geliebte, Vielverlästerte aus-

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drücken. Man sagt ja, sie täusche ihn 1 Das sei nicht möglich, meint
der Dichter, niemand könne so schauspielern, und weil solches
Spiel nicht möglich, sei Christianens Liebe echt.

Das Distichon ist als ablehnende Antwort des Dichters an
Christianens Verleumder männlichen und weiblichen Geschlechts
gemeint. Verwandtes, wenn auch in andrer Tonart findet sich bei
Goethe mehrfach. Es sei hingewiesen auf: J. A. Bd. 1 S. 223 und
226: „Venezianische Epigramme nr. 85 und 99." — J. A. Bd. 5
S. 49: „Wanderers Gemütsruhe." — J. A. Bd. 2 S. 155 f.: „Ver-
trauen." — W. A. Bd. 1 S. 468, Paralipomenon zu den „Venezia-
nischen Epigrammen:"

„Alle sagen mir, Kind, dasz du mich betrügest,"
„0 betrüge mich nur immer und immer so fort. —"
J. A. Bd. 4 S. 108 f.: „Zahme Xenien 7, Vers 235—248:" „Das
Publikum. - Herr Ego." - J. A. Bd. 4 S. 70 f.: „Zahme Xenien

4, Vers 1046—1055": „Sie betrog dich geraume Zeit," — „Betrogen
bist du zum Erbarmen, —" Vgl. auch Riemers Notiz, nr. 33 dieses
Abschnitts.

Eine andere (ältere?) Fassung des Hexameters teilt die W. A.
Bd. 1 S. 472 mit:

„Wer mich entzückt, vermag mich zu täuschen —"

Diese Redaktion lautet für Christiane ungünstiger, sagt, dasz
Täuschung möglich sei, wenn die Geliebte ihn nur entzücke, was ein
weiterer Beleg zu Simmeis Behauptung ist, dasz Goethe bisweilen
„einen merkwürdigen Mangel an psychologischem Blick" verriet,
wo es sich um Frauenkenntnis handelte. (Vgl. Georg Simmel, „Goethe

5. 194.")

Dem genialen Erotiker Goethe ist in eroticis eine gewisse ,tumpheit\'
eigen, die äuszere Kehrseite seiner momentanen inneren Seligkeit. —

61. J. A. Bd. 1 S. 238. [W. A. Bd. 1 S. 349].

„Vier Jahreszeiten. Sommer. 28."
„Alle Freude des Dichters, —"

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Anmerkung: Fehlt in Gräfs Register. — Der Dichter spricht
den Wunsch aus, dasz die Kluft, die ihn im Geistigen von der Ge-
liebten trennt, überbrückt werden möge.

Mag der Wunsch ausnahmsweise in Erfüllung gegangen sein,
geistiger Kontakt hat sich zwischen ihnen selten durch die Kunst
hergestellt.

„Pfingsten, das liebliche Fest" — ist das einzige Zitat aus Goethes
Werken, das in 247 Briefen, die uns von Christiane an Goethe er-
halten sind, vorkommt (den 5. Juni 1797). Fast 19 Jahre später
heiszt es in Christianens Brief an Goethe vom 15. Mai 1816: „... .der
Zauberlehrling ist in allen Zimmern eingekehrt —." Aus Goethes
Brief an Christiane vom 15. Sept. 1809 wissen wir, dasz er den
Seinen den ersten Teil der „Wahlverwandtschaften" mit der Bitte
sandte, ihm zu melden, was beim Lesen hinter verschlossenen
Türen unter ihnen vorgegangen sei. Die Tagebücher berichten, dasz
Goethe seiner Frau aus „Hermann und Dorothea", seiner Bearbeitung
von „Romea und Julia" und besonders aus „Dichtung und Wahr-
heit" vorlas. —

Dem steht die obenerwähnte Äuszerung Goethes an Reinhard,
wenn sie auch nur mit Vorbehalt akzeptiert werden darf, gegen-
über. Vgl. nr. 58 dieses Abschnitts,

62. J. A. Bd. 1 S. 238. [W. A. Bd. 1 S. 349].

„Vier Jahreszeiten. Sommer. 29,"
„Ein Epigramm sei zu kurz, —"

Anmerkung: Fehlt in Gräfs Register. — Wir dürften hier
die zu einem Distichon verarbeiteten Splitter eines Gespräches
zwischen Goethe und Christiane vor uns haben. Ihre schlagende
Bemerkung, dasz der herzliche Kusz noch kürzer sei als ein Epi-
gramm, hat den Dichter wohl zu diesem Distichon gereizt.

Die Bitte der Geliebten an ihren Poeten, er möge ihr etwas Herz-
liches dichten, bekundet Interesse, wenn auch rein-persönliches,
an der poetischen Arbeit ihres Gatten und deutet auf Beziehung
zu dem vorigen Distichon hin.

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63. J. A. Bd. 1 S. 239. [W. A. Bd. 1 S. 349].

„Vier Jahreszeiten. Sommer 31."

„Kennst du die herrliche Wirkung —"

Anmerkung: Fehlt in Gräfs Register. — Das 31. Distichon
aus dem Zyklus „Sommer" ist ein Seitenstück zum 30., das ich nicht
auf Christiane Vulpius beziehe. Während 30 einen in sich bestehenden
Dauerzustand andeutet, weist 31 auf eine Veränderung in den
Liebenden hin, die körperlich verbunden, geistig befreit werden.

Mich dünkt, dasz unser Distichon Goethes eignen, also männlichen,
Erlebnissen, speziell denen mit Christiane Vulpius entspricht.

Ein Korrelat zu diesem Geständnis des Mannes bilden die rühr-
enden Worte der Prinzessin in Tasso, J. A. Bd. 12 S. 131, Vers 1030 f.

„Wir sind von keinem Männerherzen sicher,"
„Das noch so warm sich einmal uns ergab —"

bis 1048.

Sowie die derbnatürliche Klage der „römischen" Geliebten,
Römische Elegien VI, J. A. Bd. 1 S. 158 f.:

„Geh! Ihr seid der Frauen nicht wert! Wir tragen die Kinder"

„Unter dem Herzen, und so tragen die Treue wir auch;"

„Aber ihr Männer, ihr schüttet mit eurer Kraft und Begierde"

„Auch die Liebe zugleich in den Umarmungen aus!"

64. J. A. Bd. 1 S. 239. [W. A. Bd. 1 S. 349].

„Vier Jahreszeiten. Sommer 32."

„Das ist die wahre Liebe, die immer —"

Anmerkung: Diese Zeilen gehören zu den erhabensten, die
Goethe uns hinterliesz. Es ist, als höre man einen neuen Thomas
a Kempis.

Ich fasse das Distichon als produktive Kritik der Goetheschen
Liebesrealität, als Aufrichtung eines Liebesideals. Sinnend schaut
der Seher über der irdischen Liebe die ideelle.

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65. J. A. Bd. 1 S. 239. [W. A. Bd. I S. 350].

„Vier Jahreszeiten. Sommer. 33."

„Alles wünscht\' ich zu haben, —"

Anmerkung: Fehlt in Gräfs Register. — Wie im vorigen
Distichon ein Ideal der Liebe statuiert wurde, so besingt der Dichter
hier „die Einzige", die hoch über allen irdischen Frauen empor-
ragende Göttin.

Mag dem Dichter a priori ein Streben zum Allerhöchsten ein-
geboren sein, erst die Lebenserfahrungen verdichten das gestaltlöse
Sehnen zur Form. Aus und über den irdischen Geliebten erhebt
sich im Dichter „die Einzige."

66. J. A. Bd. 1 S. 239. [W. A. Bd. 1 S. 350].

„Vier Jahreszeiten. Sommer 35."

„Warum bin ich vergänglich, o Zeus? —"
und

„Vier Jahreszeiten. Sommer 36."

„Und die Liebe, die Blumen —"

Anmerkung: Beide Nummern fehlen in Gräfs Register. —
Diese Distichen sind als eine Einheit zu fassen. Während der Dichter
das tragisch Ephemere der Schönheit durch nr. 35 im allgemeinen
andeutet, sagt er uns in nr. 36, dasz wie die Blumen, der Tau und
die Jugend auch die Liebe schön, aber vergänglich ist, denn so hat
es ein Gott gewollt.

Die Distichen deuten nicht an, dasz Goethes Liebe für Christiane
ihr Ende erreicht hat, sondern, dasz er weisz, wie ein höheres Gesetz
als des Menschen Wunsch und Wille Liebe schenkt und fortnimmt:
auch seine Liebe ordnet sich diesem Gesetze unter.

67. ^ J. A. Bd. 1 S. 239. [W. A. Bd. 1 S. 350].

„Vier Jahreszeiten. Sommer 37."

„Leben musz man und lieben: —"

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Anmerkung: Fehlt in Gräfs Register. — Ernst und gefaszt
beschlieszt das letzte Distichon den sommerlichen Kranz.

„Leben musz man und lieben." Musz man! Wo träte das Schick-
salhafte, das uns ins Irdische hineinführt, stärker zu Tage als bei
der Geburt? Wir wählen uns das Leben nicht, es wird uns gereicht.
So wird uns die Liebe, aus welcher heraus das neue Leben seinen
Ursprung nimmt, auferlegt.

Aber Leben und Liebe enden nach „ewigen, ehernen, groszen
Gesetzen." (Vgl. J. A. Bd. 2 S. 64 „Das Göttliche.") Sie enden aber
nicht stets zugleich, daher die flehentliche Bitte an die Parze, die
uns gemahnt an das 99. Venezianische Epigramm.

Wie ein Hauch der Wehmut legt sich die Erinnerung an das,
was er einst besasz, auf die Liebe, die er hat.

68. J. A. Bd. 1 S. 173 f. [W. A. Bd. 1 S. 263 f.]
„Elegien. Zweites Buch."

„Alexis und Dora."

„Ach! unaufhaltsam strebet das Schiff —"

Anmerkung: Laut Tagebuch am 12, 13, 14. Mai 1796 ent-
standen. — E.
v. d. Hellen bemerkt J. A. Bd. 1 S. 353:

„Im Unterschied vom ersten vereint das zweite Buch der Elegien
„Dichtungen, die nur durch die äuszere Form und die Zeit ihrer
„Entstehung verwandt sind. — Das Gedicht (^ „Alexis und Dora",
„de B.) ist in rein künstlerischer Absicht geschaffen und beruht
„stofflich auf keinem eignen Erlebnis; sein Kolorit aber ist echt
„italienisch und dort, in Neapel oder Sizilien, mochte die Beobach-
„tung einer Abschiedsszene die Anregung zu dem hier ausgeführten
„Bild gegeben haben." —

Gestützt auf folgendes Material nehme ich an, dasz unsere Elegie
nicht wie v. d. Hellen behauptet, „in rein künstlerischer Absicht
„geschaffen (ist) und stofflich auf keinem eignen Erlebnis beruht,"
sondern dasz Goethe noch einmal, wie in mehreren Römischen
Elegien des Ersten Buches durch „antike Formen" einen persön-

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liehen Kern nicht-italienischer Erlebnisse verhüllte: er spricht in
unserer Elegie die leidenschaftliche Freude am plötzlichen Finden
der Christiane, sowie seine bald stark einsetzende Eifersucht aus.

Goethe schreibt den 10. Sept. 1792 im Lager bei Verdun an
Christiane:

„Behalte mich ja lieb! Denn ich bin manchmal in Gedanken
„eifersüchtig und stelle mir vor: dasz Dir ein andrer besser gefallen
„könnte, weil ich viele Männer hübscher und angenehmer finde
„als mich selbst. Das muszt Du aber nicht sehen, sondern Du muszt
„mich für den besten halten, weil ich Dich ganz entsetzlich lieb habe
„und mir auszer Dir nichts gefällt. Ich träume oft von Dir, allerbei
„confuses Zeug, doch immer dasz wir uns lieb haben. Und dabei
mag es bleiben." —

Den 10. Oktober 1792 schreibt er aus Verdun: „Wenn ich Dir
„etwas schrieb, das Dich betrüben konnte, so muszt Du mir ver-
„zeihen. Deine Liebe ist mir so kostbar, dasz ich sehr unglücklich
„sein würde, sie zu verlieren, Du muszt mir wohl ein biszchen Eifer-
„sucht und Sorge vergeben." —

Den 22. Juni 1796 verteidigt sich Goethe in einem Brief an Schil-
ler, auf dessen Schreiben vom 18. Juni 1796: „Für die Eifersucht
„am Ende habe ich zwei Gründe. Einen aus der Natur: weil wirk-
„lich jedes unerwartete und unverdiente Liebesglück die Furcht
„des Verlustes unmittelbar auf der Ferse nach sich führt; und einen
„aus der Kunst, weil die Idylle durchaus einen pathetischen Gang
„hat und also das Leidenschaftliche bis gegen das Ende gesteigert
„werden muszte, da sie denn durch die Abschiedsverbeugung des
„Dichters wieder ins Leidliche und Heitere zurückgeführt wird.
„So viel zur Rechtfertigung des unerklärlichen Instinktes, durch
„welchen solche Dinge hervorgebracht werden." —

Goethe schreibt am 7. August 1799 an Schiller: „Aus den römischen
„Elegien habe ich manchen prosodischen Fehler und ich hoffe mit
„Glück ^weggelöscht. Bei passionierten Arbeiten wie z. B. Alexis
„und Dora, ist es schon schwerer, doch musz man sehen wie weit
„man\'s bringen kann und am Ende sollen Sie, mein Freund, die
„Entscheidung haben." —

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In Eckermanns Gesprächen mit Goethe findet sich unter dem 25.
Dezember 1825 folgende Stelle: „An diesem Gedicht," sagte Goethe,
„tadelten die Menschen den starken leidenschaftlichen Schlusz und
„verlangten, dasz die Elegie sanft und ruhig ausgehen solle, ohne
„jene eifersüchtige Aufwallung; allein ich konnte nicht einsehen,
„dasz jene Menschen recht hätten. Die Eifersucht liegt hier so nahe
„und ist so in der Sache, dasz dem Gedicht etwas fehlen würde,
„wenn sie nicht da wäre. Ich habe selbst einen jungen Menschen
„gekannt, der in leidenschaftlicher Liebe zu einem schnell gewon-
„nenen Mädchen ausrief: Aber wird sie es nicht einem andern

„ebenso machen wie mir? —"

Der „junge Mensch", von dem der sechsundsiebzigjährige Goethe
am 25. Dez. 1825 zu Eckermann spricht, ist m. E. derselbe Goethe,
der sich 1788 Christiane Vulpius so schnell gewann. Dasz der Sohn
des .Dichters an diesem Weihnachtstage seinen sechsunddreiszigsten
Geburtstag feierte, also nur noch um wenige Jahre jünger war
als sein Vater, da er die Mutter nahm, dürfte mit dazu beigetragen
haben, den alten Dichter an den Beginn seiner Liebe zu Christiane
zu gemahnen.

Ich möchte auch die Namen „Alexis" und „Dora", welche G.
seinen Personen beilegt, auf ihn, den „Helfer" der hilfsbedürftigen
Bittstellerin und auf sie, die „Gabe", das unverhoffte Geschenk der
Götter, deuten. — Vgl. Etta Federn, „Christiane von Goethe S.
229." — Max Morris,
„Goethe-Studien II S. 82 f." — Zu „Alexis",
„Helfer" vgl. „Der neue Pausias und sein Blumenmädchen, Vers
115" „Beschützer." — Zu „Dora" die Elegie „Hermann und
Dorothea". —

69. J. A. Bd. 1 S. 194 f. [W. A. Bd. 1 S. 293].

„Elegien. Zweites Buch."

„Hermann und Dorothea."

„Also das wäre Verbrechen, dasz einst —"

Anmerkung: Am 7. Dec. 1796 schreibt Goethe an Schiller:
,,Sie finden auch wieder eine Elegie, der ich Ihren Beifall wünsche.

