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MR. R. F L Ä E S

Das Problem der

Territorialkonflikte

EINE UNTERSUCHUNG UBER IHRE
GRUNDLAGEN UND EIGEN-
SCHÄFTEN AM BEISPIELE
DER

TERRITORIALGESCHICHTE

POLENS

H. J. PARIS
AMSTERDAM

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DAS PROBLEM DER

TERRITORIALKONFLIKTE

EINE UNTERSUCHUNG UEBER IHRE GRUNDLAGEN
UND EIGENSCHAFTEN AM BEISPIELE DER
TERRITORIALGESCHICHTE POLENS

PROEFSCHRIFT

TER VERKRIJGING VAN DEN GRAAD VAN
DOCTOR IN DE RECHTSGELEERDHEID AAN DE
RIJKSUNIVERSITEIT TE UTRECHT
op GEZAG
VAN DEN RECTOR MAGNIFICUS, D
r H Th
OBBINK, HOOGLEERAAR IN DE FACULTEIT
DER GODGELEERDHEID. VOLGENS HET BE-
SLUIT VAN DEN SENAAT DER UNIVERSITEIT
TEGEN DE BEDENKINGEN VAN DE FACULTEIT
DER RECHTSGELEERDHEID TE VERDEDIGEN
OP DINSDAG 30 APRIL 1929, DES NAMID-
DAGS TE
4 UUR, DOOR

Mr. REIJNIER FLAES

GEBOREN TE DEN HELDER

bibliotheek der

rijksuniversiteit

u t r e c h t«-

H. J. PARIS
AMSTERDAM MCMXXIX

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PIAE PATRIS MEMORIAE

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INHALTSVERZEICHNIS.

Seite

EINLEITUNG................. ix—xv

BIBLIOGRAPHISCHE NOTIZ..........xvii—xix

23
50

ERSTER TEIL

DAS MATERIAL DER POLNISCHEN TERRITORIAL-
GESCHICHTE

Erstes Kapitel — Die Organisation der mittelalter-
lichen
Staatenwelt............

Zweites Kapitel — Die Einbeziehung Polens in den Kul-
turkreis der abendländischen
Welt. Die Primitive
Monarchie.............

Drittes Kapitel — Die Zersetzung des Staates durch
das
Teilungsprinzip............

Viertes Kapitel — Die endgültige Konsolidation des
polnischen
Staates.....

105

Fünftes Kapitel - Polen als Objekt der Politik des
Hauses Anjou.........

Sechstes Kapitel. Die Entwicklung der polnisch-
litauischen
Union bis Horodlo. Die ersten Ansätze
einer demokratischen
Entwicklung.........81

Siebentes Kapitel - Die Feuerprobe der Union. Der
Kampf gegen die Vorherrschaft der Magnaten

Achtes Kapitel — Der endgültige Sieg der Unionsidee.
Die versäumten Gelegenheiten einer parlamentari-
schen
Entwicklung.............. ^27

Neuntes Kapitel — Die Häuser Wasa und Wettin. Der
Niedergang und die schwerwiegenden Folgen der
Koinzidenzen

Zehntes Kapitel - Die Teilung Polens .... . . . 170

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viiinbsp;inhaltsverzeichnis

Seite

Elftes Kapitel — Das Problem der Nationalität ... 184
Zwölftes Kapitel — Die napoleonische Zeit. Das erste

Erwachen eines Nationalgefühls..........i93

Dreizehntes Kapitel — Der Wiener Kongresz .... 209
Vierzehntes Kapitel — Das Erwachen einer Nation

und ihr Kampf um die Existenz..............220

Fünfzehntes Kapitel — Die Entwicklung der polni-
schen
Frage im Weltkrieg und ihre Lösung.....241

Sechzehntes Kapitel — Die Probleme der Nachkriegs-
zeit.........................261

ZWEITER TEIL
DAS PROBLEM DER TERRITORIALKONFLIKTE

Siebzehntes Kapitel — Die Grundlagen der Territo-
rialkonflikte ....................288

Achtzehntes Kapitel — Die Versuche einer rechtlichen

Lösung des Problems................3^5

Neunzehntes Kapitel — Die Eigenschaften der Terri-
torialkonflikte und die
Frage der Lösung im Rechts-
wege ........................341

E r r a t u m.

Lese Seite 14 Anmerkung, vorletzte Zeile. ..elften Kapitelquot; anstatt
„zwölften Kapitelquot;.

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EINLEITUNG.

Der Weltkrieg hat ganz Europa in territorialer Hinsicht umge-
wühlt. Nach neuen Grundsätzen, nach einer neuen „Gerechtigkeitquot;
hat man die strittigen Grenzen der europäischen Staaten gezogen
und hat gemeint ein Werk zustande zu bringen, das dem Gerech-
tigkeitssinne der Zeit voll entsprach. Man hat gemeint wirkliches
greifbares positives Völkerrecht anwenden zu können, denn so
wollte man dieses „Selbstbestimmungsrecht der Völkerquot;, das sich
nach dem Grundsatze der „Nationalitätquot; durchzusetzen hatte,
verstehen.

Die Gegensätze in territorialen Fragen sind aber seitdem nicht
verschwunden, die Entscheidungen haben keineswegs alle Parteien
befriedigt, man anerkennt nicht einmal allgemein die den Ent-
scheidungen zu Grunde liegenden Prinzipien. Es hat im Gegenteil
den Anschein, alsob neue Gegensätze neben den alten entstanden
smd, denn auch die Zahl der Staaten hat sich gemehrt.

Da dringt sich dem Nachdenklichen beinahe unvermeidlich die
Frage auf: sind überhaupt diese Territorialkonflikte nach positiven
Rechtssätzen zu entscheiden? Kann man überhaupt dem einen
oder dem andern Staate ein strittiges Gebiet nach festen, anerkann-
ten Grundsätzen zusprechen, so wie einem Bauern einen Acker
oder emem Städter ein Haus? Können solche Gegensätze entschie-
den werden, so wie sie innerhalb eines Staates nach den Grund-
sätzen der herrschenden Rechtsordnung entschieden werden? Diese
i\'rage soll m der vorliegenden Arbeit erörtert werden.

Es ist da an erster Stelle zu klären, was Territorialkonflikte sind
und was unter ihnen hier verstanden werden soll. Territorialkon-
Hikte smd Streitigkeiten zwischen Staaten, oder mit ihnen in dieser
Beziehung gleichzustellenden Gemeinschaften (aufständische Par-
teien m einem Lande), über die Frage, wer von ihnen
auf ein gewis-
ses. sich im Besitze einer der Parteien befindliches Gebiet das beste
oder ausschließliche Anrecht
hat. Es handelt sich also grund-
sätzlich dabei um eine Besitzfrage. Sie kann sich aber auch unter
Umständen nur auf einen Teil des Gebietes beziehen: auf seine
Grenzen. Auch hier handelt es sich noch um eine, wenn auch viel

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weniger bedeutende Besitzfrage; es kann sich dabei immer noch
um wichtige Punkte handeln, wenn eine solche Grenzfeststellung
auch oft zu keinerlei Konflikten Veranlassung geben wird. Man
kann aber an zweiter Stelle unter Territorialkonflikten noch
Streitigkeiten über die Frage verstehen, welche Akzessorien zu
einem gewissen Gebiete gehören und welche Rechtsfolgen ein
Gebietsübergang hat. Hier handelt es sich nicht mehr um eine
prinzipielle Besitzfrage, sondern nur um sekundäre Probleme, um
Interpretation; die prinzipielle Frage ist schon entschieden. Diese
letzte Gruppe liegt also zum Teile in der Domäne der „Staaten-
sukzessionquot;, wird im Haupt vertrage gleich mit geregelt oder spä-
teren Vereinbarungen überlassen, liegt zum Teile aber auch auf
dem Gebiete der einfachen Vertragsinterpretation. In beiden
Fällen ist die Hauptfrage, die der Anrechte auf das strittige Gebiet,
schon entschieden: sie wird als feststehende Tatsache anerkannt
und dient zur Grundlage für diese sekundären Auseinandersetzun-
gen. Es handelt sich bei der zweiten Gruppe folglich nur um Ak-
zessorien; die Streitigkeiten sind anderer Natur als der prinzipielle
Streit um das Gebiet. Sie sollen aus diesem Grunde aus der vor-
liegenden Arbeit vollkommen ausgeschaltet bleiben. Nur die erste
Gruppe soll untersucht werden.

Die Parteien bei einem solchen Territorialkonflikt können recht
verschiedener Zusammensetzung sein. Zwei Staaten können ein-
ander gegenüberstehen, aber auch mehrere können zu gleicher Zeit
Anspruch auf ein selbes Gebiet erheben. Ein Staat und eine auf-
ständige Provinz können einander ein Gebiet strittig machen
(es ist hier aber eine scharfe Grenze zwischen Revolution und
Sezession zu ziehen), oft gibt es auch noch mittelbar und unmit-
telbar bei einem Konflikte interessierte Parteien.

Territorialkonflikte können sich im Grunde bei allen Gebiets-
veränderungen in der Staatenwelt (und es soll hier nur auf die
europäische eingegangen werden) einstellen. Sie setzen also die
Existenz mehr oder weniger festumrissener, an einander grenzender
Staaten voraus; aber auch bei einer Okkupation herrenlosen Ge-
bietes können unter Umständen solche Konflikte entstehen, wenn
nämlich andere Gebiete schon in dem Maße aufgeteilt und bevölkert
sind, daß verschiedene Gruppen beim Besitzergreifen der letzten
herrenlosen Gegenden an einander geraten können.

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Gebietsveränderungen in der Staatenwelt können in verschiede-
nen Formen stattfinden. Es können Unionenquot; zwischen Staaten
geschlossen werden; Teile können sich von einem Staate abtrennen-
Sezessionen können eintreten, die unter Umständen zum
völligen Auseinanderf allen des alten Staates führen
können; schließlich kann ein Staat Gebiet durch I n k o r p o r a-
t, o n (oder vom Standpunkte des geschmälerten Staates aus durch
Zession gewmnen. Auch diese Inkorporation kann wieder ver-

t «t^fnbsp;quot;quot; -- Staats oder a^ch

sTonquot; nTr, ^ . quot;nbsp;kann von einer „Zes-

sion nicht mehr die Rede sein)

Unionen von einem Kon-
to Wikquot; ij,
7 \'nbsp;P^\'rteien
ständen zntr ff T\'quot;\'\'\'quot;quot;^\' quot;ann unter Um-
der b frö «der

d e ^ den Partien d\'Tnbsp;Staaten - auch wenn

dennbsp;fquot;nbsp;quot;quot;quot;nbsp;-ischen

zwLh Xnbsp;■nteressierten Parteien erörtert sondern

«n Ihnen und einer Reihe indirekt interessiertet Starten

wendlkeü .^^quot;quot;quot;i^\'^\'U^ber das Wünsclienswerto oder die Not-

handdt m?nbsp;gar nicht mehr unter-

handelt, man versucht sie einfach mit Waffengewalt durchzusetzen.

sondern Z fn aC BoTTnbsp;beschäftigt, ang.wond«

Ion eine Union tko™ f Tnbsp;quot;quot;quot;quot;quot;bar Handelnden

Union, Inkorporalion oder Sezession Begehrenden haben.

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Das kann gelingen, es kann aber auch mißlingen. Andererseits kön-
nen aber auch die Parteien einander auf friedlichem Wege von dem
Wünschenswerten einer Sezession oder eines Zusammenbleibens
überzeugen. Man kann sich also darüber auch einigen; es ist nicht
gesagt, daß Waffengewalt in jedem Falle notwendig ist. Auch kön-
nen hier wieder indirekt interessierte Staaten eine RoUe spielen:
ihnen kann an einer Sezession, oder an einem Zusammenbleiben
gelegen sein. Durch eine Sezession kann entweder ein neuer Staat
entstehen und der alte fortbestehen bleiben, oder nur ein gewisses
Gebiet aus dem alten Staatsverbande in einen neuen übertreten,
oder auch der alte Staat ganz verschwinden und sich in eine Reihe
neuer auflösen.

Am meisten kommen die Inkorporationen oder Zessio-
nen vor, bei denen zwei oder mehr Staaten den Besitz eines und
desselben Gebietes begehren, das sich im Besitze eines derselben
befindet und während des ganzen Streites eine mehr oder weniger
passive Rolle spielt, nur ein Objekt ist. Solche Gebietsverände-
rungen können sich friedUch voUziehen, in der Regel werden
sie aber zu tiefgehenden Meinungsverschiedenheiten Veranlassung
geben. Sie sind die Territorialkonflikte im recht eigentlichen Sinne
und machen den Kern der vorliegenden Untersuchung aus. Solche
Inkorporationen können auch das ganze Gebiet eines Staates be-
treffen; es handelt sich dann nicht mehr um die Abtrennung eines
Teiles, sondern um die Existenz des schwächeren der beiden Staa-
ten. Auch bei den Inkorporationen können indirekt interessierte
Staaten eingreifen und die Situation komplizieren.

Das oben entwickelte Schema hat keinerlei prinzipiellen Wert.
In praxi sind scharfe Grenzen zwischen den geschilderten Formen
oft nicht zu ziehen; es kann sich auch hier nur darum handeln,
den Umfang der Territorialkonflikte irgendwie abzugrenzen und
ihre Variationen anzugeben.

Es soll nun in der vorliegenden Arbeit erörtert werden, ob solche
Gebietsstreitigkeiten auf dem Rechtswege ausgetragen werden
können. Um die Frage beantworten zu können, wird man allererst
über Grundlagen verfügen müssen, Beispiele haben müssen, aus
denen ersichtlich ist, aus welchen verschiedenen Faktoren die Ter-
ritorialkonflikte sich zusammensetzen, welche Umstände sie be-

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einflussen, kurzum, welchen Tatsachen bei einer Lösung, welcher
Art sie auch sein möge, Rechnung getragen werden muß. Solche
Beispiele könnte man rein theoretisch konstruieren und die Frage
auch weiterhin ganz theoretisch und abstrakt behandeln. Man
kann aber zu dieser Grundlage, zu diesem Ausgangspunkte auch
geschichtliche Beispiele, Konflikte, die tatsächlich existiert haben
warnen. Dieser Weg soll hier eingeschlagen werden.

Eine vollkommene alle Möglichkeiten erschöpfende Grundlage
7Z Untersuchung aller in der europäischen Staatenwclt
(denn die Untersuchung soll auf sie beschränkt bleiben, sie wurde
auch als Ausgangspunkt gewählt) vorgekommenen Territorialkon-
thkte hefern. Aber eine solche Untersuchung wäre ihres außeror-
denthchen Umfanges wegen wohl nicht durchzuführen, sie würde
auch vermuthch der Mühe nicht lohnen, da bei der großen Aehn-
hchkeit m der Entwicklung der zu dieser europäischen Staaten-

Tjrt r, gegenseitigen Beeinflussung sich
^lerorten recht ähnliche, oft sogar identische Ereignisse zeigen-

man wurde allzu viel wiederholen müssen. Es empfiehlt sich daher,
si^h zu beschranken und aus dem überreichen Stoffe nur einrccht
dlust atives Beispiel zu wählen. Ein solches bietet die polnische
Territorialgeschichte; es ist wohl kaum ein Staat zu finL, des-
sen Geschicke so abwechslungsreich gewesen sind und dessen Ge-
biet in dem Maße, nach bedeutender Ausdehnung, völliger Auf
teilung zum Opfer fiel und späterhin wieder zu ein m Z J^
chen neuen Staate zusammengefaßt wurde. Die polnkcL xcr^ko
na geschichte wird hier also nicht wegen ihrer heutige^- aus dem

gewÄnHnbsp;n- -fälligen - Aktuall äquot;

gewählt, sondern nur als eines der lehrreichsten Beispiele. Die vor-

d~ p\'tquot;\'^nbsp;..Aktualitätquot; fernbleiben lind

von\'aZnbsp;™nbsp;untersuchen, abgeschieden

Resultatenquot;; wer von dieser Arbeit die
.,Kechtfertigungquot; des Standpunktes irgendeiner der „Parteienquot;
erwartet, wird sich betrogen sehen. Es kann sich hier auch nicht
um eine polnische Geschichte, sondern nur um Polens „Tcrrito-
aigeschichtequot; handeln, also nur um jene Begebenheiten und Um-

^^ ? Territorialkonflikte mittelbar oder unmittelbar be-
eintiußt oder hervorgerufen haben.

In dem ersten Teile der vorliegenden Untersuchung wird demnach

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die polnische Territorialgeschichte geschildert werden. Es soll nur
dargestellt, erläutert werden: wie Konflikte entstanden, welche die
Gegensätze, die Anschauungen waren, die sie hervorriefen, und
wie man zur Lösung kam. Es soll also nur Material zusammen-
getragen werden, das die Einsicht in die Wesensart, die Grund-
lagen, die tjqiischen Eigenschaften dieser Gebietsstreitigkeiten ver-
tiefen kann, und der Autor will sich gewissenhaft von irgendwel-
cher persönlichen Beurteilung dieser Begebenheiten „von einem
höheren Standpunkte ausquot; (oder mit welchen andern Worten man
sonst solche subjektiven Urteile kamufHeren möge) enthalten.

Im zweiten Teile kann danach das Ergebnis dieser historischen
Untersuchung zusammengestellt werden und auf Grund der Tat-
sachen erörtert werden, ob sich diese Konflikte zu einer rechtlichen
Lösung eignen und, wenn dies nicht der Fall ist, welche Umstände
sich einer solchen rechtlichen Lösung widersetzen. Auch hier soll
wieder die persönliche Meinung so viel wie möglich zurückgedrängt
werden; auch hier wünscht der Autor nicht die — im Grunde
müßige — Frage zu stellen: s o 11 ein Territorialkonflikt im Rechts-
wege gelöst werden, sondern nur diese: k a n n ein solcher Gegen-
satz im Rechtswege gelöst werden; hat man ihn so lösen können,
und wird man ihn in Zukunft so lösen können? Der Autor will
demnach nur konstatieren, analysieren, erläutern, keineswegs aber
„Forderungenquot; stellen, oder persönliche „Vorschläge zur prakti-
schen Lösung des Problemsquot; bringen. Er will, insoweit dies nur
möglich ist, sich nur an das halten, was allgemein festgestellt
werden kann, zu „objektivierenquot; ist. und nicht irgendwie durch
persönliche Anschauungen bedingt wird.

Es soll demnach in diesem zweiten Teile an erster Stelle eine
Zusammenstellung der Faktoren, die Territorialkonflikte beein-
flussen, gegeben werden. Es wird sich herausstellen, daß diese
in solche, die nur Ereignisse, nicht dem Willen des Menschen
unterworfene Tatsachen sind, und solche, die menschliche
Anschauungen darstellen, geteilt werden können. Die erste
Gruppe wird in ihrer Unberechenbarkeit jede prinzipielle Lösung
erschweren, da sie nicht in ein System gezwungen werden kann;
die zweite aber, aus der sich das „Systemquot; der prinzipiellen Lösung
zusammen zu setzen hätte, kann wiederum in Anschauungen,
die sich auf die Prozedur und die Kompetenz zur Lösung bezie-

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hen, und Anschauungen, die Grundsätze, nach welchen entschie-
den werden soll, darstellen, geteilt werden. All diese Faktoren
zusammengenommen bilden die G r u n d 1 a g e n des Problems
Iis soU sodann noch einmal dargestellt werden, mit welchen
verschiedenen A n s c h a u u n g e n man im Laufe der Jahrhunder-
aas Jr\'roblem zu lösen versucht hat, ohne zu einem Ergebnis
zu komme:^ während schließhch erörtert werden soll, welche
rS\'^ \'\'nbsp;^^^ Territorialkonflikte deren

RpI .nbsp;festumrissenen, brauchbaren

..Kccntssystem . oder irgendwelcher anderen aUgemein anerkann-
ten Vereinbarung so außerordentlich erschweren.

Dem ersten Teile sei noch, zur Vermeidung unnötiger Anmer-
kungen, eine bibhographische Notiz vorausgeschickt.

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BIBLIOGRAPHISCHE NOTIZ.

Dje vorhegende Arbeit sieht in der polnischen Territorial-
gesAichte nur em Illustrationsmaterial zur Ergründung und Ver-

Ihre rSe squot; quot;\'Trquot; Territorialkonflikte^Es kanfalso nicht
Ma eÄnbsp;«nbsp;Untersuchungen neues

stmren da e^h ®nbsp;auf die bestehende Literatur

telT\'l^\'^\' rnbsp;B ^ quot; er t u n g bestehenden Ma-

S seherTtnbsp;historischer, vielmehr eher

fa nTbrTß not .nbsp;ebensowenig ihre Aufgabe sein,

bar del Inmnbsp;Interesse haben die mittel-
Xßt habe? Pnbsp;Konflikte be-
wähnt dfdT.nbsp;Nachdruck er-
Tn O^elLt rT**\'\'.nbsp;quot;^-P\'^ächlich im Mittelalter durch
Wn oft Ir ®nbsp;\'^-\'h-hte schlecht-

Da dl bis rrrlnbsp;kam.

scLhtet f\'nbsp;Gesamtdarstellung polnischer Ge-

nU ^ V „nbsp;g-^^chrieben wurde und ihre Re-

Art dur,A neuere Untersuchungen ergänzt oder abgeändert werden
w rden (es sc, dies nur im Hinblick auf das in der vt elentn

a^er nicht allzu schwer angerechnet werden, daß er bei Unkennt-

-hfhin^:::;:^ k^^r --- ---

kunglTud P^nbsp;ablenkenden Anmer-

diese in e 7 ^-^h™«« ^^ vermeiden, sei es ihm erlaubt,

Rische An. ü^ quot;^quot;sammenzufassen, zumal ja die chronolo-
im zu
gZhnbsp;quot;quot;quot;quot;nbsp;Nachschlagen

Darle^n? \'quot;^Senden Quellenwerk um vieles erleichtert. Alle
inS^ f™-quot;rnbsp;allgemeinen DarsteUungen,

rspeziSch r \' * ™ \'quot;^hterkenntlichen und sich au
Bewmuten Hnbsp;vorliegenden Arbeit beziehenden

oas Gegenteil hmgewiesen wird, auf die hier angeführten

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Quellenwerke, deren kurze Zusammenstellung folgen möge.

Den Zeitraum von ungefähr 950 bis 1506 behandelt das her-
vorragende, leider nicht beendete Gesamtwerk „Geschichte Polensquot;
von H. RoepeU (Teil I. Fr. Perthes, 1840) und J. Caro (Teil II—V
Gotha, 1869) in der Sammlung „Geschichte der europäischen
Staatenquot; von A. H. L. Heeren und F. A. Ukert, während Dr.
E. Zivier in seiner „Neueren Geschichte Polensquot; (Gotha, 1915)
die Weiterführung des Werkes unternommen hat, bis jetzt aber
nur den Zeitraum 1506—1572 bearbeitete. Für die Zeit vom
Ende des siebenjährigen Krieges (1763) his zum Wiener Kongress
(1815), wie für die Epoche des Weltkrieges, liegt eine Reihe
(aus dem Gesichtspunkte der Territorialgeschichte) wichtiger Mono-
graphien vor, deren besser an Ort und Stelle Erwähnung geschieht.
Es bleiben also hauptsächlich zwei Lücken (1572—1763 und
1815—1915), für welche an erster Stelle die neueste und aus-
führlichste kleinere Darstellung der polnischen Geschichte, die
„Geschichte Polensquot; von Dr. E. Hanisch (Bonn und Leipzig.
1923) in Anmerkung kommt.

Die Zeit von 1506—1763 aber ist eine der wichtigsten Perioden
für die Territorialgeschichte Polens, auch die am meisten umstrit-
tene, deren Interpretation, aus begreiflichen Gründen und unter
begreiflichen Einflüssen, selten von einem völlig ungetrübten
Standpunkte aus unternommen wurde i; andererseits wird hier
aber auch bei völlig ..ungetrübterquot; Interpretation, bei dem ge-
schichtsphilosophischen Charakter vieler Probleme, der persön-
lichen Anschauung und Uberzeugung ein so großer Spielraum
gelassen, daß endgültige Urteile wohl kaum gefällt werden können.
In 1919 erschienen nun in Wien in Buchform eine Reihe von
Aufsätzen unter dem Titel „Glanz und Verderb der polnischen
Republikquot; (2 Bde) von Max Goldscheider. deren, aus nicht
recht ersichtlichen Gründen, in der späteren durchschlägigen
Literatur nie, in welcher Weise auch, Erwähnung geschieht. Es
befremdet dies desto mehr, da die Aufsätze die Diskussion auf
eine Höhe allgemein europäischer Geschichte und vergleichender
Geschichtsbetrachtung heben, die den späteren deutschen Werken
durchgehends fremd ist. Selbs
t wenn man von Goldscheiders An-

^ Dieser Vorwurf soll aber den eben zitierten Werken von Dr. Zivier und
Dr. Hanisch keineswegs gemacht werden.

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sichten fünfzig Prozent streichen müßte, so bUeben dennoch voUe
fünfzig andere übrig, deren anregungsvoUe, breite und gründliche
Ausführung ein viel reicheres und im Rahmen der großen Zusam-
menhänge viel verständlicheres Bild bietet, als die oft allzu kargen,
apodiktischen und simplistischen Darstellungen deutscher Autoren]
die im Untergange des polnischen Reiches nichts anderes als ein
gerechtes und unabwendbares Gottesurteil sehen .... in majorem
Friderici gloriam. Es ist dies um so bedauerlicher, da gerade solch
einseitige Darstellung sehr komplizierter und schwer verständ-
licher Vorgänge durch eine nicht zu rechtfertigende Herabsetzung
polnischer Geschichte jedes Verhältnis bis auf den heutigen Tag
vergiftet und VorurteUe beständigt. deren Herrschen keineswegs
unbedenkHche oder ungefähriiche Folgen haben kann. Es genügt,
sich einmal ohne Vorurteil in die praktischen Konsequenzen man-
^er Aufsatze des Sammelheftes „Das neue Polenquot; (Süddeutsche
Monatshefte, Oktober 1926) hineinzudenken, um dies einzusehen.
Jedenfalls ermöglichen die Aufsätze Goldscheiders die Be-
urteilung der Teilungsgeschichte von einem höheren und allge-
meineren Standpunkte aus; es sei deshalb hier noch einmal mit
Nachdruck auf sie hingewiesen.

Für die Probleme der Nachkriegszeit ist der Verfasser schließ-
hch auf rein publizistische Literatur, hauptsächlich auf Zeitungs-
notizen angewiesen. Es kann hier also keineswegs von historischer
Behandlung des Stoffes die Rede sein, der zeitliche Abstand zwis-
schen Zuschauer und Weltbühne ist dazu ja noch viel zu gering.
Dennoch kann das Pressematerial aber für die voriiegende Arbeit
ganz verwertet werden: es handelt sich hier ja nicht so sehr um die
einwandfreie Feststellung von bestehenden Tatsachen und Ver-
üaltn^sen, als vielmehr um die Feststellung von Gedankengängen
nü Werturteüen. die sich bei weitem leichter als die Tatsachen,
^nbsp;stützen, ermitteln lassen, da in der Regel ja nie-

mand Ihre Existenz bestreitet, sie im Gegenteüe propagiert.

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ERSTER TEIL.

DAS MATERIAL DER
POLNISCHEN TERRITORIALGESCHICHTE.

ERSTES KAPITEL.

DIE ORGANISATION DER MITTELALTERLICHEN
STAATENWELT.

Der durchweg angenommene Ausgangspunkt der polnischen
Geschichte ist im Grunde ein willkürlicher. Es hat auch vor der
Mitte des zehnten Jahrhunderts polnische Geschichte gegeben.
Die Tatsache, daß uns für diese frühere Geschichte alle QueUen
tehlen und uns dadurch die Wahl des Ausgangspunktes erleichert
wrd. verändert aber doch nicht den Umstand, daß wir mitten
in die Entwicklung einer schon bestehenden Staatsordnung hin-
eingreifen, deren Grundlagen wir vermuten, nie aber mit Sicher-
neit bestimmen können.

Die ersten historischen Notizen über Polen verdanken wir dem
umstände, daß es um 965 durch politische Zusammenstöße und
üurch den massalen Übertritt seiner Bewohner zum Christentum
in die Interessengemeinschaft der abendländischen Welt bezogen
wird. Aber auch alle Zusammenstöße, alle Territorialkonflikte be-
ziehen sich zunächst auf seine westlichen Nachbarn und werden
aurch deren Auffassungen von Staat und christlicher Gemein-
scnatt stark beeinflußt, im Großen und Ganzen sogar bestimmt,
i-s ist demnach unerläßlich eine kurze Charakteristik dieser abend-
ländischen Gemeinschaft, ihrer Strömungen, Tendenzen und
Auffassungen vorauszuschicken.

wlnbsp;Gebietskonzentration im Mittelalter war das

d^r Nnbsp;der Karolinger. Unter dem Druck der bis in

des heutigen Frankreichs vordringenden Ommajaden-
eimaiie und von dem Glanz und der Macht des verschwundenen
Komerreiches, vom Traume einer großen und einzigen Christen-
gememschaft, eines neuen Weltreiches erfüllt, reorganisierte Karl
larteli, unter Verwendung spätrömischer Muster, das fränkische

Staats- und Wirtschaftskunde. Leipzig
^taatskunde. Erster Band. Wesen und Entwicklung des Staates. Seite 99
ff

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Reich zur geschlossenen Abwehr des Christenfeindes, nachdem
die merowingische Dynastie beiseite geschoben worden war, und
warf die Mauren nach dem Siege bei Poitiers (732) über die Pyre-
näen, schließlich bis über den Ebro zurück.

Das Ergebnis dieser, aus der Not der Zeit erwachsenen Regene-
ration im Frankenreiche war aber weit folgenreicher. Die Samm-
lung aUer christlichen Kräfte begnügte sich keineswegs mit der
Abwehr unmittelbar drohender Gefahren; unter der Führung
einer Reihe hervorragender Herrscher hatte sie bald die Expansion
der christlichen Lehre, den Ausbau und die Erweiterung des frän-
kischen Reiches nach Osten und Süden zur Folge. Die Slawen am
Osthang von Harz und Thüringerwald werden unterworfen, das
Land der Sachsen bis zur Elbmündung und im Süden das bay-
rische Herzogtum dem Reiche eingegliedert, die Awaren aus den
österreichischen Landen verdrängt. Auf die Bitte des Papstes
leistet Pippin diesem seinen Schutz gegen die Langobarden, be-
reitet deren Unterwerfung und die Annexion ihres Reiches yor
und sichert des Papstes politische Unabhängigkeit in den Gebieten
von Rom und Ravenna, dem „Patrimonium Petriquot; (756). Um 800
ist das neue „Heilige Römische Reich Deutscher Nationquot; im
Großen und Ganzen vollendet; alle Gebiete des weströmischen
Bekenntnisses sind, bis auf die britischen Inseln, unter einem
Zepter vereinigt; bis auf die britischen Inseln, Spanien südlich
des Ebro und das byzantinische Unteritalien und Sizilien ist
auch das alte weströmische Reich wieder hergestellt, im Norden
um wesentliche deutsche Gebiete bereichert.

Auf diesem Tatbestande fußt der Kaisergedanke; insofern die
politischen Grenzen des Frankenreiches nahezu mit denen der
katholischen Christenheit zusammenfielen, war der Kaiser auch
der Herr der Christenheit. Erst als politische Macht und kirchliche
Organisation nicht mehr räumlich identisch waren, entstanden
Konflikte und wurde die Kaisermacht eine einseitig verfochtene
These, schließlich eine Fiktion. Dieser Zeitpunkt aber lag noch
fern. Im Norden und Nordosten waren Heiden, im Süden Un-
gläubige, im Südosten Byzantiner, während im Westen ein in sich
geschlossenes, kaum in den Festlandskreis bezogenes Inselreich
lag. Die Grenzen waren zu übersehen und die Macht war da. Dei
Kaiserkrönung sollte sie beständigen, sie vor Verbröckeln be-

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erstes kapitel

stutzen Ihr em Uebergewicht über die individualistischen zur
Autonomie neigenden Tendenzen der ReichsteUe versehäffcn-
sie some die Reichseinheit vor Zerfall und ZerHüfturg wahr»\'
deren Schreckbild das anerkannte Prinzip der Erbt^Uung des
s^mtrchlSlic:!?\' iquot; Agnatensukzessionr heranfbeschTor® S

Reichir ® ®nbsp;Festigung des

litisch ^tlfnbsp;Christentum aber war kosmopo-

rgenSinemtnbsp;quot; unmittelbarem Zusammenhange

kann e es behTelf Hnbsp;\'s aner-

fischen Ki^rfnbsp;Glaubenssachen der Rö-

Äaf tnbsp;•\'quot;quot;\'se Organisation, neben

mus\' der nnbsp;Dualis-

st^rVinL quot;fnbsp;trat, als die Kirdie

ntbeife^jr ™ T ™nbsp;quot;quot;^\'\'U^hen Macht

n Denren zu können. Solange beide noch auf die gegenseitige

ten ums tnd die\'fdes Cliris-

ohne Xß ,nbsp;» Hand,

Ziek lefztl V\'fquot;quot;--Iches der beiden

Wesen st lnbsp;durchschlaggebend ge-

sicTer istnbsp;geistigen MTcIitstellung

ihre Ansnr l , T S^Senüber, kritisiert ihn und macht
Ansprüche auf Suprematie geltend.

matrdnr!!;!\'\'\'\'quot;quot;!quot;quot;nbsp;päpstliclie Supre-

war L Z quot;\'nbsp;Macht und OrganisaHon

Tnbsp;«ber die ewigen

weltlichen Organisation; diese war nur das Pro-

Abl^quot;^?^ Handbuch der Staats und Wirlsdiaftslehrd^^T^ir
Abt. 2. Geschichtc der Staatstheori«n Seite 32 «.nbsp;quot;

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dukt der Erbsünde und konnte sich von diesem Makel nur reini-
gen, indem sie sich in den Dienst der göttlichen Allmacht stellte.
Solange diese These einen kräftigen Resonanzboden in den An-
schauungen der ganzen christlichen Welt fand, blieb sie eine uner-
schütterliche Macht, gegen welche die Kaiser vergebens anstürm-
ten, zumal da sie noch eine Stütze fand in den Neidern der Kaiser-
macht, in Kurfürsten und Gegenkaisern.

Um diese beiden Pole, die päpstliche Autorität in Geistessachen
und die kaiserliche Autorität in weltlichen Dingen, drehte sich
das Denken der mittelalterlichen Christenheit, solange sie sich
selbst noch als eine Einheit betrachtete. Und je nachdem die De-
duktionen und Traktate in der kaiserlichen Kanzlei entstanden
oder von der Kurie herrührten, verfochten sie die Suprematie der
einen oder der anderen.

Die Territorialkonflikte unterlagen hauptsächlich dem Ein-
flüsse jener kaiserlichen Autorität, die theoretisch für sich die
Kompetenz zur Entscheidung all solcher Streitfälle in Anspruch
nahm. Theoretisch, denn praktisch reichte ihr Einfluß nicht weiter
als die Macht ihrer oft schwachen Wassen.

Neben diesen beiden Auffassungen manifestierte sich aber noch
ein drittes Prinzip. Das Römerreich hatte nur den Gedanken der
Subordination gekannt. Es gab ein Herrschervolk und unter ihm
nur unterworfene andere, oder neben ihm aus der politischen Ge-
meinschaft ausgeschlossene, die dieser nur in untergeordnetem
Verhältnis eingegliedert werden konnten. Die germanische und
slawische Welt brachte das neue Prinzip der Koordination, all
jene Tendenzen und Anschauungen, die in langsamer Entwick-
lung zu Schlagwörtern unsrer Zeit ausgewachsen sind, zu: „Natio-
nalitätsprinzipquot; und „Selbstbestimmungsrechtquot; und „Autonomiequot;.

Sie treten zuerst in der Stammesorganisation zutage, in der
Beteiligung des Individuums am öffentlichen Leben, in Gerichts-
barkeit und Verwaltung, in der miütärischen Organisation. Zum
Gedanken der Gleichheit und Freiheit gesellt sich jener der Solida-
rität, schließlich jener der Autonomie. So entstanden erst kleine
Interessengemeinschaften, die dann je länger je mehr bestrebt
waren sich zu vergrößern, sich andere einzugliedern, oder mit an-
dern sich zusammenzuschließen, insofern sie sich ihnen durch

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erstes kapitel

gleiche Interessen und durch gleichen Ursprung verbunden fühlten-
i.0 entwickelte sich langsam der heutige Begriff der Nationquot;
emes Teils beeinflußt durch geographische Verhältnisse, die dié
Zergliederung, aber auch wiederum den Zusammenschluß be-

Einfluß einer langen kul-
I b iy\'T®™\'\'quot;^ quot;nbsp;Teilen Europa!, denen

td aaZw ,rLandesgrenzen organisierte Ger^anen-
Lke M Jtf PS™^Der erwachende nationale Ge-
So
än/l f \'nbsp;quot;quot; Beanspruchung von Autono-

L^de imnbsp;»«quot;te aber, daß er doch im eignen

^de voUkommen sein eigner Herr sei. In 1648 war diese

S Sr^fnbsp;gediehen, d^ das System

trdSlonnf quot;-ter. souveräner Staaten anerLnnt
S ch Z •nbsp;®ber entwickelte sich die „Nationalitätquot;

Süten Tnbsp;Jahrhundert unter demokratischen

raSam wre,™ ^^ quot;quot; heute im östlichen Europa

Au^órita^IÏ angeführten drei Gedankengänge der kaiserlichen
in der frflKnbsp;Autorität und der Koordination spielen

frühen Terntorialgeschichte Polens eine wichtige Rolle

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zweites kapitel.

DIE EINBEZIEHUNG POLENS IN DEN KULTURKREIS
DER ABENDLÄNDISCHEN WELT. DIE PRIMITIVE
MONARCHIE.

Gegen die Mitte des zehnten Jahrhunderts waren die Grenzen
des Heiligen Römischen Reiches schon bis an die Oder vorgescho-
ben. Expansionslust, Überschuß an Menschenkräften, Glaubens-
eifer und Selbstverteidigung gegen wilde und unruhige Barbaren-

Stämme waren die wechselnden Motive dieses steten Vordringens.
Jenseits der Oder aber stieß man auf eine Stämmeorganisation
größeren Stiles; man hatte die Grenzen des polnischen Reiches
erreicht und dieses trat dadurch zuerst in den Bannkreis west-
licher Geschichte. ^ Oekonomisch wie politisch nach Sippen or-
ganisiert, d.h. mit Blutsverwandtschaft nach dem Kriterium der
Schwertmagenschaft begründet, regiert vom
Sippenvorsteher,

^ siehe Kutrzeba Grundriß der polnischen Verfassungsgeschichte. Berlin
1912 Seite 3 ff.

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dem Starosten, und der Sippenversammlung, die sich aus deren
erwachsenen, männlichen Mitgliedern zusammensetzte, ohne daß
sich das Verhältnis der Starostengewalt zur Kompetenz der Sip-
penversammlung näher bestimmen ließe, traten die Bevölkerungs
gruppen jener Gebiete jenseits der Oder in Zeiten der Gefahr oder
zu Knegszugen in Stämmen zusammen, deren Existenz wiederum
auf gleichem Ursprung und entfernter Blutsverwandtschaft einer
Reihe von Sippen beruhte, und wählten sich zu Kriegs-oder Ver-
teidigungszwecken einen gemeinsamen Anführer. Dessen Macht
bc tand ursprünglich nur ad hoc und wurde hinfällig mit der Er-
füllung des Zweckes. Solche Anführer, Fürsten oder Herzöge aber
waren bemuht, ihre Herrschaft auch weiterhin auf Lebenszeit zu
behaupten, wenn möglich sie in ihrer Familie erblich zu machen,

T tlF^T\' größerem Maße der Dynastie der Piasten
um die Mitte des zehnten Jahrhunderts gelang. Es mag das Er-
ringen dieser dauerhaften Herrschaft nun auf Usurpation oder

w\'rnbsp;Delegation seitens der Stammesgenossen

beruhen; feststeht, daß sich die ursprünglich auf den Stamm der
^olanen beschränkte Herrschaft der Piasten über das ganze sla-
wiscnc Gebiet zwischen Oder, Ostsee, Weichsel und Piliza aus-
aennte, also landschaftlich die Gebiete Pommerns, Großpolens
^ujawiens und des östlichen Schlesiens umfaßte. Die Organisation

M^cht hu\'nbsp;keineswegs gefestigt; die

sein.n T -nbsp;grundsätzlich unbeschränkt, hing ganz von

PersTnHnbsp;^er Einfluß der

her™!;:*

einlVKr-nbsp;Mieczislaw aus dem Hause der Piasten in

scher Mnbsp;westlichen Nachbarn verwickelt. Ein deut-

scher Ma^hf ^ fürchtet den allzu großen Zuwachs slawi-
herzoff an ^\'\'\'\' ^^^grenze des Ottonenreiches, greift den Polen-
und Hp.nbsp;macht ihn dem Kaiser der Tributzahlung

^^^nbsp;Warthe und Oder

I^nkornoratinnnbsp;^^^nbsp;es handelt sich weder um

nKoi^poration noch um Bundesgenossenschaft, sondern lediglich

m üie l^eststellung, irgendwie, der Subordination. Die Auseinan-

uersetzung geschah kurz und bündig, ohne viel Worte durch Waffen

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gewalt; der Polenherzog hatte die Bedingungen einfach anzuneh-
men. Dennoch war der Gedankengang des Markgrafen schon ein
komplizierter, im Grunde von mehr oder weniger allgemeiner Natur:
er fühlt sich in Zukunft durch den Machtzuwachs seines Nach-
barn bedroht und will dieser Gefahr vorbeugen, die Zerstörung
eines nach seinen Anschauungen bestehenden Gleichgewichts ver-
hindern (es tritt hier schon die Grundlage des seit 1648 allgemein
anerkannten Gleichgewichtsgedankens zutage) und tut dies auf
primitive Weise durch einen Anfallskrieg zu Verteidigungszwecken.
Es kam ja auch nicht so sehr auf ausführlichere Formen an, da
der Polenherzog als Heide aus der christlichen Gemeinschaft aus-
geschlossen, im Grunde also rechtlos war, wenn man auch prak-
tisch seiner Macht Rechnung tragen mußte. In dieses Verhältnis
aber brachte ein Umstand von großer Wichtigkeit eine tiefgrei-
fende Veränderung. Mieczislaw war mit der Tochter des christ-
lichen Böhmerherzogs verheiratet und unter ihrem Einflüsse ver-
breitete sich das Christentum unter den Polen, zu dem ihr Herzog
in 966 übertrat. Es ist dies eine Tatsache größter Wichtigkeit, denn
so wurde Polen in den katholischen Kulturkreis gezogen, dessen
Grenzmacht nach Osten, der byzantinischen Welt gegenüber, es
auf die Dauer wurde. Es ist anzunehmen, daß Mieczislaw sich dem
neuen Glauben, durch böhmische Missionare verbreitet, aus eigner
Bewegung und aus politischen Rücksichten zugewendet hat, be-
fürchtend sonst von seinen westlichen Nachbarn mit Waffen-
gewalt dazu gezwungen zu werden. Und eine solche Intervention
im Interesse des christlichen Glaubens hätte unter Umständen
mit einer völligen Unterwerfung und Inkorporation enden können.
Jedenfalls aber bekam die slawische Welt andererseits durch die
Katholisierung Polens einen tiefen, unüberbrückbaren Riß.

Die Position des Suzeräns war ziemlich heikler Art. Im Anfang
gab es gleich unaufhörlich kleine Konflikte zwischen dem Polen-
herzog und dem Markgrafen, die vermutlich ihren Ursprung in
der unfesten Art der Grenzen, sowie aller übrigen Verhältnisse
der beiden Nachbarn hatten. Vielleicht hat auch das Bewußt-
sein der Überlegenheit die Deutschen zu aggressiver Haltung ver-
leitet; jedenfalls revoltierte Mieczislaw mit bestem Erfolg, sobald
der Kaiser in 972 mit einem Italienzug beschäftigt war. In 973
wurden beide Gegner auf den Reichstag zu Quedlinburg zitiert.

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O der Kaiser ihre Streitigkeiten schlichtete. Mieczislaw gab nach

urtpirquot;quot; T®^nbsp;merkwürdig genug. Der Kaiser

ir Jn^ hen einem Markgrafen seines Reiches und einem auf
^genawelche vage Weise seiner Autorität unterworfenen Fürsten.

ters w-h ^^nbsp;sozusagen überstaatlichen Rich-

eimennbsp;^^nbsp;quot;quot;quot; FeststeUung der Grenzen seines

Sachenbsp;handelt, während er also zugleich Richter in eigner

seines fr-\'l. Patriarchalische Weise ist er bestrebt, die Sache
schaftslonbsp;Feindes als unparteiischer Richter, als leiden-

Zuschaup fuschauer zu beurteilen, aber er ist ein interessierter
Christenhnbsp;Beschirmer des Friedens in seiner

es hanH H ? ^^^nbsp;logisches System zu finden,

höchste A T • quot;nbsp;die These, daß der Kaiser die

Mittel dnbsp;Christenheit sei, zu verwirklichen; und jedes

gab in ^^ ^^^^^ Zwecke dienen kann, wird ausgenützt. Mieczislaw
der ^^rh/fnbsp;d^s Kaisers, während

lästige Vnbsp;973-983, versuchte er wiederholt das

In 077 ^quot;ve^bältnis abzuschütteln - übrigens vergebens.

Prinzess-quot;nbsp;^^^nbsp;^^^^^^^ einer deutschen

Umnbsp;erfüllt er regelmäßig seine Vasallenpflichten,

zwiche P verändert er wieder seine Politik. Der Gegensatz
die
G r ^^^^ Kaiser ist ihm deutlich geworden; er benützt
die En??^\'^nbsp;^^^ ^^P^^^s. Er macht durch

hgen Stuhl r*^ ^^^ Peterspfennigs sein Reich freiwillig dem Hei-
die Oberh l •nbsp;^^^quot;rch ausdrücken, daß er nicht

telbare AK^-\'^ ^^^ ^^isers anerkennt, sondern sich in die unmit-
ausdrücklnbsp;Heiligen Stuhle, also auch in dessen

Motive ein pnbsp;^^ sein, daß auch noch andere

Hauptmoti^ 1nbsp;dieses aber war doch wohl das

\'bezogen und hnbsp;die politischen Verhältnisse

Mieczislaw ^quot;.^^^en seitdem eine oft wichtige Rolle gespielt,
bedeutende ^^^^^ ^^nbsp;sein Sohn aus erster Ehe,

%Pe aus zw ^^^nbsp;^^ vertrieb die

Reiches unte ^^^ Vaters, vermied so die Teilung des
^^achlassensch fnbsp;wahrte die Einheit der väterlichen

Anfang verän^^\'nbsp;alleinigem Herrn er sich aufwarf. Im

im Verhältnis zu Kaiser und Papst,
anisch. Geschidhte
Polens Seite 12.nbsp;--

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obgleich der Herzog im Innern den Traum der Gründung eines
großen Slawenreiches hegte.

In 992 und 995 begleitet er den Kaiser auf dessen Zügen gegen
Wenden, Elbslawen und Böhmen. Dieser letzte Zug brachte ihm
den Gewinn einiger Gebiete in Schlesien, als Schenkung des Kai-
sers. Es zeigt dies treffend den patriarchalischen Zug in den .da-
maligen Verhältnissen. Was der Kaiser dem Einen zur Bestra-
fung nimmt, gibt er dem Andern als Belohnung. Er verfügt über
Gebiete, unbeschränkt, wie auch der Polenherzog im eignen Lande.
Es widersetzt sich dem auch nichts. Land gibt es genug, es ist
noch nicht in ökonomischen Einheiten zusammengefaßt, und,
insofern es sich nicht um einen Rassengegensatz wie den zwischen
Germanen und Slawen handelt, gibt es noch keinerlei tiefgehende
Zerspaltungen unter den Bevölkerungsgruppen; von irgend-
welchen tiefen Kulturunterschieden ist noch nicht die Rede.

Der obenerwähnte Kaiserzug gegen die Wenden lag dagegen
in Boleslaw\'s eignem Interesse. Ein günstiger Verlauf konnte
seine Stellung in Pommern verstärken, erlaubte ihm sogar bis in
das Mündungsgebiet der Weichsel vorzudringen, bis an den Macht-
bereich der Preußen. Boleslaw übernahm hier die westlichen Me-
thoden, er versuchte — zwar erfolglos — die Preußen zum Chris-
tentum zu bekehren und so ihre Einverleibung vorzubereiten,
indem er sie in die katholische Interessengemeinschaft einbezog.

In 999 traten Ereignisse ein, die Boleslaw\'s heimliche Pläne
außermaßen begünstigten: während der Nachfolgewirren in Böhmen
eroberte er das Gebiet von Krakau, Teile Schlesiens, die transkar-
pathische Slovakei und Mähren. Sein Reich streckte sich jetzt
von der Ostsee bis an die Donau aus; es ging seiner völligen Unab-
hängigkeit entgegen.

In derselben Zeit, unter der Regierung Otto\'s III., änderte
sich auch die Kaiserpolitik. Bis jetzt hatten die Kaiser die allge-
meine und unmittelbare Autorität über die ganze katholische
Gemeinschaft angestrebt, in der Theorie, denn die Praxis hatte
anderes gelernt. Aber diese Politik brachte Kriegszüge mit sich,
unsichere, und ebenso unsichere Vasallenverhältnisse. Da drückten
die Enttäuschungen und der Gedanke der Koordination, der
Gleichheit durchbrach den Elfenbeinturm des alten Traumes.
In dem neuen großen, allgemeinen Christenreiche, von dem Otto III.

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träumte, gab es keine VasaUen mehr, man sah dort nur Bundes
genos^n, und von einem Zwingherrn war nicht mehr die Rede
Der Kaiser war das moralische Oberhaupt der solidarischen
Christenheit m politischen Dingen, so wie es der Papst war in
brlaubenssachen.

Boleslaw entwickelte unbeirrt seine Pläne; auch die neue Kaiser-
pontikvmßte erseinen Zielen dienstbar zumachen. Im Einverneh-
en mit Papst und Kaiser gründete er das Erzbistum Gnesen

Jilnbsp;Unabhängigkeit vom Kaiser-
innbsp;kirchlichen Organisation, es war dies wieder
^ ^tt TT^^fnbsp;päpstlichen Partei und, andrerseits, der end-
SnrS.^nbsp;Otto III. besiegelte den
nnH nnbsp;mystischen Jahre looo, so voller Ekstase

demnbsp;kommenden Weltuntergangs, von

dem alle Gemuter erfüllt waren.

de^^^nTjquot;quot;^nbsp;günstige Gelegenheit; während

Me^-RnTnbsp;die Oberlausitz und das

memner Gebiet, vermutlich sich auf Erbansprüche auf die Gebiete

w. Z Trnbsp;Markgrafen, mit dem ihn vieUeicht Ver-

wanatschaftsbande einten, stützend. Der Gedanke der Staats-
inüeit tritt in dieser Auffassung zurück, maßgeblich ist an erster
teile das persönliche Verhältnis; das Land ist ausschließliches
gentum der Fürsten und privatrechtliche Gedankengänge be-
nochnbsp;Verhältnisse, ein getrenntes Staatsrecht gibt es ja

srJnbsp;persönlichen Beziehungen zum Meißner Mark-

Wrf\'nbsp;privatrechtlich sind, haben für Boleslaw mehr

fürstlr^nbsp;Verhältnis des Kaisers zu seinen Reichs-

pation bnbsp;bedenklich durch kleinere, schließlich auf Usur-

sich sei^\'^TT ^quot;^eressenkreise verdrängt wird. Er nimmt
dem nach , ^ ^^^ der Kaiser sanktioniert diesen Akt auf
der Ober] • ^^^^^stage zu Merseburg durch die Belehnung mit
behält Bnbsp;Milzenerlande. Das Meißner Gebiet

auf diese°wnbsp;geben nach. Es treten aber doch

Verhältnquot; ^^^^ gewisse Teile des Reiches in ein unmittelbares
bares Vnbsp;Polenherzog, während ihr ursprünghch unmittel-

nisse w^ H ^nbsp;^^nbsp;M:achtverhält-

findetdLsrB 1 r quot;quot;^^^rhch eine Rolle gespielt haben, aber man
-tselehnung mit in verschiedenen Staatskreisen gelegenen

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Gebieten noch durch Jahrhunderte, sie ist eben eine Folge davon,
daß man an erster Stelle von subjektivem, privatrechtlichem
Standpunkte aus dachte und nicht vom mehr objektiven Staats-
gedanken aus.

Noch einmal war das Geschick dem Boleslaw günstig. Während
innerer Wirren in Böhmen ging eine der Parteien Boleslaw um
Hilfe an. Er zog in Böhmen ein und wurde als Befreier begrüßt.
Der Traum seines Lebens näherte sich der Verwirklichung, die
Gründung eines großen Slawenreiches war in den Bereich des Mög-
lichen gekommen. Er forderte Böhmen und Lausitzer auf, gemein-
sam mit ihm gegen den Kaiser zu kämpfen, ihnen den gleichen
Ursprung und die gleichen Interessen ihrer Völkerschaften vor-
haltend. Aber sein Ruf verhallte ohne verstanden zu werden. Die
Zeit war nicht reif für solche Gedanken; bei den kaum differen-
zierten, noch beinahe geschichtslosen Stammverwandten fand
er kein Verständnis für Begriffe, deren Würdigung Bewußtsein
und Erinnerung an eine kulturelle Vergangenheit voraussetzte.

Der Kaiser aber wagte nicht sich offen dem polnischen Macht-
zuwachs zu widersetzen. Eine Gesandtschaft verlangte das Nach-
suchen um Belehnung beim Kaiser, da ja doch Böhmen unter
deutscher Oberhoheit stände. Boleslaw weigerte; ein langer Krieg
mit oft wechselndem Glück war die Folge. Boleslaw verlor schließ-
lich Böhmen, behielt aber die Lausitz und das Milzenerland,
erneuerte seinen Vasalleneid, weigerte aber bald danach dem
Kaiser die Heeresfolge nach Rom. Der Kaiser gab schließlich nach,
seine Ohnmacht einsehend, und auch Boleslaw stand ab, von
anderen Interessen in Anspruch genommen.

Diese Interessen lagen an den östlichen Grenzen seines Reiches
und zwingen uns ein wenig auszuholen. Um 860 waren Waräger
in die Gebiete des späteren europäischen Rußlands gedrungen,
Abenteurer aus dem Norden, die hier ein weites, kaum bevölkertes
Land vorfanden und eine ziemlich verschieden geartete Ein-
wohnerschaft ohne nennenswerte politische Organisation. Es ge-
lang ihnen durch ihre Überlegenheit sich als Führer durchzusetzen
und das Land von zwei Zentren aus zu großen Reichen zu organi-
sieren. Das erste dieser Zentren war Nowgorod am Ilmensee, das
zweite Kiew. Später wurden diese beiden Reiche in eins zusam-

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mengefaßt, dessen Hauptsitz Kiew war und das
allmählich nach Westen vorschob, erst v™ Dnjeprquot;LmTo °
dann zum Dnjestr, schheßlich bis zum Pripet DasTir^
Waffengewalt in primitiver Eroberung Shafen set
Standskraft und Macht hing durch den M»^!

tigung ganz von der PersönLkei7setaer H^^f I,
bedeutendsten war
Wladimir T o quot;quot;quot;quot;scher ab. Einer der
lidation die Greven te Se« f

sprachezelewli . ^nbsp;quot; ^awischen Volks-

GeinsaL n T Tnbsp;auch den endgültigen

We7t zi^lnbsp;Welt: die Grenze zwischen Ost und

reicW Tnbsp;\'\'\'Snbsp;des Polen-

ligion offH-\'^T,?\'nbsp;Völkern übernimmt die Re-

BrSiin ƒnbsp;quot;Nationahtätquot; zufällt. Der

mm eilt h Tquot;*™ quot;quot;nbsp;der Antagonis-

E^ ent^ckr f •nbsp;-trat.

ä»BertsfchT f ? \' nissischen Imperialismus und
Relisiorin nquot;^nbsp;Bolschewismus. Sicher war die

ents?heidlL ffquot;nbsp;Faktor, aber sie ™r der

Dingen ein» fnbsp;™nbsp;in politischen

Um z^ B r,nbsp;im Westen,

■■nng des Kr T zurückzukehren: dieser war durch die Erobe-
Gebietes der Grenznachbar

jenes Reiches am

aus. bewiesenquot;nbsp;unwesentlicher Natur blieben nicht

praktisch- er Vnbsp;Uebermacht des Polen. Boleslaw aber war

barn und\'schuf ^^^^ Familienbande mit seinen neuen Nach-
ßekehrungsve ^^^ Gelegenheit zu — übrigens erfolglosen—
^mirsinioi/^^-^
nbsp;^^^

nh^TTT—^-^^-^^ Grund zur Intervention während der foleen-
■^quot;re Identität isf ni^ül-;--—-----
°

nicftt mehr einwandfrei festzustellen.

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den inneren Wirren. Er drang bis nach Kiew vor und behielt, als
unmittelbaren Gewinn, die Tscherwenischen Städte.

Ein neuer Krieg nach Westen war inzwischen ausgebrochen.
Er wurde in 1018 durch einen für die Polen günstigen Frieden
beendet. Die Vasallität dem Kaiser gegenüber war verschwunden;
die Expansion des deutschen Reiches war zum Stehen gebracht
worden und der größte Teil der Westslawen in einem großen Staate
organisiert. Der Rest, zersplittert und uneinig unter sich, zwischen
Oder und Elbe seßhaft, löste sich ins deutsche Reich auf.

In diesem Gegensatze zwischen Kaiser und Polenherzog hatten
sich zwei im Grunde unversöhnliche Gedanken gegenüber gestan-
den: der der Universalherrschaft und jener der Koordination, der
„Souveränitätquot;, der seinerseits wieder langsam in den der Univer-
salherrschaft über alle westlichen Slawenstämme hinüberglitt. Es
war hier keine Brücke zu schlagen, letzten Endes entschied das
Schwert. Die Gegner sind nicht bestrebt einander zu verstehen,
sondern nur um ihre Ansicht, ihre Pläne durchzusetzen; aUes
hängt dann vom Augenblicke ab, von den Gelegenheiten und den
Machtverhältnissen, von der Persönlichkeit der Gegner, von
der Beharrlichkeit Boleslaw\'s so gut wie von der Träumernatur
Otto\'s III. Zweifellos haben auch Rassengegensätze eine Rolle ge-
spielt^, tiefgehende Sprachunterschiede, die hüben und drüben nicht
sosehr ein Gemeinschaftsgefühl entwickelten, als vielmehr das Be-
wußtsein des Einander-fremdseins; schließlich auch die Ueberlegen-
heit der kulturell fortgeschritteneren Germanen. Aber all dies hat
doch wohl eher nur die äußere Form als die Wesenszüge des Konflik-
tes bestimmt, die in den Gegensätzen der Charaktere und Aspira-
tionen der Herrscher zu suchen sind. Es gelang Boleslaw ja gerade
nicht, ein Gemeinschaftsgefühl bei den Westslawen zu erwecken.

Am Abende seines Lebens wurde Boleslaw zum Könige Polens
gekrönt, nachdem Heinrich II, der sich dieser Krönung am meis-
ten widersetzt hatte, gestorben war. Was bedeutete diese Krönung?
Sie war ein neuer Ausdruck für die polnische Unabhängigkeit;

1 Es empfiehlt sich hier den in der Literatur oft angewandten Begriff
„nationalquot; zu vermeiden; denn dieses Wort suggeriert uns einen festum-
rissenen Gedanken unserer Zeit, der doch sicherlich damals noch nicht
empfunden werden konnte.Es sei hier nach dem zwölften Kapitel verwiesen,
wo die Frage eingehender erörtert werden wird.

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«e war aus den Verhälüi^^Ti;;;;^^

Folge emer vorausgeschickten Theorie; sie setzte sich einem Vofe

ohne viel politische Erfahrung und ohne viel Ovvo.ifi^ l

loegrenzte Macht, so unbegrenzt, daß der Fürst das T nur!

war nLht de^^ führte a^ch weiter den Königstitel. Aber er

umdiese ch. 11nbsp;^^^^^^ ^^^^^^ fortzusetzen,

Gebiete\' ztaquot; ^^^ngerafften und keineswegs konsolidierten
t^ tZTunbsp;^^^ -elbewußten Opposi-

leisten n ttnbsp;slawischen Ziele keinen Widerstand

und di. nnbsp;^^^ Slovakei, die Böhmen Mähren

im Bn ^nbsp;^^ew, beide mit dem Kaiser

in dPn Tnbsp;^^ Pommern, der andere

die La,..nbsp;Kaiser selbst nahm

im Inninbsp;^^ Parteizerklüftung

«einen R?; \'nbsp;ermöglichten Bezprim

Er anerT. ? verjagen und die Macht an sich zu reißen,
schon Z Tnbsp;Oberhoheit des Kaisers, wurde aber

zusetzennbsp;Mieczislaw wuszte sich aufs neue durch-

er sich beu^r^\'lquot;\'\'^nbsp;Kaisers, dessen Oberhoheit auch

Pommern v h ^^^^^nbsp;er seine Macht nur in

er sich nirhlnbsp;herstellen können. Die Königskrone hat

Er hinterlieT

Schaft einer d ^^^^^ minderjährigen Sohn unter der Vormund-
ihre Landsleutnbsp;Mutter. Diese hatte große Vorliebe für

Reaktion nolnnbsp;bevorzugte. Die Folge war eine heftige

lieh, auch des s r^^\'^quot;\' Vertreibung der Regentin, schließ-
sicherlich aufnbsp;Kasimirs. Diese polnische Rebellion ist

Erwägungennbsp;zurückzuführen und nicht auf „nationalequot;

\' \'^^^lleicht spielten auch heidnische Elemente eine

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Rolle, die Reste einer „konservativen Parteiquot;. Separatistische
Neigungen, Abkehr gegen die allzu stark gewachsene Macht
Boleslaw\'s haben desgleichen mitgewirkt, denn Masovien gewann
während dieser Wirren vorübergehend seine Unabhängigkeit
zurück.

Die Umstände waren den Plänen des Böhmerherzogs günstig.
Wie früher Boleslaw, träumte er jetzt von einem großen Slawen-
reiche, aber unter böhmischer Hegemonie. Er fiel in Polen ein,
nahm Schlesien und drang bis nach Gnesen vor. Es ist bemerkens-
wert, eine wie wichtige Rolle religiöse Werte hierbei spielten. In
Gnesen ruhten die Gebeine des Heiligen Adalbert, des ersten
Slawenapostels und polnischen Landesheiligen. Diese Gebeine
waren gewissermaßen ein politisches Symbol, das Emblem der
westlichen Slawenwelt, das einzige Bild, das bei allen irgendwelchen
Anklang fand. Ihr Besitz war infolgedessen von großem Werte
für den, der Hegemoniegedanken nährte. Der Böhmerherzog nahm
die Gebeine und brachte sie nach Prag, die Polen aber verbrei-
teten zur selben Stunde das Gerücht, daß sie kurz vor dem
Raub durch andere ersetzt worden wären und daß sich die wahren
Gebeine noch in Gnesen befänden.

Die Gelüste des Böhmerherzogs beunruhigten Kaiser Hein-
rich III. Er zwang ihn von Polen abzustehen und bewirkte die
Anerkennung Kasimirs. Dieser ordnete aufs neue die Verhält-
nisse in seinem der Wirren müden Lande, war dadurch aber für
irgendwelche Erweiterung der sehr zurückgegangenen Grenzen
seines Reiches zu sehr in Anspruch genommen. Kasimir heira-
tete eine Prinzessin aus dem Reiche Kiew und sicherte sich so
den Frieden auf der Ostgrenze seines Reiches, vermutlich auch
indem er auf den Besitz des ruthenischen Gebietes verzichtete.
Er gewann aber so auch Verbündete, die ihm in der Unterwerfung
Masoviens beistanden. Schlesien wurde in 1054 wieder gewonnen,
blieb aber Böhmen noch tributpflichtig, während die pommerscheii
Vasallen sich aufs neue unterwarfen. Kasimir starb in 1058.

Sein Nachfolger Boleslaw II. war glücklicher. Wirren in Un-
garn ermöglichten ihm die Rückeroberung der Slovakei; die
großen Konflikte mit dem Papsttum begannen. Sein Verhältnis
zum Kaiser war anfangs das beste. Boleslaw wartete, er unterwarf
sich sopr dem Schiedsspruch des Kaisers in einem Streite mit dem

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Bohmerherzog. Als er sich aber sicher genug fühlte nnd den
Kaiser ohnmachtig wußte, nahm er den Königstitel wieder an
vermutlich mit Zustimmung des Papstes. Man protestierte im
deutschen Reiche, aber man änderte nichts daran.

Es sind dies Geschichten voUer Abwechslung, voller Leidenschaft
geTchSTet^^^^^^nbsp;MachtlSute u^d

GetSouf^e^^^^^^nbsp;^^^^nbsp;keine neuen

^Gesichtspunkte, es sei denn dieser, daß das Faktum der Ver-

---nbsp;Bedeutlng

S f.J Knbsp;^^-il-^vennögen, wurde also aucS

durch Famüienbeziehungen beeinflußt

Adfu!Trnbsp;ungetrübt. Es scheint, daß

tß besaßnbsp;-nbsp;Zeit einen gewissen Ein-

Mlit n M quot;nfnbsp;^^^ Maßnahmen des Fürsten

bälgten. Machtmißbrauch brachte Boleslaw jedenfalls zu Falle.

Er wrde 1079 vertrieben und starb 108. in der Fremde.

Wladislaw Hermann folgte seinem Bruder nach. Er war schwäch-

f^.R f ^ unbsp;und gab dem Adel nach, dessen Ein-

nuJJ dadurch wuchs; innere Wirren waren die Folge. Er wurde
des Herrschens müde und teilte sein Reich unter die Söhne, sich
selbst noch einen gewissen Einfluß und den Besitz der Haupt-
städte des Landes vorbehaltend. Es ist aus dieser Zeit ein sehr

inT\'^^\'^^fnbsp;überliefert; theoretische Anschauungen be-

gannen sich zu entwickeln: man fürchtete für die Einheit des

wTadk^nbsp;sah und fragte

sX r\'nbsp;Söhne das Oberhaupt werden

mußnbsp;antwortete: „Ich bin alt und schwach und

Urheber inbsp;^ber den andern zu

allein d\' unbsp;Rechenschaft und Weisheit zu geben vermag
dagegen
^ ^^^^ Gottes. Den Wunsch meines Herzens kann ich

digung de Vnbsp;^^^ Gerechten und in der Vertei-
gehorchet^Tüchtigern nach meinem Tode einmütig

damTTLf^^^^ ^^^ Chronisten erfunden sein, er fühlte
gang war- c^nbsp;irgendwie ein Über-

identische Betriff

suiie, andere Beziehungen entwickelten sich, wenn

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auch die letzte Auseinandersetzung erst siebenhundert Jahre
später erfolgte.

Boleslaw III. war der energischste der Söhne. Er unternahm
glückliche Kriegszüge gegen Pommern und gegen die russischen
Fürstentümer in den östlichen Grenzgebieten. Er heiratete eine
Prinzessin aus Kiew, verbürgte sich so freundschaftliche Bezie-
hungen und folgte seinem Vater in 1103 nach. Sein Bruder fügte
sich aber nicht in die untergeordnete SteHung. Er fachte Auf-
stände in Pommern an und suchte
Stütze in Mähren und Böhmen.

Schließlich jedoch mußte er sich besiegt mit dem Besitze Maso-
viens unter der Oberhoheit seines Bruders begnügen.

Boleslaw unternahm eine Reihe Kriegszüge nach Pommern,
teüs zu religiösen, teils zu politischen Zwecken: die Bekehrung
zum Christentum konnte einerseits einen beruhigenden Ein-
fluß auf jene wilden Stämme haben und so das Verhältnis zum
Polenherzog in friedlichere Bahnen leiten, andererseits aber
konnte so auch seine Autorität zunehmen.

Kaiser Heinrich V. war inzwischen bemüht, seine Oberhoheit
über Böhmen, Polen und Ungarn wieder geltend zu machen. Er
suchte Annäherung zu Boleslaw\'s Bruder und unternahm Kriegs-
züge, aber ohne Erfolg. Boleslaw seinerseits war ebenso erfolglos
bestrebt, die Böhmen für den Gedanken der
Slawengemeinschaft
und die gemeinsame Verteidiging ihrer Interessen zu gewinnen.
Sie unterstützten im Gegenteile seinen Bruder gegen ihn. Nach
mehreren Rebellionen ließ Boleslaw ihn ermorden.

Die Erbteilungen hatten die zentrale Gewalt im Reiche von
Kiew sehr geschwächt. Der Großfürst Wladimir Monomach war
um 1115 bestrebt, sie wieder zu vergrößern und die Einheit des
Reiches zu verstärken. Aber es gelang ihm nicht, er wurde ver-
trieben und floh nach Polen. Der mit ihm verschwägerte Polen-
herzog intervenierte zu seinen Gunsten und behielt wahrscheinlich
als eignen Gewinn aus dieser Unternehmung das Fürstentum
Halicz.

In 1121 beendeten die Einnahme von Stettin und die Eroberung
des westUchen Pommerns die Expansion an der Nordwestgrenze;
spätere Kriegszüge hatten keinen Erfolg mehr. Boleslaw hatte
seine Spannkraft verloren; Es beschäftigte ihn hauptsächUch ein

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Krieg gegen Ungarn, in den er sich während Nachfolgewirren
hatte hineinziehen lassen und der sich bald auf Böhmen und HaHcz
erstreckte. In 1135 sah er sich hierdurch gezwungen die Vermitt-
lung des Kaisers anzunehmen. Dieser benutzte die Gelegenheit
den Polen den Vasalleneid erneuern zu lassen und ihn zu biegen
Pommern als tributpflichtiges Lehen aus seinen Händen zu empfan-
fn rTnbsp;leichtverständliche Redeweise, in der man

It fnbsp;Machtverhältnisse ausdrückte,

sie in feste Formen goß,

unWd-^Tfverteilte sein Reich
unter die Sohne, es bestimmte aber auch, daß jedesmal der Älteste

der Sippe Herr in Krakau sein sollte, und im Besitze dieser Stadt
zugleich die Oberhoheit (monarcha, maximus dux) über das
^olenreich innehaben soUte, So wurden das Prinzip der Teilung
des Reiches unter die Söhne des Herrschers und der Gedanke der
Maatseinheit, noch zu Wladislaw Hermanns Zeiten ein ungelöster
^egensatz, miteinander versöhnt. Es ähnelt den Grundlagen einer
Konstitution: der Prinzipat, die Verkörperung des Gedankens der
^taatseinheit, befindet sich in Händen des jeweiligen Sippen-
aitesten, wird also erworben nach dem Grundsatze des Seniorats.

er Usurpation wird durch das ausdrückliche Gebot dieser Regel
ein Ende gemacht; nur \\vird sich zeigen, daß sie der Usurpation
nicht gewachsen war.

-j. seien die großen Züge hier noch einmal zusammengefaßt,
isrn-nbsp;^^^ ™ Anfang Fürstengeschichte. Der Staat

Die TTnbsp;des Fürsten, das Werk seiner Persönlichkeit,

sichnbsp;helfen ihm, erstlich seine eigne Führerrolle, die

versch ffnbsp;\' sehließHch über sein Leben hinaus Geltung

der v^tnbsp;die Notwendigkeit der Organisation,

weder^weil ^^^^nbsp;^^^^^ ^^^^^nbsp;durch, ent-

setzt sei^^ ^^^ ^^^^ einfach aufdrängt und sich ihr niemand wider-
Konsea ^^ ^^^ Schwäche oder aus Mangel an Einsicht in die
Nützlichkeit^^\' ^^^^nbsp;ihrer Notwendigkeit, von der

wpnitTf. .i^res Bestehens überzeugt ist, und sie so mehr oder

X^^jf/Delegation beruht.
geffenquot;b /Verden die Volksgenossen der fürstlichen Macht
Einern hnbsp;Diese Kritik wird erst der Person gelten,

sc wachen oder untüchtigen Fürsten, sie wird über ver-

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lorene Kriege oder über Gebietsverlust laut werden. Sie wird sich
aber schließlich auch gegen Machtmißbrauch richten und wird
so die Begrenzung der im Prinzip noch unbegrenzten fürstlichen
Macht unternehmen. Es setzen sich andere Interessen neben denen
des Herschers durch, und in dem Maße, in dem sie die Kompetenz
der Fürstengewalt eindämmen, nehmen sie jene aberkannte Kom-
petenz für sich in Anspruch. Feste Grenzen bestehen nicht, man
gleitet langsam in andere Formen hinüber: in den Ständestaat,
die Wahlmonarchie, die konstitutionelle Monarchie, von der es
zur reinen Demokratie kaum mehr ein Schritt ist. Diese Über-
gänge werden durch den Einfluß von Umständen und Persönlich-
keiten beschleunigt oder verzögert werden, ihre Voraussetzungen
aber zeigen sich schon in dieser frühesten Periode. Während dieses
Aufeinanderstoßens verschiedener Meinungen wird das monarchale
Prinzip zur Theorie. Der Fürst übt seine Macht „Dei Gratiaquot; aus,
das will sagen aus unbeweisbaren, aber auch unwiderlegbaren
Gründen; deshalb weil es seit langem so gewesen ist, weil es mit
einer gewissen Lebensauffassung so übereinstimmt und man über
diese nicht debattieren kann, ebensowenig wie über alle andere
persönlichen Ueberzeugungen und weil man sie gerade aus diesem
Grunde gern in eine Form kleidet, die sie in eine übermenschliche,
der Diskussion und Anfechtung entrückte Sphäre hebt. Solange
die Volksgenossen sich mit dieser Erklärung zufriedenstellen,
ist anzunehmen, daß sie entweder auch ihren Auffassungen ent-
spricht, oder daß hier irgendwie ein Mißverständnis herrscht,
dessen Lösung ihnen noch verschleiert bleibt. Denn die Organi-
sation der Gesellschaft beruht im Ganzen noch auf dem Gedanken
der Autorität; der Individualismus ist noch kaum entwickelt,
oder aber zurückgedrängt.

Der Staat (jedenfalls das, was wir gemeinhin Staat nennen:
eine Abgrenzung nach unten, gegen primitivere Organisations-
formen ist wohl kaum zu geben) ist die Schöpfung des Fürsten.
Die Gedankenwelt des Fürsten, seine Träume und Gelüste, seine
Konzeption des Staates als Kunstwerk, als außerhalb der Men-
schen stehender, transpersonalistischer Schöpfung, sind maß-
gebend und überherrschen andere, noch nicht entwickelte Gedan-
kengänge, wie den der ökonomischen Einheit, oder jenen der Ktd-
turgemeinschaft. Menschen und Gebiet sind ihm noch Objekte.

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Er ist absoluter Herrscher und Eigentümer. Er kann seine Schöp-
c d^e^^ndererseits auch sein Vermögen darstellt, unter seine
bohne teilen, kann sie aber auch, da die Gedankenwelt anderer
Herrscher dieselbe ist. durch Erbschaft und Heirat vergrößern-
das letztere beruht auf dem allmählich auch anerkannten Prinzip
der weiblichen Nachfolge oder wenigstens Uebertragungsfähig
mt in Ermanglung männlicher Nachkommenschaft. Ökono-
7rttnbsp;haben sich noch nicht ent-

r^htl he? A Tnbsp;™

caen Anscüauung: man kann schließlich auch Gebiete

durch Kauf oder Schenkung erwerben. Es sind dies Auffassungen,
aie Losung territorialer Konflikte einfach gestalten: sie sind

gemem anerkannt, eindeutig und leicht anzuwenden____ so-

iange sie allem maßgebend bleiben. Bald aber entwickeln sich
an^re Tendenzen und Werte und an ihnen scheitert der reine,
primitive monarchale Gedanke. Man wählt die Institution des
dip • 1?nbsp;sich andere Interessengemeinschaften,

und\'\' • \'\'^^^^^^quot;^enen Willkür des Herrschers widersetzen
seine Kompetenz zurückdrängen. Ihnen liegt an der Bestän-
gung des emmal gegründeten Reiches und bald
dekretieren sie,
zwinbsp;sei, nicht weil dazu eine innere Notwendigkeit

ihrnbsp;^^^nbsp;verlangt, ihre Ruhmessucht und

wäch tnbsp;^^ überstrahlen in Macht und Größe. So aber

Betriff f langsam jener innerliche Wert, der den späteren
WeL ^^^ quot;Nationahtätquot; ausmacht: die ursprünglich mehr oder
einernbsp;Einheit hat auf die Dauer die Entwicklung

meinsaiT\'^\'r^^quot;^®\'^ Geschichte, gemeinsamer Interessen und ge-
verschied^quot;quot;nbsp;Gefühle zur Folge. Die Vereinigung

nicht meh^^^inbsp;die Heirat ihrer Fürsten wird bald

»Personalu ^ wirkliche, dauerhafte empfunden: es werden
herrschtnbsp;dem andern fremd, es

dankens wnbsp;Durchbrechen des demokratischen Ge-

es nicht in^ ^^^^ verschwinden. Scharfe Grenzen gibt
verdrängt eins^*^^quot;^\' besteht nebeneinander, nach und nach
schwinden ^Es ^^^ ^\'^dere, löst es ab um seinerseits wieder zu ver-
worfene Ansch\'^^ Tendenzen, der Zeit und den Umständen unter-

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Territorialkonflikte sind in der oben behandelten Epoche noch
Fürstenkonflikte und bleiben es noch lange. Die Politik des Fürsten
wird durch die beiden Gedanken der Staatsschöpfung und der
Vermögensbildung beeinflußt, der zweite wirkt durch das Tei-
lungsprinzip destruktiv; der erste ist hier von größter Bedeutung.
Der Fürst denkt autoritär —■ wenigstens im Augenblicke der Ver-
wirklichung seines Schöpferdranges. Ihm liegt nur an seiner
eignen Meinung, seinen eignen Träumen. Krieg ist das zentrale
Element seines Wirkens; Verteidigungszwang, Expansionslust,
Ruhmessucht und Ehrgefühl spielen eine Rolle. Er interveniert
für vertriebene Verwandte und bedrängte Freunde, er hat Freude
an seiner Macht und an seinem Ansehen, er hat Überschuß an
Kräften und Unternehmungslust. Es ist wenig System in allem, die
Umstände entscheiden oft und die Eroberung ist oft eher die
Folge als die Ursache eines Krieges. Boleslaw I. als einziger hatte
ein „Programmquot;, aber seine Nachfolger haben es nicht mehr
verstanden.

Dieses primitive „Heldenlebenquot; wurde durch verschiedene
Umstände in Polen länger beständigt als im Westen. Die Nach-
barschaft wilder Heidenstämme verlangte die Assimilation an ihre
Kriegs- und Lebensweise und die teilweise noch selbständigen
Slawenstämme zwischen Oder und Elbe verriegelten höherer Kul-
turentwicklung noch längere Zeit den Weg.

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DRITTES KAPITEL

DIE ZERSETZUNG DES STAATES DURCH DAS
TEILUNGSPRINZIP

Boleslaw III. wollte durch die Institution des Prinzipates die

D ese Zi^^^^^^^ der Staatseinheit mit einander aussöhnen.
Diese Institution war nicht neu, sie war aber noch nie als stän-

XTonbsp;wordem tlet;

Sollnbsp;Bruderzwiste, die bisher regehnäßig die

lunSn^^^^^^^^^^ \' \'\'nbsp;-dererseits dem Tei-

W wT ! -ersetzende Wirkung nehmen, aber seine Schöp-
fung war verurteilt graue Theorie zu bleiben

nich^ri\'^^\'^f\'nbsp;zusammenhaltender Herrscher stand

S\'ederTn ^ ;nbsp;^^^nbsp;Sippenmit-

gaeder m dem Maße zu, daß man bald den Grundsatz des Senio-

wp^r?..^^? i^^ei^ige Sippenälteste, ungeachtet des ver-
wandtechafthchen Grades, der ihn mit dem vorigen Inhaber des

durrrfquot;quot;/^quot;^^quot;\'^\'nbsp;\'\'\' Prinzipatswürde nachfolgen sollte,

iewe^. -unbsp;Primogenitur ersetzte, nach dem der

nZtZfnbsp;Prinzipatsinhabers diesem in der Würde

zur Seitf! rr^nbsp;^^^ Prinzipatsgedanken

^asnbsp;der Staatseinheit verloren,

kendelrrLM^quot;\'^ \'\'\'\'\'nbsp;Sammelbegriff für eine schwan-

durch die T ^nbsp;souveräner, Staaten, die nur noch

mögen se/nbsp;zusammengehalten wurden, daß sie das Ver-

Fürstennbsp;^^^^ beerbender Sippenmitglieder bildeten. Jene

gemeinsameTnnbsp;Zeitlang „duces Poloniaequot;, um den

anzudeutennbsp;größeren Verband, in den sie gehörten,

ausschließlichnbsp;^^^^^ Vermögen auch nicht mehr

dem dreizehntnbsp;Piastengeschlechtes, da man seit

Verwandtsrh.^ Jahrhundert auch die Nachfolge auf Grund von

Piasten durch die Frauen anerkannte i

^quot;^quot;«b^^^r^eite 17-18 und 45-48 --

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Diese Verhältnisse beeinträchtigten die zentrale Gewalt in dem
Maße, daß sie schließlich verschwand; sie schmälerten aber auch
die Macht der einzelnen Teilfürsten. Neue politisch maßgebende
Faktoren treten auf, durch die Umstände stark begünstigt ent-
wickelt sich der Einfluß von Adel und Geistlichkeit.

Der Einfluß der Geistlichkeit und ihre Autorität wuchsen stetig
im Verhältnisse, in dem das Christentum im polnischen Volke
tieferen Eingang fand und dieses aus Devotionsgründen die ma-
terielle Macht der Kirche durch zahllose Grundstücksdotationen
vergrößerte. Nach den aus westlicher Geschichte her bekannten
Entwicklungslinien, sei es auch in anderem Rhythmus und in
anderer Tatsachenfolge, wußte die Kirche ihre Stellung zu verstär-
ken, sich Privilegien und Immunitäten von Abgaben und Gerichts-
barkeit zu erwerben. Der in Polen unbekannte Immunitätsgedanke
wurde durch die Kirche importiert; er stützte sich auf die An-
nahme, daß das Haus Gottes nicht dem Könige unterworfen sein
könne und seiner Macht entzogen werden müsse. Auch hier wieder
wird die Kirche Partei im Streite der politischen Gegensätze.
Außerdem nahm der Einfluß der Kurie auf den Klerus unter der
bald drohenden Mongolen- und Russengefahr zu.

Man erinnere sich in diesem Zusammenhange auch, daß Mieczis-
law I. aus politischen Gründen durch die Zahlung des Peters-
pfennigs sein Reich dem Heiligen Stuhle tributpflichtig gemacht
hatte. Polen war dadurch für die Kurie sozusagen ein in sich
geschlossenes Steuergebiet geworden, an dessen Instandhaltung
der Kirche alles gelegen war, zumal auch die Autorität der Kirche
in Polen auf die Dauer größer war und folglich auch Steuern
pünktlicher und regelmäßiger an sie entrichtet wurden, als anders-
wo. Fügt man hierzu noch den Umstand, daß das Angrenzen der
Heiden und Byzantiner im Osten dem polnischen Gebiete für
die Kirche eine besondere Wichtigkeit verlieh, so wird es leicht
erklärlich, daß gerade die Kirche in diesen Zeiten des Auseinander-
falls der einzige, wenn auch schwache Faktor staatlichen Zu-
sammenhaltens war und die natürhche Stütze des künftigen Reichs-
emeuerers im Kampfe gegen einen zuchtlosen, alles brutali-
sierenden Adel.

Die vollkommene Aufteilung der Fürstengewalt unter eine
Reihe Teilfürsten hatte die Schwächung jeglicher zentralen Ge-

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drittes kapitel \' ----

25

walt zur Folge. Diese Erscheinung bereitetTd^Tpwquot;^--

Machtentfatong jenes ^eite/neu»nbsp;It

im f, Taht-Hnbsp;daß diese Entwicklung ungefähr

undtLhts ^Snts trrnbsp;verschiede

tungen, wirkte deTvLfl ^ ^^^onderer persönlicher Leis-
in die Cd difbt tnbsp;™ Leuten

einer dt tstndf 1nbsp;^^^^en. Sie waren

Andrerse ts Cnnen dieTquot; rnbsp;^^^^

verteilen nach R^tt^ ^le Fürsten aus ihrem Ueberflusse Land zu
welchenbsp;T!quot;nbsp;daß der.

eine ganlenbsp;^^rsten Heeresfolge und

ähnelfdemtinbsp;^^^^^^ VerLtnis

^^ ^^^It ihm aber der festumrissene
ursprünX. Charakter. Der Ritter („milesquot;) erhielt das Land
besC^r^nbsp;^^^ der Fürst es wollte, war aber

Besitrirnbsp;erhalten, es schheßlich in erblichen

werden T I f-nbsp;schließlich identisch

^e der mil.rK ^ \'nbsp;Verhältnis zum Fürsten.

Fürsten und . unterstanden nur der Gerichtsbarkeit des

^uch ihre Steir^\'^\'iquot;nbsp;während sie

für sie das Str K Tnbsp;gegenüber befestigten. Es wurde

\'\'quot;d Immunitätnbsp;polnischen Geistlichkeit nach Privilegien

den Landbesitznbsp;Immunität und

Erwerb erst n . ^quot;d freies Eigentum verwandeln. Dieser
ein und wird 1^^^^^ Privilegien setzt im 13. Jahrhundert
durch welches d^\'^ a ^^ Kaschauer Privileg abgeschlossen,
Schaft anerkannf • ^ ^^^^^^ ^^^ geschlossene Körper-
sönlichen Privile ^^^ aUgemeines, die bisherigen per-

Privileg erhält, das seine Ab-

^ ibidem Seite o-Tfquot; ^^^^^de und die Notiz Seite 240 unten.
12, 30—33 und 67—73.

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gaben fixiert, seine Güter von allen Lasten des Fürstenrechtes
befreit und seine Verpflichtung zur Heeresfolge regelt.

Außerdem aber wirkte auf die Entwicklung noch ein anderer
wichtiger Faktor ein: die Annahme des Wappens. Das Wappen-
abzeichen bildete sich mit der Zeit zum Abzeichen der Sippe
heraus, in dem Sinne, daß da, wo das Entstehen verschiedener
Familiennamen die Erinnerung an den gemeinsamen Ursprung
verwischt hatte, dieses Abzeichen aufs neue die Familienbande
verstärkte, aber auch ein Zusammengehörigkeitsgefühl unter
den Sippen schuf: das Bewußtsein gemeinsamer Rechte und Pri-
vilegien. Diese Wappengemeinschaft stärkte also das Gefühl der
Zugehörigkeit zur Sippe und da diese zur Zeit des Entstehens des
Adelsbegriffes, der Adelsklasse, in Polen noch nicht zu einem
wertlosen Begriffe geworden war, fanden in den Adelstand nicht
nur Familien, sondern ganze Sippen Eingang. Die Zugehörigkeit
zum Adel erwies sich durch die Zugehörigkeit zur Sippe. Es
konnten sich deshalb im Adelstande auch keine hierarchischen
Abstufungen ausbilden; er wurde zahlenmäßig eine unverhältnis-
mäßig größere Klasse als zum Beispel in Westeuropa. Im Laufe
der Zeit verwischte sich auch der Zusammenhang zwischen Adel
und Landbesitz; landloser Adel entstand, dem Adel gehörten die-
jenigen an, die ein Wappen besaßen, in ihm aber bildete sich
auch mit der Zeit der Begriff der „Magnatenquot; aus, d.i. derjenigen
die durch Reichtum, persönliche Tüchtigkeit oder Aemter einen
größeren Einfluß als der Durchschnitt besaßen, wenn auch theo-
retisch in Polen der Adel eine einheitliche, gleichberechtigte Masse
bildete.

Es ergeben sich hieraus eine Reihe wichtiger Umstände, die
den Verlauf der polnischen Geschichte, also auch die Entwick-
lung der Territorialkonflikte in starkem Maße beeinflußten:

Der polnische Adel ist nicht auf dem Grundsatze des Feuda-
lismus aufgebaut, ebensowenig wie irgendeiner Hierarchie. Der
Adlige hält seinen Grundbesitz nicht vom Fürsten, sondern in
vollem Eigentum. Dem Fürsten fehlt also auch das Machtmittel
der Einziehung des Lehens, seine Stellung dem Adel gegenüber
ist eine äußerst schwache. Dort wo sich, wie bei den milites, Feu-
dalbeziehungen durchsetzen wollten, wurden sie im Verlaufe der
Zeit ganz beseitigt, und dort wo sie nach westlichem Vorbilde

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__________drittes kapitel

flußten nie auf wesentliche Weise das GesamtverhSlZ-r

«rei^ld\'etr-

ugt, eine kleine Gruppe unter ihnen aber weiß sich durrh

und Ansehen praktisch größeren Einfluß „»^^^^

S tᎠr\'^nbsp;anlh Dequot; Ade

desVolkesunifaßt\'utd LrdtSquot;^

über die Adelszueehfiri^v.;* ° Vi ^ \' ° Sippenzugehörigkeit
heitderMM edffhnbsp;theoretische Gleich-

seits abernbsp;^^ ™nbsp;demokratisch ist. Anderer-

dfese dllrT.®\'\'quot;\'^quot; Organisation in Sippen ™der
tml^rZ^tbf\'-^rquot;\'quot;\'®\'- Ökonomische UnalSiängigkeit
EiSluß SXwnbsp;Wahlkönigtum verstärkten den

hulitete Lh ^ ȧerordentlich, der im Verlauf der Jahr-
noliti.,^!, 1 wuchs, als der „dritte Standquot; allmählich

zu einem

CSf öLtnbsp;die freien Bauern

dadurAnbsp;^^ \'lt;=\'gt;™cher und abhängiger und

StMtfstrnbsp;während das Bürgertum der

entscheide./ ?nbsp;Westeuropa bekannten

wurdT^ « quot;nbsp;Einfluß ^u erwerben wußte. Auch

relevS» T f

oine demok™, B««kenmg ausmachte. Er war im Grunde
genug rnbsp;demokratisch

Tatsache sei\'nbsp;®quot;Sertums ersetzen zu könnend Die

typischen ^Ir? Ubergewichtes war eine der Hauptursachen der
rortbesteV i ™ Entwicklung Polens,

wie das abnorm lange
gesehennbsp;Ubergewichtes eine der Ursachen des tra-

Jener E f

der Schlachta setzt

in der hier zu

die großen t —der Ubersicht wegen wurden
inien dieser Entwicklung im Obigen angedeutet.

Das Reich Bnl

Testamentes ^nbsp;III. wrde nach den Bestimmungen seines

dem Schlesiennbsp;verteilt. Der älteste, Wladislaw.

---Ü^I!^wurde, erhielt außerdem Krakau und die

utrzeba op. cit. Seite 78—79.nbsp;----

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Würde eines Großherzogs. Unzufrieden mit seiner beschränkten
Autorität, versuchte er die alte Reichseinheit wiederherzustellen
und die absolute Macht an sich zu reißen; er wurde aber vertrieben
und floh nach Deutschland. Sein ältester Bruder Boleslaw (IV.)
folgte ihm im Prinzipate nach. Wladislaw aber anerkannte für
den Fall der Wiedergewinnung seiner Fürstenwürde die Ober-
hoheit des Kaisers über Polen und wußte ihn, dem er verwandt-
schaftlich nahe stand, in 1146 für einen Heereszug nach Polen zu
gewinnen. Es kam aber zu nichts, da der Kaiser durch Kreuzzugs-
vorbereitungen in Beschlag genommen wurde. Erst in 1157 kam
es zu einem Kriegszuge, der die deutsche Oberhoheit über Polen
wiederherstellte, allerdings nur theoretisch, denn der Kaiser war
in Italien beschäftigt.

Während dieser Auseinandersetzungen zwischen Kaiser und
Großherzog nahmen aber polnische Kriegsscharen dennoch an
Kreuzzügen gegen Preußen, Holsteiner, Mecklenburger und Pom-
mern teil. Hauptsächlich jene Züge nach Pommern mußten auf
die Dauer die Stellung der Polen in jenen Gebieten schwächen,
denn sie wurden vom deutschen Reiche aus unternommen und
gereichten nur diesem zu unmittelbarem Vorteil. Die Preußenzüge
brachten keinerlei Ergebnis; die Polen wurden sogar in 1161 dort
vollständig geschlagen. An den Südgrenzen ihres Reiches herrschte
während dieser Zeit Ruhe, denn nach dem Tode Monomachs
wurde das Reich von Kiew, wie Polen durch dieselben Folgen der
Erbteilungen geschwächt.

Schlesien, das Herzogtum des vertriebenen Wladislaw, wurde
nach dessen Tode in 1163 mit Intervention des Kaisers unter seine
drei Söhne verteilt. Hier nimmt die allmählich sich stärker ent-
wickelnde deutsche Orientierung dieser schlesischen Herzöge
ihren Anfang. Die Fürsten setzten sich mit deutscher Hilfe durch,
verwandtschafliche Beziehungen, wie das Wachsen des Ein-
flusses deutscher Geistlichkeit verstärkten weiterhin dieses Ver-
hältnis. Polen war um diese Zeit schon in sechs Herzogtümer
verteilt: Boleslaw IV. saß in Kujawien und Masovien, Mieczislaw
in Großpolen, Kasimir in Sendomir und Boleslaw, Mi\'eszko und
Konrad, die drei Söhne Wladislaws, in Schlesien.

In 1173 starb Boleslaw IV, einen minderjährigen Sohn hinter-
lassend; sein Bruder Mieczislaw (III.) folgte ihm im Prinzipate

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___drittes kapitel

—_______29

nach aber das Ansehen der herzoglicl^Tä^iri^-T

hersteUte. Das Ansehen nnd der Sluß der ? m
in dieser Zeit. Sie wurde die StAtJ^ 1 Geisthchlceit wuchsen
der Ordnung und Tr WM^ -nbsp;Verfechterin

genüber. Als Enllt eÄnbsp;mn^enten ge-

Leczyca ihre eX ptlLnbsp;-

Leistung anerCnt

die Prinzinatswnr^. r ° f ™ d®\' quot;pst Kasimirs Anrechte auf

sein Hefzogtum zlri inbsp;»eczislaw hatte inzwischen

t«ng der Wnquot; Ztr fnbsp;Abtre-

WilersprucrZ nr.

den Vedusfte ott\'I?quot;^nbsp;hatte

der Tjw t Oberhoheit über Pommern zur Folge. Heinrich
der Lowe eroberte in 1171 Stettin und zwang die Besiegten zm

Pom^eZfquot;nbsp;quot;ät. Nur lie StamTet^

weiterhta fuf dnbsp;quot;quot;nbsp;quot;^»^»trierte sich

nannte Geblt Pnbsp;(^Pä\'« Westpreußen) ge-

Ädttn\'de\'BTgri«:

schweretmst^l\'\'\'?\'\' ^\'nbsp;andere folgen-

«egs zu eiZm ethnbsp;keines-

Gebieten ero^lh, ^^\'?\'quot;nbsp;verschmolzenen polnischen

Herzogtum quot;7T!nbsp;Teilungen aufs

neue. Die einzelnen

je länger ie ml ^nbsp;Entwicklung und verwischten

vitierte nach d?V knbsp;der Staatseinheit. Schlesien gra-

schließlich s^rT .nbsp;dem polnischen Reiche

Anderer ■

hin auf oTe Fr breitete sich dessen Einflußsphäre nach Osten
Reiche von
rw ^^^dimir, Luczk, Beiz und Brzesc im
^lew wurden durch Verwandtschaftsbande ihrer

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Fürsten mehr oder weniger in den polnischen Interessen-
kreis bezogen. Eine Intervention in diesen Gebieten zugunsten
eines vertriebenen Fürsten festigte die Suzeränität Polens über
Brzesc, das Roman, dem Fürsten in Wladimir, gegeben wurde.
Unter der Herrschaft ebenjenes Fürstengeschlechtes von
Wladimir und Jaroslaw hatte sich aber auch eine andere, neue
Macht gebildet: das Fürstentum Halicz, das die Gebiete von
Przemysl, Terebowl und Swenigrod umfaßte. Auch hier gelang
es durch Intervention während innerer Wirren die polnische
Oberhoheit zu festigen; auch dieses Gebiet wurde dem Vasallen
Roman in Wladimir übertragen. Der vertriebene Fürst weiß
aber mit ungarischer Hilfe sein Reich zurückzuerobern; verliert
es bald wieder, um sich danach aufs neue durchzusetzen, bis
endlich der eine Zeitlang unentschiedene Kampf zugunsten des
polnischen Großherzogs ausfällt. Interessant bei diesen Unter-
nehmungen in ruthenischem und wolhynischem Gebiete ist, daß
der Adel keineswegs die Interventionen Kasimirs billigt. Er
meint, daß solche „Expeditionenquot; weder dem Rvihme, noch dem
Wohlergehen des polnischen Reiches nützlichquot; seien. Dem Groß-
herzog wird die ausschließliche Befugnis um über die „Richt-
linien der auswärtigen Politikquot; zu entscheiden allmählich be-
stritten. Gegen die Preußen unternahm Kasimir schließlich noch
einen erfolgreichen Feldzug. Die Stellung des Prinzipates im
Lande war um ein Beträchtliches wieder erstarkt, und das er-
möglichte hauptsächlich bedeutende Expeditionen wie jene
preußische. Kasimirs Einfluß reichte von Preußen bis ins ruthe-
nische Land, und seinen Gebieten von Krakau und Sendomir
hatte er jenes des Erzbistums Gnesen zugefügt; auch Masovien
und Kujawien waren ihm nach dem kinderlosen Tode des Teil-
fürsten zugefallen. Er starb unerwartet in 1191 und hinterließ
zwei minderjärige Söhne, Leszek und Konrad.

Nach den Grundsätzen des Seniorats hätte Mieczislaw, der
übergangene Bruder Kasimirs, in die Prinzipatswürde nachfol-
gen müssen. Aber die Geistlichkeit war ihm feihd aus alter Fehde
und erklärte, daß Papst und Kaiser die Nachfolge des Kasimirschen
Stammes schon während früherer Streitigkeiten zwischen den
Brüdern anerkannt hätten, und auch dem Adel war ein unmün-
diges Kind lieber als ein sich behauptender Fürst. Kasimirs Sohn

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________drittes kapi^nbsp;~

Aber Mieczislaw gab nicht nach. Er griff w,ff»

»d wurde besiegt, wußte aber in 1201 tech «bTf
Pnnzipatswürde doch auf Hie 7.-*nbsp;, Überredung die

bringen; wieder wurde t vtriagt undT d
durchzusetzen. Er brachte
ein 1?nbsp;^^^

^«ge gegen die Usurpaü^ gemeinsames Vorgehen der Her-

Adel luiande, ater Sr quot; Tnbsp;Magnaten und

in 1206. nach einer deT . l J^\'quot; Wladislaw mußte
Da
hob man in tif sÄhnbsp;das Feld räumen.

Papstes die ganznbsp;deT p •nbsp;des

«■rde dem StLme K^mifnbsp;Prmzipates auf. Krakau

rechtliche Bandquot;Tnbsp;staats-

hielt, war gelöstnbsp;Polnischen Herzogtümer zusammen-

dem Bnider Leszeks

Lencycza, sow^= dfSendomir, Sieradz und
machen zu können Frnbsp;■nbsp;ohne sie geltend

ratet und wärrd quot;quot;nbsp;«rhei-

^thenischen und wn,hnbsp;Kegierungszeit mit Kriegen im

i^t jetzt von ^f^^y^\'^ohen Lande beschäftigt. Dieses Gebiet
esnbsp;^rfquot;nbsp;umstritten. Anfangs ist

«mir und Prztmrtnbsp;«^^n Wla-

Bekenntnis u g™tnetnbsp;B-v«kerung für das römische

f^e^-^hichte priS?r F ^nbsp;m diese

-aldauchnach p;:quot;nbsp;stoßen aber

kann, fordert er I!nbsp;Leszek es nicht mehr halten

Erbe seiner vSernbsp;auf, „das

Kämpfe dauerrr„\\ Tnbsp;Bedrückers zu befreienquot;. Die

ständigen Nieder]» ^nbsp;™digen erst mit der voU-

\'hrer „Einflußsohnf..nbsp;\'\'\'\'\' Russen und Ungarn aus

Es handelt sich

Rachezüge, um R,. quot;quot; Familienkriege, um Fehden und
sammenhang-alsT ,nbsp;quot;quot;d Eroberungen ohne viel Zu-

rief er einen zweiten f \'quot;*\'™ P\'^^mysl nicht mehr halten konnte.
quot;Kht gönnte,
Das V \'quot;\'Jnbsp;dem ersten die Beute

vorgehen ist planlos und primitiv, aber der

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römisch-byzantinische Gegensatz beginnt sich aUmählich abzu-
zeichnen.

Leszek starb in 1227 und ließ einen unmündigen Sohn Boles-
law (V.) nach. Dieser konnte sich in seinen Erblanden erst nach
1241 durchsetzen. Die Verhältnisse wurden je länger je bedenk-
licher. Um die Mitte des 13. Jahrhunderts ist das Polenreich in
neun, bald in elf Herzogtümer zerspalten. Bruderkriege zwischen
den Fürsten nehmen zu; Rachezüge oder einfache EroberungSr
kriege des Stärkeren gegen den Schwächern. Ein schlesischer Her-
zog versucht noch einmal aUe polnischen Länder in einer Hand
zu vereinigen, aber er stirbt mitten im Werk in 1228 und sein Nach-
folger wird zu früh, schon in 1241, durch den Tod dahingerissen.
Da fällt alles in die alte Anarchie zurück und nur Adel und Geist-
lichkeit gewinnen. Die westpommerschen Gebiete sind schon ganz
verloren, Pommerellen scheidet sich ab, die schlesischen Herzöge
werden je länger je mehr in den Interessenkreis des deutschen Rei-
ches hineingezogen; und mächtige Nachbarn drohen im Osten
und Norden, der Fürst Daniel von Halicz, die Litauer und die
Preußen und die Ritter des Deutschen Ordens.

Es ist Zeit sich den Verhältnissen im Norden zuzuwenden. Seit
dem Anfange des 13. Jahrhunderts haben Masovien und Kujawien,
die Gebiete Konrads, des jüngern Sohnes Kasimirs, schwer unter
dem dauernden Ansturm der Preußen, jenseits des
Unterlaufes
der Weichsel seßhafter Stämme, zu leiden Die Polen sind seit
1211 mit der Eroberung, Verstärkung, Pazifikation und Bekeh-
rung des Kulmerlandes beschäftigt, mit der Errichtung einer
„Grenzmarkquot; im Norden des Reiches. Aber die wilden Stämme
überrennen dieses Bollwerk und dringen plündernd bis tief in Ma-
sovien ein. Da wird in 1218 zu einem Kreuzzuge beschlossen, an
dem Polen und Deutsche teilnehmen. In 1222 erobern die pol-
nischen Herzöge selbständig das Kulmerland zurück,
errichten
neue Burgen und Kirchen. In Livland hatten die Schwertritter
den Kampf
gegen die Heiden angebunden und da man ihre Erfolge
sah, lud der Bischof von Kulm in 1224 mit Zustimmung des Papstes

^ Ich folge hier den reich dokumentierten Ausführungen Roepells, obgleich
Hanisch den Tatsachen eine andere Bewertung gibt. Es finden sich in seinen
Schilderungen und Anmerkungen aber dafür keinerlei überzeugende Af
gumente.

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«erzehn Rtter ein um die Heiden auch von der polnischen Gren-
ze aus zu belcampfen und den christlichen Glauben zu
verbrei e^

Sh z^ fflt T\'rnbsp;Herzog Konr^d

aber hatte keinen

Sr;nTsl„rnbsp;«rüstet.

Dienbsp;rquot;nbsp;Deutschritter um Hilfe anzugehen

Kamp 3 dif^^^nbsp;Zweck den

Fr wl Unbsp;Verbreitung des Christentums

wir quot;nbsp;quot;nbsp;Syrien betäügjTnd

. y^tern m Deutschland. Aber

seine Rolle im Osten

da kZf \' quot;quot;nbsp;Wirkungskreis nach Europa-

He^^oTvonTnbsp;wurde in 1226 von dem

natTn „L / r\'^\' ™ Einvernehmen mit seinen Mag-
von Kulm ^^ Bi-hof von Kulm handelte, mit dem Gebiefe
NessZr r T
nbsp;^^^^ehen. Die Ritter wurden vorläufig im

be^pr.7 \'nbsp;Weichselufer untergebracht und

Wattquot; r^quot;quot;nbsp;^^^^ der Polen die Eroberung und Ko-

manfr q^^^^^^ J^^^® ^^^^ ^^^hte Her-
Lande .r/^nnbsp;quot;quot;quot; die Beleihung mit dem Kulmer

Anerkenn ,nbsp;^^ erobernden Gebiete und seine

Urkunde m\' ^^^^^^^^rsten nach. Der Kaiser bestätigt die
nennt LTnbsp;Herzogs, den er „devotus nosterquot;

S\'^te, kltherJhnbsp;Bestätigung als das „ihm zustehende

die ihe^^nbsp;die letzte Urkunde, in der

tendmachunr 1nbsp;Polen, deren praktische Gel-

Bommen wurd^^quot;^nbsp;^^^\'\'\'nbsp;Heereszuge in irS^ Unter-

aus „Antiquität\'\'nbsp;ausdrücklich, wenn schon auch mehr

ritter hatte s\' \'nbsp;quot;quot;d beansprucht wird. Für die Deutsch-

sie nicht mehrnbsp;reellen Wert, die Polen anerkannten

Stände oder danbsp;stets nur anerkannt, wenn Um-

bestritt sie und^ ^^^wert sie dazu zwangen. Aber auch die Kirche
Weihung Polens^^^^ Rechtequot;, die ihr aus der
hatte,
zustanden^quot; Heiligen Stuhl, die Leszek in 1207 erneuert

on Anfang an bestand bei Hermann von Salza die Absicht.

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in der heidnischen Wildnis an den Grenzen des Polenreiches
einen neuen selbständigen, von polnischen Herzögen unabhän-
gigen Staat zu gründen im Universalverbande des Heiligen Römi-
schen Reiches. Eine verwandte Politik hatte der Orden schon ein-
mal im Lande von Burza in Transsylvanien getrieben; dort hatte er
sich, wie ehemals Polen, unter den unmittelbaren Schutz des HeiH-
gen Stuhles gestellt, um so dem Ansprüche auf Unabhängigkeit den
Ungarn gegenüber Ausdruck zu verleihen. Aber der Ungarkönig war
mächtiger als die polnischen Herzöge und hatte den Orden aus dem
Lande vertrieben. Es ist auch anzunehmen, daß Konrad von Maso-
vien keineswegs diese Politik des Ordens anerkannte, ja daß sie nicht
einmal bei der Beleihung erörtert wurde. Keiner der bestehenden
Orden, weder der von Sankt Johann, der der Tempelritter oder
der Schwertritter, noch der Deutschritterorden selbst hatte je
irgendwelche Gebietshoheit besessen, die mit dem Zweck dieser
Orden nicht einmal zu vereinbaren war, und es war ebensowenig
beschlossen worden an den polnischen Grenzen eine neue Insti-
tution ins Leben zu rufen. Es handelte sich nur um die Anwendung
eines anerkannten Werkzeuges in den Heidenkämpfen, dessen all-
gemein bekanntes und geschätztes Auftreten in bedrohten Grenz-
marken der Christenheit hier der Ausgangspunkt war.

Die Beleihungsurkunde Konrads übertrug dem Orden das Ge-
biet zwischen Weichsel, Ossa und Drewenz und alles noch zu ero-
bernde preußische Gebiet als „perfectum et verum dominiumquot;
des Beliehenen, sowie seiner Erben, mit derselben Formel also,
deren man sich bei Schenkungen an Edele, Klöster oder Kirchen
bediente. Die Rechte und Privilegien des Beliehenen wurden aus-
drücklich aufgeführt und als seine Verpflichtung die Hilfeleistung
gegen preußische Kriegsscharen genannt; von irgendwelchem
Zweifel über das Lehnsverhältnis konnte keine Rede sein.

In 1228 begann die erste Kolonisation und bald traten die Ge-
gensätze der Auffassungen zutage. Der Orden stellte in 1234 sein
Gebiet unter die Obhut des Heiligen Stuhles. Es ist dies bezeich-
nend für das Verhältnis zwischen kaiserlicher und päpstlicher
Macht in jenen Tagen; bezeichnend ist aber auch, daß in jenen
vom Papst ausgehenden Urkunden von der früheren urkund-
lichen Bestätigung seitens des Kaisers nicht einmal die Rede war.
Der Papst willigte ein und notifizierte den Akt dem polnischen

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drittes kapitel

Herzog^ Für diesen konnte jetzt

Er beugte siA vor den Mächtigem, aber aUe dauernde mfett
tung polnischerseits gegen die Preußen hörte für die Kit er iäh

pol v^ Pnbsp;Herzog SwL\'tt

n^Lennbsp;S^S» Preußen unter-

t är ^nbsp;- Ehren Gottes und Lm fortet

£ er o^^^nbsp;^^^ Ausgestoßener, ein Vog t

und Irnbsp;Schutz; aber er war stark und gefürchtet

daquot;; du tnbsp;Herren der ganzen Christenheit

diese ^tV Vnbsp;Unternehmen noch

Ser P n \\ \'nbsp;\'\' Linien mancher Fürsten-

sicrinbsp;^^ irdischen Gütern

BedWnbsp;sich als solche unter zwei

rfquot; ™nbsp;slawischen Welt unabhängig die Jahr-

rSt dPnbsp;^^^ ^^^^^ ist. daß es ihr gelingt

kom^ . \'\'\' unmittelbaren territorialen Zusammenhang zu

DuTchhnnbsp;^^^nbsp;einen „slawischen

heute n^?^- Tnbsp;verhindern; beide berühren auch

^ute noch die Kernfragen des Problems.

enfiLkek\'\'^^hr und mehr
auf die
t quot;nbsp;Anschauungen und wuchs deren Einfluß

hauptsächrr!nbsp;Konflikte. Diese wird nicht mehr

Diskussion\'nbsp;Waffengewalt gegeben: Verhandlungen und

Rechte un^ , . i^ren Einzug; Urkunden. Verbriefungen,
sie auch mnbsp;Beweisequot; spielen eine große Rolle, wenn

entscheidet ak ^^^ bleiben und letzten Endes doch das Schwert
in ihren ö tl k ^ mittelalterliche GeseUschaft fängt an auch
dort schon e- ^quot;nbsp;..historischquot; zu werden; sie hat auch

tend Der kquot;\'^ Vergangenheit und diese macht ihren Einfluß gel-
nicht mehrnbsp;^^^^nbsp;historische, aber zur Zeit

aer Wirklichkeit entsprechende Tatsache: die kaiser-

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liehe Oberhoheit über Polen. Für die Deutschritter hat sie noch
einen reellen Wert, sie anerkennen sie noch und nützen sie aus.
Für den Polenherzog hat sie keinen Wert mehr, er bestreitet sie
und die Kirche mit ihm. Die Oberhoheit wird ein Argument neben
anderen und man wird es aus dem Stalle holen, wenn man meint
sich seiner bedienen zu können. Je nachdem man es zur Zeit der
Handlung noch anerkannte oder verwarf, wird es Wert oder keinen
Wert haben, aber gerade über diese Vorbedingung einigt man sich
nicht, bald vergißt man sie sogar und das Argument versteinert und
spukt nur noch weiter in den Kanzleien. Der Pblenherzog bedient
sich des Lehnsverhältnisses, aber der Orden verwirft diese Anschau-
ung und erkennt sich ein ausschließliches Anrecht auf seine eignen
Eroberungen zu. Beide berufen sich auf die Autorität der Kirche:
der Polenherzog gegenüber dem Kaiser, der Orden dem Masovier
gegenüber, und die Kirche gewinnt in beiden Fällen. Erbrecht und
Interventionsrecht werden in den ruthenischen Kriegen ange-
rufen; über die Tatsache der Existenz solcher Anschauungen be-
steht kein Zweifel, wohl aber über ihre Allgemeingültigkeit und
Anwendbarkeit im speziellen Falle. Die einen bestreiten sie leiden-
schaftlich, die andern berufen sich hartnäckig auf sie und man
einigt sich nie.

Eine Tatsache ist in all diesem von großer Wichtigkeit, diese
nämlich, daß die christliche Gemeinschaft nicht mehr das Schwert
an erster Stelle entscheiden lassen will. Sie sieht ein, daß auch in
diesen Dingen Friede und Ordnung der Unsicherheit vorzuziehen
ist und sucht nach Grundsätzen, die jenen friedlichen Beziehungen
Eingang verschaffen könnten, sie versucht auch die Territorial-
konflikte zu „objektivierenquot;, aber es gelingt ihr nicht. Jeder stützt
sich auf „Rechtequot;, das wiU hier sagen: allgemein anerkannte und
bedingungslos zu respektierende Grundsätze und daraus zu ziehende
Schlüsse, aber der Gegner anerkennt entweder diese Grundsätze
nicht oder bestreitet ihre Anwendbarkeit im gegebenen Falle und
letzten Endes entscheidet doch wieder das Schwert. Wünsche und
Anschauungen setzen sich durch, wenn die Machtsverhältnisse
es erlauben; dem Scheine nach ist die Gesellschaft pazifistischer
geworden, in Wirklichkeit aber nicht, sie ist sogar um ein schlechtes
Mittel reicher geworden: sie kann sich gewisser Argumente auch
gegen Treu und guten Glauben bedienen.

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im

Während diese Ereignisse Masovien beschäftigten, nahm i„.
Westen die Anlehnung der schlesischen Herzogtümer ans deutsche
Reich in stets höherem Maße zu. Man erinnert sich, wie die Her-
zoge, dem deutschen Kaiser verwandt, mit dessen Hilfe in 11G3
das väterliche Erbe zurückerlangten. Das Band, das sie seitdem
^it dem Schutzherrn einte, wurde auch weiterhin durch Ehe-
schließungenfester geknüpft. Die gemeinsamen Interessen wuchsen,
aber durch Umstände sozialer Art. Seit dem Ende des 12. Jahr-
hunderts wurden aus den völkerreichen deutschen Landen zuerst
Von der Geistlichkeit, späterhin auch nach deren Beispiel, von
lösten und Adligen, deutsche Kolonisten nach den weitaus spär-
icher bevölkerten polnischen Gebieten gezogen. Ihrer höheren
ntwicklung wegen, des höheren Ertrages der von ihnen auf
zweckmäßigere Art als von den Slawen bebauten Ländereien halber
Waren diese deutschen Kolonisten sehr begehrt und wurden aus
rem ökonomischen Erwägungen in ganzen Dörfern und Städten an-
gesiedelt. In den meisten polnischen Herzogtümern, wo das pol-
nische Element zahlenmäßig durchaus die Oberhand behielt,
aben sie sich auf die Dauer mit der einheimischen Bevölkerung
Verschmolzen und sind ganz in sie aufgegangen. In den schlesischen
ebieten dagegen, in den Grenzländem des polnischen Reiches,
Wo sie zuerst und am zahlreichsten angesiedelt wurden und durch
regelmäßigen Zuzug aus Westen Verstärkung erhielten, haben
Sie sich durchgesetzt und auf die Dauer den polnischen Charakter
eser Landschaft ganz verwischt. Ihr Zuzug konnte nur die deut-
^nipathien der Herzöge befördern. Während einer kurzen
eitspanne aber scheint es, alsob sich die Schlesier dem polnischen
^_eiche wieder zuwenden, scheint es sogar, alsob von Schlesien aus
le neue Zentralisation der polnischen Landschaften unternommen
rden soll. Aber in 1238, nach dem Tode jenes Herzogs Hein-
cn, der durch Erbschaft und Eroberung große Teile des polnischen
fiches in seine Hand gebracht hatte, fiel das kaum Vereinte
^i^er auseinander, vielleicht waren die Gegensätze schon zu groß,
^er deutsche Einfluß in Schlesien dagegen wächst auf ent-
cneidende Art. Streitigkeiten der Herzöge von Breslau und
ogau veranlassen eine deutsche Intervention; anläßlich eines
ensivvertrages in 1249 gehen einige Gebietsteile an die Nieder-
sitz über. Während innerer Wirren wird das Land Lebus an

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Magdeburg und Brandenburg verkauft. Durch Entäußerung und
friedliche Durchdringung wird der Uebergangsprozeß beschleunigt.
Die Gebiete von Krossen, Greifenstein und Przed, an die Lausitz
verkauft, danach an Magdeburg wiederverkauft, werden in 1276
zurückerworben, als für kurze Zeit eine böhmisch-polnische Al-
lianz gegen den deutschen Kaiser zustande kommt.

Um 1280 aber erklärt sich Herzog Heinrich LV, von Breslau zum
Vasallen des deutschen Reiches. Herzog . Kasimir von Oppeln
anerkannte um 1290 die Oberhoheit des Königs von Böhmen,
der Herzog von Beuthen in 1289, und als der böhmische König
in r29r mit Heeresmacht nach Schlesien gezogen war, folgten
auch die Herzöge von Teschen und Ratibor dem Beispiele ihrer
Verwandten. Hiermit war die endgültige Loslösung der schle-
sischen Herzogtümer vom polnischen Reiche eingeleitet worden.
Der Kampf um die Anerkennung der böhmischen Lehnsherrschaft
zog sich in seiner letzten Phase noch bis 1353 hin \\ Seine Ursache
fand er zum Teil im Selbständigkeitsdrang einiger Herzöge, zum
Teil in der Tatsache, daß der deutsche Einfluß im oberschlesischen
Gebiete geringer war als im niederschlesischen. Die oberschlesi-
schen Herzöge neigten noch mehr nach Polen hin.

Als Folge eines Kriegszuges des Böhmenkönigs Johann nach
Schlesien im Jahre 1327 unterwarfen sich die Herzöge von Teschen,
Oppeln-Falkcnberg, Ratibor und Kosel und wurden Lehns-
leute der Krone Böhmen. Die Nachfolge eines böhmischen Va-
sallen im Fürstentumc Auschwitz wurde gesichert. Die Inter-
vention des eifersüchtigen Ungarkönigs brachte aber den Er-
oberungszug zum Stehen. Im selben Jahre sicherte sich der Böhmen-
könig die direkte Nachfolge im Herzogtum Breslau nach dem
Ableben des kinderlosen Fürsten, dem er als Gegenleistung er-
iKitenc militärische Hilfe zu.sagtc. In 1329 wurde durch unbe-
gründete Intervention die Stadt Görlitz dem Herzoge von Jauer
gegen Entschädigung gonommrn. Im selben Jahre wurden die
Herzoge von Schh sion-Glogau-Ocls und I.icgnit/.-Üricg gezwungen

\' Mm ;in\\th.iulirhri Hild wie «lirsr (\'.rbictr IXJhminchcpvrits lt;lurch Kauf.
Stlirnkun«. WrpfatKJunfj, IlrbKaiiK\', llcir.it. Hilfclri-»tunK. Intervention,
l^\'ntrrli.m.llunK. Untrrwrrfunj; uml lünnrhunR von rtlwliKtm I^hcn
rrmnilwn wiinlrij. i:nbsp;Dir I\'olitik Ikgt;|k(M II vnii Stliwridniti-

Jaiirrnbsp;l(.lllrgt; filii

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die böhmische Lehensoberhoheit anzuerkennen. Auch der Herzog
von Schlesien-Glogau-Sagan erklärte sich zum Lehnsmann Böhmens.
Unabhängig blieben nur noch die Herzöge von Glogau, Jauer,
Münsterberg und Schweidnitz, von denen der letzte, gestützt auf
Polen, am längsten seine Selbständigkeit wahrte. Nach dem Tode
des kinderlosen Herzogs von Glogau nimmt der Böhmenkönig die
Stadt, nachdem er sich die Erbansprüche des Bruders des Ver-
storbenen, seines Lehnsmannes, hat übertragen lassen. In 1335
Wird der Herzog von Münsterberg zur Unterwerfung gezwungen.

1346 erbt der letzte und bedeutendste unabhängige schlesische
Herzog: Bolko II. von Schweidnitz das Herzogtum Jauer und
Weiß seine Unabhängigkeit durch zahlreiche poHtische Manöver
und Beteiligung an mancherkei Koalitionen gegen das in Böhmen
herrschende Haus der Luxemburger bis 1353 zu handhaben. Dann
aber fügt er sich dem Stärkeren. Der Böhmenkönig heiratet die
Nichte Bolkos und dieser setzt sie zu seiner Erbin ein. In 1368, nach
Bolkos Tode, werden die letzten unabhängigen schlesischen Gebiete:
Schweidnitz und Jauer von der böhmischen Krone eingezogen.

Zur Zeit da die schlesischen Herzöge anfingen sich ihren west-
lichen Nachbarn zu nähern, war Polen nur ein geographischer
begriff, eine kirchliche Organisationseinheit. Die Herzöge waren
■Köllig unabhängig von einander. Die ersten Beziehungen zu den
Höfen des deutschen Reiches waren ver%vandtschaftliche, daraus
entwickelten sich Erbansprüche, die Realität wurden, sobald
männliche Nachkommen ausblieben. Das wurde die erste Brücke,
die deutsche Kolonisation und die freiwiUige Anerkennung böhmi-
scher Oberhoheit brachten weiterhin Annäherung. Eine Reihe
Herzogtümer waren erworben, es galt jetzt die Lücken zu schließen,
den Besitz abzurunden. Auch hier spielten Erbansprüche eine
J^olle, ebenso Kauf, Uebcrtragung von Pfandschulden und Ein-
lösung der dafür verpfändeten Städte und Gebietsteile. Wenn es
quot;\'cht schnell genug ging, wurde nachgeholfen mit Interventionen.
Kriegszügen. Ucbcrredung und Droliungcn. Es galt für die Luxcm-
hurgcr eine Hausmacht zu schaffen und Schlesien war nur eins
der Expansionsobjcktc. Sic waren in Frankreich und Italien Ix--
\'^häftigt. sie hatten mit Wittclsbachcm und H.ibsbnrRcm ni
\'^t\'chnen, mit ixilnischcr und ungarischer Macht. Da war nicht im-

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mer Zeit für die schlesischen Interessen, man befaßte sich mit
ihnen, wenn die Gelegenheit sich bot und war im Grunde nicht
expansionslustiger als die schlesischen Herzöge selbst. Es wäre
zu erörtern, in wiefern dieses Wirrsal von vermeinten und aner-
kannten Ansprüchen, Androhung und Zwang mehr den Charakter
einer gewalttätigen Inkorporation oder den einer friedlichen Union
gehabt hat. Die Frage ist wohl nicht mehr zu lösen, da die Ant-
wort zum großen Teile von Anschauungen, Sitten und Gebräuchen
der Zeit abhängt, die weniger kompliziert und primitiver als die
unsrigen waren. Man schloß leichtfertiger Verträge ab, produzierte
aber auch falsche Urkunden und legte weniger Wert auf sie. An-
dererseits kannte man noch nicht den Begriff konsequenter or-
ganischer Staatsbildung späterer Tage, es galt dem Fürsten eine
„Hausmachtquot; zu schaffen, man erwarb unzusammenhängend
wo und was man konnte, kaufte, verpfändete, tauschte, schenkte:
das Gebiet hatte noch Handelswert, es war noch nicht zu festen
Einheiten verschmolzen; Fürstenrecht und Fürsteninteressen hat-
ten noch die Oberhand. Es läßt sich da für den Erwerb Schlesiens
böhmischerseits nur sagen, daß die freiwillige Unterwerfung eine
bedeutende Rolle spielte und gewalttätiges Eingreifen eine nahezu
sichere Entwicklung der Dinge nur beschleunigte; daß es weniger
eine Eroberung als eine nach den Anschauungen der Zeit normale
Vereiniging der Gebiete verwandter oder zum mindesten stark
befreundeter Fürsten war.

Es sind hier auch noch andere Umstände zu berücksichtigen.
Auf der Pariser Friedenskonferenz und auch später noch ^ wurde
oft die Frage erörtert, wie lange die schlesischen Gebiete „polnischquot;
oder „deutschquot; gewesen seien, bzw. „polnische oder deutsche Be-
völkerungquot; gehabt hätten. In der Formulierung der Fragen zeigt
sich schon deutlich die Neigung Anschauungen, Werturteile und
Begriffe unserer Tage auf eine Zeit zu übertragen, in der sie nicht
gegolten haben. Das 14. Jahrhundert kannte keine streng ge-
schiedenen Staaten, keine Staatsangehörigkeit und keine poli-
tische Gleichberechtigung aller Volksklassen. Fest steht zweifel-
los, daß die schlesischen Herzogtümer endgültig seit 1335, dem
polnischen Verzichte zu Trentschin, in den großen vielgestaltigen

\' siehe Dr. W. Recke Die Wiederaufrichtung Polens in Versailles. Berlin
1928 Seite 22 ff.

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und bunten Interessenkreis des Heiligen Römischen Reiches ein-
bezogen worden sind. Fest steht aber auch, daß in jenen Tagen
der politisch maßgebende Teil des Volkes nur aus Adel, Geistlich-
eit und städtischer Bevölkerung bestand, diese waren in Schle-
sien überwiegend deutsch oder zum mindesten „deutsch orien-
^ert . Andererseits war es aber jener Zeit nie um geschlossene
centralistische Staatsbildung im modernen Sinne zu tun. Schle-
sien Wurde zu Anfang in den unmittelbaren Interessenkreis der
ohmischen Länder bezogen, die doch wohl auch heutzutage noch
^eineswegs „überwiegend deutscher Artquot; sind. Als es in 1526 an
as Haus der Habsburger kam, veränderte daran im Grunde nichts,
rst durch die Eroberung Friedrichs des Großen in 1742 kam es
^^unmittelbaren Zusammenhang mit „rein deutschenquot; Gebieten
^ erst im 19. Jahrhundert setzte jener moderne demokratische

^ ^^^ ..Nationalitätenquot; und der Assimilierungskampf ein.
^ s hat wohl keinen Sinn Begebenheiten früherer Zeiten einen
Beinbsp;den sie nicht gehabt haben können und sie als

ege für Werturteile und Anschauungen heranzuziehen, mit
en sie in keinerlei unmittelbarem Zusammenhang stehen,
ontinuität liegt sicher in der Entwicklung jener Verhältnisse,
er um eine Identität der Werturteile zweier so gegensätzlicher
tanschauungen wie die der demokratischen und die der hier-
cuisch-lehnsrechtlichen Auffassungen behaupten zu können, ist
Wohl nicht die mindeste Begründung vorhanden.

^ Nach dieser Schilderung der schlesischen Schicksale muß weit
für^d ^ gegriffen werden. Im Anfang des 13. Jahrhunderts traten
r das östliche Europa bedeutungsvolle Ereignisse ein. Gewaltige
^onzentrationen mongoloïder Völkerschaften wälzten sich von
^s en her nach Europa heran. Von ihrem Ursprünge und ihrer
^^ Weiß man nicht allzuviel aber man spricht seit altersher von
er Mongoleninvasion des Dschenghis Khan. Es genügt zu er-
aunen, daß beträchtliche Völkerschaften von mongoloïdem Typ
Ch um 1200 zusammenballten, in 1211 bis zur Wolga vordrangen,
en Volkstamm der Polowzer vor sich ausjagend, der sich in 1224
V ereinigung mit andern russischen Völkerschaften dem Ein-
entgegenstellte, aber bei der Kalka vollkommen
Siehe E. Pittard Les races et Thistoire, Paris 1924 Seite 463—475.

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aufgerieben wurde. Nach dieser Schlacht kehrten sich die Sieger
wieder nach Asien; dringen aber in 1237 ^^is den kaspischen Ge-
bieten erneut nach Westen vor. In 1240 ist Kiew erobert, im Januar
1241 stehen sie an den polnischen Grenzen, überschwemmen Un-
garn und Polen und siegen in den schlesischen Landen in der
Schlacht bei Liegnitz, dort wird aber ihre Invasion doch zum
Stehen gebracht. Wider aller Erwarten verändern sie wieder die
Richtung, dringen in Oesterreich ein, ziehen sich aber nach dem
unerwarteten Tode ihres Anführers nach der Krim zurück. In
jenen Gebieten bleiben sie jahrhundertelang die Herrscher und
bleiben noch manches Jahrzehnt die Oberherm der ihnen tribut-
pflichtigen Reste des Reiches von Kiew.

Die Bedeutung dieser Invasion für Polen liegt hauptsächlich
hierin, daß das Reich von Kiew durch sie endgültig zertrümmert
wurde. Eine neue Konzentration der russischen Gebiete wird von
\' Moskau ausgehen, aber erst nachdem Litauer und Polen einen
beträchtlichen Teil dieser „Erbschaft Monomachsquot; ihren Reichen
einverleibt haben. Daraus wird sich im 16. Jahrhundert jener
leidenschaftliche Kampf zwischen Polen und Moskau um jene
„russischenquot; Gebiete entwickeln, der auch heutzutage noch nicht
endgültig entschieden ist. Die erste entscheidende Phase wird aber
durch die Teilungen Polens abgeschlossen werden.

Die Zersplitterung der polnischen Herzogtümer nimmt im r3.
Jahrhundert von Jahrzehnt zu Jahrzehnt zu. Um 1270 ist die
Zahl auf 14 angewachsen. Der Mongolenzug schwächt noch mehr
ihre doch schon geringe Macht und neue Gebietsverluste an die
westlichen Nachbarn sind die Folge. Pommersche Herzöge dehnen
ihr Gebiet bis zur Netze aus, erobern in 1234 das Pyritzer Gebiet,
in 1237 das Kloster Kolbatz, in 1249 Soldin, Lippehne und Lands-
berg, polnische Teile der späteren Neumark. Die Brandenburger
erobern Küstrin und in 1262 Soldin und Königsberg; die Polen
werden ja länger je weiter nach Osten verdrängt. Zu gleicher Zeit
legt im Norden der Deutsche Orden die Grundlagen zu seinem
zukünftigen Staate. Zuerst wird das Gebiet zwischen Weichsel,
Ostseeküste und Alle „gesäubertquot; und mit deutschen Kolonisten
besiedelt. Der Orden wurde hierbei im Anfange von den pomme-
rellischen Herzögen unterstützt. Späterhin aber, als beim großen
Aufstande in 1240 Preußen und Pommern sich gegen den Orden

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kehrten, halfen diesem polnische Herzöge. Es mag sein, daß dies
in deren eigenstem Interesse lag; vielleicht spielten aber auch nur
religiöse Motive eine Rolle, oder die Erwägung, daß sie so auf
deutliche Weise, indem sie dem „Vasallenquot; Hilfe leisteten, zeigen
konnten, welcher Art ihrer Ansicht nach das Verhältnis zwischen
dem Orden und polnischen Herzögen war. Es mag aber auch sein,
daß nur der Mangel an politischer Einsicht sie dazu brachte, dem
späteren „Erbfeindquot; Hilfe zu leisten. Das Einvernehmen dauert
nahezu zehn Jahre. Danach, während der Jahre 1250—1283, wird
Preußen endgültig „gesäubertquot;. Die letzten unbesiegten Stämme
wandern nach Litauen aus.

Dieser Ausrottungskrieg konnte das Entstehen eines neuen
^taates zur Folge haben. Jede Kontinuität wurde zerrissen, das
Land entvölkert und neu besiedelt. Diese „Folgequot; war aber doch
uicht anfänglich der Grund des Unternehmens. An erster Stelle
^ndelte es sich um religiöse Motive, um den Kampf gegen die
Heiden, und dieser Gedanke herrschte sicherlich in der europäi-
schen Meinung jener Tage vor. Man lud sich ja glaubenseifrige
Gäste aus aller Herren Ländern zu diesem Gott gefälligen Werke
em, und für diese galt eben nur der Kampf gegen die Heiden; sie
kamen keineswegs in der Absicht, rein weltliche Pläne eines an-
dern zu stützen. Ueber die Konsequenzen dachte man im Anfange
Wohl gar nicht nach, hätte sich vermutlich über sie auch wahrlich
nicht den Kopf zerbrochen, denn jene Gegensätze und Entwick-
^ngen, die für spätere Jahrhunderte so folgenschwer wurden,
Destanden eben zur Zeit noch nicht; das östliche Europa war
noch nicht in stark differenzierte Staatenkomplexe aufgeteilt, man
kannte noch nicht jene leidenschaftUchen „nationalenquot; Gegen-
satze. Es handelte sich lediglich darum, einem religiösen Orden
eine neue Existenzmöglichkeit, ein neues Arbeitsfeld zu schaffen
und da dieser nicht von polnischen Herzögen abhängig sein wollte,
liesz er sich seine Selbständigkeit von den beiden höchsten Auto-
ritäten der damaligen Christenwelt, von Kaiser und Papst, zusi-
ehern. Daß in jenen preußischen Gebieten deutsche Kultur und
deutsche Kolonisten Eingang fanden, war die Folge, nicht der
Zweck; es war eine Existenzfrage, ohne sie konnte der Orden
®ich nicht halten. Von einer zielbewußten Verbreitung des „deutsch-
quot;^ölkischenquot; Gedankens, der konsequenten und gewollten Erweite-

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rung „deutsch-nationalenquot; Gebietes konnte nicht die Rede sein,
denn diese Anschauungen kannte die Zeit ja gar nicht; es handelte
sich eben in erster Linie um Heidenkämpfe. Jene deutsche Koloni-
sation in Preußen war im Grunde derselben Natur, wie die säch-
sische in Siebenbürgen, oder die im nördlichen Baltikum, oder
jene tief in Rußland an den Wolgaufern. Daß sie auf die Dauer
für ein neues, nach andern Grundsätzen gebildetes Deutschland
einen andern, eignen, nationalen Wert erlangte, lag nur an dem
Umstände, daß sie von diesem deutschen Gebiet räumlich kaum
geschieden war; es sind dies aber nur graduelle Unterschiede
zwischen der preußischen und zum Beispiel, jener siebenbür-
gischen Siedlung, keineswegs prinzipielle.

Es sei hier darum auf einen Umstand hingewiesen, der in hohem
Maße territoriale Konflikte komphzieren kann: die Doppelseitigkeit
mancher politischen Betätigungen und ihre nicht vorhersehbaren
Folgen. Handlungen, denen man im Anfange eine gewisse,
eindeutige Bedeutung zumißt, haben auf die Dauer ganz andere
Folgen, an die man nicht gedacht hat, oder die man nicht vorher-
sehen konnte, da sie erst durch spätere Entwicklungen beding
wurden. Es entstehen so Zerklüftungen und unüberbrückbare
Gegensätze, durch die wechselvolle Geschichte der Jahrhunderte
noch verschärft, aus deren Wirrsal auf gewaltlose Art wohl kaum
mehr herauszukommen ist.

Der deutsche Orden, dessen Beruf es war Vorfechter des Chris-
tentums zu sein, Gegensätze auszugleichen und das Gebiet der
römisch-katholischen Welt zu erweitern, hätte bei strikter Be-
folgung seines Berufs nach aller Wahrscheinlichkeit auf die
Dauer eine Annäherung zwischen Polen und Preußen zu Stande
gebracht und sein Einfluß wäre späterhin nicht größer gewesen
als der der Schwertritter an der höher gelegenen baltischen Küste
bis auf den heutigen Tag. Das Ergebnis aber war ein ganz anderes:
es entstand ein neuer, vielleicht noch tieferer Gegensatz als der
zwischen Preußen und Polen, und sicherlich einer von schwer-
wiegenderen Konsequenzen. Es lag dies zum Teile am Drange
des Ordens nach Selbständigkeit und an seinen sehr radikalen
Bekehrungsmethoden, zum Teile an dauernder politischer Schwä-
che in Polen während der wichtigsten Momente in der Entwick-
lung jener Verhältnisse, zum allergrößten Teile aber an dem

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Umstände, daß das Arbeitsfeld des Ordens in allzu großer Nähe
des ethnographisch deutschen Gebietes lag, ohne daß es ihm
frühzeitig gelang, auf gleich radikale Weise eine dauernde und
unverbrüchliche Verbindung mit dem „Mutterlandequot; herzustellen
und den polnischen Gegner im Süden entscheidend zurückzu-
werfen.

Während jener Zeit innerer Schwäche in polnischen Landen
uahm im Osten durch den Mangel an gemeinschaftlicher Gegen-
wehr der Umfang verheerender Einfälle der Litauer, Russen und
^ongolen in stets wachsendem Maße zu. Im ruthenischen Lande,
in Ostgalizien, hat sich unter dem Fürsten Daniel von Halitsch
eine neue, den Mongolen tributpflichtige Macht gebildet. Man
Versucht polnischerseits vergebens jene Gebiete dem katholischen
auben zu gewinnen und den Fürsten Daniel zu gemeinsamer
energischer Abwehr der das Land unaufhaltsam verheerenden
Mongolischen Horden zu bewegen. Der griechische Kult hat im
^thenischen Lande aber schon zu tiefe Wurzeln geschlagen; die
• egensätze sind schon nicht mehr auszugleichen. Während die
quot;Römische Kirche sich vergebens um das Halitscher Gebiet bemüht
Und an den nordöstlichen Grenzen der polnischen Länder die
utauischen Nachbarn in nur geringer Zahl zum römischen Glauben
ekehrt, unterstützt durch einige erfolgreiche Heidenzüge, dringt
Von Süden her der griechische Kult langsam, aber leichter bei den
Uauischen Stämmen durch. Diese stehen den Russen nicht allzu
em, ihre Fürsten sind einander oft verwandt/durch ihre Verwandt-
schaft findet der orthodoxe Glaube leichteren Eingang. Die reli-
giösen Gegensätze werden von größter Bedeutung, sie spielen bei
lungen Völkern die Rolle, die später die „Nationahtätquot; über-
Uininit. Der Umstand, daß Litauer und Russen dem gleichen Be-
j^enntnis angehören, erklärt auch zum Teil den großen Erfolg der
itauer bei ihren Expansionsbestrebungen nach Südosten im 15.

Jahrhundert.

Während dieser Entwicklung im Osten ereigneten sich auch
Wichtige Dinge im Westen. Der Herzog von Kleinpolen starb in
^288, ohne Nachkommen, aber auch ohne testamentarisch einen
Nachfolger bestellt zu haben. Da fiel dem Adel die Funktion zu,
aus den zur Sukzession Berechtigten einen neuen Herzog zu wählen.

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Es war dies nicht sein selbständiges Recht, sondern nur eine dem
Fürstenrechte untergeordnete Befugnis, um im Notfalle als Stell-
vertreter die Rechte des Fürsten auszuüben; dennoch aber konnten
solche Wahlen den Adelseinfluß nur mehren. Man konnte ja den
wählen, den man am geeignetsten fand und erhielt so Einfluß in
politischen Dingen, den man auch weiterhin zu beständigen be-
strebt war.

Man wählte nicht einen Bruder der Verstorbenen, sondern Boles-
law von Masovien. Ein Gegner aber, der Herzog Heinrich IV. von
Breslau, der mächtigste in Niederschlesien, der sich um 1280 zum
deutschen Vasallen erklärt hatte, machte ihm das kleinpolnische
Gebiet streitig und setzte sich dort, unterstützt von der zahl-
reichen deutschen Bevölkerung in den Städten, durch. Er hielt
jetzt den größten Teil der polnischen Landschaften in seiner Hand
und es hatte den Anschein, daß er die neue Einheit bringen würde.
Aber er starb in 1290 und in seinem Testamente teilte er seine
Länder und setzte Przemyslaw von Großpolen zu seinem Erben
in Kleinpolen ein. Man hat dieses Testament „merkwürdigquot; ge-
nannt Aber beweist es nicht gerade, daß es jenen Fürsten keines-
wegs um Staatsbildung „vom Standpunkte des Deutschtums ausquot;
zu tun war; daß es sich bei ihnen nur um die Mehrung persönlicher
Macht und persönlichen Ruhmes handelte, wobei noch den Interes-
sen des „Hausesquot; Rechnung getragen wurde, und daß eben An-
schauungen und Wünsche unsrer Zeit für das 13. Jahrhundert
nicht maßgebend waren?

Przemyslaw konnté aber seine Erbschaft nicht antreten, denn
ein anderer, mächtigerer wurde sein Rivale. Die Erwerbungen
Heinrichs IV. von Breslau hatten das Interesse der westlichen
Nachbarn auf Polen gelenkt. In jenen Jahren wandte Wenzel II.
der Böhmenkönig sich zum ersten Male den schlesischen Herzog-
tümern zu und herbeigerufen von der Witwe des in 1288 verstor-
benen Herzogs von Kleinpolen und Herrn von Krakau, setzte er
sich auch dort fest. Er war der Herr eines geordneten und mäch-
tigen Königreichs und das der Anarchie verfallene, ruhebedürftige
Land fügte sich seinem Willen. Ein neuer Versuch das polnische
Land in eine Hand zu bringen, wurde gemacht und wieder
kam er von der schlesischen Seite, wo die Herzöge von Oppeln,

^ Hanisch op. cit. Seite 39.

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Teschen und Ratibor zum ersten Mal sich der böhmischen Macht
beugten, und auch wieder spielten deutsche Elemente, hauptsäch-
lich in Krakau, eine Rolle.

Wenzel greift auch bald nach dem großpolnischen Lande, dem
Herzogtume Przemyslaws, hinüber. In 1293 wurden zwei Anrecht-
haber auf das kleinpolnische Gebiet, Wladislaw Lokietek und
Kasimir, die bei der Herzogswahl in 1288 übergangenen Brüder
des verstorbenen Herzogs, durch den Böhmenkönig besiegt. Bald
aber tun sie sich mit Przemyslaw zu gemeinsamer Abwehr des
Eindringlings zusammen. Ein Bürgerkrieg bricht aus und Litauer-
und Mogoleneinfälle in 1294, die Kasimir das Leben kosten, ver-
mehren das Unglück.

Przemyslaw wurde aber anfangs hauptsächlich durch seine
Interessen in Pommern beschäftigt. Die polnischen „Anrechtequot;
Pommerellen waren ihm durch das Testament Heinrichs von
reslau übertragen worden und Mestwin, der Machthaber in jenen
Gebieten, hatte sich in der letzten Zeit seines Lebens immer mehr
^nf
Przemyslaw, seinen polnischen Verwandten, gestützt, hatte
sogar, da er ohne Nachkommen war, im Einvernehmen mit
Semen Baronen zu seinem Nachfolger bestimmt. So wurde das
ßand, das noch im Anfange des Jahrhunderts in der Form eines
Vasallitätsverhältnisses bestanden hatte, aber von dem Herzoge
Swantopolk, obwohl er sich späterhin wieder auf seine großpol-
nischen Verwandten stützte, gelöst worden war, wieder aufs neue
^nd in festerer Form geknüpft. Mestwin, Swantopolks Nachfolger,
unbeständig und leichtfertig im Verträge-Schließen, hatte sein
Land gegen die Expansionslust zweier Nachbarn, des deutschen
Ordens und der Brandenburger Markgrafen zu verteidigen; das
^rde der Grund, weshalb er sich, wie auch früher in ähnlichen
allen sein Vater, wieder der polnischen Verwandten erinnerte.
^ Der Orden stützte seine Anrechte und Interventionen betreffs
Pommerellen auf die Tatsache, daß ihm von Teilherzögen gewisse
Güter geschenkt worden waren, eines Teils aus Erkenntlichkeit
kriegerische Unterstützung, andern Teils gelegentlich des
Eintritts eines Teilfürsten in den Orden. Es zeigen sich hier wieder

^ siehe Dr. W. Grünberg, Der Ausgang der pommerelhschen Selbstän-
digkeit. Historische Studien. Heft 128. Berlin
1915-

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die doppelten Folgen an und für sich einfacher Handlungen. Die
Forderung der Zusammengehörigkeit gewisser Gebiete wird nicht
empfunden, man kann schenken, wenn man will und man kann
überall verstreut Besitzungen haben. Man schenkt hier aber einem,
der, da er keine Söhne zu versorgen hat, sein Besitztum nicht mehr
teilt, und behält was er erworben hat. Und da er sich stark fühlt
und expansionslustig ist, peigt er dazu, seine Gebiete abzurunden
und Lücken auszufüllen.

Die Ansprüche der Brandenburger stützten sich auf ein typisch
primitives Manöver Mestvins. Als Mestvin noch Teüfürst war,
wollte er Alleinherrscher in Pommerellen werden, dazu brauchte
er Verbündete, wandte sich an die Brandenburger, erklärte sich
in 1269 zu ihrem Vasallen und anerkannte sie als Lehnsherrn
hinsichtlich des Gebietes, das er schon besaß. Bald bot er ihnen
Danzig an, das er nicht besaß, allein um seinem Bruder zu schaden.
„Holt euch Danzig, wenn ihr könntquot;, ist der Sinn des Angebots,
er nahm aber an, daß sie es nicht könnten, denn als sie es erobert
hatten, ließ er sie von seinem großpolnischen Verwandten daraus
vertreiben. Das Ende ist, daß er sich in 1273 zu einem gegen-
seitigen Schutzbündnis finden läßt und die Lehnsherrschaft
der Markgrafen anerkennt über Gebiete, die sich im Besitze
eines Dritten befanden. Das sind aber nur Vorspiele. Er fand
es aber ratsam sich fest mit seinen polnischen Verwandten zu
verbinden, und als er in 1294 starb, zog Przemyslaw unge-
hindert in das ererbte Pommerellen ein. Dort festigte er seine
Macht und kehrte sich dann wieder gegen den böhmischen Rivalen
im Süden.

In 1295 wird er zum „Könige von ganz Polen und Herzog von
Pommernquot; gekrönt. Es wird damit ausgedrückt, daß er alle Ge-
biete polnischen Namens wieder in seine Hand vereinigen will;
es ist ein politisches Programm, denn er besitzt zunächst nur Teile.
Die Kirche unterstützt ihn, denn es liegt ihr an Ruhe und Ord-
nung, und auch hauptsächlich daran, den kirchlichen, dem Hei-
ligen Stuhle tributpflichtigen Bezirk Polen auch wieder zu einer
festen staatlichen Einheit werden zu lassen.

In 1296 wird Przemyslaw aber, vermutlich auf Anstiften der
ob der pommerschen Begebenheiten erbosten Brandenburger
ermordet. Sein Reich fällt wieder in bis 1300 stets wachsende

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Anarchie zurück. Da scheint Wenzel von Böhmen der Zeitpunkt
gekommen zu sein um sich auch Großpolens zu bemächtigen.
Er läßt sich ohne Zustimmung der Kurie zum Könige Polens
krönen, nachdem er sich vorher vom Kaiser Albrecht alle pol-
nischen Länder, die ihm zufallen würden, zum Lehen hat geben
lassen.

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VIERTES KAPITEL.

DIE ENDGÜLTIGE KONSOLIDATION DES
POLNISCHEN STAATES.

Um 1300 war so wieder der größte Teil der polnischen Lande
in der Hand eines Herrschers vereinigt. Großpolen. Kleinpolen
und Pommerellen, die Erbschaft Mestvins, waren das eine nach
dem andern der Krone Böhmens unterworfen worden. Sie sind
durch die lange Zeit der Erbteilungen einander verfremdet, bil-
den kleine selbständige Staaten, in denen der böhmische König
unmittelbarer Landesherr wird, während die schlesischen und
kujawischen Herzöge dessen Oberhoheit anerkennen. Der pol-
nische Königstitel ist nur erst ein Programm, das Königreich ein
geographischer Begriff. WirkUch nationale Strömungen im heu-
tigen Sinne bestanden noch nicht, konnten auch noch nicht be-
stehen, wenn man es auch gern vom heutigen Standpunkte aus
hineininterpretieren möchte. Die Gegensätze zwischen böhmischen
und polnischen Gebieten waren nicht wesentlich größer als zwischen
böhmischen und schlesischen, polnischen und schlesischen oder
den polnischen untereinander. Die Fürsten waren untereinander
vielfach verschwägert, und auf sie kam es ja an erster Stelle an.
Wenzel heiratet die Tochter des ermordeten Przemyslaw und le-
galisiert so in der Formensprache der Zeit seine Anrechte auf pol-
nische Herzogtümer: er wird ..Erbequot;. Die Festigung seiner Macht
geschah ohne auf Widerstand zu stoßen, er brachte dem Lande
Ruhe und Ordnung und mehr verlangte man ja nicht.

Bald aber entwickelte sich eine neue Phase. Im Böhmenlande,
das eine ältere Geschichte als Polen hatte, war die Konsolidation
schon so weit fortgeschritten, daß eine zentralisierte Verwaltung
möglich war. Diese Zentralisation führte Wenzel nun auch in
seinen polnischen Besitzungen ein. Böhmische, nur vom Herrscher
abhängige Beamte wurden eingesetzt. Hier aber stieß er auf
Widerstand in den verwilderten Herzogtümern; man widersetzte
sich diesen Dienern einer Zentralgewalt nicht aus ..nationalemquot;
Gefühl, sondern nur weil man eben eine andere Art ..Freiheitquot;

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gewohn war. Es spielen hier sicherlich Faktoren eine Rolle, die
jn späteren Jahrhunderten das Entstehen des modernen Nationa-
itätsbegriffes beeinflußt haben, aber es waren eben nur die aller-
^sten Anfänge, die zu damaliger Zeit anderen Wert und andere
Bedeutung hatten.

Wenzel II. hatte sich ohne Zustimmung des Heiligen Stuhles
zum polnischen König krönen lassen; er stand mit der Kirche
uicht auf dem besten Fuße. Seine Expansionsneigungen, die sich
auf
Ungarn erstreckten, beunruhigten auch den Kaiser. Beide,
apst und Kaiser, stützten daher den zur Seite geschobenen pol-
nischen
Prätendenten, Wladislaw Lokietek, den letzten noch
ebenden Bruder des in 1288 verstorbenen Herzogs von Klein-
Polen. Wieder treten hier Erwägungen zutage, die späterhin zur
neorie des politischen Gleichgewichts auswachsen werden. Als
enzel im Jahre 1305 starb, hatte Lokietek schon wieder einigen
Einfluß in polnischen Gebieten erworben.
Wenzels II. gleichnamiger Sohn folgte in Böhmen nach. Er
utzte sich auf den Orden, dem er wichtige Schenkungen machte,
jährend dem Orden auch das Gebiet Michelau in Kujawien aus
eldverlegenkeit seitens des kujawischen Herzogs, verpfändet
]^rde. Er überließ auch Pommerellen den Brandenburgern, die
^ e Ansprüche jetzt auf eine jener theoretischen Lehnsurkunden
eutscher Kaiser stützten — in diesem Falle eine Urkunde Fried-
richs III. aus 1231 —, die gewisse, noch selbständige, Gebiete dem
ehnsmann mehr für die Zukunft anderen Interessenten gegen-
über reservierte, als wirkhchen Besitz übertrug, da das Land ja
frst noch zu erobern war. Es waren dies ähnliche Handlungen, wie
Jene, durch welche die Mächte im 19. Jahrhundert afrikanisches
olonialgebiet anfangs mehr theoretisch als praktisch in Besitz
lahmen. Als Wenzel III., der letzte seines Stammes, in 1307 er-
mordet wurde, hatte Lokietek schon Sendomir und Sieradz und
eile Kleinpolens zurückerobert. Er eilte nach Pommerellen, be-
setzte Danzig und setzte polnische Statthalter ein.

Die inzidentelle Herrschaft der Böhmen in Polen hatte ihr Ende
gefunden. Was von ihr zurückblieb, waren Verwicklungen in
ommerellen, die uns bald beschäftigen werden, und der end-
gültige Verlust Schlesiens für Polen. Denn als die Böhmen
Sich in
1327 wieder ihren Interessen im Osten zuwenden konnten»

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fielen ihnen nach und nach mühelos jene Herzogtümer wieder zu.

Durch den Tod Wenzels III. wurde Lokietek aber noch nicht
ohne Kampf Herr in Polen. Wiederum versuchte ein schlesischer
Herzog, Heinrich von Glogau, Großpolen (dessen Adel und
Geistlichkeit Lokietek zum „rechtmäßigen Erben Polensquot;
ausgerufen hatten) zu erobern und wieder fand er eine Stütze
in den Städten deutscher Kolonisation. Es handelte sich um Erb-
ansprüche und Heinrich behielt Großpolen bis zu seinem Tod
in 1309 in seiner Macht.

In diese Jahre fallen auch Aufstände in jenen „deutschenquot;
Städten; hauptsächlich der in Krakau verdient Erwähnung. Es
wird wieder die Frage des „nationalenquot; Charakters jener Ereig-
nisse aufgeworfen. Es handelte sich hier aber an erster Stelle um
Parteiungen, und diese waren keineswegs „rein nationalquot;: „deut-
schequot; Kirchenfürsten standen auf der Seite Lokieteks. Es handelte
sich um Interessengemeinschaften, Hansabünde und Interessenge-
gensätze ^ Der „dritte Standquot;, die Städte fangen an sich zu
rühren. Diese Städte sind in den westlichen, aufständischen Teilen
des Landes aber überwiegend aus deutscher Kolonisation ent-
standen; es kommt zu den Gegensätzen noch ihre privilegierte
Stellung, ihre Gründung nach dem ökonomisch wertvolleren deut-
schen Rechte hinzu und verschärft sie. Es war dies nicht die
Ursache, sondern auch eine Ursache der Gegensätze. Man
führe sich noch die Folgen des Aufstandes in Krakau vor Augen:
er wurde unterdrückt, Lokietek legte eine Besatzung in die Stadt
und nahm ihr die Freiheit der Ratswahl. Der Herzog sicherte sich
Einfluß auf die Stadtregierung. Es sind dies die ersten Zeichen einer
Entwicklung, die in diesem Jahrhundert einsetzt, ein Interessen-
kampf zwischen Fürst und Adel einerseits und den Städten anderer-
seits, der zum wachsenden Einfluß der ersten führte und auf die
Dauer, in späteren Jahrhunderten, der Entwicklung eines poli-
tisch starken „dritten Standesquot; im Wege stand 2.