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„Indem ich darin mein neues Gedicht ankündige, gedenke ich damit
„auch ein neues Buch Elegien anzufangen. Die zweite wird wahr-
„scheinlich die Sehnsucht ein drittes Mal über die Alpen zu gehen,
„enthalten, und so werde ich weiter, entweder zu Hause oder auf
„der Reise fortfahren."

Der Dichter verteidigt sich gegen literarische Feinde, wie Dyk
und Manso, wegen seiner Begeisterung für die Alten, die man an
ihm getadelt. Die Muse befiehlt ihm allein. Das Lorbeerreis aber,
das sie ihm bestimmt hat, möge weiter grünen am Zweig:

„Aber Rosen winde genug zum häuslichen Kranze:"

„Bald als Lilie schlingt silberne Locke sich durch."

„Schüre die Gattin das Feuer, auf reinlichem Herde zu kochen 1"

„Werfe der Knabe das Reis, spielend, geschäftig dazu!"

So verherrlicht Goethe offen Gattin und Sohn in seiner Dichtung
neben Wolf, dem Hallenser Gelehrten, auf dessen „Prolegomena ad
Homerum" und Vosz, auf dessen „Luise" er sich in unserer Elegie
bezieht.

Mag Goethe nun an Frau und Sohn grosze und reine Freude
gehabt haben, die Nähe seiner Angehörigen vertrug sich nicht
stets mit seinen dichterischen Arbeiten, und so floh er oft in die
Einsamkeit, nach Jena. Es ist dasselbe Jahr, in dem er Christiarie
von Jena aus, Sonntag den 1. Mai 1796, schreibt: „Du weiszt, dasz
„ich zu Hause nicht zur Sammlung kommen kann, meine schwere
„Arbeit zu endigen, vielleicht gelingt .mir es auch hier nicht und
„ich musz doch nach Ilmenau."

Den 9. Dec. 1797 schreibt er an Schiller von Weimar aus: „Meyern
„werde ich wohl nicht mitbringen (nach Jena, de B.), denn ich habe
„die Erfahrung wieder erneuert; dasz ich nur in einer absoluten
„Einsamkeit arbeiten kann, und dasz nicht etwa nur das Gespräch,
„sondern sogar schon die häusliche Gegenwart geliebter und ge-
„schätzter Personen meine poetische Quellen gänzlich ableitet."

Aus dem Jahre 1799 vom 7. August, Weimar, ist uns die merk-
würdige an Schiller gerichtete Mitteilung erhalten: „Lassen Sie
„August manchmal bei sich gut aufgenommen sein; da ich nicht

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»nach Jena entweichen konnte, so muszten die Meinigen weichen;
.,denn dabei bleibt es nun einmal: dasz ich ohne absolute Einsam-
„keit nicht das Mindeste hervorbringen kann. Die Stille des Gartens
„ist mir auch daher vorzüglich schätzbar."

Die heftigste Äuszerung, aus der Unwille heraustönt, weil ihm
der wiederholte Versuch, sich im groszen eigenen Hause am Frauen-
plan in Weimar Ruhe zu schaffen, miszlang, ist vom 22. Juli 1800
datiert: „Ich habe mich kurz und gut entschlossen nach Tische
„hinüber nach Jena zu gehen, weil ich ein für allemal hier zu keiner
„Art von Besinnung gelange." (Goethe an Schiller).

Schiller macht in seinem Brief an Goethe vom 9. Dez. 1796, wo
er unsere Elegie bespricht, die Bemerkung: „Ihre nahe Beziehung
„auf eine bestimmte Existenz gibt ihr (= der Elegie, de B.) noch
„einen Nachdruck mehr.... Es ist mir eine trostreiche Erfahrung,
„wie der poetische Geist alles Gemeine der Wirklichkeit so schnell
„und so glücklich unter sich bringt, und durch einen einzigen
„Schwung, den er sich selbst gibt, aus diesen Banden heraus ist,
„so dasz die gemeinen Seelen ihm nur mit hoffnungsloser Verzweif-
„lung nachsehen können."

Die Elegie gibt uns u. a. ein verklärtes Abbild von Gattin und
Sohn. Der Dichter, der „Phantasie für die Wahrheit des Realen"
besitzt, führt uns seine von der Wirklichkeit des Alltags himmel-
weit getrennte Poesie, als wäre sie Realität, vor und leidet an der
Diskrepanz zwischen beiden.

70. J. A. Bd. 1 S. 179 f. [W. A. Bd 1. S. 272 f.]
„Elegien. Zweites Buch."

„Der neue Pausias und sein Blumenmädchen."

„(Vorbemerkung) Plinius Naturalis historia XXXV, 11."

„Sie"

„Schütte die Blumen nur her —"

Anmerkung: Tagebuch, 1797, Mai, 22: „Früh das Blumen-
mädchen." „Abends bey Schiller,---- Vorlesung des „Blumen-

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mädchens." Am nächsten Tage heiszt es im Tagebuch: „Das Blu-
„menmädchen weiter corrigirt und nochmals abschreiben lassen."

Vgl. meine „Vorbemerkung zum Fünften Abschnitt": Christiane
arbeitete eine Zeit lang in der kleinen Bertuchschen Blumenfabrik
und versuchte sich wohl in der Weise eine Nebeneinnahme zu ver-
schaffen. In Bertuchs Blumenfabrik soll der Überlieferung gemäsz
vor der italienischen Reise das erste Zusammentreffen Goethes mit
Christiane erfolgt sein. Als Goethe mit einem jungen Offizier in
die Fabrik ging, erlaubte sich dieser einen unziemlichen Witz gegen
Christiane, worauf sie den frechen Witzbold scharf abfertigte.
S. Etta Federn „Christiane von Goethe S. 11 f, 229."

E. v. d. Hellen bemerkt J. A. Bd. 1 S. 354: „Hieraus erklärt
„sich auch die Vorbemerkung, die dem Gegenstand der Dichtung
„alles Persönliche zu nehmen scheint und geschickt verhüllt, dasz
„der Dichter hier sein häusliches Leben im Bilde echt antik-
„heidnischer „Künstlerschaft darstellt." Vgl. Goethe an Schiller den
23. Mai 1797.

Wie in den „Römischen Elegien" wird auch in unserer Elegie
die Liebe als schöne Sinnlichkeit aufgefaszt.

Im Gegensatz zu der Elegie „Alexis und Dora" wird das Gefühl
der Eifersucht kaum angedeutet, weil der neue Pausias seiner Ge-
liebten in erfreulichster Gegenwart ganz sicher ist. Vgl. Vers 19/20.

Mir scheint Goethes Verdrusz über seine ungenügenden Maler-
talente durchzuschimmern, welches Manko in seinem Künstler-
wesen ihm, wie bekannt, besonders auf der italienischen Reise
deutlich wurde. Vgl. Vers 41/42.

Ob der Dichter erst im Mai 1797 etwa durch die Lektüre der
Naturgeschichte des Plinius (vgl. Tagebuch 1797, Mai, 20.) auf
das Thema verfiel, oder ob es seit der ersten Zeit seiner Bekannt-
schaft mit Christiane lange von ihm „im Herzen bewegt" worden
ist, wage ich nicht zu entscheiden. Die Tagebücher verzeichnen
keine Lektüre des Plinius vor dem 20. Mai 1797.

Ich vermute, dasz Rücksichten auf den Musen-Almanach für
1798 mit im Spiele waren, als er dem antiken Stoff die sinnlich-
frohe Stimmung seiner jungen Liebe für Christiane einhauchte.

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Es scheint für Goethe bisweilen nahezu gleichgültig gewesen zu
sein, wie klein oder wie grosz die zeitliche Entfernung zwischen
Urstimmung und nachschaffender Reminiscenz war, aus welcher
heraus umfassende Kunstwerke immer hervorgebracht werden.

Die laterna magica seiner schöpferischen Phantasie zaubert uns
die Verherrlichung entschwundener häuslicher Zustände vor, während,
des Dichters Phantasie die Erschütterungen, denen seine dama-
ligen häuslichen Zustände ihn aussetzten, kaum vertrug.

Wie „Alexis und Dora", so entstand auch unsere Elegie in der
Jenaer Einsamkeit.

71. J. A. Bd. 1 S. 150 f. [W. A. Bd. 1 S. 227].

„Der Gott und die Bajadere."

„Indische Legende."

„Mahadöh, der Herr der Erde —"

Anmerkung: Vgl. E. v. d. Hellen, J. A. Bd. 1 S. 347 f. —
Das Tagebuch meldet 1797, Juni 6. und 7.: „Ram und die Bajadere."
Am 9. Juni: „Indische Romanze Schlusz." — Goethe war damals
in Jena. ~

Obgleich v. d. Hellen, Gräf und Morris unsere Ballade, wie Goethe
unser Gedicht später nannte, nicht auf Christiane Vulpius beziehen,
möchte ich mit Etta Federn „Christiane von Goethe S. 249" anneh-
men, dasz das Gedicht wohl Persönliches aus Goethes Beziehungen
zu seiner Hausfreundin enthält.

Etta Federn bemerkt a. a. 0.; „Wir wissen aus einem Bericht
„von Sulpiz Boisseröe, dasz Goethe nicht gerne hörte, wenn Marianne
„von Willemer diese Ballade, sang, weil sie, ihre eigene Geschichte
„sei. Wenn er (:= Goethe, de B.) da die Beziehung empfunden hat,
„wie viel stärker musz sie sich ihm im Verhältnis zur eigenen Gattin
„aufgezwungen haben!" Vgl Gräf „Goethe über seine Dichtungen,
Lyrik II, 1 nr. 1412 & 1414."

Ich möchte noch auf etwas anderes hinweisen. Wir wissen aus
Goethes Briefen, dasz er um diese Zeit eine dritte italienische Reise
plante, dasz seine Mutter gegen diesen Plan Bedenken äuszerte.

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Vgl. Goethe an Schiller, den 7. Dez. 1796. — Goethe an Heinrich
Meyer, den 18. März 1797, den 8. Mai 1797, den 7. Juli 1797. — Frau
Rat Goethe an ihren Sohn, den 17. Juni 1797. —

Goethe reiste wohl in die Schweiz, verzichtete aber auf die dritte
italienische Reise, woraus dann zeitlebens nichts mehr wurde. Mit
dieser Schweizer Reise und den anfänglichen Plänen, nach Italien
zu gehen, hängt ein überaus wichtiger Entschlusz Goethes in Bezug
auf Christiane Vulpius und ihren siebeneinhalbjährigen Sohn August
zusammen.

Goethe machte sein Testament. W. A. Bd. 53 S. 325 f. — Er
machte August zu seinem Universalerben; seiner „Freundin und
vieljährigen Hausgenossin", Christiane Vulpius, bestimmte er den
Nieszbrauch alles dessen, was er zur Zeit seines Ablebens in wei-
marischen Landen besitzen werde. Zum Testamentsvollstrecker und
Vormund wurde C. G. Voigt bestellt, der auch bei etwaigen Ver-
äuszerungen mitzuwirken hatte. Das von der Frau Rat Goethe zu
erwartende Erbe sollte zu einem Viertel an Christiane fallen. Um
dieses Testament aufsetzen zu können, wie Goethe es wollte, brauchte
er die Einwilligung der Frau Rat, die im Brief vom 17. Juni 1797
eintraf. Vgl. Frau Rat Goethe an ihren Sohn, den 5. Juni 1797,
den 17. Juni 1797. — Vgl. Goethes Briefe ausg. und hrsg. v. E. v.
d. Hellen Bd. 3 S. 263 Fusznote zu 30. — Etta Federn „Christiane
von Goethe S. 20." — Gräf „Goethes Briefwechsel mit seiner Frau
Bd. 1 S. 130 f." —

Am 22. Juni 1797 teilt Goethe dem Herzog mit: seine Mutter
habe auf seine sämtliche Erbschaft verzichtet und er bittet, der
Herzog möge verfügen, dasz nach seinem Ableben keine „Obsig-
nation" statt habe, vielmehr seine Erben ohne dieselbe und ohne
weitere gerichtliche Inventur zu dem Besitz seines Nachlasses ge-
langen. Der Herzog genehmigte die Bitte, Goethes Testament wurde
am 27. Juli durch eine Deputation bei ihm abgeholt. Am 29. steht
im Tagebuch vermerkt: „Alles in Ordnung." Eintragungen unter
dem 26., 27. und 28. Juni 1797 fehlen.

Das ist der erste Schritt, den Goethe tat um seine wilde Ehe in
ein legalisiertes Verhältnis umzuwandeln. Der zweite ist Augusts

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Legitimation am 15. März 1800. Vgl. W. Bode. „Goethes Sohn
S. 56." Der dritte die Trauung am 19. Oktober 1806.

Warum dies alles nicht eher geschah? Hier ist u. a. zu bedenken,
Welche Zweifel in Goethes Herzen gewühlt haben. Vgl. nr. 60 dieses
Abschnitts. Diese Zweifel wurden zwar kaum laut. Die Spuren
sind uns aber erhalten, dasz Goethe an der „fides" seiner späteren
Gattin gezweifelt hat. Vgl. nr. 46 dieses Abschnitts.

Goethes Vaterliebe in erster Linie, sodann das Gefühl der Ver-
pflichtung Christiane gegenüber, vielleicht auch das Nachlassen
seines Zweifels, die Gefahr, die eine Reise nach Süden zur Zeit,
wo Napoleon in Italien kämpfte, bedeutete, werden Goethe dazu
Veranlaszt haben die Seinigen im Falle seines Todes testamentarisch
sicher zu stellen.

Wir haben m. E. unter dem Bilde der Bajadere und des Mahadöh
Christiane und Goethe vor uns, der eben, als er diese Ballade zu
fixieren anfing, im Bürgerlichen den ersten Schritt tat auch nach
seinem Tode Christiane, die sich dessen nicht unwürdig gezeigt,
Verhältnissen ferne zu halten, welche sie in ihrer Jugend hätten
herunterziehen, in die sie nach Goethes Tode mit seinem Sohne immer
noch leicht genug hätte zurückgleiten können.

Der Bajadere „frühe" Künste werden Natur. Ihr verwandelt
sich das Erlebnis einer Nacht in ewige Ehe. Zwar sagen die Pries-
ter, sie habe keine Pflicht, allein sie erbringt durch den Feuertod
den Beweis, dasz sie den Gatten verlor.

Der tiefe, auf andre Weise kaum sagbare Sinn dieser poetischen Bilder
mag eben dazu beigetragen haben, dasz Goethe soweit mir bekannt
nie einen Wink über die Bedeutung unseres Gedichtes fallen liesz.

Die Ballade zeigt Stufen des Sinnlichen, wie sie nach Goethes
Darstellung in den Bräuchen sagenhafter, indischer Zeiten ver-
ankert lägen. Die Läuterung dieser Seele schreitet von Stufe zu
Stufe hinauf.

Das Gedicht ist trotz Herders Hohn (vgl. Herder an Knebel,
den 5. Aug. 1797) recht nah verwandt mit der Idee, die das Evan-
gelium Lucä, Kap. 7 Vers 47 f. ausdrückt:

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„Ihr sind viele Sünden vergeben, denn sie hat viel geliebet;
„welchem aber wenig vergeben wird, der liebet wenig. Und er
„sprach zu ihr: Dir sind deine Sünden vergeben,"

Vgl. zu diesem Gedicht nr. 46 unsres Abschnitts.

72, J. A. Bd. 1 S. 193 f. [W. A. Bd. 1 S. 288].

„Elegien. Zweites Buch."

„Amyntas."

„Nikias, trefflicher Mann —"

Anmerkung: Vgl. E. v. d. Hellen J. A. Bd. 1 S. 355 f. Im
Tagebuch von der Schweizerreise findet sich unter dem 19. Sep-
tember 1797: „Wir fuhren einen Theil das gestrigen Wegs. Der
Baum und der Epheu Anlasz zur Elegie."

Etta Federn,, Christiane von Goethe" bezieht unser Gedicht
nicht, Max Morris „Goethe Studien Bd. 2 S. 88 f."^ wohl auf Chris-
tiane Vulpius. — E.
V. d. Hellen sagt a. a. 0.: „Die vielfach vertretene
„Auffassung des Gedichtes als einer Klage und Selbstanklage Goethes
„über sein Leben mit Christiane Vulpius wird durch den besonders
„innigen Ton seines Briefes an diese vom 23. Sept. 1797 widerlegt;
„immerhin aber mochte Goethe die Nebenabsicht haben, durch
„die Blume dieser Elegie den Freunden zu antworten, deren Urteile
„über jene Verbindung ihm nicht verborgen bleiben konnten."

E. V. d. Hellens Behauptung, dasz der Brief vom 23. Sept. eine
Widerlegung der Auffassung unserer Elegie als einer Klage und
Selbstanklage Goethes über sein Leben mit Christiane Vulpius wäre,
beanstande ich.

Goethes Psyche ist so reich an Stimmungen, dasz ein Gedicht
wie „Amyntas" und ein Brief, wie der vom 23./26. Sept. 1797 an
Christiane sich sehr wohl neben einander vertragen. Goethes Werke,
Briefe, Tagebücher und die Berichte seiner Zeitgenossen über ihn,
machen den Eindruck, dasz sein Inneres dem ewig wechselnden
Aspekt einer grandiosen, je nach Tages- und Jahreszeit anders
sich darbietenden Landschaft mit Berg und Tal, mit Wald und
Wasser glich. Bald sehen wir ihn so, bald wieder ganz anders.

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Sodann ist zu bedenken, wie wechselnd im Manne die Ansichten
über erotische Angelegenheiten sein können, sodasz in
ganz knappem
Zeitraum nach einander dasselbe heftig begehrt und leidenschaftlich
abgelehnt wird, oder aber umgekehrt.

Ich behaupte nicht, dasz Goethe lügt, wo er den 23./26, Sept,
1797 aus Stäfa an Christiane schreibt: „Denn jetzt schon möchte
»ich lieber bei Dir zurück sein. Dir im grünen Alkoven eine gute
»Nacht und einen guten Morgen bieten und mein Frühstück aus
»Deiner Hand empfangen,"

Noch viel weniger, dasz die höchstmerkwürdige Parabel vom
Apfelbaum und vom Efeu einige Tage früher seiner damaligen
Stimmung nicht entsprach.

Das Seelenbild wirkt anders, denn Goethe ist am 19. anders als
am 23./26. Sept. 1797.

Nur ist beim Briefe, wie überhaupt in Goethes brieflichen Äusze-
rungen, die Möglichkeit gegeben, dasz Goethe der Empfängerin blosz
schreibt, was sie seiner Ansicht nach gern hört, jedenfalls nur das,
was sie versteht. Goethe stellt sich auf die Empfänger seiner Briefe
feinfühligst ein. Wird also an der Totalität c. q, an der Wahrheit
einer der beiden Äuszerungen gezweifelt, dann ist zu bedenken,
dasz in der Seele des Dichters sich mehr Hemmungen vorgelagert
haben werden bei der Abfassung des Briefes als beim Dichten
unserer Elegie.

Goethe ist durch jahrelanges Zusammenleben mit Christiane und
August mit ihnen verwachsen. Er kann sich nicht mehr befreien.
Gesellschaftlich wird die Verbindung immer enger, bis sie äuszeriich
normal ist. Inneriich findet Loslösung, wenn nicht Entfremdung statt.
Christianens Wesen hat um 1798 in den tiefsten Seelenbereichen
Goethes ausgewirkt. Darauf deutet „Amyntas" 1797 schon hin.
Vgl, nr. 69 dieses Abschnitts, sowie die Reisen nach Jena, den Plan
zur dritten italienischen Reise, den er Christiane verbirgt: Parallele
zu seinem Benehmen 1786. — Erst aus Frankfurt teilt er ihr am 15.
Aug. 1797 mit, dasz das schöne Wetter ihn zur weiteren Reise
reize! Er geht in die Schweiz. Christiane aber läszt ihn nicht los:
„Und wenn Du nach Italien oder sonst eine lange Reise machst

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„und willst mich nicht mitnehmen, so setze ich mich [mit] dem
„Gustel hinten darauf; denn ich will lieber Wind und Wetter und
„alles Unangenehme auf der Reise ausstehen, als wieder so lange
„ohne Dich sein." (Christiane an Goethe, Weimar, den 2. Okt.
1797.) Mag dies ein Scherz sein, er ist nicht ohne Bedeutung.

In diesem Zusammenhang scheint mir Folgendes wichtig. Char-
lotte Schiller schreibt in ihrem Brief vom 1. Okt. 1797 aus Jena an
Friedrich von Stein: „Goethe ist auch hier (= Jena, de B.) viel
„anders. Es ist recht eigen, welchen Eindruck der Ort auf ihn macht:
„in Weimar ist er gleich steif und zurückgezogen. Hätte ich ihn
„hier nicht kennen lernen, so wäre mir viel von ihm entgangen
„und gar nicht klar geworden. Ich glaube doch, dasz auf diese Stim-
„mungen die häuslichen, zu der Welt in Weimar nicht passenden
„Verhältnisse am meisten Einflusz haben." Zwar läszt sich anneh-
men, dasz Charlotte Schiller unter dem Einflusz der verbitterten
Frau von Stein, die sie sehr hoch schätzte, steht.

Goethe berichtet in seinem Brief an Schiller vom 28. Nov. 1797
aus Weimar, nachdem er erst vor acht Tagen von der Reise in die
Schweiz zurückkehrte: „Mir ist es jetzo so zu Mute, als wenn ich
„nie ein Gedicht gemacht hätte oder machen würde."

Nach einigen Jahren, jedoch im engsten Zusammenhang mit dem
Vorhergehenden, meint Körner in seinem Brief an Schiller vom
27. Okt. 1800 aus Dresden: „Dasz Goethe seine Verhältnisse drücken
„müssen, begreife ich recht wohl, und ich erkläre mir daraus, warum
„er auszerhalb Weimar weit genieszbarer als in Weimar sein soll.
„Man verletzt die Sitten nicht ungestraft. Zu rechter Zeit hätte
„er gewisz eine liebende Gattin gefunden, und wie ganz anders
„wäre da seine Existenz! Das andere Geschlecht hat eine höhere
„Bestimmung, als zum Werkzeug der Sinnlichkeit herabgewürdigt
„zu werden, und für ein entbehrtes häusliches Glück gibt es keinen
„Ersatz. Goethe kann selbst das Geschöpf nicht achten, das sich
„ihm unbedingt hingab; er kann Andern keine Achtung für sie und
„die Ihrigen erzwingen, und doch mag er nicht leiden, wenn sie
„gering geschätzt wird. Solche Verhältnisse machen deh kraft-
„vollsten Mann endlich mürbe. Es ist kein Widerstand, der durch

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„Kampf zu überwinden ist, sondern eine heimlich nagende Emp-
findung, deren man sich kaum bewuszt ist und die man durch
„Betäubung zu unterdrücken sucht." —

Folgende Stelle aus Schillers Brief vom 23. Nov. 1800 an die
Gräfin Schimmelmann ist besonders wichtig: „Es wäre zu wünschen,
„dasz ich Goethe eben so gut in Rücksicht auf seine häuslichen
„Verhältnisse rechtfertigen könnte, als ich es in Absicht auf seine
„literarischen und bürgerlichen mit Zuversicht kann. Aber leider
„ist er durch einige falsche Begriffe über das häusliche Glück und
„durch eine unglückliche Ehescheu in ein Verhältnis geraten, wel-
„ches ihn in seinem eigenen häuslichen Kreise drückt und unglück-
„lich macht und welches abzuschütteln er leider zu schwach und
„zu weichherzig ist. Dies ist seine einzige Blösze, die aber Niemand
„verletzt als ihn selbst. Und auch diese hängt mit einem sehr edlen
„Teil seines Charakters zusammen." — Stand Schillers Frau unter
dem Einflusz der Frau v. Stein, dasselbe dürfen wir in dem Masze
von einem scharfen Kopfe wie Schiller, der vielfach bei Goethes
verkehrte, nicht annehmen, jedenfalls nicht im sechsten Jahre seiner
näheren Bekanntschaft mit Goethe.

Vgl. Wilhelm v. Humboldt an Goethe, den 22. Nov. 1802. —
derselbe an Schiller, den 30. April 1803.

Dies besagt: Goethe Gewissensehe war ihm im Laufe der Jahre
manchmal eine drückende Last. Das stellt die Elegie „Amyntas"
sinnbildlich dar, zwar nicht nur das.

Goethe ist krank. Er sagt sich alles, sagt sich auch „das härtere
Wort", das der schonende Arzt des Leibes und der Seele, Nikias-
Schiller, verschweigt. Der Dichter vergleicht seine Liebesleiden-
schaft mit Wirkungen in der Natur, denen wir machtlos gegenüber
stehen. Liebe ist ihm Schicksal. Er bittet, ihn, den Apfelbaum,
nicht zu verletzen, dadurch dasz man sie, die Pflanze, die seiner
„einzig bedürftig", herabreiszt und -schneidet. Denn saugt sie ihm
schon Mark und Seele aus, auch er ist schuldig:

„Hab\' ich nicht selbst sie genährt, und sanft sie herauf mir

erzogen?"

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Und schmeichelt die „Verräterin" ihm Leben und Güter, Kraft
und Hoffnung ab, er liebt sie! Er verzehrt sich, willig gezwungen,
in liebender Lust! „Alles um Liebe" hiesz es einmal, und jetzt:

„Wer sich der Liebe vertraut, hält er sein Leben zu Rat?" —

73. J. A. Bd. 1 S. 255 nr. 24. [W. A. Bd. 2 S. 137].

„Antiker Form sich nähernd."

„Schweizeralpe."

„War doch gestern dein Haupt —"

Anmerkung: Vgl. E. v. d. Hellen J. A. Bd. 1 S. 368. — Das
Gedicht erschien in Schillers Almanach auf 1799 mit der Überschrift
„Am 1. Okt. 1797." —

Das Tagebuch vom 1. Okt., Sonntag, 1797 meldet: „Altorf. Regen
Wolken, Nebel, Schnee auf den nächsten Gipfeln." —

Mit Max Morris nehme ich an, dasz sich dieses „antiker Form
sich nähernde" Gedicht auf Christiane Vulpius bezieht, wiewohl
Gräf es ausschlieszt.

Das wehmütige Gefühl schwindender Jugend, nahenden Alters
wird von dem ersten Oktoberschnee auf den Alpengipfeln in ihm
ausgelöst.

Symbol der Jugend ist ihm die braunlockige Geliebte, „deren
holdes Gebild" still aus der Ferne winkt. Er selbst fühlt sich dem
Alter näher, denn sechzehn Jahre war Goethe älter als Christiane,
was in mancher Hinsicht zu der Ungleichheit ihres Bundes bei-
getragen haben dürfte.

Das milde Gedicht schlieszt mit den bestrickend schönen Zeilen:

„Jugend, ach! ist dem Alter.so nah, durchs Leben verbunden,"

„Wie ein beweglicher Traum Gestern und Heute verband."

74. J. A. Bd. 2 S. 247. f. [W. A. Bd. 1 S. 290 etc.]

„Gott und Welt."

„Die Metamorphose der Pflanzen."

,Dich verwirret, Geliebte, die tausendfältige Mischung —"

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Anmerkung: Vgl. E. v. d. Hellen, J. A. Bd. 2 S. 354. — Er
bemerkt u. a.:

„Als Goethe die „Metamorphose der Pflanzen" gedichtet hatte,
„erwog er „die Möglichkeit einer Darstellung der Naturlehre durch
„einen Poeten." Vgl. Tagebuch, den 18. Juni 1798. Am selben Tag
schlosz Goethe das Gedicht ab, das in Jena entstand.

Obgleich er 1817 in seinem Aufsatz „Zur Botanik. 4. Verfolg.
J. A. Bd. 39 S. 325, 19 f." schreibt: „Höchst willkommen war
„dieses Gedicht der eigentlich Geliebten, welche das Recht hatte,
„die lieblichen Bilder auf sich zu beziehen —" erwähnte Goethe,
so weit wir wissen, das Gedicht weder in seinen Briefen an Christiane
aus dieser Zeit (1798), noch geht aus seinem Tagebuch hervor,
dasz er es ihr bald vorgelegt hätte, noch wissen wir etwas von
Christianens Dank.

Aus dem Briefwechsel mit Christiane, sowie aus dem Tagebuch
ergibt sich, dasz Goethe die Übergabe des Roszlaer Gutes, die am
22. Juni 1798 stattfand, für Christiane wichtiger gehalten zu haben
scheint als das philosophische Lehrgedicht; die unbestimmte Andeu-
tung am 12. Juni 1798 sagte Christiane nur, dasz Goethe vorläufig
in Jena blieb.

Etta Federn meint in ihrem Werke „Christiane von Goethe
S. 236 f.": „Diese „Metamorphose der Pflanzen", mit der Goethe
„das beginnende zweite Jahrzehnt seiner Ehe feierte, sagt mehr
„als manches andere Dokument, fast mehr noch als Goethes leiden-
„schaftliche und innige Liebesbriefe, welche Bedeutung Christiane
„für ihn bekommen hat."

Damit scheint mir Etta Federn das Richtige durchaus nicht zu
treffen. Denn die Briefe, die Goethe am 17. und 20. Juni von Jena,
am 21. und 22. Juni 1798 von Ober-Roszla an Christiane schickt,
und nur zum Teil selbst schrieb, sind klar, sachlich, vielleicht etwas
onkelhaft, lassen aber nichts von tiefer Liebe verspüren, wie man
anläszlich der „Metamorphose", die in diesen Tagen „schnell"
entstand, vermuten könnte. Vgl. Schiller an Goethe, den 16. Aug. 1799.

Zwar will er sie von Ober-Roszla kommend in Weimar „heimlich
besuchen": „Lasz nur hinten den Garten auf, ich lasse Geisten

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„durch die Stadt fahren." Vgl. Goethe an Christiane, Ober-Roszla,
am 22. Juni 1798. Das braucht aber noch kein Beweis seiner groszen
Liebe zu sein, denn aus irgend einem Grunde kann es ihm lästig
gewesen sein, seine Anwesenheit in Weimar verbreitet zu wissen.

In der „Metamorphose der Pflanzen" wendet sich Goethe an die
ideale Geliebte, nicht an die reale Christiane. Die Kluft zwischen
Realität und Idealität ist am Anfang des zweiten Jahrzehntes ihres
Bundes so grosz geworden, dasz nur nach längerer Zeit kleine, mit
den „Römischen Elegien", den „Venezianischen Epigrammen", den
Distichen „Einer" verglichen, unbedeutende Poesien Goethes sich
auf Christiane Vulpius beziehen. Das Ende der Blütezeit von Goethes
wichtigen Christiane-Gedichten ist mit der „Metamorphose der
Pflanzen" erreicht. Vgl. Morris „Goethe-Studien Bd. II S. 84 f."

Die „Metamorphose der Pflanzen" bildet unter den Gedichten,
die Goethe „Gott und Welt" überschrieb mit der vorhergehenden
„Parabase", dem zwischen „die Metamorphose der Pflanzen" und
„die Metamorphose der Tiere" eingeschobenen „Epirrhema", sowie
dem abschlieszenden „Antepirrhema" einen Zyklus erhabener
didaktischer Lyrik.

Wie unter Goethes lyrischen Gedichten für Frau von Stein die
fragmentarischen „Geheimnisse", so bildet unter Goethes Lyrik für
Christiane Vulpius „die Metamorphose der
Pflanzen", Fragment
einer „Darstellung der Naturlehre durch einen Poeten", den philo-
sophischen Höhepunkt.

Die Ungleichheit der beiden Verhältnisse tritt deutlich hervor,
wenn wir aus Goethes Briefen an Frau v. Stein die Stellen heran-
ziehen, welche von den „Geheimnissen" handeln und verstehen,
wie der Dichter durch die „Metamorphose" sich an die ideale Ge-
liebte in seinem Herzen wendet.