Die Städte waren in Polen nicht organisch gewachsen, sondern
als fertig entwickelte, aus dem Westen übernommene und nach
westlichem (deutschem) Recht gebildete Organisationen in Polen

^ Die Ursache des Aufstandes Wären jy fortdauernde Geldforderungenquot;
der Herzöge, siehe Grünberg op. cit. Seite 112—113.
® siehe Kutrzeba op. cit. Seite 39—44 und 87—go.

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eingeführt worden. Sie waren privilegiert, blieben Inseln
nnd nahmen eine Ausnahmestellung ein und waren bestrebt
Sich mehr Geltung zu verschaffen, als es ihnen gut zu gehen
anfing. Gegen diese Privilegierten, den Einheimischen gering-
schätzend Entgegentretenden kehrte sich der Haß und die Leiden-
schaft; daß sie zugleich Fremde waren und daß „Fremdequot; ein faß-
icherer Begriff als ,,Privilegiertequot; war, ist nur von sekundärer
Wichtigkeit und erlaubt noch nicht den Sachverhalt umzukehren.
Gegensätze zwischen Fürsten und Städten gibt es überall in glei-
cnen Entwicklungsperioden, ohne daß man zu ihrer Erklärung
..nationalequot; Gesichtspunkte nötig hat.

Um 1308 finden in Pommerellen wieder wichtige Ereignisse
statt. Die erste Phase des großen Kampfes um den „Korridorquot;,
en Besitz der Weichselmündungen, auch in unsern Tagen noch
nicht endgültig entschieden, setzt ein.

Es handelt sich, es sei daran erinnert, um „Pomeraniaquot;, den
ostlichsten Teil des alten Herzogtums, ungefähr um den heutigen
..Korridorquot;. Deutsche Kolonisation ist hier weit weniger durch-
gedrungen als in den westlichen Teilen. Die Fürsten des Landes
Sind den großpolnischen oft verschwägert. Das Gebiet ist kirch-
^ch dem polnischen angegliedert; politisch hat bis in den Anfang
des 13. Jahrhunderts ein Vasallitätsverhältnis zu polnischen Her-
zögen bestanden: Swantopolk hat es endgültig gelöst, hat sich
aber doch, ebenso wie sein Sohn und Nachfolger Mestvin, in
schwierigen Augenblicken seines Lebens oft auf seine großpol-
nischen Verwandten gestützt. Sein Sohn Mestvin vor allem, der,
inderlos, am Ende seines Lebens im Einvernehmen mit seinen
aronen Przemyslaw zu seinem Nachfolger einsetzte. Przemyslaws
Nachfolger hat auch in 1308 das Gebiet inne. Es sind dies die pol-
nischen „Anrechtequot;.

Aber auch die Brandenburger haben „Anrechtequot;. Sie stützen
Sich auf die genannte Beleihung seitens Kaiser Friedrichs III. in
^231 und auf die Urkunden, die die Folge von Mestvins Manöver
^nr Erlangung der Alleinherrschaft waren. Man könnte meinen,
^aß diese „Anrechtequot; durch den Friedensschluß in 1273, bei dem
quot;Mestvin den Brandenburgern nur die westlichen Gebiete Schlawe
nnd Stolp abtrat, hinfällig geworden wären.....wenn solche An-
sprüche nach der Meinung der „Berechtigtenquot; eben je hinfällig

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würden. Die Lage ist aber ide noch komplizierter geworden
Wenzel III. hat in 1305 die ihm zustehenden „Anrechtequot; auf
Pommerellen den Brandenburgern übertragen und so deren Po-
sition außerordentlich gestärkt.

Es ist noch ein dritter Prätendent da: der Orden. Gebiete, die
er früher schenkungsweise von pommerschen Teilfürsten erhalten
hatte, und die sehr zerstreut lagen, hat er gegen an das linke
Weichselufer grenzende Besitzungen vertauscht, hat also auf dem
linken Weichselufer schon festen Fuß gefaßt und zeigt stets größern
Appetit. Er hat durch Kauf einige Güter im Herzen des Landes
erworben, auch Wenzel III. schenkte ihm Güter. Ueberdies hat
er vom kujawischen Herzog endgültig die verpfändete Michelau
erworben, denn der Einlösungstermin war verstrichen.

Wladislaw Lokietek hatte in 1306 Pommerellen besetzt, als die
Brandenburger ihre formelle Erwerbung des Landes noch nicht
in eine tatsächliche hatten umwandeln können. Sie waren ander-
weitig beschäftigt. In 1308 aber was Wladislaw wiederum ander-
weitig beschäftigt und hatten die Brandenburger Gelegenheit das
Land bis nach Danzig zu erobern. Als die polnische Besatzung
sich in der Burg nicht halten konnte, rief sie in höchster Not den
„befreundetenquot; Orden zur Hilfe und tat damit einen folgenschwe-
ren Schritt.

Der Orden half die Brandenburger vertreiben, besetzte selbst
Danzig und ließ es nicht mehr los. Er bot Wladislaw für den Er-
werb Pommerellens 10.000 Mark Silbers, die Abtretung einiger
Ordensbesitzungen in Kujawien, Hilfe in der Not und die Grün-
dung eines Klosters zum Seelenheile Wladislaws und seiner Eltern.
Als der Polenherzog darauf aber nicht einging, verlangte er eine
beträchtliche Summe als Entschädigung für die Kriegshilfe und
behielt das Land als Unterpfand. Wladislaw konnte das Geld nicht
aufbringen und der Orden eroberte Stadt nach Stadt das Land
und richtete sich ein. Das „bessere Rechtquot; der Brandenburger
Markgrafen kaufte er diesen um 10.000 Mark Silbers ab; er hatte
nun nur noch mit den Polen abzurechnen. Noch im selben Jahre
verlegte der Orden seinen Hauptsitz von Venedig in die Marien-
burg; der Wunsch sich einen eignen, festen Staat zu schaffen,
trat jetzt unumwunden zutage.

siehe Grünberg op. cit. Dritter und vierter Teil.

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Der Erwerb Pommerellens seitens des Ordens war rein tatsäch-
licher Natur; er nützte die Schwäche und anderweitige Gebundenheit
Polens aus und ging rücksichtslos vor. Es ist aber bemerkenswert,
daß er — von politisch sehr begabten Männern geleitet — immer
dort, wo er mit friedlichen Mitteln nach den Formen der Zeit durch
Kauf, Schenkung oder Verpfändung etwas erreichen konnte, diese
damals durchaus anerkannten und zulässigen Mittel auch anwandte.
Er ging auch nach jener Besetzung Pommerellens sofort ans Werk,
um sein Gebiet auf solche Weise zu erweitern und abzurunden.

Wladislaw sah ein, daß für ihn mit Gewalt dem Orden gegen-
über nichts zu erreichen war. Er griff daher zu andern Mitteln,
er brachte den Konflikt vor den Heüigen Stuhl. Dieser hatte ihn
ja schon einmal gegen die böhmischen Könige unterstützt, er
Wurde ihm auch diesmal helfen. Wladislaw war dem Hofe in Avig-
non ja sehr ergeben und weit gefälliger als der oft prozedierende,
n^it manchem Kirchenfürsten sich streitende, lästige Orden: ein
um vieles weniger „gehorsamer Sohnquot; der Kirche. Zu jenen Zeiten
Wurde in den polnischen Herzogtümern auch das Bedürfnis emp-
unden, das Land einer strafferen Einheit zu unterwerfen, das
Königtum wieder herzustellen und sich gemeinschaftlich, innerlich
erstarkt, den gemeinsamen Feinden entgegenzustellen. Und als
nian nun in Avignon um die päpstliche Genehmigung zur Krönung

ladislaws nachsuchte, stimmte der Papst grundsätzlich zu, er
gönnte es nicht unumwunden tun, denn er mußte wenigstens
ormell gleichzeitigen böhmischen Ansprüchen Rechnung tragen,
^ladislaw hatte sich bei der Zurückgewinnung der polnischen
Länder auf den Adel gestützt, er hatte diesem Adel von Groß-
und Kleinpolen einen ratgebenden Einflusz auf seine Handlungen
zuerkannt und wurde unter seinem Beifalle in 1320 in Krakau
zum polnischen Könige gekrönt.

In diese selben Jahre fällt nun auch der „Prozeßquot; zwischen
Wladislaw und dem Orden. Beide anerkannten die Autorität des
^apstes, in dessen besonderen Schutz sich beide ja durch die
Weihung ihrer Länder an den Heiligen Stuhl gestellt hatten.
Beide anerkannten demnach auch die Gültigkeit der Anwendung
£2i_J
^anonischen Rechtes Der Pole verklagte und der Orden
Siehe für den ganzen Prozeß Grünberg op. cit. Seite 107—141.

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konnte sich konsequenterweise einem Prozesse nicht entziehen.
Der Papst beauftragte drei polnische Geistliche, die Klagen des
Polenherzogs zu untersuchen und im FaUe sie begründet wären,
mit Strenge gegen den Orden vorzugehen. In 1320 wurden Ver-
treter des Ordens nach Inowrazlaw geladen um „König Wladislaw
über Pommer eilen Rede zu stehenquot;. In diesem Anfange des Pro-
zesses hegt schon der wunde Punkt; das ungelöste Problem der
päpstlichen und kaiserlichen Entscheidungen, so gut wie jener
viel späteren eines „Europäischen Konzertsquot;, einer „Botschafter-
konferenzquot; oder eines „Völkerbundsratesquot;. Der Papst stand in
einer Hinsicht über den Parteien, beide hatten sich in seinen
Schutz begeben; andererseits aber war er interessiert, folglich
Richter in seiner eignen Sache. Ihm lag daran Pommerellen nicht
aus der alten polnischen Diözesaneinteilung herauszuheben, es
wieder unter die Macht des dem Heiligen Stuhle sehr ergebenen
Polenkönigs zu bringen und nicht jenem schwierigen, widerspen-
stigen Orden zu lassen. Dadurch war der Prozeß grundsätzhch
schon vor seinem Anfang entschieden .... und war eben kein
Prozeß mehr. Er wurde ein päpstliches Gutachten, dem man
unter Umständen durch die Hilfe anderer „starker Argumentequot;
Geltung verschaffen konnte.

Der Sachwalter des Ordens erschien mit ungenügenden Voll-
machten und begann mit der Erklärung, daß er das Gericht ver-
werfe. Die Prokuratoren des polnischen Königs verlangten eine
Verurteilung des Ordens auf Grund des Kanons „reintegrandaquot;.
Es folgten Streitigkeiten über die Vollmacht des Ordensprokura-
tors, die die Appellation an den Papst seitens des Ordens über
formelle Punkte zur Folge hatten, während die Polen auf sofortige
Verurteilung des Ordens wegen „contumaciaquot; andrangen, da sie
seinerseits ein Hinschleppen des Prozesses befürchteten. Der Or-
densprokurator reiste jener Appellation halber ab und schnitt
so die vorläufige Fortsetzung des Prozesses ab; diese Handelweise
wird für „contumaciaquot; erklärt und nach einer „declaratio con-
tumaciaequot; der Prozeß fortgesetzt. Zeugenverhöre finden statt und
die Polen verlangen die Verurteilung des Ordens zur Herausgabe
PommereUens, einem Schadenersatz von 30.000 Mark (der Orden
hatte 10.000 für den Erwerb Pommerellens geboten) und zur
Vergütung der Prozeßkosten. Nach einer Vertagung fand die Urteils-

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fällung ganz nach den polnischen Forderungen am 9. Februar
^321 statt; der Ordensprokurator verwarf sie als vollkommen
Wirkungslos wegen Voreingenommenheit der Richter und einer
Reihe wichtiger Formfehler. Damit war die Sache erledigt. Voll-
kommen ergebnislos versuchten die Richter noch einige Monate
Später die Gegenpartei in den Bann zu tun; der Orden gab in
keiner Weise nach.

Wenn man sich in die Anschauungen der Zeit hineinversetzt,
so wird das Urteil zum mindesten in seiner prinzipiellen Entschei-
dung wohl den damaligen Rechtsauffassungen entsprochen haben.
Wenn es auch schwierig bleibt zu schätzen, welchen Wert man
dem nachträglichen ,,Ankaufequot; der brandenburger Anrechte wohl
beigemessen haben wird, welchen Wert für die Zeitgenossen über-
haupt die Uebertragung der böhmischen Anrechte auf die Branden-
burger durch Wenzel III. gehabt hat; sie geschah nur notgedrungen.
Weil Wenzel sich seiner Feinde nicht erwehren konnte und jene
Zeit nahm es im Verträge Schließen nicht so genau. Jedenfalls
kann aber darauf hingewiesen werden, daß der Orden haupt-
sächlich die Kompetenz der Richter nicht anerkannte und Ein-
wände formeller Art erhob, auf die Sache selbst garnicht einging,
l^u jener Zeit, wo Territorialkonflikte, außer durch Gewalttaten,
uur durch Meinungsverschiedenheiten über Erbansprüche, Ver-
l^äufe, Schenkungen oder Verpfändungen hervorgerufen wurden,
^ar es leichter als heutzutage Entscheidungen nach allgemein
anerkannten Grundsätzen zu treffen. Die Schwierigkeit war aber
bier, daß man sich über die Instanz nicht einigen konnte: es war
kein wirklich unbeteiligter Richter, der von beiden Seiten vor-
behaltlos anerkannt wurde, angewiesen worden. Der Spruch \\vurde
zur Seite geschoben.

Das Königreich Wladislaw Lokieteks bestand aus Groß- und
Kleinpolen, in Kujawien und Masovien herrschten noch unab-
hängige Herzöge. Des Königs Macht festigte sich mehr und mehr,
und als er nach dem erfolglosen Prozesse sich entschloß, die Ent-
scheidung durch Waffentaten herbeizuführen, fand er einen Bun-
desgenossen in dem, den Rittern bitterfeinden Litauerfürsten Ge-
dirtiin, der seinem Hause verschwägert war. Gedimin hatte zum
^eil aus den Trümmern des Reiches von Kiew ein neues großes
Reich zusammengebracht und war der östliche Grenznachbar der

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Ritter und des polnischen Königs. Wladislaw fand noch einen
zweiten Bundesgenossen in dem Ungarkönig Karl Robert, der
Wladislaws Tochter zur Frau hatte.

Aber auch der Orden fand einen neuen Verbündeten, es war
der Nachfolger Wenzels III. von Böhmen aus dem Luxemburgi-
schen Hause: König Johann. Dieser erhob als Erbe der Przemys-
liden Anspruch auf die pohlische Krone: Wenzel II. hatte ja seiner
Herrschaft in Polen nachträglich eine gewisse Legitimität durch
seine Heirat mit der Tochter des ermordeten Przemyslaw verschafft.
Als nun die böhmischen Ansprüche durch die Krönung Wladis-
laws ignoriert wurden, ging König Johann ins feindliche Lager,
zum Orden über. Er bestätigte dem Orden, dem „Rechtsnachfolger\'\'
der Brandenburger, noch einmal ausdrücklich die Uebertragung der
böhmischen Rechte auf Pommerellen, und da seine Macht und sein
Ansehen sehr groß waren, warf diese Bestätigung viel Gewicht
in die Schale, denn es lag jener Zeit genau so gut wie der unsrigen,
den inneren Wert eines Argumentes, oder wie hier, eines Gutach-
tens, nach der „Autoritätquot; und dem Ansehen des Handelnden zu
beurteilen.

Heereszüge und Parteikämpfe der beiden gegnerischen Gruppen
folgten und die Lage wurde noch komplizierter, als der Herzog
von Masovien den Böhmenkönig als seinen Lehnsherrn aner-
kannte und ein Teil seines Herzogtums von Johann dem Orden
übertragen wurde. Es ist möglich, daß der masovische Herzog
nicht so sehr zu diesem Schritte gezwungen wurde als ihn vielmehr
freiwillig tat, sei es, daß irgendein Zerwürfnis mit dem Polenkönige
die Ursache war, oder daß dieser ihn nicht hinreichend gegen li-
tauische Einfälle verteidigen konnte und so gemeinsame Interessen
ihn der Gegenpartei zugesellten.

An jenen Kriegszügen nahm auf polnischer Seite auch der kuja-
wische Herzog von Dobrzyn teil; König Johann nahm ihm sobald
er konnte sein Land und übertrug es den Rittern; die Zession
notifizierte er der Dobrzyner Bevölkerung und „entband sie des
Eides der Gehorsamkeit dem böhmischen Königshause gegenüberquot;.

Die immer unumwundener zutage tretenden Selbständigkeits-
gelüste des Ordens berührten zu Avignon äußerst unangenehm;
bald aber einigte man sich mit dem Orden über den für die Kirche
wichtigsten Punkt: der Orden verpflichtete sich, dem Heiligen

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Stuhle für Pommerellen und das Kulmerland den von altersher
verschuldigten Peterspfennig zu entrichten und damit war den
Hauptinteressen der Kirche Rechnung getragen. Es war nun nur
noch der Polenkönig mit dem böhmischen Herrscher auszusöhnen
und hierzu sollten wiederum Schiedssprüche verhelfen. Wladislaw
gab aber nicht so leicht nach; einer für die Polen erfolglosen Expe-
dition folgte ein Waffenstillstand, man einigte sich nach Unter-
handlungen darüber, die Streitigkeiten dem Schiedssprüche des
ohmischen Königs zu unterwerfen. Der Orden begann aber wieder
die
Feindseligkeiten und als Wladislaw ihn dieses Mal besiegte,
intervenierte wiederum der Böhmenkönig: man
schloß einen neuen
alienstillstand und schlug den Parteien vor, sich einem gemein-
samen
Schiedssprüche des böhmischen und des ungarischen Königs
zn unterwerfen; der Vorschlag kam vom Papst. Aber Wladislaw
gab noch nicht nach. Der Orden befolgte inzwischen eine wirk-
^nie Politik: um den Polenkönig zum endgültigen Verzicht auf
onimerellen, das Kulmerland und die Michelau zu zwingen,
^huf er immer neue Streitpunkte, er besetzte schließlich ganz
;^njawien in der Absicht, bei späteren Unterhandlungen durch
■■Nachgiebigkeit in der Herausgabe dieses kujawischen Gebietes
Unter Bedingung der Abtretung der früher eroberten Territorien
die Polen eher zur Einwilligung zu bewegen. Man schlug noch
einmal einen Schiedsspruch des böhmischen Königs vor, als Wla-
dislaw während der Unterhandlungen in 1333 starb.
Wie gesagt wurden zu Schiedsrichtern in jenen Streitpunkten
er böhmische und der ungarische König vorgeschlagen, aber
er Böhmenkönig war in der Sache unmittelbar interessiert und
er Ungarkönig war der Schwiegersohn des polnischen Königs,
einem „Schiedssprüchequot; konnte also eigentlich keine Rede
sein. Beide waren aber mächtige und angesehene Herrscher und
aus diesem Grunde allein schon maß jene Zeit (wie schließlich auch
die unsrige) ihrer Entscheidung einen besonderen Wert bei. Es han-
delte sich aber hier mehr um Vermittlung; der päpstliche Nuntius
spielte auch eine Rolle und es galt mehr, Zeit zu gewinnen, einen
Waffenstillstand zustande zu bringen; so sind jene Versuche
ein noch wenig entwickelter Prototyp der späteren Konferenzen
europäischer Mächte. Der Gedanke der Unabhängigkeit und der
Gleichberechtigung war noch nicht voll entwickelt: man maß dem

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Urteile und den Anschauungen mächtiger Herrscher noch hö-
heren Wert bei und in dieser Beziehung ähnelte die vorgeschlagene
„Vermittlungquot; doch wieder mehr einer endgültigen Entscheidung:
die Stimme des Mächtigeren gilt mehr.

Wladislaws 23 jähriger Sohn Kasimir folgte unangefochten dem
Vater nach. Er war weit weniger kampfeslustig als Wladislaw und
wandte sich mehr der inneren Festigung seines Reiches zu. Die
Persönlichkeit des neuen Herrschers, seine pazifistische Natur,
beeinflußte in hohem Maße die Lösung der hängenden Territorial-
konflikte. In 1335 wird zu Trentschin ein Präliminarfrieden ge-
schlossen, in dem der Böhmenkönig gegen Zahlung einer Geld-
summe seine „Rechtequot; auf die polnische Krone, die im Grunde
auf den Folgen einer Intervention beruhten, preisgibt. Der pol-
nische König dagegen verzichtet endgültig auf seine Ansprüche
auf die schlesischen Herzogtümer (nur Schweidnitz-Jauer wird
nicht genannt) und auf Masovien, das in 1329 die böhmische Lehns-
oberhoheit anerkannt hatte. Auch der Orden wurde in den Frieden
mit einbezogen. Anfangs stellte er, ganz im Sinne der von ihm
befolgten PoHtik, abnorme Forderungen; man handelte und einigte
sich dahin, daß dem Piastenherzog von Leczyc Kujawien und das
Dobrzyner\' Gebiet zugewiesen wurden (bald danach gingen sie
durch das Aussterben jener Piastenlinie auf die polnische Krone
über), der Orden dagegen Pommerellen behalten sollte. Seine
Politik brachte ihm also den vollen erhofften Erfolg. Doch nicht
ganz, denn es wurde bestimmt, daß dem Orden Pommerellen
„unter denselben Bedingungen wie ehedem das Kulmerlandquot;
zediert würde. Die alte Frage, der Kern des ganzen Gegensatzes
zwischen Polen und dem Orden, ob er wohl oder nicht ein polnischer
Lehnsstaat sei, wurde wieder aufgerollt. Die Polen gaben ihren
Standpunkt nicht auf, im Gegenteil, sie formulierten ihn vielleicht
hier zum ersten Male in einem internationalen Staatsstück, wenn
auch auf sehr diplomatische Weise. Der Satz wurde allerseits aner-
kannt, denn man suchte ja nach einem Kompromiß, aber die
Frage wurde nicht erörtert: der ganze Frieden zwischen Polen
und dem Orden hatte also nur den Wert und die Bedeutung eines
langfristigen Waffenstillstandes; polnischerseits beugte man sich
nur vor den zur Zeit bestehenden Machtverhältnissen. Der Orden
verlangte die Bestätigung des Friedens durch die polnischen

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Stände: Geistlichkeit, Adel und Städte. Diese Tatsache ist von
edeutung, denn sie zeigt uns wie die Verhältnisse sich verändert
haben: die auswärtige Politik ist nicht mehr ein ausschließliches
quot;rärogativ des Fürsten, auch die Stände, die Anfänge der demo-
kratischen „Nationquot;, lassen ihre Stimme hören, mag es auch
sein, daß ihr Mitbestimmungsrecht vorläufig nur erst auf tat-
sachlichen Verhältnissen und noch nicht auf konstitutionellen
Gründen beruht.

Auch noch in anderer Beziehung ist dieser Friede wichtig: dem
p den wurde nicht nur irgendein willkürliches Gebiet abgetreten.

ommereUen gewann immer mehr besondere Bedeutung. Handel
und Verkehr beginnen sich im Osten Europas je länger je stärker
zn entwickeln, die Hansabünde werden bedeutende Machtfak-
toren und Danzig beherrscht ökonomisch Polens Seewege und
den Zugang zum ganzen Weichselgebiet. Der Orden gewann also
oei dieser neuen Lage der Verhältnisse weit mehr.

I^er ganze Territorialkonflikt um Pommerellen war im Grunde
ein Eroberungskrieg, an dem drei Interessenten teilnahmen; es
spielten allerlei „Rechtsfragenquot; und „Berechtigungenquot; eine Rolle,
denen sicher vom Standpunkte der Zeit aus mehr Wert beizule-
gen ist als man nach heutigen Begriffen wohl anerkennen möchte,
aber doch bleiben sie wohl nur sekundärer Art. Es war ein Gebiet
errenlos geworden, für drei Nachbarn hatte es Wert, von denen
keiner „ausschließliche Rechtequot; hatte, wenn man auch geneigt
^st, die „Anrechtequot; der Polen als die meistbegründeten anzusehen:
es bestand zwischen den Gebieten seit Jahrhunderten ein primi-
tives staatsrechtliches Verhältnis, die Bevölkerung war beider-
seits slawischer Rasse, beide Gebiete fielen unter eine Diözesan-
einteilung und ihre Herrscher waren vielfach verwandt, außerdem
War der Besitz des Weichselmundes für Polen von besonderer Be-
deutung. Aber es ist die Frage, ob man durch die Anerkennung
solcher Argumente nicht schon zum Teile zu sehr Anschauungen
Und Entwicklungen späterer Zeit ein für die damaligen Verhält-
nisse irrelevantes Zugeständnis macht. Die Frage muß vermutlich
^eit primitiver, viel „privatrechtlicherquot; gestellt werden und auch
dann noch ist die Lösung nicht so einfach. Man braucht sie aber
garnicht zu suchen, denn auch für die damaligen Parteien war der
Streit mehr tatsächlicher Natur. Der Orden will seine Macht nach

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Westen ausdehnen, denn die Gebiete dort sind reich und wert-
voll: die Böhmen dringen über Schlesien nach Norden, sie haben
nicht soviel Einsicht in den Wert des Gebietes, übertragen ihre
„Rechtequot; und wollen mehr nur den Polen schaden; die Branden-
burger sind ausgeschaltet, und der Pole ringt um seine „Erbschaftquot;;
vielleicht hat er von diesem für die Zeit wertvollsten Gesichts-
punkte aus auch die meiste Berechtigung. Man häuft Urkunden,
Traktate, Verkäufe, Uebertragungen und Pfandschulden auf ein-
ander, die Masse muß überzeugen, denn ihrem inneren Werte ver-
traut man nicht aUzu sehr. Papst und Kaiser werden in den Streit
bezogen; es ist eine „internationalequot; Frage und sie wird dadurch
nur komplizierter. Der Papst ist beunruhigt über den wachsenden
Unabhängigkeitsdrang des Ordens, er ist dem ergebenen Polen-
könig äußert gewogen, aber er hat auch die Hilfe des mit diesem
verfeindeten Böhmenkönigs gegen Ludwig den Bayern, „der sich
König der Deutschen nenntquot;, nötig und so gewinnen die politischen
Verhältnisse im deutschen Reiche einen nennenswerten Einfluß auf
den Streit im Osten: Auch Karl, König Johanns von Böhmen
Nachfolger, zieht es vor, sich auf die Dauer mit dem Polen auszu-
söhnen: er begehrt die Kaiserkrone, ihm liegt mehr an einem guten
Verhältnisse mit Polen und Ungarn und das entscheidet letzten
Grundes die schnelle Aussöhnung nach Wladislaws Tode. Die
Entwicklung des Streites um Pommerellen wurde in hohem Maße
durch die böhmischen Ansprüche auf die polnische Krone beein-
flußt, Ansprüche, die sich ihrerseits wiederum nur auf nachträg-
lich legalisierte Usurpation stützen konnten: diese ganze im Grunde
episodische Entwicklung, die nicht vorherzusehen war, ent-
schied den Streit letzten Endes und nicht irgendwelche begrün-
dete „Anrechtequot;.

Mit dem auf den Präliminarfrieden von Trentschin folgenden
Frieden von Vysehrad in 1335 war die Sache aber noch nicht er-
ledigt. Geistlichkeit und Adel widersetzten sich dem vorgeschla-
genen Frieden; der Adel eröffnete sogar wieder die Feindseligkeiten.
Auch der päpstliche Nuntius beförderte diese Opposition, denn
die Kurie hatte hinsichlich der Zahlung des Peterspfennigs unan-
genehme Erfahrungen gemacht; der Orden und die schlesischen
Gebiete (seit sie Böhmen einverleibt waren) zeigten sich recht
widerspenstig hinsichtlich jener Zahlungen, während polnischer-

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seits regelmäßig entrichtet wurde. Es ist begreiflich, , daß die Kurie
aher wieder auf ihren alten Standpunkt zurückkam und lieber
en Polenkönig im Besitze Pommerellens sah. Man griff wieder
auf den alten kirchlichen Schiedsspruch von 1321 zurück, durch
Welchen der Orden zur Herausgabe Pommerellens und zur Ent-
cfttung von 30.000 Mark Schadenersatz verurteilt wurde und
r papstliche Nuntius bot dem Polenkönig an, die Anerkennung
leses Spruches in die Wege zu leiten .... wenn der König bereit
(He Hälfte der genannten Summe an die päpstlichen Kassen
abzuführen. Hierdurch fällt wohl ein merkwürdiges Licht auf den
»prinzipiellenquot; Wert solcher Schiedssprüche, was zur Annahme
erechtigt, daß ihnen, auch nach den Anschauungen jener Zeit,
och ein geringerer Wert beizumessen ist als gleichen Entschei-
ngen heutzutage. Man dachte primitiver, rechnete mehr mit
^^^^hen und empfand Widersprüche weniger stark,
leinbsp;hierauf eine Reihe Unterhandlungen, die in keiner-

^ Weise an den bestehenden Verhältnissen etwas veränderten,
^er Gegensatz war eben da und er war nicht mehr auszugleichen.

eme der Parteien gab nach; eine „Entscheidungquot; konnten da
^Ur das Schwert und die vollkommene Niederlage eines der beiden
^^er bringen, bis dahin waren alle Friedensverträge nur Waffen-
Imstande längerer oder kürzerer Frist. In 1343 wurde zu Kalisz
ischen Kasimir und dem Orden ein Vertrag geschlossen, der die
lUachungen von Vysehrad anerkannte. Kasimir hatte Frieden
, die Litauer machten ihm viel zu schaffen und das freund-
aftliche Verhältnis zu Böhmen war in der letzten Zeit sehr

Abgekühlt.

^^^^siinir hatte keine männlichen Nachkommen und bestimmte
^ seinem Nachfolger den Sohn seiner Schwester, des Königs von
Erben, und zwar unter den folgenden Bedingungen: daß
p die Privilegien der polnischen Stände anerkenne und keinen
feinden in öffentliche Aemter in Polen einsetze und daß er „alle
letnbsp;^^^ Bolen verloren habe, wieder zurückeroberequot;. Diese

® 2te folgenreiche Bestimmung wurde den Rittern bekannt und
verlangten die ausdrückliche und endgültige Verzichtleistung
die dem Orden abgetretenen Gebiete, aber die Ungarn wei-
rten; alles was Kasimir für den Orden erreichen konnte, war
Ue Verzichtleistung auf jene Gebiete seitens der Herzöge von

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Masovien, Lenczyc und Kujawien für den Fall, daß sie Erben der
polnischen Krone würden. Jene Bestimmung anläßlich der Rege-
lung der ungarischen Nachfolge war im Grunde eine recht deut-
liche Kriegserklärung für die Zukunft.

Auch jener Friede zu Kalisz wurde auf Verlangen des Ordens
von dem polnischen Adel und den Vertretern von sieben polnischen
Städten besiegelt.

Während jene Ansprüche auf Pommerellen keineswegs preis-
gegeben wurden, war dagegen das Verhältnis des Polenkönigs zu
Schlesien ein ganz anderes. In 1339 wurde polnischerseits der zu
Trentschin geleistete Verzicht auf jene Herzogtümer noch einmal
ausdrücklich wiederholt; in den folgenden Jahrhunderten ist er
nie bestritten worden. Im gleichen Vertrage war auch die böh-
mische Oberhoheit über das Herzogtum Masovien-Plock aner-
kannt worden. Der Herzog von Masovien-Czersk dagegen hatte
sich zum Lehnsmann der polnischen Krone erklärt; man hatte
ihn dazu bewogen, indem man ihm auf die Zeit seines Lebens
die Herrschaft über ein weit größeres Gebiet, als das zu seinem
eigentlichen Herzogtum gehörende zuerkannte. Westliche Formen,
die man ursprünglich in Polen nicht kannte, wurden hier über-
nommen: das Lehnsverhältnis war die einfachste Form jener Zeit
um den Gedanken der Reichseinheit auszudrücken. Die Linie
Masovien-Czersk bestand bis 1529 fort; nach dem Aussterben des
Geschlechtes wurde das Lehen eingezogen.

Der zwischen Schlesien und dem übrigen polnischen Gebiete
bestehende kirchliche Verband wurde erst späterhin gelöst.

Es muß jetzt wieder auf die Verhältnisse an den östlichen Gren-
zen des Polenreiches um 1300 zurückgegriffen werden. Dort waren
die Gebiete von Halicz, Wolhynien, Lodomirien und Kiew wieder
in die Gewalt eines Herrscherhauses gebracht worden; Podo-
lien und die Stadt Kiew befanden sich noch in den Händen der
Tataren. Nach dem Aussterben jener ruthenischen Dynastie aber
fanden Polen und Litauer Gelegenheit zu Intervention und setzten
einen den beiden intervenierenden Herrscherhäusern verwandten
Fürsten ein: Boleslaw von Masovien, der der Schwiegersohn Ge-
dimins, des litauischen Großfürsten war. Boleslaw paßte sich sei-
nem neuen Reiche an, trat zu dem im Lande herrschenden ortho-

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doxen Glauben über und erhielt den Namen Georg; er nannte sich
„Bei gratia natus dux tocius Russiae Mynorisquot;. Er unterhielt auch
Beziehungen zum Deutschen Orden, denn eine der großen Handels-
straßen von Nord nach Süd durchquerte sein Gebiet (die andere
östliche hatte Gedimin von Litauen besetzt). Andererseits unter-
handelte er, wie auch schon früher einer seiner Vorgänger: Daniel
Von Halicz, mit der römischen Kurie über eine Kirchenunion,
aber diese Unterhandlungen blieben ergebnislos. Die verwandt-
schaftlichen. und daher auch politischen Beziehungen zwischen
polnischen, litauischen und ruthenischen Fürsten waren recht
nahe. Polen und Litauer halfen das ruthenische Land gegen die
häufigen Tatareneinfälle verteidigen; Gedimin eroberte schließ-
ich Kiew, das bedeutendste Handelszentrum jener südöstlichen
Gebiete, in dem damals schon eine einflußreiche Kolonie deutscher
Kaufleute gefunden wurde. Zu gemeinschaftlichem Kampfe gegen
die Tataren wurden auch die Ungarn aufgefordert; sie beteiligten
Sich gern, denn sie hatten ein gleiches Interesse an Expansion in
diesem handelspolitisch immer wertvoller werdenden Gebiete,
die Polen.

Jener im ruthenischen Lande eingesetzte Herzog Georg aber
trat wieder zum römisch-katholischen Glauben über und propa-
iJerte ihn in seinem Lande aufs eifrigste, auch zog er deutsche
Kolonisten ins Land. Gegen seine sehr autokratische, selbst vor
Glaubenssachen nicht weichende Herrschaft kam das Land in
Opposition; er wurde in 1340 ermordet. Man sieht wie die reli-
giösen Gegensätze schon voll entwickelt sind. Georg hatte keinen
;^achfolger hinterlassen. Die Litauer waren durch den Tod ihres
Fürsten Gedimin im eignen Lande beschäftigt, da entschloß sich
König Kasimir gegen den wieder erobernd auftretenden Tataren-
khan zu Felde zu ziehen und die Erbschaft seines ermordeten
Schwagers Georg in Besitz zu nehmen. Die Kämpfe um die Herr-
^haft dauerten aber bis 1366, dann erst konnten die Polen ihrem
Reiche die Gebiete von Halicz, Lemberg und Cholm einverleiben,
Während der übrige Teil Wolhyniens den Litauern zufiel.

I^ie offizielle Begründung dieser Intervention war noch die der
Zeit geläufige: Selbstverteidigung gegen die Tataren und Erban-
sprüche. Im Grunde sind dagegen für die Expansion schon neue,
Weniger primitive Motive vorhanden: der Besitz jener Gebiete

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war äußerst wertvoll, denn sie wurden vom Oberlaufe des Dnjestr
durchschnitten, jenes Flusses, der eine der wichtigsten Handels-
straßen nach Süden bildete; über sie ging der ganze Handelsverkehr
des Deutschen Ordens nach den südöstlichen Ländern. Während
nun der Orden die Herzader des polnischen Reiches beherrschte,
setzten die Polen sich in jenem außerordentlich wichtigen Knoten-
punkt westlicher und nördlicher Handelsstraßen fest, in dem Ge-
biete der Wasserscheide, wo der lebhafteste Tauschhandel getrie-
ben wurde, und schufen sich so eine gute Kompensation, eine
wesentliche Stärkung ihrer, durch den Verlust der nördlichen Aus-
wege so geschwächten Stellung. Die Ungarn waren während der
Kämpfe nach 1340 ausgeschaltet worden.

Kasimir behandelte das neugewonnene Land mit sehr viel Ein-
sicht. Er beförderte zwar die Verbreitung des römisch-kathohschen
Glaubens, ließ aber zugleich die bestehende kirchliche Hierarchie
unberührt, das Erzbistum Halicz mit den ihm untergeordneten
Bezirken Przemysl, Wladimir und Cholm, deren orthodoxer Cha-
rakter unverändert erhalten blieb. Er zeigte eine jener Zeit unbe-
kannte Toleranz nicht nur den Orthodoxen, sondern auch den
unter der Tatarenherrschaft eingewanderten Armeniern gegenüber.
Zu gleicher Zeit wußte er aber, einsichtsvoll in politischen Dingen,
die Unabhängigkeit des Hahtscher Erzbistums vom Moskauer
Metropoliten durchzusetzen; der unmittelbare byzantinische Ein-
fluß mußte so zurückgehen und eine Assimilation auf die Dauer
leichter werden.

Wladislaw Lokietek hatte die rein militärische Vereinigung der
polnischen Landesteile zustande gebracht; sein Sohn Kasimir ar-
beitete sein Leben lang an der inneren Festigung seines Reiches,
an der Vereinheitlichung jener polnischen Herzogtümer, die im
Grunde erst noch als kleine selbständige Staaten in einer Perso-
nalunion unter seiner Herrschaft standen. Lokales Zivil- und
Strafrecht wurden in 1347 im Statute von Wislica vereinheitlicht
und kodifiziert, das in 1368 in revidierter Fassung in allen Herzog-
tümern, bis auf Masovien, eingeführt wurde. Dieses Statut ent-
hielt auch schon mehr staatsrechtliche Bestimmungen, regelte
Münzeinheit und Münzverbesserung und traf Anordnungen hin-
sichtlich der Regaüen; es hatte schon den Charakter einer Ver-

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fassungsurkunde und konnte die Grundlage einer sich langsam
entwickelnden Reichseinheit werden. Den Juden dagegen wurde
das alte Privileg der
eigenen Gerichtsbarkeit bestätigt, während auch
die deutschen Kolonisten ihr eignes Recht behielten; ihr Appellati-
onsrecht nach Deutschland hin wurde aber abgeschafft, eine neue
Instanz wurde in Krakau errichtet, um in jenen Fällen nach deut-
schem Rechte zu urteilen, formell aber die polnische Autorität
zu wahren. Es sind wichtige, zentralistische Neuerungen; der mo-
derne Staatsgedanke setzt sich alhnählich durch und verdrängt
die mehr oder weniger zufälligen Agglomerationen; der Begriff
der
Kontinuität bricht sich Bahn, wenn auch die neuen Auffas-
sungen noch auf starken Widerstand stoßen.

Handel und Industrie wurden privilegiert, eine Universität
jn Krakau errichtet, Zivil- und Militärverwaltung und Gerichts-
barkeit (in Kleinpolen zwar erst nach dem Tode Kasimirs) den
Starosten unterstellt: vom Fürsten unmittelbar abhängigen Be-
amten. Der Einfluß des Adels wurde so mehr und mehr zurück-
gedrängt und die von ihm besetzten Aemter zu leeren Würden ge-
dacht. Auch eine Heeresreform wurde durchgeführt, nicht nur
der Adel wurde fortan zur Stellung von Mannschaften herange-
zogen, sondern jeder Grundeigentümer. Die Organisation wurde
So um vieles realer, das Entstehen eines starken Staatswesens vor-
bereitet.

. In jene Zeit fällt auch eine interessante, grundsätzliche Erklärung
^ber das Verhältnis des Herzogtums Masovien-Plock zum polni-
schen Reiche. In den schweren Zeiten um 1330 war es durch die
Wiederholten EinfäUe der Litauer und den Mangel an Hilfe von
polnischer Seite dem Orden in die Arme getrieben worden und
natte die böhmische Oberhoheit anerkannt. Als aber die Verhält-
nisse
sich geändert hatten und sich ein starker polnischer Staat
entwickelte, trat das Abnormale in dem Lehnsverhältnis zu Böh-
nien hervor. Als der Herzog in Masovien-Plock ohne Nachkommen
zu hinterlassen starb, wurde anfangs die Nachfolge zugunsten
der böhmischen Herrschaft geregelt. Die andern masovischen Her-
zoge, die der Linie Czersk, hatten aber, wie man sich erinnern wird,
die polnische Lehnsherrschaft anerkannt und schlössen nun, viel-
leicht
mit unter Andrang des politisch maßgebenden Teiles der
Bevölkerung ihrer Gebiete, mit Kasimir einen interessanten Ver-

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trag. Man stellte fest, daß das Recht der Nachfolge in der her-
zogUchen Würde ausschließUch auf der Tatsache der Blutsver-
wandtschaft beruhte, daß demnach die böhmische Oberherrschaft
nichtig wäre und es nur Kasimir kraft seiner Macht und Majestät
zustände über polnische Gebiete zu verfügen. Es wurde so in 1351
beschlossen die masovischen Verwandten, die schon Lehnsmänner
der polnischen Krone waren, mit dem Gebiete des verstorbenen
Herzogs von Masovien-Plock zu belehnen. Der böhmische König
anerkannte in 1353 die neue Situation und verzichtete auf seine
Anrechte, während Kasimir als Gegenleistung seine Ansprüche
auf das Herzogtum Schweidnitz-Jauer, das letzte selbständige in
Schlesien, dessen Herzog im selben Jahre mit dem Böhmenkönig
einen Erbvertrag schloß, aufgab.

Wiederum wurde die vom Westen überkommene Formensprache
des Lehnsverhältnisses angewandt, es spielte in 1355, nach dem
Tode des Herzogs von Masovien-Warschau, noch einmal eine
ähnhche Rolle. In 1365 wurde auch in gleicher Weise ein alter
Streit mit den brandenburger Markgrafen beendet. Es handelte
sich um die Grenzdistrikte Driesen, Landsberg und Santock, die
infolge fortwährender Grenzkriege bald in brandenburgischem,
bald wieder in polnischem Besitze waren. Ein Lehnsverhältnis zur
polnischen Krone wurde eingeführt, „da es gerechter sei dem na-
türlichen Herrn als einem Fremden zu gehorchenquot;. Es zeigt sich,
welche Anziehungskraft ein neues starkes polnisches Reiches auf
die abbröckelnden Grenzgebiete ausübte, es wird aber wahr-
scheinlich seine Interessen auch hier und da mit einigem „Nach-
druckquot; gewahrt haben.

Nach dem Tode Gedimins waren die polnisch-litauischen Be-
ziehungen weniger freundschaftlich geworden. Gedimins Erben
bekämpften sich untereinander, sie eroberten aber auch Wolh3mien
und fielen öfters verheerend in Preußen und Polen ein. Ihr noch
recht primitives und kriegerisches Verhältnis zu den Grenznach-
barn zwang diese zu besonderen Maßnahmen. So entstand
in Großpolen in 1352 die erste Adelskonföderation, oder zum
mindesten begründete sie ihr Auftreten mit der Notwendigkeit
einer wirksameren Verteidigung gegen die Litauer. 85 großpolnische
Barone vereinigten sich zu gegenseitigem Beistande gegen jeden
Feind und „für den Königquot;. Aber trotz dieser ausdrücklichen

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Betonung der Loyalität bezweckte die Konföderation im Grunde
die Verfechtung egoistischer Interessen. Sie kehrte sich gegen den
Starosten, den Vertreter der Zentralgewalt in Großpolen, der
sich allen Usurpationen und Gewalttaten des Adels entschlossen
widersetzte. Nach seinem dritten öffentlichen Rechtsbruche wurde
^aciek Borkowicz, das Haupt der Konföderation, zu Tode verur-
teilt. Danach hört man nichts mehr von jenem Unternehmen,
noch von neuen Konföderationen. Es war das erste Zutagetreten
der oligarchischen Tendenzen einer privilegierten Klasse, die bald
die mächtigste im Lande wurde und einen allzu langen, verhängnis-
vollen Einfluß behielt. Sie war zu dieser Entwicklung auch recht
prädisponiert: sie war nicht hierarchisch gegliedert, was Gegensätze
hätte hervorrufen können, und anderseits bestand sie aus Interes-
sengemeinschaften, den Wappengruppen, was festen Zusammen-
schluß und das Entstehen eines weitgehenden Klientelwesens zur
Folge hatte. Bald gewann sie die Ueberhand über den in seiner
Macht immer mehr beschränkten König, und opferte späterhin,
hei dem Mangel an politischer Begabung in ihren Reihen, die
Staatsinteressen den eignen auf. Man kann sie am besten jenen
Regentenfamilien des späten 17. und des 18. Jahrhunderts in der
Republik der Vereinigten Niederlande vergleichen, die ebenso
\'.demokratischquot;
und „oligarchischquot; wie ihre polnischen Zeitge-
nossen waren.
Ueberhaupt ähneln sich die beiden Staaten in jenen
Jahrhunderten in mancher Hinsicht.

Kasimir, der der Große genannt wurde, hatte einen starken
Und innerlich gefestigten Staat geschaffen. Die
Ansätze gehörten
zum Besten was damals in Europa gefunden wurde und der Staat
schien zu großen Dingen berufen zu sein, wenn er sich auf dem
eingeschlagenen Wege weiter entwickelte.

Aber der König starb in 1370 ohne einen Sohn zu hinterlassen.

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FÜNFTES KAPITEL.

POLEN ALS OBJEKT DER POLITIK DES HAUSES ANJOU.

Im absoluten Sinne ist Polen keine Monarchie mehr; es ist
schon ein Ständestaat. Der König ist nicht mehr der einzige po-
litisch maßgebende Faktor, neben ihm stehen Geistlichkeit, Adel
und Städte; es sind die Ansätze zu einer mehr demokratischen
Entwicklung. Diese Ansätze können sich auf verschiedenen
Wegen weiter gestalten und jedes neue Stadium wird sich in der
Art und Weise der Lösung möglicher Territorialkonflikte wider-
spiegeln. Die Ständestaaten können sich folgerichtig allmählich
zu rein demokratischen Gebilden entwickeln, indem sie nach und
nach ganz die monarchischen Einflüsse ausschalten, wie es die
seltenen, unter sehr günstigen geographischen Verhältnissen ent-
standenen Beispiele Englands und der Eidgenossenschaft zeigen.
In solchen Fällen wird frühzeitig die Neigung zur Konsoli-
dation und Abrundung des Gebietes hervortreten. Andererseits
aber können die Stände (wie es in der Regel geschah) bei mangeln-
der politischer Begabung auf die Dauer in schroffen Gegensatz zu
einander treten und das Gemeinwesen der Anarchie überant-
worten. Dadurch wird die Fürstengewalt wieder erstarken, die
Stände gegeneinander ausspielen und von neuem eine absolute
monarchische Herrschaft festigen. In den Territorialfragen wider-
spiegelt sich eine derartige Entwicklung anfangs in fortschrei-
tender Auflösung und Abbröckelung der Gebietseinheit und später-
hin in erneuter Konzentration und kräftiger, zielbewuster Ex-
pansion. Endlich können die Stände zwar noch die Macht des Für-
sten brechen, aber unter Umständen nicht verhüten, daß einer
unter ihnen, der Adel oder das Bürgertum, ein ständiges Ueber-
gewicht erlangt und ein oligarchisches Regiment führt. Privaten
Interessen wird mehr als denen der Gesamtheit Rechnung ge-
tragen werden. Innere Auflösung, Rückgang jeglicher Wider-
standskraft und Abbröckelung des Gebietes werden die Folgen
sein; das Land wird schließlich das Objekt der Expansionspolitik
anderer, benachbarter Mächte werden. Diese Entwicklung zeigten

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Polen und die Republik der Vereinigten Niederlande, beide vor
allem im i8. Jahrhundert. In Polen ging die Fürstengewalt haupt-
sächlich durch die Folgen der Königswahl verloren, in der Repu-
blik durch die Lossagung von Spanien. Der Adel des einen und
das wohlhabende Bürgertum der anderen zeigen dieselben oligar-
chischen Neigungen und beide Staaten verschwanden am Ende
des 18. Jahrhunderts. Aber die Republik erstand in 1814 wieder
als Königreich, doppelt so groß in territorialer Hinsicht.... weil
es im Interesse der „Mächtequot; lag, und Polen blieb aus diesen sel-
ben Gründen noch über ein Jahrhundert zerteilt.

Es schien dem Verfasser nützlich diese Fragen hier schon an-
zurühren, weil die Periode von 1370 bis 1384 im Kleinen, in andern
Verhältnissen und unter andern Voraussetzungen schon dieselben
Entwicklungsmöglichkeiten zeigt. Es geschah hier etwas ähn-
liches als später im 18. Jahrhundert. Damit will aber keineswegs
gesagt sein, daß hier schon im Grunde die „Auflösungquot; anfing:
es will nur bedeuten, daß später ähnliche Folgen eintreten werden,
Wenn ähnliche Voraussetzungen gelten. Dieses „wennquot; aber bleibt
Vollkommen hypothetisch, auch wenn man nachträglich das tät-
sächliche Eintreten feststellen kann. Von irgendwelcher „Notwen-
digkeitquot; oder „Unabänderlichkeitquot; kann nicht die Rede sein.

Polen war unter Kasimir eine ziemlich geschlossene geographische
Einheit geworden. Es umfaßte im Großen und Ganzen das Weich-
selbecken, wenn auch die wichtige Mündung vorläufig aufgegeben
Werden mußte; es umfaßte das Becken der Warthe, eines Neben-
flusses der Oder, deren Stromgebiet, früher im polnischen Kreise
gelegen, durch den Verlust Westpommerns und Schlesiens den
WestUchen Nachbarn zugefallen war. Im Süden bildeten die Kar-
pathen eine deutliche Grenze und im Südosten war man bis auf
das wichtige Plateau der Wasserscheide, gewissermaßen bis an
ein „Eingangstorquot; vorgedrungen. Im Osten hatte man die Ge-
biete bis zum Bug, dem äußersten wichtigen Nebenfluß der Weich-
sel, erobert und dort bildete jener bedeutende Fluß zu gleicher
Zeit eine deutliche Grenze, denn die Funktionen der Flüsse sind
oft doppelt: einerseits können sie die ökonomischen Herzadern
eines Landes sein, andererseits aber auch seine strategischen Gren-
zen. Jenes ruthenische Land, dessen Kern der Oberlauf des Djnestr
bildet, lag eigentlich schon außerhalb des „Toresquot; der Wasser-

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scheide, es gravitierte in religiöser und ökonomischer Hinsicht nach
Südosten, hatte aber gerade deshalb für Expansionslustige so
große Bedeutung; im Südwesten r«ichte es bis an die Hänge der
Karpathen. Es bildete eine jener „Brückenquot; zwischen verschiedenen
Zentren, deren Besitz von allen begehrt wird.

Dieses ziemhch einheithche und ökonomisch sehr reiche Gebiet
zeigte, wie im vorigen Kapitel gesehen wurde, alle Ansätze zu fester
staatHcher Konsolidation. Sie hing aber in hohem Maße noch von
der Persönlichkeit des Fürsten ab, denn unter der Bevölkerung
bestanden noch aus der Teilungsperiode her vielfältige Gegen-
sätze, auch hatten die südöstlichen Gebiete andern Kreisen an-
gehört. Sobald jene fürstliche Zentralgewalt wegfiel, oder auf
einen Fremden, anderweitig Interessierten überging (was im Grunde
dieselbe Bedeutung hat), machten separatistische und oligar-
chische Tendenzen sich wieder geltend und gefährdeten das
bisher zustande Gebrachte. Eine „Einheitquot;, ein „Zusammenge-
hörigkeitsgefühlquot;, das sich dem widersetzte, bestand ja noch
nicht. Es war niemand da, der die Rolle eines wirklich polnischen
Königs hätte übernehmen können oder wollen.

Es zeigt sich schon sehr früh — wie späterhin auch noch öfters
in der polnischen Geschichte — der Einfluß unvorhersehbarer
Umstände, die wichtige Folgen hatten. Eine lebendige, verfas-
sungsrechtliche Tradition bestand im polnischen Reiche damals
nicht; die Institution des Prinzipates war ja abgeschafft worden,
das Reich war danach auseinandergefallen. Eine neue Tradition
konnte sich erst unter dem Einflüsse
einer neuen kräftigen Dy-
nastie entwickeln, und da geschah es, daß schon der zweite König
jener Dynastie ohne männliche Nachkommen starb. Den maso-
vischen Verwandten hatte er die Herrschaft testamentarisch nicht
übertragen wollen: sie waren zu schwach, vielleicht standen sie
auch zu sehr unter böhmischem und deutschem Einfluß; man hatte
die böhmische Zeit noch nicht vergessen. Der ungarische Neffe
Ludwig von Anjou wurde als weit geeigneter befunden. Er herrschte
über ein mächtiges Reich und die gleichen Interessen, die Polen
und Ungarn bei einer Expansion nach Südosten hatten, würden
aufhören einen Gegensatz zu bilden; vereint könnte man sich
ein gleiches Ziel setzen. Vielleicht hat Kasimir auch eine dauernde
Union der beiden Reiche vorgeschwebt, der Gedanke ein mäch-

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tiges Bollwerk gegen die nicht römisch-katholischen, feindlichen
Nachbarn im Osten zu schaffen: gegen Litauer, Russen und Ta-
taren.

Diese Nachfolge des ungarischen Neffen aber gründete sich auf
die Anerkennung der Anrechte auf den polnischen Thron derer,
die durch Frauen mit dem Hause der Piasten verwandt waren.
So hatten die böhmischen Usurpatoren ihre Herrschaft in Polen
legalisiert, während solche Anrechte zum Beispiel bei der Rege-
lung der masovischen Verhältnisse um 1350 gerade nicht aner-
kannt wurden. Es galt jetzt, die Nachfolge dem ungarischen Neffen
zu sichern, eventuelle Konflikte zu vermeiden und die Zustimmung
der andern, politisch maßgebenden Faktoren im Staate zu erhalten.
Ip 1355 stimmten die polnischen, und andererseits auch die unga-
rischen Magnaten dem Vorschlage Kasimirs zu ... . aber nicht
ohne Gegenleistungen. Und hier begann das Bedenkliche. Man
nutzte die Gelegenheit für private Zwecke aus: keine neuen Steuern
Sollten erhoben werden, die Privilegien sollten anerkannt werden,
die Regalien waren herabzusetzen und eine Entschädigung zu
zahlen für alle außerhalb der Landesgrenzen zu leistenden Kriegs-
dienste. Andererseits galt die Zustimmung aber nur für den vor-
geschlagenen Nachfolger und seine männlichen Nachkommen,
Der Einfluß des Adels wuchs, die Macht des Königs wurde einge-
schränkt: es war der erste Schritt zur Institution der Wahlmo-
uarchie mit all ihren bedenklichen Folgen: man wußte nicht mehr
die Interessen des Landes von den privaten zu unterscheiden, die
Anerkennung eines Nachfolgers wurde zum Druclcmittel,

Das Haus Anjou folgte so in 1370 in Polen nach. Jener Dy-
nastie war es nicht um das Wohl des polnischen Staates zu tun.
Sondern an erster Stelle um den begehrenswerten Zuwachs der
»Hausmachtquot;. Ihr lag nichts an einem starken und mächtigen

oien; dieses wurde für sie eine Dependenz, ein Objekt; es hatte
feinen zielbewußten Monarchen mehr, die Magnaten konnten diese
Zentralgewalt nicht ersetzen.

Die Folgen zeigten sich bald. Die Litauer nahmen Wladimir
und die Brandenburger eroberten neuerdings Santock. Das Tes-
tament Kasimirs hatte andererseits einer neuen Dezentralisation
m die Hand gearbeitet: es schenkte dem Enkel des Verstorbenen,
als Lehen der polnischen Krone, die Gebiete von Dobrzyn, Brom-

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berg, Flatow und Deutschkrone und dem Neffen Wladislaw von
Oppeln, ebenso Besitzungen an der schlesischen Grenze.

Diesem Wladislaw von Oppeln übertrug der neue Herrscher,
König Ludwig von Ungarn, die Verwaltung des ruthenischen Landes,
das so wiederum zu einer vom übrigen Polen abgeschiedenen Ein-
heit wurde: man hoffte es auf diese Weise von Polen loszulösen,
für den Fall, daß die Vereinigung der ungarischen und polnischen
Länder von nicht allzu langer Dauer sein würde. Nach seiner Krö-
nung zeigte sich der neue König kaum mehr in Polen und die Re-
gentin Elisabeth, seine Mutter, die Schwester König Kasimirs,
hatte eine entschiedene Vorliebe für Kleinpolen; auf diese Weise
wurden die alten Gegensätze im polnischen Lande erneut ange-
facht. „Divide et imperaquot; wurde die Losung.

Für König Ludwig hatten in polnischen Dingen nur zwei Pro-
bleme Interesse: einerseits die Frage, auf welche Weise er seine
Einkünfte aus Polen erhöhen könnte, andererseits diese, durch
welche Mittel die Anerkennung der Nachfolge einer seiner Töchter
auch in Polen zu erreichen wäre .... denn auch er hatte keine
Söhne, und die bedenklichen Unterhandlungen aus 1355 mußten
innerhalb eines Menschenalters noch einmal wiederholt werden.

Der weibhchen Nachfolge widersetzte sich hauptsächlich der
großpohiische Adel, dem der König doch schon sowieso zu wenig
Rücksicht auf die Landesprivilegien nahm. Ludwig aber fand ein
brauchbares Mittel um ihn doch zur Anerkennung zu bewegen: um
seine fortwährendem Geldbedürfnisse zu befriedigen, trieb er in Po-
len eine in Unbrauch geratene Steuer wieder ein. Das verstieß an und
für sich nicht gegen die Privilegien; der König versprach aber
eine Herabsetzung der Steuer, wenn der Adel in die begehrte Nach-
folge einer seiner Töchter einwilligte. Dieser Handel geschah in
1374 zu Kaschau: die weibliche Nachfolge wurde grundsätzlich
(nicht nur inzidentell, wie es schon in 1373 geschehen war) aner-
kannt und als Gegenleistung die Steuerpflicht des Adels für ewige
Zeiten fixiert und seine anderweitigen Privilegien bestätigt.

Diese Kaschauer Abmachungen waren von besonderer Bedeu-
tung, denn einerseits trat der polnische Adel hier zum ersten Mal
als geschlossene Einheit auf und erhielt sein erstes auf seine ganze
Korporation und nicht nur auf einzelne Mitglieder bezügliches Pri-
vileg, das eine geschlossene Adelsklasse anerkannte, andererseits

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aber wurden durch sie die finanziellen Lasten des Reiches vom
vermögendsten Teile des Volkes, dem Adel, auf weit weniger
leistungsfähige Schichten abgewälzt. Als man sich auf die Dauer
zäh an diesen „Rechtenquot; festklammerte, konnten die Folgen nicht

ausbleiben.

Noch auf einen andern Umstand ist hier hinzuweisen. Die Dy-
nastie der Piasten war erloschen. Sie hatte bestanden, noch ehe
der polnische Staat irgendwelche Ständeghederungen gekannt
hatte; sie hatte bestanden, „als noch nichts warquot; und hatte da-
durch über allen politisch maßgebenden Faktoren gestanden;
sie verdankte niemandem ihre Stellung und hatte recht eigent-
lich „Dei gratiaquot; regiert; im Grunde war man auch immer loyal
Segen sie gewesen, wenn besondere Umstände nicht eine ent-
scheidende Rolle gespielt hatten. Der neue Herrscher dagegen
War ein Fremder, er hatte nichts mit Polen gemein, sein Geschlecht
hatte dort nie eine Rolle gespielt und man hatte die Nachfolge
mehr oder weniger „erkauftquot;. Er war auf den Adel angewiesen
^ sich halten zu können und der Adel hatte ihn nötig, da schließ-
lich die Funktion der Zentralgewalt neu besetzt werden mußte.
Aber deshalb konnte man doch von diesem neuen Herrn etwas
erwarten, es schien ihm an der Königswürde viel gelegen zu sein,
man konnte seinen Vorteil damit tun und mit ihm handeln. Die
ersten „pacta conventaquot; waren in Polen geschlossen worden und
die Wahlmonarchie hatte grundsätzlich ihren Einzug gehalten.
Diese Umstände und ihre nachteihgen Folgen konnten sich weiter
entwickeln und auf die Dauer sehr bedenkHch werden, aber not-
wendig, oder „unumgänglichquot;, „unaufhaltsamquot; war das keines-
wegs.

Der Ungarkönig glaubte dagegen alles in seiner Hand zu haben.
Das ruthenische Land war schon vom polnischen Körper abge-
trennt worden, der Oppelner Herzog versuchte dort, wie schon
so viele vor ihm, dem römischen Bekenntnisse Eingang zu ver-
schaffen, man wollte so die religiösen Gegensätze zurückdrängen
Und das Land fester an Ungarn binden. Aber man stieß nur auf
heftigen Widerstand und schließlich mischten sich die Litauer in
die Streitigkeiten. Während das übrige Polen, bei dem vollkom-
menen Mangel an straffer Zucht, wieder in zügellose Anarchie
zurücksank, trug sich Ludwig____mit Teilungsplänen. Er hatte

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zwei Töchter, von denen die eine, Maria mit Sigismund, dem Mark-
grafen von Brandenburg verheiratet war; ihr dachte er Großpolen
und die Lausitz zu, denn ihr Gatte hatte die Anwartschaft auf
die böhmische Krone und so war ein gut abgerundetes Gebiet zu
schaffen. Der andern, Hedwig, bestimmte er den Besitz Ungarns,
Kleinpolens und des ruthenischen Landes. Es handelte sich mn
weite Flächen und diese konnte man leicht verteilen. Mit den
tatsächlichen Verhältnissen wurde hier nicht im mindesten ge-
rechnet: daß man die polnische Krone letzten Endes durch weit-
gehende Privilegien erkauft hatte und keineswegs mehr ein „abso-
luterquot; Herrscher war, wie die ersten Polenfürsten, die unbe-
schränkt über ihr Land verfügten, hatte man vergessen. Man
hatte Anrechte und Erbrechte, man war anerkannter Herrscher
und das genügte vollkommen nach der Meinung des Ungarn.
Aber es genügte eben nicht mehr und die These der „absoluten
Monarchiequot; führte in solchen Fällen ein etwas lächerliches Schein-
leben weiter, bis sie eines Tages, gestützt auf die Verhältnisse und
die Bedürfnisse der Zeit, wieder vielerorts als mächtige und unan-
gefochtene Realität zutage trat.

Die Lage wurde inzwischen in Polen immer kritischer. Ein Auf-
stand in 1376 nötigte die Regentin Krakau zu verlassen. Wladis-
law von Oppeln folgte ihr dort nach, ohne daß sein Auftreten Er-
folg hatte. Es war ja gerade diese Institution der Regentscliaft,
die die Anarchie ermöglichte. Schwach und ohne Interesse an den
Landessachen, stützte sie sich auf die „ungarische Parteiquot; des klein-
polnischen Adels, einer kleinen Gruppe gewilliger Kreaturen, und
auf die einflußreichen Magnaten, denen man alle Macht überließ.
Da waren Usurpation und Gewaltherrschaft und heftige Zusam-
menstöße mit dem niederen Adel und den Städten die Folge,
und um das Maß voll werden zu lassen, verwüsteten Litauerein-
fälle das Land.

Dennoch fand man Gelegenheit in 1377 mit ungarischer Hilfe
die Gebiete von Cholm und Beiz zurückzuerobern. Die Situation
ist aber bezeichnend: der Herzog von Oppeln unterhandelte nach
der Wiedergewinnung jener Gebiete mit den Bojaren über die
Uebertragung der herzoglichen Gewalt auf ihn, nach dem Tode
des Königs Ludwig. Als im selben Jahre der Enkel Kasimirs, der
Herzog von Dobrzyn starb, fielen seine Besitzungen Wladislaw

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Von Oppeln zu, ohne daß sich in Polen jemand der Beständigung
solcher zersplitternden Lehnsverhältnisse widersetzte.

In 1382 ließ König Ludwig seine polnischen Kreaturen und
Beamten nach Budapest kommen und verlangte von ihnen die
Anerkennung Sigismunds von Brandenburg, seines Schwieger-
sohns, als seinen Nachfolger in Polen. Kurze Zeit darauf starb
der König; nur Krakau, das Zentrum der ungarischen Partei,
anerkannte den Brandenburger, nach Ungarn hin gravitierten
auch die deutschen Elemente in den Städten.

Die Parteiungen im Lande rissen immer weiter ein, die Losun-
gen Wurden jetzt: für oder gegen die Nachfolge des Brandenbur-
gers. In Kleinpolen war man für ihn, man war ja auch ungarischer-
seits den Großpolen immer vorgezogen worden. Die Macht der Mag-
naten war während der Regierung Ludwigs sehr gewachsen, ihnen
konnte das Fortbestehen der geschaffenen Lage nur erwünscht
Sein. Die Partei der ungarischen Kreaturen und der Einfluß der
deutschen Elemente bestimmten dort die Sympathien. Zudem
War Krakau der Sitz des Prinzipates gewesen, es ist möglich, daß
alte Erinnerungen eine Rolle spielten, daß man in Kleinpolen
h^ehr Sinn für Tradition und Kontinuität, für Loyalität und Le-
gitimität hatte: schließlich hatte man ja doch in Kaschau frei-
willig in die Nachfolge einer der Töchter Ludwigs eingewilligt. In
Großpolen dagegen hatte man von der Regierung Ludwigs nur
die unangenehmen Seiten kennen gelernt. Der König hatte sich
keineswegs an die schon in 1355 gemachten Zusagen, die des öftern
seit dem Tode Kasimirs erneuert und erweitert worden waren, ge-
halten. Er hatte Fremde in wichtige Aemter des Landes einge-
^tzt und war keineswegs darum bemüht gewesen, die „verlorenen

ebietequot; für Polen wieder zurückzuerobern. Im Gegenteil: an
allen Grenzen war der Besitzstand zurückgegangen; man war be-
strebt gewesen das ruthenische Land ganz von Polen zu trennen,
hnd hatte nur vollkommener Anarchie und Auflösung in die Hand
gearbeitet. Man verlangte in Großpolen etwas anderes als die
Klientelwirtschaft der Regentin. Dazu kamen noch die alten Ge-
gensätze zwischen den zwei größten Herzogtümern Polens, der
alte Kampf um den Vorrang im Reiche. Die Großpolen wollten
Sigismund nur unter der Bedingung anerkennen, daß er in Polen
residiere und die unerwünschten Elemente aus dem Lande ent-

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ferne. Aber Sigismund weigerte. Man hoffte doch noch zu einem
Vergleich zu kommen und berief eine Konföderation des ganzen
großpolnischen Adels, aller „terrigenaequot;, nach Radomsk um zu
beraten. Es tritt hier der föderalistische Grundzug des polnischen
Adels deutlich zutage: er kennt keine zentralisierte Organisation,
er ist in Landschaften und weiter in Wappenbrüderschaften ver-
teilt; jede geht ihre eignen Wege und hat ihre eignen Interessen.
Der Gedanke der Staatseinheit, der Zentralisation findet nur
wenig Widerklang: man tritt manchmal ad hoc zusammen, um
im Voraus bestimmte Angelegenheitem zu erörtern. Zu Radomsk
stellten sich die Herren auf legitimistischen Standpunkt, man aner-
kannte die Verbindlichkeit der Kaschauer Abmachungen, aner-
kannte demnach die Nachfolge Marias .... aber nicht die ihres
Gatten, und stellte die Bedingung, daß sie in Polen residiere.

Der kleinpolnische Adel war in Wislica in einer Konföderation
zusammengetreten. Er wurde eingeladen den zu Radomsk gefaßten
Entschlüssen beizutreten; er stimmte zu, auch die Königin-Mutter,
die Regentin zu Ludwigs Zeiten, anerkannte die Bedingungen.
Inzwischen aber war Maria in Ungarn gekrönt worden und da keine
Partei in den beiden Ländern eine dauernde Union zwischen Ungarn
und Polen wünschte, wurden ungarischerseits ihre Anrechte auf
die polnische Krone ihrer jüngeren Schwester Hedwig übertragen,
die dem Herzoge Wilhelm von Oesterreich verlobt war. Nach
vielerlei Unterhandlungen, nachdem sogar mit einer neuen Wahl
gedroht worden war, wurde ihr in Polen unter der Bedingung ge-
huldigt, daß sie die Lehen Wladislaws von Oppeln wieder einzöge
und das ruthenische Land dem Reiche wieder einverleibte. Am
15. Oktober 1384 wurde sie in Krakau zum „Könige von Polenquot;
gekrönt.

Die Anarchie hatte sich während des Interregnums außerordent-
lich ausgebreitet, unter den Parteien, namentlich Großpolens,
brach ein Bürgerkrieg aus; eine neue Frage hatte die Gemüter
erhitzt: es galt jetzt für den jungen „Königquot; einen geeigneten Gat-
ten zu finden. Es hatte sich aber noch ein neuer Kronprätendent
eingestellt. Seit 1383 wurde von mancher Seite die Kandidatur Zie-
movits von Masovien unterstützt. Wenn er auch kein bedeutender
Herrscher war, so gehörte er doch wenigstens noch der Piastischen
Djmastie an und Bürgertum und Geistlichkeit, die ihm die Kö-

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mgswürde übertragen wollten, konnten bei einer vollkommenen
Lostrennung vom Hause Anjou nur gewinnen. Bald diskutierte
man eine Heirat der beiden Prätendenten, um die Gegensätze
auszusöhnen, und schob den österreichischen Bräutigam, der nur
über eine äußerst schwache Partei verfügte, ganz zur Seite. Es
traten aber wieder neue Umstände ein, die auch Ziemovits Aus-
sichten schwinden ließen: während der Wirren im Polenlande
hatten die Litauer in den ruthenischen Gebieten immer festeren Fuß
gefaßt. Vermutlich waren sie im Einvernehmen mit dem kleinpolni-
schen Adel vorgegangen, denn diesem lag ja daran den Einfluß
Wladislaws von Oppeln zu schwächen, der sich in jenen Gebieten
eme selbständige Herrschaft zu verschaffen suchte: so waren Litauer
Und
Kleinpolen Verbündete geworden. Diese gemeinsamen Inte-
ressen namen noch zu, als Ziemovit, der großpolnische Kandidat, in
emem gelegenen Augenblicke litauisches Gebiet besetzte um seiner
^acht mehr Ansehen zu verschaffen; groß- und kleinpolnische,
htauische und masovische Gegensätze spielten so ineinander über
Und Jagiello der Litauerfürst, begierig nach Macht und Ruhm und
Expansion nach Westen, wurde zum kleinpolnischen Kandidaten,
teils Weil beide, Kleinpolen und Litauer, gemeinsame Interessen im
ruthenischen Gebiete hatten, teils vielleicht nur im Gegensatz zu den
großpolnischen Prätentionen; der Litauerfürst bekämpfte in dem
Herzog von Masovien nicht nur einen Konkurrenten, sondern
auch einen Feind, der in sein Land eingefallen war; dieser letzte
\'-\'uistand hat vielleicht den Lauf der Dinge wesentlich beein-
tlußt. In 1385 kam eine litauische Gesandtschaft nach Polen und
Warb für ihren Fürsten um Hedwigs Hand. Man sagte den Ueber-
tritt Jagiellos zum römischen Bekenntnisse, eine ewige Union
zwischen beiden Ländern und die Zurückeroberung der „verlo-
renenquot; polnischen Gebiete zu. Es wurde lange beratschlagt; da
^ehickte der Adel Kleinpolens entschlossen eine Gesandtschaft
au Jagiello und teilte ihm mit, daß „das ganze Volkquot; ihn zum
Könige von Polen und zum Gatten Hedwigs gewählt habe, was
Sicherlich mehr war, als bewiesen werden konnte.

Lgt;ie gefährliche, der Anarchie zuneigende, Lage wurde so wie-
derum gerettet. Das Werk Kasimirs des Großen konnte fortge-
setzt Werden; einer neuen Blütezeit ging man entgegen. Aus den
-^njouschen Jahren bUeben aber doch bedenkliche Risse, die unter

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Umständen auf spätere Territorialkonflikte einen wesentlichen
Einfluß üben konnten.

An erster Stelle katte sich der Grundsatz der Königswahl, mit
all seinen möglichen schweren Folgen, wie Parteiungen, durch-
gesetzt. Wenn diese Folgen in den ersten zwei Jahrhunderten
nicht hervortraten, so lag das hauptsächlich an dem segensreichen
Umstände, daß Litauen eine erbberechtigte Dynastie hatte und
daß die Polen, wenn sie die Union der beiden Länder erhalten
wollten, oft gezwungen waren den jeweiligen litauischen Herr-
scher auch zu ihrem Könige zu wählen, bis zum Erlöschen der
D5aiastie.

Aber mehr noch: der polnische Adel hatte zu Kaschau erreicht,
daß alle Aemter in den Provinzen ausschließlich den aus der
betreffenden Provinz Gebürtigen vorbehalten blieben. Solche Pri-
vilegien mußten die Konsolidierung des Landes, das Entstehen
eines Zusammengehörigkeitsgefühls außerordentlich erschweren
und die föderalistischen, die Staatseinheit auf die Dauer (durch
den Mangel an pohtischer Einsicht) gefährdenden Strömungen be-
fördern. Der Adel hatte auch seinen Anteil an den Lasten des
Staatshaushaltes auf eine recht bescheidene Quote zu fixieren
gewußt und, während er doch den ökonomisch leistungsfähigsten
Teil der Bevölkerung ausmachte, die Befriedigung der immer
wachsenden Staatsbedürfnisse auf schwächere Gruppen abgewälzt.
Dieser Umstand wiude auf die Dauer noch bedenkhcher, als in
dieses Fixum keinerlei Veränderung kam und der Adel auch in
Handelssachen zum mächtigen und vorherrschenden Konkurrenten
der Städte wurde.

All diese Schwächen werden sich bemerkbar machen, wenn
stärkere, straffer organisierte, expansionslustige Nachbarn zur
Verteidigung der Grenzen und der Unabhängigkeit zwingen werden.
Sie werden aber genausogut auf die Dauer verschwinden können,
rationellere Formen werden an ihre Stelle treten können: eine
„einzig möglichequot; Entwicklung ist in solchen Sachen nie anzu-
geben. Und wenn in Polen diese neuen Formen sich nicht recht-
zeitig durchsetzten, so lag das an unberechenbaren Umständen
und versäumten Gelegenheiten, die in der Geschichte eines jeden
Volkes eine (nur nicht so wesentliche) Rolle spielen und nicht
an einem „notwendigen Ende in der Anarchiequot;.

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SECHSTES KAPITEL.

DIE ENTWICKLUNG DER POLNISCH-LITAUISCHEN UNION
BIS HORODLO. DIE ERSTEN ANSAETZE EINER DEMOKRA-
TISCHEN ENTWICKLUNG.

In der polnischen Territorialgeschichte zeigt sich vielfach ein
föderalistischer Zug, eine Neigung zum Kompromiß, zum Zu-
sammenschluß, zum Vermeiden von Konflikten. Er zeigt sich
schon in der Organisation des Adels, der bald der politisch maß-

gebende Faktor im Staate sein wird, nachdem er sich in Kaschau
Schon recht wesentlichen Einfluß gesichert hat. Die den Grund-
\'e^gentümem, also hauptsächhch dem Adel obliegende Pflicht des

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Kriegsdienstes wurde zum Beispiel schon dahin beschränkt, daß
für Heerfahrten außer Landes eine Entschädigung zu zählen
war. Es spricht aus diesem Umstände schon eine gewisse Abneigung
gegen kriegerische Expansion. Die Steuerlast des Adels war fixiert
worden und insofern der König Krieg außer Landes führen wollte,
war er auf die Erträge der Krongüter und auf außerordentliche
Steuern angewiesen, die ihm auf die Dauer nur in sehr bescheidenem
Maße bewilligt wurden. Die auswärtige Politik mußte sich da in
der Regel auf die Defensive beschränken.