„Wie ein Regenbogen verbindet [das Gedicht] die fernen Hori-
„zonte der Liebenden", sagt Emil Ludwig in seinem „Goethe, Bd.
2 S. 91"^. Mag sein, diese Horizonte sind aber himmelweit von ein-
ander getrennt.

Die Verwandlungen im Pflanzenreich will der Dichter der Ge-

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liebten näher deuten. Beim Samen fängt er an, und verbreitet sich
über Keim, Wurzel und Blatt. Die Fülle des Triebs scheint unend-
lich zu sein, doch die Natur hält die Bildung an: das Wundergebild
der farbigen Krone entfaltet sich. Traulich stehen die holden Paare
beisammen. Hier schlleszt die Natur den Ring der ewigen Kräfte.
Jede Pflanze verkündet die ewigen Gesetze:

„Aber entzifferst du hier der Göttin heilige Lettern,"
„Überall siehst du sie dann, auch in verändertem Zug."

Die Pflanze wird dem Dichter zum Symbol für jedes Lebewesen.
Wie die Pflanzen, so die Menschen. Die Pole des Männlichen
und
Weiblichen
verbinden sich, bilden das gattende Paar, das „die
höhere Welt finde." Scheinbar ewige Wiederkehr des Gleichen,
tatsächlich Steigerung zum Höheren.

Bekundete die Elegie „Amyntas" Duldsamkeit, hier ist mehr.

Goethe, der Mann, nahm Christiane zum Bettschatz, — Goethe,
der Dichter, dessen Konzentration sie stört, leidet an ihrer Seite, —
Goethe, der einsame Weise, auf dem Gipfel seines Schauens, sieht
das Grosze verwachsen mit dem Kleinen als die Organe eines Gan-
zen, sich hinauf fortbildend vom Verwandten zum Verwandten,
und er erkennt das Wesen der Geliebten voll und ganz an, denn

„— es ist das ewig Eine,"

„Das sich vielfach offenbart."

„Parabase 5—6," J. A. Bd. 2 S. 246.

75. J. A. Bd. 2 S. 189. [W. A. Bd. 5, I S. 43].

„Ich wüszte nicht, dasz ich —"

Anmerkung: Fehlt in Gräfs Register. Der erfahrene Fünfziger
platzt mit seinem Unwillen über die ganze Liebeswirtschaft ironisch
heraus, während Ernstes durchleuchtet, wie der Dichter sich, und
zwar nicht nur von seiner Neigung für Christiane, sondern von der
Liebe im allgemeinen als geschurigelt abbildet.

Vgl. E. V. d. Hellen, J. A. Bd. 2 S. 332 f.

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76. J. A. Bd. 1 S. 97. [W. A. Bd. 1 S. 151].

„Gesellige Lieder."

„Die Lustigen von Weimar."

„Donnerstag nach Belvedere, —"

Anmerkung: E. v. d. Hellen bemerkt dazu S. 336: „Heitere
„Tischgespräche veranlaszten am 15. Januar 1813 diese Verse, die
„das Tagebuch als „Wochenlust" bezeichnet. Sie preisen die Ver-
„gnügungen der Gattin Goethes und ihrer Freundinnen, deren eine,
„die Schauspielerin Engels, das Lied sogleich sang: es war wohl
„einer bekannten Melodie unterlegt."

Dieses „gesellige Lied" karikiert. Goethe führt Christianens Jagd
auf Vergnügungen durch die Häufung der Freuden ad absurdum.
Die heiter-ironische Ablehnung hat erzieherische Tendenz. Er ver-
sucht Christianens Lust an Gespräch und Spiel, Theater und Tanz
zu mäszigen.

Es ist Goethe selbstverständlich recht gut bekannt gewesen, wie
die Weimarer über diese Neigungen Christianens urteilten. Das
dürfte ihm im Grunde gleichgültig gewesen sein. Dasz er selbst
darunter über Gebühr leiden sollte, fiel wohl schwerer ins Gewicht.
Deutlich tritt dies aus Goethes Brief an Christiane vom 17. Nov.
1812 zu Tage:

„Ich weisz recht wohl, dasz ihr ein so rasches Leben habt, dasz
„ihr an Abwesende nicht denken könnt; aber dasz ihr, so wie der
„Assessor von den unendlich langen Tagen auch nicht einmal eine
„Viertelstunde abmüszigen könnt, um mich in den unendlich langen
„Jenaischen Winterabenden einigermaszen zu unterhalten, kann ich
„nicht gut finden. Ihr solltet bedenken, dasz es mit den Äugelchen
„nicht mehr gehen will, die man denn doch am Ende zu Hülfe
„rufen müszte, wenn ihr gar zu sorglos seid. Mit dieser Drohung
„empfehle ich mich zum schönsten.

Goethe war zu der Zeit dreiundsechzig Jahre alt und zog sich
nach alter Gewohnheit oft in die Jenaer Einsamkeit zurück, wenn
es galt zu arbeiten. Aus dem Erlös seines einsiedlerischen Schaffens
muszten zum Teil die geselligen Vergnügungen der Frau von Goethe

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bezahlt werden, die sich nicht scheute, auch nachdem sie 1806
Geheimrätin geworden war, ihrer Tanzleidenschaft auf Bällen zwei-
ten Ranges zu frönen.

Allerdings hatte Goethe selber seine Frau durch häufigen Theater-
besuch fast zur Sachverständigen in Bühnenangelegenheiten aus-
gebildet und ihr wohl freie Hand gelassen in der Wahl ihrer Be-
kannten, die sie, weil ihr auch nach 1806 bessere Kreise nicht immer
offen standen oder zusagten, oft unter Schauspielern und Schau-
spielerinnen fand, welche sie besonders gut in Goethes Abwesenheit
empfangen und bewirten konnte, da sie den Gemahl dann wenig-
stens nicht störte.

Das Gedicht nun deutet an, dasz Christiane des Vergnüglichen
zu viel tat.

77. J. A. Bd. 1 S. 79. [W. A. Bd. 1 S. 124].

„Gesellige Lieder."

„Gewohnt, getan."

„Ich habe geliebet, nun lieb\' ich erst recht! —"

A n m e r k u n g: Vgl. E. V. d. Hellen, J. A. Bd. 1 S. 330. — Vgl.
Goethe an C. G. v. Voigt, den 16. April 1813. — Goethe reiste am
17. April über Meiszen, Leipzig, Dresden nach Teplitz ab, wo er
am 26. April ankam. Napoleons Unstern drohte Goethes Umgebung
wieder mit Krieg zu überziehen, da entschlosz er sich auf Zureden
der Seinigen schleunig abzureisen, wodurch er die Kämpfe zwischen
Franzosen und Preuszen in Weimar nicht selbst mit erlebt hat.

Aus Dresden schreibt Goethe nun den 21. April 1813 an Christiane:
„Abends gingen wir ins Declamatorium des Herrn Solbrig. Hohler,
„geist- und geschmackloser ist mir nicht leicht etwas vorgekommen.
„Hätte der arme Schlucker sein Handwerk verstanden, so hätte
„er gleich: „Wohl auf, Cameraden! aufs Pferd, aufs Pferd!" an-
„gestimmt, und hätte gewisz grosze Sensation erregt. Dagegen
„fing er mit jämmerlichem Ton das elendeste aller jammervollen
„deutschen Lieder zu recitiren an: „Ich habe geliebet, nun lieb
„ich nicht mehr." In Oschatz----schrieben (wir) eine Parodie des

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„Solbrigschen Lieds, sie beginnt: „Ich habe geliebt, nun lieb ich
„erst recht!" und so geht es denn weiter,"

Dadurch hat Goethe Christianens Neugier wohl rege gemacht,
denn es heiszt in seinem Briefe an sie vom 1. Juni 1813 „Hierneben
„steht das verlangte Liedchen, dem man freilich Tag und Stunde
„nicht ansieht, wo es entstanden ist." Dem vollständigen Gedichte
fügte Goethe hinzu: „Entsprungen Leipzig, den 18. April 1813,
„in Solbrigs Declamatorium, geschrieben Oschatz, den 19. April,
„bei einem sehr friedlichen Mittagessen,"

Den 18, April 1813 schreibt Frau von Stein an ihren Sohn Frie-
drich: „Er (Goethe, de B.) konnte die hier-so abwechselnde bald
„Lüge bald Wahrheit, ob Russen oder Franzosen uns zernichten
„würden, nicht ertragen, war tiefsinnig darüber geworden."

Den 22, April 1813 meldet Knebel seiner Schwester Henriette:
„Als ich letzthin in Weimar war, sah ich ihm wohl an seinem tiefen
„und schweigenden Ernst an, dasz er etwas in sich gedrückt sei,"
Den 31. Juli 1813 teilt Wilh, v, Humboldt seiner Frau mit:
„Goethe ist, wie mir die Recke sagt, sehr verdrieszlich in Teplitz.
„Ich kann mir seinen Zustand denken. Er hat eigentlich kein Gleich-
„gewicht in sich; er ist schwach in der Wirklichkeit, und dann gilt
„das Idealische nur im Moment der Begeisterung und durchdringt
„nicht jeden Moment des bloszen einfachen Lebens."

Ich schliesze aus obigen Andeutungen, dasz Goethe sein positiv-
kritisches, geselliges Lied aus Opposition gegen die Empfindungen
dichtete, welche ihn in dieser Zeit zu überwältigen drohten, als
antidotum gegen den Pessimismus, der in diesen kriegerisch erreg-
ten Tagen ihn und andere beschleichen wollte.

„In so trüben Zeiten, wo man kaum mehr weisz, wohin man die
„Augen richten soll, thut ein — Sonnenblick gar zu wohl!" sagt
Goethe in seinem schon oben zitierten Brief an Christiane vom 1.
Juni 1813 in Bezug auf Freundliches, das ihm Ihro Majestät aus
Wien sagen liesz.

In unserem Liede zwingt sich Goethe, wie so oft, das Dunkle nicht,
das Helle wohl zu sehen.
Dasz er Christiane das Lied mit seinem Briefe an sie zuschickt,

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legt die Vermutung nahe, dasz er dabei an sie gedacht habe.

Das Lob der Liebe in der ersten Strophe unseres Liedes hat etwas
forciert Derbes an sich. — Vgl. zu der 1. Strophe: Goethe an seine
Frau, den 28. Juli 1814, „die charmante Person."

78. J. A. Bd. 1 S. 18. [W. A. Bd. 1 S. 25].

„Lieder."

„Gefunden."

„Ich ging im Walde —"

Anmerkung: Vgl. E. v. d. Hellen Bd. 1 S. 307: „Die Hand-
schrift trägt das Datum 26 August 1813 und die Aufschrift „Frau
„von Goethe." — Am 16. Juli 1813 schrieb Goethe seiner Frau:
„Den 12. Juli habe ich bei einem groszen Gastmahl im Stillen
„gefeiert."

Von diesem Tag datierte Goethe seine Ehe, die er vor 25 Jahren
ohne Zeremonie schlosz. Durch unser Lied feiert Goethe nachträg-
lich den Tag seiner silbernen Hochzeit.

Auch dieses Gedicht entsprang formell Goethes positiver, pro-
duktiver Kritik. Es lehnt sich an Gottlieb Konrad Pfeffels „Nelke"
an. Mit Recht steht es unter den Liedern wie „Heidenröslein",
denn der Ton unseres Liedes ist volkstümlich wie in der Parabel
vom Knaben und vom Röslein.

Wie schon früher z. B. in der Elegie „Amyntas", nr. 72 dieses
Abschnitts, so wird auch hier für die Geliebte ein Bild aus der Pflan-
zenwelt entnommen. Dieses zwar modulierte, aber höchst charak-
teristische Motiv durchzieht Goethes Christiane-Kompositionen.
Für diesen bilderreichen Dichter musz eine, wenn auch entfernte,
so doch deutliche Verwandschaft bestanden haben zwischen der
Geliebten und dem mit der Scholle fast unzertrennlich verwach-
senen, organischen Wesen ohne selbständige, eigenwillige Bewegung.

V Merkwürdig muten zwei Variationen an: J. A. Bd. 2 S. 222, 1—20
und 21—25. Die erste Nebenform, „Im Vorübergehn" genannt.

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umfaszt fünf Strophen, die zweite ist nicht über eine hinaus ge-
diehen. E.
V. d. Hellen bemerkt J. A. Bd. 2 S. 344:

„Wie aber sollte Goethe darauf verfallen sein, ein so vollkommenes
Gedicht hinterdrein derartig zu parodieren?"

Mir scheint weder die zweite Fassung „Im Vorübergehn," noch
die einstrophige dritte eine Parodie zu sein. Es sind Vorstufen zum
Bau des endgültigen Liedes. Goethes Gedicht „Gefunden" bildet
erstens inhaltlich einen Gegensatz zum Pfeffelschen, sodann hat
Goethe seinen Stoff möglichst konzentriert. In dem Liede „Gefunden"
sagt das Blümchen nur:

„Soll ich zum Welken"
„Gebrochen sein?"

Das ist ja recht komprimiert verglichen mit dem, was das Blümchen
der fünfstrophigen Vorform „Im Vorübergehn" in zehn Zeilen
äuszert, während damit der innere Kreis des Liedes nicht geschlos-
sen ist, es bricht ab!

Die fünfzeilige Anfangsstrophe, J. A. Bd. 2 S. 222, 21—25 fasse
ich als eine vermittelnde Übergangsform auf zwischen „Im Vor-
übergehn" und der endgültigen Form:

„Gefunden."

Vgl. Gräf „Goethe über seine Dichtungen, Lyrik I, S. 594, 30—31."

79. J. A. Bd. 5 S. 49. [W. A. Bd. 6 S. 106].

„Wanderers Gemütsruhe."
„Übers Niederträchtige —"

Anmerkung: E. v. d. Hellen bemerkt J. A. Bd. 5 S. 361:
„Vom 19. November 1814. Bitterer resignierter Pessimismus des
„angeblichen Optimisten."

Mit Etta Federn „Christiane v. Goethe S. 245" nehme ich die
Möglichkeit an, dasz sich dieses Gedicht aus dem „ Buche des Unmuts"
im „West-östlichen Divan" auf Goethes Ehe mit Christiane bezieht.
Dasz die Welt durch ihr Geklatsch der Frau von Goethe das

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Leben mehr als einmal schwer machte und sie empfindlich traf,
wissen wir zur Genüge. Vgl. aus früheren Jahren Goethes Brief
an Christiane vom 2. Juli 1808: „Dasz sie in Weimar gegen Frau
„von Staël Übels von Dir gesprochen, muszt Du Dich nicht
„anfechten lassen. Etc."

Nun findet am 8. Nov. 1814 Riemers Trauung mit Christianens
langjähriger Gesellschafterin Caroline Ulrich statt. Das bedeutete
für Goethes Hauswesen Personalwechsel. Bald hören wir, dasz
Madame Kirsch geb. Müller, damals schon eine ältere Dame (1755—
1821), Christianens neue Begleiterin ist. Es werden Besprechungen
vorhergegangen sein, es läszt sich vermuten, dasz man sich hier
und da nach einer geeigneten Person umgetan hat, bis die Wahl
auf „die Kirschen" fiel. Sollte dabei Staub aufgewirbelt wor-
den sein?

Am 9. Nov. 1814 liefert Goethe seinem alten Freunde v. Knebel
eine briefliche Peroratio über die „Duldsamkeit", einen der Vorteile,
welche ihm die letzte Reise (nach Heidelberg u. s. w.) gebracht.
Einige Tage nach Entstehung unseres Gedichtes schreibt er an
Christian Schlosser u. a. Folgendes: „Könnte ich so glücklich sein,
„mein Jahr zwischen der Vaterstadt und der hiesigen Gegend zu
„teilen, so würde es für mich und Andere ersprieszlich werden;
„weil es in einem Alter, wo man durch das, was in einem engen
„Kreis miszlingt, gar leicht zu Unmut und Hypochondrie verieitet
„wird, höchst erwünscht ist, einer sich wechselsweis auffordern-
„den neuen Tätigkeit zu genieszen und durch sie verjüngt und
„zu früherer Tatkraft wiedergeboren zu werden...." (den
23. Nov. 1814).