Es sei in diesem Zusammenhange noch einmal daran erinnert,
wie schnell man sich in den Verlust Schlesiens ergab und wie
man die polnisch-ungarischen Gegensätze im ruthenischen Lande
durch eine Union der beiden Reiche aus dem Wege räiunen wollte
und Heber die gemeinsame Verteidigung gegen gemeinsame Feinde
vorschlug. Derselbe Gedankengang wiederholte sich bei dieser be-
deutungsvollen Union mit dem htauischen Herzogtume. Es zeigt
sich auf interessante Art, wie gewisse Neigungen, gewisse Ent-
wicklungen im Lande, die von den allgemeineren, aus andern
Staaten bekannten, abweichen, auch unter Umständen auf die
Territorialprobleme einen entscheidenden Einfluß haben können.

Litauen in engerem Sinne ist das Flußgebiet des Njemen. Die
Großherzöge des Landes aber haben die Grenzen des Reiches,
durch hartnäckige und unter günstigen Umständen geführte Ero-
berungskriege, seit dem Zusammenbruche des Reiches von Kiew,
auf erstaunliche Weise erweitert. Nach Süden hin wurde das ganze
Stromgebiet des Dnjepr und das des Bog dem Reiche eingefügt;
im Norden bildeten die Düna, im Osten die Gebiete von Witebsk,
Smolensk und Nowgorod und der Unterlauf des Dnjepr die Grenze
und im Süden wurde das Schwarze Meer erreicht. Die Interessen
Polens und Litauens laufen so in vieler Hinsicht parallel. Im
Süden beherrschen beide zusammen die wichtigen Handelsstraßen,
die großen Wasserläufe und im Norden kehren sich beide gegen
den gemeinsamen Feind, den Deutschen Orden. Polen will Pom-
merellen zurückerobern und Litauen begehrt den Besitz Samo-
gitiens, des letzten großen, noch unabhängigen Heidengebietes,
nordösthch vom preußischen Lande. Eine rationelle Basis für die
Union zweier Reiche, die noch bis vor kurzem öfters feindlich auf
einander gestoßen waren, aber auch schon öfters gemeinsam einem

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Ziele nachgestrebt hatten, war da. Die Polen griffen zu; es han-
delte sich für sie ja um schon vertraute Gedanken und außerdem
war hier ein in den Augen der Zeit großes Werk zu tun: hier war
ein Reich dem kathoHschen Glauben zu gewinnen.

Aber es standen dem doch auch andere wichtige und bedenk-
liche Tatsachen gegenüber: das Htauische Reich war in schneller
Eroberung zusammengerafft worden, es war noch keineswegs kon-
sohdiert, würde vielleicht nicht einmal dem ersten Ansturm wi-
derstehen können. Es war zum großen Teile aus den Trümmern
des Reiches von Kiew aufgebaut, die zwar dünn bevölkert waren,
deren Bewohner aber dem griechischen Bekenntnis angehörten
Und so doch mehr für Einflüsse von Osten, von andern recht-
gläubigen Gebieten her, offen standen als für westliche. Von dem
Augenblicke an, da eine neue griechisch-orthodoxe Völkerkonzen-
tration vom Osten,von Moskau aus unternommen werden wird.
Und die Zaren die „Erbschaft Monomachsquot; für sich beanspruchen
Werden, wird die Lage für Polen und Litauer bedenklich werden.
Wenn eine Konsohdation des Reiches bis dahin nicht gelungen sein
Wird und eine großzügige militärische Verteidigung nicht durch-
gesetzt werden kann. Die Eroberungszüge der Moskoviter waren
äußerst hartnäckig und methodisch, und im Südosten fanden sie
brauchbare Verbündete in den Tataren. Das war die bedenkliche
Seite der Union. Andererseits wurde dieses Verteidigungsproblem
uoch von der Frage beherrscht, ob es gelingen würde im Polen-
Reiche zwischen den Gegensätzen im langsam sich entwickelnden
Verfassungsleben rechtzeitig ein Gleichgewicht zustande zu bringen
^nd die, eine kräftige PoUtik lähmenden Hemmungen zu beseitigen,
■\'^her all diese Fragen betrafen eine noch recht ferne Zukunft.

I^ie Union von 1386 war das Werk der kleinpolnischen Baronie,
einer kleinen, aber mächtigen Partei. Die gemeinsamen Interessen
nach Norden und Süden, der Gewinn für die Kirche werden zwei-
feUos den Entschluß zur Union beeinflußt haben, für eine Minder-
heit werden sie das
ausschließliche Motiv gewesen sein, bei dem
großen Haufen aber wird die großzügige „Freigebigkeitquot; (es mag
dahin gestellt bleiben, inwiefern der Begriff „Korruptionquot; zutreffend
ist) des Litauerfürsten die Frage entschieden haben. Jagiello
quot;^rde noch vor seiner Ehe mit einer großen Zahl seiner Bojaren

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getauft; er erhielt den christlichen Namen und Titel „Wladislaw II.
Jagiello, Herr und Beschützer von ganz Polenquot;.

Am gleichen Tage verheh er dem kleinpolnischen Adel ein Pri-
vileg „aus dankbaren Gefühlen und um dem WohwoUen und der
Gunst des Adels durch gleiche Vergeltung zu entsprechenquot;. Dieses
Privileg ging noch weiter als die Kaschauer Abmachungen; wieder
zeigte sich der bedenkliche Einfluß der Königswahlen. Alle Aemter,
alle Würden, alle Lehen einer Provinz werden ausschließhch dem
Adel der betreffenden Provinz reserviert; Ernennungen geschehen
auf Empfehlung des provinzialen Adels. Diese letzte Bestimmung
der Beamtenwahl macht schon einen recht demokratischen Ein-
druck, ihr Wert wurde aber beträchtlich durch die Existenz und
den Einfluß der „Interessengemeinschaftenquot; in der Organisation
des Adels herabgesetzt. Es wurden nicht nur so wie zu Kaschau
alle Fremden durch diese Bestimmungen ausgeschaltet, sondern
auch .... Bürger, und hier wurde wieder, „demokratisch gedachtquot;,
ein Gleichgewicht bedroht. Es wird dies aber erklärhcher durch
die Tatsache, daß die Masse der Bürger eben zu gleicher Zeit auch
landesfremd, von deutscher Herkunft war; so beeinflußten wie-
derum ungewöhnliche Entwickelungen in bedeutender Weise, und
nicht zum Vorteil, die Verschiebung der Kompetenzen. Der Ein-
fluß des Bürgertums wurde je länger je mehr beschränkt. AUe
Schlösser, alle Burgen und aUe Starosteien sollten ferner nur vom
in der betreffenden Provinz einheimischen Adel besetzt und ver-
waltet werden, was mehr war als zu Kaschau erreicht wurde. Auch
der zur Verteidigung der Landesgrenzen geleistete Kriegsdienst
war fortan zu bezahlen, während dagegen die Steuerquote des
Adels keineswegs erhöht wurde. SchHeßlich wurde die Gerichts-
barkeit noch weiter dezentrahsiert.

Zwei Jahre später wurden gleiche Abmachungen mit dem groß-
polnischen Adel getroffen. Mit beiden Landesteilen war selb-
ständig unterhandelt worden, alsob sie nur in einer Personal-
union zusammengefaßt wären. Es waren neue Pacta conventa,
ein weiterer Schritt auf dem bedenkUchen Wege. Die Macht der
Zentralgewalt wurde auf bedeutende Weise beschränkt, der po-
htische Einfluß des Bürgertums nahezu voUkommen ausgeschaltet
und demnach die pohtische Vorherrschaft des Adels und der
hohen Geistlichkeit in aller Form bestätigt.

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Die Union zwischen den beiden Staaten macht in den ersten
Jahren den Eindruck einer Personalunion: man kontraktiert mit
einem Fürsten, anerkennt nicht einmal eine Dynastie. Bald aber
zeigt sich aus „Verbrüderungenquot; und oft wiederholten Abmachun-
gen, daß man im Grunde eine Realunion der beiden Länder be-
deckte, mag sie auch im Anfange noch keine recht greifbare
^orm angenommen haben. Die Königin, die doch schließlich den
Gedanken der Kontinuität und der Legitimität in diesem Falle
Verkörperte, spielte bei den Unterhandlungen keine RoUe, ihr
anie wurde in den Urkunden nicht einmal genannt.
Egt;er Liberalität des neuen Königs hinsichtlich der Privilegien trat
noch eine andere, nach heutigen Begriffen nahezu beleidigende, mehr
P^^aten Charakters zur Seite. Wladislaw von Oppeln, der die Sache
uhelms von Oesterreich, Hedwigs ursprünglichem Verlobten, im
iche gelassen hatte, wurde reichlich belohnt, ebenso wie Ziemovit
Von Masovien, der seine Ansprüche aufgegeben hatte, und viele ande-
re Verfechter der litauischen Interessen. Diese Freigebigkeit grenzte
aber schon an Verschwendung und das war eine neue bedenkliche
Tendenz: das Recht der Steuererhebung des Königs war im Laufe
der Zeit sehr beschränkt worden, er verfügte aber noch über uner-
nießliche der Krone gehörige Latifundien, deren Ertrag bedeu-
tend War. Wenn er aber diese letzte Stütze seiner Macht auf un-
überlegte Weise aus Händen gab, mußte seine Lage auf die Dauer
recht schwierig werden.

I^er erste Punkt des politischen Programmes der neuen Union
^ar die Bekehrung der noch heidnischen Bestandteile der Bevöl-
erung Litauens: zu gleicher Zeit wurde sie der erste Schritt zur
^zialen Annäherung der beiden Länder, der erste Schritt zur
ealunion. Die sozialen Zustände im litauischen Reiche waren da-
j^^s noch sehr primitiv, in dem Maße sogar, daß der Begriff des
rivateigentums noch nicht entwickelt war. Der Großfürst war
absoluter Despot, Herr über Alles und Jeden, über Leben und Tod.
Während dieses Verhältnis des Fürsten zu seinen Untertanen mehr
auf asiatische, von den Tataren übermittelte Formen hinweist,
^nelte die soziale Struktur des Landes sehr der polnischen in den
ruhesten Zeiten. Es war ein nach zwei Seiten orientiertes Ueber-
Sangsland, wie es seinerseits Polen auch wieder war. Die Be-

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völkerung war arm, lebte noch in sehr primitiven, zum Teile no-
madenhaften Verhältnissen. Der einzige politisch relevante Teil
der Bevölkerung waren die Bojaren, die man den zum Waffen-
tragen berechtigten Freibauern im ältesten Polen vergleichen
kann, mit dem Unterschiede jedoch, daß der Fürst auch über sie
vollkommene und unbeschränkte Gewalt hatte. Der Despot, der
„große Königquot; wie er sich nannte, residierte in Wilno, die Gebiete
seines unermeßlichen Reiches wurden von seinen Verwandten
verwaltet, die zu ihm in einem Vasallitätsverhältnis standen, oder
von unterworfenen russischen Prinzen. Beide Gruppen machten
ihm noch recht oft Schwierigkeiten, sei es, daß persönliche Feind-
schaften und Familienfehden der Anlaß zu inneren Wirren wurden,
oder, daß kaiun unterworfene Fürsten gefährliche Rebellionen
entfesselten. Wenn der Kulturunterschied zwischen Polen und
Litauen auch recht erheblich war, so gab es doch keine tiefgehenden
sozialen Gegensätze; eine Einheit konnte auf die Dauer erstehen,
zumal da die Entwicklung sich noch ganz nach polnischem Muster
vollziehen konnte, denn irgendeine eigne, sich dem widersetzende
Tradition bestand ja nicht.

Die Bekehrung zum römischen Bekenntnis unternahm der König
noch in demselben Jahre 1386 persönlich. Die Zahl der Bekehr-
ten wird durch die Zeitgenossen auf 30.000 angesetzt; haupt-
sächlich in den Gebieten von Wilno, Troki und Polock wurden
sie gewonnen. Samogitien, das letzte sich mit der Macht der Ver-
zweiflung verteidigende Bollwerk des Heidentums, blieb ganz außer
Betracht. Diese verhältnismäßig sehr geringe Zahl der zum rö-
misch-katholischen Bekenntnisse Uebertretenden zeigt, in wie
hohem Maße schon die griechische Kirche im Lande durchge-
drungen war. Der übergroße Teil der Bevölkerung war orthodox,
so wie auch die Umgangssprache die russische war. Die Bekehrung
vollzog sich vollkommen friedlich; niemand widersetzte sich ihr.
Sie war übrigens schon durch die Vorarbeit der franziskanischen
Mission erleichtert worden, wie auch durch den Umstand, daß das
griechische Bekenntnis im Lande seit langem als gleichberechtigt
geduldet wurde und die Bevölkerung durch den Umgang mit den
vielen Faktoreien deutscher Kaufleute schon mit westlichen For-
men und Gedanken bekannt geworden war. Der Großherzog be-
folgte überdies eine wirkungsvolle Politik. Er verlieh den Be-

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kehrten Bürgerrechte. „Damit nicht im Recht verschieden schie-
nen, die durch die Untertanenschaft unter derselben Krone ge-
eint werdenquot;, anerkannte er Eigentumsrecht und Erbrecht, or-
ganisierte nach polnischem Vorbilde eine Gerichtsbarkeit und ver-
minderte bedeutend die der Krone verschuldigten Lasten und
Leistungen. Die Kirche erhielt reiche Schenkungen und alle er-
wünschten Exemptionen\' und der Verbreitung des orthodoxen
Bekenntnisses wurde durch strenge Maßnahmen gesteuert. Die
Bojaren wurden durch diese Anordnungen den polnischen Schlach-
tzitzen näher gerückt, mit Ausnahme der beim orthodoxen Be-
kenntnisse beharrenden, die von diesen Privilegien ausgeschlossen
Wurden. Es mußte so ein Riß entstehen, die Einheit des litauischen
Staatswesens durch die gegensätzlichen Neigungen seiner Bevöl-
kerung bedroht werden.

Jagiello drang auf dieser selben Expedition bis nach Polock
^or. um den aufrührerischen und verräterischen Herzog Andrej

züchtigep, der dem Schwertritterorden, der in Livland in inni-
ger
Verbindung mit den Deutschrittern ein gleiches Bekehrungs-
Werk wie diese in Preußen zustande brachte, sein von ihnen sehr
begehrtes Land übertragen hatte. Die Expedition hatte guten
Erfolg und aus Dankbarkeit ernannte Jagiello seinen Bruder
Skirgiello, der ihm auf dem Kriegszuge beigestanden hatte, zum
Großherzoge und Statthalter in Litauen. Jagiello selbst behielt
Sich nur die Würde des „Obersten Herzogsquot; vor und residierte
fortan in Krakau. Seinen Bruder belehnte er noch außerdem mit
dem Gebiete von Polock und bestätigte ihm alle früher über-
^agenen Lehnsgebiete, während Skirgiello seinerseits all seine
Besitzungen der polnischen Krone vermachte für den Fall, daß
er ohne Nachkommen sterben würde.

L)er zweite Punkt des politischen Programmes der Union war
die Lösung der ruthenischen Frage. Es sei daran erinnert, daß bei
den ersten Einmischungen polnischerseits in die ruthenischen An-
gelegenheiten auch die Ungarn eine Rolle spielten. In 1340 wußte
Kasimir der Große sich die Gebiete von Halicz und Lemberg zu
Unterwerfen, in 1349 stieß er erfolgreich bis Luck vor und warf
die litauischen Rivalen zurück. Zwei Jahre später aber verlor er
nieder alles Gewonnene und da er sich nicht stark genug fühlte
allein das Verlorene zurückzugewinnen, rief er König Ludwig

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von Ungarn zu Hilfe. Man verabredete, daß, im Falle beide Könige
ohne männliche Nachkommen stürben, die Polen das Recht haben
sollten, die volle Souveränität über Halicz und Lemberg um den
Preis von 5.000 Schock böhmischer Groschen zu erwerben. Dieser
Vertrag wurde die Grundlage des späteren Verhältnisses. Gegen
1354 hatten die Litauer Wladimir, Luck, Chelm, Beiz und Bresc
erobert, hatte Kasimir sich wieder in Halicz und Lemberg fest-
gesetzt und Ludwig Podolien und die Moldau erobert. So war die
Lage noch in 1366, als Kasimir vollkommen selbständig den größten
Teil Wolhyniens eroberte, das er sich in einem formellen Vertrage
von den Litauern abtreten ließ. Diese Eroberung berührte in keiner
Weise den polnisch-ungarischen Vertrag, der nur über Halicz
und Lemberg handelte. Nach dem Tode Kasimirs aber wurden
während der Regierung Ludwigs diese Umstände
verdunkelt, das
ganze Gebiet zusammengefügt und nach ungarischem Muster ver-
waltet, in der Absicht all jene, seit einem Menschenalter gemachten
Eroberungen auf die Dauer für die ungarische Krone zu gewinnen.
Die Folge davon war wiederum, daß manche polnischen Kastel-,
lane die ihnen unterstellten Gebiete den Litauern verkauften.
So war bei dem Regierungsantritte Jagiellos das Polen zustehende
Gebiet wiederum ungefähr auf Halicz und Lemberg beschränkt.

Die Gelegenheit die polnischen Anrechte auf diese Gebiete im
Rahmen des polnisch-ungarischen Vertrages von 1368 geltend
zu machen, war überaus günstig. Das Land befand sich noch in
Händen der Ungarn, deren Lage aber augenbhcklich durch Nach-
folgewirren im Lande sehr geschwächt war. Von litauischer Seite
drohte den Polen seit der Union keinerlei Gefahr mehr und so
stellte sich die Königin Hedwig, während JagieUo mit der Be-
kehrung Litauens beschäftigt war, an die Spitze eines polnischen
Heeres um das ruthenische Land der polnischen Krone wieder-
zugewinnen. Lemberg wurde ohne Schwierigkeiten gewonnen,
Halicz aber erst nach dem Eintreffen eines litauischen Hilfskorps.
Wladislaw von Oppeln verzichtete gegen anderweitige Entschädi-
gungen auf seine Anrechte. Das war die letzte und endgültige Ero-
berung dieses gaUzischen Landes. Es wurde dem polnischen Staate
ohne ernsthafte Opposition ungarischerseits einverleibt. Von
großer Wichtigkeit war aber, daß JagieUo noch einmal aUe von
seiner Gattin unternommenen staatsrechtlichen Handlungen wie-

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erholte und so formell auch litauische Ansprüche auf das Land
ahrte. Aus diesem Umstände entstanden später Schwierigkeiten
zwischen Polen und Litauern. Jagiellos Position in Polen war noch
nicht so gesichert, daß er das Aufgeben aller Ansprüche für den
all, daß es zwischen seinen beiden Ländern zu einem Bruche
^e, riskieren woUte. Jedenfalls handelte er aber nicht gemäß
^mem Versprechen die zu Polen gehörigen Gebiete der polnischen
rone wiederzuerobern. Das Verhältnis blieb vorläufig theore-
tisch ungelöst.

Diese endgültige Eroberung der ruthenischen Gebiete (des spä-
ten Ostgaliziens) war im Grunde eine reine Machtfrage, wenn
e auch auf geschickte und nicht aUzu kriegerische Weise allmäh-
! vorbereitet worden war. Die Bevölkerung in den Städten,
en wichtigen Handelszentren war eine bunte Mischung Landes-
mder ohne ausgesprochene Neigungen für oder gegen eine
polnische Herrschaft. Sie anerkannte den Herrn, der ihr ihre
reiheit gerantierte und ihren Handel beschützte. Die Bauern-
evölkerung dagegen war orthodox, politisch aber ohne jeglichen
influß: wem sie Frondienste leistete, war ja im Grunde einerlei.
^ olonisiertquot; wurde sie auf die Dauer ebensowenig wie die ortho-
oxen Völkerschaften im unermeßlichen litauischen Herzogtum,
dem weite Gebiete noch kaum bewohnt waren. Die Polen waren
numerisch nur schon viel zu schwach, als daß ihnen diese unge-
euere Aufgabe der Kolonisation und Verschmelzung hätte ge-
^ gen können und immerhin schon bedeutende Leistungen in dieser
insicht wurden später durch Aufstände und Kriege in unglück-
^cüer Folge und verhängnisvollem Zusammentreffen wieder zu-
gninde gerichtet.

l^ie handelspolitisch so wichtige Lage Ostgaliziens war im Grunde
as
Hauptmotiv für die Eroberung gewesen. Die großen Handels-
^ aßen vom Westen her, von Nürnberg und von Breslau, vom
Orden, von Danzig und Thorn, und jene aus Oesterreich und
ngarn, die am Fuße der Tatra und der Karpathen hinliefen,
aien in diesem Galizien und in Wolhynien zusammen: die Hoche-
ne War das große Tor, durch welches der Handel nach Süden,
® breiten Wasserläufe entlang, mußte. Wer jene Hochebene be-
. \' beherrschte den Handel zahlreicher Staaten, sogar den genue-
sischen und venetianischen und vor allem den von Thom und Danzig.

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Die Inkorporation hatte noch eine wichtige Folge: Fürsten,
welche bis jetzt die ungarische Oberhoheit anerkannt hatten, fan-
den es ratsam sich nach einem neuen, mächtigeren Beschirmer
umzusehen: die Prinzen von Podolien, die Fürsten der Moldau, der
Walachei und Bessarabiens kamen nach Krakau um Wladislaw
Jagiello zu huldigen, während die weitgestreckten, kaum bevöl-
kerten Gebiete der Ukraine, des Grenzlandes, aus dem sich die
Tataren allmählich nach der Krim und dem Kaukasus hin zurück-
zogen, nur auf die Einverleibung in die junge Union warteten.
Es lockte dort zur Kolonisation, es gab fruchtbares Land an jenen
Grenzen in Ueberfluß, mit dem man verdienstvolle Untertanen
belohnen konnte.

Auf dieses unermeßliche Land konnte Jagiello die Unterneh-
mungslust seiner Untertanen lenken; dem jungen Staate lockte
eine „goldenes Zeitalterquot;. Die Vorbedingungen zu einer Weiter-
entwicklung seines eigentümlichen Verfassungslebens, zu einem
Durchringen zu demokratischen Formen und zur Wiedererlangung
eines durch die aus verschiedenen, mehr oder weniger zufälligen.
Umständen entstandene Vorherrschaft des Adels bedrohten Gleich-
gewichts, waren die besten. Die Reichtümer des Landes waren
unermeßlich; Kriege suchten in den beiden nächsten Jahrhunder-
ten, bei dem großen Umfange des Reiches und wegen ihres ver-
hältnismäßig unbedeutenden Charakters, immer nur Teile des
Staates heim; sie führten nicht zu Krisen und die bedenklichen
Folgen der Königswahlen blieben dem Lande erspart.

Die Lage der jungen Großmacht war äußerst günstig. Sie pro-
duzierte Korn und Salz, zwei der wichtigsten Lebensmittel ^ jener
Zeit, in Ueberfluß; sie verfügte über eine bedeutende Textilindustrie,
dem wichtigsten Industriezweige der Epoche; sie war auf diese
Weise von ihren Nachbarn ökonomisch unabhängig. Aber mehr
noch: da sie wichtige Handelsstraßen beherrschte, hatte sie ge-
wissermaßen eine Monopolstellung. Ebenbürtige Feinde hatte sie
vorläufig nicht zu fürchten; die traten erst später auf und da war
die Lage bedenklich, als sie von allen Seiten kamen und einen
müitärisch und organisatorisch schlecht vorbereiteten Staat fan-
den. Aber diese Entwickelungen ließen noch lange auf sich warten.

^ siehe E. Fueter. Geschichte des Europäischen Staatensystems von 1492—■
1559. Berlin 1919 Seite 35—37.

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Nach der Regelung der ruthenischen Angelegenheiten beschäf-
tigte man sich eingehender mit der beiden Staaten vom Orden
her drohenden Gefahr. Es mag sein, daß auch Jagiello der Um-
stand, daß er sich trotz seines uneimeßhchen Reiches dem deut-
schen Orden nicht gewachsen fühlte, bei der Bewerbung um die
polnische Krone beeinflußt hat. Auf polnischer Seite hatten der-
gleichen Erwägungen sicherhch eine Rolle gespielt, der Eifer,
mit dem man sich in späteren Jahren gemeinsam gegen den Orden
Wandte, läßt daraufschließen. Vielleicht erklären auch einigermaßen
diese hohen Erwartungen kriegerischer Erfolge in einer Sache, die
allen Polen nahe ging, die immerhin etwas unglaubUche Tat-
sache, daß man einem heidnischen Fürsten eine Christenkrone
antrug. Jedenfalls setzte nach 1386 eine zielbewußte aggressive
Politik gegen den Orden ein; man konnte endlich die Jahrhunderte
alte Fehde mit. dem Erbfeinde austragen.

l^urch die Bekehrung Litauens hatte der Orden im Grunde sei-
len Existenzzweck als Vorkämpfer des Christentums im Norden
verloren. Seine „Missionquot;, die ihm die Sympathie ganz Europas
erworben hatte, bestand nicht mehr, seine mächtige internatio-
nale Stellung, sein moralisches Uebergewicht hatte er eingebüßt,
^er Heidenkampf, die „Reisenquot;, zu denen man sich kriegslustige
Herren aus allen Ländern einlud, waren in der letzten Zeit schon
niehr zu einem Abenteuer, zu einem gefährlichen Spiel geworden;
als dieser Sachverhalt aber in 1402 offiziell anerkannt wurde, in-
dem der Papst dem Orden bei Strafe der Exkommunikation ver-
bot, fürderhin „Reisenquot; nach Litauen zu unternehmen, mußte der
Orden wohl schwer getroffen werden. Es blieb ihm nichts übrig
als ein Vasallstaat des Deutschen Reiches zu werden und diese
Umstellung wurde ihm durch die Lage recht erschwert. Der Staat
^ar klein und unversöhnlichen Feinden ausgesetzt. Die zentrale
Gewalt war nicht erblich in den Händen einer Dynastie und durch
den kosmopolitischen Charakter des Ordens und den Universalis-
mus der Geistlichkeit geschwächt und bald machte sich der Gegen-
satz der Interessen der rein weltlichen Faktoren im Ordenslande
nnd der Gebietiger bemerkbar.

Lgt;ie Polen begannen ihren Angriff da. wo er am gefährlichsten
sein mußte. Sie versagten den kriegslustigen Herren, die zu Be-
such kamen, den Durchzug nach Osten und isoHerten den Orden.

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In Antwort darauf schloß dieser mit dem Herzoge von Pommern-
Stettin ein Defensivbündnis, nach welchem die Ausfuhr von
Waffen und Pferden nach Polen verboten wurde und dem Orden
eine direkte Verbindung mit dem Westen gewahrt blieb. Man
begründete dieses Bündnis mit der Verteidigung der Ansprüche
Wilhelms von Oesterreich (der sich vor JagieUo um die Hand Hedwigs
beworben hatte) auf den polnischen Thron. Es wurde von mannig-
fachen Erklärungen und Noten an die befreundeten Höfe und an
den Heiügen Stuhl begleitet. Dieser aber hatte mehr Interesse an
dem Gewinn der römischen Kirche durch die polnisch-litauische
Union, anerkannte den neuen König, anerkannte dessen Ehe mit
Hedwig und schlug den beiden Gegnern eine Lösung des Kon-
fliktes durch päpstlichen Schiedsspruch vor. Der Orden ant-
wortete hierauf, daß er mit dem Polenkönige im besten Einver-
nehmen lebe und von einem Konflikt nicht die Rede sei. Er behaup-
tete ferner, die Bekehrung der Litauer sei nur eine gegen den Or-
den gerichtete Scheinbewegung gewesen und ignorierte so auf
beleidigende Art die bedeutungsvoUen Vorgänge der letzten Jahre.
JagieUo dagegen fing schon an, sich hin und wieder in Urkunden
„Erbe Pommernsquot; zu nennen und damit war der wirkliche Kern
des Konfliktes angegeben: es handelte sich um den Besitz Pom-
mereUens, wenn man auch hundert andere, im Grunde bedeu-
tungslose Streitpunkte vorbrachte. Der Ordensmeister setzte die-
sen Ansprüchen entsprechende Forderungen gegenüber; er ver-
langte „Garantienquot; für den Fall, daß die Litauer wieder zum
Heidentum zurückkehren würden, er verlangte auch ferner „das,
worauf er ein Anrecht hättequot;. Hiermit meinte er nicht mehr oder
weniger als ganz Litauen, mit dem im Anfange des 13. Jahrhun-
derts der Orden vom deutschen Kaiser, gelegenthch vorübergeh-
ender Verhandlungen mit dem Herzoge Mindowe über den Ueber-
tritt des Landes zum katholischen Glauben, beliehen worden war.
Diese Beleihung war aber ganz theoretischer Art gewesen und
hatte nie irgendwelchen praktischen Wert erlangt. Bei solchen
Gegensätzen war keine Ausgleichung mehr zu finden, von einem
befriedigenden Schiedssprüche konnte keine Rede sein. Eben-
sowenig war etwas von den vielen an die befreundeten Höfe gerich-
teten Verhandlungen und Noten, durch welche der Orden die Frage
zu einer europäischen Angelegenheit machen woUte, zu erwarten.

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Da fing man an, sich zu rüsten. Der Orden nahm Söldner in
lenst, die sich nicht als allzu zuverlässig erwiesen. Er paktierte
sogar mit den heidnischen Samogiten, was wohl am deuthchsten
seine Lage kennzeichnet. Es fing mit kleinen Plänkeleien an, die
aid zu verheerenden Zügen wurden, aber trotz des Verrates des
erzogs Witold, der wegen alter Familienfehden zum Orden über-
^ng, wieder beschwichtigt wurden.
Ein anderer interessanter Umstand komplizierte noch die Ver-
tnisse. Wladislaw von Oppeln hatte sich während der letzten
Jahrzehnte ein bedeutendes Gebiet, das aus Lehen, Privatbesit-
^ngen und an ihn verpfändeten Territorien bestand, erworben,
a War allerst sein Herzogtum Oppeln, dann alle Schenkungen und
en, die ihm das Testament Kasimirs des Großen vermachte,
er die ihm Ludwig von Ungarn und der freigiebige Jagiello zuge-
wiesen hatten, oder die die Frucht gelungener finanzieller Mani-
pulationen waren. Es war ungefähr halb Schlesien, das Dobrzy-
^er Gebiet, Teile Kujawiens und Ländereien um Wielun, Schild-
erg und andere am Oberlauf der Warthe; es lag zum Teile im
omischen Reich, zum Teile in Polen und grenzte im Norden an
as Ordensland. Jagiello hatte nun aber bei seinem Regierungs-
antritt versprochen, all diese Lehnsverhältnisse, die seit der Re-
perung Kasimirs entstanden waren und — in Polen früher unbe-
annt — die Zentralgewalt beeinflußten, wieder zu beseitigen,
a faßte Wladislaw von Oppeln den Plan, noch vor der unver-
nieidlichen „Liquidationquot; seiner polnischen Güter, aus diesen so viel
^le möglich Gewinn zu ziehen. Er wollte sie dem Orden verkaufen
^nd um diesem Vorschlage den allzu phantastischen Anstrich zu
entnehmen, entwarf er gleich einen Plan zur Teilung Polens, für
n er auch den böhmischen und den ungarischen König zu in-
eressieren wußte. Der Plan gewann noch an Brauchbarkeit durch
...^Verhandlungen zwischen dem Orden und den Brandenburgern
JJ. er den Kauf der „Neumarkquot; seitens des Ordens, durch welche
eser die polnischen Grenzgebiete noch mehr umklammern würde.
^ er Teilungsplan enthielt das Folgende: das ganze polnische Land
^stlich der Warthe bis nach KaHsch wurde dem Orden zugewiesen,
^e Brandenburger bekamen das Gebiet am Hnken Wartheufer
nnd der König von Ungarn die südlichen Teile des Königreiches,
auptsächlich das so begehrte ruthenische Land, auf das er noch

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nicht verzichtet hatte, wenn er auch die Ansprüche nicht durch-
setzen konnte. Jagiello wurde als Heidenfürst wieder in sein heid-
nisches Litauen zurückgetrieben. Der Plan hatte keinerlei
Aussicht
verwirklicht zu werden, dem standen die augenblicklich zwischen
den beteiligten Staaten bestehenden Machtverhältnisse im Wege,
aber interessant bleibt er im Hinbhck auf was kaum
vierhundert
Jahre später geschah. Im Laufe des 15. Jahrhunderts tauchten
noch wiederholt ähnliche Teilungspläne auf, ohne je praktischen
Wert zu erlangen oder neue Gesichtspunkte zu bringen. Wladislaw
von Oppeln wurde bald „exekutiertquot;, aber doch erst nachdem er
Gelegenheit gefunden hatte das Dobrzyner Gebiet dem Orden in
1392 zu verpfänden. Dieser Umstand mußte dessen Verhältnis
zu Polen noch gespannter gestalten.

Es fällt in dieselbe Zeit noch eine ähnliche „Exekutionquot;. Man
wollte den allzu beträchtlichen Besitz des masovischen Herzogs
in Kujawien schmälern, exekutierte ihn und belieh ihn zur Ent-
schädigung im ruthenischen Lande mit dem Beizer Gebiete. Durch
diese neue Beleihung wurde aber die obengenante Meinungsver-
schiedenheit über die Zugehörigkeit dieser ruthenischen Gebiete
zu Polen oder zu Litauen, wieder wachgerufen. Zwei Umstände
hatten diesen Gegensatz geschaffen: erstlich sprachen alle auf den
Fall bezüglichen Urkunden nur von den „ruthenischen Provinzenquot;,
ohne daß man genau wußte, ob damit Ostgalizien, Wolhynien
und Podolien gemeint sei, wie es die Polen annahmen, oder nur
Ostgalizien, was die Litauer behaupteten. Dann aber hatten an
der Eroberung dieser „ruthenischen Provinzenquot; Polen, Ungarn
und Litauer teilgenommen und zwar nicht nur an dem Kampfe
gegen Russen und Tataren. Sie hatten sich vielmehr auch gegen-
seitig bekämpft, jeder dem andern das Erbeutete wieder streitig
gemacht, und in den Gebieten einander wiederholenthch abgewech-
selt. So war die Frage allmählich recht kompliziert geworden.
Die Polen beanspruchten Ostgalizien und Wolhynien als eine
Eroberung Kasimirs des Großen und Podolien als die Eroberung
Ludwigs von Ungarn, während die litauischen Ansprüche aus
einem gleichen „Eroberungsrechtequot; ihrer Herzöge an Podolien und
Wolhynien bestanden. Jagiello löste die Frage, indem er die um-
strittenen Gebiete seiner Gattin als Morgengabe schenkte. Als nun
aber Hedwig bei neuen Beleihungen einen formellen Lehnseid

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forderte, ergaben sich neue, weit größere Schwierigkeiten,
die durch verfassungsrechtUche Fragen hervorgerufen wurden.

Während der ersten Regierungszeit Jagiellos, da die Verhält-
nisse der jungen Union noch nicht konsolidiert waren, gab es drei
Strömungen in der Politik, Die erste war in der Königin verkör-
pert, der die Baronie die Leitung der äußeren Angelegenheiten
vorbehalten hatte, in der (übrigens betrogenen) Hoffnung, sie nach
den Wünschen der Baronie beeinflussen zu können. Diese Strö-
n^ung, in der die Königin vorherrschte, aber doch auf die Ba-
^nie sich stützte, war die polnische, unter dem Einflüsse der
Königin pazifistische, der es hauptsächlich auf die innere Konso-
lidation des Reiches ankam. Ihr lag auf allen Grenzen, sogar
denen zum Ordenslande hin, am Frieden. Ganz das Gegenteil
^eser Auffassungen war die lithauische Strömung, die im Herzoge
Witold verkörpert war, jenem Vettern Jagiellos, der während der
Streitigkeiten mit dem Orden auf dessen Seite getreten war, und
den man nur wiedergewonnen hatte, indem man ihm die Statt-
halterschaft über Litauen übertrug. Ihn dürstete nach unbegrenzten
Eroberungen. Er drückte es in der ganz orientalischen Redensart
der Tataren aus: „Gott gibt mir die Herrschaft über alle Länderquot;.
Seine Macht in Litauen wuchs sehr bedenkhch, sie drohte sogar
d;e polnische zu überflügeln; Polen hatte für ihn nur den Wert
einer unerschöpflichen Vorratsscheune für seine Rüstungan gegen
feinde im Osten. Zwischen beiden stand JagieUo, der für beide
Auffassungen zugängHch war, aber keiner freien Lauf ließ. Bei
einer Auseinandersetzung mit der Königin weigerte Witold
^eser die Anerkennung der polnischen Oberhoheit über die ru-
henischen Provinzen und ging sogar so weit in der Anmaßung
^mer beinahe souveränen Stellung in Litauen, daß er einen Se-
^ratfrieden mit dem Orden schloß und Jagiellos Kompetenz und
.^Unsch (das unbedingte Zusammengehen Polens und Litauens
^^ der Ordensfrage) vollkommen ignorierte. Diese RebeUion in
^398 war aber nur vorübergehender Art. Man nahm die Sache
quot;^cht so prinzipiell und was bei diesem Frieden verabredet wurde,
^ergaß Witold bald wieder. Dennoch wurden die Vereinbarungen
die Grundlage der kommenden Entwicklungen. Samogitien war
dem Orden als „Einflußsphärequot; zugewiesen worden, ebenso das
Gebiet von Pskow, das an das Ordensgebiet der Schwertbrüder

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grenzte, während Witold sich die Expansion nach Nisjni Now-
gorod vorbehielt. Witolds bedenkUche Machtstellung wurde im
nächsten Jahre durch eine schwere, im Kampfe gegen die Tataren
erlittene Niederlage erheblich geschwächt; er sah sich gezwungen,
das untergeordnete Verhältnis zu Jagiello wieder anzuerkennen.
Im selben Jahre starb die Königin; seitdem herrschte allmähhch
die Politik des Königs vor. Es war ein Programm der „gemä-
ßigten Eroberungquot;, Krieg gegen den Orden und gegen die Völker-
schaften im Osten, gegen welche die junge Union ein BoUwerk
des Westens bilden soUte.nbsp;!

In Litauen befolgte Witold eine harte, aber erfolgreiche Konzen-
trationspolitik. Unentwegt setzte er Vasallen und Verwandte ab
und verleibte ihre Lehen dem Großherzogtume ein, oder gab sie
an treue Untergebene wieder aus. Seine für das Fortbestehen der
Union so bedenkhche Macht wurde noch durch die „Separations-
politikquot; des Ordens und durch verwandtschafthche Beziehungen
mit Moskau akzentuiert. Seine Intersesen und seine Zukunfts-
träume richteten sich ganz nach Osten, dort fanden sie einen
vorläufigen Abschluß in der Eroberung und Einverleibung des
Smolensker Gebietes. Jene Tatarenschlacht an der Worskla in
1399 aber hatte seine Selbständigkeitsgelüste doch in dem Maße
zurückgedrängt, daß in 1401 der polnisch-litauischen Union eine
festere formelle Grundlage gegeben werden konnte. Zu Wilno
erklärte eine Versammlung, an der eine Reihe einflußreicher Bo-
jaren, russischer Fürsten und der Bischof von Wilno teünahmen,
daß man zu allen Zeiten dem König, der Krone, dem Königreich
und dem polnischen Volke mit all seinen Kräften beistehen wolle,
daß die polnischen Interessen auch die litauischen sein sollten,
daß man dem Großherzoge Witold Gehorsam leisten wolle und
sich dafür einsetze, daß das von ihm für die Dauer seines Lebens
beherrschte Gebiet nach seinem Tode wieder der Krone Polens
zufalle und daß man dann keinen andern Herrn als Wladislaw
Jagiello anerkennen wolle. Umgekehrt aber sollten die Polen ge-
halten sein, im Falle Jagiello ohne Nachkommen sterben würde,
einen neuen König nur im Einvernehmen mit Witold und den Bojaren
zu wählen, und sollte man beiderseits verpflichtet sein das bestehende
Bündnis auch weiterhin zu erhalten. Diese Erklärung wurde einige
Monate später polnischerseits durch eine gleiche Urkunde ergänzt.

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Aus diesen Verhältnissen tritt klar der Charakter einer, wenn
auch noch primitiven Realunion zutage. Die auswärtigen
Angelegenheiten sind in Händen des Königs konzentriert, und
die Nachfolgefrage wird zu gemeinschaftlichem Interesse erklärt:
die Polen sollen in ihrer Königswahl nicht mehr frei sein und eine
neue Wahl soll die Union nicht lösen. Es verdient Beachtung, daß
inan die Nachfolge eines Sohnes mehr oder weniger selbstverständ-
lich findet; auch in späteren Jahrhunderten setzte sie sich in der
Wahlmonarchie regelmäßig durch.

Die erneute Verstärkung der Union hatte eine merkliche Ver-
kühlung des Verhältnisses Witolds zum Orden zur Folge. Während
er versprochen hatte, diesem bei der Eroberung und Bekehrung
bamogitiens behilfUch zu sein, sabotierte er diese jetzt wo und
^e er konnte. Wechselseitige Kriegszüge und Aufstände, die zum
teile die Folgen der unsicheren Verhältnisse an den östlichen
Grenzen waren, folgten jener Periode endloser Verhandlungen,
bis man in 1404 einen neuen allgemeinen Frieden schloß, der im
Großen und Ganzen die Bestimmungen von 1398 enthielt: das noch
nicht eroberte Samogitien wurde dem Orden ganz abgetreten und
das von Wladislaw von Oppeln dem Orden verpfändete Dobrzyner
Land wieder ausgelöst. Der Adel votierte hierfür, auf einem eigens
diesem Zwecke gehaltenen Reichstage, eine außerordentHche
Steuer von 50.000 Gulden und 2.400 Schock Groschen. Der König
bestätigte außerdem noch einmal seinen ausdrücklichen Verzicht
auf Pommerellen, während aber zu gleicher Zeit das an der Ur-
kunde befestigte Siegel ihn den „Erben Pommernsquot; nannte. Es
^rft dies ein helles Licht auf die Tatsache, daß man solchen Frie-
densschlüssen doch nur einen recht geringen prinzipiellen Wert
Zuerkannte. Es handelte sich hier nur darum, eine neue Urkunde
neben zahlreichen andern zu schaffen, die ausschließHch durch
ihre große Anzahl Eindruck machten und nur allzu oft mit ein-
^ander in Widerspruch standen. Solche Friedensschlüsse waren
Grunde nur Waffenstillstände, man billigte dem Gegner, wenn
es nötig war, ohne Zögern zu, was man ihm zu halten nicht im
niindesten gesonnen war, denn es handelte sich ja nicht um end-
gültige Lösungen, Sowie man sich erholt hatte und der Waffen-
ruhe nicht mehr bedurfte, konnte der Kampf wieder aufgenommen
Verden, denn durch ihn und nicht durch „verbriefte Rechtequot;

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wurde der Konflikt letzten Endes entschieden. Man kann sich
wundem, daß diese beiderseits für unvermeidlich gehaltene „große
Auseinandersetzungquot; noch so lange auf sich warten ließ. Es lag
dies zum Teüe an der friedlichen Gesinnung des Ordensmeisters
und an der Gutmütigkeit des polnischen Königs, vor allem aber
an der Tatsache, daß die polnisch-Utauischen Streitkräfte noch
im Osten beschäftigt waren. Man rüstete aber eifrig auf beiden
Seiten, ohne Hehl daraus zu machen.

Neue Schwierigkeiten entstanden aus der Driesener Frage. Der
zu erwartende Ankauf der Neumark durch den Orden beunruhigte
Polen. Der König konnte das aUer Welt zum Kauf gebotene Land
wegen Geldmangels nicht erwerben und doch war es gerade für
Polen von besonderer Bedeutung, denn wenn es durch Kauf auf
den Orden übergehen würde, so wäre für Polen der letzte Ausweg
zur Ostsee im Nordwesten geschlossen. Als das Land dem Orden
verpfändet wurde, was praktisch schon einem Kaufe gleichstand,
erhoben die Polen Einspruch und behaupteten Rechte auf die
strategisch wichtige Burg Driesen zu haben. Sie lag auf einer
Insel in der Netze und nun beanspruchte man die Netze als „na-
türliche Grenzequot; des polnischen Reiches, während man doch am
Oberlaufe desselben Flusses auf beiden Ufern Gebiet besaß. Als
dieses Argument nicht einschlug, berief man sich auf „historische
Rechtequot;. Diese Frage war nun überhaupt nicht mehr zu lösen,
denn im Laufe der Zeit hatte die Grenzfeste oft den Herrn ge-
wechselt. Mehr oder weniger bedeutungslose Grenzkriege hatten
auf rein tatsächUche Weise oft die Lehnsverhältnisse geändert.
Ein markgräflicher Lehnsmann hatte sogar, begehrlich nach der
„goldenen polnischen Freiheitquot;, die polnische Oberhoheit über
jene unbestimmten Grenzgebiete anerkannt, um so den einen
Herrn gegen den andern ausspielen zu können und sich jeder
Autorität zu entziehen. Solche Umstände konnten die Meinungs-
verschiedenheiten nur komplizieren. Die Angelegenheit wurde^
durch den gesonderten Kauf der Burg durch den Orden in 1408
eriedigt. Dieser Kauf aber erbitterte die Polen in dem Maße, daß
die „große Auseinandersetzungquot; eine unmittelbar drohende Ge-
fahr wurde. Sie war aber nicht nur durch den prinzipiellen Gegen-
satz in der pommerellischen Frage und solche kleinere, aber er-
regende wie die Driesener Angelegenheit bedingt, sondern auch

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durch die große Expansionslust des großpolnischen Adels, der
reiche Ländereien und \'Städte in PommereUen erwerben wollte,
also durch eine recht menschliche und primitive Lust an Ero-
berung und persönhcher Bereicherung.

L)ie „erste Gelegenheitquot; zum großen Kriege bot die Entwick-
lung der Lage in Samogitien. Dieses letzte, leidenschaftlich ver-
teidigte Heidenland hatte für den Orden große Bedeutung; es war
das Verbindungsstück zwischen dem Ordenslande und dem Ge-
biete der Schwertbrüder, die in Livland in bestem Einvernehmen
mit den Deutschrittem herrschten; es war aber auch das Durch-
^ugsgebiet zu jenen Fürstentümern Pskow und Nowgorod, die
große Bedeutung für den Handel nach Osten hatten und seit lan-
gem vom Orden begehrt wurden.

Wahrend der Statthalter Witold in Litauen seine eigne, auto-
kratische Pohtik führte, legte er eine erstaunliche Gleichgültig-
keit dem Samogitischen Lande gegenüber an den Tag. Er über-
heß es vollkommen dem Orden, sei es, daß er für seine Untemeh-
^nngen im Osten die Hände frei haben wollte, sei es, daß er über-
zeugt war, daß dieses im Grunde nach Litauen hin gravitierende
Land auf die Dauer doch für den Orden unhaltbar werden würde
nnd daß er es demnach als politisches Lockmittel ohne Gefahr ver-
wenden könnte, um dem Orden wertlose Zugeständnisse zu machen.

er sich vorläufig noch zu schwach fühlte um gleichzeitig gegen
Osten und Westen Krieg zu führen, entschloß er sich, den Orden
^u Versöhnen und unternahm sogar mit ihm und den Schwert-
^ittern gemeinsam Kriegszüge in jenes handelspolitisch wert-
volle Land von Pskow und Nowgorod, das man schon im Voraus
nach dem Plane von 1398 untereinander geteilt hatte. Als er aber
®msah, daß ihm diese Bundesgenossenschaft mit dem Orden wenig
\'^der nichts eintrug, und als sein Verhältnis zum Krakauer Hofe
^^eh nach der Niederlage in der Tatarenschlacht erhebhch gebes-
®®rt hatte, veränderte er unter dem Einflüsse Jagiellos und der
drohenden Verhältnisse im Osten vollkommen seine Politik, söhnte
mit den Feinden im Osten aus und kehrte sich gegen den
Orden in Samogitien, wo er in dem allmählich von den Rittern
Roberten Lande in 1409 einen Aufstand zu erwecken wußte.
Lgt;iese von ihm öffentüch unterstützte RebelHon wurde zum foramp;
mellen Kriege, als Jagiello auf ein Ultimatum des Ordensmeisters

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hin erklärte, daß er den Litauern in allen Gefahren beistehen werde.

Die internationale Lage vor dem „großeh Kriegequot; war den Polen
äußerst günstig. König Sigismund von Ungarn, der „Vikar des
Heihgen Römischen Reichesquot; und zukünftige Kaiser, war ganz
von deutschen Interessen erfüllt und dem Orden sehr gewogen.
Ihm fehlten aber aUe Mittel um militärisch einzugreifen, zudem
waren nahezu alle seine Grenzen von Feinden bedroht; er begnügte
sich daher, den Polen einen ganz theoretischen Krieg anzusagen.
Der Böhmenkönig und die westpommerschen Herzöge waren den
Polen entweder durch freundschaftliche Beziehungen oder durch
gleiche pohtische Interessen verbunden und wahrten zum min-
desten die Neutralität. Die Lage im Osten dagegen verhinderte
die Polen noch für kurze Zeit am unmittelbaren Eingreifen in die
Kämpfe an der Nordgrenze und erlaubte so den Ordensrittern
das ganze Dobrzyner Land zu besetzen und den Feind zu einem
Waffenstillstände bis zum nächsten Jahre zu zwingen.

Die entscheidende Schlacht bei Tannenberg in 1410 war für den
Orden vernichtend. Verstärkt durch die Ritterschaft aus allen
Ecken und Enden des norddeutschen Landes und beträchtliche
Söldnertruppen, kämpfte er erfolglos nach den alten, der Zeit
nicht mehr geltenden Ritterregeln gegen eine wilde, kaum orga-
nisierte, bunte Völkermasse, der jeder Sinn für jene ritterlichen
Spiele fehlte. Polen, Böhmen, Mähren, Litauer, Russen, Arme-
nier, Moldauer, Walachen und sogar Tataren 1 fand man im pol-
nischen Heere, es wurde die gewaltige Todesschlacht einer vergan-
genen Zeit.

Durch jene Niederlage bei Tannenberg war der Orden aus der
Reihe der bedeutenden Mächte verschwTinden; die neue junge,
slawische Großmacht, das sich unerwartet schnell entwickelnde
Polen übernahm im Osten Europas seine Rolle.

Der Orden war zu jener Zeit aber auch schon inneriich zerrüttet
gewesen; die Kluft zwischen den Forderungen der sich überall
bildenden neuen Strömungen und Faktoren im Staate und dem
schroffen, unbeugsamen, neuen Interessen keine Rechnung tra-
genden,ritterlichen Regiment hatte er nicht zu überbrücken ge-

^ nachdem Witold angefangen hatte sich in die Händel der Tataren un-
tereinander einzulassen, verfügte er immer über den oppositionellen Teil
der sich allmählich stark zerklüftenden Horde.

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wüßt. Es war dies in peinlicher Weise während des Kampfes zutage
getreten. Der Landadel, die Geistlichkeit und die Städte waren,
durch das harte, willkürliche Ordensregiment aufsässig geworden
nnd durch den Umstand, daß den Landesständen jegHcher poli-
tische Einfluß verweigert Wieb und den Handelsinteressen der
Städte in keiner Weise Rechnung getragen wurde, während schwere
Lasten auf sie entfielen, zum Polenkönig übergetreten, der ihnen
versprach ihre Freiheiten zu wahren und ihnen neue Privilegien
nach den bekannten und begehrten polnischen Mustern zusagte.

Es ist möghch, daß der Orden durch diesen einen Krieg allein
schon vollkommen vernichtet worden wäre, wenn sich die pol-
nisch-litauischen Streitkräfte nach der Schlacht auf die Belage-
^ng des letzten großen Bollwerkes, der Marienburg, konzentriert
hätten. Aber die heterogene Zusammenstellung des Heeres er-
schwerte dies und auch die besten polnischen Truppen zerstreuten
Sich über das Land und besetzten die Städte. Inzwischen trafen
^ilfstruppen der Schwertbrüder aus Livland und Söldner aus
^Deutschland ein, die die Polen zum Rückzüge zwangen. Seit dem
I^aschauer Privileg verfügte der Polenkönig ja auch nicht mehr
frei über die militärischen Kräfte des Landes. Jener Heerbann
War mehr der Landesverteidigung als Eroberungskriegen, zu denen
er nur gegen Entschädigung verpfichtet war, angemessen. Er be-
gann überdies veraltet zu werden, war zu langsam, zu kostspiehg
(denn wer an ihm teilnahm wurde aus seiner täglichen Beschäfti-
^ng herausgerissen) und vor allem zu selbstherrlich und zu un-
sicher als Instrument. Die Söldnerheere, — die neue Kriegsart —
die auch je länger je mehr im Osten Europas Verwendung fanden,
Waren bei weitem brauchbarer und diesen Volksheeren in der
Regel überlegen. Der Heerbann hatte sich allmählich verlaufen,
dje große Schlacht war ja geschlagen und für die Ausnützung des
Sieges hatte er wenig Sinn. Was dem König übrig blieb, worüber
er Vollkommen frei verfügen konnte, das waren einige Söldner-
^ruppen, die er aber auszubreiten nicht imstande war, da ihm die
Geldmittel fehlten. Da kamen aber obendrein noch allarmierende
Nachrichten von den Ost- und Südgrenzen; im Februar 1411 sah
der König sich gezwungen, mit dem Orden Frieden zu schließen.
Lgt;ieser Friede von Thom war für den Orden außerordenthch gün-
stig. Samogitien wurde dem polnischen Könige übertragen, der es

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dem Statthalter Witold auf die Dauer seines Lebens überüeß;
nach dessen Tode aber sollten die Ansprüche des Ordensmeisters
wieder geltend gemacht werden können. Diese wenig verständ-
liche Abmachung war der Hauptinhalt des Vertrages; sie erklärt
sich vielleicht aus einer gewissen Abgunst des litauischen Statt-
halters gegen den Polenkönig, dem er nicht einen allzu vorteil-
haften Frieden gönnte; vielleicht war es aber nur eine ähnliche
Fassadenerklärung wie jene im Friedensvertrage von 1404. Die
Gegensätze betreffs Driesen und Santok wurden nicht gelöst.
Für die Befreiung einiger hoher den Polen in die Hände gefallenen
Gäste bezahlte der Orden eine Summe von 100.000 Mark.

Die Polen hatten noch nicht gewonnen, sie hatten aber erfahren,
daß jener Orden, den man über ein Jahrhundert hinaus für unbe-
siegbar gehalten hatte, es nicht mehr war. Man wird die Angriffe
wiederholen, bis man das Begehrte gewonnen haben wird. Der
Krieg, das Argument der Faust entschied, eine friedhche Lösung
war da nicht mehr zu finden.

Nach jenem Friedensschlüsse setzte König Sigismund von Un-
garn seinen theoretischen Krieg gegen Polen noch fort. Es handelte
sich aber nur um Pläne, um politische Schachzüge. Der König
versuchte Litauen von Polen wieder zu trennen; wäre ihm dies
gelungen, so hätten die Teilungspläne des Herzogs von Oppeln
in Angriff genommen werden können, und die Aussichten darauf
hätten dann erheblich besser gestanden als in 1392. Die Tren-
nung Litauens von Polen hätte man erreichen können, wenn man
dem Statthalter den Weg nach Osten, die Möghchkeit der Er-
richtung eines großen griechisch-orthodoxen Slawenreiches gewiesen
hätte. Aber solcher Politik widersetzten sich die Anschauungen
und die Vorurteile der Zeit. Bei der Wahrung des
römisch-katho-
lischen Charakters des Litauerreiches sah der Statthalter auf die
Dauer aber sehr wohl ein, daß er ohne Polen nicht viel bedeuten
würde.

In 1412 wurde zu Liblo zwischen Ungarn und Polen Friede
geschlossen. Es ist bezeichnend, daß er von den einflußreichen
Magnaten der beiden Fürsten vorbereitet wurde. Es wurden in
diesem Vertrage auch die noch von der Regierungszeit Ludwigs
von Ungarn her datierenden ungarischen Ansprüche auf die rus-
sischen Provinzen, Podolien und die Lehnsherrschaft der Moldau

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geregelt, oder besser gesagt nicht geregelt, denn man schob die
Lösung der Frage in eine unsichere Zukunft hinaus.

König Sigismund wurde auch um einen Schiedsspruch in den
^eder gespannten Beziehungen zwischen Polen und dem Orden
angegangen. Der Spruch ist deshalb interessant, weil er für den
Fall, daß der Orden seine Entschädigungssume nicht zur Zeit
entrichten könnte, die Verpfändung der Neumark an Polen vor-
aussah. Er trug aber recht einseitig nur den polnischen Interes-
sen Rechnung; Sigismund war keineswegs ein uninteressierter
Richter; es handelte sich auch weniger um einen Schiedsspruch
als um Vermittlung. Beide Parteien sandten an Instruktionen
gebundene Prokuratoren und der Ordensmeister erklärte nach
dem Bekanntwerden des Spruches, sein Prokurator habe die Grenze
seiner Instruktion überschritten. Daß er doch den Spruch aner-
kannte, war auf seine bedrängte Lage zurückzuführen. Sigismund
dagegen hatte gehofft, aus seinem Schiedssprüche eine erkleck-
liche Summe Geldes zu schlagen; als seine Berechnungen aber
fehlschlugen, sah er sich gezwungen, dem Polenkönig die Zipser
Gespanschaft zu verpfänden.

Als Nachspiel jenes gemeinschaftlichen Kampfes gepn den
Orden wurde in 1413 zu H o r o d 1 o eine neue polnisch-litauische
Verbrüderung gefeiert. Es mag bei Witold der Wunsch bestim-
mend gewesen sein, sein Großfürstentum in der Entwicklung auf
die Höhe eines
europäischen Staates zu bringen und durch inni-
gere Anlehnung an Polen den in seinem Reiche
überwiegenden
griechisch-katholischen Bestandteilen das Gleichgewicht zu hal-
Dem Polenkönige schwebte der Traum eines mächtigen rö-
misch-katholischen Bollwerks, einer gewaltigen Grenzmacht im
Osten vor. So kam es zu jener einzigartigen Verbrüderung, zu
Jenem abendländisch-katholischen Ritterschlag im Großen, bei
dem litauische Bojaren in die polnischen Adelsbrüderschaften
adoptiert und den polnischen Adligen in Allem gleichgestellt

Wurden.

Diese Versammlung zu Horodlo hatte aber noch eine andere
große Bedeutung: es zeigte sich, daß der polnische Adel zu einer
besten, fast alle Rechte der Staatshoheit beanspruchenden Orga-
nisation herangewachsen war, denn es wurde bestimmt, daß „alle
Adeligen des polnischen Reiches und der Länder Litauens zum

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Vorteil und Nutzen des Reiches Convente und Parlamente, wann
immer es nötig sein sollte, in Lubhn oder Parczow, oder an einem
andern passenden Orte, unter Zustimmung und Einwilligung des
Fürsten abhalten werden.quot; Hiermit hatte der Parlamentarismus,
wenn auch noch in sehr primitiver Form, in Polen seinen Einzug
gehalten. Von hier aus konnte sich die polnische Staatsverfassung
unter günstigen Umständen zu einer wirklich demokratischen
entwickehi. Sie hatte aber bei der in Polen anders als im west-
lichen Europa gearteten Struktur der politisch maßgebenden
Faktoren, ihre eigenen Wege und ihre eigenen Schwierigkeiten.
Hier setzte sich nicht eine Ständevertretung durch, sondern ein
nicht weiter geghederter, äußerst zahlreicher dem Könige über-
legener Adel, der sich nur langsam zu mehr demokratischen,
brauchbarem Formen durchrang, während im westhchen Europa
im entscheidenden i8. Jahrhundert die normale Entwicklung vom
modernen Absolutismus durchbrochen worden war.

Es war auf jenem ersten Parlamente in Horodlo auch die Ka-
tholizität des polnischen Reiches hervorgehoben worden. Eine
nach Moskau gerichtete Orientierung des litauischen Großfürsten
wurde damit zur Unmöglichkeit; die Entscheidung war durch
seine Anwesenheit in Horodlo gefallen, aber auch einer der Keime
zu späteren Schwierigkeiten, durch die vollkommene Ausschal-
tung der griechischen Bevölkerung aus dem politischen Leben,
geschaffen worden. Einer Verschelzung der lose zusammengefügten
Völkerschaften mußte der Umstand im Wege stehen.

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SIEBENTES KAPITEL.

I^IE FEUERPROBE DER UNION. DER KAMPF GEGEN DIE
VORHERRSCHAFT DER MAGNATEN.

Die erste praktische Folge der Verbrüderung zu Horodlo war
erneuter gemeinsarner (zwar ganz erfolgloser) Krieg gegen den
^den, in welchem Städte, Landesadel und Geistlichkeit in Preußen
em Orden fest zur Seite standen, eine Folge davon, daß man ihren
gründeten Wünschen in entsprechender Weise entgegengekom-
men War. Die Polen verlangten offen Pommerellen, Kulm und
elau, das Nessauer Gebiet bis an die Küddow, in der Neu-
hiark Driesen, Dragheim und Santok und den Verzicht auf Samo-
^tien und Sudauen. Der Orden bot im kritischsten Augenbhcke
le Abtretung von Kuhn, Michelau und Nessau, doch die Polen
Wollten mehr und kämpften weiter. Der erwünschte Erfolg in
lesem „Hungerkriegequot; von 1414 blieb aber aus, man mußte einen
affenstillstand, der verschiedentlich verlängert wurde, schließen
ne überhaupt etwas gewonnen zu haben.

Nur Witold hatte in anderer Hinsicht Erfolg: Samogitien war
ekehrt worden und Pskow und Nowgorod hatte man auf ver-
söhnlichem Wege in den litauischen Kreis einbezogen. Ferner
^aren die litauischen Schismatiker durch die Errichtung einer
etropolitie in Kiew kirchlich von Moskau abgespaltet worden,
Was politisch von großer Bedeutung werden konnte. Eine Kirchen-
^n mit der römischen Kurie kam aber nicht zustande.

le Streitfrage mit dem Orden wurde inzwischen dem Con-
anzer Konzil zur Entscheidung übertragen. So gewann man Zeit,
I Erfolg aber erwartete man nicht. Der Orden faßte das Konzil
einen formellen Gerichtshof auf und betrieb seine Verteidigung
^anz in (jgj. altbekannten privatrechtlichen Weise. Die Polen aber
Warfen neue, ganz anders geartete Fragen auf, die nicht mehr nach
lenen einfachen Rechtsgrundsätzen zu lösen waren. Hat der Orden
^eh Daseinsberechtigung, so fragte man. Ist die Bekehrung der
eiden mit Gewalt oder mit Milde zu betreiben? Und sind nicht
e letzten Heidenreste, die Samogitier, schon bekehrt? Ist mit dem

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Erscheinen Jesu Christi auf Erden der allgemeine Besitzstand etwa
so verändert worden, daß seinen Bekennem Alles — den Uebrigen
nichts gehörig und zu eigen wäre? Da entstanden Zweifel; das
ganze, diirch die Jahrhunderte als selbstverständlich anerkannte,
gewalttätige Bekehrungswerk der Kirche wurde in Frage
gestellt.
Man wußte auf solche Fragen keine Antwort zu finden; die Streit-
frage blieb unentschieden, das Konzü konnte keine Lösung finden;
es fiel kein Schiedsspruch. Auch der neu erwählte Papst entschied
späterhin nicht über die Kernfrage.

Den Polen bereiteten Tatareneinfälle und die drohende Türken-
gefahr neue Schwierigkeiten, die der Hochmeister auszunützen
gedachte. Man beschloß zu neuen, direkten Verhandlungen zwi-
schen den Parteien, die seitens des Ordens aber schroff abgebro-
chen wurden, als die Polen auf hohen Forderungen bestehen blie-
ben. Polnischerseits hingegen, schlug man in jenen Jahren in fol-
gerichtiger Entwicklung der dem Constanzer Konzil unterbrei-
teten Gedanken, vor, den Orden nunmehr nach Cypern zu verlegen.
Es wurde hiermit wieder die alte Frage nach dem Daseinsgrund
des Ordens aufgeworfen; die Lage wurde für diesen bedenklich.

Zwei Jahre später, in 1418, verstand man sich noch einmal zu
direkten Unterhandlungen. Die Polen forderten die Abtretung von
Kulm, Michelau und Nessau, während der Orden die Anerkennung
der durch den Thorner Frieden geschaffenen Lage verlangte; nur
auf dieser Grundlage wolle er sich auf ein Schiedsgericht einlassen.
Die Polen erklärten aber offen, daß sie gerade diesen Thorner Frie-
den nicht anerkannten und daß es sich hier nur um eine „Ver-
richtungquot;, d.h. eine neue freie Vereinbarung, handeln könne,
nicht aber um eine „Geschidigkeitquot;, eine richterliche Entscheidung.
Der Orden gab hierauf in einigem nach, wollte auf Samogitien mit
„bequemen Grenzenquot; und auf einige strittige Orte verzichten, be-
stand aber hinsichtlich der andern Fragen auf einem Schiedsge-
richt. Daraufhin wollten es die Polen doch lieber auf einen Spruch
des römischen Königs ankommen lassen, nicht auf einen neuen
päpstHchen, da „beim Papst Prozesse binnen zwanzig und dreißig
Jahren nicht zu Ende kämenquot;. Aber der Orden wollte nicht und
man schied wieder verdrossen voneinander. Als ein neuer Krieg
drohte, verstand sich der Orden schließlich doch dazu, sich einem
Schiedssprüche König Sigismunds zu unterwerfen.

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Der römische König war dem Orden gut gesinnt, da dieser sich
zur »Lehnsnahme vom Reichquot; bereit erklärte, und der Gedanke
er
Reichseinheit lag dem Könige sehr am Herzen, All seine Interes-
sen als Reichsoberhaupt lagen in der Erhaltung des Ordens; das
^^te seinen Schiedsspruch beeinflussen. Wieder spielte die Frage,
es sich um eine „Verrichtungquot;, das heißt in diesem Falle
um
Vermittlung,
oder um eine „Geschidigkeitquot;, also einen Schieds-
spruch handele, eine Rolle. Die Polen selbst machten dem König
le
Entscheidung hierüber leicht: sie versuchten ihre Ansprüche
auf ein formelles Recht zurückzuführen. Da griff auch er in seinem
Pniche auf rein formelle Umstände zurück und erklärte die durch
en Friedensvertrag von 1343 und den Thorner Frieden von 1411
geschaffene Grundlage als entscheidend. Den Polen wurden nur
ganz nebensächhche Punkte zugewiesen. Das hatten sie nicht
ge-
Wpllt; sie fügten sich dem Spruch, um sich beim ersten Anlasse
Wieder von ihm zu befreien. Bedeutungsvoll ist Witolds Entgeg-
nung auf die Anerkennung der Anwartschaft des Ordens auf Sa-
njogitien, wie es der Thorner Friede voraussah: Samogitien
ihm
absprechen, meinte er, hieße ihm Litauen nehmen, denn beide
^eien ein und dasselbe, hätten eine gleichartige Bevölkerung, eine
gleichartige Sprache; die Bewohner beider Länden seien Litauer,
gäbe da keine natürliche Grenze, und alle Unterscheidung sei
Wider die Geschichte und willkürlichquot;. Aber solche Redeweise
n^^hte auf den Richter keinen Eindruck.

Es War nur eine neue, längere Waffenruhe zwischen den Par-
tien eingetreten, denn eine andere Bedeutung hatte der Schieds-
spruch nicht.

Inzwischen wurden neue Pläne geschmiedet; für den Fall, daß
Jagiello ohne männliche Nachkommen stürbe, solle seine Tochter
^nd
somit der ihr verlobte zweite Sohn des brandenburgischen
nrfürsten nachfolgen: so wurde in 1421 mit dem Brandenburger
Vertraglich vereinbart. Zugleich wurde aber auch zwischen ihm
^nd dem polnischen Könige ein Bündnis gegen den Orden geschlos-
sen: man wollte gemeinsam diejenigen Gebiete des Ordens erobern,
auf die einer der beiden Fürsten Anspruch machte, und alles was
jnan mehr gewinnen
würde,\'nach Maßgabe der gesteUten Heeres-
ontingente verteUen. Es wurden in jener Zeit mehrere solcher
eilungsverträge betreffs des Ordens geschlossen, von denen kei-

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ner praktischen Wert erlangte. Auch der genannte Erbvertrag
trat nicht in Wirkung, denn Jagiello wurden später aus vierter
Ehe noch Söhne geboren. Jedenfalls aber waren solche Verein-
barungen nicht recht in Einklang mit den seit 1401 oft
erneuerten
polnisch-litauischen Abmachungen über die Nachfolge in beiden
Reichen. Aber auch Witold handelte zum mindesten gegen den
Geist jener Unionsbestimmungen; denn als ihm während der Hus-
sitenwirren die böhmische Krone, die Wladislaw Jagiello in 1420
ausgeschlagen hatte, angetragen wurde, lehnte er nicht unbe-
dingt ab, sondern wies einen Statthalter an. In jenen Beziehungen
Witolds zu den Hussiten spielte die Verwandtschaft der hussi-
tischen Lehre mit dem griechischen Dogma, der Gedanke an eine
Kirchenunion und an eine Ausdehnung des litauischen Machts-
bereiches über jene kirchlich sich verwandt fühlenden Völker eine
RoUe. Zur Verwirklichung dieser Gedanken kam es aber auf die
Dauer nicht.

Inzwischen wurde der Streit mit dem Orden zur Abwechslung
wieder einmal vor den Papst gebracht. Der Papst war diesem plo-
nischen Vorschlage sehr gewogen, denn durch die Anerkennung der
Kompetenz König Sigismunds in 1419 hatte der Orden angefan-
gen, sich der unmittelbaren Abhängigkeit vom Heiligen Stuhl zu
entziehen und sich ganz der weltlichen Macht zu unterwerfen. Es
konnte dem Papste nur lieb sein, wenn der erste Erfolg jener welt-
lichen Macht, der Schiedsspruch des römischen Königs, ange-
fochten und von seiner Wirkung beraubt wurde. Man griff folge-
richtig auf den letzten unmittelbar von der Kurie ausgegangenen

Akt.....die Entscheidung päpstlicher Bevollmächtigter aus dem

Jahre 1339, also noch über den entscheidenden Kalischer Frieden
hinaus zurück. Diese hatte die polnischen Ansprüche auf Pommerel-
len, Kulm und Michelau, nebst dem Anrechte auf eine bedeu-
tende Entschädigung anerkannt. Bald aber band man in Rom
doch etwas ein und anerkannte als „mitbestiimnende Grundlagequot;
auch den Schiedsspruch Sigismunds, um den römischen König
nicht
zu sehr zu reizen. Auch sollte es sich nur um eine Vermittlung
handeln, nicht um einen Schiedsspruch, wenn auch über
gesonderte
Fragen und den Gesamtkonflikt Gutachten der Doktorenkolle-
gien von Florenz und Siena, sowie anderer, nahmhafter Rechts-
gelehrter gefordert wurden; diese sollten aber der Vermittlung nur

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zur Unterlage dienen. In Rom riet man dem Orden sogar, falls er
Sich zur Verteidigung seines Landes zu schwach fühle, lieber Pom-
Merellen abzutreten, da man wenig Hoffnung auf Erfolg habe,
\'-^iter dem Einflüsse Sigismunds erhob der Orden Widerspruch
gegen die an Ort und Stelle vorgenommene Beweisaufnahme des
papstlichen Nuntius und ehe diese Fragen noch erledigt waren,
räch schon wieder ein neuer Krieg aus.

Diesem Golub\'schen Kriege ging ein bedeutsames Ereignis vo-
raus. Ehe man ins feindliche Land fiel, wurde in 1422 im Feld-
ger ein Reichstag abgehalten, auf dem man vom Könige die
eseitigung einer Reihe von Mißständen verlangte, die die Wäh-
^^ng des polnischen Geldes gefährdeten, Rechtsunsicherheit
hufej^ und Dezentralisation zur Folge hatten. Es war eine
eihe durchaus berechtigter und der Allgemeinheit zu gute kom-
mender Forderungen schon recht demokratischen Charakters. Sie
J^chteten sich hauptsächlich gegen Mißstände, die nach dem Tode
asimirs des Großen eingerissen waren, gegen allerlei Willkür
Seitens der Mächtigen, in einflußreichen Aemtern Sitzenden. Nur
aß sie in diesem Augenblicke vorgebracht wurden, war bedenk-
eh.
Vielleicht sah man aber keinen andern Ausweg. Daß es dem
Adel an aufbauender politischer Einsicht gefehlt hat, daß er die
icherheit des Landes durch die „Ausnutzung der Situationquot; ge-
erdet hat, kann hieraus wohl nicht gefolgert werden. Denn
einerseits zeigte er sich in den kommenden Jahren in militäri-
schen Fragen recht opferwillig, andererseits arbeitete man trotz
er bewegten Zeiten an der Rechtsvereinheitlichung im Sinne
^ asimirs des Großen weiter; in 1423 kam das\' hierauf bezüghche
atut von Warta zustande: „ein eindringlicher Beweis für die
staatliche Bildungskraft und Rührigkeitquot;.

Der Golub\'sche Krieg aber verlief trotz der großen Vorbereitungen
^enig rühmlich. Die Eroberung der festen Plätze machte viel zu
chaffen und man sah sich bald gezwungen, Frieden zu schließen,
er Orden trat nur Samogitien und Sudauen in bestimmten Greu-
th bedingungslos ab, sowie das Gebiet von Nessau, nebst einigen
Dörfern.

. ^n 1424 wurde dem 76-j ährigen Jagiello wider Erwarten noch
Sohn geboren, dem bald
ein zweiter folgte. Hierdurch wurden
Manche Abmachungen und
Spekulationen abgeschnitten; auch wur-

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de die Position Polens, bei den immerhin für die Union bedroh-
lichen böhmisch-litauischen Beziehungen, wesentlich gestärkt. Es
entsponnen sich nur vier Jahre lang dauernde Schwierigkeiten
über die Bedingungen, unter welchen des Königs Sohn einmal
nachfolgen sollte. Schließlich setzte der Reichstag seine Forder-
ungen durch: neben den alten Privilegien ,die zu bestätigen waren,
sollten fortan auch die geistlichen Würden dem Adel vorbehalten
bleiben; das bedeutete auf die Dauer, daß Adel und Geistlichkeit
in politischer Hinsicht zu einem einzigen Faktor verwuchsen und
die Stellung des Adels noch überwiegender wurde. Keine Aemter
durften fürderhin aufgehoben werden; das mußte auf die Dauer
den Verwaltungskörper lähmen und versteinern. Die Entschädi-
gung für den Kriegsdienst war in Zukunft im Voraus zu bezahlen;
das mußte jede schnelle und erfolgreiche Kriegsführung beein-
flussen. Ferner wurde der Gedanke der Habeas Corpus Act finer-
kannt und war die Rechtseinheit energisch durchzuführen. Es
sind dies die wichtigsten Bestimmungen; wieder tritt merkwürdig
zutage, wie aufbauende und die Staatsmaschine gefährdende
Neuerungen ineinander verflochten wurden. Der Reichstag war
zum entscheidenden politischen Faktor im Lande geworden. Von
den Städten war je länger je weniger die Rede; sie stützten den
König gegen den Reichstag, denn jede Vermehrung von dessen
Einfluß mußte den ihrigen zurückdrängen, — aber ohne Erfolg.

In diesen Jahren trat auch erneut die Frage hervor, ob der
Schwerpunkt des Reiches in Wilno oder in Krakau liegen sollte.
Die Lage wurde dadurch schwierig, daß Witold, vermutlich mit
auf Anregung des ungarischen Königs, eine Königskrone begehrte:
die Erfüllung dieses Wunsches konnte die Existenz der Union
gefährden. Da wurde durch den Tod Witolds die einfachste Lösung
gebracht.

Mit Witold war aber auch einer der größten Politiker, die das
polnische Reich je gekannt hat, dahingegangen und auch war
durch seinen Tod der letzte Faktor weggefallen, der dem in Polen
allmächtigen Reichstage gewachsen gewesen war. Neben diesem
Reichstage bestand jetzt keine Macht mehr; der König war zu
alt und zu schwach, er war immer zu schwach gewesen. Aus dem
Reichstage aber war die Kanzlei, die Spitze der Beamtenschaft
hervorgegangen, die bald zu einer festen Institution, zum „Senatequot;,

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der Exekutivgewalt im Staate wurde; so hatte der Adel im Grunde
aües. Da andererseits aber die Berechtigung zur Teilnahme am
eichstage nach unten hin nicht begrenzt war, also jeder Adlige
ihm teilnehmen konnte, dazu aber auch wiederum nicht ver-
pflichtet war, beteihgten sich an den Reichstagen diejenigen, die
em augenblickliches Interesse daran hatten; so wurde oligarchischen
tromungen der Weg bereitet und es handelte sich im 15. und 16.
Jahrhundert immer darum, diese Strömungen zurückzudrängen.

Witold hatte Litauen zum Königreich machen wollen um es
a s gleichwertigen Teil neben Polen zu heben, hauptsächUch aber
nm ein selbständiges Zentrum zur Sammlung und Konsolidierung
fr griechisch-orthodoxen Landesteile zu schaffen. Litauen wäre so
griechisch-orthodoxes Reich geworden, denn es bestand haupt-
achlich aus von Schismatikern bevölkerten Landesteilen. Der Plan
ar aber nicht gelungen, obgleich der Gedanke großartiger Natur
ar, und so wurde Moskau der Weg geebnet, das am Ende des
Jahrhunderts zum religiösen Mittelpunkt wurde.
^Es trat aber folgerichtig nach Witolds Tod noch ein anderer
^^stand hervor: Polen war überzeugt römisch-katholisch und die
ehismatiker im polnisch-litauischen Reiche politisch rechtlos,
olen wollte das ganze Reich der Religionseinheit zuführen, aber
as gelang nicht mehr; foglich kam es zu Religionskriegen. Denn
späteren Kriege nach Osten hin, auch alle litauischen Erhe-
nugen und Wirren, waren dies im Grunde. Der Streit mit dem
^rden war im Großen und Ganzen schon ausgetragen, es war
Kampf mehr lun die Existenz, wie früher. Der Schwerpunkt
er Politik richtete sich jetzt nach Osten, da fingen allmähhch
^^e neuen Kämpfe um die Existenz an: um den Fortbestand^ der
mon erst, dann um die Behauptung der Reichsgrenzen.
Der polnisch-litauische Gegensatz trat gleich nach dem Tode
Uolds zutage. Die Litauer wählten sich Swidrigiello, einen Bru-
Jagiellos zum Großfürsten; man handelte in offenem Wider-
Pruch mit den Unionsvereinbarungen, nach welchen solche Fra-
gemeinschafthch zu entscheiden waren. Gleich kam es auch
u kriegerischen Zusammenstößen: der Einsatz wurde Podolien und
^ olhynien, das Beide, Polen und Litauen, begehrten und über des-
.en Zugehörigkeit zum einen oder andern Reichsteil man sich
^nier noch nicht geeinigt hatte. Außerdem ließ sich noch der

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Orden verleiten, in diesen Krieg zugunsten Litauens einzugreifen-

Zu diesen Besitz- und Machtfragen gesellte sich bald der reh\'
giöse Gegensatz: es wurde ein Religionskrieg und Swidrigiello der
„Beschützer des griechischen Glaubensquot;. Im Norden beerte der
Orden, im Südosten fiel keine entscheidende Schlacht, da
schloß
man mit dem Orden einen Waffenstillstand. Dann ging man auf
dem Reichstage von 1433 zur formellen Einverleibung der „rus-
sischen Provinzenquot; in Polen über; die Frage wurde endlich ein*
seitig entschieden: die Litauer wurden vor ein fait accompli g®\'
stellt, das sie unter bald veränderten Machtverhältnissen nur aner-
kennen konnten.

In Litauen wurde nämlich Swidrigiello wenige Zeit später gan2
zurückgedrängt; ein Bruder Witolds, Sigmund, hatte die
römisch-
katholischen Elemente um sich versammelt und im Einverneh-
men mit den Polen die Macht an sich gerissen, und beherrschte bald
als Herr in Wilno die Lage. Er wurde für die Zeit seines Lebend
zum litauischen Großfürsten eingesetzt und anerkannte die EiO\'
Verleihung der russischen Provinzen in Polen. Von der in Horodlo
geplanten Koordination wurde so eine Subordination Litauens-
Um aber neuen Insurrektionen vorzubeugen, stellte man die
orthodoxen Bojaren der inkorporierten „russischen Landesteile\'
den römischkatholischen gleich.

Man konnte nun an einen Rache- und Verheerungskrieg gegen
den Orden gehen, den die Kurie vergeblich zu vermeiden
suchte-
Der Krieg, mit dem das Brechen des letzten Widerstandes seitens
Swidrigiellos zusammenfiel (obgleich damit noch keineswegs im
Lande endgültige Ruhe eintrat), war in territorialer
Hinsicht
vollkommen ergebnislos. Ende 1433 wurde ein zwölfjähriger Bei-
friede geschlossen, bei dem der Orden gelobte, sich nicht mehr in
die litauischen Angelegenheiten einzumischen.

In 1434 starb Wladislaw Jagiello 86-j ährig. Nach Streitigkeiten
über die Regentschaft wurde dem ältesten seiner minderjährigen
Söhne, Wladislaw III., gehuldigt. Hatte schon während der letzten
Regierungszeit des altersschwachen Königs die als die Verdich-
tung des Adels anzusehende Magnatenklasse die Regierungsge-
schäfte entscheidend beeinflußt, so war\'sie keineswegs gewillt die-
sen Einfluß während der Regentschaft aufzugeben. Daß ihre po-
litischen Leistungen in jener Zeit bedeutend waren, bezeugt einer-

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seits, daß es ihr in jenen Tagen noch keineswegs an poUtischer
Einsicht fehlte, erklärt sich aber andererseits daraus, daß sie von
hervorragenden Männern, wie dem Krakauer Bischof Zbigniew
Olesnicki, geführt wurde.

In 1435 schloß man zu Bresc ohne Vermittlung dritter Mächte
Mit dem Orden Frieden, zu dem die Landritterschaft und die
Städte im Ordenslande den Hochmeister trieben, da sie dessen
InterventionspoUtik in Litauen müde waren und widrigenfalls (der
Umstand ist bezeichnend für spätere Ereignisse) mit Abfall drohten.
Es war der erste unmittelbar zwischen Polen und dem Orden ge-
schlossene Friede und zeigt, wie der Orden von einer Institution
europäischer Bedeutung zu einem bedeutungslosen, im Grunde
schon weltüchen Staate herabgesunken war: weder Papst noch
Kaiser wurden in die Unterhandlungen bezogen. Formell wurde
hier zum ersten Mal vom Orden das durch die Tannenberger
Schlacht geschaffene Verhältnis anerkannt.

Ini Innern wurde in jenen Jahren ein heftiger Kampf gegen den
allzu großen Einfluß der Geistlichkeit geführt, den man zugunsten
des Adels zu schmälern bestrebt war, während sich in diesen Kampf
auch schon Rivalitäten mächtiger
Magnatengeschlechter mischten,
jene Neigung zu Parteiungen, die in späteren Jahrhunderten
so
stark und lähmend hervortrat.

In 1437 starb Kaiser Sigismund. Wieder wurde böhmischer-
^eits (denn das Verhältnis Böhmens zu Ungarn war seit
dem Aus-
brechen der Hussitenwirren und jenem ersten Antrag der böh-
Mischen Krone an den polnischen König in 1420 noch nicht ge-
regelt worden) mit dem Polenkönige über die Krone Böhmens
Verhandelt. Außer der böhmisch-polnischen Affinität konnte der
Umstand, daß eine Anhäufung der österreichisch-ungarisch-böhmi-
schen Länder in Händen von Kaiser Sigismunds Erben, bei dem
inimer noch nicht ausgeglichenen polnisch-ungarischen Gegensatz
hinsichtlich der Zugehörigkeit Podoliens, Rotrußlands und der
Moldau zu Polen oder Ungarn, bedenklich werden konnte, eine pol-
nisch-böhmische Personalunion den Polen wünschenswert erscheinen
lassen. Eine Unterstützung des hussitischen Böhmens und die daraus
dem eignen Lande entstehende Gefahr wollte man aber heber vermei-
den, und entschied sich deshalb, „da der König nicht außer Landes
Wohnen durftequot;, des Königs jüngeren Bruder, Kasimir sich be«

8

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werben zu lassen. Durch gleichzeitige Tatareneinfälle und durch
entschiedenen Widerstand in Polen selbst zerschlugen sich aber
diese Aussichten. Kaiser Sigismunds Nachfolger, Ladislaus Postu-
mus setzte sich in Böhmen durch.

Eine gleiche Neigung zur Personalunion mit Polen bestand
auch in Ungarn. Die Kultur und die Verfassung des Landes war
der polnischen in hohem Maße verwandt, war ihr sogar öfters zum
Vorbilde geworden. In beiden Ländern bestand eine gleiche Ab-
neigung gegen die sich allerorten breitmachenden Deutschen
und
diese Antipathie war zur Zeit in Ungarn in dem Maße angewachsen,
daß man die „deutschequot; Dynastie (die schon seit langem in
Wahrheit
gar keine „deutschequot; mehr war) für alle Mißstände im Lande ver-
antwortlich machte und sein Heil in einer Personalunion mit Polen
suchte, welche in 1440 zustande kam, auch unter dem Drange der
Türkengefahr, gegen die man bei den nördlichen Nachbarn als bei
dem Schilde der Christenheit Schutz suchte. Auch diese neue pol-
nisch-ungarische Union, wie natürhch sie auch erschien und war,
wurde durch die Entwicklung der Dinge Polen zum Verhängnis.

Man begann energisch den Kampf gegen die Türken (Hilfe war
von vielen Seiten versprochen worden, aber kam nicht) und schloß
mit ihnen in 1444 einen für Ungarn äußerst günstigen Frieden:
die Türken verstanden sich dazu, weil sie auch anderweitig mili-
tärisch in Anspruch genommen waren. Da ließ sich aber der junge
Polenkönig durch Anspomung seitens kirchlicher Kreise und durch
das Versprechen bedeutender Hilfsheere anderer Christenfürs-
ten verleiten, trotz des Friedens, abermals loszuschlagen. Bei
Warna wurde sein Heer noch im selben Jahre vernichtend geschla-
gen, er selbst fand in der Schlacht den Tod und alle Errungen-
schaften gingen wieder verloren.

In Polen war während der Abwesenheit des Königs die Zucht
verschlafft und der Krieg hatte das Aerar des Königs, auf den
alle finanziellen Lasten solcher Unternehmungen durch früher er-
teilte Privilegien abgewälzt worden waren, gewaltig in Anspruch
genommen. Es kam dazu, daß in der übermütigen Siegesstimmung
und durch die Freigebigkeit des jungen sorgenlosen Königs in unver-
antwortlicher Weise Krondomänen verpfändet und Einkünfte
verschleudert worden waren. Die finanzielle Macht des Königtums
war durch den Türkenkrieg ganz beträchtlich geschwächt worden;

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das mußte fürderhin seine Bewegungsfreiheit in außenpoKtischen
ntemehmungen erheblich beeinträchtigen. Nur einen Gewinn
hatte jene Zeit gebracht: die Türkengefahr hatte die ganze christ-
iche Welt in Bewegung gebracht und wieder war die Kirchemumion
em aktuelles\' Problem geworden. Sie wurde auch auf dem Floren-
tiner Konzil, zum mindesten dem Scheine nach, zustande gebracht,
^gelegentlich dieser Union, der die Kiewsche Metropohtie zutrat,
atte König Wladislaw die griechische Kirche in den Ländern der
polnischen Krone (Litauen wurde in der Urkunde nicht erwähnt)
er katholischen rechthch völlig gleichgestellt. Das konnte im
aufe der Zeit einen günstigen Einfluß haben.

^er litauische Großfürst Sigmund war seines allzu schroffen Vor-
gehens Utauischen Bojaren gegenüber und seiner Begünstigung
Bauern wegen in 1440 durch eine Verschwörung aus dem
ege geräumt worden. Nach seinem Tode hatte man nach einiger
neinigkeit den jüngeren Bruder des Polenkönigs Kasimir, zum
Großfürsten erwählt, und darein hatte man polnischerseits zuge-
^mimt, man war ja in Ungarn beschäftigt; sonst hätte man die
Bereinigung beider Würden in Händen des Königs vielleicht Ueber
gesehen. JedenfaUs aber weigerte man sich Kasimir als Groß-
^sten formeU anzuerkennen, ynd damit trat wieder zutage, daß
Je
Union doch vieles zu wünschen übrig ließ. Dies zeigte sich
fetlicher, als nach dem Tode Wladislaw HL Kasimir zum pol-
nischen Könige gewählt werden soUte.

I^olnischerseits war man auf Kasimir wohl angewiesen, wenn
^an die Union erhalten woUte; übrigens hatte man doch schon zu
ebzeiten Wladislaw JagieUos die Nachfolge der beiden Söhne prin-
^Piell anerkannt. Aber ütauischerseits wollte man vollkommene
^«Ordination der beiden Reiche und nicht die in 1433 geschaffene
^yhordination Litauens; man forderte Podolien und Teile Wolhy-
niens für Litauen zurück: wieder wurde der Gegensatz, wie schon
Jüher, in Territorialforderungen ausgedrückt. Die Lösung wurde
Jahre lang hingezogen. Schließlich entschieden sich Polen
nnd Litauer, die Frage der russischen Provinzen als noch unent-
^ehieden zu betrachten: das brachte der Lösung näher. Als die
Stauer dann noch von ihrem Großfürsten die Bewilligung eines
tatuts zu erreichen wußten, konnte seine Krönung zum polnischen

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Könige folgen. Jenes Statut von 1447 regelte die Verhältnisse in
Litauen auf eine den polnischen ähnliche Weise und bedeutete im
Grunde völlige Gleichstellung der beiden Reichsteile. Es
wurde
aber auch stipuliert, daß die Länder des Großherzogtums nicht
vermindert werden sollten; Kasimir versprach vielmehr, daß er
„sie in ihren Grenzen, wie sie die Vorgänger und besonders sein
Oheim Witold gehabt hat, unverletzt und unversehrt
erhalten,
verteidigen und mit Gottes Hilfe und allen seinen Kräften zu er-
weitern suchen werde.quot; Das bedeutete Podolien und Wolhy-
nien für Litauen. Ueberdies sollten alle „Ausländerquot; von
Besit-
zungen oder Aemtem in Litauen ausgeschlossen sein: das war
auf die polnische Kolonisation gemünzt. Recht nach „Unionquot;
sahen solche Bestimmungen nicht aus.

Es folgte nun, nach der Krönung Kasimirs auch zum polnischen
Könige ein Streit um die russischen Provinzen, Die Polen wollten
sie nicht abtreten, der König dagegen weigerte zum Teil aus die-
sem Grunde, dem Adel seine Privilegien zu bestätigen. Man einigte
sich nach vieler Mühe schließlich dahin, daß der König dieselben
doch bestätigte, die Polen dagegen sich dazu verstanden Podo-
lien an Litauen abzutreten; Wolhynien blieb in polnischen Händen-
Polnischerseits wurde bei diesen Verhandlungen der Vorschlag
gemacht, die Länder Litauens als autonome Landesteile, so wie
es im Grunde auch die polnischen Landschaften waren, dem
Reiche
einzugliedern, den Begriff Litauen ganz aufzuheben und die Streit-
frage um Podolien und Wolh5mien so auch aus dem Wege zu räu-
men. Aber das ging den Litauern zu nahe an die „Ehrequot;
Faktisch
blieb Podolien noch lange in polnischer Macht; den „theoretischen\'
Lösungen war auch nur ein recht geringer Wert beizumessen,
irgendwie endgültig wurde die Frage hier nicht gelöst. Ueberhaupt
entschied das Faktische überwiegend im polnisch-Htauischen Ver-
hältnisse. Verschleppung, Hinausschieben prinzipieller Auseinan-
dersetzungen, auflodernder Selbständigkeitsdrang und dessen Nie-
derdrückung, fortschreitende Gleichstellung und erneute Unions-
bezeugungen, das waren die Elemente, die einander in bunter

^ Wieviel Kontinuität in solchen Verhältnissen liegt, wie wenig sich in maPquot;
eher Hinsicht verändert, oder anders gesagt, wie „modernquot; jene Vorschlägt
waren, zeigt der Umstand, daß noch vor kaum zwei Jahren ein ähnliche\'quot;
Vorschlag zu Beilegung des Wilnaer Konfliktes gemacht wurde.

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^eüie ablösten. Alles hing von vielerlei Umständen und Voraus-
^tzungen ab, das Verhältnis war schwankend und ungewiß;

olen lag in der Regel mehr an der Wahrung der Union als Litauen,
aber dieses Heß den Gegensatz doch nie bis zum unheilbaren Bruche
kommen. Eine völlige Sprengung der Union hätte vermutlich unab-
sehbare Kriege zwischen beiden Teilen bedeutet und das lag in
niemands Interesse.

In jenen Jahren trat ein Ereignis ein, das durch eine im Grunde
zufällige Entwicklung der Dinge hervorgerufen wurde und schwer-
wiegende Folgen hatte. Als der Ordensstaat seit dem Anfange des
5-
Jahrhunderts je länger je mehr zu einem weltlichen Gebilde
^rde, trat auch ein innerer Gegensatz zutage, der schon im Kriege
^on 1410 eine Rolle spielte. Es war der Kampf um politische Gleich-
erechtigung neuer, bedeutender Faktoren im Lande; allmählich
. e er in erster Linie ein Gegensatz zwischen Städten und Landes-
regierung. Diese Auflehnung der Städte, die in jener Zeit aller-
°rten hervortritt, beruhte zum Teile auf berechtigt scheinenden
^Sprüchen, zum Teile aber auf städtischem Uebermut und Ex-
Pansionsdrang, der recht wenig Einsicht in die Forderungen einer
Organischen Eingliederung in das Ganze zeigte. In jenem ganz
\'^verstaatlichen Konflikte war es um 1440 zu einem preußischen
unde gekommen, in dem sich Städte, Landadel und Weltgeist-
lehkeit nach dem Vorbilde der polnischen Konföderationen ge-
die Ordensregierung zusammenschlössen. Diese machte den
egensatz zu einer internationalen Frage, indem sie den Kaiser um
ue
Entscheidung anging. Als nun aber diese kaiserliche Ent-
e eidung zu ungunsten der Städte ausfiel, schritt man zur lange
Angehaltenen kriegerischen Auseinandersetzung und in wenigen
ochen war, bis auf einige feste Plätze, das Land in Händen der
. adte. Der normale Verlauf wäre nun gewesen, daß man zu einey
^rpndwie demokratischen oder ständischen Staatsform gekommen
^are. Aber die Dinge entwickelten sich, als während der allgemei-
nen
Unsicherheit gewisse Elemente auf kurze Zeit die Führung an
J^eh
rissen, in anderer, unerwarteter Weise. Der Landadel hatte
^ . mit den Städten aufgelehnt, soweit waren die Interessen ge-
meinsam gewesen; als aber der Sieg errungen war, trennten sich
le Wege. Die Ritterschaft hatte nur die Macht der Ordensleute

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an sich bringen, ihre Rolle übernehmen wollen. Mit begehrlichen
Blicken hatte sie schon lange nach den Freiheiten der polnischen
Brüder gesehen, hatte diese auch gelegentHch für sich
selbst
schon beansprucht; und da ihr jetzt die Gelegenheit zur Erreichung
des Ideals, zur Festigung einer Vorherrschaft des Landadels auch
in Preußen, gegeben schien, wußte sie in der Verwirrung des
Augen-
blicks die Städte mit fortzureißen und trug, kurz entschlossen,
dem Polenkönige die Herrschaft über Preußen an.

Die Polen hatten sich während der preußischen Wirren durchaus
neutral verhalten und jede Einmischung abgelehnt; diesem Ange-
bote konnte man aber doch nicht widerstehen. Man griff zu
und
aus den unerwarteten Komplikationen entwickelte sich in 1454
ein neuer dreizehnjähriger Krieg mit dem Orden, der weitere ent-
scheidende Gebietsveränderungen brachte.

Der König verleibte das Preußenland dem polnischen Reiche
ein und nahm die Hiddigung entgegen. Der Papst, der das Ordens-
lands noch als geisthches Gut betrachtete, mahnte die Stände er-
folglos zur Rückkehr unter die Herrschaft des Ordens. Polnischer-
seits rüstete man sich, das Land, in dem neuer Widerstand
seitens
der Ordensleute sich sammelte, mit Kriegsgewalt zu unterwerfen.
Da trat gleich am Anfange dieses Kriegszuges wieder eines
jener
Ereignisse ein, die ein helles Streif licht auf die innerstaatliche
Entwicklung Polens werfen.

Zu Zirkwitz versagte der niedere Adel aus Großpolen und Ku-
jawien, der, wie schon früher kein anderes Mittel wußte seine Wün-
sche, die ihm berechtigt erschienen, durchzusetzen, dem Könige
die Heeresfolge, falls er nicht in gewisse Forderungen
einwilligte.
Diese Forderungen gingen darauf hinaus, den Einfluß des Mag-
natentums, das allmählich, unter Verdrängung des Kleinadels und
unter dem Einflüsse klerikaler Strömungen, die Leitung der Staats-
geschäfte an sich gerissen hatte, wieder zurückzudrängen, auch
andern wie nur kleinpolnischen Elementen (Krakau war ja das
Regierungszentrum) Zugang zu den wichtigsten Staatsämtern zu
verschaffen, den niederen Adel gegen Uebergriffe der Magnaten
zu beschützen und überhaupt den Schwerpunkt der Regierung wie-
der dorthin zu verlegen, wo er auch eigentlich „von Rechtswegenquot;
lag: nämlich beim ganzen Adel. Der bei diesen
Forderungen
hervortretende partikularistische Zug war eher eine Folge gewisser

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Entwicklungen als eine vorherrschende Tendenz, denn die in der
zten Zeit durchgeführte Zentralisation hatte, bei dem Mangel
an festen Rechtsgrundlagen, oft zu Willkür geführt. Der Bruch
zwischen Magnatentum und Kleinadel war schon eher deutlich
^tage getreten. Als man in 1453 zu Petrikau über die htauischen
orderungen verhandelte, hatte sich der Reichstag schon in zwei
amniern getrennt und der König war im Anfange seiner Regie-
^ng keineswegs gewillt, sich unbedingt den Gesichtspunkten der
agaten zu fügen. Wenn Magnatentum und Kleinadel koor-
niert und in einen Doppelkörper zusammengefaßt worden wären,
^te man sich auf die Dauer parlamentarischen Formen stark
genähert. Wären alle im Staate hervortretenden politischen Grup-
l^n gegeneinander ausgespielt worden, so wäre der Weg zum abso-
istischen Staat gebahnt gewesen. Aber der König wählte einen
andern Weg, er wollte zwischen den Gegensätzen vermitteln und
veränderte im Grunde faktisch nicht allzu viel.

bleich nach jenem Zirkwitzer Tag wurden die Polen bei Könitz
entscheidend geschlagen (1454); in Preußen erholte man sich durch
^esen Sieg in hohem Maße und gewann einen Teil der Aufständi-
schen wieder für die Sache des Ordens. Der Polenkönig rief erneut
as allgemeine Aufgebot zusammen und wieder forderte der Klein-
adel, diesmal des ganzen Landes, was in Zirkwitz gefordert worden
^ar; Zug leicher Zeit beschränkte man noch die Vorrechte der nie-
dren
Stände, hauptsächlich der Städte. Auch dieser erneute Kriegs-
^ng brachte keinen rechten Erfolg; der Gegensatz zwischen Mag-
na-tentum und Kleinadel mochte sein Teil daran haben und auch
ie
Litauer blieben den Kriegsverrichtungen durchaus fem. Da
man sich auf Verhandlungen. Obgleich sich der Orden in
großer
Not befand, gab man in Marienburg nicht nach; die Söldner
Verhandelten mit den Polen, weil der Orden den Sold nicht ent-
^^ehten konnte. Die Polen ihrerseits waren äußerst opferwillig:
Unerhörte Steuern wurden aufgebracht, in einem kritischen Augen-
hcke sogar ganz auf Kosten der großpolnischen Bevölkemng ein
Heer gerüstet, während der preußische Bund, hauptsächlich Dan-
^ig. nach Kräften half. In 1462 wurde eine entscheidende Schlacht
Zarnowitz geliefert, in 1466 der zweite Friede zu Thorn geschlos-
sen.
Pommerellen und die westlichen Randgebiete Ostpreußens

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wurden den Polen abgetreten, der Orden mußte die polnische Ober-
hoheit anerkennen und sich zur Heeresfolge verpflichten und
wurde von jetzt ab halb mit polnischen Herren besetzt; es wurde
sogar der alte Plan wieder aufgeworfen, den Orden ganz nach Po-
dolien zu verpflanzen. Das Bistum Ermland wurde vom Ordens-
lande abgetrennt und als weltliches Territorium der polnischen
Oberhoheit unterstellt. So wurde durch eine rein faktische Ent-
scheidung der zweihundertjährige Gegensatz zugunsten Polens ge-
löst; der Hochmeister war fortan nicht mehr ein deutscher, sondern
ein polnischer Reichsfürst. Interessant ist, daß die Polen bei den
langwierigen Friedensunterhandlungen, während sie doch militä-
risch im Augenblicke überlegen waren, dennoch ihre Ansprüche
auf die bekannten „historischen Rechtequot; und die Priorität ihrer
Herrschaft in Pommerellen gründeten. Als man polnischerseits
das Anrecht auf das Land mit der Besitzergreifung des legen-
darischen Königs Lech begründete, antworteten die Ordensleute
recht nüchtern, im Anfange sei die ganze Welt leer gewesen und
niemand könne wohl sagen, wer die streitigen Gebiete zuerst be-
völkert habe, und schlugen einen praktischen und ganz faktischen
Frieden auf Grund des uti possidetis vor. Es spricht daraus jeder-
falls die weit realere Auffassung, daß solche Konflikte nicht durch
eine ganz haltlose Beweisführung des „im Anfang war. . . .quot; ge-
löst und bestimmt werden, sondern durch eine Reihe recht vergäng-
licher, durchaus faktischer und durch Zeit und Umstände bedingter
Faktoren i.

Der Ordensstaat war gebrochen und ganz dem polnischen Kreise
eingefügt; dennoch blieb dem Rumpfe noch in solchem Maße eine
autonome Stellung, daß der Orden als Einheit, wenn auch in ganz
subordinierter Stellung, noch fortexistierte und ein Jahrhundert
später, unter ganz andern Verhältnissen und infolge einer neuen,
nicht vorherzusehenden Entwicklung, wieder anfing sich all-
mählich vom polnischen Staate loszulösen. Das ganze Stromgebiet
der Weichsel war jetzt polnisch geworden, Polen hatte den freien
Ausweg nach der Ostsee erworben und Danzig wurde für die wich-
tige, während des Krieges geleistete Hilfe reichlich mit Stapel-und

1 Wie tief solche Auffassungen aber gewurzelt sind und wie sehr sie der
Denkart des Menschen entsprechen, zeigt der Umstand, daß sie noch heute
allen Ernstes vorgetragen werden. Man vergleiche das sechzehnte Kapitel.

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Münzrecht, Selbstverwaltung und Besteuerungsbefugnis belohnt.

In den Jahren 1460—1462 wurden die Erblande der jüngeren
niasovischen Linie, die ausgestorben war, nach langen Auseinander-
setzungen mit andern „Erbberechtigtenquot; der Krone einverleibt,
während Teile dieser Lande faktisch von der altem masovischen
Linie in Besitz genommen wurden; endgültig wurde die Frage erst
in 1496 geregelt. Beiz, Rawa, Gostynin, Sochaczewo und Plock
Waren so als erledigte Herzogtümer auf Grund erbrechtlicher Ver-
hptnisse und nach zwar anfechtbarer Prozedur eingezogen und
die Einheit des Reiches um ein beträchtliches Stück gefördert worden.

In diese selben Jahrzehnte fallen lange Wirren und Kriege um
die böhmische und die ungarische Krone, die zum Teile durch
rbansprüche hervorgerufen wurden. Sie sollen hier der Kürze
alber übergangen werden, denn ein dauerndes Ergebnis brachten
Sie nicht, elensowenig als neue Gesichtspunkte, und auf die Ter-
ritorialgeschichte Polens haben sie keinen Einfluß gehabt. Es be-
traf lediglich die Versorgung jüngerer Söhne. Ueber drei Jahrzehnte
lang herrschte eine Linie der Jagelionen in Ungarn und Böhmen;

sie ausstarb, nach der Türkenschlacht bei Mohacz, traten die
Habsburger an ihre Stelle.

Während der letzten Jahrzehnte des 15. Jahrhunderts drangen
aber auch die Türken in Europa weiter vor und als der Polenkönig
^it den dynastischen Plänen in Ungarn und Böhmen beschäftigt
War, wußten sie die Donau- und Dniestrmündung an sich zu brin-
gen und den Wojewoden der Moldau, den Vasallen der polnischen
^rone, ihrer Botmäßigkeit zu unterwerfen. Damit war Polen
Völlig und endgültig vom Schwarzen Meere abgeschnitten. Zu glei-
eher Zeit erstand aber auch im Osten die bedrohhche Mosko-
witische Macht, die im 16. Jahrhundert zum gefährlichen Neben-
buhler wurde. Der Großfürst Iwan III. hatte Moskau von der Ta-
tarenherrschaft befreit und machte sich die Wiedervereinigung der
\'.russischen Gebietequot; zum Programm. Er hatte eine byzantinische
Prinzessin geheiratet und schon hier zeigte sich das fortan immer
stärker werdende Bestreben der Moskauer Großfürsten, sich zu
\'.Erben Byzantiumsquot; aufzuwerfen: die Herrschaft über die grie-
ehisch-orthodoxe Welt wurde der Traum Moskaus. Iwan trat für
die Interessen der griechischen Kirche in Litauen ein, versuchte
auch russische Fürsten im litauischen Reiche abtrünnig zu ma-

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chen und wußte Nowgorod und Pskow, die bis jetzt litauische Va-
sallen gewesen waren, unter seine Botmäßigkeit zu bringen. Der
Polenkönig tat nichts gegen diese bedenkliche Abbröckelung des
litauischen Einflusses; seine ganze politische Rührigkeit war auf
Polen, auf Ungarn und Böhmen gerichtet und die Gefahr lag ja
noch so weit.

In 1492 starb Kasimir IV. Nach seinem Tode kam wieder ein
Bruch in die Union: in Polen folgte sein Sohn Johann I. Albrecht
nach, in Litauen aber wählte man sich dessen Bruder Alexander.
Das verstieß wieder gegen die Unionsvereinbarungen und über-
dies war es bedenklich wegen der Gefahren im Osten, aber man
wollte eben vollkommen gleichberechtigt sein und nicht den pol-
nischen Interessen aufgeopfert werden; dieser Wunsch bestimmte
das Verhalten.

Der neue Polenkönig unternahm in 1497 quot;einen Zug gegen die
Türken, um die verlorenen Gebiete im Schwarzen Meer zurück-
zugewinnen; durch den Verrat des Hospodars der Moldau en-
dete der Kriegszug aber mit einer vollkommenen Niederlage. Auch
der wiedererwachte Gedanke, den Orden nach Podolien zu ver-
pflanzen, rief nur bei diesem Widerstand hervor; die Opposition
wuchs in dem Maße, daß man dem Polenkönige bei einem Hoch-
meisterwechsel den Lehnseid weigerte.

Zu gleicher Zeit ging man auf dem Wege des Zurückdrängens
des Magnatentums einen Schritt weiter. Die Entwicklung des
Kleinadels zu einem einflußreichen politischen Faktor, ja zum
entscheidenden Faktor, der er auch vor der Usurpation des Hoch-
adels und der hohen Geistlichkeit letzten Endes gewesen war,
hatte sich während der letzten Regierungszeit Kasimirs in immer
höherem Maße vollzogen, und die aktive Politik des Königs in
der preußischen Frage und in dem Kampfe um die böhmische
und ungarische Krone wird wohl im Grunde auf den größeren
Einfluß dieser breiten und für Entwicklung und Betätigung weit
zugänglicheren Adelsschicht zurückzuführen sein. Beim Regierungs-
antritte Johann Albrechts, dessen Wahl gerade durch diesen Klein-
adel entscheidend bestimmt worden war, ging man nun daran,
diese Errungenschaften der letzten vierzig Jahre in dem für das
ganze Land gültigen Petrikauer Statute von 1496 (nach vor-
läufigen Vereinbarungen aus 1493) festzulegen. Es wird betont.

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daß diese Verfassungsurkunde im Einverständnisse mit allen po-
litischen Faktoren des Landes zustande gekommen ist; zugleich
wird aber in ihr der Schlachta, der Masse des Adels, die entschei-
dende Rolle im politischen Leben eingeräumt. Die „Landboten-
kammerquot; entscheidet auf dem Reichstage und der Senat behält
nur eine beratende und exekutive Funktion. Es waren da die An-
sätze zu einer breiteren, demokratischen Entwicklung. Die über-
aus zahlreiche und recht wenig „typisch adeligequot; Schachta, . sowie
das in den kommenden zehn Jahren unternommene und zum
Teile mit viel Erfolg zustande gebrachte großzügige Werk der
Kodifikation, der Unifikation und der Reorganisation in Rechts-,
Finanz- und Verwaltungswesen, wies ganz unzweideutig auf solche
Entwicklungswege. Nur war es bedenklich, daß in diesem selben
I^etrikauer Statute das Bürgertum in wieder höherem Maße seines
Einflusses und seiner Freiheiten beraubt und als politischer Fak-
tor in den wichtigsten Staatsgeschäften völlig ausgeschaltet wurde
Und daß man die Bauern zu gänzUcher Abhängigkeit herabdrückte.
Eür die Städte erklärt sich das zum Teile aus der landesfremden
Herkunft der Städter und der sich daraus ergebenden Gegen-
sätze, aus dem geringen politischen Interesse dieser nicht völlig
mit dem Lande verwachsenen städtischen Bevölkerung und aus
der wirtschaftlichen Macht des gesamten Adels. Als auf dem
Reichstage von 1503, nach ausdrücklicher und dringender Ein-
ladung seitens des Königs, städtische Deputationen erschienen,
blieben auch weitere gegen sie gerichtete Maßnahmen aus. Auch
die bedeutenderen geistlichen Aemter wurden nur dem Adel zu-
gänglich gemacht und somit Adel und GeistHchkeit in einander
Verschmolzen; das mußte einen selbständigen poHtischen Einfluß
der Geistlichkeit auf die Dauer illusorisch machen. Schon zu Leb-
2^eiten Jagiello\'s waren solche Forderungen laut geworden.

In Litauen, das seine eigne freie Entwicklung wünschte, hatte
der neue Großfürst Alexander Wahlkapitulationen im erweiter-
ten Sinne des Statuts von 1447 anerkannt; hierdurch wurde die,
Wenn auch noch wenig differenzierte, litauische Gesellschaft in
stets höherem Maße der polnischen näher gebracht. In Litauen
fingen aber auch in diesen Jahren die fortdauernden Kämpfe ge-
pn Moskau an, die jede ruhige Entwicklung erschwerten. Die
in Wenig festumrissener Abhängigkeit vom Litauerreiche lebenden

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russischen Fürsten in den Gebieten von Pskow und Nowgorod
hatte Iwan allmählich ganz unter seine Botmäßigkeit gebracht;
er war bis an die Grenzen Litauens vorgedrungen und auch die
Heirat Alexanders mit der Tochter Iwans, konnte den Bruch
nicht mehr aufhalten: Iwan woUte als Herr „aller russischen
Länderquot; anerkannt werden. Die Ablehnung dieser Fordenmg sei-
tens Alexanders bedeutete Krieg. Alexander verbündete sich mit
dem livländischen Ordensmeister gegen den gemeinsamen Feind.
Zugleich aber fühlte man sich in Litauen den drohenden Gefah-
ren keineswegs gewachsen: Nowgorod, Pskow, Twer und eine
große Reihe weniger bedeutender Fürstentümer waren verloren
gegangen, Tataren und Moldauer unternahmen unablässige Streif-
züge. Da näherte man sich etwas kleinlaut den Polen wieder, die
ein Bündnis gegen die Türken vorgeschlagen hatten, und drang
auf „Erneuerung der Union von Horodloquot; an. Darüber einigte
man sich in 1499; wieder entschieden unerwartete Entwicklungen
über das Los dieser Völkerverbindung: der litauische Selbständig-
keitsdrang trat zurück, da man einsah, daß ein eignes unabhän-
giges Staatswesen doch zu schwach sein würde. Der Krieg gegen
Moskau brach in 1500 aus ,die Litauer wurden bei Smolensk
derart geschlagen, daß das ganze linke Dnjeprufer preisgegeben
werden mußte. Der livländische Meister schlug die Russen im Nor-
den noch in zwei erfolgreichen Schlachten, aber im Süden standen
die Krimtataren, im Bunde mit Iwan, vor Kiew. Da starb in 1501
der Polenkönig Johann Albrecht.

Unter den gegebenen Umständen konnte ernsthaft nur die Kan-
didatur des litauischen Großherzogs erwogen werden. Die Wahl
wurde polnischerseits nur von einer festeren Union der beiden
Reichsteile abhängig gemacht: der jeweüige polnische König sollte
auch litauischer Großherzog sein, die litauischen Senatoren aber
auch an der Wahl teilnehmen; die Verträge eines jeden der beiden
Reichsteile sollten auch den andern binden, Münzen und Ge-
wichte unifiziert werden. Wieder wurde Litauen durch diese Be-
stimmungen in eine, sei es nur wenig, subordinierte Stellung ge-
bracht. Man ging darauf ein, denn die Verhältnisse drangen dazu.
Zugleich wußte aber das Magnatentum zu Mielnik den willens-
schwachen, ganz mit litauischen Interessen beschäftigten und mit
den polnischen Verhältnissen nicht vertrauten neuen König zur

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Anerkennung eines Statuts zu bestimmen, das wieder das ganze
politische Schwergewicht in den Senat verlegte. Die Errungen-
schaften der Schlachta wurden so durch eine einzige Urkunde
wieder gestrichen; der König war es zufrieden seine polnischen
Geschäfte, für die er weder Zeit noch die nötigen Kenntnisse hatte,
andern überlassen zu können.

Mit vereinten Kräften kehrte man sich jetzt gegen Russen und
Tataren. Mit Moskau wurde in 1503 ein sechsjähriger Waffen-
stillstand geschlossen, bei dem die jenseits des Dnjepr gelgenen
Gebiete dem russischen Großfürsten verblieben. In Polen aber
zeigte der Senat, der so bemüht gewesen war alle Macht wieder
an sich zu reißen, einen auffäUigen Mangel an erfolgreicher Tätig-
l^eit; nichts von alledem, was bei der ernsten Lage so notwendig
War. geschah. Da fanden König und Schlachta den Weg wieder

einander, auch die Städte wurden hinzugezogen, und auf dem
Reichstage zu Petrikau wurde mit vereinten Kräften eine groß-
zügige Sanierung der inneren Verhältnisse eingeleitet. Zu Radom
Wurde in 1505 nach einem Gleichgewicht zwischen Magnatentum
nnd Schlachta gestrebt. In der Konstitution „nihil noviquot; wurde
der Grundsatz festgelegt, daß ohne die gemeinsame Zustimmung
des Senates und der
Landbotenkammer keine neuen Gesetze er-
lassen werden sollten. Die Schlachta als Vetreterin des Gesamt-
adels gewann hiermit nichts, denn die Konstitution steUte nur
das alte normale Verhältnis wieder her; die gesetzgebende Gewalt
hatte immer in den Händen des Adels beruht. Der König büßte
nichts ein, denn gesetzgebende Gewalt hatte er nie besessen und
die könighche Gewalt blieb immer noch eine recht bedeutende,
l^ur das Magnatentum gewann, denn da
es, der ganzen Gliederung
der Schlachta nach, auch zum Gesamtadel gehörte und in ihm
Seinen Einfluß behielt, trat es nun in der Gesetzbung auch noch
als geschlossener und anerkannter Faktor neben die Landboten-
kammer, die doch auch seine Interessen, nämlich die des gesamten
Adels, vertrat. Der Magnateneinfluß wurde demnach verdoppelt.

Der König starb in 1506 in dem Augenblicke, da ihm die Bot-
schaft eines entscheidenden Sieges über die Tataren gebracht
Wurde.

Die Gebietsveränderungen, die in der oben geschilderten Periode
stattgefunden hatten: die Unterwerfung des Ordensstaates, das

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Vordringen Moskaus und der Türkei, waren rein tatsächliche
Ereignisse gewesen. Der Expansionsdrang entschied und gün-
stige Umstände, RebeUionen, Abfall, Verrat und gleichzeitige an-
derweitige Inanspruchnahme der Kräfte halfen. Von irgendwel-
chen emsthaften Versuchen, die Streitpunkte durch Verhand-
lungen auf dem Fuße der Gleichheit aus dem Wege zu räumen,
ist nicht die Rede. Auch das Los der polnisch-litauischen Union
hing zum großen Teüe von solchen begleitenden Umständen ab.
Sie war zustande gekommen, als in Litauen neben dem Großher-
zoge noch keine politisch relevanten Faktoren bestanden. Als aber
auch dort die innerstaatliche Entwicklung fortschritt, ergaben
sich neue Gegensätze. In dem, im Gmnde, seiner höheren Ent-
wicklung halber, immer dominierenden Polen wollte man um jeden
Preis die Union erhalten, wollte aber auch eine vollkommene Un-
terordnung Litauens, seine Eingliederang in den polnischen Staat
und wollte es wirtschaftlich dem polnischen
Expansionsdrange
erschließen. Litauischerseits ging man nie soweit, es ganz zum
Brache kommen zu lassen; man wußte dort so gut wie in Polen,
daß man letzten Endes doch auf einander angewiesen war und daß
vollkommener Brach auch endlose Kriege bedeuten würde. Aber
die Litauer wollten doch eine möglichst vollkommene Selbstän-
digkeit und zum mindesten volle Gleichberechtigung; zeitweilig
trat sogar der Wunsch zutage, das polnische Reich dem litauischen
unterzuordnen, denn besaß man auch nicht die fortgeschrittene
Entwicklimg der Polen, so hatte man doch hinsichtlich des Staats-
gebietes bei weitem die Uebermacht. Zudem kamen noch die re-
ligiösen Gegensätze und der Kampf um die russischen Provinzen.
Das Maß, in dem sich diese verschiedenen Tendenzen durch-
setzen konnten, bestimmten letzten Endes immer die begleiten-
den Umstände. Die religiösen Gegensätze erreichten erst ihre volle
schwerwiegende Bedeutung, als in dem Moskauer Großfürsten-
tum ein neuer griechisch-orthodoxer Pol mit starker Anziehungs-
kraft erstanden war und der Kampf um die immer noch hetero-
gene und wenig konsolidierte Masse des litauischen Landes begann.

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^ER ENDGÜLTIGE SIEG DER UNIONSIDEE. DIE VER-
SÄUMTEN GELEGENHEITEN EINER PARLAMENTARI-
SCHEN ENTWICKLUNG.

Das Ende des i6. Jahrhunderts wurde für Polen ein entschei-
Uder
Wendepunkt in der verfassungsrechtlichen Entwicklung
es Staates und hatte überhaupt einen entscheidenden Einfluß
auf die weiteren Schicksale Polens, also auch auf die Territorial-
onfhkte. Es seien die Umstände deshalb hier in aller Kürze ge-
Arb • ^^ L)er Mangel an Raum und der Charakter der vorhegenden
fordern äußerste Beschränkung, nur in großen Zügen kann
die^ ^\'^gedeutet werden und es sei der Uebersicht halber erlaubt,
le
Ereignisse hier im voraus zusammenzufassen i.
n vorigen Kapiteln wurde geschildert, wie der Adel seit der
garischen Zeit sich im Staate eine vorherrschende Stellung er-
ert hatte; es wurde beiläufig erwähnt, wie es ihm gelang auf
le
Dauer die Städte auszuschalten, deren materiell äußerst mäch-
ger
Konkurrent er wurde wie er auch je länger je mehr (und
ese Entwicklung dauert noch das ganze i6. Jahrhundert hindurch
. R ) die Geistlichkeit ihres politischen Einflusses beraubte und wie
m ihm selbst die Oberschicht, das Magnatentum, bestrebt war die
eilt völlig an sich zu bringen. Im achten Kapitel trat deutlich
age, vi^ie sich in der dort geschilderten Periode ein Gegensatz
sehen diesem Magnatentum und dem niederen Adel herausbil-
e und wie jener niedere Adel dabei der Träger des, wenn auch
Anfnbsp;entwickelten, demokratischen Gedankens war. Zu

im r^^ ^^^ Jahrhunderts nun standen sich diese beiden Gruppen,
Grunde die einzigen politisch relevanten Teile der Bevölkerung,
genüber, und die ersten sieben Jahrzehnte des Jahrhunderts

1 Es

desnbsp;diesem Zusammenhange auf die äußerst anregenden Aufsätze

M. Goldscheider: Glanz und Verderb der polnischen Republik,
» ßinbsp;2 Teile, hingewiesen.

ay ®.Preußischen Städte aber behielten immer eine Sonderstellung, waren
Senat vertreten.

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waren erfüllt von der Forderung der „Exekution der Gesetze\'
und der „Reformquot;. Das bedeutete an erster Stelle, daß man sich
dem vorherrschenden Magnatentum, dem Träger des
egoistischen,
kurzsichtigen, den Staat zersetzenden entarteten ständischen
Gedankens, widersetzte. Man forderte Finanz- und
Heeresreform
(diese beiden waren von größter Bedeutung für mögliche Terri-
torialkonflikte, wie überhaupt für jede außenpolitische Betäti-
gung jener Zeit), die Schaffung eines stehenden Heeres, neue Ein-
schätzung der Güter als Grundlage zu zweckmäßigerer
Besteue-
rung, Restitution der dem Kronschatze durch Usurpation ent-
zogenen Güter, Zurückdrängung des aus Magnaten zusammen-
gesetzten Senates aus seiner entscheidenden Stellung zur ursprüng-
lichen beratenden Funktion, Schaffung neuer kontrollierender,
vom niederen Adel zu besetzender Aemter, schließhch auch iß
mehr oder weiniger klaren Gedanken die Einrichtung einer im
Grun-
de modernen parlamentarischen Regierungsform. Der niedere
Adel war letzten Endes eine, wenn auch beschränkte, halb stän-
dische, rudimentäre Demokratie; er war jedenfalls viel zu
zahl-
reich und gesellschaftlich zu sehr gegliedert, um nur als „Adelskastequot;
angesehen zu werden.

Solche Wünsche wurden nun in Laufe des Jahrhunderts mit
verschiedener Intensität und in wechselnder Klarheit vorgetra-
gen, sie zerschlugen sich aber immer an dem Widerstand der im
Sattel sitzenden Magnaten. Es wäre nun, nach höchster Wahr-
scheinlichkeit, möghch gewesen, daß man, wenn der König sich
entschieden auf die Seite der Schlachta gestellt hätte, zu erfolg-
reichen Reformen gekommen wäre. Die könighche Macht war
noch keineswegs in dem Maße ausgehölt, daß sie nicht bei dem
Gegensatze der Parteien den Durchschlag hätte geben können.
Aber die\'beiden letzten Jagellonenkönige wußten diese Gelegen-
heiten nicht auszunützen. Sie waren zu schwach, zu unentschlos-
sen, wollten um jeden Preis Konflikte vermeiden und „zufriedene
Gesichterquot; um sich sehen. Und so blieb alles beim Alten; dem nie-
deren Adel mangelte die Führung. Man wäre mit diesen Reformen
sicherlich nicht zur absoluten Monarchie gelangt; der König hätte
nicht im Gegensatz zu den Parteien gestanden, sondern auf Sei-
ten der einen, man wäre zu einer rudimentären „konstitutionelle^
Monarchiequot; gelangt. Aber so blieb es bei der Magnatenherrschaft

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und entwickelte sich im 17. Jahrhundert jene den ganzen Staat
lähmende Ohgarchie. Als nach dem Tode der beiden letzten,
so unentschlossenen Jagellonen ein bedeutender Fürst zur Herr-
schaft gelangte: Stephan Bathory, und alle Anzeichen eines gro-
llen, gesunden Aufstiegs sich einstellten, da war ihm nur kurze
zehn Jahre zu regieren vergönnt. Das war für lange Zeit die letzte
Gelegenheit gewesen.

Es ist nun leicht ex post festzustellen, was man hätte tun müs-
sen, und die eine oder andere Partei zur „Verantwortungquot; heran-
zuziehen, ihr die „Schuldquot; am Versäumten zu geben. Aber es ist
Grunde recht zwecklos, der geschichthchen Entwicklung „For-
derungenquot; zu stellen: alsob es nur eine „richtigequot; Entwicklung
gäbe und diese festumrissen und deutlich vorauszusehen wäre. Es
ist in diesen Dingen empfehlenswert, sich ausschließlich mit der
I^\'eststellung der Tatsachen zu begnügen und sich aller, im Grunde
doch nur persönlichen, Werturteile zu enthalten. Es genügt, aus
diesem Tatsachenmaterial einige wichtige und erläuternde Fol-
gerungen zu ziehen.

L^ie erste ist diese: daß in Polen im 16. Jahrhundert alle Vor-
bedingungen zur Ausbildung einer brauchbaren Exekutivgewalt
reichlich vorhanden waren, daß sie aber nicht ausgenützt wurden
^nd daß dadurch die Magnatenherrschaft erhalten blieb und auf
die Dauer an Einfluß noch zunahm. Aus diesen Umständen
er-
sich aber, daß von einem „trotz aller Ableugnungsversuche
anarchischen Sinn des einer Autorität sich schlecht fügenden
^lavischen Charaktersquot; ^ doch bitter wenig zu verspüren
zum mindesten um kein Haar mehr als bei den „germanischenquot;

Brüdern.

Schließlich ergibt sich noch dies aus dem Obenstehenden, daß
eine solche innerstaatliche Entwicklung, oder besser gesagt deren
Stehenbleiben und Rückgang, späterhin sich auch nach außen
hin bemerkbar machen wird, sich in den Territorialfragen spie-
geln muß. Das stehende Heer und die Finanzreform, diese „Lebens-
bedingungenquot; für territoriale Betätigung in jener Zeit, offensiv
gut wie defensiv, kamen nicht zustande; die Leitung der äußeren
J\'olitik war unentschlossen, sie zeigte schon jene typisch oligarchi-
s_che^igujig^ den Konflikten aus dem Wege zu gehen, sich mit

Siehe Hanisch op. cit. Seite 109.

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halben Erfolgen und Entscheidungen zufrieden zu stellen. Die
preußische Frage wurde halb gelöst. Im Osten fing die
Macht
Moskaus sich zu manifestieren an: man trat ihr nicht entschieden
entgegen, man hatte die Mittel nicht und man wurde
pazifistisch
aus Schwäche, wollte die Gefahren nicht sehen und sah sie viel-
leicht auch nicht. Solche innerstaatliche Verhältnisse finden ihre
Bedeutung letzten Endes nur in gleichzeitiger
andersartiger
Entwicklung benachbarter Staaten: diese Unterschiede entscheiden
im Grunde über: brauchbar und unbrauchbar, beruhigend oder
gefährlich. In einer Zeit, da Territorialkonflikte durchweg mit
Waffengewalt entschieden wurden, mußte dieser „tote Punktquot; in
der innerstaatlichen Entwicklung Polens bedenkhch werden.

Als die Reformen nicht gelangen, verlor die Schlachta das Ver-
trauen in die Könige; das war eine begreifliche Wechselwirkung.
Sie wurde auf die Dauer ins Kielwasser des Magnatenschiffes ge-
zogen und als im 17. Jahrhundert vollends landesfremde Könige,
mit eignen, nicht-polnischen Interessen, zur Regierung gelangten,
war der tiefe Riß zwischen Königtum und Volk da und wurde auf
lange hinaus die „Reformquot; unmöglich.

König Alexander war gestorben in dem Augenblicke, da Ghnski
ihm die Nachricht seines eben errungenen großen Sieges über die
Tataren brachte (1506). In Litauen fürchtete man der schweren
Zeiten wegen die Folgen eines Interregnums, fürchtete vielleicht
auch Usurpationen ebenjenes mächtigen und erfolgreichen Glinskis
und wählte ohne Vorkenntnis der Polen einen jüngeren Bruder
des verstorbenen Königs: Sigismund, den bedeutendsten der
Brüder, zum Großfürsten. Das war wieder gegen die Union, hatte
man doch nicht nur wiederholenthch einander gelobt, ohne „Rat
und Wissenquot; des anderen Teiles weder einen Großfürsten, noch
einen König zu erwählen, sondern in 1501 auch ausdrücklich fest-
gestellt, daß der jeweihge polnische König auch Htauischer Groß-
herzog sein sollte. In Polen fügte man sich, wenn auch unter hef-
tigem Protest, in die Lage und wählte Sigismund zum polnischen
Könige.

Iwan III. war in 1505 gestorben; sein Sohn Wasilij III. folgte
ihm nach und eröffnete im nächsten Jahre, ganz im Sinne der
Aspirationen des Vaters, wieder den Kampf gegen Polen, der in
1509 mit dem Schließen eines „ewigen Friedensquot; endigte. Diese

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^hrase bedeutete nur eine Waffenruhe bis zur nächsten Gelegen-
eti, denn die Forderungen und das Programm der Russen bheben
^eselben: das „Erbe Monomachsquot;, die Länder des alten, seit den
ongoleneinbrüchen zertrümmerten Reiches von Kiew begehrte
man und die Herrschaft über „alle Reußenquot;. Dies Letzte war aber
gleichbedeutend mit dem Begriffe „Anhänger des griechisch-
orthodoxen Bekenntnissesquot;, denn welche Unterschiede zwischen
roßrussen, Weißrussen und Kleinrussen auch bestanden haben
^ögen: in diesem Einen, in jener Zeit durchaus Entscheidenden,

^iechischen Glauben, büdeten sie eine Einheit,
j^.. jenen, das ganze Jahrhundert füllenden polnisch-russischen
ampfen spielten auch immer die Tataren eine Rolle; abwech-
j^^nd kämpften sie auf der Seite der einen oder der andern Partei,
onipiizierten oft die Lage und hatten oft einen entscheidenden
^mfluß auf den Lauf der Dinge. Ihre Anschauungen illustiert am
esten ein Brief eines ihrer Khans an den polnischen König aus

Jahre 1550: „Wir sind seit jeher gewöhnt, von euch (den
^^^sten überhaupt) zu nehmen, und ihr habt euch gewöhnt ims
geben, denn ihr gebt uns nur deswegen, damit eure Reiche
nhe haben von unsem Leuten.quot; Ein solcher Krieg Polens gegen
^e
Tataren, damals russischen Verbündeten, und ein entschei-
ender Sieg in 1512, nach welchem die Tataren sich wieder gegen
oskau Wandten, wurde der Vorwand für einen neuen russisÄh-
Polnischen Krieg, der volle zehn Jahre dauerte. Auf Seiten der
yssen stand in diesem Kriege der deutsche Kaiser, der ebenso
e der Polenkönig Erbansprüche auf die ungarische Krone hatte
o durch eine Einkreisungspolitik den polnischen Rivalen aus-
^ alten wollte. Als auf die Dauer der russische Großfürst
im^^^ die Tataren, und der Polenkönfg durch die Verhältnisse
^ Herzogtume Preußen in Anspruch genommen wurde, schloß
an jjjnbsp;eine elfjährige Waffenruhe, die das im Laufe des

jjJg^ges eroberte Smolensk vorläufig in Händen der Russen be-

denselben Jahren hatte sich der Deutschritterorden recht
^nig geneigt gezeigt, die polnische Oberhoheit anzuerkennen.

eit den Tagen Johann Albrechts hatten die Hochmeister gewei-
^ert, der polnischen Krone den Eid zu leisten. Man stützte sich
^oei auf den Umstand, daß der deutsche Kaiser den Thorner

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Frieden von 1466 nicht anerkannt und bestätigt hatte, wie es der
Austritt des Ordens aus dem deutschen Kreise verlangt hätte.
In
15II wurde entgegen den Bestimmungen des Thomer Ver-
trages, ohne die Genehmigung König Sigismunds, dessen Neffe
Albrecht von Brandenburg, der Sohn des Markgrafen
Friedrich,
zum Hochmeister gewählt, der wiedennn der polnischen Krone
den Eid zu leisten weigerte. Bei den herrschenden Verhältnissen
konnte er der Unterstützung des Kaisers und der dem Kaiser
günstig gesinnten Kurie sicher sein. Die Lage im Osten des Reiches
verhinderte Sigismund, wie schon früher seine Vorgänger, an
einem energischen Vorgehen gegen den Orden. Man entwarf in
Polen den Plan, die Würde des Hochmeisters fürderhin dem pol-
nischen Könige zu übertragen, die Gegensätze wären dann auf-
gehoben worden, aber der Plan hatte doch unter den gegebenen
Umständen allzu wenig Aussicht auf Erfolg. Der Orden näherte
sich nur mehr den Feinden Polens.

Da änderte aber Sigismund seine Pohtik und steuerte auf eine
Versöhnung mit dem Kaiser in der ungarischen Erbfolgefrage an.
Eine Doppelheirat zwischen den Kindern des Kaisers und quot;denen
des in Ungarn herrschenden Wladislaw, des Bruders König Si-
gismunds, brachte diese Versöhnung. Der Kaiser ließ den Orden
fallen und stand einer Leistung der der polnischen Krone verschul-
digten Huldigung nicht mehr im Wege; er bestätigte den Thomer
Frieden. In 1519 entschloß sich Sigismund infolge der Unnach-
giebigkeit des Ordens zu kriegerischem Vorgehen. Der Krieg,
den Polen allein führen mußte, da die Litauer Moskau gegenüber
in Anspruch genommen waren, wurde wenig energisch betrieben
und hatte kaum Erfolg; die unzeitgemäßen Kriegsmittel vemr-
sachten dies zum großen Teile: man verlangte ja immer noch die
„Heeresreformquot;. Als von deutscher und päpstlicher Seite wieder-
holt Vermittlungsvorschläge gemacht wurden und die entschei-
denden Erfolge ausblieben, ließ der von Natur nachgiebige König
den ursprünghchen Plan, den Orden ganz zu vernichten, fahren
und war zu einem Kompromiß bereit. In 1521 kam es zu einem
vierjährigen Waffenstillstände, während ein Schiedsspmch des
deutschen Kaisers und des ungarischen Königs entscheiden soll-
te, ob der Hochmeister den Huldigungseid der polnischen Krone
zu leisten verpflichtet sei. Dieser Schiedsspuch aber kam nie zu-

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Stande. Wohl aber brachte ein neuer, unerwarteter Umstand eine
entscheidende Wendung in die Lage.

Es war die Zeit der Reformation; gleich in den ersten Jahren
Verbreitete sich die neue Lehre auch in Polen und fand viele An-
hänger, in den Städten, die Beziehungen mit dem Deutschen Reiche
hatten, und vor allem unter dem Adel. Nicht so sehr aus religiöser
Ueberzeugung fiel man der neuen Heresie bei, sondern eher aus
Pohtischen und sozialen Erwägungen: es bot sich die Gelegenheit
eine selbständige, keiner päpstHchen Autorität mehr unterwor-
fene Landeskirche ins Leben zu rufen, und vor allem den Ein-
fluß und die Macht der Kirche im Lande selbst entscheidend zu
Schwächen, ihr die Immunitäten zu entziehen, Klöster und Kir-
chen zu säkularisieren und ihres unermeßUchen Güterreichtums zu
berauben; hatte man doch schon eher versucht diese Güteranhäu-
jung in der toten Hand zu verhindern. Als am Ende des Jahr-
hunderts die Gegenreformation sich erfolgreich durchsetzt^, war
der Einfluß der Kirche doch schon erhebhch geschwächt worden.

Unter dem unmittelbaren Einflüsse Luthers entschied sich nun
der Hochmeister in 1523, auch den Ordensstaat zu säkularisieren
nnd in ein völlig weltUches Fürstentum umzugestalten Das war
eine unerwartete und für Polen recht günstige Lösung des Kon-
Mktes, denn durch diesen Schritt mußte der Orden die Stütze des
Kaisers sowie des Papstes verlieren und sich vollkommen der pol-
nischen Oberherrschaft unterwerfen. Die rehgiöse Ueberzeugung
des Polenkönigs widersetzte sich anfangs dieser Lösung; erst als
Sem Widerstand bei dem Umsichgreifen der neuen Lehre in den
preußischen Landen die Gefahr neuer Komplikationen erstehen
^eß, gab er nach. In 1525 wurde Frieden geschlossen, bei dem der
rden die polnische Oberhoheit anerkannte und Heeresfolge ge-
inte, während das Land nach dem Aussterben der männlichen
Nachkommenschaft des regierenden Hochmeisters und seiner
Brüder der polnischen Krone als erledigtes Lehen anheim fallen
^ohte. Somit war man mit Hüfe überaus günstiger Umstände
der völligen Einverleibung wieder einen Schritt näher gekommen.

In der Türkenschlacht bei Mohacz in 1562 fiel der jugendliche
Ungarkönig
Ludwig, der letzte jener ungarischen Jagellonenlinie.
le Habsburger und das einheimische mächtige Geschlecht der

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Zäpolyas kämpften danach dort um die Nachfolge, wobei die Zä-
polyas sich sogar zu einem Bündnisse mit den Türken
verstanden.
Das Endergebnis war die Teilung des Ungarreiches in 1538 zwischen
den beiden Rivalen, unter dem Drucke der drohenden Türken-
gefahr. Das polnische Königshaus verschwägerte sich danach er-
neut mit den Zäpolyas, was auch erneute Erbansprüche, wenig-
stens auf die siebenbürgischen Teile des Ungarreiches, bedeuten
konnte.

Man versuchte in 1530 dem zehnjährigen Sohn des Königs schon
zu dessen Lebzeiten die Nachfolge zu sichern, indem man ihm in
Litauen zum Großherzog krönen ließ, um so die Polen, denen ja
alles an der Erhaltung der Union gelegen war, zu einer gleichen
Krönung zu zwingen. In Litauen war die Krönung bei der Erb-
Uchkeit der großherzoglichen Macht in der Jagellonendynastie
leicht durchzuführen; auch in Polen gelang der Plan, doch nicht
ohne daß der König ausdrücklich hätte zugeben müssen, daß die-
ses Vorgehen gegen die Vereinbarungen und die Rechte des Adels
Verstöße und der Fall keineswegs als Präzedenz gelten dürfe.
Uebrigens hatte der präsumptive Nachfolger nach Erreichung des
sechzehnten Lebensjahres die Privilegien zu beschwören. In die-
sen Dingen hatte auch die zweite Gattin des Königs Sigismund,
die Mailänderin Bona Sforza, eine Rolle gespielt. Ihr Einfluß auf
die Staatsgeschäfte wuchs mit dem Altern des Königs und gereichte
durch die Anwendung italienischer cinquecentistischer Methoden
dem Lande keineswegs zum Vorteil.

Die elfjährige Waffenruhe mit dem Moskauer Großfürsten war
in 1532 verlaufen; man unterhandelte noch über Verlängerung,
als der russische Großfürst starb. Der vierjährige Iwan IV., später
„der Schrecklichequot; genannt, folgte nach und die Regentschaft
brachte Wirren mit sich. Man fand in Litauen den Zeitpunkt ge-
eignet, Smolensk den Russen wieder zu entreißen, zumal da ein
unzufriedener russischer Teilfürst in Litauen zu berichten wußte,
daß ein großer Teil der Bojaren, empört über das despotische Re-
giment des verstorbenen Großfürsten, nur auf eine
Gelegenheit
warte um die drückenden Bande abzuschütteln. Der Krieg begann,
aber man hatte sich getäuscht, denn zu einer Empörung unzu-
friedener Bojaren gegen Moskau kam es nicht im mindesten. Es

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niochte sein, daß man unter polnischer Herrschaft angenehmer
und freier lebte, aber das Zusammengehörigkeitsgefühl mit Moskau,
dasrehgiöse Band, erwies sich doch schon als so stark, daß es in
so bedenklichen Augenblicken entscheidenden Einfluß hatte. Die
Anziehungskraft Moskaus wuchs; zudem fürchtete man in dem
..heidnischen Litauenquot;, wo eine römisch-katholische Tendenz vor-
herrschte, nur als Bürger zweiter Klasse anerkannt zu werden.

I^er Krieg wurde lässig geführt und brachte kein Ergebnis.
Smolensk wurde nicht zurückerobert und was die Litauer und
polnischen Hilfstruppen im Sewerischen Lande eroberten, gewan-
nen die Moskowiter im Gebiete von Smolensk. In 1537 schloß
nian einen fünfjährigen Waffenstillstand, der später bis 1549
Verlängert wurde.

In 1529 war, nach dem Aussterben der plastischen Dynastie,
der letzte Teil der masovischen Lande dem polnischen Reiche

einverleibt worden.

In 1548 starb der König zweiundachtzigj ährig. Sein Sohn Sigis-
niund IL August folgte ihm nach, schwächer, unentschlossener
als der Vater und gleich nachgiebig, wenn er im Anfange auch.
Unter dem Einflüsse seiner ersten Gemahhn, der Zäpolya, eine
heträchtliche Energie zeigte. Er wollte die königliche Gewalt in
absolutistischer Weise stärken und suchte Annäherung zu den
Kabsburgern. Wenn dieses Bündnis ihm auch nicht die erwartete
Stütze für seine innerstaatlichen Pläne brachte, so stärkte es doch
erheblich seine Position und besserte das Verhältnis Polens zum
deutschen Reiche: die Reichsacht, die infolge der Säkularisation
^ber das Herzogtum Preußen verhängt worden war, wurde auf-
gehoben, wenn Kaiser und Papst auch die Frage noch keineswegs
^is gelöst betrachteten.

Man hatte die günstige Gelegenheit der Nachfolgewirren in
Moskau während der Jahre 1543—1536 im Grunde ungenützt
Vorbeigehen lassen. Man hatte unentschlossen und schlaff Krieg
geführt, Smolensk nicht zurückerobert, nicht einmal einen Ver-
such dazu gemacht, und nur eine neue, später verlängerte Waffen-
^he geschlossen. In 1547 hatte Iwan der Schreckliche selbst die
Regierung angetreten. Er setzte die Tradition seiner Vorfahren
nur in noch ausgeprägterer Form fort. Er nannte sich jetzt offi-

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zieil „Herrscher aller Reußenquot; und war darauf aus, diesen Prä-
tensionen auch allgemeine Anerkennung zu verschaffen. Ueber-
dies begnügte er sich auch keineswegs mehr mit dem Großfürsten-
titel, sondern hatte sich selbst eine Königskrone auf das
Haupt
gesetzt: in Moskau regierten fortan Zaren. Da die russische Sprache
den Unterschied zwischen „Russenquot; und „Ruthenenquot; nicht
kannte, bedeuteten diese Prätensionen auf die Herrschaft über
alle „Reußenquot; einen Anspruch auf das ganze „Erbe Monomachsquot;,
das ganze frühere Reich von Kiew, in dem Moskau ein TeUfürsten-
timi gewesen war und von dem es jetzt der neue Mittelpunkt werden
wollte. Würde man polnischerseits solche Ansprüche
anerkannt
haben, so hätte man bedeutende, schon im 14. Jahrhundert dem
polnischen Reiche einverleibte Gebiete, zum mindesten theore-
tisch preisgegeben.

Es folgte nun ein langer Kampf um die Anerkennung der beiden
neuen bedrohlichen Titel, bei dem sich Polen auf das hartnäckigste
wehrte. Iwan versuchte die Anerkennung seitens des Papstes durch-
zusetzen, trug sich aus diesem Grunde sogar mit dem Gedanken
einer erweiterten Kirchenunion mit Rom, die auch alle russischen
Gebiete umfassen sollte, so wie sie, zum mindesten formell, sich
jetzt schon seit einem Jahrhundert, seit dem Florentiner Konzil,
auf die Metropohtie von Kiew erstreckte. Aber dieser Plan stieß
auf leidenschafthchen Widerstand im eignen Lande. Die Waffen-
ruhe mit Polen—Litauen wurde in 1549 bis 1554 und später noch
einmal bis 1562, sei es auch immer nach den schwierigsten Aus-
einandersetzungen, verlängert. Der Zar war vorläufig in andern
Teilen seines Reiches beschäftigt: der Kampf gegen die Krim-
tataren, die Polen und Russen abwechselnd einander auf den Hals
schickten, war noch im vollen Gange, ebenso wie die Unterwerfung
von Kasan und Astrakan.

Die Grenzverhältnisse in jenen Steppengefilden zwischen Krim-
tataren, Russen und Polen-Litauern waren noch völlig ungeklärt;
es handelte sich dort eher noch um eine „terra nulhusquot;, in der
sich allmählich die Kosakengemeinschaften auszubilden anfingen,
Litauer und Russen nicht recht wußten, was noch zu ihrem Macht-
bereiche gehörte und Tatareneinfälle derart wüten konnten, daß
gelegenthch eines der größten Verheerungszüge in 1557 bis nach
Podohen und Wolhynien hinein, die Bevölkerung dieser Provinzen

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den König bat, sie doch in andern Reichsteilen ansiedeln zu wol-
en. In diesen Gegenden konnte es vorläufig nicht zu einer ernst-
iteren russisch-polnischen Auseinandersetzung kommen; dazu
Waren die Verhältnisse viel zu schwankend und unsicher.

Anders lag es an den östlichen Grenzen Litauens. Der Gegen-
satz drehte sich dort um die drei großen Zentren Nowgorod, Pskow
^nd
Smolensk, faktisch hielt Moskau diese Gebiete. Polen—Litauen
§ab sie nicht auf, aber hatte auch nicht die Energie und die Kraft.
Sie zurückzuerobern. Die moskowitischen Methoden waren auch
ei Weitem durchgreifender, die Politik zäher. Wenn ein Gebiet
erobert war, so wurde es sofort befestigt, militärisch brauchbare
Und Vertraute Elemente wurden angesiedelt und die einheimische
eVölkerung nach dem Innern des Landes gebracht: man beugte
o ledem möglichen Abfalle vor. Zäh hielt man an dem Gewonnenen
est und als das Verhältnis gegen 1560 durch die Ereignisse in Liv-
and wieder gespannt wurde, teilte man den Litauern mit: „Wir
Werden den Waffenstillstand bis zu seinem Endtermin (1562) be-
wahren, und dann soll Gott zwischen uns richtenquot;. Wenn der Zar
nun seine Machtmittel mit denen des durch innere Gegensätze
geschwächten Polenreiches verglich, so konnte er diesem „Gottes-
urteilquot; wohl mit der größten Ruhe entgegen sehen. Die Ereig-
nisse lenkten aber vorläufig alle kriegerische Betätigung nach
Norden, nach Livland.

Dieser neue Kampf im Norden war schon der erste Vorbote
Jener Kriege um die Vorherrschaft im Baltikum, die das 17. Jahr-
undert füllten. Im Süden hatte die wachsende Türkengefahr der
^rtschaftlichen Expansion den Weg verschlossen, Handelsko-
^ len verkümmerten und Handelsstraßen verödeten; aber im
Orden nahm der Verkehr zu, die Bedeutung der Seewege wuchs
Und neue Rivalen stellten sich ein. Das zuerst umstrittene Gebiet
w^rde jener vom Schwertritterorden kolonisierte Küstenstrich
nördlich Samogitiens, die Landschaften Kurland, Semgallen, Liv-
and und Esthland. Dieses Ordensland, die Jahrhunderte hindurch
im engsten Anschlüsse an den Deutschritterorden ^regiert, hatte
in der letzten Zeit eine ähnliche Entwicklung wie dieser durch-
gemacht, seine Existenz wurde auf ähnliche Weise in Frage ge-

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stellt. Der unmittelbar drohende Feind wurde hier Moskau, das
nach einem freien Ausgange zur Ostsee strebte und den,
seine
Bewegungsfreiheit beeinträchtigenden Küstenstaat seiner Bot-
mäßigkeit zu unterwerfen bestrebt war. Als man sich in
Livland
nicht mehr halten zu können fürchtete, sah man sich nach Ver-
bündeten um; die Beziehungen zu Litauen waren die besten: man
hatte ja schon seit des Großherzogs Alexanders Zeiten gemein-
schaftlich gegen Moskau gekämpft, man hatte ein gemeinschaft-
liches Interesse am Zurückdrängen des Rivalen. Aber die Meinungen
im Lande waren geteilt, es gab auch eine bedeutende russische Partei
und man fürchtete bei engerem Anschluß an Polen—Litauen eine
Einverleibung in dieses Reich, so wie es das Beispiel Ostpreußens
zeigte. Da entschloß man sich noch selbständig zu handeln, schloß
in 1554 einen drückenden fünfzehnjährigen Frieden mit Moskau,
bei dem das Dorpatter Gebiet dem russischen Zaren tributpfHch-
tig wurde. Infolgedessen suchte die polnische Partei in Livland
Anschluß bei den Nachbarn im Süden und als Briefe über die Ver-
handlungen abgefangen wurden und darüber Wirren im Lande
ausbrachen, rüstete man in Polen, um einer Ausnützung der Lage
russischerseits vorzubeugen. Inkorporationspläne hatte man keines-
wegs, die polnische Schlachta sprach sich sogar im Hinblick auf
die Lage im Innern des Reiches gegen einen Krieg aus. Die Ant-
wort der Russen auf diese polnische Intervention, die eine Aussöh-
nung der Parteien in Livland und ein Htauisch—livländisches
Defensivbündnis gegen Moskau zur Folge hatte, war die Eroberung
Dorpats. Da gewann die polnische Partei die Oberhand. Nun
hatte aber Polen—Litauen mit Moskau jene letzte achtjährige
Waffenruhe, die erst in 1562 endete (und Moskau wußte immer
solche auf ungleiche Termine mit seinen Feinden abgeschlossenen
Waffenruhen vorzüghchauszunützen). Einen Vertragsbruch wollte
man nicht begehen: die einzige Lösung war, Livland dem pohlischen
Könige zu unterstellen und so die Waffenruhe auch auf den so ge-
schaffenen neuen polnischen Reichsteil auszudehnen. Der Vorschlag
wurde angenommen: in 1559 wurde Livland unter den Schutz
des pohlischen Königs gestellt, man gewährleistete dem Lande
Autonomie upd Rehgionsfreiheit, während der König sich noch
verpfHchtete, das verlorene Dorpatter Gebiet zurückzugewinnen.
Wieder entschieden unerwartete Komplikationen über wichtige

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Territorialverändenmgen. In Polen verspürte man wenig Lust,
Sich so in neue Kriege zu verwickeln, aber der Litauerfürst Radzi-
will wußte den König umzustimmen; es waren hauptsächlich
Litauer, die für diese neue Union eintraten.

Zu gleicher Zeit waren aber auch Dänen und Schweden, von
andern Parteien im Lande, die mit der Entwicklung der Lage
nicht zufrieden waren, um Hilfe angegangen, nach Livland gekom-
men. Die Dänen unterwarfen sich Kurland und die Insel Oesel,
Während die Schweden sich oben in Esthland, in Reval festsetzten.

I^er Zar schlug alle litauisch—Uvländischen Friedensangebote
aus, kündigte das bevorstehende „Gericht Gottesquot; an und eroberte
neue Gebiete. Um aber all diesen Gefahren einigermaßen gewachsen
fn sein, war festerer Anschluß, war die Einverleibung Livlands
in das polnisch-litauische Reich nötig; die Livländer wiUigten ein,
aber nur unter der Bedingung, daß sie Polen und Litauen in glei-
cher Weise eingegliedert, und nicht nur der litauischen Reichs-
nalfte zugeschlagen würden. Das bedeutete zugleich die Notwen-
^§keit einer festeren polnisch-htauischen Union, der Radziwill
hartnäckig widerstrebte; dennoch beeinflußten auch diese Verhält-
nisse den Lauf der Dinge in den kommenden Jahren.