Vielleicht wurde die Gemütsunruhe gegen Anfang Dezember 1814
gröszer, denn am 4. Dez. reist Goethe nach Jena ab. Er entweicht
wieder einmal aus „dem engen Kreis" in Weimar. Bis zum 21. Dez.
1814 hält sich Goethe in Jena auf. Briefe an Christiane sind aus dieser
Zeit nicht bekannt. Vgl. Gräf „Goethes Briefwechsel mit seiner
Frau Bd. 2 S. 355."

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80. J. A. Bd. 2 S. 155. [W. A. Bd. 2 S. 258].

„Epigrammatisch."

„Vertrauen"
„A."

„Was krähst du mir und tust so grosz: —"

Anmerkung: Fehlt in Gräfs Register. Obgleich unser Zwie-
gespräch in Versform erst 1815 dem Gedichte „Vorschlag zur Güte,"
J. A. Bd. 2 S. 155, angeschlossen wurde, wie E. v. d. Hellen J. A.
Bd. 2 S. 318 bemerkt, scheint mir „Vertrauen", sowohl wegen des
Inhalts, der starke Eifersucht bekundet, als auch wegen der Form,
die sehr derbe Worte nicht verschmäht („Lumpenhund", „den
Schädel einschlagen"), aus der ersten Zeit seiner Gewissensehe mit
Christiane zu stammen, als Goethe besonders eifersüchtig ge-
stimmt war.

Dasz Goethe bisweilen in Bezug auf Christiane an Eifersucht
litt, ist durch seine Briefe aus Frankreich bekannt. (Goethe an Chris-
tiane, den 10. Sept. 1792, und den 10. Okt. 1792). Einen gewissen
Grad der Eifersucht bekundet m. E. in späteren Jahren sein Ver-
halten dr. Nikolaus Meyer aus Bremen gegenüber, mit dem Christiane,
als dieser in Weimar lebte, besonders gern tanzte, den sie sogar ihren
einzigen Freund auf der Welt auszer dem „Geheimrath" nannte.
Vgl. Christiane an Nie. Meyer, den 12. April 1805; Goethe an Crhis-
tiane, den 19. Febr. 1802, den 26. Okt. 1808, den 12. Sept. 1809.

Zu den letzten Zeilen unseres Gedichtes sind zu vergleichen das
99. Venezianische Epigramm, J. A. Bd. 1 S. 226, und aus den „Zahmen
Xenien IV, 1046—1049", J. A. Bd. 4 S. 70.

81. J. A. Bd. 2 S. 218. [W. A. Bd. 3 S. 38].

„Lyrisches."

„Frühling übers Jahr."

„Das Beet, schön lockert —"

Anmerkung: Unser Gedicht gehört als letztes einer Gruppe
von sechs an, welche den Frühling und des Sommers Anfang feiern.

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Es entstand am 15. März 1816. Vgl. E. v. d. Hellen J. A. Bd. 2 S. 342.

Ich nehme an, dasz dieses lyrische Gedicht sich auf Christiane
bezieht.

Den März 1816 brachte Goethe in Weimar zu. Am 14. und am
15. des betreffenden Monats ist das Wetter in Weimar laut Goethes
Tagebuch gut gewesen, denn den 14. März heiszt es: „Bey Zeiten
spazieren gegangen—" „— Nach Belvedere gefahren —", den 15.
März: „Im Garten. Spazieren gegangen. — Nach Berka gefahren.
„Spät zurück. —"

Schönes Wetter übte bekanntlich wohltuenden Einflusz auf
Goethe aus. Da dürfte auch die Stimmung zwischen beiden Ehe-
leuten, die sich im Garten an ihren Lieblingen, den Blumen erfreu-
ten, mild und heiter gewesen sein wie ein leuchtender Vorfrühlingstag.

82. J. A. Bd. 4 S. 108/109. [W. A. Bd. 5, I S. 101].

„Zahme Xenien VII"
„Das Publikum."

„Wir haben dir Klatsch auf Geklatsche gemacht, —"

Anmerkung: E. v. d. Hellen bemerkt J. A. Bd. 4 S. 301:
„Am 14. April 1816 ohne ein erklärendes Wort an Zelter gesandt;
„der Empfänger konnte den Dialog wohl nur auf Goethes Privat-
„leben, insbesondere auf seine Ehe — Christiane starb zwei Monate
„später — beziehen."

Das Verhältnis Riemers und seiner späteren Frau Caroline Ulrich
zu Goethes kann m. E. eine Quelle des Klatsches gewesen sein.

Im Herbst 1803 trat Fr. W. Riemer in Goethes Haus als Lehrer
Augusts ein, zugleich als Sekretär und Beirat des Dichters, und
als solcher blieb er auch tätig, nachdem er Ostern 1812
Gymnasial-
professor in Weimar geworden war. Vgl. E. v. d. Hellen „Goethes
Briefe ausgewählt etc. IV Bd. S. 294."

Riemer und Goethe verstanden sich nicht stets. Den 19. Mai
1809 schreibt Goethe an Riemer: „Den gestrigen Vorfall sehe ich
„als ein günstiges Ereignis an, denn die böse Laune, der Sie sich
„zeither übergeben, muszte früher oder später eine Szene herbei-

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„führen und ich gestehe Ihnen, Sie haben meine Geduld auf starke
„Proben gestellt. — Indessen mache ich Ihnen zur Pflicht, an Selbst-
„beherrschung, ja an Selbständigkeit zu denken und sich nach
einem Amte umzusehen —."

Den 17. Juni 1812 schreibt Wilh. von Humboldt aus Rudolstadt
an seine Frau: „Weiszt Du, dasz [Riemer] auch bei Goethe nach
„neun Jahren seine alten Verrücktheiten bekommen und deshalb
„das Haus verlassen hat? Goethe wollte nicht recht mit der Sprache

„heraus, ob es Liebe oder Hasz gewesen sei--Es ist Goethen

„sehr schade, so ungeheuer allein zu sein. Denn so viele Menschen
„er auch vorübergehend sieht, ist er mit Keinem vertraut und hat
„mir versichert, dasz wenn er Meyer und mich ausnähme, im ganzen
„weiten Deutschland Niemand sei, mit dem er eigentlich frei reden
„möge und könne."

Eine ungestüme Leidenschaft zu Caroline Humboldt, seiner Herrin,
hatte Riemer als Hofmeister in Humboldts Familie zu Rom gepackt
und ihn genötigt sein Verhältnis zu Humboldts im Sommer 1803
zu lösen. Vgl. „Riemer Mitteilungen über Goethe, hrsg. von Arthur
„Pollmer S. 5."

Die schwere Zeit der letzten napoleonischen Kriege fegt über
Thüringen, Riemer, also einer der wenigen Vertrauten Goethes,
schreibt im März 1814 an Frommann die bitteren Worte: „Goethes
„tanzlustige Damen werden heute nach Jena gekommen sein, denn
„sie ziehen wie die Geier und Raben immer der Armee nach. Das
„ist ein wahres Schlaraffenleben, was Diese führen! Vielleicht die
„Einzigen in Deutschland, denen es wohl ist----"

Nachdem sich Symptome der Krankheit gezeigt haben, der
Christiane 1816 erliegt, schreibt Riemer im Januar 1815 an From-
mann: „Der Schlag oder eine Art von Schlag im Wagen hat seine
„Richtigheit, wiewohl die Dame Das selbst nicht weisz. Unterdesz
„ist Alles wieder gut, und es sind schon Supplikationen angestellt
„worden oder vielmehr herumgeschickt, Visitenkarten mit der
„Inschrift: „Für genommenen Anteil höchlich dankbar."
„Das Gegenteil wäre für ihn vielleicht gut gewesen, für uns
„Andre gewisz."

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Das schreibt der Ehemann Caroline Ulrichs, der langjährigen
Gesellschafterin der Frau v. Goethe, mit der Caroline weitläufig
Verwandt war!
Um dieselbe Zeit notiert Goethe in seinem Tagebuch:
„1815 Januar 7 — Bey Riemers —"
„1815 Januar 8 — Mittag Riemers —"
„1815 Januar 29 — Mittag Riemers —"
„1815 Februar 14 — Riemers —"
„1815 Februar 26 — Riemers zu Tische —" u. s. w.
Während Goethes und Riemers familiär mit einander verkehren,
äuszert sich Goethes Kollaborator seit mehr als einem Jahrzehnt,
der Mann, der neun Jahre mit Frau von Goethe unter einem Dache
wohnte, in dieser Weise hinter ihrem Rücken einem Dritten
gegenüber!

„Riemer hatte Aussicht auf eine sehr gut bezahlte Professur in
„Rostock und versuchte, daraufhin eine Gehaltsaufbesserung in
„Weimar zu eriangen." Vgl. Bode. „Goethe in vertraulichen Briefen
„seiner Zeitgenossen" Bd. 2, Die Zeit Napoleons, S. 439."

Darüber schreibt Riemer im Febr. 1815 Folgendes an Frommann:
„Voigt und Goethe geben nun freilich nicht viel Trost. Letzterer
„sogar rät mir: an allen Strängen zu ziehen und zu sehen, wo
„und wie ich etwas erhalte! — Von dem Lumpengeide kann ich
„hier nicht leben; Schulden habe ich über die Gebühr.... Dazu
„noch eine so herzlose Antwort von Goethe, der mich gleichwohl
„hier behalten will und mir das Rostock ausreden möchte!"

So steht es zwischen Goethe und diesem „Auserwählten", wie
„ihn Johanna Schopenhauer in einem Schreiben vom 15. April
„1815 nennt: „Goethe ist fast den ganzen Winter recht ordentlich
„krank gewesen. Mancher häuslicher Verdrusz, Schreck über die
„fürchteriichen Zufälle seiner Frau, die nun am Ende sich doch
„wieder erholt (trotz aller gemachter Anstalten, selig abzufahren),

„hatten den doch ziemlich alten Herrn angegriffen.....Jetzt erholt

„er sich wieder. Aber kein menschliches Auge darf seit drei Monaten
„in das Heiligtum blicken, in welchem er hauset, auszer seinen Haus-

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„genossen und den beiden Auserwählten Riemer und Meyer."

1815 ist Goethe fast fünf Monate aus Weimar abwesend. Am 14.

Sept. 1815 schreibt ihm Christiane; „Ich gehe viel zu Riemers____"

Wohl mit auf Wunsch Goethes, denn aus Heidelberg schreibt er
seiner Frau den 26. und 27. September 1815:

„Wenn man zu Hause den Menschen so vieles nachsähe, als
„man auswärts thut, man könnte einen Himmel um sich verbreiten;
„freilich ist auf der Reise alles vorübergehend, und das Druckende
„läszt sich ausweichen."

„Deszhalb freu ich mich sehr, dasz Du mit Riemers gut stehst;
„ich wünsche diesen Winter mit ihm das nähere Verhältnisz, denn
„ich bringe viel zu thun mit, bedarf seiner Hülfe und kann ihm
„helfen. —"

Im Frühjahr 1816 erstrebt Riemer eine Wohnung am Park. Er
wittert „eine heimliche Kabale" Goethes, wodurch man ihn mit
etwas andrem abfinden möchte und er schreibt Frommann: „Das
„wäre mir ein schöner Lohn für die viele Gefälligkeit und Bereit-
„willigkeit, die ich stets und so auch diesen Winter für Goethe
„gehabt, dasz ich meine eigenen Sachen öfters hintangesetzt habe.
„Ich weisz nicht: der alte Herr gefällt mir nicht!"

Mit dem jungen Herrn, seinem ehemaligen Schüler, hatte Riemer
nie in ein freundschaftliches Verhältnis kommen können. Vgl.
Riemer „Mitteilungen über Goethe, hrsg. v. Arthur Pollmer S. 13 f."

Im Jahre 1812 bewarb sich August v. Goethe um die Liebe der
Ottilie von Pogwisch. Vgl. Bode „Goethes Sohn S. 177." Nachdem
es dann zwischen ihnen in dem Winter 1813 auf 14 zum Bruch
gekommen war, fand eine Wiederannäherung Augusts an Ottilie
im Sommer 1815 statt. Sie führte nach dem Tode der Frau von Goethe
am 31. Dez. 1816 zu einer öffentlichen Verlobung, am 17. Juni
1817 zur Eheschlieszung.

Über Augusts Braut nun gingen Klatschereien von Mund zu
Mund,^ deren Ursprung Ottiliens Freundinnen bei Caroline Riemer
suchten. Ein völliger Bruch zwischen August und Riemer war die
Folge. Vgl. Riemer etc. a. a. 0.

„Wie leid es mir tut", schrieb Goethe am 19. Juli 1816, „Sie,

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>,mein guter Riemer, mit meinem Sohne in einem Verhältnis zu
„sehen, welches mir nicht erlaubte, Sie einzuladen, musz ich aus-
„sprechen, eh ich scheide. Möge bei meiner Rückkunft alles aus-
„ geglichen sein."

Der Ausgleich erfolgte jedoch nicht, Riemer blieb dem Goethe-
haus fern bis zum Februar 1819. — Vgl. Riemer a. a. 0.

Klatschereien dieser Art können unser Gedicht sehr wohl ver-
anlaszt haben. Goethe wendet die altbewährte Methode an: er redet
nicht dagegen, er schweigt und denkt, oder möchte sich denken:

„Ich mach\' mir nichts daraus."

„Ade."

83. J. A. Bd. 3 S. 36. [W. A. Bd. 4 S. 6IJ.

„Inschriften, Denk- und Sende-Blätter."

„Den 6. Juni 1816."

„Du versuchst, o Sonne, vergebens —"

Anmerkung: Vgl. E. v. d. Hellen, J. A. Bd. 3 S. 300. —
„Am 6. Juni 1816 starb Goethes Gattin Christiane, geb. Vulpius."
v. d. Hellen protestiert gegen „die törichten und objektiv falschen
„Auffassungen und Darstellungen dieser Verbindung," fügt aller-
dings hinzu: „Die Klage der vorliegenden Verse darf man freilich
„auch nicht überschätzen. Es gehört zum Wesen der Dichtung
„Goethes, dasz er sein Gefühl auf die Spitze trieb, um sich in poe-
„tischer Gestaltung von ihm zu befreien!"

Das lehne ich ab: Nicht Goethe treibt sein Gefühl auf die Spitze,
sondern das Gefühl in Goethe gipfelt und entlädt sich u. a. poetisch.\'
So in diesem Falle.

Auch prosaische Äuszerungen Goethescher Gefühle beim Hin-
scheiden seiner Frau sind uns erhalten. Zu den merkwürdigsten
gehören Tagebuch, den 6. Juni 1816: „Leere und Todtenstille in
„und auszer mir." Zwei Tage später an Zelter: „Ich kann weiter
„keinen Gewinn des Lebens haben, als ihren Verlust zu bedauern,"

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eine Prosaform neben der rhythmischen der obigen Grabschrift.
Den 8. Juni 1816 an Sulpiz Boisseree: „Füge ich hinzu, dasz meine
„liebe kleine Frau uns in diesen Tagen verlassen, so nehmen liebe
„Freunde gewisz teil an meinem Zustande."

Am 7. Juni 1816 meldet das Tagebuch schon „Farbenversuche."
Mit allerlei Beschäftigungen suchte er sich aus einem Zustande zu
retten, der „an die Verzweiflung grenzte." Goethe an Boisseree,
den 24. Juni 1816.

An Cotta meldet er den 26. Juni 1816: „Ew. Wohlgeb. haben
„gewisz Anteil an meinem Zustande genommen, wenn Ihnen die
„Nachricht zukam, dasz meine liebe kleine Frau, deren Anmut Sie
„kannten, mich in diesen Tagen verlassen hat."

Riemer, der scharf sah und die Familienverhältnisse Goethes
aus nächster Nähe kannte, schreibt den 9. Juni 1816 an Frommann:
„Bei seiner Art zu sein (R. spricht von Goethe, de B.) und zu leben
„wird er sie (Christiane, de B.) nur zu oft vermissen. Ob er gleich
„gefaszt erscheint und von allem Andern spricht, so überfällt ihn
„doch mitten unter Anderen der Schmerz, dessen Tränen er umsonst
„zurückzudrängen strebt."

Johanna Schopenhauer meldet den 25. Juni 1816 der Elisa v.-d.
Recke: „Ich fand ihn (Goethe, de B.) dennoch verändert; mir scheint
„er recht im innersten Gemüt niedergeschlagen."

Scharfsinnig bemerkt Wilh. von Humboldt zu seiner Frau, am
25. Juni 1816: „Die ersten Tage war er, wie es aus seinem Briefe
„an Schlosser scheint, untröstlich; allein jetzt schreibt er schon
„wieder sehr heiter. Man könnte das Erste und bei dieser Person
„vielleicht gleich gut das Letzte begreifen; allein Beides zusammen
„ist wunderbar, obgleich nicht ungewöhnlich."

Wir müssen aus diesen poetischen und prosaischen Äuszerungen
schlieszen, dasz der rasche Tod von Goethes Gattin eine momentan

äuszerst empfindliche Lücke in seine Existenz risz. —
<

84^ J. A. Bd. 4 S. 70. [W. A. Bd. 3 S. 302 f.].

„Zahme Xenien IV."

„Ich wünsche mir eine hübsche Frau —" (1036—1039).

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„Wäre Gott und Eine —" (1040—1041).

„Gott hab\' ich und die Kleine —" (1042—1043).

„So laszt mir das Gedächtnis —" (1044—1045).

Anmerkung: H. G. Gräf nennt diese Verse nicht unter denen,
die er in „Goethes Liebesgedichten, 1920, Im Insel veriag zu Leipzig"
auf Christiane bezieht. Zum dritten Xenion bemerkt er in „Goethe
über seine Dichtungen, Lyrik II, 2, S. 1080":

„Gott hab\' ich und die Kleine —" (entstanden) 1823 Herbst —
„1827 Anfang; auf Christiane."

Max Morris rechnet sie nur von 1042 bis 1045 zur Christiane-
Lyrik.

E. V. d. Hellen sagt J. A. Bd. 4 S. 286: „1036—1045. Zum Gedächt-
„nis der 1816
verstorbenen Gattin. Vgl. „Inschriften etc." nr. 78
„(Bd. 3 S. 36, 300)."

Mit V. d. Hellen nehme ich an, dasz diese zehn Verszeilen sich auf
Christiane beziehen, möchte dazu aber Folgendes bemerken. Die
zahmen Xenien sind öfters dialogisch gebaut, so auch die des vierten
Buches.

Wo die Herausgeber Verse zwischen Anführungszeichen ab-
drucken lassen, haben wir es mit einer andern Person zu tun, als
wo im Zusammenhang damit Verse vorhergehen oder folgen ohne
dieses äuszerliche Unterscheidungsmerkmal. Lesen wir z. B. J. A.
Bd. 4 S. 70, 1024—1025:

„Ist dein Geschenk wohl angekommen?" (1024).

Sie haben es eben nicht übel genommen. (1025).
dann führt uns der Dichter nach einander zwei Personen redend vor.

Nun scheint mir orthographisch nicht immer nach demselben
Prinzip verfahren zu sein, denn in den unseren zu besprechenden
Xenien vorangehenden Versen 1034—1035:

Wenn dir\'s bei uns nun nicht gefällt.
So geh in deine östliche Welt.

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höre ich eine andere Stimme als in den antwortenden Versen
1036—1039:

Ich wünsche mir eine hübsche Frau,
Die nicht alles nähme gar zu genau,
Doch aber zugleich am besten verstände.
Wie ich mich selbst am besten befände.

Obgleich diese Komplexe von 2 und 4 Verszeilen durch einen
Strich von einander getrennt sind, verhalten sie sich zu einander
als „Rede" und „Gegenrede." Goethe führt in 1034—1035
nicht sich selbst, sondern einen andern redend ein. Mithin schlage
ich vor, diese Verse künftig zwischen Anführungszeichen abzu-
drucken, wodurch das Folgende deutlicher hervortritt.

Die Verse 1036—1039 werden nämlich von Goethe selbst in der
Stimmung x gesagt, und tragen bei der duftigen Ausmalung der
gewünschten Frau m. E, Züge der verstorbenen Christiane in das
Wunschbild hinein. Ich fühle die Verse als leichthin gesagt mit
einem ganz feinen Hauch fast unmerklichen Scherzes.

Die Verse 1040—1041:

Wäre Gott und Eine,
So wäre mein Lied nicht kleine.

höre ich von Goethe in anderer Stimmung gesagt: nennen wir sie
ß. Es liegt etwas Melancholisches in diesem Irreales herbeisehnenden
Xenion. Die Melodie unserer kleinen, zehnzeiligen Komposition geht
mit diesen Versen in eine weiche Molltonart der Trauer über.

Sodann haben wir es mit Goethe in der Stimmung y zu tun. Kräftig
tönt des Dichters Stimme gegen sich selbst herauf, voller Zuver-
sicht heiszt es in den Versen 1042—1043:

Gott hab\' ich und die Kleine
Im Lied erhalten reine.

Mild beschwichtigend wendet er sich an die tadelnde Welt mit
den Schluszzeilen 1044—1045:

So laszt mir das Gedächtnis
Als fröhliches Vermächtnis.

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85. J. A. Bd. 4 S. 70 f. [W. A. Bd. 3 S. 303].

„Zahme Xenien IV."
„Sie betrog dich geraume Zeit — " (1046—1049).

„Betrogen bist du zum Erbarmen, —" (1050—1054).

Anmerkung: Beide Xenien fehlen in Gräfs Register zu
„Goethe über seine Dichtungen, Lyrik II, 2." — Vgl. nr. 60 dieses
Abschnitts. — E. v. d. Hellen bemerkt Bd. 4 S. 282: „Keineswegs
„— sind diese Xenien sämtlich erst nach dem Abschlusz des dritten
„Buches, also seit dem Frühjahr 1824 entstanden; für mehrere sind
„wir durch handschriftliches Zeugnis älterer Daten gewisz, für andere
„lassen solche sich aus dem Inhalt erschlieszen oder vermuten." —

Die Gegenüberstellung der Ideen „Schein" und „Wirklichkeit"
dürfte auf philosophische Studien in der Entstehungszeit dieser
Xenien hindeuten. Das Tagebuch enthält unter dem 9. Sept. 1817
die Notiz: „Intuitiver Verstand (Kants) auf Metamorphose der
Pflanzen bezüglich."

Überhaupt beschäftigte sich Goethe 1817 mehrfach mit Kants
„Kritik der Urteilskraft." Auch in den Jahren 1820, 1822, 1824
wird Kant in den Tagebüchern erwähnt.

Nun heiszt es im „Epirrhema", das angeblich 1819—20 der
„Metamorphose der Pflanzen" angeschlossen wurde:
„Freuet euch des wahren Scheins —".

Wir sind mit dem Zyklus „Gott und Welt" in dem Gedanken-
kreis, dem auch Christianens verklärtes Bild angehört. Die „Zahmen
Xenien IV, 1046—1054" sind retrospektiv.

Aus diesen Andeutungen möchte ich folgern, dasz Goethe sich
hier nochmals grübelnd mit dem alten Christiane-Problem befaszt
und die Stimmen des Zweifels, die auch nach ihrem Tode manchmal
in seinem Innern geweckt wurden, durch seine der Philosophie
entnommene Argumentation zu schweigen sucht, indem er die
für den Menschen so überaus grosze Wichtigkeit des „Scheins"
hervorhebt, denn „das Wahre, mit dem Göttlichen identisch, läszt
-sich niemals von uns direkt erkennen."

Vgl. J. A. Bd. 40 S. 55, 10 f.

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SECHSTER ABSCHNITT.

Goethes Ehe. Eine Übersicht.

Von seinen physisch-moralischen Übeln nicht ganz geheilt kehrte
Goethe im Gefühl einer groszen Überlegenheit aus Italien nach
Weimar zurück: „Keiner, der mir nun aus Rom nach Norden kommt,
„kann mir imponieren —" (Goethe an Frau v. Stein, Rom, den 19.
Jan. 1788). Im Bewusztsein seines geistigen Reichtums schreibt
er an Knebel: „Ich bringe vieles mit, wenn ihr nur im Fall seid,
„es zu genieszen." (Mailand, den 24. Mai 1788).

Am späten Abend des 18. Juni 1788 traf Goethe wieder in Weimar
ein. In der Geschichte seines botanischen Studiums charakterisiert
er seine Stimmung in der ersten Zeit nach der Rückkehr wie folgt:
„Aus Italien, dem formreichen, war ich in das gestaltlose Deutsch-
„land zurückgewiesen, heiteren Himmel mit einem düsteren zu
„vertauschen; die Freunde, statt mich zu trösten und wieder an
„sich zu ziehen, brachten mich zur Verzweiflung. Mein Entzücken
„über entfernteste, kaum bekannte Gegenstände, mein Leiden,
„meine Klagen über das Verlorne schien sie zu beleidigen, ich ver-
„miszte jede Teilnahme, niemand verstand meine Sprache. In
„diesen peinlichen Zustand wuszt\' ich mich nicht zu finden; die
„Entbehrung war zu grosz, an welche sich der äuszere Sinn gewöhnen
„sollte; der Geist erwachte sonach und suchte sich schadlos zu
„halten. —" (J. A. Bd. 39, S. 317).

Und nicht nur der Geist, sondern auch der Leib, denn „man
„verwöhnt sich nach und nach so sehr, dasz einem das Natürliche
„unnatürlich wird. Ich habe zwar hierüber nicht mehr mit mir zu
„kämpfen, doch mich immer daran zu erinnern." (Goethe an Karl

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August, den 1. Okt. 1788). Das ist Karl August gegenüber wohl
die erste Hindeutung Goethes auf seine Verbindung mit Christiane
Vulpius und die Lösung seines Verhältnisses zu Frau v. Stein.

Am 12. Juli 1788 führte ein Bittgesuch, das Christiane Vulpius
dem Herrn Geheimrat für ihren Bruder Christian August im Park
überreichte, die Bekanntschaft mit Goethe herbei. Vgl. Vorbemer-
kung des Fünften Abschnitts. —

Ob man in der Familie Vulpius absichtlich das junge Mädchen
an den Geheimrat absandte, von dem wohl allgemein bekannt
war, dasz er gegen weibliche Reize nicht ganz unempfindlich war,
oder ob es zufälligerweise geschah, bleibe dahingestellt.

Goethes „Studentenader" regt sich. Das Gerücht nimmt sich
schon bald der Beziehungen Goethes zu Christiane Vulpius an.
Fritz von Stein
überbringt seiner Mutter, was Goethe ihr nicht
gestehen mochte. Noch stets ist er bemüht das Seelenverhältnis zu
Charlotte von Stein fortbestehen zu lassen. „Lasz uns freundlich
„Leid und Freude verbinden, damit die wenigen Lebenstage genossen
„werden." (Goethe an Frau von Stein, den 20. Febr. 1789).

Es gelingt aber noch weniger als vorher. Frau v. Stein reist am 5.
Mai 1789 nach Ems ab und läszt Goethe einen Brief zurück, den
er mit dem wichtigen Schreiben vom 1. Juni 1789 beantwortet.
In diesem Briefe sagt er ihr, dasz die Art und Weise, wie sie ihn
empfangen, und andre ihn genommen hätten, nachdem er aus
Italien eigentlich blosz ihret- und Fritzens wegen zurückgekehrt
sei, das Verhältnis (zu Christiane) begünstigt habe: „Und welch
„ein Verhältnis ist es? Wer wird dadurch verkürzt? wer macht
„Anspruch an die Empfindungen, die ich dem armen Geschöpf
„gönne? Wer an die Stunden, die ich mit ihr zubringe?" (den 1.
Juni 1789).

Ziehen wir noch einmal den undatierten Brief Goethes an Frau
v. Stein, den Heinemann als
nr. 215 in den Mai 1784 stellt, den wohl
datierten vom 22. Nov. 1784, den Brief aus Italien vom 21. Febr.
1787, den Brief an Karl
August vom 25. Januar 1788 und den Brief
an ihn vom 1. Okt. 1788 heran, dann will mich bedünken, dasz
die Hypothese sich bestätigt: Frau v. Stein wünschte zu Goethe

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ein unsinnliclies Verhältnis. Es gelang ihm nur mit groszer Selbst-
überwindung ihrem Verlangen zu genügen, während sie mitunter
selbst gegen ihren Wunsch verstiesz. Neben den neuen
Beziehungen
zu Christiane Vulpius hofft Goethe das alte Seelenverhältnis zu
Charlotte v. Stein aufrecht zu erhalten.

Eine Woche später schreibt Goethe nochmals der Frau v. Stein
einen nicht weniger wichtigen Brief. Der Brief vom 1. Juni 1789
ist vorwurfsvoll, drückt klar aus: ich darf einer andern schenken,
was du nicht begehrst. Der Brief vom 8. Juni 1789 lenkt ein, bittet:
„Hilf mir selbst, dasz das Verhältnis, das dir zuwider ist, nicht
„ausarte, sondern stehen bleibe, wie es steht." — Charlotte von
Stein scheint schweigend abgelehnt zu haben. Es hat Jahre gedauert,
ehe sie sich durch Augusts Besuche und Fritzens Angelegenheiten
wieder näherten.

Goethe hat, wenn nicht sofort, dennoch recht bald sein Verhältnis
zu Christiane Vulpius als eine Gewissensehe ohne Zeremonie aufge-
faszt. (1790). Vgl. Gespräche. Bd. 1 S. 174. —

Während Goethe innerlich vereinsamt, denn Frau von Stein
hat sich von ihm abgewandt und ich bezweifle, ob Christiane Vulpius
für sein Seelenleben ein gleichwertiger Ersatz gewesen sei, wächst
langsam wie ein Orangenbaum Tasso heran. Dieses herrliche Werk
Goethes wird im Frühling des Jahres 1789 vollendet. Sprachlich
von einer seltenen Noblesse, ergreift es am meisten dadurch, dasz
wir sehen, wie Tasso - Goethe entsagen musz, weil er sich durch sich
selbst das ersehnte Höchste entfremdet. Es ist der erschütternde
poetische Abschied von der einst über alles Geliebten. Während-
dessen reiften, als ergänzender Gegensatz, die „Römischen Elegien"
heran.

Ende 1789 muszte Goethe das Haus am Frauenplan räumen
und bezog für drei Jahre das „Jägerhaus" vor dem Frauentor.
Wo Christiane Vulpius in der ersten Zeit ihrer Bekanntschaf mit
Goethe gewohnt hat, scheint nicht festzustehen. Am 25. Dec. 1789
gebar sie Goethe einen Sohn, den sie Julius August Walther nannten.
Goethe hatte den Herzog gebeten, Pate des Kindes zu sein. Obgleich

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Karl August zugesagt, erschien er nicht zur Taufe. Erst allmählich
scheint Christiane Vulpius in Goethes Wirtschaft als Stütze und
Aufseherin eingetreten zu sein. Im November 1790 heiszt es, sie sei
in Goethes Hause „so gut als etabliert." Vgl. Schiller an Körner,
den 1. Nov. 1790. — Als Goethe im Sommer 1792 wieder in das
Haus am Frauen plan einzog, gehörte sie mit ihrem Kinde wohl zu
seinem Haushalte. Christianens Tante Juliane (1734—1806) und
ihre jüngere Stiefschwester Ernestine (1775—1806) traten, wahr-
scheinlich bald, mit Goethes Erlaubnis, oder gar auf seinen Wunsch,
in die Hausgenossenschaft ein. Auch der Schweizer Maler Johann
Heinrich Meyer (1759—1832), Goethes Kunstfreund seit seiner
italienischen Reise, gehörte jahrelang zum Goetheschen Haus,
Waltete als Christianens Berater, wenn Goethe abwesend war.