Man fand nun in 1561 den folgenden Ausweg: der Ordensmeister
^klärte sich zum weltlichen Fürsten, wurde Herzog und Vasall des
Königs mit den Gebieten Kurland, Semgallen und allem Lande
ani linken Dünaufer, mit Ausnahme Rigas; das übrige Land unter-
warf sich dem Könige unmittelbar und wurde dem Reiche ein-
verleibt; Riga wurde „ausschließlich dem Könige unterworfenquot;,
^vian legte allen Nachdruck darauf, daß man sich dem polnischen
Reiche einordne und nicht dem litauischen Großherzogtum. Die
nsprüche des deutschen Reiches wurden bei all diesen Verhand-
nngen vollkommen übergangen, auf lange Verhandlungen darüber
onnte man sich bei der herrschenden Lage nicht einlassen.
Lgt;ie unmittelbaren Folgen dieser Inkorporation waren Krieg
^it Schweden und Moskau. Die Schweden drangen in Livland
Weiter südlich vor und als in 1562 die litauisch—russische Waffen-
i^nhe endete, zog IVan zu Felde, „Gott, die Heilige Mutter Gottes
Und die großen Wundertäter zu Hilfe nehmend, gegen seinen Feind
^n Litauer, um sein väterliches Erbe Polock von ihm zu fordernquot;,
-•historische Argumente, vermeinte Erbansprüche, alles wird in

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diesen vorhergehenden Verhandlungen bunt durcheinanderge-
würfelt, aber das religiöse Moment überherrscht alles; aus
jedem
Kriege weiß man einen Rehgionskrieg zu machen. Polock fiel in
1563 in russische Hände, während die Polen sich nach
Bundesge-
nossen umsahen und Kriegen auszuweichen versuchten, KoaHtionen
überdachten, und der pohlische Reichstag die Einverleibung
Livlands nicht anerkennen wollte. Nach neuen, ergebnislosen Un-
terhandlungen mit Moskau wurde der Krieg mit besserem Erfolge
fortgeführt; die Polen eroberten Riga und die Litauer besiegten
zweimal die Russen, aber man nützte die Siege nicht aus, war im
Innern vollkommen mit der Unionsfrage beschäftigt. Kriegs-
verrichtungen und Verhandlungen wechseln einander noch eine
Zeitlang ohne entscheidende Ergebnisse ab. In 1570 wurde end-
hch auf drei Jahre mit Moskau ein Friede geschlossen, bei dem
der Zar aUe Eroberungen behielt; man hatte ihm Aussicht auf den
bald vakanten polnischen Thron gemacht.

Während man in jenen Jahrzehnten durch Verträge von Seiten
der Türken her Ruhe gehabt hatte und die Tataren mit mehr
oder weniger gutem Erfolg in Schach hatte halten können, sah
man sich nach Westen hin zu einer Vertrags- und Bündnispolitik
veranlaßt, die im Laufe der Zeit schwerwiegende Folgen zeigte.
Brandenburgischerseits hatte man schon zu König Sigismund L
Zeiten um die Mitbelehnung der kurfürstlichen Linie mit Preußen
nachgesucht; FamiUenbeziehungen der beiden Häuser wurden die
Veranlassung und einem jüngeren Sohne eine „Versorgungquot; zu
schaffen, wurde das Hauptmotiv. Polnischerseits schlug man die-
sen Wunsch, der eine Verzögerung der endgültigen Einverleibung
des Herzogtums Preußen bedeutete, wiederholt aus. Als man aber
zur Zeit der Aktionen in Livland den Rücken frei haben wollte
und bei der Schwäche des Kaisers sich im Kurfürstenkollegium
nach einer einflußreichen Stimme umsehen mußte für den Fall,
daß den immer noch nicht aufgegebenen Prätensionen des Reiches
auf Preußen, denen jetzt noch die auf Livland zur Seite traten,
mehr Nachdruck gegeben würde, gab man dem wiederholten
Drängen des Kurfürsten nach. Die Mitbelehnung, deren un vor-
hersehbare Folgen erst nach zwei Menschenaltern hervortraten,
wurde in 1563 vollzogen, während der Kurfürst als Gegenleistung

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ein Defensivbündnis anging und sich zur Unterstützung der pol-
nischen Interessen in Preußen verpfhchtete. AU solche Gescheh-
nisse traten aber in den Augen des zeitgenössischen Adels zurück
hinter die aUes beherrschende Frage der „Unionquot;.

Der Ruf nach einem innigeren Zusammenschluß der separaten
Körper des polnisch-Utauischen Reiches war aUerorten lauter
geworden. Die beiden letzten Könige hatten sich neben den vielen
andern „Reformquot;- und „Exekutionsfragenquot; auch wiederholt,
aber mit wenig Erfolg, mit diesem Punkte befaßt. In den dreißiger
Jahren war es die Verschmelzung der westpreußischen Landes-
teile, die eine SondersteUung inne hatten, der man hauptsächlich
nachstrebte; der preußische Landadel fiel diesem Plane bei, er
konnte ja nur seinen Einfluß mehren. Als man in 1530 den preußi-
schen Ständen einen solchen Vorschlag machte, lehnte vor allem
Danzig ab, man
befürchtete eine vöUige Inkorporation bei so un-
gleichen Machtverhältnissen. Ein ander Mal wurde schroffer ge-
antwortet: der König möge nur die Privilegien garantieren und nicht
Vergessen, daß man sich vom deutschen Orden abgewendet
habe,
Weil dieser nicht die Privüegien respektiert habe. In 1539 aber
gelobte der polnische König dem Reichstage, bei den preußischen
Ständen durchzusetzen, daß sie eine Polen bedrohende Gefahr
auch als sie selbst bedrohend betrachteten und sich gemeinsam
n^it den Polen gegen jeden mächtigen Feind kehrten, aber gerade
^ie Art, in der der polnische Adel die Pflicht der Landesverteidi-
gnng auffaßte, war nicht angetan, das Vertrauen der Nebenländer
stärken.

Einer engeren Union mit Litauen widerstrebten neben Utauischen
Magnaten, die ihren Einfluß zu verlieren befürchteten, vor aUem
^e Interessen der JageUonischen Dynastie. In Litauen war sie
erblich und ihre Macht war dort weit weniger begrenzt als in
Idolen; durch eine Union würden die pohlischen Verhältnisse maß-
gebend werden, denn Polen war doch der überlegene Teü im Reiche:
die ErbHchkeit würde bedroht werden und die könighche Macht
gewiß vermindern. Aber als im Laufe der Jahre die Aussicht auf
Nachkommenschft für Sigismund II. geringer wurde, traten diese
Erwägungen zurück und in den sechziger Jahren, als die Verwick-

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lungen im Osten den Zusammenschluß erwünschter als je erschei-
nen heßen, machte der König sich zum Vollstrecker der Wünsche

des niederen Adels.

Mit Preußen fing man an. Es waren dort die großen Städte und
die Einflußreichen im Lande, die sich einer Union widersetzten.
Der niedere Adel und die kleinen Städte, zum großen Teile aus
pohlischen Elementen zusammengesetzt, zeigten sich leicht be-
reit die Union anzuerkennen, der niedere Adel konnte bei der Er-
langung der polnischen Standesprivilegien nur gewinnen. Die
großen Städte befürchteten ökonomischen Rückgang: die Bedeu-
tungslosigkeit der polnischen Städte war das abschreckende Bei-
spiel, während der Hochadel seinen Einfluß an den Kleinadel zu
verheren besorgt war. Auch protestantische Gefühle spielten eine
RoUe.

Auf dem Reichstage von 1562/63 betonte die Abordnung der
preußischen Stände, sie seien nur durch die Person des Königs
mit den Polen vereint, und bestand auf vollkommener Autonomie;
man leugnete sogar
verpflichtet zu sein auf dem Reichstage zu
erscheinen. Der König befahl aber den „Oberständenquot;, jener Op-
positionspartei, einfach im Senate Sitz zu nehmen und stieß auf
keinen Widerstand. Der König betrieb ja selbst die Union und
da wagte man keinen Widerspruch mehr. Auf dem nächsten Reichs-
tage kam es zu harten Worten und in
1565—67 erschienen die
Preußen überhaupt nicht. Da beschloß der Reichstag einfach,
daß alle auf ihm genommenen Beschlüsse sich auch auf Preußen
erstrecken sollten, woraufhin die Preußen es doch für opportuner
hielten, den Lubliner Reichstag von
1568—69 wieder zu beschicken.
Auf ihm konnten sie sich aber dem allgemem obsiegenden Unions-
gedanken nicht mehr widersetzen.

Auch für Litauen wies die Lage je länger je zwingender auf die
Notwendigkeit einer engeren Verbindung hin. Polock war in rus-
sische Hände gefallen, die Litauer waren nicht imstande sich allein
zu verteidigen, aber pohlische Hüfe konnte der König nicht brin-
gen, denn Litauen war „Auslandquot; und Kriegsdienst der Schlachta
außerhalb der Landesgrenzen war zu entlohnen, aber die Geld-
mittel fehlten dazu. Bei festerer Union der Länder würde es nur
eine Reichsgrenze geben. Der König hatte keine Nachkommen-
schaft, nach seinem Tode konnte das Reich auseinanderfallen und

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le Folgen, bei der drohenden Moskowitergefahr, waren nicht zu
g ersehen. Es waren auch in Litauen die Magnaten, die bei einem
cftiedeneren Hervortreten des gemeinen Adels, nach polnischem
^^rbdde, das die Union zur Folge haben würde, ihren Einfluß
0nbsp;befürchteten. Aber es waren auch die griechisch-

OQoxen Elemente des Landes, die sich einer engeren Union
die Union von Horodlo hatte sie ja schon jedes po-
^^schen Einflusses beraubt und man erwartete von der neuen
^^lon nur ein weiteres Zurückdrängen des orthodoxen Glaubens.

sich der König, nach dem Falle von Polock, den gan-
gW ^^^^^ ™ Reiche ohne Rücksicht auf sein Bekenntnis politisch
L^^^hzusteUen. Die unmittelbare Folge war, daß der litauische
deinnbsp;bereit erklärte, über eine engere Union zu verhan-

Undnbsp;I^önig, ein Großherzog, ein Körper

Wollt ^ ^ ^nbsp;dachte man sich die Union. Aber die Polen

en mehr, sie wollten eine vollkommene Verschmelzimg der
^^^quot;der, ein Aufgehen Litauens in Polen, ein Auswischen des li-
Q^^^^hen Namens: Neupolen sollte es heißen; unus rex, una lex
nibus, unus populus, war die polnische Fassung der Wünsche.
Seinbsp;betonte auf dem Reichstage in 1564, Polen—Litauen

An ^ ^ Reich, der vollkommenen Verschmelzung habe nur die
^ Usicht der Erblichkeit des Thrones in Litauen im Wege gestan-
. Und aus diesem Grunde verzichtete er auf das Sukzessions-
^^^ Die Polen riefen ihn zum pater patriae aus, aber die Litauer
anden auf ihrer Autonomie und man ging auseinander. Der
ni entschloß sich, noch auf andere Art den Weg zu ebnen. Der
Ernbsp;Litauen sah mit verlangenden Blicken nach den

Und der polnischen Brüder aus; auf den Landtagen in 1564
^565 bestätigte der König nun diesem niederen Adel das
Ho ^^^ Mitwirkung an den Reichstagen und gewährte ihm auch
andere Vorrechte. So ging man dem Lubliner Reichstage
^ 1569 entgegen.
Q er niedere Adel Litauens war vertreten, aber er war sclche
^j^s^äfte noch nicht gewohnt und trat völlig in den Hintergrund;
g ® Magnaten führten das Wort. Sie entwickelten allerlei interes-
jj e
Theorien: Die Einverleibung Litauens in Polen durch die
^ eirat
Wladislaw Jagiellos mit Hedwig sei null und nichtig gewe-
n. denn der Großfürst habe nicht das Recht gehabt, in der Weise

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Über seine Untertanen zu verfügen. Uebrigens sei durch die Wahl
Alexanders zum htauischen Großfürsten die Personalunion ge-
löst worden und seien dadurch alle älteren Vereinbarungen hin-
fäUig geworden, und bei der Erneuerung der Union in 1501 habe
keine ganz Litauen vertretende Gesandtschaft mitgewirkt. Man
sei aber bereit aus freien Stücken über eine neue brüderhche Ver-
einigung zu beraten und bitte um Vorschläge.

Die Polen drangen nur stürmisch in den König, er solle „durch
seine Autorität die Union mit Litauen zustande bringen.quot; Da
man so mit Gewalt vorzugehen drohte, verließen die Litauer aus
Protest den Reichstag; als Antwort hierauf verlangten die
Polen die Einverleibung des ganzen südlichen Litauens und die
Unterwerfung der übrigen Litauer, nötigenfalls mit
Gewalt,
unter die Union. Die Einverleibung Podlesiens, Wolhyniens und
des Landes von Kiew wurde durchgeführt, die Gebiete wurden der
Krone Polens „restituiertquot;, und die Vertreter der
Landschaften,
unter Bedrohung der Gütereinziehung, falls sie dem Befehle nicht
nachkämen, aufgefordert, im polnischen Reichstage Sitzung zu
nehmen; man gab nach. Was von Litauen übrig bheb, mußte sich
wohl oder übel fügen, die Union war im Grunde vollzogen, man
empfahl Litauen „weinend der Gnade des Königsquot;, Auch Preußen
konnte sich dieser Entwicklung der Dinge nicht mehr entziehen,
es wurde vollkommen in Polen einverleibt.

Im Grunde war diese Union die formelle Anerkennung eines
tatsächlich schon vorhandenen Verhältnisses. Wenn sie auch haupt-
sächlich polnischerseits betrieben wurde, so stieß sie doch nir-
gends auf energischen Widerstand; es galt nur eine Reihe „Lokalquot;-
und „Privatinteressenquot; zu überwinden. Die Notwendigkeit einer
geschlosseneren gemeinschafthchen Landesverteidigung hatte sie
beschleunigt, die livländische Frage hatte Einfluß gehabt: wieder
zeigt sich die Bedeutung äußerer Umstände.

Die Lubhner Union enthielt das Folgende: Polen und Litauen
bilden einen gemeinsamen Staat unter einem gemeinschaftlich
gewählten König. Diese Wahl soll vollzogen werden, auch wenn
einer der Teile sich dabei vertreten zu lassen versäumt hat. Der
König beschwört nur in einem Briefe alle Privilegien der Lan-
desteile, nur eine Wahl und eine Krönung, die für alle Lan-
desteile Gültigkeit haben, werden vorgenommen. Die Reichstage

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Sind gemeinsam, Verträge mit andern Reichen dürfen nur gemein-
schaftUch geschlossen werden, im Reiche gilt dieselbe Münze.
Polen können in Litauen und Litauer können in Polen Grundbesitz
erwerben: der polnischen „Kolonisationquot; wurde so der Weg ge-
ebnet. Aber die getrennte Verwaltung, die litauischen Hof- und
Staatsämter bheben erhalten. Die Staatsämter des Reiches wurden
so verdoppelt und bheben in Händen der Magnaten; das mußte
ihren Einfluß, der in den polnischen Teilen des Landes in den
letzten Jahrzehnten mit gutem Erfolg zurückgedrängt worden
war, wieder mehren. Die polnische Schlachta hatte diese geson-
derte litauische Regierung, diese Verdoppelung der „Ministerienquot;
im Lande aufheben wollen, sie hatte auf völliger Verschmelzung
bestanden, aber vielleicht war im AugenbHck nicht mehr zu er-
reichen gewesen. Spätere Könige haben diese Mehrung des Magna-
teneinflusses nicht zu reduzieren gewußt. Als die Schlachta in
i6o6 dem Könige Sigismund III. Wasa vorschlug, die Magnaten-
herrschaft zu brechen und fortan mit emem ständigen, vom Reichs-
tage gewählten Rate von drei Senatoren zu regieren, erklärte
dieser fortan nach dem Rate des gesamten Senates regieren
zu wollen, und dabei bUeb es in Zukunft----

König Sigismund II. August starb ohne Nachkommen in 1572.
I^ie ostpreußische Frage war halb gelöst worden, die livländische
Erage war halb gelöst worden, die moskowitische Frage war gar-
nicht gelöst worden. Man hatte durchgesetzt, was unter den Um-
ständen, mit den zur Verfügung stehenden Mitteln zu erreichen
^ar. Die Umstände entschieden letzten Endes in allem. Für den
Hillen und die Anschauungen des Einzelnen oder einer Gesamt-
heit blieb nur ein geringer Spielraum, sie waren eine Tendenz
Heben vielen andern und was in jedem gegebenen Falle das Ender-
gebnis war, das hing von den „Kombinationenquot;, den „Koinziden-
zenquot; ab.

Es mußte ein neuer König gewählt werden und man hatte
nicht einmal ein geordnetes Wahlverfahren, oder Regentschafts-
Verordnungen für das Interregnum. Habsburg, Siebenbürgen,

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Moskau und Schweden stellten Bewerber; der Kampf um die Be-
herrschung der Seewege im Baltikum hatte eingesetzt und auch
Frankreich stellte einen Kandidaten, aus Opposition zu Habs-
burg und aus erwachendem Interesse für die Machtentwicklung
im Baltikum. Es ist bezeichnend, das gerade dieser französische
Kandidat, Heinrich von Valois, der doch Polen am wenigsten
bieten konnte, siegte. Der Senat hatte im Lande wieder die Lei-
tung der Staatsgeschäfte an sich gebracht und die kathohsche
Partei hatte die Oberhand; da traten die Protestanten in eine
Konföderation zusammen und formulierten den Grundsatz der
Glaubensfreiheit für die „Dissidentenquot; in einer Reihe von Artikeln,
die der Reichstag anerkannte und die der neue König auch in den
Wahlkapitulationen zu garantieren hatte. Der König sollte ferner
die Schulden seines Vorgängers übernehmen, dem polnischen
Reiche ein ewiges Bündnis mit Frankreich sichern, auf eigne Kos-
ten im Kriegsfälle ein Heer und eine Flotte ausrüsten (Danzig
hatte zur Wahrung seiner Monopolstellung bisher geweigert am
Flottenbau mitzuwirken); er sollte das Prinzip der unbeschränk-
ten Wahlmonarchie anerkennen, während vom Reichstag gewählte
Senatoren seine Regierungshandlungen überwachen sollten. Das
konnte zu parlamentarischen Formen führen, aber es führte bald
zur völligen Vorherrschaft des Senats. Dem Reichstag stand die
Entscheidung über Krieg und Frieden und über die zu nehmenden
müitärischen Maßnahmen zu, während das Recht der Untertanen,
im Falle der Verletzung der Wahlkapitulationen den Gehorsam
aufzusagen, ausdrücklich festgelegt wurde. Der neue König kam
Anfang 1574 quot;ach Polen und schon im Juli verheß er wieder in
heimhcher Flucht das Land, als sich ihm die Aussicht auf die fran-
zösische Krone bot; ihm mochte das polnische Königtum wohl
nicht allzusehr angestanden haben.

Wieder mußte gewählt werden. Habsburger und Moskowiter
waren die Bewerber; das Magnatentum rief den Habsburger zum
König aus. Der gemeine Adel wollte die Wahl nicht anerkennen
und einer seiner Führer, Jan Zamojski, schlug die Nachfolge der
Schwester König Sigismund II. August, des letzten Sprosses der
Jagellonen, vor. Da ergab sich eine gleiche Situation wie bei der
Nachfolge Hedwigs vor zwei Jahrhunderten. Der die Prinzessin
heiratende Fürst würde auch die Königskrone erwerben. Man

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von

lenkte die Andacht auf Stephan Bathory, den Wojewoden
Siebenbürgen, den Türkenvasallen. Die Schlachta hatte die Krö-
nungsstadt besetzt, Stephan Bathory griff zu und die Magnaten-
Partei wagte nicht, es auf einen Bürgerkrieg ankommen zu lassen.

olen ging einem großen, aber kurzen Aufschwimg entgegen. In
^576 wurde der König gekrönt und gleich wurden mit Einsicht
mid Energie die Regierungsgeschäfte zur Hand genommen. Die
ntwicklung des Rechtsverkehrs wurde gefördert, das Münzwesen
Reorganisiert; die Bauern wurden in Schutz genommen und vieler-
1 wirtschaftliche Fragen gelöst. Aber auch außenpolitisch wurde
Vom König in innigem Einvernehmen mit dem bedeutenden Kron-
marschall Jan Zamojski der Wahrung der Interessen im Balti-
Mnbsp;getragen.

Moskau rang um den Ausweg zur Ostsee. Das handelspolitisch
. deutende Nowgorod hatte es sich unterworfen, Livland stand
1® 2t der unmittelbaren Beherrschung der Küsten und Häfen
im Wege. Dorpat war gewonnen worden, die Narwaschiffahrt
^ehon in russischen Händen. Wenn Livland in russische Hände
lel^, War Litauen, der Handelsverkehr im Dünabecken, schheß-
^eh die Sicherheit der Reichsgrenzen bedroht. Dänen und Schwe-
in hatten sich als Rivalen eingestellt, das Problem war schon
^eit über den Gegensatz zweier Mächte hinausgewachsen.
•Man fing damit an Danzig, das den König nicht anerkennen
zu unterwerfen, und dann begann der dreijährige Krieg
gegen Moskau, Polock wurde zurückerobert und da das Adels-
gebot keine genügende Stütze war, wurden ungarische und
itsche Söldner verwendet, wurde jeder zwanzigste Bauer auf
fa^ ^\'^ongütern ausgehoben. Man näherte sich den neueren Auf-
über die Zusammenstellung des Heeres. Die Lage wurde
1quot; Moskau bedrohlich, da griff der Zar zu einem öfters angewand-
en Mittel: er verhandelte mit der Kurie über eine Kirchenunion
ndnbsp;Vermittlung der Kurie wurde ein zehnjähriger Waffen-

. stand geschlossen. Livland und Polock wurden Polen zuge-
wesen. Nur hatten die Schweden inzwischen Narwa in ihre Ge-
gebracht und wollten es den Polen nicht aushefern. Die
^en waren aus Kurland verdrängt worden und die mosko-
^tische Gefahr wich für einige Zeit.
Iwan der Schreckliche starb in 1585, sein Nachfolger war schwach

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und bedeutungslos. Aber auch Stephan Bathory starb im folgenden
Jahr. Die großen Verheißungen eines euisichtsvoUen und straffen
Regiments, das dem polnischen Volke den Weg zu brauchbaren
pohtischen Formen hätte ebnen können, gingen nicht in
Erfüllung-
Es war einer jener unglückhchen Zusammenläufe, die sich in spa-
teren Zeiten noch häufen sollten.

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NEUNTES KAPITEL.

i^iE Häuser wasa und wettin. der niedergang
und die schwerwiegenden folgen der
koinzidenzen.

^ Hie polnische Territorialgeschichte der kommenden sechs Men-
schenalter ist in weit höherem Maße Fürstengeschichte als nor-
malerweise der Fall ist. Jede neue Dynastie bringt üire eignen
nteressen und Orientierungen, die meist wenig mit den polnischen

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zusammenfallen; die schwierige Lage wird so noch kompliziert,
sie trifft mit dem verhängnisvollen Auftreten mächtiger Nach-
barn an drei Seiten zusammen. Gebietsveränderungen werden
in dieser Zeit rein tatsächhcher Natur, sie werden die Folgen gün-
stiger oder ungünstiger Kriegsereignisse. Im siebzehnten Jahr-
hundert zeigt der polnische Staat inquot; diesen Kriegsverrichtungen
noch eine recht bedeutende Widerstandskraft.

Nach bedenklichen Wahlkämpfen wurde in 1587 Sigismund III-,
der Sohn König Johanns III. von Schweden, als polnischer König
anerkannt. Er war mütterlicherseits den Jagelionen
verwandt,
konnte also Ansprüche, zum mindesten auf die litauischen Gebiete
machen, denn dort hatte die Dynastie erblich geherrscht, wenn
auch Sigismund II. August auf das Erbfolgerecht verzichtet hatte.
Hauptsächlich aber hoffte man durch seine Wahl den polnisch-
schwedischen Gegensatz im Baltikum aus dem Wege zu räumen
und in gemeinschaftliche Interessen zu verwandeln. Die alte Unions-
politik, die Neigung zum Kompromisse, trat wieder zutage. Aber
man hatte sich in dieser Union mit Schweden verrechnet. Bei der
Beschwörung der pacta conventa verpflichtete sich zwar der König
das in schwedischen Händen befindliche Esthland dem polnischen
Reiche einzuverleiben, aber das klang doch nicht allzusehr nach
Union, und die Schweden waren um kein Haar versöhnlicher.

In Schweden wurde der Bruder des Königs, Karl, das Haupt der
protestantischen Partei und sah schon mit begehrlichen Blicken nach
der Krone. König Johann III. hatte bei seinen Lebzeiten seinem
Sohne Sigismund nicht die Nachfolge in Schweden sichern können.
Als er in 1592 starb, übernahm Karl sofort die Regentschaft und
stellte ein protestantisches, in der livländischen Frage gegen Polen
gerichtetes Programm auf. Sigismund konnte die Krönung zu Up-
sala nur erlangen, indem er die Lehre Luthers als Staatsreligion
anerkannte und seinem Oheim Karl die Regentschaft übertrug.
Er konnte sich in Schweden nur auf die katholischen und die mit
dem harten Regimente Karls unzufriedenen Elemente stützen.
Die ganze katholisch-protestantische Spaltung Europas begann
sich auch auf das Baltikum zu erstrecken. Polen, Oesterreich,
Spanien und England,, die Niederlande, Schweden wurden die
beiden einander gegenüberstehenden Kombinationen.

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Karl, der Regent in Schweden, verständigte sich seinerseits mit
^oskau: den Schweden wurde Esthland überlassen, den Russen
e Schiffahrt auf der Narwa, wenn auch unter schwedischer Kon-
trolle, gesichert. In der esthländischen Frage kam man so mit den
pohlischen Wünschen in Gegensatz. Als Sigismund in 1598 nach
Schweden zog, um den drohenden AbfaU zu verhindern, wurde
er abgesetzt und nur seinem Sohne Wladislaw, unter bei den herr-
schenden Verhältnissen unerfüllbaren und späterhin auch uner-
ullten, Bedingungen, das Nachfolgerecht zuerkannt. Bald war
^arl König von Schweden (1604) und seitdem wurde aus der ge-
P anten polnisch-schwedischen Union ein heftiger Gegensatz
zwischen den beiden Reichen. Die polnischen Wasas hatten seit-
dem den für Polen wenig förderhchen Ehrgeiz, die schwedische
rone wiederzugewinnen. Die Folgen waren schädigende Kriege,
le aber im Grunde doch unvermeidhch waren.
Karl setzte sich in Finnland und Esthland fest (1600) und er-
oberte beinahe ganz Livland. König Sigismund trat jetzt formell
quot;als König von Schwedenquot; Esthland an Polen ab, und erst danach
giffen die Polen in die Kriegsverrichtungen ein.. Man schloß mit
Moskau einen neuen Vertrag, brachte die Moldau zur Ruhe und
kehrte sich dann gegen die Schweden; der Reichstag bewilligte dazu
Beuern. Man eroberte Livland zurück und drang bis nach Reval
^or; man nahm Dorpat (1603) und schlug die Schweden noch ein-
mal vernichtend in 1605, aber innere Unruhen hauptsächlich
^erhmderten den Sieg auszunützen.
Es hatten sich Konföderationen gebildet, die sich gegen die
absburgische Politik des Königs richteten (er wollte erneut eine
he mit einer österreichischen Erzherzogin eingehen und diese
■^anzpohtik konnte Polen wieder mit in die Türkengefahr hin-
einziehen). aber auch anderweitig die Interessen des Adels durch
^eformversuche des Königs gefährdet sahen; ihnen gesellten sich
leunzufriedenen Dissidenten (Protestanten und Schismatiker) zu,
le sich ebenfalls durch habsburgischen Einfluß bedroht sahen,
enn durch die überzeugt kathohsche Pohtik des Königs war
olen ganz in die kathohsche europäische Koahtion hineingezogen
Worden. Es kam sogar soweit, daß man den König des Thrones
Verlustig erklärte. Da konnte nur Waffengewalt entscheiden; der
König behielt die Oberhand, mußte aber die Truppen aus Esth-

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land heranziehen und mit den Schweden, trotz der mihtärischen
Erfolge, einen Waffenstillstand schheßen. Gegen die besiegten
Rebellen wagte der König aber nicht bestrafend vorzugehen.

Mit Moskau entstanden gleichzeitig Verwickelungen durch das
Auftreten der falschen Demetriusse, Doppelgänger eines ermor-
deten, nachfolgeberechtigten Moskowiterfürsten, die von Polen
aus nacheinander, teilweise mit Erfolg,, sich in Moskau durch-
zusetzen versuchten. Der erste fand Anhang auch bei polnischen
Magnaten, trat zum Katholizismus über und nahm so die kathoh-
sche Geistlichkeit für sich ein, denn man erhoffte — wie schon
so oft — durch ihn Rußland der weströmischen Kirche zuzuführen.
Der Polenkönig legte diesen polnischen Sympathien nichts in den
Weg. Demetrius fand auch Stütze bei den Tataren und anderen
unzufriedenen Elementen und wußte sich in 1605 zum Zaren auf-
zuwerfen, fiel aber schon im nächsten Jahre wieder. Die zur Herr-
schaft gelangende Opposition wurde von polnischen privaten
Kriegerscharen hart bedrängt, erlangte schwedische HUfe gegen
Abtretung der Ansprüche auf Livland und Esthland, und ver-
leitete so den Polenkönig, als die Verwickelungen größeren Um-
fang annahmen, ohne die Zustimmung des polnischen Reichs-
tages einzugreifen: er hoffte seinem Sohne die Zarenwürde er-
werben zu können, denn solch ein Angebot hatte ihn aus dem
in Verwirrung sich befindenden Moskau erreicht. Ihm träumte
von einem großen russisch—polnisch—^litauischen Reiche. Vor
Smolensk stieß er auf Widerstand, andere Abteilungen drangen
weiter vor, schlugen die russisch—schwedischen Kräfte vernich-
tend und standen bald in Moskau, wo man eine neue Zarenwahl
erwog. Es waren zwei Prätendenten, ein schwedischer und ein
polnischer Königssohn, aufgeworfen worden. Die Bojaren ver-
langten Uebertritt zum orthodoxen Glauben und Heirat mit
einer Russin. Der erzkatholische Polenkönig zögerte; Smolensk
widerstand ihm, man war Ende 1610. Eine neue Konstellation
trat ein: 1611 kam es zwischen Schweden und Dänemark zum
Kriege, eine polnisch—dänische Allianz lag auf der Hand . . .
aber der Polenkönig konnte es nicht über sich gewinnen, sich mit
dem Erzfeinde seines schwedischen Vaterlandes zu verbinden;
die Gelegenheit wurde versäumt. Im selben Jahre starb der Schwe-

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denkönig, Gustav Adolf folgte nach, schloß in 1613 unter engli-
scher
Vermittlung mit den Dänen Frieden und konnte sich danach
gegen Moskau kehren; gegen Polen setzten die Kriegsverrichtungen
vorläufig aus.

Sigismund hatte inzwischen noch in 1611 Smolensk erobert,
aber bei mangelnder Unterstützung aus Polen konnte er sich in
J612 einer russischen Volkserhebung gegenüber in Rußland nicht
alten. Michael Romanov wurde zum Zaren erhoben und Sigis-
jnund mußte das Feld räumen; sein Traum war vernichtet. In Po-
en mußte man erhebliche Steuern aufbringen, um die meutenden,
ohnheischenden, über Polen sich ergießenden Truppen zu be-
j^en. Wären diese Steuern eher bewilligt worden, so hätte das
j oskauer Abenteuer vermutlich einen andern Verlauf gehabt,
n 1616 wurde ein neuer Polenzug gegen Moskau unternommen,
^an wollte die Ansprüche nicht ohne weiteres aufgeben und der
Reichstag bewiUigte die Mittel. Man drang bis weit in Rußland
Vor. aber ohne entscheidenden Erfolg: in
1618 wurde auf sech-
Jahre ein Waffenstillstand geschlossen, bei dem die polni-
Ansprüche aufgegeben wurden, gegen die Abtretung von
molensk, Novgorod Seversk und Livland russischerseits.

Schon in 1617 waren nach der türkischen Seite hin für Polen
^eue Gefahren entstanden. Die unter polnischer Botmäßigkeit
stehenden Kosaken unternahmen auf eigne Faust gegen Türken
nnd
Tataren erfolgreiche Kriegszüge, man war ihrer in Polen unter
en herrschenden Umständen nicht mehr Herr. Gleiche Privat-
^^ege Wurden gegen den türkischen Vasallenstaat, die Moldau
Geführt. Nach dem Ausbruche des dreißigjährigen Krieges, der
as ganze nördUche Europa aufwühlte, brach in
1620 auch der
nrkische Rachezug gegen Polen los. Die Polen mußten bald unter
schweren Verlusten das Feld räumen, wußten sich aber im näch-
^ Jahre in einem festen Lager am Dnjestr zu halten und die
Vergeblich stürmenden Türken bald zu einem Friedensschluß ge-
jj^^gt zu machen: die Polen sollten danach die Kosaken zurück-
alten und der Sultan wollte ein Gleiches mit den Tataren tun.
0 bekam man in Polen wieder die Hände frei für den seit
1617
Jit Wechselnder Intensität geführten, neuen Krieg gegen die

Schweden.

Ob dieser Schwedenkrieg seine Hauptursache in den immer

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noch ungeschwächt aufrecht erhaltenen Erbansprüchen der pol-
nischen Wasas, oder in der mit religiösen und ökonomischen Mo-
tiven verflochtenen Expansionslust des siegreichen Gustav Adolf
lag, muß dahingestellt bleiben, wenn auch der letzte Grund
wohl
der wahrscheinlichste ist. In Polen aber sah man im erstgenannten
die Ursache und hielt den Krieg für eine rein d5mastische Ange*
legenheit, die man nicht zu unterstützen brauchte; diese
Ansicht
stellte sich aber als irrig heraus und hatte die bedenklichsten Folgen.

Die Schweden hatten unter englischer und niederländischer
Vermittlung (Handelsinteressen waren der Grund dazu) mit Mos-
kau in 1617 Frieden geschlossen: Ingermanland und
Ivangorod
blieben schwedisch, die Russen waren von der Ostsee abgedrängt.
Im Westen hatte man Dänemark niedergeworfen und konnte
jetzt an die Abrundung des schwedischen Besitzes am Baltikum
gehen, die Küste sollte schwedisch werden; man stand nur noch
gegen das Deutsche Reich und gegen Polen. Man drang vom Nor-
den aus gegen Polen vor: Livland wurde erobert, dann Kurland
und bald Ost- und Westpreußen, nur Thorn und Danzig hielten
sich noch; da fing man in Polen allmählich an, den König zu unter-
stützen. Der Reichstag von 1629 bewilligte endlich erst bedeu-
tende Mittel: die Schweden wurden bald entscheidend geschlagen,
als man auch über die entlassenen Wallensteinschen Söldner ver-
fügen konnte. Dieses Eingreifen deutscher Streitkräfte lenkte
Gustav Adolf nach westlichen Küstengebieten: er richtete sich
gegen das deutsche Pommern und war zu einem
Waffenstillstände
mit Polen bereit; er wurde auf sechs Jahre zu Altmark im Juli
geschlossen: Livland blieb in schwedischen Händen, ebenso wich-
tige Küstenplätze im herzoglichen Preußen.

Der folgenschwerste Umstand dieses Krieges war aber ein an-
derer: in 1618 starb der Preußenherzog Albrecht Friedrich kinder-
los, es folgte nun nach den Bestimmungen des Vertrages von 1563,
in welchem die brandenburgische Linie mitbelehnt worden war,
der Kurfürst von Brandenburg als Herzog in Preußen nach; dieser
Tatsache hatte sich Polen bei der drohenden Türkengefahr und
dem neuen schwedischen Kriege nicht widersetzen können. Es
war ein weiterer Schritt in der Richtung des vollkommenen Ver-
lustes des herzoglichen Preußens und konnte so ein erster Schritt
zum Verluste Westpreußens werden.

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In 1632 starb König Sigismund III. nach einer unglückhchen
I^egierungszeit. Er hatte sehr persönliche, streng kathohsche und
Wenig pohlische Politik getrieben; im Lande hatte er ebenso wenig
nterstützimg als bei seinen katholischen Verbündeten gefunden,
s fragt sich aber, in wiefern die folgenschweren Schwedenkriege
ausgeblieben wären, oder eine andere Wendung genommen hätten,
Wenn in Polen kein Wasa geherrscht hätte und keine überzeugt
atholische Politik geführt worden wäre, denn der Gegensatz der
eiden
Mächte in Livland bestand ja schon, ehe an eine Union
Sedacht wurde und auch die Kosakenwirren waren nicht durch
die
Person des Königs beeinflußt worden.

^es Königs Sohn Wladislaw IV. folgte unangefochten nach;
er War weit mehr „Polequot; als der Vater, hatte durch seine kriege-
yischen Tätigkeiten die Sympathien des Adels erworben und war
m religiösen Sachen viel toleranter als der Vater; überdies war die
augenblickliche Lage Polens für andere Bewerber recht wenig
Verlockend. Der neue König verpflichtete sich, keine eigenmäch-
Kriege, wie der Vater zu führen. Auch forderten die Anders-
Saubigen, die von Sigismund sehr zurückgesetzt worden waren,
politische Gleichberechtigung in Aemtern und Würden, die ihnen
zugesichert wurde. Auch die Forderungen der Nichtunierten
]^rden teilweise berücksichtigt. Diese Nichtunierten waren jener
eil der orthodoxen Bevölkerung, der der erneuten Kirchenunion
^on Brzesc in 1595, durch welche bei Zubilligung der slawischen
Prache und des griechischen Ritus, Anhänger der Orthodoxie
er Anerkennung der weströmischen Lehrmeinungen gewonnen
Wehden waren, nicht zugetreten waren.

. nrch seine Toleranz näherte sich der König einerseits die Dis-
enten im eignen Lande, erhöhte aber auch andererseits seine
ssichten auf die Zurückgewinnung des schwedischen Thrones.
Gleich nach dem Regierungsantritte hatte Wladislaw einen
®iquot;neut ausgebrochenen Russenkrieg zu führen, schlug die Angrei-
er und zwang sie zu einem „ewigen Friedenquot; in 1634, bei welchem
en Polen Smolensk, Tschernigov und Severien gesichert wurden
nnd der Zar, als Gegenleistung für seine Anerkennung polnischer-
^eits, nochmals auf Livland verzichtete.

Der Waffenstillstand mit Schweden wurde in 1635 erneuert
^iid um 26 Jahre verlängert: den Schweden wurde Livland über-

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lassen, gegen Räumung der ihrerseits besetzten Städte in Preußen.
Der pohüsche Reichstag woUte keine dynastische PoHtik gegen
Schweden unterstützen, der König verzichtete daher auf Betätigung
im Ostseegebiet imd kehrte sich den südösthchen Grenzen
seines
Reiches zu: er wollte die Küste des Schwarzen Meers gewinnen
und so den Verlusten im Norden das Gleichgewicht halten. Vene-
dig, Oesterreich, der Papst und sogar Moskau sollten ihm dabei
helfen, hauptsächlich aber die Kosaken; und hier scheiterte der
Plan am Widerstande des polnischen Adels.

In den weitgestreckten Flächen diesseits und jenseits des Dnjepr
(dem östhchen Teüe der heutigen Ukraine = Grenzland) hatte
sich das Kosakentum, jene der Verteidigung gegen die primitiven
und unruhigen Tataren angepaßte ungebundene kriegerische Or-
ganisation, zu einer Gemeinschaft eigener Art herausgebUdet, von
der kaum mehr zu sagen war, inwiefern sie noch als dem
polnischen
Staate eingeghedert betrachtet werden konnte. Ihr selbständiges
Auftreten und dessen für Polen schwere Folgen wurden schon er-
wähnt. Diese Gememschaft hatte eine große Anziehungskraft auf
Abenteurer und Gestrandete aller Art, aber auch auf die hörigen,
ruthenischen Kleinbauern, die auf den Latifundien der polnischen
Magnaten in den westlichen Gebieten saßen. Es war ihnen ein Mit-
tel, ihre Freiheit und Unabhängigkeit zurückzugewinnen und auf
den Beutezügen gegen die Tataren Reichtum zu erwerben. Durch
fortschreitende „Verkosakungquot; entstand aber in jenen dünnbe-
völkerten westlichen Siedlungsgebieten Mangel an Arbeitskräften
und so Gefahr für den Erfolg der Kolonisation. Es war ein
sozialer
Gegensatz, ein Interessenstreit, der bei den damaligen Verhält-
nissen wohl kaum befriedigend zu lösen war. Wenn man bedenkt,
daß es sich immer nur um 40000 „registriertequot; Kosaken handelt,
kann man daraus ermessen, wie schwach die ukrainischen Gebiete
bevölkert waren und welche Schwierigkeiten einer großzügigen Ko-
lonisation im Wege standen; das Werk war wohl auch für einen
weit kräftigeren Staat als Polen es war, kaum zu bewältigen.

Polnischerseits versuchte man durch „Registrierungquot; der Ko-
saken deren Zahl festzulegen und so dem Zuströmen der Bauern-
elemente zu steuern; man versuchte auch die Kosaken der festen
Kolonisation dienstbar zu machen; da stieß man auf Widerstand,
es galt die „Rechtequot; jener Gemeinschaft. Uebergriffe folgten auf

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beiden Seiten, Aufstände wurden blutig unterdrückt; die Spannung
wuchs seit dem obenerwähnten Türkenkriege in 1620—1621. Der
Reichstag von 1638 wollte alle nicht registrierten Kosaken der
Hörigkeit polnischer Grundherren unterwerfen, und auch die
»registriertenquot; ihrer Unabhängigkeit berauben. Der darauf fol-
gende Aufstand wurde mit Mühe unterdrückt. Des Königs beabsich-
tigter Türkenkrieg, der den Kosakeneinfluß vergrößert haben
würde, wurde naturgemäß abgelehnt.

Lgt;es Königs Plan desungeachtet auf eigne Faust zu handeln,
hatte schwere Folgen: außer an Moskau, Venedig und den Papst,
hatte der König sich in 1647 auch an die für ihn sehr wertvollen
Kosaken gewendet; als der Reichstag wieder ablehnte, sahen sich
die
Kosaken um einen großen Beutezug betrogen. Ein von pol-
nischen Magnaten schwer gekränkter Schlachtzitz, Chmielnicki,
Warf sich zu ihrem Anführer auf und der große Aufstand brach
los. Der in seinen Plänen behinderte König soll ihn nicht verur-
teilt haben. Aus dem Aufstande, bei dem auch Tatarenhilfe ein-
gerufen wurde, wurde bald ein sozialer Krieg: die unterdrückten
Kiembauern eilten in Scharen herbei, und aus diesem wurde
schließlich ein Religionskrieg; die ganze schismatische Welt in
jenen Gebieten lehnte sich auf. In zwei Schlachten wurden die
Polen in 1648 geschlagen; der König starb auf dem Wege nach

Südosten.

Ein Bruder des Verstorbenen, ein Geistlicher, Johann II. Kasi-
mir, folgte nach; kein ausländischer Prätendent begehrte die pol-
nische Krone. Johann brachte, durch Interessengegensätze zwi-
schen Chmielnicki und seinem tatarischen Bundesgenossen be-
günstigt, in 1649 einen Vergleich mit Chmielnicki zustande: 40.000
registrierte Kosaken wurden anerkannt, die Wojewodschaften
Kiew, Braclav und Tschernigov an der westlichen Grenze des
Kosakengebietes wurden diesen überlassen, von polnischen Trup-
Pen geräumt und von orthodoxen Wojewoden verwaltet, sollten
auch fernerhin Bedrängten als Zufluchtsstätte offenstehen und
Juden und Jesuiten verschlossen bleiben, während der Metropolit
von Kiew im polnischen Senate einen Sitz erhielt. Bauernaufstand
und Kosakenerhebung waren so von einander geschieden worden,
die Bauern hatte man fallen lassen. Die Polen waren nicht be-
friedigt, ebensowenig aber Chmielnicki. Da er auf die Bauern,

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nachdem er sie im Stich gelassen hatte, nicht mehr rechnen konnte,
suchte und fand er wieder Hilfe bei den Tataren und stellte sich
unter die türkische Oberhoheit; er begehrte ein eignes Reich, der
Sultan sollte ihn unterstützen.

In 1651 brach erneut ein Krieg aus: in einer gewaltigen Schlacht
wurden die Kosaken und Tataren von den Polen geschlagen, aber
der Sieg wurde nicht ausgenützt, das Heer verlief sich und war
erst nach einem Monat wieder gesammelt vor Kiew. Die
Stadt
wurde genommen und erneut wurde unterhandelt. Die Zahl der
registrierten Kosaken wurde auf 20.000 herabgesetzt; auch
ander-
weitig erreichte man einige Erfolge. Der Reichstag des nächsten
Jahres wurde aber durch das „Vetoquot; eines einzigen Abgeordneten
(der Fall war der erste) zerrissen, der Friede nicht
bestätigt und der
Krieg folglich weiter geführt. Chmielnicki schmiedete
größere
Träume: KleLnrußland und die Moldau wollte er zu einem Reiche
vereinigen. Er besiegte ein pohlisches Heer, aber Aufstände in
Siebenbürgen und der Walachei zerschlugen die Pläne. Chmiehiicki
schlug sich nach diesem Mißlingen auf die Seite des Zaren (1654),
das mußte einen russisch-polnischen Krieg erwecken und auf die
Schwächung Polens kam es dem Kosaken nur an, denn sein Traum
emer unabhängigen Ukraine konnte im russischen Staatsverbande
weit weniger gelingen, als unter polnischer Botmäßigkeit. Der Zar
ging erst nach langem Ueberlegen auf die Kosakenvorschläge ein.
Russische Heere zogen im Frühling 1654, trotz des Waffenstül-
standes mit Polen, vor Smolensk und
m die Ukrame ein. Smolensk
fiel im September und ist seitdem russisch geblieben. In der Ukraine
hatte man nicht viel Erfolg.

In diesen schweren Zeiten komplizierten wieder die polnischen
Beziehungen zu Schweden auf entscheidende Weise die Lage.
Christine von Schweden, die Tochter Gustav Adolfs,
verzichtete
zugunsten ihres Vetters Karl Gustav von Pfalz-Zweibrücken in
1653 auf den Thron. Da erhoben die polnischen Wasas wieder zu
unseliger Zeit ihre Ansprüche auf die schwedische Krone. Wieder
aber ist es fragHch, ob der Schwedenkrieg ausgebheben wäre, wenn
dies nicht geschehen wäre. In Schweden herrschte seit manchem
Jahre neue Kriegsstimmung: „Schweden muß Krieg führen, denn
es ist armquot;, war die Argumentation, die inneren Verhältnisse
drängten zum Kriege. Und so wurden die pohlischen Ansprüche

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^ elleicht nur der äußere Anlaß. Man hatte Dänemark niederge-
bogen; man hatte Finnland und Livland, man hatte die Oder-
^ undung und das Wismarer Gebiet und durch Heirat Aussicht
g^jJ den Erwerb der Kielerbucht. Es fehlten nur noch die preußi-
j^. Gebiete und die Herrschaft im Baltikum war voUkommen.
fieser letzte Gewinn würde noch die Beherrschung überaus reicher
Unterländer bedeutet haben: der „unvermeidhchequot; Krieg war so
p ökonomisch von pößter Bedeutung,
^olen stand eine seiner schwersten Zeiten bevor,
ünt ^^ begann in 1655. In einem Monat war ganz Großpolen
wollte den Schwedenkönig als Herrn anerken-
\' Wenn er die Privilegien garantieren wolle. Warschau und
a au fielen bald darauf in schwedische Hände. Moskowiter und
dis h nahmen den Südosten des Landes; ein anderes schwe-
^sches Heer eroberte von Livland aus Litauen, das sich Schweden
den\'quot;^^ Lfnion verband. Polen war fast widerstandslos verschwim-
Joh nnter Schweden, Russen und Kosaken aufgeteilt. König
^^ ann Kasimir war aus seinem Lande gedrängt; er bot dem
Tod^^^-nbsp;augenblickhche Hilfe die Nachfolge nach seinem

teil ^ ^^ Idolen an . . .., aber dem Kaiser war dieser Thron zu
er, der voraussichtlichen Kriege nicht wert.

nächsten Jahre richtete sich die polnische Widerstandskraft
gsam auf. Das heldenmütig verteidigte Czenstochau gab das
\'quot;i-büd. In einer dreitägigen Schlacht bei Warschau wurde man
nian besiegt, aber die Lage besserte sich. Mit Rußland hatte
Sich verständigt: dem Zaren war die Nachfolge in Polen vor-
P\'egelt worden. Auch das Verhältnis zwischen Russen und
Verlequot;\'^^\'^ War nicht mehr das beste: der Zar ging auf vöUige Ein-
Von^p^\'^^ der Ukraine aus, die geträumte Autonomie konnte nicht
^^nßland kommen. Chmielnicki starb in 1657. Es traten in
dasnbsp;Parteiungen auf: die Offizierspartei hielt zu Polen,

Zu -^^quot;^^ine Volk zu Rußland. In 1658 kam jene mit den Polen
nem Vergleich: die Wojewodschaften Braclav, Kiew und Tscher-
dfV^ sollten zu einer Einheit zusammengefaßt werden und als
autonomer Teil der Lubliner Union zutreten. Der schon
des ^^.^^nheren Verträgen unausgesprochen enthaltene Gedanke
zutnbsp;gleichberechtigten Zusammenschlusses trat hier offen

age: auch west- und oströmisches Bekenntnis wurden gleich-

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gestellt. Wieder zeigte sich im polnischen politischen Denken der
föderahstische Zug, der seit drei Jahrhunderten so oft hervorgetre-
ten war. Vielleicht hätte auch diese junge Union Lebensfähigkeit
gezeigt, aber
die Umstände heßen ihr nicht die zur gesundei^
Entwicklung
nötige Zeit.

In 1657 griffen Dänemark, Brandenburg, die Niederlande und
der Kaiser in den Krieg gegen Schweden ein, zwar mit
ungleiche^
Erfolg. Die Kosaken wurden von den Tataren niedergehalten t^^
der siebenbürgische Fürst, der mit Schweden im Bunde war, voo
kaiserlichen und polnischen Truppen zurückgedrängt. Der SchWC
denkönig starb unerwartet in 1660 und die vormundschafthche R®\'
gierung für seinen minderjährigen Sohn war noch im selben Jahr^
zum Friedensschlüsse bereit. Er wurde zu Oliva in 1660
geschlossen-
Frankreich und die Seemächte traten für das besiegte Schwede^
ein: man wollte das ,,Gleichgewichtquot; wahren, keiner der Staaten
im Ostseegebiete durfte zu mächtig werden.

Was Polen anbelangt: man verzichtete auf die schwedische Kr^\'
ne, trat Livland bis zur Düna an Schweden ab, behielt Kurland und
auch Westpreußen . . . ., mußte aber die Souveränität
Branden-
burgs über das herzogliche Preußen anerkennen. Das war der
schwerste Schlag; die Verhältnisse hatten ihn herbeigeführt. Nach
dem Schwedeneinfalle in die preußischen Gebiete in 1655
wurde
der brandenburger Kurfürst durch die Umstände gezwungen, sich
für das herzogliche Preußen zum Lehnsmanne Schwedens
erklären. Und als in 1657 unter Vermittlung des Kaisers
Branden-
burg zur antischwedischen Koalition übertrat, bot Polen im Vef
trage zu Wehlau dem Kurfürsten als Gegenleistung für die
augen-
bhckliche HUfe die Anerkennung seiner voUen Souveränität über
das herzogliche Preußen. Zu Oliva wurde diese Abmachung aUer-
seits anerkannt. Ostpreußen war jetzt ganz verloren und das
„könighchequot; Preußen bedroht: es mußte bei den
Brandenburgern
auf die Dauer der verständliche Wunsch hervortreten, Ostpreußei^
mit ihren Gebieten im deutschen Reiche zu vereinigen.

Mit Moskau schloß Polen in 1667 zu Andrussow einen dreizehn-
jährigen WaffenstiUstand. Auch die Partei des gemeinen
Kosaken-
volkes, die in der östlichen Ukraine herrschte und seit die Partei-
ungen eingetreten waren, zu Rußland gehalten hatte, sah sich
ihren Hoffnungen betrogen; sie knüpfte Unterhandlungen mit den

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Polen an, aber hatte dort nicht mehr die Kraft zu einem Kriege
gegen Moskau. So wurden zu Andrussow den Russen die Länder
ani hnken Dnjeprufer überlassen. Kiev und Smolensk wurden

adurch aufgegeben, Witebsk und Polock blieben polnisch,
ab^^ dankte Johann Kasimir, nach dem Tode seiner Gattin,
a • Die verhängnisvollen Kriegs] ahre hatten zu schwer auf ihm

gelastet.

Lgt;nrch diese Abdankung schied das Haus Wasa aus der pol-
nischen Geschichte aus. Die Regierung seiner Könige war für
0 en wenig glücklich gewesen. Die Herrscher waren unbedeutend
schwach gewesen, keine rechten Polen; hatten keine spezi-
. seh polnischen Ziele gehabt und so auch wenig Unterstützung
Lande gefunden. Aber die Königswürde war auch schon ganz
^nm Schemen geworden. Der Adel hatte alle Macht im Staate an
en gebracht, hatte die königliche Exekutivgewalt verdrängt,
alles vorbehalten, aber kein anderes brauchbares Exekutiv-
organ zustande gebracht; nach diesen brauchbaren Formen
Suchte man das 17. und 18. Jahrhundert hindurch und als man
endlich anfing über den „toten Punktquot; hinwegzukommen, da
griffen äußere Mächte vernichtend ein.

l^ie Wasapolitik wird für die Verluste in 1660 verantworthch
gemacht; sicherlich hat sie die Entwicklung der Dinge beeinflußt.
Oer hat sie sie entscheidend beeinflußt?
Die entscheidenden Ereignisse in dieser Periode waren der
^^osakenaufstand und die Schwedenkriege und beider Gleichzei-
gKeit. Auch ohne Wasas in Polen wären beide sehr wahrschein-
e 1 eingetreten und vermutlich auch gleichzeitig gewesen. Ein
rkeres, straffer organisiertes Polen hätte vielleicht sogar mehr
nwierigkeiten in der Kosakenfrage erfahren, denn vermutlich
fe es auch von Anbeginn eine agressivere Politik gegen Moskau
geiührt und hätte dadurch die Erhebung einen weit größeren
nifang erhalten. Und ob eine energische Verwahrung gegen die
randenburgische Erbfolge in Westpreußen in 1618 auf die Dauer
^if Erfolg gekrönt worden wäre, ist äußerst fraglich, denn hätte
sie nicht wahrscheinlich eine kräftige und überzeugte schwedisch-
randenburgische Allianz gegen Polen hervorgerufen und wäre
ann unter dem Druck aus Osten und Westen mehr für Polen zu
erreichen gewesen?

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Es ist im Grunde recht müßig, sich auf dergleichen Fragen ein-
zulassen. Es hat aber immerhin den Vorteü, daß man dadurch die
außerordentliche Komphziertheit der Probleme etwas besser be-
leuchten kann. Mit einiger Gewißheit kann nur das Folgende fest-
gestellt werden: Es lag nicht in Polens Macht Schwedenkriege zu
vermeiden, denn diese wnrden durch schwedische, nicht durch
polnische Verhältnisse bedingt. Es lag ebenso wenig in Polens
Macht Kosakenaufstände zu vermeiden, denn diese hingen im
Grunde nicht von Adelswülkür und schlaffem Regimente ab, son-
dern waren durch weit ältere und größere Ursachen bedingt: emer-
seits durch die Notwendigkeit jenes eigenartigen Grenzschutzes
gegen die Tataren, andererseits durch die dünne Bevölkerung der
östlichen Gebiete des pohüschen Reiches. Die Polen waren nume-
risch zu schwach für em so gewaltiges Gebiet, jede großzügige Kolo-
nisation mußte bei den Verlockungen des Kosakenlebens mit dem
Mangel an Arbeitskräften zu kämpfen haben: es standen sich da
zwei Anschauungen gegenüber: der Kolonisationsgedanke und die
Kosakenfreiheit, die beide begreiflich waren und zu Auseinander-
setzungen führen mußten. Die Folgen fielen nur auf Polen
zurück,
weil die Gebiete nun einmal Polen eingegliedert waren. Und dazu
kam dann noch die Gleichzeitigkeit der Angriffe im Südosten und
im Nordwesten.

Auf diese vorausgeschickten Erörterungen können nun einige
Betrachtungen über die Gebietsverluste aus dem Gesichtspunkte
der Territorialkonflikte folgen.

Die Kosakenaufstände hatten als soziale, und bald religiöse,
Erhebung angefangen. Aus „Wahrung der Rechtequot; wurde dann
bald der Wunsch nach Autonomie; beim Anführer entwickelte
sich dieser Gedanke weiter zu dem Verlangen, „sich eine eigne
Krone zu schaffenquot;. Man stellte sich unter moskowitische Ober-
hoheit, weil man Polen neue Feinde schaffen wollte, nicht um sich
dem Moskauer Reiche einzugliedern. Als man sah, daß man sich
im Zaren getäuscht hatte, daß er auf eme vollkommene Unterord-
nung abzielte, suchte man wieder bei Polen Annäherung und
einigte sich über ein Unionsverhältnis. Die Russen wollten aber
dort, wo sie festen Fuß gefaßt hatten, nicht mehr weichen. Das
linke Dnjeprufer bheb russisch; Polen konnte nicht mehr helfen.

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enn es war durch den gleichzeitigen Kosaken- und Schwedenkrieg
erschöpft. Die Sache hatte als Erhebung angefangen imd endete,
urch allerlei nicht gewollte Umstände beeinflußt, in einem Ge-
letsverluste, der vielleicht die Aufständischen noch am schwersten
Es zeigte sich wie gefährlich das Hilfesuchen bei Fremden ist;
e
Angelegenheit wurde im Grunde durch zufällige Machtverhält-
nisse entschieden und endete ganz anders, als wie man im Anfange
gewollt hatte. Zugleich hatten aber die Russen die günstige Gele-
^nheit ausgenützt und nach dem heiß begehrten Smolensk gegriffen,
an War in dieser Beziehung im Kampfe um die „Erbschaft Mono-
eiis , über die man sich mit Polen nicht mehr friedlich einigen
konnte, recht erfolgreich gewesen.

as herzoghche Preußen hatte man in 1618 dem polnischen
ate einverleiben wollen und es wäre, insofern es die poHtisch
. gebende Bevölkerung des Landes betraf, auch ohne Schwie-
gelungen, denn man begehrte dort, ebenso wie schon
^ ner in Westpreußen, die Vorrechte des polnischen Adels. Die
nistände aber, der Schwedenkrieg, verhinderten die Einverlei-
^ng und später, in 1657, war man wieder durch die Umstände
Hf^Wungen, dem Brandenburger noch mehr zu gewähren. Diese
.Wicklung war nicht vorauszusehen, auch brandenburgischer-
^its nicht planmäßig vorbereitet worden, sondern die Umstände
atten es so gebracht. Es kam dazu, daß der Brandenburger nach
^ en hin bewußte, wenn auch nicht agressive Politik trieb, wäh-
d dig polnische Politik keine festen Ziele kannte, keine Konti-
1 at hatte. Es fragt sich aber, inwiefern einem stärkeren polni-
An^^ Staate die vorbehaltlose Aberkennung der brandenburgischen
g .^P^ehe auf das herzogliche Preußen bei der drohenden Gefahr
Schwedens, Moskaus und der Kosaken auf die Dauer gelun-
Wäre: es hätten sich allerlei antipolnische Koalitionen bilden
nnen. Der Grundfehler (wenn hier überhäupt von Fehlern die
^ e sein kann) lag in dem Vertrage von 1563, in welchem man die
quot;^andenburgische Linie aus Familienrücksichten im herzoglichen
renßgj^ mitbelehnt hatte. Das war damals ein gefährliches Zuge-
andnis gewesen, aber die spätere Entwicklung konnte man nicht
raussehen. Auch hier hatten unerwartete Umstände die ent-
^eheidende Rolle gespielt. Von Territorial-„konfliktenquot;, von Zu-
mnienstößen verschiedener Anschauungen und Forderungen,

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konnte in der Kosaken- und der Preußenfrage eigentlich kaum
die Rede sein: es griffen nur tatsächhche, nicht im Voraus
geplante,
Veränderungen ein. Gleichzeitig über Polen hereinbrechende Kriege
entschieden letzten Endes.

In 1669 kam es nach Johann Kasimirs Abdankung in Polen zu
einer neuen Königswahl. BedenkHch begann sich dabei schon der
Einfluß fremder Staaten geltend zu machen. Es gab eine
franzö-
sische und eine österreichische Partei, auch trat ein von Branden-
burg unterstützter Kandidat auf, während die Bestechlichkeit um
sich griff. Da entschied man sich schheßlich unter dem Drucke des
gemeinen Adels für einen polnischen Kandidaten, einen „Piastenquot;,
und wählte Michael Wisniowiecki, den Sohn des während der Kosa-
kenkriege beliebt gewordenen Fürsten Jeremias Wisniowiecki. Der
neue König suchte bei Habsburg Annäherung; im Lande
selbst
bildete die zu Frankreich neigende Opposition eine einflußreiche
und lästige Partei. Im Süden entstanden wieder Reibungen mit
einem Teile der Kosaken, der sich unter türkische
Oberhoheit
begeben hatte. Ein türkisches Heer eroberte 1672 Podolien und
zwang die Polen zum WaffenstiUstande, wurde aber im nächsten
Jahre von Johann Sobieski entscheidend geschlagen. Da starb
in 1674 unerwartet der König. Wieder mußte gewählt werden.

Wieder wurden französische und habsburgische Kandidaten pro-
pagiert, wieder auch ein polnischer: der seit dem Türkensiege be-
hebte Johann Sobieski. Gegen diesen polnischen Kandidaten
erklärte sich ein Teil des Adels, der kein einheimisches
Geschlecht
zu größerer Macht gelangen lassen wollte. Da ließ die französische
Partei ihren aussichtslosen Kandidaten fallen und entschied sich
für Sobieski, der eher französische als habsburgische Sympathien
zu haben schien. Auch Sobieski wurde wie sein Vorgänger durch die
entscheidende Wahl des gemeinen Adels auf den Thron berufen.
Er überragte die letzten Könige weit an Bedeutendheit.

Es wurde anfangs gegen Habsburg und Brandenburg gerichtete,
französische PoHtik getrieben. In 1674 wurde ein wesentlicher Teil
Podoliens zurückerobert, in 1675 fast die ganze Ukraine erobert und
in 1676 einem erneuten Vordringen der Türken gewehrt. Bei dem
darauf folgenden Friedensschlüsse bheben aber Podohen und ein
Teil der Ukraine noch in türkischen Händen, trotz der mihtärischen
Erfolge der Polen.

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Als der Reichstag sich diesen Vereinbarungen, die imter franzö-
^scher Vermittlung zustande gebracht worden waren (Ludwig
■^a
V. wollte Polen und die Türkei, beide hauptsächlich für seine
antihabsburgische Politik ausnützen), widersetzte und man auch in
Warschau anfing, aUzu wenig Vorteil in der Verbinding mit Frank-
reich zu sehen, trat man auf die habsburgische Seite über, wofür
überdies die gemeinsamen Interessen den Türken gegenüber
sprachen. Nachdem in 1681 eine für Polen gefährUche Annäherung
zwischen der Türkei und Moskau zustande gekommen war, wurde
ein gegen die Türkei gerichtetes polnisch-habsburgisches
undnis geschlossen, bei dem Polen Podohen und die Ukraine
angesprochen wurden und beide Parteien sich zu gegenseitiger
nie bei einer Belagerung Wiens oder Warschaus verpflichteten
Und verabredeten, keinen Sonderfrieden schließen zu wollen.

Dann folgte in 1683 die prächtige Episode vor Wien, bei der
/\'quot;ieski die entscheidende Rolle spielte. In den darauf folgenden
iirkenkämpfen verloren die Polen aber wieder die Führung und
eim endgültigen Frieden zu Karlowitz in 1699 gewannen sie nur
le früher an die Türken verlorenen ukrainischen Gebiete und
Podolien zurück. Der in 1667 zu Andrussow mit Moskau geschlos-
sene dreizehnjährige Waffenstillstand wurde verlängert: Moskau
ehielt die damals gewonnenen Gebiete.

Ini Lande selbst arbeitete man dem Könige je länger je mehr
entgegen: man wollte einer zu großen
Macht seines Geschlechtes
Vorbeugen. Auf die Dauer brach man so des Königs Kraft und
Energie; er starb
in 1696.

. Eine neue Königswahl mußte getroffen werden. Wieder wurden
französischer und ein österreichischer Kandidat vorgeschlagen,
J\'ieht aber ein polnischer. Die Bestechlichkeit nahm immer größeren
J^nifang an und bahnte einem dritten Bewerber, dem sächsischen
Kurfürsten Friedrich August den Weg. Er wußte sich durch rasches
^nd entschiedenes Handeln durchzusetzen, obgleich der
franzö-
sische Kandidat über die Mehrheit der Stimmen verfügte. In 1697
Wurde er als August II. zum polnischen Könige gekrönt. Mit ihm
gelangte das Haus Wettin zur Regierung.

Dem neuen Könige war Polen weit mehr ein Mittel zur Ver-
größerung seiner Macht und zur Erreichung politischer Ziele, als

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den Fürsten aus dem Hause Wasa. Einerseits war da seine Rivali-
tät mit dem brandenburger Hause, andererseits war es ihm um
die Festigung einer absoluten Herrschergewalt in seinen Ländern
zu tun. Ein inzidentelles Eingreifen in den Türkenkrieg trug ihm
beim schon erwähnten Karlowitzer Frieden (1699) die früher an
die Türkei verlorenen polnischen Gebiete wieder ein.

Er Heß sich danach in eme gegen Schweden gerichtete PoUtik
ein, wobei ihm besondere Umstände Erfolg versprachen. Durch
die Nachfolge des fünfzehnjährigen Karl XIL war Schwedens
Position schwächer geworden, während in den livländischen Pro-
vinzen unter der Regierung Karls XI. sich eine gewisse Opposition
gegen die aUzu absolutistische Regierungsart des Schwedenkönigs
gebildet hatte. Diese Opposition trat mit August dem Starken in
Verbindung und suggerierte ihm den Plan, Livland als eine „Adels-
repubhkquot; seinem Reiche anzugliedern, während auch Moskau an
der gegen Schweden gerichteten Unternehmung beteüigt
werden
sollte durch ein gleichzeitiges Vorgehen gegen Ingermanland, des-
sen Inkorporation Rußland den ersehnten Ausweg zur Ostzee ver-
schaffen konnte. Schließhch war auch noch Dänemark in die
Koalition mit einzubeziehen, das mit Schweden Interessenge-
gensätze in Schleswig hatte.

Der Krieg begann. Aber in Livland war man keineswegs so zum
Abfall von Schweden geneigt, wie es die Opposition
vorgestellt
hatte. Man fürchtete bei einem Mißlingen des Planes dem noch
absolutistischeren Zaren in die Hände zu fallen. Polen weigerte
zudem die Heeresfolge, es wollte die persönliche PoHtik des
Königs nicht stützen. Während das sächsische Heer in Livland
stand, wußte der Schwedenkönig durch schnelle Kriegsoperationen
Dänemark zum Frieden zu zwingen, danach die Russen entschei-
dend bei Narwa zu schlagen und bald in Litauen einzurücken.
Die Bevölkerung erklärte dem Kriege des Königs fern zu stehen
und der König selbst bot dem Schweden .... eine Teilung Po-
lens an.

Karl XII. zog aber weiter, nahm Warschau und war bald in
Krakau. In 1703 wurde ein Reichstag einberufen, der den König
des Thrones verfallen erklärte, während im nächsten Jahre auf
Karls XII. Vorschlag hin Stanislaus Leszczynski zum Könige ge-
wählt wurde. Es kam dem Schwedenkönig darauf an, Sachsen und

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Polen von einander zu trennen: Polen konnte als Mittel in säch-
sischen Händen immerhin gefährlich werden, es gab wieder ein
\'.Gleichgewichtquot; herzusteUen; der Grund zu für Polen gefährhchen
..Interventionenquot; konnte an Bedeutung und Verständlichkeit ge-
winnen; es zeigt sich wie mannigfach verschlungen pohtische Be-
ziehungen und Interessen sind und wie Probleme einander be-
einflussen können, die auf den ersten Blick einander nicht be-
rühren.

Der entthronte Polenkönig suchte inzwischen Annäherung bei
Moskau, auch bei Dänemark und Brandenburg, das in 1701 zum
onigreich Preußen proklamiert worden war: dieser neue Name
j-Preußenquot; konnte sich auf auch das westhche, polnische Preußen
eziehen und ähnliche Folgen, wie die Annahme des Zarentitels
iin 16. Jahrhundert für die östlichen Teile Polens, jetzt im Westen
aben. Wieder schlug der Polenkönig den neuen Bundesgenossen
eine Teilung Polens vor, aber die Interessen gingen doch zu weit
auseinander. Dennoch wurde so die Sphäre vorbereitet, die die
^ätere Teilung zu einer nicht mehr neuen Erwägung machte,
^in praktisches Bündnis kam aber nur mit Moskau zustande.

on hier aus wurde der Krieg gegen die Schweden geführt, Polen
^^rde zum Kriegsschauplatz. In 1706 gelang es Karl XII. noch
einmal, August II. zu Altranstädt zum Frieden und zur Ver-
zichtleistung auf die polnische Krone zu zwingen; danach kehrte er
Sich ausschließlich gegen die immer weiter nach Osten zurückzie-
henden Russen und ließ sich von dem gegen Moskau aufsässigen
.^sakenhetman Mazeppa bestimmen, bis weit in die Ukraine zu
Z\'ehen. Bei Pultawa wurde endlich in 1709 das Schwedenheer ver-
nichtend geschlagen; der König flüchtete in die Türkei. Das Ein-
^eifen der Türken in den Krieg veränderte nichts mehr zugunsten
^arls XII. In 1711 erlangte er freien Durchzug, zurück nach Schwe-
en, und verpflichtete sich in Polen nicht mehr einzugreifen,
tanislaus Leszczynski verlor seinen Thron, August der Starke
War wieder Herr, aber das begehrte livländische Gebiet, um des-
sentwülen der Krieg begonnen war, fiel Rußland in die Hände.
Außerdem hatten die Russen während des Krieges Kurland besetzt
lind waren keineswegs gesinnt das Herzogtum wieder zu räumen;
ernsthafte Auseinandersetzung mit Polen über diesen Ein-
ruch auf polnische Hoheitsrechte folgte überhaupt nicht mehr.

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^^^nbsp;neuntes kapitel

Polen bekam nur die Kriegsfolgen zu tragen. Der König starb in

1733.

Nach dem Schwedenkriege hatte er versucht, gestützt auf säch-
sische Truppen und hoffend auf russische Hilfe, seine Macht in
Polen zu einer absoluten zu gestalten. Dies lag aber weder im
russischen Interesse, noch war es einem polnischen Adel
gegenüber
leicht zu erreichen. Die Verhältnisse spannten sich, es bildete
sich in 1715 eine gegen den König gerichtete Konföderation
und
der Zar wurde um Vermittlung zwischen den beiden Parteien
angegangen. Das Ergebnis war, daß die sächsischen Truppen das
Land verheßen
und die Konföderation aufgelöst wurde. Ueberdies
wurde bei dieser Gelegenheit die polnisch-htauische Truppenzahl
herabgesetzt und die Ausführung der Vereinbarungen russischer-
seits garantiert. Peter der Große hatte sich so neue Interventions-
möghchkeiten geschaffen. Und das war das bedenklichste dabei.

Wenn nun aber Dr. Hanisch gelegentlich dieser „letzten Ge-
legenheit zur Reform der polnischen Verfassungquot; erklärt- Polen
trieb rettungslos dem Ende entgegenquot; (op. cit. Seite 244), so sug-
geriert dieser Satz doch etwas zu viel. „Letzte Gelegenheitquot; und
„rettungslosquot; drücken eine Unabwendbarkeit aus, die erst a
posteriori suggeriert werden konnte; tatsächlich war aber das
„Endequot;, insofern es dem menschhchen Denken erforschbar ist,
nur „begreifhchquot; oder „wahrscheinlichquot;, und aus der Erfolglosig-
keit des „absolutistischen Heilmittelsquot; kann nur gefolgert werden,
daß es entweder nicht das richtige Mittel war (was am wahr-
schemhchsten ist), oder nicht richtig angewendet wurde; einen
„notwendigen Untergangquot; beweist es aber keineswegs. Vielleicht
wird diesem Satze hier zu viel Bedeutung zugemessen. Wenn man
aber weiter in Anmerkung 156 (op. cit. Seite 370) liest Polens
Untergang sei sehr stark selbst „verschuldetquot;, so ist es wiederum
von dieser „Schuldquot; bis zur „Berechtigungquot; der Teüungen, zur
„Gerechtigkeitquot; des ganzen Vorganges, nur ein sehr kleiner
Schritt, während das auf Seite 254 vorgebrachte Argument, die
Unordnung Polens sei „eine Gefahr und dauernde Beunruhigung
semer Nachbarnquot; gewesen, wieder die Berechtigung der Teilungen
klarlegen will. Das Argument kann aber nicht gelten, da die An-
archie ja gerade von den Nachbarn gefördert wurde, um als Ar-
gument dienen zu können. Es empfiehlt sich bei solchen Fragen

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Sich mit der Schilderung und Erklärung der Vorgänge zufrieden
u stellen, und nicht über ihre „Notwendigkeitquot; und daraus sich
ergebende „Gerechtigkeitquot; zu urteilen, denn diese ist bei so kom-
zierten Fällen nie zu ,,beweisenquot;, sie bleibt Anschauungssache
^nd subjective Meinung.

ha^^quot; ^oUte in Polen nicht wieder einen Wettiner zum König
^^ cn; die Mehrheit wollte einen „Piastenquot;, Stanislaus Leszczynski,
/jj^^^de auch gewählt. Aber österreichischer-und russischerseits
^ ußland hatte in dem letzten Kriege diesen Einfluß gewonnen)
e man diesen dem französischen Könige verbundenen Präten-
^ n en nicht; man zog ins Land und verhalf mit Waffengewalt dem
° ne Augustus des Starken zum Thron. Es entstand daraus der
-Polmsche Erbfolgekriegquot; .... in Itahen und am Rhein, so sehr
br^K^^quot; quot;Polnische Fragequot; schon eine europäische. Der Krieg
für den Konig Stanislaus ohne Erfolg. Oesterreich war im
gnen Lande in Anspruch genommen, so wurde unter der Regie-
gen^ quot;^quot;gnsts III. der russische Einfluß der bedeutendste. Uebri-
in p Vereinbarten die mächtigen Nachbarn, jeden Reform versuch
T^^ ^^ vereiteln. Der brandenburgisch-wettinische Gegensatz
eutschland mußte die Brandenburger solchen Vereinbarungen
eigt machen, denn die Position der Wettiner^konnte durch ein
archisches Polen nur geschwächt werden,
n Polen selbst fing man an, die Notwendigkeit einer Reform
des ^^ . quot;^ber es kam durch die fortwährenden ,,Zerreißungenquot;
es
Reichstages zu nichts, wenigstens nicht vor dem Ende des

Jahrhunderts.

König bekümmerte sich kaum um das Land, ebensowenig
lichk\'^^ die Nachbarn um dessen Unabhängigkeit und Unverletz-
eit bekümmerten: man erlaubte sich Uebergriffe, wie und
ann man wollte. Die Zeit der Teilungen näherte sich,
er König starb in 1763.

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zehntes kapitel.

DIE TEILUNG POLENS.

Der Gleichgewichtsgedanke, der seit dem Westfälischen Frieden
der offizielle Grundsatz war, nach welchem man die großen euro-
päischen Fragen entschied (und diese „großen Fragenquot;
bestanden
in der Regel aus Kriegen und Eroberungen), bezweckte, keine der
politischen Staatenkombinationen in Europa ein Uebergewicht
über eine andere erlangen zu lassen. Diese
Mächtegruppierungen
in Europa konnten varüeren, sie konnten sich auf bestimmte Ge-
biete konzentrieren, wie es in der Ostseefrage im 17. Jahrhundert
geschah, irgendwie hingen sie aber immer in jener Zeit mit der
großen Rivalität zwischen Habsburg und Frankreich zusammen;
letzten Endes standen einander immer diese beiden Großmächte
gegenüber, während die dritte: England das Gleichgewicht zwi-
schen ihnen zu wahren hatte. Wenn es nötig war einzugreifen, um
einem allzu bedrohUchen Uebergewicht vorzubeugen, so ent-
schieden diese drei Mächte.

Insofern dieser Gleichgewichtsgrundsatz mit Territorialfragen in
Berührung kam, ergab sich das Folgende. Man anerkannte den
Expansionsdrang, das „natürliche Wachstumquot; der Staaten als
normal, demnach wurden territoriale Gegensätze auch auf „natür-
Hchequot; Weise entschieden, also durch Waffengewalt. Man griff nur
ein, wenn dieses „Wachstumquot; für andere Staaten bedrohlich wurde.
So ließ man bei dem Frieden von Oliva, hinsichtlich Polens, den
Dingen ihren Lauf: die Gebietsverluste, die Polen da erlitt, be-
drohten kein Gleichgewicht, man hatte keinen Grund, den Aspira-
tionen, die sich durchsetzen konnten und im Grunde andere nicht
bedrohten, entgegenzutreten. So entschieden hinsichtlich Liv-
lands und Ostpreußens lediglich die eingetretenen Tatsachen. Man
hatte keinen Grund Schweden zu schwächen, sah in ihm vielmehr
ein brauchbares Gegengewicht im Baltikum. Auch der russisch-
pohlische Gegensatz interessierte andere Mächte kaum. Territorial-
konflikte wurden durch Machtverhältnisse entschieden; nur hier
und da griff man „korrigierendquot; ein, wenn irgendwie Gefahr drohte.