Über die Anfänge des „realistischen Bündnisses" fehlen uns
Goethes ausführliche eigene Mitteilungen, Vgl. Schema zu „Dichtung
und Wahrheit," W. A. Bd. 53 S. 382. —

Das Tagebuch schweigt über diese Zeit, sowie es schwieg über
die letzten Jahre des
Goetheschen Verhältnisses zu Frau von Stein
vor der italienischen Reise. Goethes Briefwechsel mit seiner Frau
fehlt uns bis zum 9. August 1792. Vgl. Gräf „Goethes Briefwechsel
mit seiner Frau. Bd. 1 S. XXVI." — Nur hier und da streift Goethe
in seinen Werken die ersten Jahre seiner Gewissensehe mit gelegent-
lichen Bemerkungen. So heiszt es in der „Kampagne in Frankreich,
J. A. Bd. 28 S. 148 f:"

„Das Sehnsüchtige, das in mir lag, das ich in früheren Jahren
„vielleicht zu sehr gehegt und bei fortschreitendem Leben kräftig
„zu bekämpfen trachtete, wollte dem Manne nicht mehr ziemen,
„nicht mehr genügen, und er suchte deshalb die volle, endliche
„Befriedigung." — Er spricht dann über seine Sehnsucht nach
Italien, dem Lande der Kunst. Dann über die Sehnsucht nach der
Kunst selbst. Weiter heiszt es: „Aber zu gleicher Zeit sollte mich
„noch eine Ableitung der Welt entfremden, und zwar die entschie-
„denste Wendung gegen die Natur, zu der ich aus eigenstem Trieb
„auf die individuellste Weise hingelenkt worden. Hier fand ich
„weder Meister noch Gesellen und muszte selbst für alles stehen.

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„In der Einsamkeit der Wälder und Gärten, in den Finsternissen
„der dunklen Kammer wär\' ich ganz einzeln geblieben, hätte mich
„nicht ein glückliches häusliches Verhältnis in dieser wunderlichen
„Epoche lieblich zu erquicken gewuszt. Die „Römischen Elegien",
„die „Venezianischen Epigramme" fallen in diese Zeit." — Als
ein anmutiges „Naturwesen" trat Christiane Vulpius dem Dichter
entgegen. Vgl. dagegen Simmel „Goethe S. 208". —.

Der übersinnlich-sinnliche Freier glaubt für Körper und Geist das
Gleichgewicht zu finden, indem er Frau v.
Stein und Christiane Vulpius
verschiedene Gebiete seines Wesens zuweist. Ein gewagtes Experi-
ment, das nicht gelingt. Frau v. Stein scheidet aus. Er hängt sich
nun mit trotzigem Stolz an „das arme Geschöpf" und das keimende
neue Leben, das er sein weisz. Die rasch Ergriffene packt sich ihm
zudringlicher auf als die Sorge, wird durch den Sohn seiner Existenz
als unzertrennlicher Teil einverleibt.

Mir scheint, dasz Gräf in „Goethes Briefwechsel mit seiner Frau,
Bd. 1 S. XXH" nicht ganz das Richtige trifft, wo er sagt: „Aus
„Rücksicht auf seine amtliche und gesellschaftliche Stellung geschah
„es, selbstverständlich zugleich aber auch aus Schonung für die
„Geliebte, dasz Goethe sie nicht sofort durch kirchliche Trauung
„vor der Welt zu seiner Frau erhob. Wie hätte er als Gatte die
„Demütigungen und Schmähungen ertragen können, denen Christiane
„in den aristokratischen Kreisen Weimars ausgesetzt gewesen wäre,
„in die er sie hätte einführen müssen; wie wäre Christiane fähig
„gewesen, sich in diesen Kreisen angemessen zu bewegen! Goethe
„hatte die bittern Erfahrungen nicht vergessen, die er selbst, der
„Bürgerliche, bei seinem Eintritt in die Weimarer Hofkreise hatte
„machen müssen." —.

Schiller, der aus eigner Erfahrung und durch seine Frau in den
aristokratischen Kreisen Weimars wohl Bescheid wuszte, urteilte
anders als Gräf nach mehr als hundert Jahren. Am 1. Nov. 1790
schrieb er an Körner: „Es ist sehr wahrscheinlich, dasz er (=Goethe,
de B.) sie (= Christiane Vulpius, de B.) in wenigen Jahren heiratet."
Schiller hielt also eine solche Ehe in Goethes Lage nicht nur für
möglich, sondern sogar für „sehr wahrscheinlich in wenigen Jahren."

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Wieland, der ehemalige Erzieher des Herzogs und des Prinzen
Konstantin, der Freund der Herzogin-Mutter Anna Amalie, ver-
kehrte wohl bei Hof, die Hofrätin Wieland aber sah Freunde nur

im eignen Hause.

Wenn auch das, was Gräf anführt, nicht ohne Bedeutung gewesen
sein dürfte, zu den Gründen, die Goethe achtzehn Jahre lang davon
abhielten, seine Gewissensehe kirchlich legalisieren zu lassen, müssen
wir m. E. auch Folgendes rechnen:

Goethe hat an der Treue („fides") der Christiane Vulpius ge-
zweifelt. Vgl. oben nr. 33, 60, 80, 85 des Fünften Abschnitts und
Riemers Notiz vom 15. Mai 1808 in seinen „Mitteilungen über
Goethe, hrsg. v. Arthur Pollmer, 1921 S. 292": „Goethes Geschichte
amoris uxoris suae post expertam fidem." —

Unter der Ungesetzmäszigkeit seiner Gewissensehe hat Goethe
sicher gelitten. Schreibt er doch am 7. November 1821 an Kari
Ernst Schubarth, der ihn von seiner Verehelichung benachrichtigt
hatte: „Zuvörderst aber will
ich meinen Segen zu einer schleunigen
„Verehelichung geben, sobald Ihre Hütte einigermaszen gegründet
„und gedeckt ist. Alles, was Sie darüber sagen, unterschreibe Wort
„für Wort, denn ich darf wohl aussprechen, dasz jedes Schlimme,
„Schlimmste, was uns innerhalb des Gesetzes begegnet, es sei natür-
„lich
oder bürgeriich, körperiich oder ökonomisch, immer noch
„nicht den tausendsten Teil der Unbilden aufwiegt, die wir durch-
„kämpfen müssen, wenn wir auszer oder neben dem Gesetz, oder
„vielleicht gar Gesetz und
Herkommen durchkreuzend einhergehen
„und doch zugleich mit uns selbst, mit andern und der moralischen
„Weltordnung im
Gleichgewicht zu bleiben die Notwendigkeit
„empfinden."

Seine Ehescheu besiegte Goethe erst, als Christiane in der
Schreckensnacht des 14.
Oktober 1806 mutige Geistesgegenwart
gezeigt hatte, als die künftige Laufbahn seines fast erwachsenen
Sohnes und eine vielleicht gänzlich neue Ordnung aller bürger-
lichen Verhältnisse unter französischer Obergewalt den letzten
Schritt mit Rücksicht auf die Rechte der Seinigen dringlich for-

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derten. Vgl. Schiller an Körner, den 1. Nov. 1790; E. v. d. Hellen
„Goethes Briefe, Bd. 4, S. 274 nr. 1070 nebst Anmerkung." —

Goethes angeborene Unruhe, seine Amtestätigkeiten, Arbeiten
und Studien, sowie seine Erholungsreisen haben ihn oft von Weimar
fortgeführt. Nicht nur nach Jena, sondern weit in die Ferne nach
Venedig, Schlesien, Frankreich, Frankfurt, Düsseldorf, Süddeutsch-
land, der Schweiz und Böhmen. Von diesen Reisen, die bisweilen
Monate dauerten, schickte er ziemlich regelmäszig der Geliebten
seine Briefe, die verglichen mit den Zetteln, Briefen und Tage-
buchblättern für Frau von Stein einen auffallend realistischen
Charakter haben. In den Briefen an Christiane fehlt die Gefühls-
überschwenglichkeit. Sie handeln von Haus und Haushalt, Garten,
Blumen-, Gemüse-, Obstbau, Kleidung, Speise und Trank, von
Kindererziehung, Festlichkeiten, Theater, Tanz und nebenbei von
poetischer und wissenschaftlicher Arbeit. Die Briefe an Christiane
haben etwas Durchsichtiges, sie muten oft wie Linien an, gezogen,
damit das Leben der Geliebten ordentlich verlaufe. Goethe blickt
in seinen Briefen an Christiane auf sie wie auf einen Mündel vor-
mundschaftlich hinunter. Er leitet.

Mag Christianens Orthographie mitunter wildwüchsig sein, der
Inhalt ihrer Briefe ist urwüchsig. Sie zeugen von einem hellen,
natürlichen Verstand. Ihren „Naturalismus" hat man ihr nörgelnd
vorgeworfen, Goethe, der um diese Zeit „die entschiedenste Wen-
dung" zur Natur hin macht, wird daran seine Freude gehabt haben.
Und darauf kam es für Christiane an. Unorthographisch schrieben
zu der Zeit auch „gebildete" Frauen wie die Herzogin-Mutter Anna
Amalie, Frau v. Stein, Goethes Mutter, Bettina v. Arnim, während
Goethe von sich mit komischer Übertreibung sagt: „Ein Wort
„schreibe ich mit dreierlei Orthographie."

Schlimmer war es, dasz Christiane Goethes schriftliche Aufträge
nicht stets ausführte, was auf Nachlässigkeit hinweist. Von ihren
hausfraulichen Lasten, die sie öfters eingehend schildert, hat sie
einen bedeutenden Teil auf ihre Stiefschwester Ernestine und die
Tante Juliane abgewälzt. Mögen ihre Dienstboten nicht stets die

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Qualitäten von Frau von Steins Diener Schach gehabt haben,
Christiane scheint nicht immer den erforderlichen Takt besessen
zu haben, wozu allerdings ihre stadtbekannte Stellung in Goethes
Haus beigetragen haben wird.

Goethes Haushalt musz verhältnismäszig kostspielig gewesen
sein. Jahrelang hielt er seiner Frau eine Gesellschafterin, sowie
seinem Sohne einen Erzieher. Er schaffte sich Pferd und Wagen
an und Christiane lernte zum Erstaunen Weimars fahren und reiten.
An Bewegung und Tätigkeit hatte sie ihre Freude und tanzte leiden-
schaftlich gern, sodasz es auffiel, besonders als Deutschland unter
Kriegsnöten seufzte. Sie putzte sich gern und liebte bunte Farben.
Nach wenigen Jahren wurde das jugendfrische Mädchen mit den
braunen Augen und den dunklen Locken eine vierschrötige, derbe
Person mit rötlichem
Gesicht. Sie asz und trank reichlich, hielt
auch Goethe dazu an,
sodasz der früher schlanke Geheimrat dick
wurde, und sprach dem Weine wohl fleisziger zu, als ihr zuträglich
war. Sie gebar Goethe nach ihrem Sohne August noch vier Kinder,
von denen eines tot geboren wurde, drei nur kurz lebten. Man hat
daraus Christiane einen
Vorwurf gemacht, was nicht gerecht ist,
da über Goethes
Gesundheit das Urteil der Mediziner nicht eindeutig
feststeht und überdies in jenen Zeiten die Säuglingssterblichkeit
gröszer war als jetzt.

Das Theater liebte Christiane sehr und so hat die Bühne zu ihrer
EntWickelung viel beigetragen. Goethe betrachtete sie in spätem
Jahren fast als eine
Bühnensachverständige, und jedenfalls war sie
ihm oft Berichterstatterin, wenn er selbst nicht hinging. Mit Schau-
spielern und Schauspielerinnen hat Christiane gern verkehrt. Bis
zum Jahre 1806 waren die höheren Kreise ihr ganz verschlossen,
später nahezu. Herders Gattin soll sie vor 1806 persönlich gekannt
und wohl einmal besucht haben. Da Goethe dem Weimarer Theater
als Kunstleiter vorstand, waren die Schauspieler mehr oder weniger
von ihm abhängig. Die Damen und Herren der Bühnenwelt, die in
einer andern Sphäre als die
bürgerlichen und adligen Kreise Weimars
lebten, standen der Demoiselle Vulpius näher. Sie war der Theater-
Boheme eine Gönnerin, die gern ein gastliches Haus machte. Mag

14

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dieses Treiben Goethe manchmal willkommen gewesen sein, es
war ihm wohl nicht stets recht. Es. steht aus wiederholten
Äuszerungen Goethes fest, dasz er zu Hause in Weimar öfters nicht
ruhig arbeiten konnte, dann floh er gewöhnlich nach Jena. Mag
Christiane auf ihre Art und Weise ihr Bestes getan haben, es dem
„Geheimrat" daheim angenehm zu machen, Schiller spricht
geradezu von „elenden häuslichen Verhältnissen" Goethes! (Schiller
an Körner, den 21. Okt. 1800). —

Der Kauf des Gutes Ober-Roszla, der Goethe bedeutende finanzielle
Sorgen bereitete, war ein Fehler. Schon nach wenigen Jahren ver-
kaufte Goethe den Besitz. Vgl. Karoline Herder an Knebel, den
15. April 1801.

„Äugelchen," Liebeleien oberflächlichen Charakters, setzte es auf
beiden Seiten. Spuren von Eifersucht zeigt Goethe dem jungen
Arzte Nikolaus Meyer gegenüber, während sich Christiane und
Bettina von Arnim nicht wohlgesinnt waren.

Manche haben der Christiane ihr Glück nicht gegönnt, wollten
ihr nicht wohl, verlästerten sie. Und sie hatte Temperament, liebte
es den Leuten die Stirn zu bieten, wenn sie sich verletzt fühlte.
Ihre Freuden, die man ihr gern verderbe, wie sie Goethe den 24.
Nov. 1798 schreibt, wolle sie sich durch nichts verbittern lassen.
So trumpfte sie auf, um ihrerseits die Leute zu ärgern, wenn ihr
auch nachts so schwer träumte, dasz sie ihr ganzes Kopfkissen
naszweinte.

Schneidende Bemerkungen über Christiane sind uns von Frau
von Stein überliefert. Charlotte litt schwer. Dasz der Tod ihres
Sohnes Ernst, die überhandnehmende Krankheit ihres Gatten,
die natürlichen Beschwerden des Klimakteriums vermehrt durch
die gewaltig aufregenden Folgen ihres Bruches mit Goethe Spuren
einer Psychose zeitigten, scheint mir recht plausibel. Vgl. Lena
Vosz „Goethes unsterbliche Freundin, Charlotte von Stein S. 142 f."

Interesse und Liebe hat Frau von Stein dem kleinen August
nach einigen Jahren in auffallender Weise zugewandt. Treffendes
über seinen Charakter bemerkt und mit ihrem Urteil über seine

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Erziehung nicht zurückgehalten. Einer Frau von Charlottens Geburt,
Charakter, Erziehung und Gewohnheiten muszte es zuwider sein,
dasz Christiane ihrem Kinde in so jugendlichem Alter übermäszigen
Weingenusz erlaubte. Vgl. Charlotte von Stein an ihren Sohn

Friedrich, den 14. Januar 1801. —

In solchen Angelegenheiten trifft mehr als die Mutter den Vater
die Schuld, nachlässig und schwach in der Erziehung des Kindes

gewesen zu sein. ^ r, ,, u i. ..

Man hat das Verhalten der Frau Rat gegen Goethes „Bettschatz

als ein Lob für Christiane gedeutet. Das mag in beschränktem Sinne
wahr sein. Es ist dabei nicht zu vergessen, dasz Goethes Mutter und
Christiane sich recht selten persönlich getroffen haben und dasz
es für Frau Rat, die überhaupt gerne die guten Seiten der Menschen
sah, nicht schwer hielt, brieflich zur Liebsten ihres einzigen heisz-
geliebten Kindes ein gutes Verhältnis aufrecht zu erhalten. Die
lobende Anerkennung, welche Henriette Schlosser eine Tochter
von Goethes Schwager aus dessen zweiter Ehe, Christiane anlaszhch
der persönlichen Begegnung bei der Erbschaftsteilung nach dem
Tode der Frau Rat zollte, ist wichtiger. Vgl. Henriette Schlosser

an Klara von Clermondt, den 4. Dez. 1808. ^ ^

Goethe liesz seinem Sohn die landesübliche Erziehung der Kinder
höherer Stände angedeihen. Er
verkehrte mit gleichaltrigen Kindern
aus den ersten Weimarer Kreisen. Dabei läszt sich vermuten dasz
die ungewöhnliche Lage der Goetheschen Famüie ihm zuerst durch
Kindermund und
Bedientengeschwätz angedeutet wurde. Eine
Volksschule hat August nicht besucht, sondern gmg vom April
1797 bis in den Sommer 1802 zu seinem Lehrer tisert ms Haus.
Nach Goethes schwerer
Krankheit Anfang 1801 wurde August
durch Reskript vom 15. März legitimiert und am 13. Juni 1802
konfirmiert. Seit 1803 bekam er Unterricht im eignen Hause von
Riemer, bis er 1805 in die Prima des Gymnasiums aufgenommen
wurde. Seit 1808 studierte er in Heidelberg, später in Jena, wurde
den 23 Dez 1811 zum wirklichen Assessor beim Kammer-Kollegium
ernannt, um später zum Kammerjunker und Kammerrat vorzu-
rücken. Vgl. W. Bode „Goethes Sohn."

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, Als sein Sohn heranwuchs, war Goethe mancher Unannehm-
lichkeit, die aus der Ungesetzmäszigkeit seines Liebesbundes ent-
stand, ausgesetzt. So gab es Paszschwierigkeiten bei der Reise mit
den Seinen nach Frankfurt im Jahre 1797, wahrscheinlich auch
Frühjahr 1805. E. v. d. Hellen vermutet, dasz ein ähnliches Hindernis
im Frühling 1806 die geplante Reise Augusts nach Berlin hintertrieb.
Vgl. E. v. d. Hellen „Goethes Briefe, Bd. IV, S. 274, Fusznote zu 14".—

Nach dem Sieg der Franzosen bei Jena Anfang Oktober 1806, als
der Herzog, um dessen Bewilligung man hätte bitten müssen, ab-
wesend war, als niemand nach den Formalitäten und Fristen des
Aufgebots fragte, liesz sich Goethe am 19. Oktober 1806 in der
Sakristei der Jakobskirche mit Christiane Vulpius trauen. Riemer
und August waren Zeugen. Goethe trachtete nun seine Gemahlin
in die vornehmen Kreise Weimars einzuführen, wobei ihm Frau
Johanna Schopenhauer freundlichen Hilfsdienst leistete.

Die Trauung hat an Christianens Stellung wenig geändert. Aller-
dings hat Goethes Mutter vor ihrem Tode die Freude gehabt, die
Gattin ihres Sohnes bei sich in Frankfurt zu sehen. Goethe aber
verreiste wie vordem gewöhnlich im Sommer nach irgend einem
Badeorte und war auch sonst oft abwesend. Auch Christiane be-
sucht einige Male ein Bad, denn die . Ärzte behaupten, sie „wäre
vor lauter Gesundheit krank."

„Die höhere Welt," wie es in der „Metamorphose der Pflanzen"
heiszt, hat Goethe mit Christiane nicht gefunden. Er nahm aber
ihren Charakter als ein Gegebenes hin, oder versuchte es. Scherz-
weise sagte er einmal: „— das gefällt mir eben an ihr, dasz sie nichts
„von ihrem Wesen aufgibt und bleibt, wie sie war." Vgl Gespräche
Bd. I S. 554.

Nicht nur den Haushalt im engern Sinne führte sie, auch die
Sorge für Gärten und Äcker lag ihr ob, zwar wohl nie ohne Dienst-
boten und bis zum Jahre 1806 halfen ihr auch Ernestine und die
Tante Juliane. Je mehr Bewegung sie hatte, desto besser befand
sie sich. Vgl. Christiane an Goethe, den 18. Juli I8I0. —. Ihr Tanzen,
Fahren, Reiten, Schlittenlenken musz daher teilweise als natürlich-
hygienisch gedeutet werden. Zum Schreiben wie zum Lesen fehlte

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ihr gewöhnlich die Geduld. Wenn es ihr bei ihrem bedeutenden
Mutterwitz auch nicht an einer Art von Kultur gebrach, „das Reich
des Geistes hatte kein Dasein für Sie." Vgl. Gespräche Bd. 1 S. 498.—
Hier dürfte Goethe zwar übertrieben haben, denn aus seinen Tage-
büchern ist bekannt, dasz er ihr und ihrer Gesellschafterin an stillen
Abenden mancheriei Eigenes vorias, oder auch als Manuskript zu-
schickte. In den zweihundertsiebenundvierzig von Gräf veröffentlich-
ten Briefen Christianens an Goethe kommt nur ein Zitat aus Goethes
Werken vor und eine Anspielung auf eins seiner Gedichte. Das ist
keine reiche Ausbeute, wenn wir an alle die Werke denken, welche
Goethe bis zu Christianens Tod vollendete.

Heller als die Briefe an seine Frau, die selbstverständlich auf sie
eingestellt waren, beleuchten die im Fünften Abschnitt
behandelten
lyrischen Gedichte Goethes seine Ehe mit Christiane. Wir müssen
nach Morris\' Ausführungen in seinen „Goethe-Studien, Bd II S.
90 f." weiter annehmen, dasz der Dichter in seinen drei Masken-
dichtungen „Die neue Melusine," „Der neue Paris und „Märchen
„die Bedrängnisse und
Schwierigkeiten seiner häuslichen Existenz
„poetisch zu schlichten und zu lösen
versucht." Es sei dabei besonders
auf „Die neue Melusine" hingewiesen, wo er zu emem Marchen-
traumschlusz kam, der der Wirklichkeit widersprach: er feilte den
Ring in der Tat nicht durch. Morris hört auch
in „Pandom das
beglückend zerstörende
Lebensereignis" anklingen So nimnit er
auch an, dasz Goethe in der „Natüriichen Tochter" an einer Reihe
von Stellen an sich,
Christiane und August gedacht habe.

Davon bin ich überzeugt, dasz Goethe in seiner Ehe innerlich
einsam war. Hat er sie auch im tiefsten Herzen als Irrung empfunden,
das war ihm noch kein Grund das Bündnis zu lösen. Zwar hat er die
Fesseln durch seine wiederholte Abwesenheit und auch in anderer
Weise geweitet, allein er dauerte aus, denn „ausdauern soll man,
„da, wo uns mehr das Geschick als die Wahl hingestellt. Bei einem
„Volke, einer Stadt, einem Fürsten, einem Freunde, einem Weibe
„festhalten, darauf alles beziehen, deshalb alles wirken, alles ent-

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„behren und dulden, das wird geschätzt; Abfall dagegen bleibt
„verhaszt, Wankelmut wird lächerlich." Vgl. J, A. Bd. 34, S. 20
Z. 25 f. „Winckelmann." —.

Ein Strindberg oder Nietzsche könnte hier Feigheit wittern,
oder unserem Dichter vorwerfen, er habe der Menschen Lob erstrebt
und ihren Hohn gefürchtet. Allein die Dinge liegen anders, wir treffen
hier auf einen tiefen Grundgedanken Goethes, den er in seinen
biographischen Einzelheiten deutlicher ausgesprochen hat: „Gar oft
„im Laufe des Lebens mitten in der gröszten Sicherheit des Wandels
„bemerken wir auf einmal, dasz wir in einem Irrtum befangen sind,
„dasz wir uns für Personen, für Gegenstände einnehmen lieszen,
„ein Verhältnis zu ihnen erträumten, das dem erwachten Auge
„sogleich verschwindet; und doch können wir uns nicht losreiszen,
„eine Macht hält uns fest, die uns unbegreiflich scheint. Manchmal
„jedoch kommen wir zum völligen Bewusztsein und begreifen, dasz
„ein Irrtum so gut als ein Wahres zur Tätigkeit bewegen und antrei-
„ben kann. Weil nun die Tat überall entscheidend ist, so kann aus
„einem tätigen Irrtum etwas Treffliches entstehen, weil die Wir-
„kung jedes Getanen ins Unendliche reicht. —"

J. A. Bd. 25 S. 209. —

Christiane war vor wenigen Tagen ins 52. Lebensjahr getreten,
als ihr Tod am 6. Juni 1816 das ungleiche Bündnis löste.

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SIEBENTER ABSCHNITT.
Schluszbemerkungen.

(Die röm. Ziffer deutet den Abschnitt, die arab.
den Paragraphen an).

1. Da den lyrischen Gedichten Goethes für Charlotte von Stein
nur ein geringes Masz von
Sinnlichkeit eigen ist verglichen mit der
starken Sinnlichkeit, die in seinen lyrischen Gedichten für Christiane
Vulpius spätere von Goethe waltet, da die poetisch ausgesprochenen
Zweifel
sexualhygienischer Art, welche Goethes Gewissensehe mit
Christiane bisweilen trübten, in seinen Beziehungen zu Frau von
Stein vollkommen fehlen, müssen wir annehmen, dasz seine Liebe
zu Charlotte niemals mit völliger Hingabe der Geliebten belohnt
wurde. (III, 30, 32, 51; IV; V, 60, 71; Anfang VI).

2. Es bleibe sexualwissenschaftlich geschulten, philologischen
Kräften der Zukunft vorbehalten, festzustellen, ob sich etwa Char-
lotte von Steins Verhalten zu Goethe neueren Untersuchungen
über den Geschlechtstrieb gemäsz als geschlechtliche Anomalie
deuten läszt, wo von den verschiedenen Komponenten des normalen
Geschlechtstriebes sich blosz ein Kontrektationstrieb betätigt, der
sich in seelischem Interesse für den Geliebten kund gibt. Vgl. dr.
Albert Moll. Analyse des
Geschlechtstriebes, Medizinische Klinik
1905 nr. 12 und 13. — Real Encyklopädie der ges. Heilkunde.

4. Auflage. Bd. 5 S. 732 f. —

Handbuch der Sexualwissenschaften von dr. Albert Moll. 2 Aufl.
1921. Zweiter
Hauptabschnitt. Die Psychologie des normalen
Geschlechtstriebes
von Havelock Ellis. S. 173 f. —

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3. Goethes sinnlich gefärbte Liebe für Charlotte von Stein
mündet in die poetische Theorie der „Geheimnisse", laut welcher
übersinnliche und sinnliche Liebe zwar verschiedene, aber gleich-
wertige Strahlen desselben göttlichen Lichtes seien. In diesem
Zentrum ist seine stark-sinnliche Liebe der nächsten Jahre im voraus
als von göttlicher Herkunft qualifiziert. (III, 50 und 51).

4. Goethe kommt auch in seiner Gewissensehe zur Einsicht,
dasz die Liebe — hier die Liebe der schönen starken Sinnlichkeit —
sich einem höheren Gesetze als des Menschen Wunsch und Willen
unterordnet. (III, 21 Ende und V, 66).

5. Trotz drückenden häuslichen Verhältnissen trägt Goethe die
pflanzenhaft abhängige Christiane, es kommt zum Kompromisz
zwischen Gebundenheit und Freiheit, die Gewohnheit und das
Gefühl der Vaterschaft sind unüberwindlich, ja der einsame Weise
auf dem Gipfel seines Schauens sieht das Grosze verwachsen mit dem
Kleinen als die Organe eines Ganzen, sich fortbildend vom Ver-
wandten zum Verwandten: er erkennt das Wesen der Geliebten
voll und ganz an. (V, 59, 72, 78).

6. Goethes Liebe für Charlotte von Stein hat zum Allerhöchsten
gehört, was ihm gewährt wurde. (III, 54, 56). —

ENDE.

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STELLINGEN.

1.

Lodewijk van Deyssel omschreef aan het einde van de 19de
eeuw het „Sensitivisme" als een literatuursoort, die verwantschap
blijkt te vertoonen met het Duitsche expressionisme uit het begin
van de 20ste eeuw.

2.

Uitgezonderd de zinsnede, die op Jacques Perks „Klinkt helder
op, gebeeldhouwde
sonnetten!" slaat, moet, hetgeen Professor
dr. Jan te Winkel in zijn werk
„De ontwikkelingsgang der Neder-
landsche Letterkunde, Vierde deel, 2de stuk, bladz 1088" over
Goethes invloed op het
gebruik van sonnetten in Nederland zegt,

als onjuist beschouwd worden.

3.

In Goethes gedicht „An Charlotte v. Stein", J. A. Bd. 3 S. 84,
9—12:

„Ach, so viele tausend Menschen kennen,
„Dumpf sich treibend, kaum ihr eigen Herz,
„Schweben
zwecklos hin und her und rennen
„Hoffnungslos in unversehnem Schmerz;"
leze men:

_____rennen"

,\',\'HoffnungsIos in unversehnen Schmerz."

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„Krabskrälligkeit", Gräf „Goethes Briefwechsel mit seiner Frau
Bd. 1, 17—18—22—40" beteekent:
a. toestand, waarin de foetus
zich door bewegingen van handen en voeten kenbaar maakt.

b. de foetus. —

5.

Ten onrechte zegt E. v. d. Hellen, J. A. Bd. 1 S. 361:

„----in 95 (Venezianische Epigramme, J. A. Bd. 1 S. 225)

„scheint Christiane, die Mutter seines Sohnes, mit dem Dichter
„am Meere zu stehen. —"

6.

Het dient te worden ontkend, dat bij Goethe eerst na zijn
kennismaking met Spinoza\'s geschriften sporen van de leer der
relativiteit van „goed" en „kwaad" voorkomen.

7.

Eduard von Keyserlings werken: „Beate und Mareile", „Har-
monie", „Schwüle Tage," „Dumala," „Bunte Herzen," „Wellen,"
„Abendliche Häuser," „Fürstinnen," „Am Südhang" moeten tot
de bronnen gerekend worden, waaruit de zeden der Duitsche
„Junker" tusschen 1870 en 1914 kunnen gekend worden.

8.

Het moet ontkend worden, dat de versvorm, waarin Thomas
Mann zijn „Gesang vom Kindchen" (1919, S. Fischer, Verlag,
Berlin) publiceerde, adequaat is aan den teederen inhoud zijner
idylle.

9.

t

De spraakkunstige regels omtrent^ het gebruik van den „Kon-
junktiv" in het hedendaagsche Duitsch dienen door een rij van

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onderzoekingen aan de werken van verschillende Duitsche schrijvers
uit verschillende deelen van het Duitsche taalgebied op nieuw te
worden vastgelegd,

10.

Bij het onderwijs in een vreemde taal zij hare lectuur middelpunt,
terwijl daarbij, in het bijzonder aanvankelijk, de moedertaal van
den leerling (de - e) als hulpmiddel gebezigd worde. -

11.

De consequente doorvoering van het principe, dat de Minister
van Onderwijs, Kunsten en Wetenschappen in 1921 tot richtsnoer
nam, toen hij Lessings „Nathan der Weise\' Goethes „Faust en
Grillparzers „Sappho" van het program der R.jks Hoogere Burger-
school met vijfjarigen cursus te Amersfoort afvoerde, leidt tot
verarming van het onderwijs in het algemeen.

12,

In de Nederlandsche wet dient te worden bepaald, dat vóór toe-
lating tot het candidaats- resp. doctoraalexamen in eenige levende
vreemde taal de examinandus (a) het bewijs heeft over te leggen, dat
hij (zij) één resp. twee halve jaren die taal als studievak heeft
beoefend aan een universiteit, waar bedoelde taal als voertaal wordt
gebezigd bij het onderwijs en die gevestigd is m een streek, waar
die taal inheemsch is, —

13.

Het is als een leemte in de Nederlandsche wet te beschouwen,
dat het doctoraat „honoris causa" door de senaten der Neder-
landsche hoogescholen op voordracht der faculteiten met kan worden
toegekend op zoodanigen voet, dat de gepromoveerde „honoris
causa" geacht wordt de examens te hebben afgelegd, die aan de
promotie in gewone gevallen voorafgaan, met alle gevolgen daaruit
voortvloeiende.

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