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u jenen drei maßgebenden Großmächten traten um die Mitte
es 18. Jahrhunderts zwei neue: Rußland und Preußen. Rußland
a te sich unter Peter dem Großen zu einer gewaltsam nach Westen
n strebenden Macht entwickelt, Preußen war aus dem sieben-
J ngen Krieg als bedeutender Staat hervorgegangen. Seit dem
rieden von St. Hubertusburg entschieden fünf Großmächte über
das Los Europas.

Nun konnte es sich aber ereignen (denn das ganze Gleichgewichts-
system war äußerst elastisch und gegen unerwartete Ereignisse
ineswegs gefeit), daß z. B. zwei dieser entscheidenden Mächte
dre .^^^^^bHckliche Verhältnisse gelähmt waren, daß die andern
rei diesen günstigen Umstand ausnützten, nur der Wahrung des
d^^^ Gleichgewichts Rechnung trugen und im Grunde gepn
en Willen der andern beiden die bestehenden Machtverhältnisse
nderten. Auf diese Weise brachte man die Teilung des pol-
chen Reiches zustande, die erste „friedUche Teilungquot;, deren
iquot;jedrich der Große sich so rühmte.

as War einer der Umstände, welche die Teilung beeinflußt und
oghch gemacht haben. Es gab aber noch zwei andere, weit
nipliziertere, die auf diese Politik einwirkten: der eine war die
eressengegensätze im Orient, die unten geschildert werden
en, der andere war der tiefgehende Unterschied im staatUchen
^ wicklungsgang und in den augenbhcklich herrschenden An-
uauungen und Strömungen in den vier unmittelbar bei den Ge-
®enehnissen bezogenen Reichen.

Preußen war aus der Auflösung des mittelalterlichen Kaiser-
au nnter dem Einflüsse des jahrhundertelangen Kampfes
^j^^\'^Pas gegen französische und habsburgische Hegemoniegelüste,
das ^^^^^^^istische Macht hervorgegangen. Entscheidend hatten
as
Entstehen des Staates das Wünschenswerte einer Reaktion
gen die anarchischen Neigungen des Ständewesens, die bedeu-
ude ökonomische Entwicklung in jenen Gebieten und die Not-
y ®^digkeit eines fortwährenden Verteidigungskampfes hauptsäch-
^ich später gegen französisch-schwedische Expansionsneigungen be-
ntlußt. Eine Reihe bedeutender Fürsten hatte diese Faktoren zur
einer absoluten Gewalt auszunutzen gewußt. Die

Und ^^ ^®ubners Handbuch der Staatskunde. Dr. Richard Schmidt, Wesen
Entwicklung des Staats cap. III. Seite 128—145 passim.

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Institutionen auf die sie sich stützten, waren das stehende
Soldnerheer, durch gelegentliche Zwangsaushebungen verstärkt,
ein von der unsicheren BewiUigung der Stände unabhängiges Fi-
nanzsystem, eine stark zentrahsierte Beamtenschaft. Rechtskodifi-
kation und -Unifikation und richterhche Unabhängigkeit, Befrei-
ung der Bauern und rehgiöse Toleranz. Das waren zum Teüe ganz
andere Mittel als die. worüber Polen verfügte. Schließlich wurde
dieses Preußen in 1745 durch die Einverleibung des wirtschafthch
sehr wertvoUen Oderbeckens, dem „Rückgrate Preußensquot;, der

^ctlfnbsp;nähergerückt. Einem so kräftig sich ent-

wickelnden Staate lag der Expansionsdrang nach Osten nahe zumal

Tals undnbsp;TeiH:^

Staates und, durch den Besitz der Weichselmündung die ökono-

mische Beherrschung emes gewaltigen Hinterlandes brSgen konnte.

r t unbsp;Bedingungen eine gleich

absolutistische Macht ganz anderer Art gebildet. Halb mittelalter-
liche halb orientahsche Verhältnisse und die asiatische Tradition
gewaltiger, unglaubhch schneUer Gebietsanhäufungen hatten einem
bedeutenden Herrscher, Peter dem Großen, die Schaffung der
fmiften Großmacht Europas gelingen lassen. Er bediente sich der
europaischen Methoden, der Zentrahsation des Finanz- und des
Heerwesens und der Bureaukratie und wollte sein Reich in einem
Sprunge die soziale und kulturelle Entwicklung mehrerer Jahr-
hunderte bewältigen lassen. Entscheidend stützte seine despotische
faß die\'7nbsp;Bureaukratie, vor allem aber die T^ache.

Welt n eTnenbsp;^^l^^^^^at der ganzen orthodoxen

Welt m einer Hand vereinigt waren: politische und religiöse
Unternehmungen waren so nicht mehr zu scheiden; Moskautue

kr ftnbsp;Welt eine gewaltige Anziehungs-

kraft^ Diese Umstände beeinflußten auch das Verhältnis zu den
östlichen Teilen Polens.

Des großen Zaren Nachfolger konnten aber diese im Grunde
wemg gefestigte absolutistische Macht nur durch fortwährende, ab-
lei ende, äußere Betätigung erhalten: hier setzte die Entwicklung
des neuzeithchen Imperialismus ein, der bald auf Europa über-

g^gequot; die Ostsee

gerichtet, um dem unermeßhchen Hinterlande einen Ausweg zum
Meere zu verschaffen, dann gegen die orthodoxen, „russischenquot;,

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zehntes kapitel 173
\'p ------ ., -- —------

ei e Polens, die wieder unter die unmittelbare Obhut der Mutter-
if das heißt also des russischen Staates, gebracht werden
zu ^^^ ^^^^nbsp;noch weiter und suchte einen Ausweg

uni Schwarzen Meer, und dann durch Bosporus und Dardanellen,
zum Mittelmeer. Hier stieß man auf den Widerstand der auf ein
cnes Objekt gerichteten österreichischen Interessen, die die
onaumündung und die weitere freie Verfügung über die Seewege
c Westen betrafen. Dieser Interessengegensatz beeinflußte
leder wesentlich die Entwicklung der Dinge in Polen,
alsnbsp;war die Länderkonzentration, die den Habsburgern

brnbsp;^^^^ dem geträumten Weltreiche übrig ge-

denbsp;Geographisch bezeichnet war es das Donaubecken,

üntT^ I\'änder seit 1724 durch die Pragmatische Sanktion dauernd
sichV^^\'^^^ I^ynastie vereinigt wurden. Der Absolutismus hatte
Setzt nnter ähnhchen Bedingungen wie in Preußen durchge-
\' ^ou prinzipieller Bedeutung für seine Dauer und Macht war
nc hier das stehende Heer. Nach dem Sinken der türkischen
das^P entstand die Tendenz, all die Gebiete nach Osten hin in
Reich mit einzubeziehen, die man als „geographischquot; oder
dunnbsp;zu ihm gehörig betrachtete; man begehrte das Mün-

C 1nbsp;der Donau. Da traf man mit den Russen, die dieselben

^^ und Vorteüe wollten, zusammen. Man zog kriegerischen
^^^s^M^dersetzungen die Handhabung des status quo: die Erhal-
der^nbsp;bedeutungslosen Türkei, vor und erklärte sich bei

ständigen Expansionsdrang Rußlands eher, wenn auch nur
ungern, zu Konzessionen in Polen bereit. Man mußte dort
- auch Erwerbungen machen, denn es galt ein Gleichgewicht
quot;^f^echt zu erhalten.

I ^schen diesen drei jungen, starken, absolutistischen Staaten
Es ^ ^^^nbsp;andere, viel ältere Entwicklung hatte,

che^^^quot;^^^ sich hier Staaten gegenüber, die ganz verschiedene Epo-
ni r- ^^^atlicher Entwicklung durchmachten, die wenig Verständ-
sf ^\'^^^^anders Probleme hatten. Da setzte sich die Auffassung der
lose ^^^^ Gruppe, die in Polen nichts anderes als eine widerstands-
_ ^\'.teilbare Masse sah, durch; aber man vergaß dabei, daß diese
War ^^^^^ Passivität vielleicht nur eine vorübergehende Einsinkung
T , \' oder, besser gesagt, man hatte für solche Fragen gar kein

Interesse.

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Polen war schon seit Jahrhunderten konsoHdiert, seine Expan-
sionszeit lag weit zurück, sein Gebiet war groß genug,
eigenthc
zu groß für die verhältnismäßig schwache Bevölkerung. Es hatte
eine ganz andere Entmcklung gehabt; Adelssuprematie, Wahlko-
nigtum und unbedeutende Könige hatten schheßHch jener ohgar-
chischen Magnatenherrschaft den Weg bereitet, die sich aUen
Reformen, die ihren Einfluß schmälern konnten, widersetzte und
die keinerlei Verständnis für die von außen drohende Gefahr
zeigte-
Man war in einer bedenklichen Krise, man fing an zu erwachen, aber
es ging langsam; der Weg der demokratischen Entwicklung
mußte
hier aus Ueberzeugung und unter Aufopferung zurückgelegt wer-
den, mit Gewalt war wenig zu erreichen, denn die Grundlagen für
eine absolutistische Herrschaft fehlten hier. Ein Königtum
konnte
den Polen bei der Ueberwindung einer privilegierten OHgarchen-
klasse nicht mehr helfen, das hätte vielleicht am Ende des
Jahrhunderts noch gekonnt, jetzt mußte diese allzu mächtigr
und
zahlreiche Adelsklasse sich selbst überwinden. Aber das forderte
Zeit und inzwischen griffen andere Mächte ein.

Es sei nun hier kurz ausgeführt, welche Umstände dieses Ein-
greifen beförderten.

1 Nach dem siebenjährigen Kriege war Preußen isoliert. Es
suchte bei Rußland wieder Annäherung und schloß in 1764 jenen
Allianzvertrag, der die kommenden Ereignisse wesentlich be-
einflußte. Diese
preußisch-russische Annäherung hatte schon seit
mehr als einem Menschenalter bestanden, sie gründete sich auf
gemeinschaftliche Interessen in polnischen Dingen: die
Beständi-
gung der Krise in Polen, und auf das Nichtvorhandensein irgend-
welcher Gegensätze entscheidender Art.

Der Allianzvertrag sah gegenseitige Hilfe durch Truppenhefe-
rung oder Subsidien im Kriegsfalle vor, ferner die Einsetzung
Stanislaus Poniatowskis zum polnischen Könige, die Handhabung
des liberum veto und des Wahlkönigtums, um die Anarchie
und
die Parteiungen zu befördern, infolgederen ein Teil des Adels bei
den Türken Stütze suchte und ein anderer sich den Russen in bei
Aame warf und so der Zarin reichlich Gründe und Gelegenheit zu

1 Die Schilderung stützt sich auf: A. Sorel, La question d\'Orient au XVIIIe
siècle,
le partage de la Pologne et le Traité de Kaïnardji, Paris 1902 Seite
1—138.

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Interventionen verschaffte. Friedrich dem Großen mußte rus-
sischer Einfluß in Polen lieber sein als österreichischer und öster-
reichisch-russische Gegensätze bei der Expansion nach Südosten
konnten ihm im Grunde gelegen kommen, ebenso wie ein schwaches
Polen in seiner unmittelbaren Nachbarschaft. Solche Umstände
konnten nur im Interesse der „Staatsraisonquot; und des „natürlichen
Bedürfnisses der Staaten sich auszudehnenquot;
sein. Das Fortbestehen
des pohlischen Staates war für die maßgebenden europäischen
Kabinette nur „le préjugé d\'un ancien usagequot;.

Außerdem sah der genannte Vertrag eine gemeinschaftliche
Intervention der beiden Parteien zugunsten der Dissidenten
(Lutheraner und Schismatiker) voraus, die seit 1732 von beinahe
allen Staatsämtern ferngehalten wurden. Dies hatte hauptsächhch
^ür Rußland Bedeutung: man wollte religiöse und politische
Momente soviel wie möghch mit einander verflechten. Staats-
einheit und rehgiöse Einheit sollten zusammenfaUen; das war der
i^ssische Leitgedanke. Die preußische Staatsraison war nüchterner,
^le sah nach dem wertvollen Weichselmund.

Als Folge dieser Intervention kamen neue Konföderationen
zustande, die neue Wirren mit sich brachten und schheßlich in
einen neuen Türkenkrieg endeten. Der Parteistreit wurde zu
Einern Kampfe der Protektoren, emem Kampfe der Russen und
Türken um die Zurückdrängung der gegenseitigen Expansions-
neigungen, welchen die Pforte hauptsächUch eingegangen war
(Oktober ^768), um den russischen Aspirationen in der griechisch-
orthodoxen Welt, die sich durch Aufwiegelung und Unterstützung
der christlichen Bevölkerung im Türkenreiche, bis nach Montenegro
l^in, bemerkbar machten, entgegenzutreten. Das unerwartete Ein-
treten dieses Krieges, der leicht zu einem allgemeinen werden konn-
te, auf den die Mächte aber keineswegs vorbereitet waren, schuf
^ine
gefährhche Lage. Oesterreich war mit Frankreich verbündet.
Prankreich hatte die Türken zum Kriege gegen Moskau ange-
trieben und hatte ein wechselndes Interesse für polmsche Ange-
legenheiten. Wenn es auch zu einem ernsthaften Kriege vollkom-
men unfähig war, so konnte ein solcher doch unverhofft aus-
brechen und dann stünden Oesterreich und Preußen emander
Wieder, ein jedes durch seinen Bundesgenossen in die Verwicke-
lungen bezogen, in Deutschland gegenüber. An einer solchen

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Aussicht war aber beiden Mächten nicht im geringsten gelegen-
Es fand daher zwischen ihnen eine Annäherung statt. Nach schwie-
rigen Verhandlungen verstand man sich dazu, einander im Kriegs-
falle Neutralität in Deutschland zu geloben. England stand jenem
neuen Türkenkriege ohne Interesse gegenüber. Einen russisch-
enghschen Gegensatz gab es noch nicht im Orient, wohl aber rege
russisch-englische Handelsbeziehungen und scharfe enghsch-fran-
zösische Gegensätze in Handels- und Kolonialfragen. England ver-
stand sich daher zu einer russisch-freundhchen Neutrahtät und
war überdies durch innere Schwierigkeiten und koloniale Ver-
wicklungen in jenen Jahren sehr in Anspruch genommen.

Die größte Bedeutung behielt unter diesen Umständen der rus-
sisch-österreichische Gegensatz in türkischen Fragen. Oesterreich
widersetzte sich unbedingt aUzu großen russischen Erfolgen nach
türkischer Seite hin. Es konnte so unter Umständen sich gezwun-
gen sehen, in den Türkenkrieg einzugreifen; dann aber würde
auch Preußen durch sein russisches Bündnis der feindhchen
Partei zu Unterstützung verphchtet sein, und wieder entstände
Kriegsgefahr auch in Deutschland. Es galt also, dem Türkenkriege
ein harmloses Ende zu bereiten. Da aber nun sowohl Oesterreich
der Neutrahtät in Deutschland wegen bei Preußen Annäherung
suchte, als auch Rußland der mihtärischen Unterstützung wegen
mehr oder weniger auf Preußen angewiesen war, und beide Mächte,
Rußland sowohl als Oesterreich, sich über den möglichen Verlust
der preußischen Stütze besorgt zeigten, wurde in diesen Ver-
wickelungen die Haltung des Preußenkönigs von entscheidender
Bedeutung. Diese Situation konnte man ausnützen, wenn man
gewandt genug war, und Friedrich der Große wollte sie um jeden
Preis ausnützen. Es kam darauf an, aus der Verlegenheit anderer
Mächte Gewinn zu ziehen; und Gewinn bedeutet in diesen Zeiten
immer Territorialgewinn. Es gab ja noch so viel „abzurundenquot;,
Preußen konnte diese Abrundungen im Westen suchen: Bayreuth
und Ansbach spielten bei den Unterhandlungen mit
Rußland
über die Allianzverlängerung eine Rolle, aber mehr mußte Preußen
noch an einer territorialen Vereinigung Brandenburgs mit Ost-
preußen gelegen sein.

Am 7. November 1768 schrieb Friedrich der Große ein „poli-
tisches Testamentquot;. Als eine der größten Aufgaben für seine Nach-

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folger bezeichnet er die Erwerbung Westpreußens. Er behandelte
eine solche Erwerbung aber noch in dem Kapitel der „Rêves et
projets chimériquesquot;: er glaubte selbst nicht an die Möghchkeit
einer baldigen Verwirkhchung. Er fürchtete heftigen Widerstand
rnssischerseits und empfahl allmähhche, unauffäUige Einver-
leibung.

Anfang 1769 war es aber noch nicht gelungen, so wie man es
sich vorgenommen hatte, zwischen Moskau und der Pforte zu
Vermitteln. Im Frühjahr würden die Kriegsverrichtungen ihren
Anfang nehmen und Friedrich der Große fühlte sich nicht imstande
sie zu verhindern; da entschloß er sich, sie auszunützen. „II y avait
deux partis à prendrequot;, so äußerte sich der König, „ou celui d\'ar-
rêter la Russie dans le cours de ses immenses conquêtes, ou, ce
^ni était le plus sage, d\'en tirer partiquot;. Und ferner: „Cette guerre
changea tout le système politique de l\'Europe; une nouveUe carrière
venant à s\'ouvrir, U fallait être sans adresse ou enseveh dans un
engourdissement stupide pour ne point profiter d\'une occasion
aussi avantageusequot;.

Da Rußland nicht nachgeben wollte und Oesterreich sich jeder
beunruhigenden Eroberung seitens Rußlands im Orient wider-
setzen würde, gab es zwei Mögüchkeiten. Entweder würde Oester-
reich in den Krieg eingreifen und dann war auch der allgemeine
I^rieg da, oder aber Oesterreich würde sich mit Rußland über
gleichwertige österreichische Erwerbungen verständigen und so
durch ein neu etabUertes „Gleichgewichtquot; die „russische Gefahrquot;
neutralisieren. In beiden Fällen aber würde Preußen keine Vorteile
erreichen, und das war ja um jeden Preis zu vermeiden. Es mußte
also ein Mittel gefunden werden um Rußland für den Türkenkrieg
zu entschädigen, die österreichisch-französische AUianz zu neu-
tralisieren, Oesterreich einen solchen Gewinn zu verschaffen, daß
es nicht mehr der Verleitung, sich mit Rußland allein zu ver-
ständigen, oder russischen Eroberungen sich zu widersetzen, zu
erliegen brauchte, und Preußen als ehrüchem Makler und Wahrer
des allgemeinen Friedens einen Anteil an der Beute zu sichern, so-
wie es die berechtigte Forderung der Wahrung des Gleichgewichts

Verlangte.

Dazu war Polen da, und ohne Polen wäre das Problem garnicht
zu lösen gewesen. Weshalb war es nötig ungewisse Kriege zu führen.

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wenn das, was man erreichen woUte, ganz ohne Mühe in unmittel-
barer Nachbarschaft zu finden war. Eine Tripel-aUianz war zu-
stande zu bringen und was im vorigen Jahre noch „rêves et projets
chimériquesquot; waren, lag jetzt in greifbarer Nähe. Die „Gelegenheitquot;,
„Sa Sacrée Majesté le Hasardquot;, wußte in einem Augenblick zu
fugen, was Menschenhand nur mit unsäglicher Mühe, vielleicht
auch gar nicht, hätte erreichen können.

Es ist im vorigen Kapitel, bei viel weniger zusammenhängenden
und teüweise auch primitiveren Ereignissen, darauf hingewiesen
worden, welche oft durchaus entscheidende Rolle bei Territorial-
konfhkten unerwartete Ereignisse und Kombinationen gespielt
haben, wie wenig oft die Lösung unmittelbar vom menschhchen
Willen abhängt. Es wird dies auch bei der Schüderung späterer
Ereignisse, bis in unsere Tage, hervortreten und es mag darauf der
Nachdruck gelegt werden, da dieser Umstand in bedeutender
Weise jede „theoretischequot; Behandlung des Problems erschweren,
ja ihren Wert fraghch machen muß.

Von „Berechtigungquot; oder „Ansprüchenquot; konnte in diesem Falle
garnicht die Rede sein. Friedrich der Große zerbrach sich darüber
auch nicht im mindesten den Kopf. Es gab zwei Begriffe, die eine
Reahtät waren: der eme war „le Hasardquot;, der andere „la conve-
nancequot;; mehr war auch nicht nötig. Es kam nun darauf an, die
„LösungsmögUchkeitquot; auf unauffällige Weise dem russischen Hofe,
der die entscheidende RoUe in den Verwicklungen spielte, zu
suggerieren. Es wurde ein Memoire „eines Grafen Lynarquot; entwor-
fen, das ungefähr die durch die erste Teilung realisierten Gebiets-
veranderungen vorschlug, und gelegentlich den russischen Ver-
bündeten unterbreitet, aber es fiel nicht in allzu gute Erde es war
noch zu verfrüht.

Inzwischen aber tat Oesterreich einen Schritt, der ungewollt
die Ausführung des preußischen Planes wesentlich förderte. Die
polnisch-österreichischen Grenzen standen nicht in jeder Beziehung
emwandfrei fest; es war da hauptsächlich jene Zipser Gespannschaft,
die in 1412 Wladislaw Jagiello verpfändet worden war und auf
welche man österreichischerseits noch Hoheitsrechte behalten zu
haben behauptete; man wollte sich über die Auslösung der Zips
mit Polen auf friedhchem Wege einigen, um aber Uebergriffen
wahrend der bewegten Kriegszeit vorzubeugen, besetzte man die

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Zips, mit der ausdrücklichen Erklärung, der endgültigen Lösung
der Frage dadurch nicht vorausgreifen zu wollen. Man zog auch
übrigens einen Kordon zum Schutze der österreichischen Grenzen
und Friedrich der Große griff noch im selben Monate zu einer
gleichen Maßnahme hinsichthch des westpreußischen Landes, nur
eben mit etwas andern Absichten; aber eine genaue Grenze ist in
solchen Dingen nie zu ziehen; nach außen hin machten beide
l^aßnahmen denselben Eindruck. Oesterreich hatte zu einem
folgenreichen Mittel gegriffen und der Unterschied in den Ab-
sichten der beiden Staaten war im Grunde doch nur gradueller Art.

In dem Türkenkriege wollte Oesterreich sich neutral verhalten,
solange seine Interessen nicht unmittelbar berührt würden. Da nah-
nien aber die Russen im September die Moldau und standen zum Ein-
quot;larsch in die Walachei bereit. Mitte November besetzten sie Buka-
rest. In Oesterreich rüstete man zum Kriege und Heß in Konstanti-
nopel auf Anraten Friedrichs des Großen sondieren, ob man dort
nicht geneigt wäre, österreichische Vermittlung anzunehmen.

I^riedrich der Große wartete ab; er zeigte sich keineswegs beun-
^bigt: die Umstände mußten es machen, die Gelegenheit konnte
^an nicht erzwingen. „II y a une sorte de fatalitéquot;, heißt es bei
i^ni.
mOu, à défaut de fatalité, des causes secondes tout aussi
inconnues, qui tournent souvent les événements d\'une manière
^ne l\'on ne peut ni
concevoir, ni prévoir. Nous sommes des aveugles
^ni s\'avancent en tâtonnant dans l\'obscurité. Lorsqu\'il se présente
des circonstances favorables,
il se fait une sorte d\'éclaircie subite
dont profitent les habiles. Tout le reste est le jouet de l\'incertitude.quot;

Ks lag ihm daran, daß neben preußischer auch um österreichische
Vermittlung nachgesucht wurde; man würde so die Angelegen-
heiten zudritt besprechen und niemand würde übergangen werden:
Weder Oesterreich und Preußen, wie bei direkten türkisch-russischen
Verhandlungen oder nur preußischer Vermittlung, noch Preußen
allein, wie bei einer österreichisch-russischen Verständigung. Er
ließ daher durch seinen Agenten der Pforte unterbreiten, einen wie
großen und günstigen Einfluß auf die Walirung türkischer Interes-
sen die Vermittlung einer Großmacht wie die österreichische haben
könnte.

Zu gleicher Zeit aber begab sich die Wiener Kanzlei auf sehr
bedenklich werdende Wege. Man hatte die Zips besetzt imd man

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konnte darauf gewisse Ansprüche geltend machen; als man aber
die „alten Titelquot; untersuchte, stellte sich heraus, daß zu jenem
Gebiete auch die wertvollen Salinen von Wisüca und Bochnia ge-
hörten. Das war Kanzleistü und verkappte Expansionslust und
wieder kam man psychologisch der TeilungsmögHchkeit einen
Schritt näher. Im August 1770 ging die Pforte den Preußenkönig
und den österreichischen Kaiser um die vom erstgenannten so
ersehnte Vermittlung an.

Im September benachrichtigte Friedrich der Große den Peters-
burger Hof von diesem Schritte der Pforte, aber man lehnte in
Petersburg ab und versuchte direkte Verhandlungen mit der
Türkei anzubahnen, die diese wiederum ablehnte. Man suggerierte
aber nun russischerseits den Preußen eine Triple-AUianz für den
FaU, daß die Türken zu einem baldigen Friedensschlüsse nicht
bereit wären, oder eine russisch-preußische AUianz für den Fall,
daß Oesterreich für ein gememschafthches Vorgehen nicht zu
gewinnen wäre. Aber der Preußenkönig antwortete ausweichend;
ihm lag nichts an unsicheren Kriegen, die zu allgemeinen werden
konnten, wenn man auch ohne Krieg zum Ziele gelangen konnte.

Die Campagne von 1770 war für die Russen recht günstig ge-
wesen; man hatte beinahe das ganze hnke Donauufer erobert und
der kritische AugenbHck, in dem der Krieg größeren Umfang an-
nehmen konnte, näherte sich: Oesterreich würde einem Ueber-
schreiten der Donau nicht mehr teilnahmslos zusehen. Um Rußland
zurückzuhalten, wies Friedrich der Große den Petersburger Hof
wiederholt auf die bedrohUche Möglichkeit auch eines französischen
Eingreifens bei weiterem Vordringen hin.

Ende 1770 entschloß sich die Zarin, dem Preußenkönig ihre
Friedensbedingungen mitzuteilen. Man verlangte die Zession Asofs
und der großen und kleinen Kabarda in Kirkassien, die Selbständig-
keit der Moldau und der Walachei, oder zum mindesten die Aner-
kennung für fünfundzwanzig Jahre der russischen Botmäßigkeit
über die Fürstentümer „als^Schadenersatzquot;, die Unabhängigkeit
der Tataren in der Krim und in Bessarabien, die freie Schiffahrt
auf dem Schwarzen Meer und die Verfügung über eine Insel des
griechischen Archipels zur Errichtung eines russischen Handelsen-
trepöts. Diese Forderungen waren so übermäßig, daß Friedrich
der Große sie dem Wiener Hofe überhaupt nicht mitteilte.

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In Wien wollte man Preußen ganz auf die österreichische Seite
Ziehen und von der russischen Allianz abbringen; man wollte dies
durch
Territorialkonzessionen an den ostpreußischen Grenzen er-
reichen, aber Maria Theresia widersetzte sich diesem Plane. Es
zeigt immerhin, daß man in Wien einer Lösung des Konfhktes
durch
Konzessionen „auchquot; in Polen nicht ganz abweisend gegen-
über stand, wenn es galt, dadurch einen Bundesgenossen zu ge-
winnen. Man ging selbst auf diesem „polnischen Wegequot; weiter und
inkorporierte formell die Zips. Das sollte eine Demonstration Ruß-
land gegenüber sein und sie verfehlte ihre Wirkung nicht.

Da trat wieder ein entscheidendes Ereignis ein: Choiseul wurde
gestürzt und Frankreich verschwand ganz als mitzählender
Faktor vom politischen Theater Europas. Man brauchte in Oester-
reich auf den Bundesgenossen nun weiter keinerlei Rücksicht zu
nehmen, die „allgemeine Kreigsgefahrquot; verlor viel von ihrer Be-
deutung und eine Einigung der drei Ostmächte wurde wesentlich

erleichtert.

Da Oesterreich kriegsbereit war und sich schon „demonstrativquot;
m Polen betätigte, andererseits aber nicht ganz sicher war, welche
Seite Preußen in einem möglichen Kriege wählen würde, entschloß
Man sich in Petersburg, den Weg der „freidlichen Verständigungquot;,
den Friedrich der Große mit so viel Geschick geebnet und suggeriert
hatte, einzuschlagen. Man entschloß sich zu der „Lösung in Polenquot;
Und der Preußenkönig sollte zwischen dem russischen und dem
österreichischen Standpunkte vermitteln. Um Preußen bei dieser
Vermittlung zu einer Unterstützung der russischen Forderungen
Zu gewinnen, mußte man auch ihm entsprechende Erwerbungen
Sichern, wie es übrigens auch die Wahrung des Gleichgewichts ver-
j^^ngte. Die Zarin übernahm nun ihrerseits den Plan des „Grafen
Lynarquot;: als man eines Abends am Petersburger Hofe mit dem dort
ven\\\'eüenden Bruder des Preußenkönigs über die Besetzung zweier
kleinpolnischer Starosteien durch Oesterreich scherzte, äußerte die
^arin: „Mais pourquoi tout le monde ne prendrait-il pas aussi?quot;
^^amit war man bei dem Ziele Friedrichs des Großen angelangt;
IUI Prinzip hatte man sich über die Teüung Polens geeinigt, alles
Weitere war nur eine technische Frage, über der man sich sogar
noch einen Augenblick zu entzweien drohte und die hier übergangen
Werden kann, da sie keinerlei andere oder neue Gesichtspunkte bringt

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Friedrich der Große hatte den Plan zu einer „Verständigung zu
drittquot; entworfen und den andern Mächten suggeriert, er hatte die
Vermittlung Oesterreichs und Preußens zustande zu bringen
und eine unmittelbare Verständigung der kriegführenden Mächte
oder Oesterreichs imd Rußlands zu vermeiden gewußt. Als die
Oesterreicher, vielleicht ohne es zu wissen und zu wollen, durch
die Besetzung polnischer Landesteile die Teilung eingeleitet hat-
ten, schob auch der Preußenkönig seinen „Kordonquot; immer
weiter
vor: man näherte sich auf diese Weise immer mehr dem Teilungs-
gedanken. Zugleich aber warnte er in Petersburg davor, die Oester-
reicher zu sehr zu reizen. Da gab man russischerseits die Forderung
der Unabhängigkeit der Moldau und der Walachei, die einer Eini-
gung mit Oesterreich am meisten im Wege stand, auf und die Bahn
war frei. Jeder woUte, ohne das Opfer eines Krieges, so viel wie
möghch gewinnen; wie und wo war für Rußland und Oesterreich
im Grunde eine Frage untergeordneter Bedeutung. Für Friedrich
den Großen war es das aber nicht; er rühmte sich, auf für Preußen
äußerst emträghche Weise einen allgemeinen, in seinem Ausgange
unsicheren Krieg vermieden zu haben: das war die einzige, wenn
auch recht sophistische „Rechtfertigungquot;, die der Preuße\'nkönig
zu seinen Gunsten anführte. Man konnte dem Expansionsdrange
der Russen nicht widerstehen.

Dem russischen Expansionsdrange war nicht zu widerstehen.
Man mußte ihn folghch zu neutralisieren suchen. Das war der
Grundgedanke, auf den man sich stützte. Von „Rechtenquot; oder
„Ansprüchenquot; war nicht die Rede, sogar die anfangs recht for-
melle Wiener Kanzlei gab diesen „rechthchen Wegquot; auf. Es be-
stand die Tatsache der russischen Expansionslust, der man sich
fügen mußte; aus ihr ergab sich die „Notwendigkeitquot; einer Neu-
tralisierung dieser Expansion: die Wahrung des Gleichgewichts.
Daß diese „Notwendigkeitquot; im Grunde eine recht angenehme war,
ist von weniger Bedeutung, man nahm est mit ihr ja auch nicht
allzu tragisch. Sie war schließhch eher eine günstige Gelegenheit:
die Umstände, die „Konstellationquot;, entschied ja letzten Endes aUes
und man anerkannte ja selbst die „ganz natürliche Tendenz der
Staa-
ten sich zu erweiternquot; als so selbstverständlich, daß man nicht ein-
mal mehr darüber sprach. Jeder hatte seine Wünsche und es kam

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darauf an, diese durchzusetzen und gleichartige Wünsche anderer
soviel wie möglich zu unterdrücken. Das war Pohtik; für „recht-
iche Erwägungenquot; war in solchen Gedankengängen überhaupt
kein Platz. Man wollte aber doch irgendwie eine solche „rechtliche
®ndenzquot; der Durchführung dieser rein tatsächhchen Teilung zu
gründe legen: sie sollte nach einem gewissen Verhältnis, das die
Wahrung des bestehenden Gleichgewichts garantierte, vorgenom-
men Werden. Das aber auch dies nicht gelang, darüber waren sich
schon die Zeitgenossen^ einig: Friedrich der Große erhielt den
bei Weitem wertvoUsten Teil und das bestehende Gleichgewicht
Wurde zu seinem Vorteile verschoben.

Welchen Eindruck die Teilung Polens in Europa machte, illus-
riert die beißende Satire des Herrn Pansmauser. ^ „Toute l\'Europe
éclairéequot;, schreibt ein anderer Publizist 2, „sait qu\'une pareille
entreprise viole le droit de la Nature et des Gens, renverse l\'indé-
Pendance des Etats et sape le fondement des Corps pohtiquesquot;.

„La Justice doit être le guide invariable des souverainsquot;, ant-
wortete der englische König dem hoffnungslosen Stanislas Ponia-
^wski, „je voudrais bien supposer qu\'elle ne les abandonne jamais,
^ais si malheureusement des intérêts temporels l\'emportent
Quelquefois sur elle, il faut espérer qu\'elle reprendra toujours sa
place dans des conjonctures plus favorables----quot;

Die beiden weiteren Aufteilungen Polens waren nur die notwen-
dige Folge der ersten. Denn als man sich in Polen zu sammeln
Und zu besinnen anfing und nach französischem Vorbilde wirkungs-
volle Reformen unternahm, da mußten die Teilungsmächte schon
Zu dieser
Maßnahme greifen, wenn sie nicht fortgesetzt den Gefahren
dieses „demokratischen Herdesquot;, der früh oder spät die verlorenen
Gebiete zurückfordern würde und die „Ruhequot; in den absolutis-
^chen Ländern sehr gefährden konnte, ausgesetzt bleiben wollten.
Wenn Oesterreich der zweiten Teilung fernbheb, so lag dies aus-
^ehließlich daran, daß es zu jener Zeit Bayern zu erwerben hoffte
\'^ud ganz mit solchen „Kompensationenquot; im Westen beschäftigt
War.

Pansmauser (Lindsey), Le partage de la Pologne etc. Traduit de l\'anglais
^^ondres 1775.

Observations sur les déclarations des Cours de Vienne, de Pétersbourg et

Berlin au sujet du Démembrement de la Pologne Londres 1773.

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elftes kapitel.

DAS PROBLEM DER NATIONALITÄT.

Das Polen, das die Mächte am Ende des i8. Jahrhunderts
njUerein^der aufgeteilt hatten, war ein „Staatquot;, und nicht eine
EAf^w S^f^.quot;-.,Dieser Staat war historisch durch Eroberung,
mfnw„n quot;sr ^quot;^^■quot;■»enschluß verschiedenartiger Ele-

\'«\'«f^^en, Ruthenen Juden

undnbsp;rnbsp;™terschieden sich durch Vache

und Rehgion und doch standen sie in keinem schroffen GegLati

. rdevant und der uberaus zahlreichen Adelsklasse ging es vor-
züghch; man lebte to und angenehm, und das war die SaupTsache;
fe war auch letzten Endes der Grund, aus welchem freLe Ge-
tete s,ch m 15. und 16. Jahrhundert dem polnischen Staate

Schaft d VrJ?\'nbsp;^^nbsp;^f-S\'-n Herr-

Durch diese allzu große FreLit, durch

M^cmT Sf quot; Entwicklung des politischen Lebens, ging die

GrenzJv f f\' ffnbsp;™ Jahrhundert bega/nen die

itTufd H quot;^enklich abzubröckeln. Ohne diese Abbröcke-
verfcr/d f -ä« TeUungen, hätte auf die Dauer aus diesen
ISrtnbsp;Tquot;*!quot;nbsp;■•Nation- wachsen können,

Srlt fl fnbsp;Entwicklung. Seit jener

to Faktoi?quot;,nbsp;verschiedener, unten zu erörtern-

der Faktoren, langsam eme polnische „Nationquot; hervor in dem

Smne, den wir heute dem Worte geben; und diese polniscL Lto
interessiert uns im Folgenden an erster Stelle

istrinenbsp;quot;\'-quot;\'SCquot; Sinne? Nation

Idernbsp;«ü^ iquot;Mse verschiedener und wech-

selnder Grunde, wie z.B. gemeinsame Kultur, ReUgion gemein-
ste ökonomische Interessen oder gemeinsam erlebte v;rSng °-

Sndtnbsp;die- sefben

Gründen von andern Gruppen geschieden fühlt

In Ihrer äußersten Konsequenz werden solche Gruppen das

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gende fordern: Jede Nation soU einen Staat bilden. Verschiedene
^ ationen oder Bruchteile solcher sollen nicht in einem Staate
^mmengefaßt werden. Jeder Staat soll auch eine Nation bilden.

élevant in diesen Anschauungen ist an erster Stelle das Zusam-
engehörigkeitsgefühl; wie es zustande kommt, ist im Grunde
nur ^^^^^ Man kann seine Existenz nur feststellen; es existiert
. Wenn es sich irgendwie eindeutig äußert; seine Existenz

aus

fest^^^^^^ Beweisen konstruieren zu wollen, ist zwecklos. Irgendwie
fühf ^^^l^Male, aus denen sich dieses Zusammengehörigkeitsge-
ternbsp;hätte, sind nicht aufzuweisen. An zwei-

teile aber muß dieses Zusammengehörigkeitsgefühl sich der
^ypischen, eigenartigen Grundlagen, auf denen es fußt, bewußt
und aus diesem Grunde einer Auflösung der betreffenden
uppe in andere gleichartige, oder höhere Einheiten, widerstreben,
jj^g j ^hwierigkeiten aber, die durch die Existenz dieses Gefühls
Leben gerufen werden, bestehen darin, daß es unmöglich ist,
f ® ^ensität.und Wichtigkeit solcher „Gefühlswertequot; zweifellos
^ s zustellen. Ein weiterer wichtiger Umstand, der den Nationah-
yedanken bedingt, ist, daß diese Gefühle bei der ganzen Be-
erung eines Gebietes, zum mindesten bei einer großen Mehrheit
s ehen, denn sie hängen mit demokratischen Auffassungen zu-
Men. Sie sind nicht irgendeine ,,Leidenschaft quot;(sie können
Zwar werden), aber an erster Stelle eine „Ueberzeugungquot;, die
^„Erfahrungquot; beruht und sich ihres Wesens bewußt ist.
abhquot;^^ ist alles außerordentlich vag und von Zeit und Umständen
ühnbsp;ist kaum greifbar. Eine ausführliche Untersuchung

^ er diese Dinge, zum Beispiel hinsichtlich Polens, würde sehr der
lohnen, würde aber weit über den Rahmen dieser Arbeit
Es besteht aber eine solche Monographie für Frank-
ich: Johannet ^ meint die Existenz eines französischen National-
, uhls bis weit ins Mittelalter anweisen zu können und es sei
T hier kurz eingegangen, weil die Art seiner Beweise und
»zien auch für die polnische Geschichte ihren Wert hat.
emer sehr abstrakten und weiten Definition nach (op. cit. Seite
3) scheint Johannet auch ungefähr die oben gegebene Begriffs-
anzunehmen. Von besonderem Interesse ist aber das

lich^r^ René Johannet, Le principe des nationalités. Paris 1923, hauptsäch-
quot;^re
II. Le développement du principe, Seite 15—125 chap. I.—VI.

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erste Kapitel des zweiten Buches, denn dort wird (Seite 31) ange-
nommen, daß das „Nationalgefühlquot;, das die Franzosen im 12. und
im 19. Jahrhundert beseelte, identisch sei. Es wird der
interessante
Brief der Ermengarde de Narbonne an den König von Frankreich
aus 1273 zitiert, der Protest gegen die Anerkennung der
enghschen
Herrschaft über Aquitanien. Es werden ferner bedeutende His-
toriker genannt, die die „Geburt der französischen Nationquot; auf
verschiedene, entscheidende Daten ansetzen, zum Beispiel auf
1124: die Konzentration aUer mihtärischen Kräfte Frankreichs in
Reims (Lognon), oder auf 1214: die Schlacht zu Bouvines (Babelon,
Ranke, Durny, Flach), oder auf 1328: die Kriege seit dem Auftreten
der Valois (Guizot), oder auf die Epoche der Jungfrau von Orleans
(Michelet, Hauser). An all diesen Tagen waren die Franzosen von
einem Gedanken beseelt, trugen einen Namen und dienten
einer Sache. Es werden schheßhch noch zur Bestätigung der
These eine Reihe Aeußerungen und Gedanken angeführt, wie:
servir la patrie; mourir pour la patrie; la glorie de son pays; vive
la France; l\'honneur de la France, die im 17. Jahrhundert gefunden
werden, wie auch im 16. und früher und sich noch durch andere
ergänzen ließen. Bei ihnen aUen ist es aber immer die Frage, inwie-
fern sie allgemeine Gefühle ausdrücken; welche VorsteUung sich
derjenige von den Worten machte, der sie anwendete; inwiefern
sie von Literatur, zum Beispiel von lateinischen Vorbildern, be-
einflußt waren; inwiefern es sich mehr um ein ritterliches Ideal
oder um die Abkehr gegen Eindringhnge und Feinde, als um das
klare Bewußtsein handelte, eine unzertrennhche Einheit zu sein:
nicht aus Gründen der Ehre, oder der Ruhmessucht, sondern eben
nur deshalb, weil es sich um eine eigene geistige Einheit handelt. AH
solche Fragen zu entscheiden, würde eine eingehende Untersu-
chung verlangen und vieUeicht käme man auch dann noch nicht zu
einem befriedigenden Ergebnis.

Neben solchen Aeußerungen Einzelner werden aber einige Bei-
spiele zitiert, die mehr Anhalt geben. AUererst der Brief der Ermen-
garde, in dem sie ihrem Schmerze, der von „omnes compatriotae
nostnquot;, von der Garonne bis zur Rhône, geteilt wird, Ausdruck
verleiht. Es sei ihnen zuwider zu sehen, wie ein Land, das vom
Königtum befreit worden wäre, „sub alterius dominioquot; käme, und
sie befürchteten, „ut, membris sub Servitute redactis, caput ipsum fa-

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*squeatlabefactariquot;. Ob aus diesen Worten das Bewußtsein einer
jj^^^\'^^üchlichen geistigen Einheit spricht? Es ist schwer zu sagen,
man sich vielleicht nicht mehr dem Gedanken, jetzt einem
en und rohen Bedrücker zum Opfer zu fallen, hingegeben?
_ s im Vertrage zu Brétigny in 1360 beträchtliche Gebiete Frank-
doc ^ ^^^ Engländern zediert wurden, stritten Herren im Langue-
hatt französischen Könige das Recht dazu ab. Schon eher
en die drei Stände sich geweigert, den Westminsterschen Ver-
gsentwurf, in welchem beinahe ganz Frankreich den Engländern
getreten wurde, anzuerkennen, da man nicht wollte „que le
^yaume de France fût ainsi amoindri et défraudéquot;. In 1526
e erum weigerten die burgundischen Stände, sich der Zession
r^s Landes an Kaiser Karl V. zu fügen.
Sanbsp;würde eine nähere Untersuchung der solchen Tat-

der ^^ vorangehenden und folgenden Umstände die Berechtigung
Wirdnbsp;eines Nationalgefühls, so wie es heute verstanden

im \' ^^^^ ^^^ i®\'^® Zeiten bestätigen. Es fragt sich aber dann
er noch, in welchem Maße sie eine allgemeine Meinung wider-
Vll5 gab es in jenen Jahrhunderten doch äußerst breite Be-
ten ^^^quot;g^^ehichten, die überhaupt keine politische Meinung hat-
dernbsp;bleibt es immerhin möglich, daß man dieses Postulat

er Unzertrennlichkeit aus anderen Erwägungen als denen einer
st ,, senen, von anderen verschiedenen, geistigen Einheit
. e- Vielleicht muß man aber mit solchen halben Beweisen
rieb nehmen und sie als volle gelten lassen, solange sich nicht
auf deutliche Weise die Unhaltbarkeit der Annahme
an^ ^^^ ^^^^ auszudehnen und eine gleiche Gesinnung auch für
ere Kreise und Völker als normal oder höchstwahrscheinlich
snl ,en, würde der Berechtigung ermangeln; man wird eine
gj^j^ ® nationale Gesinnung nur dort voraussetzen können, wo sie
,. deutlich zeigt und andere Umstände nicht auf das Gegenteil

hinweisen.

Man nimmt nun in der Regel auch für die polnische Frühzeit
e solche durchaus nationale Gesinnung an; ich betone immer
eder: national im heutigen, modernen Sinne. Man stützt sich
, auf Tatsachen, die entweder in dem Worte „Xenelasiequot;
er als „Kampf gegen den Erbfeindquot; zusammenzufassen sind,
ehe Aeußerungen einer Aversion genügen aber nicht; sie sind

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ZU negativ und implizieren noch nicht das positive Bewußtsein
emer geschlossenen Einheit. Man könnte so schheßHch jede Reak-
tion gegen sich im Lande breitmachende und überhebHch auftre-
tende Fremde, gegen jeden agressiven Erbfeind, mit dem man
Uneinigkeiten über die Zugehörigkeit gewisser Gebiete hat zu
einer „nationalenquot; machen. Sie kann es unter Umständen
auch
sem, braucht es aber nicht zu sein. Ist nicht gerade auf der andern
beite dieser so „eminent national denkendequot; polnische Adel seit
1386 Uber zwei Jahrhunderte lang bemüht gewesen, die Union mit
den htauischen Ländern, deren Bewohner weder polnischer
Sprache
waren, noch zum übergroßen Teüe römisch-kathoHsch, noch kul-
tureU mit Polen auf einer Stufe standen, zu erhalten? Wo gibt es
m der europaischen Geschichte ein gleich treffendes Beispiel
einer
so durchaus „übernationalenquot; Gesinnung wie die polnisch-litauische
Verbrüderung auf dem Unionstage zu Horodlo in 1413? Es galt
eine Union zu erhalten und diese Union war ihnen bedeutungsvol-
er als die Nation. Als man in 1433 wiederum, auf recht
energische
Weise diesmal, für die Erhaltung der Union eintrat, räumte man
zu gleicher Zeit den orthodoxen Bojaren dieselben Rechte wie
Ihren römisch-kathoHschen Standesgenossen ein: „nationalequot;\' reH-
^ose Gegensätze sollten eben keine Bedeutung haben. Mit solchen
Tatsachen weiß man in der Regel nicht viel anzufangen. Bei der
ganzen „nationalenquot; Frage denkt man mehr an die
westlichen
Nachbarn Polens, denn man möchte am Hebsten den deutsch-

polnischen „nationalenquot; Gegensatz bis in die Urzeit hinein nach-
weisen.

Es seien nun hier noch eine Reihe Tatsachen ähnHcher Art wie
jene, die a s
Beweise für die Existenz eines frühen französischen
Nationalgefuhls gelten, angeführt. Sie mögen zeigen, wie kompli-
ziert diese Probleme smd, für wie verschiedenartige Interpretatio-
nen eme und dieselbe Tatsache Anhaltspunkte gewährt
und wie
verschieden die Gründe sein können, die zu einer und
derselben
orderung führen.

Um 1006 versuchte Boleslaw Chrobry die Böhmen und Lausitzer
lur eine gemeinsame Abwehr des Feindes im Westen zu gewinnen,
„weil sie doch Brüder seienquot;. Er formulierte hier etwas, das stark
dem NationaHtätsgedanken ähnelt. Eine gemeinsame Abwehr aber
icam mcht zustande: man verstand ihn nicht. Die polnischen

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Henbsp;widersetzten sich lange unter der Führung eines

fiel •nbsp;die Expansionsneigungen des Westens, und doch

denen ^^^ danach wieder in einzelne Herzogtümer auseinander,
känbsp;Gemeinschaftsgefühl fehlte, die sich gegenseitig be-

schles\'^^quot; Gegen das Ende des 13. Jahrhunderts schieden die
kanbsp;Herzogtümer aus dem polnischen Kreise aus; sie „be-

nnten sich zum Deutschtumquot;, wie man sagt. In der ersten
sis h ^ ^^^ Jahrhunderts aber kämpften diese selben schle-
^^^^^en Herzöge wiederholt auf der Seite Polens gegen den Orden,
alsnbsp;dann aber am Ende des 13. Jahrhunderts auch andere

Erwägungen gegolten haben. Seitdem Ende des 14.
Wennnbsp;Litauer, in stets wachsendem Maße,

sam ^^^^ bedenklichen Rückschlägen, zu einer Einheit zu-
gepnbsp;gemeinschaftlich gegen den Deutschen Orden und

gernquot; ^o^l^au gekämpft. Vier Jahrhunderte lang bildeten sie ein
als ^^quot;^^^aftliches Staatswesen und heute stehen sie einander noch
Xijnbsp;Völker, als „Nationenquot; gegenüber. Wo bleibt da die

von^^ der nationalen Einheit des Staates? Das litauische Statut
„ ^447 in dem der König Kasimir sich dem litauischen Adel
^^genüber verplfichtete, keine Schmälerung des Gebietes des Groß-
zuzulassen und nötigenfalls alle „verlorenenquot; Gebiete
^^^^^zuerobern, bedeutet doch auch, in französischer Denkart
gedrückt, daß Litauen „une et indivisiblequot; sei. Und doch lebten
Polen^quot;^ Staatswesen Litauer, Ruthenen, Weißrussen, Großrussen,
dern\'^\'i quot;^^den und Tataren neben- und durcheinander. Und nach
Pfli h Statute war die Bevölkerung zum Heeresdienste ver-
Vonnbsp;^^^ Verteidigung der Reichseinheit es verlangte,

schafr^^quot;^ Nationalgefühl kann aber bei einer so bunten Gesell-
sagen-nbsp;^^^nbsp;^o^^^e Bestimmungen wollen

Sch ^-quot;inbsp;nicht, das litauische Reich anzugreifen und zu

Landnbsp;^^^ ^quot;d der Ruhm und die Größe unseres

Sücht^^ fassen einen solchen Einbruch nicht zu!quot; nicht aber: „Ver-
Wollenbsp;Gebiete unseres Staates zu inkorporieren, denn wir
leb können mit euch doch nicht in einem Staate zusammen-
nnser\' Interessen, unsere Lebensweise und Anschauungen,
söh Charaktere und Kultur stehen einander fremd und unver-
^-jM^hge
genüberquot;. Und ist es nun nicht auch mögüch, daß die
Zivier op. cit. Seite 367 ff.

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erstgenannte Argumentation auch die des französischen 14. und
16. Jahrhunderts gewesen ist? Für die Periode um 1300 stellt Caro
ausdrückhch das Fehlen „geistiger Culturgüter mit
specifischer
Nationalfärbungquot; fest, und sind diese es nicht gerade, die die Grund-
lage des echten Nationalgefühls büden? Hätte tatsächhch dieses
Nationalgefühl im heutigen Sinne in jener Zeit bestanden, hätten
die Polen dann so leicht den Verlust ganz Schlesiens verschmerzt?
Und hätten die schlesischen Herzöge sich dann so leicht und ohne
irgendeinen bedeutenden Widerstand in das nachbarliche Staats-
gebUde eingefügt? Hätte man dann die vorhergegangene Durchdrin-
gung des Landes mit deutschen Ansiedlern so stark befördert? Gele-
genthch der Schilderung der Tannenberger Schlacht äußert Caro sein
Befremden über den erstaunhchen Mangel an nationalem Bewußtsein
bei dem Landadel und den Städten im Preußenlande, die vom
Orden abfielen.
Es will mir aber gerade vorkommen, daß weder
bei den Polen noch an der deutschen Seite solch nationales Be-
wußtsein bestand. Was die Polen in jenem Kampfe beseelte, war
ein hundertjähriger Haß gegen die Eindringhnge und Erbfeinde,
die das Land, da es schwach war, um die „pommersche Erbschaftquot;
gebracht hatten, und dieser Haß gab ihnen die Schwungkraft, aber
er war doch viel primitiver, viel roher als dieses bewußte, ge-
dankenreiche Gefühl, einer kulturellen Einheit anzugehören.

Das Problem wird noch dadurch erschwert, daß Autoren, die
sich mit diesen nationalen Fragen befassen, in der Regel ver-
säumen, im Voraus festzustellen, was sie unter dem Worte „natio-
nalquot; verstehen wollen, und sich so von der Kompliziertheit jener
Dinge nicht deuthch genug Rechenschaft geben, viel mehr die
verschiedensten Lebensäußerungen, die sich nur irgendwie ähn-
lich sind, in diesem einen Worte zusammenfassen.

Es sind da Patriotismus, Ehr- und Ruhmessucht, Stolz, Rivali-
tät, Haß ,Neid, Ueberheblichkeit, Expansionsdrang und Streit um
materielle Vorteile, die sich alle irgendwie in ähnlichen Handlungen
äußern können, oft nicht ganz auseinanderzuhalten sind, und doch
nichts mit jenem Nationalgefühl gemein haben. Und nun dieses
Nationalbewußtsein selbst: es äußert sich in ihm eine menschliche
Empfindungsfähigkeit, die als solche immer vorhanden ist, oft aber
unentwickelt und oft überreizt sein kann. Sein genus proximum
ist Zusammengehörigkeitsgefühl, eine genaue Grenze diesem ge-

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S nüber aber ist nicht zu ziehen, im Grunde ebensowenig wie jenen
nalnbsp;Affektionen gegenüber. Sowie es wirkliches Natio-

Cult quot; ™ niodernen Sinne ist, setzt es die Existenz „geistiger
^jg^^güter mit specifischer Nationalfärbungquot; voraus, ist dann
d R ^\'quot;^^minengehörigkeitsgefühl und obendrein das Bewußtsein,
deij^ Gefühl durch die „nationale Eigenartquot; bedingt wird, sich
jjg.^^eh der Auflösung in, oder Verschmelzung mit andern Ein-
widersetzt, sie ablehnt und im äußersten Falle die Exis-
^^ Möglichkeit einer größeren, „übernationalenquot; Einheit über-
reizf^ leugnet. Es kann unentwickelt und vollentwickelt, über-
hab beschwichtigt sein, es kann ganz verschiedene Intensität
hof^^^quot; ^^ ^^nn einschlafen, zurückgehen, sich entwickehi, krank-

quot;^att ausarten.

ein ^ ^^^^^^ ^^^^ Frage ein: wann wird dieses Nationalgefühl
(jg^^^f^ehichtlich relevanter Faktor? Man könnte sagen: sobald es
üin ^^^ zutage tritt, im Gegensatz zu anderen Strömungen, sobald
ist ^^^^^willen partikulare Interessen aufgeopfert werden^. Das
^ aber wieder außerordentlich schwer festzustellen. Ein Beispiel
länH- ^^ zeigen. Bei dem langwierigen Befreiungskrieg der nieder-
Von ^^^^^^ Provinzen gegen Spanien möchte man dieses Aufopfern
an ^^^tikularen Interessen dem nationalen Gedanken zuliebe
Litnbsp;war überdies eine eigne Kultur da: eigne Sprache,

jj^^^^tur, Kunst, Religion und allerlei Charakterzüge. Aber den-
einenbsp;quot;^an allgemein an, daß es sich hier noch nicht um

gl^^^^tionale Erhebung handelte; man lehnte sich gegen die Reli-
dernbsp;gegen zu hohe Steuern, gegen Vernachlässigung

ij^j^Spezifischen Handelsinteressen der Provinzen auf: das natio-

^efühl entwickelte sich erst tief im 17. Jahrhundert.
I^ev 1 ^^^^ brach es vielfach in Europa seit der französischen
dernbsp;durch, die allerlei gährende Gedanken in entscheiden-

in p 1 formulierte. So fing das Nationalgefühl auch um 1800

olen an, sich zu entwickeln,
tionbsp;lassen sich einige wichtige Schlüsse ziehen. Da das Na-

/^ualgefühi auf innerer Erfahrung beruht, setzt es politisches Be-
annbsp;individualistische Entwicklung voraus; es ist demnach

^„^^^niehr^^gj. weniger demokratische Perioden in der Geschichte
----——----—

7quot; i^ueter, Geschichte des europäischen Staatensystems von 1492—
^\'lünchen und BerHn 1919, Seite 44—45.

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gebunden, wenn es wirklich eine echte und wahre Ueberzeugung
ausdrücken wiU, und nicht nur als demagogisches Mittel, als miß-
brauchte Phrase angesehen werden will. Es beruht ferner auf einer
gewissen geschichthchen Entwicklung: eine jede NationaUtät kann
sich zu einer größeren Einheit entwickeln oder in kleinere
spalten,
das Nationalgefühl ist also nicht festumrissen und statisch, denn
es ist nicht einleuchtend, weshalb eine geschichthche
Entwicklung
m emem gewissen, wiUkürhch angenommenen Augenblicke aus-
setzen soll. Es trat schheßHch in Europa erst entschieden hervor,
als die zu gleicher Zeit mit demokratischen Begriffen
propagierte
Zentrahsation und Unifikation einsetzte, als das Prinzip der Auto-
nomie zurücktrat und man die Sorge für vielerlei Interessen nicht
mehr emzehien Gruppen überließ; schließlich als man anfing zu
germanisieren und zu russifizieren. Man kann das
Nationalgefühl
also reizen, aber auch durch Toleranz besänftigen, einschläfern.

Demnach ist das nationale Bewußtsein kein festumris-
sener, unveränderlicher Faktor im Leben der
Volker. Seine Existenz, seine Intensität und sein Wert hängen
von einer Reihe, im vorigen Absatz erwähnter Umstände ab
und
diese Tatsache wird sich als für die im zweiten Teile erörterten
Fragen bedeutungsvoU erweisen.

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i^ie napoleonische zeit. das erste erwachen

EINES NATIONALGEFÜHLS.

l^ie gemeinschaftliche Politik dreier der fünf Großmächte hatte
den polnischen Staat vernichtet; nur unter zwei außergewöhn-
ichen Umständen würde dieser in seinem Umfange von vor 1772
^vieder erstehen können. Einer dieser Umstände würde das Ein-
verständnis aller fünf Mächte zur Wiedererrichtung jenes polni-
^hen
Staates sein. Aber die bekannte Ehrerbietigkeit des alten
Europas vor „erworbenen Rechtenquot; und vollendeten Tatsachen,
zumal, wenn es die Großmächte betrifft, verwies diese Möglich-
l^eit in das Reich der Schatten.

Der andere würde die gleichzeitige Ohnmacht der drei Teilungs-
Mächte sein, dadurch würden die Polen aus eigner Kraft ihre
Unabhängigkeit zurückerobern können und diesen Gedanken faßte
Mickiewicz in sein Gebet: „Um den allgemeinen Krieg bitten wir
Dich, 0 Herr, für die Freiheit der Völker!quot;

Während des neunzehnten Jahrhunderts erörtert man zwei sehr
Verschiedene Fragen, ohne sie recht deutlich auseinanderzuhalten.
Man erörtert die Wiedererstehung des polnischen Volkes, also eine
rein nationale Frage — und dieser Gedanke gewinnt an Macht und
Einfluß, je mehr demokratische Anschauungen das Gemeingut der
^oßen Masse werden — und man erörtert die Wiedererrichtung
es polnischen Staates in seinem Umfange von vor 1772, also eine
politische Frage, in der auch ökonomische und strategische Fak-
toren eine große Rolle spielen. Man verwechselt beide oft und
nennt sie in einem Atem, alsob beide Begriffe: die Wiedererstehung
des Staates und des Volkes, identisch seien. Man macht den Fehler,
Weil man meint, daß sie ,,nach gesunden Anschauungenquot; identisch
sein sollten, und setzt so ein persönliches Werturteü, eine
Eorderung, die man allgemein anerkannt glaubt, der Feststellung
einer Tatsache gleich. Diese Verwirrung dauert noch fort, obgleich
der Gegensatz schon deutUch in den Begriffen: Nationalstaat und
Nationalitätenstaat formuliert ist. Je nachdem man die Wiederer-

13

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Stellung des polnischen Volkes oder des polnischen Staates ver-
langt, wird man zur Begründung seines Wunsches mehr auf Ge-
dankengange wie: „ewige Gerechtigkeitquot;, „Nationalitätsprinzipquot;
und „Selbstbestimmungsrecht der Völkerquot;, oder auf das euro-
paische Gleichgewichtquot; den Nachdruck legen. Dieses letzte Prinzip,
vag und unbestimmt wie die anderen, greift auf eine alte Vorstel-
lung zuruck: es wiU die alte Grenze des römisch-kathohschen
Europas wieder errichten. Polen, das BoUwerk Westroms
gegen
die griechische Orthodoxie und asiatische Einflüsse, wiederher-
stellen und die drohenden russischen Expansionsgelüste eindäm-
\'
aknbsp;ytüitätsgedanke eher als ein Gerechtigkeits-

postulat^ Aber man kann sich über ihn nicht einigen, die einen
denken diese „histonscheMissionquot; den Polen zu. die andern ....

niT .. .nbsp;Ausgangspunkte, dem

Gleichgewichtsgedanken, aus, zu entgegengesetztem Ergebnis- ihnen

Deutscutnd^quot;nbsp;™

Es wurden zwei außergewöhnhche Umstände genannt, deren
Eintreten die Wiedergeburt Polens zur Folge haben könnte. Es
gibt aber noch einen dritten, den nämhch. daß ein poUtisches Genie
den Kontinent nach seinem Wülen modelt und der Wiedererrich-
tung des polnischen Reiches gewogen ist. Dies geschah durch Na-
poleon; und das Zeugnis einer solchen Zeit ist von großem Werte,
denn es zeigt uns die Auffassungen eines Mannes, der, wie kaum
em ^eiter, diese Probleme durchdacht hat. VieUeicht kann es
die Wesensergrundung der Territorialkonflikte erleichtern

1806.

La France est encore humihée d\'avoir contemplé avec une
lache timidité la destruction d\'un royaume comme la Pologne.
Les Polonais ont toujours été les amis de la France, c\'est à moi
quU appartient de les venger. Jamais il n\'y aura de paix stable
en Europe tant que le royaume de Pologne ne sera rétabh. sur ses
anciennes bases, dans son intégrité. Patience! Si je vis vingt ans,

pl^^eflat\'l\'\'\'\'nbsp;Monographie von H. Handelsman: Naquot;-

rSLpte^Ä^V.\'quot;^\'^^-nbsp;^^^^^nbsp;hauptsächlich

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je forcerai bien peut -être la Russie, la Prusse et l\'Autriche à restituer
s provinces, que par trois fois elles se sont partagées. La politique
Cours du Nord fut odieuse! infame! spoHatrice!quot; Es sind dies
orte des
Konsuls Bonaparte an Bourrienne.
quot;Nous n\'avons aucune raisonquot;, führt Handelsman hierauf aus,
quot;pour douter de sa sincérité. Bonaparte général, consul, empereur
pouvait bien exprimer de semblables idées, il pouvait même les
^primer sincèrement; mais entre ses idées, ses sentiments et sa
J^anière d\'agir, il devait bien souvent exister une divergence pro-
dis Ea cause de cette divergence, il l\'exphquait lui-même en
^ sant: „Moi je me déclare le plus esclave des hommes, mon maître
a pas d\'entrailles, et ce maître, c\'est la nature des chosesquot;.
La
Ce h^^ choses, la nécessité le poussait sans cesse vers un but.
ut était l\'amoindrissement de l\'influence de l\'Angleterre, l\'obli-
de donner à son nouvel empire carolingien de l\'espace, et
s forces pour une évolution économique. Il n\'était que l\'ordon-
^ eur des besoins et des idées, surgissant dans l\'ordre des choses
^Puis plus d\'un siècle. Ce qu\'il y avait d\'inconscient chez ses
prédécesseurs devenait chez lui l\'effort raisonné d\'une volonté
^erme. H veut embrasser tout le Continent, il veut en faire un corps
nuorme pour imprimer dans l\'évolution économique sa puissante

Volonté.

Jeté dans cette lutte par la force des circonstances et des con-
^ tions, lutteur réfléchi, il est bien loin d\'avoir un système d\'action,
système unique pour tous les cas et toutes les éventualités,
n sj/stème varie, il s\'adapte au miheu où son „maîtrequot; le fait
et Ü P\'^ofite du temps, des circonstances, mais il n\'a jamais,
u aura jamais de plan régulier.quot;

Q jährend er nur den allgemeinen Frieden begehrte, Ruhe und
rdnung auf dem Kontinente, um den entscheidenden Schlag ge-
geu England, „den einzigen wirklichen Feindquot;, vorbereiten zu
^ounen, wurde Napoleon durch diese „Umständequot; in 1806 in einen
^euen Krieg verwickelt. Es war der Krieg gegen Preußen, der für
j. ^ von entscheidender Bedeutung sein konnte. Die Kriegsope-
sonbsp;konnten sich leicht bis nach Polen hin erstrecken, und

jJ konnte die polnische Frage wieder eine europäische werden,
^e
Bedeutung Polens für diesen Krieg war leicht zu ermessen:

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nur schon die Möghchkeit eines bewaffneten Eingreifens polnischer-
seits konnte Preußen in hohem Maße gefährden und den Zaren
einem Friedensschlüsse, wie ihn Napoleon ersehnte,
geneigter
machen; eine tatsächhche Kriegsbereitschaft Polens würde noch
einen weit bedeutenderen Einfluß haben.

Die Kriegsoperationen entwickelten sich; Napoleon näherte sich
mit Riesenschritten der feindlichen Hauptstadt. Dennoch
warihm
auch in diesem Augenblicke nog nichts Heber als die VerwirkHchung
eines allgemeinen europäischen Friedens, einer voUkommenen und
schnellen Pazifikation des ganzen Kontinents, Rußland mit ein-
begriffen. Die französische Armee hatte schon polnisches Gebiet
erreicht und besetzte es. „Le maréchal Davout est entré à Posen-
II est extrêmement content de l\'esprit, qui anime les
Polonaisquot;,
erklarte das dreißigste Bulletin. Und welche waren die Gedanken
des Kaisers? „Les Polonais, tant pis pour eux; ils se sont laissé
partager, ils ne sont plus une Nation, ils n\'ont plus d\'esprit public;
des nobles, qui sont trop; un peuple, qui est trop peu C\'est un
corps mort, auquel il faut redonner la vie avant de penser à en
feire quelque chose. Je leur ferai des soldats, des officiers;
après
je verrai . — „Puis je vais prendre sa part à la Prusse. T\'aurai
Posen, Varsovie. Mais je ne toucherai ni à Cracovie, ni à la

Gahcie m à Vilna. On se trompe, quand on pense, que j\'aime la
guerre.

Das kHngt konkret und sachHch, keinerlei Träume, keine großen
Worte. Der Kaiser will sich weder mit Oesterreich, noch mit Ruß-

und !nnbsp;P^^ußen Krieg,

und in diesem Kriege kann es in den polnischen Provinzen Preußens

zu einer fur den Kaiser recht brauchbaren Erhebung kommen.
Man zog in jene polnischen Provinzen ein und begünstig e ^ese
Erhebung. Es kam darauf an, den Polen gewisse Lffnungen zu
rnachen, sich irgendwie ihnen gegenüber zu verpflichten, ihnen
Vertrauen einzuflößen.

In Polen war man zur Mitarbeit bereit. Dem Kaiser wurden
Memoiren angeboten, von denen das bedeutendste (von Mont-
gaillard uberreicht) die Wiedererrichtung Polens als „la mesure la
seu e efficace pour retenir la Russie au delà des frontières
orientales

J- \\ T^lnbsp;de franchir désormais ces Hmitesquot;, be-

zeichnete. Man müsse Preußen vernichten und folgerichtig Polen

â

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WiederhersteUen. „Elle (Polen) détachera l\'Autriche de la Russie

lanbsp;Sund et les Dardanelles à la Grande Bretagne et à

ussie. L\'influence continentale, la force commerciale et le

potisme naval de l\'Angleterre doivent même être attribués en

^ande partie au démembrement de la Pologne.

es ministres français ont commis la faute de permettre les

la f ^^^^ ^^ ^^ Pologne. Le remède est précisément à l\'endroit où

en A ^ ^^^ commise; le rétablissement de la Pologne peut rejeter

Asie l\'Empire russe et l\'effacer en Europe du rang des
nations.quot;

sch ^ ^^^ ^^^ bekannte Gleichgewichtsgedanke, dem man eine ent-
-;ieiaende Rolle

bei der Lösung des Problems anerkennt. Polen

Sv \'^desgenosse, Gegengewicht, Glied in dem fein verzweigten

se\' ^^ europäischen Gleichgewichts; nichts weiter. Aber auch

tis Werte als Gegengewicht steht der Kaiser noch sehr skep-

ihnnbsp;Er rechnet nur mit „Reahtätenquot;. Wert hat für

dennbsp;Macht, aus der er einen brauchbaren Staat bil-

hedquot; Und auch dann nur, wenn er sich dieses neuen Staates

^ lenen kann und nicht durch „la nature des chosesquot;, durch die

nistände, zur Untätigkeit gezwungen wird, denn ihm liegt immer

zu h erster Stelle daran, einen allgemeinen Frieden zustande

ringen. Das polnische Problem spielt nur eine untergeordnete

e- Noch nichts ist entschieden; die Umstände werden ent-
scheiden.

jenen Tagen gewann beim Kaiser ein Plan Gestalt, von dem
quot;Pater im Exil sprach: ,,J\'avais besoin du Hanovre et des pro-
fall ^^ P^nssiennes de Saxe, de Westphahe et de Franconie. II me
sur^l^ aussi Magdebourg. Mais si je posais la couronne de Pologne
np f ^ tête du Roi de Prusse, l\'indemnité effacerait le regret des
Un T Frédéric Guillaunme, Roi de Prusse et de Pologne, serait
jj. P. s puissant monarche qu\'avant la bataille de Jéna. L\'Autriche
^^ ait pas en mesure de me refuser l\'échange de la Gahcie contre
e partie des provinces illyriennesquot;. Der Gedanke Boleslaw
^nrobry\'s

tauchte in diesem merkwürdigen Plane wieder auf: die
g^j^s^hmelzung des Oderbeckens und des Stromgebietes der Weich-
Elb^^ ®Mem Staate, die „Vereinigung aller Westslawenquot; und die
e als natürhche Grenze. Aber es waren seit jener Zeit doch acht
rhunderte vergangen, die Gebiete waren zerrissen worden und

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jedes hatte seine eignen Entwicklungen und Einflüsse gekannt:
da konnten keine Brücken mehr geschlagen werden. Aber nach-
denkUch stimmt der Plan doch, denn wurde in ihm nicht ein recht
wenig „deutscherquot; Ursprung Preußens angenommen?

Die Ereignisse nahmen ihren Fortgang. In Paris fing man an,
eine polenfreundliche Stimmung zu schaffen: „Ajoutez un précis
rapide, qui peigne toute l\'indignité du partage de la
Pologne et
son influence sur l\'abaissement de la Suède et de la Porte et, dès
lors, sur l\'équilibre de l\'Europequot;, schrieb Napoleon, als er\' das
Manuskript de Pistor\'s^ zur Veröffentlichung nach Paris
sandte.
Man versuchte auch andererseits Kosciuszko, dessen Anwesenheit
man allgemein forderte, nach Polen kommen zu lassen ohne daß
es gelang, ihn dazu zu überreden.

Es kam in den polnischen Provinzen bald zum Aufstande. Am
dritten November 1806 wurde eine Proklamation an das Volk ge-
richtet: -----Polonais, il dépend donc de vous d\'exister et d\'avoir

une patrie; votre vengeur, votre créateur est là____Agissez et

prouvez-lui que vous êtes prêts à verser votre sang pour recouvrer
votre patrie____quot;

Polonais, Ü dépend donc de vous . . . Napoleon verphchtete
sich zu nichts, er verpfhchtete sich den Polen gegenüber nie zu
etwas. Er verlangte 40000 Mann, verlangte die Versorgung
seiner
Armee, verlangte bald noch mehr Mannschaften; er forderte das
volle Vertrauen der Polen in ihn. Später wird er sehen, was er für
sie tun kann, was die Umstände erlauben. „Faites savoir que je ne
puis me déclarer que lorsque je verrai les Polonais organisés et
armes schreibt er am 7. November an Davout, ein anderes Mal
dies: „Lorsque plusieurs millions d\'hommes veulent être indépen-
dants, ils réussissent toujoursquot;.

Die Lage ist interessant; es handelt sich um das Erwachen eines
Volkes. Es treten die ersten Manifestationen einer RebeUion gegen
Je Unterdrückung und die „Reinigungsquot;-bestrebungen einer lan-
desfremden Regierung zutage. Man ist seiner poHtischen Organi-
sation beraubt, der vertrauten Institutionen, der eignen Justiz,

^ de Pistor. Mémoires sur la révolution de la Pologne, avec un précis des
Paris\'ifoenbsp;démembrement de la Pologne,

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der alten Privilegien, des freien Gebrauchs der eigenen Sprache: da
ngt man zu fühlen an, wie wenig man mit dem Unterdrücker
gemein hat, wieviel die Polen von ihm scheidet, und begreift all-
mählich, daß man eine „Nationquot; ist, in jener Bedeutung, die das
ort seit dem Ende des i8. Jahrhunderts in Europa gewann,
an fühlte, daß ein gemeinschafthches Band bestand, das man
• IS jetzt wenig kannte, dessen man sich zum mindesten bis jetzt
loch nicht bewußt gewesen war, daß es gemeinsame Charakterzüge
gab, die 2u denen anderer Völker in Gegensatz standen. Und in
em Maße, in dem die Unterdrückung zunahm, wuchs dieser Ge-
UKe: daß es unmöghch ist, in einem Staate zusammenzuleben
n^it einem fremden, rücksichtslosen Herrenvolk, ohne Verständ-
nis für die Natur Anderer. Es war die Nationalitätsidee des ig.
Jahrhunderts, die sich hier durchrang. Ihre volle Reife aber er-
ngte sie erst, als sie vom ganzen Volke empfunden wurde: vor-
aufig blieb sie noch das Credo des Adels.

^egen dieses Preußen mußte sich der Haß wenden, den dessen
Verräterische Pohtik kurz vor und während der dritten Teilung
erweckt hatte. Man hatte danach die polnische Armee aufgelöst,
le
Offiziere ohne jede Entschädigung nach Hause geschickt. Man
atte die Landessprache unterdrückt, die Polen ihrer Aemter
entsetzt, ohne sie hinreichend zu entschädigen. Die neue Verwal-
nng hatte keinerlei Einfluß auf die Polen, sie war vollkommen
Von
Berlin abhängig und verstand nicht die Bedürfnisse der neuer-
Worbenen Gebiete, wollte sie auch nicht verstehen. Das öffentliche
eben wurde ganz zurückgedrängt, man führte die preußische
esetzgebung ein, die polnischen Rechtsauffassungen und Ge-
wohnheiten vollkommen fremd war. Die Abschaffung der Leibei-
genschaft, die der Adel in 1798 gefordert hatte, wurde nicht zuge-
^nigt, im Gegenteil, das Los der Bauern noch erschwert. Man führte
rüher vollkommen unbekannte Lasten ein: Fourageheferungen, Ge-
spanndienste. Die Verpflichtung zur Stellung von Rekruten wurde
erschwert; der Salzpreis wurde erhöht. In der preußischen Schule
Wurde die Ausmerzung pohlischer Denkart zum System; die „Ger-
nianisationquot; hatte angefangen. Außerdem mußte noch der Gegen-
satz zwischen den kathohschen polnischen Teilen und dem protes-
tantischen Preußen, die Konfiskation von Kirchengütem, die
Pannung erhöhen.

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Dergleichen Maßnahmen machten den kleinen Adel und die
Geisthchkeit aufsässig.
„La plus grande partie du peuple, les pay-
sans, ne pouvait être prise en considération. Le serf polonais se
plaisait trop dans cet état machinal et passif où il végétait, dans
cet avihssement où il croupissait, en laissant à son seigneur le soin
de penser et d\'agir pour lui.quot; Der dritte Stand (insofern man
von
einem dritten Stande in Polen sprechen konnte) fühlte den Druck
der ökonomischen Abhängigkeit von Preußen, in die er verfallen
war. Nur eine kleine Gruppe Aristokraten hatte die preußische Re-
gierung sich zu verbinden gewußt.

Dieser Geist der Unabhängigkeit und des Widerspruchs hatte
ach schon m den polnischen Legionen offenbart, die unter den
Fahnen der französischen Revolution kämpften; er mußte
auch
in Polen beim Anmarsch der Feinde Preußens zutage treten Den-
noch war die Erhebung bei der Ankunft der Franzosen nicht all-
gemein. Der Netzedistrikt, zum großen Teile mit deutschen Kolo-
nisten besiedelt, hielt zu Preußen, man enthielt sich sogar
nicht
von feindlichen Handlungen den Franzosen gegenüber. Der hohe
Adel, der vor allem bei einem Mißlingen der Erhebung für seine Gü-
ter zu fürchten hatte, war unschlüssig. Aber Davout schrieb am
24. November: „Plus qu\'on s\'approche de Varsovie, plus on re-
trouve l\'esprit polonais, mais tout cela manque d\'ensemblequot;. In
den Städten war die Begeisterung weit größer als auf dem
Lande.
Bei dem Einzüge der kaiserlichen Adler in Warschau brach sie
unverhalten los: seit dem Augenbhcke waren die Polen dem Schick-
sale Napoleons verkettet. Die Regierung wurde abgesetzt die Be-
amten wurden vertrieben. Man konnte nicht mehr zurück- die Alli-
anz mit dem Kaiser drang sich auf.

„Cependant la grande masse des habitants des villes et des
paysans - à
l\'exception des endroits, par où passaient les Fran-
çais — ne bougeait pas. Elle se rendait peu compte de ce qui se
passait; elle ne comprenait ni l\'importance du changement, qui
venait de se produire, ni le rôle qu\'on lui voulait attribuer.quot;
Bauern
ließen sich für einen großen Krieg werben, ohne zu wissen für wen
oder fur was sie zu Felde zogen: es war wie es bei früheren Kriegen
gewesen war. Man mußte eben. Aber anders war es dort, wo man
unterunmittelbarempreußischem Regimente gestanden hatte, und
jetzt die Gelegenheit sich bot, die Gebundenheit an die Scholle

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als P^^^ ^Unterworfenheit abzuwerfen und in dem neuen Kriege
1nbsp;nnd Gleichberechtigte neben dem Adel zu kämpfen. Si-

ej. ^ ^^ hatte der Bauer auch in diesem Falle von der Sache, der
r Sich widmete, keinen rechten Begriff; aber die Veränderung, die
reiung aus der Untertänigkeit war verlockend. Bei der Armee
Und ^^ Gleichgestimmte, Volksgenossen, die ihn unterrichteten
da wurden ihm zum ersten Male die Begriffe des Vaterlandes,
reiheit und der Nation offenbart; das waren die Anfänge seines
^aUonalen Erwachens.

Sie hnbsp;unter den Magnaten war hingegen sehr geteilt,

der ^^. ^ beinahe ausnahmslos weite Latifundien, die jenseits
russischen und österreichischen Grenze gelegen waren, und das
ihr V ^^^ wohl zu reiflicher Ueberlegung stimmen: ihre Existenz,
ermögen standen auf dem Spiel. Sie waren sich bewußt, daß
tinnbsp;sie im Stiche lassen konnte. Enthielt nicht das 36. Bulle-

le beunruhigenden Worte:,,Le trône de Pologne se rétablira-t-il.
De grande Nation reprendra-t-elle son existence et son indé-
quinbsp;I^n fond du tombeau renaîtra-t-elle à la vie? Dieu seul,

gg^ dans ses mains les combinaisons de tous les événements,
arbitre de ce grand problème politiquequot;. Die polnischen Ker-
lennbsp;daß der Kaiser sich formell zur Wiedererrichtung Po-
Verpflichtete; aber das wollte Napoleon nicht tun, er tat es

späterhin nie.

in p^ ^^ schwachen, einflußlosen preußischen Partei gab es
olen eine recht bedeutende russische Partei, die all ihre Hoff-
Ve ^^^ Kaiser Alexander gesetzt hatte und diese Pohtik mit dem
ten p smäßig günstigen Los der unter russische Herrschaft gelang-
(jj.nbsp;begründete. Man hat angenommen, daß der Erhebungs-

s^g^^in Wilna und Minsk ebenso stark gewesen ist als in Posen. Es
g diesen Annahmen aber das Mémoire eines ,,ancien employé du
eau des Affaires Etrangères de Polognequot; aus 1806 gegenüber,
Ifej^ ^ festgestellt wurde, daß die unter russischer Botmäßig-
Y übenden Polen sich am wenigsten des Verlustes ihres eignen
füh ^ ^^des bewußt waren. Als Gründe werden die folgenden ange-
Sebo^ Mit Ausnahme des Müitärgouverneurs der Provinz, eines
Seinbsp;Russen, seien alle anderen Beamten Polen; im Grunde

seit den Teilungen in jenen Gebieten nichts verändert. Kultus,
gentumsrechte, Sprache (der russischen an sich schon ähnhch)

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waren unangetastet gebHeben. Sogar die Wahl der Magistraten
auf den Landtagen wurde weiterhin dem pohlischen Adel
belassen.
Diese weitgehende Autonomie und Mäßigung mußte versöhnUch
stimmen und dem Einflüsse der russischen Partei zugute
kommen.
Ihr Haupt, der Fürst Czartoryski, baute seine Pohtik auf recht
reellen Erwägungen auf; er konnte unter dem polnischen hohen
Adel auf einen bedeutenden Anhang rechnen, denn man
zweifelte
in jenen Kreisen vielfach an der Aufrichtigkeit Napoleons. Nach
Czartoryskis Meinung hätte Kaiser Alexander sich zum polnischen
Könige erklären und unmittelbar in den preußisch-französischen
Krieg eingreifen müssen. Gebietszuwachs nach polnischer Seite hin
war seiner Ansicht nach für Rußland von größter Bedeutung, denn
er verstärke den russischen Einfluß „dans un pays qui ne
pouvait
être séparé d\'eUe (Rußland), sans qu\'elle perdît de ce fait son rôle
de puissance européennequot;. Czartoryski träumte von der Vereini-
gung aller pohlischen Gebiete unter dem Zepter des Zaren und
seine
Argumente für eine solche Vereinigiung waren der Art, daß sie
Eindruck machen mußten: selbst im Falle, argumentierte er, daß
es Napoleon gelingen würde, Polen ganz nach seinen Wünschen
wieder zu errichten, würde doch die räumliche Entfernung von
Frankreich die Existenz des neuen Staates sehr in Frage stehen,
hundert Umstände würden seinen erneuten Fall
beschleunigen.
Da Polen doch nicht ohne Abhängigkeit, entweder von Frankreich,
oder von Rußland, bestehen könne, müsse man die russische Seite
wählen; es könne da ein großes slawisches Reich errichtet
werden.

Was entschieden aber nun die Umstände und welche waren die
Pläne Napoleons?

Polen wurde der Kriegsschauplatz der kommenden Kampagne;
es mußte Vorräte liefern, neue Truppen stellen. Eine Armee wurde
gebildet, das Land organisiert, polnische Beamte wurden eingesetzt,
die pohlische Sprache wurde zur offiziellen gemacht: alles wies auf
die Bildung eines neuen Staates.

Der Kaiser entwarf Pläne zu politischen Umgestaltungen der
Staatenwelt: „Les événementsquot;, schrieb er, „nous ont fait
vivement
sentir de quelle indispensable nécessité il est pour l\'Europe qu\'entre
Rhin et Vistule il existe une puissance, inséparablement unie
d\'intérêts avec l\'Empire Ottoman, qui fasse constamment cause

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commune avec lui et contribue dans le Nord à sa défense, pendant
^ue la France ira l\'embrasser au sein même des provinces otto-
nianesquot; .... Sollte vielleicht dem sächsischen Reiche diese Rolle
Zügewiesen werden?

Talleyrand sondierte in jenen Tagen den Hof zu Wien über einen
eventuellen Austausch Gahziens gegen Schlesien. Als aber eine
gahzische Deputation ihre Wünsche dem Befreier Polens unter-
^reitete, antwortete der Kaiser kurz, er sei mit Oesterreich in
rieden. Den Polen wiederholte er: „Je ne proclamerai l\'indépen-
nce de la Pologne que lorsque je reconnaîtrai qu\'ils la veulent
^ ri ablement soutenir, et je verrai qu\'ils la veulent et peuvent
les^nbsp;je verrai trente ou quarante milles hommes sous

armes, organisés, et la noblesse à cheval prête à payer de sa

personnequot;.

Vor^^\'^-nbsp;bereitete inzwischen eine entscheidende Schlacht

die den Krieg mit einem Schlage beenden sollte. Sie wurde zu

^y au geschlagen, .... aber war keineswegs entscheidend. Die

eine^ ^ar recht bedenklich. Weit von Frankreich entfernt, inmitten

deiu^ Linters, während dessen er mit einem fünften Elemente,

la^ ^^hlamme, Bekanntschaft machte, in einem beinahe ver-

über\'^^^\' Kriepzüge verwüsteten Lande, einer Armee gegen-

dersich siegreich fühlte, da sie vom ersten Feldhauptmannc

im Tnbsp;besiegt worden war, recht wenig auf die Großen

gute vertrauend und Oesterreich fürchtend, das nur die

zu ^-^L^^^^^^heit abwartete um sich für die Katastrophe von 1805

Sçj^j^^ en, erwog Napoleon, den Krieg mit einem andern einzigen

Wolh ^ M beenden: er bot Preußen einen Separatfrieden an,

fran • ^^^^ Gebiete östlich der Elbe überlassen und es in den

diesenbsp;luteressenkreis beziehen. Auch wenn der König

zum gingen nicht annehmen würde, so würde die Lage doch

gestalT^^^^ Verhältnis zu Ale.xander einigermaßen anders

gen dnbsp;erklärte bei der Eröffnung der Untcrhandlun-

p Könige, daß ,,l\'Empereur avait voulu connaître de près

devait ^^nbsp;convaincu maintenant, que ce pays ne

gloirenbsp;obtenir une existence indépendante, qu\'il mettrait à

qu\'ilnbsp;rentrer le Roi dans ses Etats et dans ses droits, et

de ^ ^eul en mériter la reconnaissance sans l\'intervention
qui que ce soitquot;.

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Napoleon, „Sklave der Umständequot;, war im Begriffe Polen ein-
fach im Stiche zu lassen: ihm lag an erster Stelle am
allgemeinen
Frieden. Man begann in Polen sich zu beunruhigen. Aber der
preußische König lehnte die Vorschläge ab: da zog sich Napoleon
nach Finkenstein zurück und entwarf einen Schlachtenplan, der
sich dieses Mal für seine Gegner vernichtend gestaltete.

Man verlangte neue Opfer von Polen; aber das Land war kriegs-
müde und erschöpft. Die Begeisterung war sehr gefallen, die Be-
ziehungen wurden etwas gespannt. Der schwierige Auftrag, sie
wieder besser zu gestalten und zu erhalten, wurde Talleyrand
übertragen. Die Etappenfrage war die schwierigste, aber auch die
neuen Truppen waren auszurüsten, die Organisation des Landes
war auszubauen. Manche Hindernisse mußten überwunden werden
es mußte überwacht, beruhigt und geraten werden, die Forderungen
des Kaisers waren zu erfüllen, seine Unzufriedenheit war zu ver-
meiden. Es waren lange, schwere Monate, Monate des Wartens.
Der Kaiser bereitete unermüdlich vor; er umgab Rußland mit
Feinden, erwog eine Intervention in russische innere Angelegen-
heiten, wollte seine Gegner in Schrecken versetzen. Da waren die
Umstände für diejenigen günstig, die ihm eine Erhebung Wolhy-
niens, Podoliens und der Ukraine vorscldugen. In jenen Provinzen
bestand eine geheime Organisation, die von der Wiedererrichtung
des alten Polens träumte; im Lande fanden sich übrigens
kaum
Russen. Man glaubte etwas erreichen zu können, meinte, die Be-
völkerung sei zur Erhebung bereit, aber nach langen
Verhand-
lungen fand der Kaiser den möglichen Erfolg zu zweifelhafter
Natur, zu unsicher; er sah von dem Plane ab.

Der Frühling kam, die Etappenfrage wurde weniger schwierig-
Danzig fiel am 26. Mai, die entscheidende Schlacht zu
Friedland
wurde am 14. Juni geliefert, der Friede war in Aussicht. Auf die
Prähminarien folgten persönliche Besprechungen der Kaiser, aber
niemand wußte, was sie enthielten; sie wurden nur zwischen Na-
poleon und Alexander geführt.

Von welchen Grundsätzen ging Napoleon bei den Tilsitter Ver-
handlungen aus? „Ne songeant point à créer une Pologne indépen-
dante, une nation forte, il ne voulait cependant pas l
\'abandonner
entièrement, voyant en elle un point d\'appui sûr en cas d\'une
nouvelle crise, toujours possible.quot;
„La pohtique de l\'Empereur

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Napoleon estquot;, heißt es auf Verhandlungen, „que son influence
J^^^diate ne dépasse point l\'Elbe .... Les pays situés entre le
Men et l\'Elbe seront la barrière, qui séparera les grands empires;
par conséquent point de prince français sur le trône de Pologne.quot;

as bedeute: „presque dans un seul instant bouleverser tous nos
Une Il n\'y aura pas une querelle de douane sur le Niémen,
su^ altercation de commerce, une discussion de police, qui n\'aille
sur-le-champ et directement au cœur de l\'Empereur Napoléon;
(J, Ppur cette seule faute pohtique nous aurons déchiré le traité
alliance et d\'amitié.quot; „II faut donc voir de trouver à y placer

und rr\'^quot;\'nbsp;ombrage à la Russie, ni à l\'Autrichequot;.....

^ diese Rolle wurde dem sächsischen Könige zugedacht.
l8o°nbsp;durch den Friedensvertrag von Tilsit, vom 7. Juli

War\'nbsp;polnischen Teilen Preußens das „Großherzogtum

Pernbsp;iahtet und mit dem sächsischen Königreiche in einer

verbunden. In diesen neuen Staat wurden aber die
Geb-^*^\' Königsberg von Berlin trennten, und das Bialistoker
dem\'^^ quot;^^ht mit einbezogen. Diese Konzessionen mußte der Kaiser

niächtigen Verbündeten des besiegten Preußens machen.
^^^^Jhe Sunquot; veröffentlichte damals recht deutliche und kritische
rçjj^y.^^htungen über den Frieden zwischen Rußland und Frank-

läßr^^ Artikel 5 ruft wieder den Namen „Polenquot; ins Leben. Er
sejj^J^de Prätension wieder erwachen und bestärkt jenes Volk in all
Gefühlnbsp;Er eröffnet seinen lange Zeit unterdrückten

I^erzeifquot;nbsp;Ausweg. Er crweckt in dem gepeinigten

Dienbsp;bittere Erinnerungen und Rachedurst.quot;

herrschnbsp;^^ französische Vcrtcidigungs-und Vor-

ais p^.^V^^ystem, aber es lagen in ihr mehr Kriegsvoraussichten

^ledensgarantien.

der Vor^^ ^^^^^ ^^^nbsp;Grenzen „Groß-Frankreichsquot;, er war

zum Orient liin. Er war ein Bundesgenosse für den
wiederuquot;^nbsp;Unterpfand des Friedens, je nachdem, und

Zu ern ^^nbsp;Umständen konnte man hier einem Volke

teten St^ ^^ Freiheit verhelfen oder nochmals einen wiedercrrich-
Eaust ^^^ teilen. Das Großherzogtum war eine immer bewaffnete
I^onaum^^\'^quot; ^^ befreundete Rußland und die beunruliigcndc
onarchie, die so von zwei Seiten vom Rheinbunde um-

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schlössen wurde. Der sächsische König nahm die neue Krone, nur
gegen seinen WiUen und den seines Volkes an. Unter emer neuen
Verfassung, die ganz nach dem französischen Modell
geschnitten
war und eine feste, beinahe autokratische und stark monarchische
Gewalt ins Leben rief, andererseits die Leibeigenschaft abschaffte,
ohne welche Maßnahme von einer gesunden Volksentwicklung
nicht die Rede sein konnte, schritt man langsam zur Bildung einer
„pohlischen Nationquot;. In Warschau resignierte man und
mußte
sich mit dem, was man erreicht hatte, zufrieden stellen.

Der Wiener Friede voor 1809 vergrößerte das Großherzogtum
um die Departements Radom, Lublin, Krakau und Sielce, also im
Großen und Ganzen um das westliche Gahzien. Die
Einwolmerzahl
wurde so auf das Doppelte gebracht, der Staat wurde größer als
Preußen. Hoffnungen lebten wieder auf, man träumte von
neuer
Größe, aber das Werk der Wiedererrichtung wurde hier abgebro-
chen. Fünf Jahre später war Napoleon der Verbannte auf St. He-
lena. Der erste Akteur auf dem großen Welttheater, das weder von
ihm dirigiert wurde, noch von ihm, sondern eben von
seinem harten
und unerbitthchen „Meisterquot;, „la nature des choses et les événe-
mentsquot;, in Szene gesetzt worden war, wurde, als seine
Rolle
beendet war, abberufen unter dem Beifallsklatschen und zur Er-
leichterung der andern, nur allzu sehr interessierten
Schauspieler
und Zuschauer.

Es seien hier noch einmal kurz die großen Linien zusammenge-
faßt. Der große Plan Napoleons war, an der Nordseeküste ein star-
kes ökonomisches Gebilde zustande zu bringen, das mächtig ge-
nug sei, England die Stirn zu bieten. Die Hauptmotive, nach denen
Territorialveränderungen vorgenommen wurden, waren ökono-
mische Faktoren und die Forderungen des ökonomischen Krieges.
Nationalen Tendenzen wurde keine Rechnung getragen. Umge-
kehrt aber, und äußerst inkonsequent, mußte jede neue Gebiets-
veränderung dazu dienen, die Macht und Größe einer
einzigen
„Nationquot;, der französischen, zu mehren. Die Verteidigung „Groß-
Frankreichsquot; nach Osten hin gründete sich auf ein gleiches
System.
Hier aber traten miUtärische Faktoren mehr in den Vordergrund.
Das wiedererstandene Polen war nur ein Staat, ein Gegengewicht,
ein Glied in der Kette eines weitverzweigten Gleichgewichtssys-

-ocr page 231-

sei^h\' ^^ iedem französischen oder pokiischen Memoire, und es
hierauf mit Nachdruck hingewiesen, in allen politischen Be-
sprechungen der Kriegsparteien, wurde nur mit diesen militärischen
gj pohtischen Faktoren gerechnet. Die Freiheit der Völker war
sentimentalisches Argument, dessen man sich bediente, wenn
^plegen kam. Es handelte sich nicht darum, ein „Unrecht wieder
nur ^^ quot;machenquot;, oder eine „Nation zu befreienquot;, es handelte sich
na 1nbsp;ein komphziertes Gleichgewicht zu schaffen, das, je

dem, der französischen oder der russischen „Grandeurquot; diente.

jjjg , ^^dete von einem großen slawischen Reiche, in das das pol-

hä-« vollkommen absorbiert werden sollte, von einem unab-
\'^ngigen Stpnt«nbsp;____:___-n.i
.-x.M.nbsp;. ..

kisch^^quot; Staate, den eine gemeinschaftliche Politik mit dem tür-

zwischquot; ^^lehe verbinden würde; man sprach von einem Riegel

Staat Prankreich und Rußland; man sprach immer von einem

Djgg^^\'nbsp;wehrbaren Staate, nie aber von einer „Nationquot;.

Wen ^ . ^^^^ bekommt in den Gedankengängen der Zeit erst Wert,

Wiedquot; ^^^ ^quot;gleich ein mächtiger militärischer Faktor ist. Und das

Idp 1 hängt von sehr persönlichen Anschauungen, oft nur von
quot;quot;^o^ogien ab.

UmTquot; P^age drängt sich auf: würde Napoleon unter günstigeren

rnit ^^ die Wiedererrichtung Polens in seinen alten Grenzen

betrieben haben? Eine Antwort ist hierauf wohl kaum

liand ^^^^ würde sie ohne große Bedeutung für das hier be-

Von ^ ^ Problem sein, denn auch ein innerhalb seiner Grenzen

eine v ^^^^ wiedererstandenes Polen würde für Napoleon nur

Verhn^V^^^^^^\'^ Schöpfung gewesen sein, ein Gegengewicht, eine
g^dete Macht.

^ufSt^^H^i^^^^quot;®^^^nbsp;Aeußerungen angeführt, die Napoleon

^ould V ^ O\'Meara gegenüber machte „The European nations
titne I h ^nbsp;^ ^^^ adopted the best possible policy at the

Would be^^ \'quot;tended to re-establish the kingdom of Poland, which
^erof p^nbsp;effectual means of preventing the increasing po-

Alexanfi^^^\'^ ■ quot; quot; quot; ^ think however that all depends upon Poland. If
to Say • succeeds in incorporating Poland with Russia, that is
reconciling the Poles to the Russian Government

^\'quot;^inski. Opinions of Napoleon I. on Russia and Poland. London

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and not merely subduing the country, he has gained the greatest

step towards India----If I had succeeded in my expedition to

Russia I would have formed Poland into a separate and indepen-
dent Kingdom----I wanted to\'estabhsh a barrier against these

barbarians by re-establishing the kingdom of Poland, but your
imbecils of ministers would not consent. . . .quot;

-ocr page 233-

DER WIENER KONGRESZ.

Die Mächte hatten sich gegen den Knechter Europas zusam-
ngetan, um ihre Freiheit zu verteidigen; in der Hoffnung aber
endrein, in einem solchen gemeinsamen Kampfe einige Erobe-
des^^^ quot;lachen zu können, sich ihrerseits auf Kosten des Fein-

• • • und der Schwachen vergrößern zu können.
^^ le Folge des allgemeinen Kampfes gegen Napoleon war ein
^gemeiner Kongreß der siegreichen Mächte, dem ganz natürlicher
und^d ^^^nbsp;o^^ag, das durch die Prinzipien der Revolution

,nbsp;die Eroberungskriege zerwühlte Europa wieder neu auf-

derT^quot; nnd zwar unter Verwerfung jenes Expansionsgedankens,
Freiheit und den allgemeinen Frieden bedrohte. Es war
or ^^^ Aufgabe zu lösen, das pohtische Europa in der Weise zu
^^ganisieren, das eine Wiederkehr der überwundenen Periode voll-
P ^nien ausgeschlossen wurde, während endlich noch die vom
dies ^\'•oherten Gebiete unter die Sieger zu verteilen waren. Aus
dreifachen Aufgabe ergaben sich ganz natürlich drei Auf-
hç ^^gen, dreierlei Dispositionen, die die Lösung der Aufgabe be-
dan^^^^-^^quot;quot; ^\'^^thch die Berufung auf den Legitimitätsgedanken,
Qi allgemeine Anerkennung des Grundsatzes des politischen
, ^^^iehts, schließlich aber bei jeder der zusammengetretenen
bietnbsp;Wunsch um so viel wie möglich von den eroberten Ge-

für sich selbst zu erwerben.

^atur T^^^ bedanke, der der Legitimität, war etwas gefährhcher
peut 1nbsp;erklärte, daß „le pouvoir légitime est celui, qui

suit d^nbsp;assurer le repos et le bonheur des peuples. Or, il

r*:—...îj^^q^le seul pouvoir légitime est celui, qui existe depuis

siç^^q t rnbsp;\'nbsp;-nbsp;■ ■ -

^oire ^ I l^onnadicu. Essai sur la théorie de l\'équilibre. Etude d\'his-
et de droit international. Paris 1909 (hauptsächlich

^harleg D

^\'laupts •nbsp;principe d\'équilibre et le Concert Européen. Paris 1909

lijoy^^^\'^^\'» première partie, chap. IV und VI).
^aris 10 ^nbsp;Les principes d\'annexion dans les traités de 1815. Thèse,

905 (hauptsächlich chap. III und IV).

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une longue succession d\'annéesquot;. Dieser letzte Purzelbaum in der
Logik brachte aber gerade eine bedenkhche petitio principii. Es
war ja gerade die große Frage, ob wirklich „un
gouvernement
existant depuis longtempsquot; unbedingt das Glück der Völker ge-
währleiste. Es sind genau so viel Beispiele dafür wie dagegen
anzu-
führen. Andererseits sind die Begriffe „reposquot; und „bonheurquot;
so außerordenthch vag und elastisch, daß man ohne viel Mühe
einander vollkommen entgegengesetzte Anschauungen damit dek-
ken kann. TaUeyrands Definition sagt recht wenig. Die
Legitimität
der napoleonischen Macht unterschied sich kaum von jener der
Pratensionen der TeUungsmächte. Dieser Gedanke der Legitimität
war von dem sehr talentvoUen französischen BevoUmächtigten
m die Debatte gebracht worden und war im Grunde nur ein inge-
niöses Mittel um das „könighchequot;, reaktionäre und
..restauriertequot;
Frankreich am Wiederaufbau Europas mitwirken zu lassen Frank-
reich hatte im Grunde dieselben Interessen, hatte auch dieselben
demokratischen Strömungen zu fürchten, wie die anderen legi-
timenquot; Mächte. Der Grundsatz drückte schheßlich, in recht
vagen
Worten, nur ein recht begreifliches Reaktionsgefühl, als Folge des
gerade Durchgemachten, aus. Es war der Zeit recht verständlich
und deuthch und war in territorialer Hinsicht
mit dem status quo
ante gleichzustehen.

Das zweite Prinzip, jenes des Gleichgewichts, war schon der all-
gemein anerkannte offizielle politische Grundsatz Europas seit dem
Westfälischen Frieden. Sein Wert schien über jeden Zweifel erha-
ben, besonders nach den Erfahrungen der letzten Jahre. Die
Preußen begehrten einen Frieden, der „par une sage répartition des
forces, par un juste équihbrequot; die Völker fürderhin vor dem Un-
glück, das seit zwanzig Jahren über sie hereingebrochen war, be-
hüten würde. Dieses Gleichgewicht wurde aber nur von der rein
mihtärischen Seite gesehen. Es konnte sich nur um eine recht ge-
wissenhafte Verteilung der militärischen Mittel handeln: man ging
sogar so weit, daß man nicht gewisse Gebiete zuerkannte, sondern
eme gewisse Menschenzahl, die einen gewissen mihtärischen Wert
hatte, ein pohtisches Gegengewicht bedeutete. Das Gebiet an sich
hatte nur sekundären Wert. Die berühmte Statistische Kommission
behandelte die Völker wie Vieh; es konnten daraus auf die
Dauer
nur Konflikte entstehen.

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g. ^^^ dritte Leitgedanke war keineswegs ein „Prinzipquot;, sondern
^Me sehr mächtige und menschHche Schwäche. Sie trat haupt-
achlich in der sächsischen und pohlischen Frage mit einer solchen
^artnäckigkeit zutage, daß aus der BegehrHchkeit der Sieger die
e ahr eines neuen europäischen Krieges entstand. Es sei hier
er nicht zu weit vorausgelaufen,
er sächsische König war besiegt und in Leipzig gefangen ge-
onimen worden. Seine Staaten waren erobert worden; man be-
frachtete das Königreich, mit seinem Anhange, dem Großherzog-
^ M Warschau, als vollkommen dem „Eroberungsrechtquot; unter-
worfen. Es befremdet einigermaßen, die Mächte sich auf dieses
^^inzip berufen zu hören, das sie gerade bei ihrem besiegten Gegner
^ jampft und verurteUt hatten, da es den Frieden und die inter-
Iich°H ^^^ Sicherheit in Gefahr bringe. Es befremdet hauptsäch-
na h ^ ^^^^nbsp;„Eroberungsrechtquot; (das übrigens noch

tio Kriege r870—71 verteidigt wurde) ohne jeghche Restrik-
berief, es in seinem ganzen radikalen und primitiven Sinne
zu tnbsp;während man doch gerade eine dauerhafte Pazifikation

s ande bringen wollte. „Le droit des gens admet en principe,
le droit de conquête est un titre légal pour acquérir la souve-
î^^té sur un pays conquisquot;, erklärte Hardenberg in 1814. Es be-
sä ^nbsp;destinée des peuples d\'accroître sans cesse leur puis-
ee, et dès lors, (auf) la nécessité de la conquête dans la vie des
Üiih^^^\' caractère fait sa légitimitéquot;. Man hat sich aber nie die
, ^ gemacht, diese „destinéequot; und die sich daraus ergebende
j^^essitéquot; wirklich zu beweisen. Es herrscht hier eine Verwirrung:

ausnnbsp;^^nbsp;^^^nbsp;gewisse (keineswegs

in dgnbsp;Regehnäßigkeit fest, diese nämlich, daß die Staaten

Regel wachsen, Eroberungen machen, wenn sie auf keinen
. j^^^^tand stoßen, und anerkennt nun dieser Feststellung einer
iese Fnbsp;quot;Notwendigkeitquot;: „Wenn sich

Wohlnbsp;iquot; der Regel durchzusetzen weiß, so wird dafür

nicht ^^^^ triftiger Grund vorhanden sein, so wird man dem
Ulan-nbsp;könnenquot;. Auf irgendwelchen Beweis verzichtet

quot;Tatnbsp;^^^^^^nbsp;Vermutung zufrieden und der

genie^^^^^^quot; ^^^^ erhöhte, eine „rechtlichequot; Bedeutung bei-
sem??quot;\' ^quot;tweder aus Mutlosigkeit, oder aus Zynismus; aus die-
etzten Grunde vicUeicht am ehesten. Solche Anschauungen

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sind für Kompromisse kaum zugänglich, im Grunde streiten sie
jede Gleichberechtigung ab.

Der preußische Standpunkt, der sich auf Aeußerungen von Grotius
und Vattel stützte und auch der der vier alliierten
Großmächte
war, fand aber doch viele Gegner; die französischen Bevollmächtig-
ten verglichen ihn den napoleonischen Methoden. Der Kongreß
modifizierte das Prinzip in der Weise, daß Kriege, die
ausschließlich
aus Eroberungszwecken geführt würden, zu verurteüen wären; alle
andern Konsequenzen wurden aber anerkannt. Man
akzeptierte
demnach erzwungene Gebietsabtretungen, um den leichtfertigen
Friedensstörer zu züchtigen, seine Opfer schadlos zu stellen
und
ihnen Gewähr für einen dauerhaften Frieden zu geben.

Alle Entscheidungen über Sachsen und das Großherzogtum
Warschau vvurden in hohem Maße durch den preußisch-russischen
Vertrag von Kahsch vom i6. Februar 1813 beeinflußt, in welchem
erklärt wurde, daß „la sûreté entière et l\'indépendance de la Prusse
ne pouvant être soHdement étabhes, qu\'en lui rendant la force
réeUe, qu\'eUe avait avant la guerre de 1806, S.M. l\'Empereur de Russie
s\'engage à ne pas poser les armes aussi longtemps que la Prusse
ne sera point reconstituée dans ses proportions statistiques, géogra-
phiques et financières, conformes à ce qu\'elle était avant l\'époque
précitée. S.M. l\'Empereur de Russie promet.... d\'apphquer aux
équivalents, que les circonstances pourraient exiger pour l\'intérêt
même des deux Etats, et à l\'agrandissement de la Prusse, toutes
les acquisitions, qui pourraient être faites par ses armes et par les
négociations . . . .quot;

Die der einleitenden Motivierung zugrunde liegende These ist
reme Anschauungssache; es handelt sich um ein politisches Pro-
g^ramm; die „AUgemeingültigkeitquot; der Anschauungen hängt von
dem Umstände ab, in welchem Maße auch andere Mächte Vorteil
bei der Anerkennung gleicher Grundsätze haben. Eigentlich be-
sagt die ganze Motivierung kaum etwas anderes als das
Folgende:
es ist für Preußen von größter Bedeutung, seine recht zerstreuten
Gebietsteile zu einer Einheit zusammenzufassen, und die Erwer-
bung Sachsens würde diese „Abrundungquot; wesenthch fördern.

England ist geneigt, Preußen beizustehen, seine territoriale Ver-
größerung und seine Konsolidation zu befördern, da es darin „le
seul fondement sohde de tout arrangement quelconque à établir

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pour la sûreté du Nord de l\'Allemagne contre les grands dangers
pourraient la menacerquot;, sah. Preußen begehrte Sachsen nur
für den FaU, daß es seine polnischen Gebiete nicht wiedererwerben
^rde bei einer Wiedererrichtung Polens, für die Kaiser Alexan-
der sich mit Nachdruck einsetzte. Ein wiedererrichtetes und nach
den Wünschen Alexanders, unter Gewährung einer vagen Unab-
hängigkeit, dem russischen Reiche verbundenes Polen würde
schheßHch ganz in Rußland aufgehen. England und Frankreich
aber waren fest entschlossen, diese Entwicklung der Dinge, nöti-
genfalls auch mit Waffengewalt, zu verhindern, da sie von einer
Solchen Vermehrung der Macht Moskaus nur Unheil erwarteten.

Der französische König schlägt in diesem Gedankengange einen
Mittelweg vor: „qu\'on ne peut faire de mieux que de remettre les
^oses dans l\'état où elles se trouvaient par le dernier partage ....
^n restant partagée, la Pologne ne sera point anéantie pour tou-
jours.quot;

So wie er einerseits einen russischen Gebietszuwachs verhindern
Wollte, war seiner Meinung nach auch andererseits die Annexion
achsens durch Preußen um jeden Preis zu hintertreiben, da
reußen ,,ferait par une telle acquisition un pas immense et décisif
Vers la domination de l\'Allemagnequot;.

Oesterreich fürchtete hauptsächlich ein russisches Uebergewicht
nnd entscliloß sich, vorläufig die preußische Politik zu stützen;
^s stimmte in eine Inkorporation Sachsens zu, unter der Bedingung,
quot;^ue la répartition des forces en Allemagne se fasse d\'après des
Pruicipes équitables, qui assurent aux Cours de Vienne et de BerUn
nne influence égale sur ce pays, les rendant également utiles à sa
ense, et préviennent des froissements entre deux puissances,
Jjni doivent rester unies pour la protection de l\'Allemagne et pour
^quot;itérêt de l\'Europequot;.
Preußen aber war keineswegs geneigt, als Gegenleistung für
lese
Konzessionen, sich den österreichischen und englischen Pro-
sten gegen die russischen Absichten in Bezug auf Polen anzu-
mießen. Da trat eine Umkehr in der Politik der drei anderen
achte ein. Talleyrand neigte dazu, die Ueberlassung eines Teiles
die^nbsp;^ Rußland als weniger schwerwiegend anzusehen, als

e voUkommene Vernichtung des sächsischen Staates. Anderer-
s Wußte er Oesterreich von der Gefahr eines aUzu großen preußi-

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___dreizehntes KAPITEL

sehen Machtzuwachses durch die Inkorporation ganz Sachsens zu
uberzeupn. Metternich schloß sich dem französischen
Standpunkte
hZVf^d^\'nbsp;\'\'nbsp;Alexander zu kemem Nachgeben

England fürchtete eine mächtige französische Flotte, es wollte
folghch Frankreich ein starkes Preußen als Gegengewicht gegenüber-
stehen. um eme gegen England gerichtete mihtärische
Konzentra-
tion unmöghch zu machen. Deshalb aber wünschte es auch nicht,
Sachsen als Zankapfel zwischen die beiden mächtigsten deutschen
Maaten pworfen zu sehen, denn so würde wieder Frankreich freie

fewtntTn

womrienttquot;nbsp;nicht im Stiche lassen

woUte lenkte er die preußischen Gedanken auf den Rhein

Auch Oesterreich lag an einem starken Preußen, denn es fürch-
w französische Hegemonie für Deutschland. Man fand in
Wien die Lösung der Schwierigkeiten in dem Vorschlage,
Preußen
sowoM pohiische, als auch sächsische Gebiete zu übertragen inso-
fern dies mit den Lebensbedingungen des sächsischen Staates in
ümkiang zu bnngen war.

Talleyrand konnte diesen Vorschlag nicht annehmen. Für ihn
war das pohtische Gleichgewicht „un rapport entre les forces
d a^ession et les forces de résistance réciproques des divers corps
politiques . Dieses Verhältnis würde man aber durch den Vorschlag
m zweieriei Hinsicht erheblich zerstören:

^rändPnbsp;^^nbsp;d\'aggression très

Sit/H PAnbsp;^^nbsp;^^ l\'Autriche entière .... Or la

sûreté de 1 Autriche importe trop à l\'Europe, pour ne pas exciter
la sollicitude particuhère du Roi (de France)

memtfquot;quot;nbsp;germanique et pour un de ses

membres, une force d\'aggression hors de proportion avec la force
de resistance de tous les autres; ce qui, mettant ceux-ci dans un
pen imminent et les forçant à chercher l\'appui au dehors, ren-
drait nulle la force de résistance, que dans le système général de
1 Equihbre européen le corps entier doit offrir et ce qu\'il ne peut
avoir que par l\'union intime de ses membresquot;. Diese Ausführungen
machten m Wien erhebhchen Eindruck.

Das Schicksal Polens hing zum großen Teile von diesen Unter-
liandlungen über das Los Sachsens ab. Denn je nachdem Preußen

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mehr oder weniger sächsisches Gebiet erwarb, würde ihm ein ge-
ringerer oder größerer Teil polnischen Landes zugewiesen werden.
Und Preußen würde leichten Herzens Polen Alexander überlassen,
Wenn es, an Stelle dessen, Erwerbungen im deutschen Reiche
machen könnte. Oesterreich aber wollte nicht, daß diese Erwer-
bungen in sächsischen Gebieten bestünden und suggerierte daher
Erwerbungen in Polen. Auch Frankreich zeigte weniger Interesse
für das Schicksal Polens als für die Erhaltung des sächsischen
Staates. Nur England hingegen widersetzte sich mit Nachdruck der
russischen Expansionslust; es wollte keine slawische Großmacht an
der Weichsel. Es schien schon in Rußland den zukünftigen Rivalen
Zu sehen. ,,0n a voulu faire de nous une puissance asiatiquequot;,
hatte ein russischer Minister erklärt, ,,la Pologne nous fera europé-
ennequot;. Dieser Gedanke schien das ganze Problem zu enthalten.
Alexander ging aber nicht auf den englischen Vorschlag, um die
ituation von 1795 wieder herzustellen, ein. Er kleidete vielmehr
seinen Gesichtspunkt in eine neue Definition des Gleichgewichts,
das nach seiner Ansicht zur Aufgabe habe, ,,de donner à chaque
Etat une consistance et une force relative, capable de placer la
garantie des conventions politiques dans les moyens que chacun
d eux aurait en lui-même pour les faire respecterquot;.

-^Is nun aber weder Oesterreich, noch Rußland, noch Preußen,
hoch England irgendwie von ihren Hauptforderungen abweichen
Wollten, kam es in der Sitzung vom 2. Januar 1815 zu drohenden
Kundgebungen (Frankreich war damals von den Verhandlungen
hoch ausgeschlossen). Die Preußen verlangten unumwunden ganz
achsen, brüsteten sich, sie allein hätten Europa gerettet und ver-
stiegen sich soweit, daß sie erklärten, ihre Forderungen nötigenfalls
mit
Waffengewalt erzwingen zu wollen. Castlcreagh konnte solche
rohungen nicht zulassen. Er antwortete, man versuche die Lösung
Zu diktieren, England sei aber nicht der Staat danach. Er besuchte
Sofort nach der Sitzung Talleyrand, bei dem man, gemeinschaftlich
mit
Metternich, ein Projekt zu einer dreifachen AUianz entwarf, um
Sich den preußischen und russischen Forderungen zu widersetzen.

m nächsten Tage wurde dieser wichtige Vertrag, durch welchen
ein gewisses Gleichgewicht unter den europäischen Mächten ge-
schaffen wurde, unterzeichnet.
Obgleich man ihn geheim hielt, scheint doch die Haltung der

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^^^nbsp;dreizehntes kapitel

^erten so entschlossen gewesen zu sein, daß die Russen und
Preußen emgeschüchtert wurden; da man allgemein einen neuen
Krieg fürchtete, ging man Metternich um einen neuen Teüungs-
vorscmag an. Diesem Vorschlage legte Metternich „des idées
düqudibre sur le principe de la reconstruction de la Monarchie
Prussienne sur l\'écheUe la plus forte de ses dimensions
antérieuresquot;
zuç-unde. Er bot dem preußischen Könige „800000 Sachsenquot; an,
wahrend „S.M. prussienne consentait à ce que le Roi de Saxe fût
retabh dans une partie de ses Etatsquot;, wodurch mit 1300000
Seelen
eine Monarchie dritter Klasse geschaffen wurde.

Um die Preußen versöhnlich zu stimmen, glaubte Alexander
sich verpflichtet ihnen auch noch diejenigen pohlischen Gebiete

srbotn T w fnbsp;^^^ preußischen Besitzungen

Tnd B rnbsp;^^ ^^^nbsp;^^i^^hen Königsberg

und Berlin bddete und die Provinz Posen, die Verbindung zwLhen

dem Norden und Schlesien. Oesterreich erhielt Westgaüzien das
es m dem Wiener Frieden von 1809 verloren hatte, und
Alexander
behielt d^jenige, was im eigenthchen Sinne Polen ausmachte.
Castlereagh äußerte über diese Lösung der Frage sein großes Be-
dauern. Es wäre immer der Wunsch Englands gewesen, daß ein
unabhängiger, mehr oder weniger bedeutender polnischer
Staat
mit eigner Dynastie wieder errichtet würde, als eine, die drei Monar-
chien von einander trennende Macht. Aber da Kaiser Alexander
auf seinen Forderungen bestehen bleibe und Preußen und Oester-
reich sich diesen nicht mehr widersetzten. „il ne reste plus au
soussigné (Castlereagh) .... qu\'à former sincèrement le vœu qu\'il

Von Polen blieb nur eine kaum wahrnehmbare Republik. Kra-
kau ubng, die als freie Stadt der Garantie Europas unterstellt
wurde, da man sich nicht darüber einigen konnte, wem sie
zuzu-
weisen sei. Als sie auf die Dauer ein gefährlicher Revolutionsherd
geworden war. wurde sie in 1846 österreichischerseits annektiert.

h.n^nbsp;^^^^ geteilt. Das heißt, es

handelte sich dabei nur um die zurückeroberten österreichi-
schen und preußischen Teile, denn die russischen Gebiete blie-

-ocr page 241-

en außer Betracht: Alexander zedierte nicht, er forderte nur.
^ Es handelte sich um „Eroberungenquot;, und man konnte damit
Dfr^il^quot; ^vas man wollte, denn man anerkannte keinerlei Ver-
rechf\'\'quot;quot;^^quot; diesen Gebieten gegenüber, kein „Selbstbestimmungs-
daßnbsp;»Nationahtätsprinzipquot;, es sei denn nur in der Form,

^ man der inkorporierten polnischen Bevölkerung einen gewissen
utzder Sprache und der Nationalität zuerkannte; vielleicht wa-
^en diese Bestimmungen des Wiener Vertrages der erste offiziell
^«erkannte „Minderheitenschutzquot;. Aber diese Bestimmungen ent-
® ten denn doch implicite die Verwerfung des „Selbstbestim-

quot;^nngsrechtesquot;.

möil^l Vereinbarung hinsichtlich der Gebiete war im Grunde
ab K ^^^ Annahme eines Vorschlages hing schließhch nur davon
Mä hf ^^ genügender Weise den Interessen der betreffenden
dab .^®^hnung trug; und die Interessen der Mächte wurden
hin ^^nbsp;Europas identifiziert. Jede Entscheidung darüber

Res^nbsp;Anschauungen ab, und die Lösung war die

^ sultante der verschiedenen persönhchen Anschauungen der
Undnbsp;politische Angelegenheit, die nach „Prinzipienquot;

d .»Tendenzenquot; erörtert wurde.
^^ an war im Grunde einer Wiedererrichtung Polens recht ge-
Fr\'^^i, ^quot;ß^and wünschte dort einen lebensfähigen Staat, ebenso
gg ^quot;kreich; Preußen wollte von seinen Ansprüchen absehen, wenn
re-in Deutschland entschädigt würde, auch Oester-

mächtiges Rußland. Alles hing letzten
, eur ^ ^quot;^^and ab, und Rußland weigerte, es verlangte sein
Gebietquot;. Währenddessen hatte Napoleon wieder
Pierunbsp;Gegensatz in Wien, der eine neue Grup-

»n Gennbsp;Folge haben konnte, würde ganz Europa

Man ^quot;quot;gen können. Da resignierte man und teilte wieder,
aneruquot;^quot;^^®nbsp;^^ quot;^an nur den Gleichgewichtsgrundsatz

keit^y^^quot;^ Teilung war also im Grunde die Folge der Unbeugsam-
Elbanbsp;und der unerwarteten Rückkehr Napoleons von

Begebnbsp;sich wieder der große Einfluß solcher unerwarteten

frei w^quot;nbsp;quot;quot;quot; die Mächte in ihrem Handeln noch

^ichts^ pquot;\'nbsp;^^^^ nach dem Grundsatze des Gleichge-

s- Es möge auf ihn hier etwas näher eingegangen werden.

-ocr page 242-

Die Teilungen Polens, die politischen Neubildungen Napoleons und.,
das Werk des Wiener Kongresses waren nicht so sehr von
einander
verschieden. Bei aUen waren nur der WiUe und die Anschauungen
der Großmächte maßgebend, die sich auch gegen die Interessen
kleinerer Staaten durchsetzten und nur den Anschauungen anderer
Großmächte Rechnung zu tragen hatten. Der Grundgedanke des
Prinzips ist: einander in Schach halten, ein mihtärisches Gleichge-
wicht zustande bringen. Bei den polnischen Teüungen war es einer
gewandten Pohtik gelungen, zwei der damals bestehenden fünf
europäischen Großmächte auszuschalten, indem man ihre augen-
bhckliche Schwäche oder
auf andere Objekte gerichteten Interessen
auszunützen wßte; die drei Teüungsmächte hatten sich nur um die
gegenseitigen Interessen zu bekümmern. Das müitärische Genie
Napoleons hatte die Zahl der unmittelbar drohenden Gegner auf
einen: Rußland, zurückzubringen gewußt. Das war die letzte Ent-
wicklungsmöghchkeit des Prinzips. Als Reaktion traten in Wien
wieder aUe fünf Mächte auf. Sie konstituierten sich zum „Euro-
päischen Konzertquot; und entschieden fürderhin ein Jahrhundert lang
„souveränquot; über das Los Europas. Sie taten dies, indem sie die
kleineren Staaten ausschalteten; sie entschieden sogar auf deren
Kosten. Es bestand für sie nur eine schwierige Frage: was
bedeutete
dieses pohtische Gleichgewicht, und wie brachte man es zustande?
Hierüber aber waren die Anschauungen sehr verteilt.

TaUeyrand meinte, das Gleichgewicht bestünde „en un rapport
entre les forces de résistance et les forces d\'agression réciproques
de divers corps pohtiquesquot;. Aber sogar dieser ganz
allgemeinen
und elastischen Umschreibung konnte Alexander nicht zustimmen,
denn seiner Ansicht nach sollten die „forces de résistancequot; nicht
als die Summe der Macht verschiedener, sich gegen einen
Angreifer vereinigenden Staaten sein, sondern soUte jeder
Staat für sich imstande sein „de faire respecter les
conventions
pohtiquesquot;. Gentz wiederum faßte beide Definitionen in eine zu-
sammen: „L\'Equihbre est 1\'organisation d\'après laqueUe, entre
les Etats existant les uns à côté des autres, ou plus ou moins réunis
les uns aux autres, aucun ne peut menacer l\'indépendance ou les
droits essentiels d\'un autre, sans rencontrer de résistance
efficace
de l\'un ou de l\'autre côté, et par conséquent, sans danger pour
lui-mêmequot;.

-ocr page 243-

j. Wäre leicht, noch andere Versionen desselben Gedankens zu
mden, ohne daß dadurch dem Grundgedanken noch etwas Neues
zugefügt würde. Man ist sich darüber einig, daß ein Gleichgewicht
estehen soll, und daß man deshalb Macht gegen Macht setzen
^ j , ^ber die große Schwierigkeit liegt gerade darin, festzustehen,
e eher Wert den verschiedenen Mächten beizumessen ist. Darüber
sehen die Meinungen soweit auseinander, daß man das Prinzip für
e verschiedensten imd fantastischsten Situationen und die be-
^enl^chsten Zwecke anrufen kann. So wird der Gleichgewichtsge-
anke „chose de pure opinion, que chacun interprète suivant ses
^es et ses intéréts particuüersquot;.

sich^ ^^^\'^l^^nnt und bilhgt den Gedanken der Expansion (die
^ auf Kosten der Schwachen durchsetzen kann) und will dieser
nur entgegentreten, insofern die Interessen der Groß-
chte es verlangen. Er will Kriege vermeiden, den Folgen der
^^ Pansion den gefährhchen Charakter nehmen. Gefahren zurück-
gingen, Explosionen ersticken, aber im Grunde nie Konfhkte
r hch löggj^ gj. jg^ PoUtik, Anschauungssache, subjektiver
nslegung unterworfen.

-ocr page 244-

DAS ERWACHEN EINER NATION UND IHR KAMPF
UM DIE EXISTENZ.

Die hundertjährige Periode der Erniedrigung und des Ringens
um die Behauptung der nationalen Eigenart ist eine der interes-
santesten aus dem Gesichtspunkte der voriiegenden Arbeit. Die
internationale Seite des Problems bietet kaum neue
Ausbhcke.
Die These, daß die polnische Frage eine innerpolitische der drei
Teilungsmächte sei und daher keiner internationalen
Erörterung
unterworfen werden könne, war die herrschende und mit ihr war
die Realität auch ungefähr im Einklang.

Weit interessanter ist die Entwicklung der Dinge in den drei
Stümpfen des alten polnischen Reiches; dort wuchs unter neuen
Vorbedingungen, von Jahrzehnt zu Jahrzehnt in immer deut-
licheren Umrissen, die polnische Nationahtät heran, die „Nationa-
litätquot; in dem Sinne, den ihr das neunzehnte Jahrhundert gab-
Dort wurden in ununterbrochener Kette Pläne entworfen, Kom-
binationen und Gruppierungen und Neugruppierungen, bei ver-
änderten Verhältnissen, gemacht, dort wurden Vorschläge und
Programme aufgestellt, Methoden und Grundsätze, die alle eine
Erieichterung des Schicksals der Nation bezweckten, oder,
nach
den heimlichsten Wünschen, die Auferstehung des alten polnischen
Reiches. Dort trat aber auch hervor, in wie hohem Maße Unter-
drückung und liberale Anschauungen das Nationalgefühl
reizen
und einschläfern können, wie der nationale Gedanke zwischen der
Forderung der vollkommenen Selbständigkeit und der der Auto-
nomie schwankte und wie die Vorherrschaft der ersten keines-
wegs entschieden war; es zeigte sich dort, wie relativ und schwan-
kend und in der Intensität wechselnd dieser ganze Begriff der
„Nationaltätquot; sein kann, und wie er keineswegs ein
festumrissener
und konstanter, gegen alle denkbaren Einflüsse gefeiter Faktor
im Leben der Staaten ist. Gerade dieser hundertjährige, oft dunkle
und verworrene Kampf läßt hervortreten, wie zahlreich und ver-
schieden die Entwicklungsmöglichkeiten in der Staatenwelt sind,

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^le groß das menschliche Adaptionsvermögen sein kann, wie man-
nigfache Einflüsse den Gedanken und Gefühlen des Menschen
Verschiedene Richtung geben können und von wie verwirrender
gomplexität im Grunde das in der vorHegenden Arbeit erörterte
. roblem ist. Kein Zeitraum suggeriert deutlicher wie dieser den
^angel an überzeugender Notwendigkeit im Entwicklungsgange
des Staates.

Man erinnert sich, wie unter dem Einflüsse des Kampfes gegen
^ranzösische Hegemoniegelüste sich um die Mitte des i8. Jahr-
underts zwei Großmächte: Oesterreich und Preußen, konsoli-
lert hatten. Die Begabung ihrer Herrscher, die Forderungen einer
^nauflialtsam fortschreitenden wirtschaftlichen Entwicklung und
le
Notwendigkeit einer Verteidigung des Landes gegen endlose
riegsgefahren hatten einer starken Tendenz zur Zentralisation
mid
Unifikation: den Vorläufern einer bewußt demokratischen
j^dnung, den Weg bereitet, hatten einen „Absolutismusquot; ins
eben gerufen. Ob dieser Absolutismus „aufgeklärtquot; war oder
nicht, ist dabei eine weniger bedeutende Frage. Es ist nun ein-
leuchtend, daß eine solche „unifizierendequot; Staatsmacht auf
ehwierigkeiten stoßen wird, sowie sie sich ein beträchtliches, von
ilogener Bevölkerung besiedeltes Gebiet einverleiben wird und
leses „Fremdvolkquot; ihrem Staatskörper assimilieren will, es völlig
in ihn aufzulösen bestrebt ist, auf Grund jener bekannten These
er
Staatsraison, die die Schaffung eines starken homogenen Staates
rdert. Wenn in solchen Fällen nicht irgendwelche Umstände
as Gelingen dieser Assimilation, die man in der Regel mit Gewalt
fru^nbsp;wollen wird, wahrscheinlich machen, werden Kon-

te unvermeidlich sein. Die Minderheit wird sich auflehnen,
bedroht ja ihre ureigensten Interessen: die Sitte, die Sprache,
le Kechtsüberzeugung, die charakteristischen und zähen Eigen-
tümlichkeiten; und der harte und überhebliche „Erzieherquot; ernie-
rigt sie ja, sieht mit Verachtung herab auf das, was ihr am lieb-
en und wertesten ist, selbst wenn es „Schwächenquot; sind. Sie wird
^leh ihres Andersgeartetseins besinnen, wird sich verteidigen,
gc-
^eizt und gehässig werden und das Ergebnis wird das Gegenteil
dem sein, was der verständnislose Assimilator erwartete,
ndererseits haben sich seit ebenjenem Ende des i8. Jahrhun-

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derts individualistische, demokratische Tendenzen, die seit der
Reformation deutlicher zutage traten, stets stärker
entwickelt.
Während sie nach der einen Seite hin Zentralisation und Assimi-
lierung verlangten (und es mag hier unerörtert bleiben welche Um-
stände das verursachten), erweckten sie nach der andern hin den
Selbständigkeitsdrang stets weiterer Kreise, spornten zum Nach-
denken, zum Bewußtwerden, zur Kritik an und ließen
Programme
und Forderungen auf sozialem wie auf nationalem Gebiete ent-
stehen. Man kam von „Forderungenquot; zu „Rechtenquot;, zu einem
Selbstbestimmungsrecht der Völker und zu dessen „logischer Di-
rektivequot;, dem Nationalitätsprinzip.

Es will mir nun scheinen, daß diese beiden Faktoren: die Unifi-
kation des Staates und die demokratische Entwicklung des I9-
Jahrhunderts jene Hypertrophie des Nationalitätenprinzips bis
in unsere Tage hinein verursacht haben. Hieraus ergibt sich aber,
daß sowie diese Unifikation dem Gedanken der Autonomie
wieder
das Feld geräumt haben wird (was als Reaktion durchaus wahr-
scheinlich ist) und der demokratische Gedanke, nachdem er
sich
zeitweilig überlebt hat, wieder in den Hintergrund treten wird,
auch dieser Nationalitätsgedanke viel von seinem Einfluß ver-
lieren und wieder eine unsichere Tendenz neben vielen
andern
werden wird. Es wäre dies die an Zeit und Ort recht gebundene
Bedeutung der NationaHtät und ihrer „Rechtequot;.

Es möge jetzt zur Schilderung der Ereignisse geschritten wer-
den ^ und es seien bei der notwendigen äußersten Beschränkung
nur einige der wichtigsten Entwicklungslinien herausgegriffen,

„Les Polonais, sujets de la Russie, de l\'Autriche et de la Prusse
obtiendront une représentation et des institutions nationales,
réglées d\'après le mode d\'existence politique, que chacun des gou-
vernements, auxquels ils appartiennent, jugera utile et
convenable
de leur accorder.quot; Diese Bestimmung der Wiener Schlußakte
zeichnet recht deutlich die Situation. Die Heilige Allianz herrschte,
die letzte pompöse Manifestation einer vergangenen Zeit; das
Prinzip der „Legitimitätquot; herrschte und alle Macht lag in Händen
der Dynastien. Man verleibte sich Gebiete ein, um die Soldaten-
zahl zu vermehren, auf diese allein kam es an und auf nichts an-

^ Siehe Hanisch op. cit. Seite 287—335.

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deres. Die Masse des Volkes hatte keinen Einfluß, ihr Wihe war
i^elevant, aber man hatte auch bis vor wenigen Jahrzehnten die
löbUche Gewohnheit gehabt, diese indifferente Masse nicht un-
nötig zu bedrängen: Steuern zahlen war die Hauptflicht gewesen,
jni übrigen hatte man sie so viel möghch ihre eignen Wege gehen
lassen, dann kam es auch zu einem Mindestmaß von Konflikten.
Aber mit der Aufklärung, mit der „theoretischenquot;, und später mit
der „praktischenquot; Demokratie und ihren vielen Uebergangsformen
Würde es anders; da kam die Zentralisation, die Unverträglich-
keit und mit ihr die Konflikte.

In Preußen, einem „rein deutschenquot; Staate, war man keines-
wegs gewillt, die ,,Einheit des Landesquot; zu gefährden. Wenn die
^taatsraison die Einverleibung fremdvölkischer Gebiete verlangte,
se^ hatten sich diese neuen Gebiete dem bestehenden Staats-
örper bedingungslos einzufügen und sich den Interessen der
Gesamtheit zu beugen. Diese „Interessen der Gesamtheitquot; kann
jnan nun sehr verschieden auffassen und es ist erklärlich, daß
^e einseitige preußische Auffassung entschied. Die Statthalter-
^haft im Großherzogtum Posen wurde dem polnischen Fürsten
^adziwili übertragen, der Gebrauch der polnischen Sprache im
^^fentlichen Leben wurde gebilligt, aber zugleich die „Germani-
^tionquot; mittels der Schulen in Angriff genommen; das rief Wider-
stand hervor. Die Polen verlangten überdies einen polnischen
rovinzialtag, eine polnische Beamtenschaft und eine polnische
^ee, aber all das würde gerade die Einheit, die man preußischer-
^eits unbedingt wahren wollte, gefährdet haben. Solche Forderungen
Waren eben im Gedankengange der Wiener Schlußakte weder

noch „convcnablesquot;.
j^.
n Rußland war man weit nachgiebiger; wenigstens im Anfang.

itauen, Podolien, Wolhynien und die Ukraine, wo nur eine
j^\'JJderiieit polnischer Bevölkerung lebte und der griechisch-
atholische Glaube vorherrschte, blieben Rußland einverleibt und
^nterlagen einer energischen Russifizierung. Ganz anders war die
^age in dem neuerrichteten Königreich Polen. Es hatte seine
^igne Verfassung und war dem Zarenreiche nur dynastisch, terri-
und politisch untergeordnet. Ihm war weitgehende Auto-
^^niie
zugebilligt worden; das Land wurde von polnischen Beamten
rwaltet und hatte seine eigne polnische Armee. Jeder neue Zar

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mußte sich als König von Polen krönen lassen und die Konstitution
beschwören. Man hatte eine konstitutioneUe Monarchie
errichtet,
die nicht im mindesten in den Rahmen des absolutistischen Zaren-
reiches paßte und auf die Dauer, bei den gegebenen Machtver-
hältnissen kaum einige Aussicht auf dauerhafte Existenz hatte.
Die Gegensätze waren zu groß
als daß Konfhkte hätten vermieden
werden können. Die offizielle Sprache war polnisch, die Schulen
waren polnisch, Vorrechte und Rehgionsfreiheit waren gewähr-
leistet worden. Diese sehr gemäßigte Politik war aber vor allem
auf den Umstand zurückzuführen, daß Rußland nicht
imstande
war, eine Beamtenschaft zu stellen, die den Forderungen des
polnischen Staatsorganismus gewachsen gewesen wäre; man
sah
sich daher gezwungen, die bestehenden Verhältnisse fortexistieren
zu lassen.

Die österreichische Politik den neugewonnenen polnischen Ge-
bieten gegenüber war auf die Dauer die bei weitem
gemäßigt-
ste. Man wußte den polnischen Adel für sich einzunehmen, indem
man ihm Titel und Würden verlieh und ihm seine
privilegierte
Stellung ließ. Man machte die Bauern frei, vergaß aber ihnen
auch Land zu geben, wodurch die Befreiung ohne Erfolg blieb-
Die deutsche Sprache, österreichische Verwaltung und
österreichi-
sche Gesetzgebung wurden als Folge der zentralistischen Ten-
denzen des österreichischen Staatswesens in Galizien
eingeführt.
In 1817 wurde eine ständische Landesvertretung, die Geistlich-
keit, Hochadel, Kleinadel und Bürgertum umfaßte, organisiert,
ohne daß ihr bei dem zur Zeit herrschenden Absolutismus irgend-
eine bedeutende Rolle zufiel. Die Krakauer Republik wurde in
analoger Weise, unter der Garantie der europäischen
Mächte
emgenchtet, aber sie litt an ihrer eignen Bedeutungslosigkeit
und der fortwährenden Einmischung der rivahsierenden Mächte.

Die ersten ernsten Konflikte wurden in 1830 russischerseits
heraufbeschworen. Die Vereinigung aller ehemals polnischen, jetzt
unter russischer Herrschaft stehenden Gebiete, die Schaffung
eines
neuen polnischen Reiches „in seinen natürlichen Grenzenquot;, nach
der die Polen sehnsüchtig aussahen, wenn es auch unter russi-
scher Oberhoheit stehen würde, wurde in Rußland als
vollkommen
indiskutabel bezeichnet. Zu gleicher Zeit fingen aber Kirche und

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Wissenschaft an, jene ,,historische Missionquot; der Russen dem ver-
dorbenen Westen gegenüber zu predigen. Dieser „verdorbene
Westenquot; fing nun eigenthch schon in Polen, jenem leidenschaft-
quot;ch römisch-katholischen Lande an, aber dort träumte man noch
Von einer großen slawischen Völkergemeinschaft, von Brüder-
lichkeit und Ruhm. In 1817 verleibte der Zar nun als Konzession
die litauischen Truppenkörper der polnischen Armee ein. Diese
Konzession war im Grunde wertlos, denn die Länder blieben ja
getrennt. In 1819 führte man in Polen die Präventivzensur ein
und beschnitt das Privileg der persönlichen Freiheit. Den Landtag
erief man nur alle vier Jahre ein, nicht alle zwei, wie die Ver-
assung es verlangte, und schaffte die Oeffentlichkeit seiner Sit-
zungen ab.

. 2ar Nikolaus I, der in 1825 zur Regierung kam, ließ sich erst
in 1829 zum polnischen König krönen, und nicht ohne Widerstand
seinerseits; im selben Jahre schaffte er noch die Statthalterschaft ab.

Die europäische Atmosphäre war geladen; die ersten Gewit-
erwolken demokratischer Umwälzungen zogen herauf. In 1830
räch der Aufstand in Belgien los, und der Zar schien geneigt
zu sein, polnische Truppen zur Unterdrückung zur Verfügung
zu stellen. Das war für die Polen das Zeichen zur Erhebung; ge-
heime Organisationen, deren Entstehen auf die Unterdrückung
^iner berechtigten und gesetzlichen Opposition zurückzuführen ist,
leiten sich in Bereitschaft; der unvermeidliche Zusammenstoß
^\'^ach aus.

Man wollte das ganze alte Polen wiederherstellen; man wollte
jj^ ^^eht mehr mit der vollkommenen Selbständigkeit und Unab-
. \'^gigkeit der russischen Teile begnügen, man wollte auch die
s erreichischen und preußischen Teile dem zukünftigen, wiederer-
andenen Polen zurückgewinnen und hatte all seine Hoffnung auf
\'e
Unterstützung der Liberalen in Frankreich und England ge-
j^^zt. Aber dem Aufstande fehlte die nötige Organisation und
j^ste Leitung, ihm fehlte sogar die Einmütigkeit. Die gemäßigten
\' emente versuchten eine Versöhnung mit dem Zaren herbeizu-
^hren, aber es mißlang; erst jetzt hatten die Radikalen die unbe-
ittene Leitung. Die winterliche Jahreszeit erschwerte jede be-
tende militärische Aktion und erlaubte den Russen, sich unge-

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stört für einen Feldzug im nächsten Frühjahr vorzubereiten. Die
Polen wurden infolgedessen in 1831 zweimal entscheidend geschla-
gen, erst bei Grochow, dann bei Ostrolenka. Von einer Intervention
der Westmächte war nicht die Rede. Nach Ostrolenka wurde man
in die Defensive zurückgeworfen; man hatte das Vertrauen ver-
loren, die Disziplin lockerte sich, die Erhebung hatte ihre Schwung-
kraft verloren. Im September wurde Warschau von den
Russen
erobert; wer sich noch retten konnte, flüchtete ins Ausland. Der
Aufstand war gänzlich mißlungen; cr war das Werk des Adels,
die Erhebung einer Armee gewesen, einer kaum organisierten Min-
derheit, und die Folgen waren die schwersten. Dieser Adel dachte
zwar demokratisch und die Theorien, die Westeuropa seit der
französischen Revolution aufwühlten, hatten auch in seinen Reihen
hellen Widerklang gefunden; aber die breite Masse des Volkes war
noch nicht erwacht, sie stand noch nicht hinter ihm; der
Zusammen-
hang, die Geschlossenheit fehlte.

Das Los Polens war jetzt entschieden; die Autonomie ging ver-
loren, der Landtag, die Ministerien, die Armee wurden
aufgelöst,
das Land dem russischen Reiche einverleibt, in Departements
organisiert und von Russen verwaltet. Der katholische Glaube
wurde weiter geduldet, aber die Universitäten wurden geschlossen
und die Schulen den Maßnahmen des russischen Ministers unter-
worfen; eine strenge Zensur wurde eingeführt und durch die her-
metische Abschließung der Landesgrenzen dem Eindringen
irgend-
welcher „gefährlicher Ideenquot; vorgebeugt.

Dieser Aufstand von 1830 war der Zusammenstoß zweier un-
versöhnlicher Weltanschauungen gewesen, der Kampf der
monar-
chalen (man möchte beinah sagen: der unter asiatischen Ein-
flüssen despotischen) Idee gegen den demokratischen
Gedanken.
Es gab zwischen ihnen weder Waffenruhe noch Kompromiß. Der
Konfhkt konnte nur durch die vollkommene Niederlage der einen
oder des andern gelöst werden, und in diesem Falle war der Aus-
gang von vornherein nicht zweifelhaft gewesen. Jeder der beiden
Grundsätze fordert leidenschaftlich und bedingungslos für
sich
die Alleinherrschaft, und jede der beiden Auffassungen ist über-
zeugt, daß sie „die ewige und einzige Wahrheitquot; ist und
fordert
anerkannt und respektiert zu werden; und wer nicht für sie ist,
ist gegen sie. Und doch sind beide im Grunde nur Ideologien,
zwei

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Verschiedene menschliche Charakterbilder, Temperamentgegensätze
le sich nicht ausgleichen lassen und deren Bestimmung es ist,
einander in endloser Aktion und Reaktion abzulösen. Die „Däm-
Urningquot; des monarchalen Prinzips hatte wieder eingesetzt; die
•»Regierung der Minderheitquot; hatte wieder einen Kreislauf beinah
Vollendet, sie hatte sich überlebt und mußte der „Reaktionquot;, der
»neuen Wahrheitquot;, dem Mehrheitsprinzip, der „Volkssouveräni-
das Feld räumen, bis auch diese sich wieder überlebt haben
Würde. Diese „neue Wahrheitquot; meldete sich stürmisch, aber sie
War noch zu schwach, sie stand noch in den Kinderschuhen und
War noch nicht im ganzen Volke durchgedrungen und die ersten
ampfe wurden schwer, oft aussichtslos; in Polen noch das ganze

Jahrhundert hindurch.

^ L^er demokratische Gedanke reifte und mit ihm reifte der Ge-
danke der „Nationahtätquot;; nicht, daß beide im Grunde dasselbe,
er unverbrüchlich einander verbunden seien, aber die Demo-
atie liebt es, die „Nationalitätquot;, die ihre Apologie und ihr Da-
denbsp;zu sein scheint zu ihrer Losung zu machen. Dieses Ideal

er Nationalität war nun in Polen niedergeworfen und wurde mit
uen getreten, es wurde aus dem Lande gejagt und verfolgt und
nu ^^nbsp;^^ ^^^^ zeigte. Da blieb den Polen als Ureigenstes

Katholizität, die sie vom Unterdrücker trennte und ver-
tät^\'^^^quot; niachte. Sie wurde den Polen das Symbol der Nationali-
^ \' Pole sein war fortan Kathohk sein.

le despotischen Maßregeln, zu denen man russischerseits nach
Auf l^atten so großen Erfolg, daß die Polen den Wirren und
sich^^-^quot;^^quot; von 1848 gegenüber äußerlich indifferent blieben und
innbsp;Sympathiebezeugung enthielten, ja sogar noch später,

aiionbsp;einmal die günstige Gelegenheit des Krimkrieges

^\'^quot;ützen wagten.

Die ^^^ andere indirekte Folge hatte jene Erhebung gehabt,
b Regierung der Krakauer Republik hatte eine revolutionäre
jj^ igung gewisser Gruppen ihrer Untertanen nicht verhindern
schll^^quot;\' ^^^ ^^^^ Reaktion eine immer zunehmende Einmi-
I^e ^K • ^^^ Teilungsmächte in die innern Angelegenheiten der
£rh K hervor, bis diese schließlich, nach einer mißlungenen
ung in GaHzien, in 1846 völlig Oesterreich einverleibt wurde.

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Auch auf die preußische Politik hatten jene Erhebungsjähre
ihren Rückschlag. Anfänghch hatte man die polnische
Sprache
neben der deutschen im öffentlichen Leben geduldet, man hatte
sogar den Polen den Zutritt zu allen Staatsämtem gewährt, aber
die Bürokratie hintertrieb jede praktische Ausführung der Bestim-
mung, ohne daß man eine solche von Berlin aus durchzusetzen
wußte. In 1830 begann schheßhch die Zeit des Oberpräsidenten
Flottwell. Er unterdrückte jede Aeußerung nationalen Lebens
und begann die energische und konsequente Germanisierung der
polnischen Landesteile. Seine Politik beruhte auf einer Ideologie:
er meinte, daß es genüge, die wirtschaftlichen Verhältnisse zu bes-
sern, die Volkswohlfahrt zu heben, um eine landesfremde Bevöl-
kerung den Verlust des nationalen Eigenlebens vergessen zu lassen.
Etwas komisch mutet der Gedanke an, wenn man bedenkt, daß
jene geplante Assimilation schließlich doch wieder nur dazu diente,
die „nationale Einheitquot; Preußens zu wahren, also ganz in
Dienst
desselben Ideals gestellt wurde, dessen Existenzberechtigung oder
— notwendigkeit sie nicht anerkennen wollte.

Flottwell förderte in Posen die Entwicklung der Städte; von
ihnen aus konnte am besten die Germanisierung geschehen, sie
waren ja auch aus deutscher Kolonisation entstanden. Er
gewährte
der städtischen Bevölkerung ein reicheres Maß an Autonomie,
befreite sie von den dem Adel verschuldigten Abgaben, verringerte
den polnischen Einfluß auf die Wahlen im Lande, beförderte deut-
sche Siedlung und parzellierte zu diesem Zweck den polnischen
Großgrundbesitz.

Er wußte auch die Juden durch Protektionsmaßregeln auf seine
Seite zu ziehen, drängte im öffentlichen Leben je länger je
mehr
die polnische Sprache zurück und förderte das Germanisierungs-
werk der Schulen. Die größte Empörung weckten bei den Polen
aber die Säkularisation der Klöster in 1833 und das
terroristische
Vorgehen der kathohschen Kirche gegenüber, das selbst nicht
davor zurückschrak, den Posener Erzbischof ins Gefängnis zU
werfen.

Die Lage änderte sich bei der Thronbesteigung des polenfreund-
lichen Königs Friedrich Wilhelm IV. in 1841; Flottwell reichte
noch im selben Jahre seinen Abschied ein. Eine Periode der Annähe-
rung setzte ein, die in den polnischen Provinzen eine Entfrem-

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dung der versöhnungsgesinnten Partei von den radikalen, nationa-
listischen Elementen zur Folge hatte. Es zeigt sich hierin, wie
Schwankend und biegsam die Gesinnung des Menschen ist, wie em-
pfänglich für wechselnde Einflüsse.

dieser „versöhnlichenquot; Partei gehörten hauptsächlich gewisse
Adelskreise an, die sich bei ihrer Annäherung an Preußen nicht
^ur „nationahstischenquot; Elementen widersetzten, sondern vielleicht
in höherem Maße noch „demokratischenquot; Strömungen. Wieder
zeigt sich, wie vielfache Interessen sich kreuzen können und wie
„prinzipiellquot; und konstant der Mensch denkt: ihm gelten nur
Tendenzen, und welche vorherrschen wird, hängt von den Um^
ständen ab. Die junge nationalistische Demokratie versuchte auch
die Bauern fär ihre Sache zu gewinnen, gerade jene Bauernschaft,
die dem deutschen Regimente doch die Hebung ihrer wirtschaft-
lichen und gesellschaftlichen Lage zu danken hatte. Aber das ge-
lang ihr im Großen und Ganzen erst in viel späterer Zeit, als die Ger-
^anisierung sich auch unmittelbar gegen die Bauern zu richten
anfing. Auf den Universitäten wurde die Jugend dem nationalen
Gedanken gewonnen; man setzte all seine Hoffnung auf die Zu-
kunft, man wartete auf günstige Gelegenheiten.

Eine solche schien sich in 1848 zu bieten. Polnische Emigranten,
die in Paris ein stark agitatorisches, nationalistisches Zentrum ge-
^haffen hatten, hofften noch immer auf eine Intervention der
Mächte zugunsten Polens; die Tageszeitungen verlangten sie, aber
uichts geschah. Die polnische Frage war keinen allgemeinen Krieg
l^ehr wert, sie war eine innerstaatliche Angelegenheit der drie
eilungsmächte, eine vor allem russische Angelegenheit, denn
Segen Rußland an erster Stelle richtete sich alle Empörung. Als
l^^n einsah, daß von Frankreich keine Hilfe zu erwarten war, ver-
^^derte man die Taktik, setzte seine Hoffnung auf die deutschen
Demokraten und erwartete von ihnen alle Hilfe. In Posen wurde
eine
Erhebung vorbereitet, die hauptsächlich gegen Rußland ge-
münzt war; man hoffte alle Länder polnischer Zunge zu einem
entscheidenden Aufstande mit fortzureißen. Die Verschwörung
^urde entdeckt, dennoch brach der Aufstand, von den Märzun-
^lien begünstigt, in 1848 in Posen los. Anfänglich schien er Er-
S zu versprechen, aber schon im April waren die Preußen wie-
er Herr der Lage; ein gleiches Los war der Erhebung in Galizien

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beschieden. Anläßlich jener Vorgänge machte man in Preußen
noch den Vorschlag, das Großherzogtum Posen in zwei Teüe
zu teilen, und den westlichen, nicht mehr rein pohlischen in den
Deutschen Bund aufzunehmen. VieUeicht hätte man so zum min-
desten Teüe mit Erfolg germanisieren können, aber der Plan
stieß auf deutscher wie auf polnischer Seite auf Widerstand und
wurde nicht ausgeführt.

Der russische Terrorismus hatte in 1848 alle Erhebungsgelüste
zu ersticken gewußt. Auch in 1853. als die Lage Rußlands im
Krimkriege recht bedenklich war. gelang ihm das noch mittels
starker mihtärischer Besetzungen. Die Regierungszeit Alexanders IL
brachte danach manche Erleichterung. Die Zollgrenzen, die Kon-
greßpolen von Rußland trennten, wurden aufgehoben und so der
„Orientierung nach Ostenquot; der Weg bereitet. In Kongreßpolen
fing man an, eine realere Politik zu betreiben, man dachte an eine
wirtschaftliche Union mit Rußland, an ökonomische Entwick-
lung und ließ die nationalen Forderungen, zum mindesten zeit-
weilig, zurücktreten. Alexanderll. schaffte die unerträgliche mili-
tärische Diktatur ab. begnadigte eine Anzahl Verbannter und
ließ die Bildung von Vereinen wieder zu. Er versuchte noch ein-
mal. eme wirkliche russische-polnische Annäherung zustande zu
bringen und fand dabei Verständnis bei den mehr realen, positiven
und nüchternen Elementen in Kongreßpolen, die sich in die Lage
der Dinge ergaben und einen Kampf gegen das mächtige Rußland
lur aussichtlos hielten. Aber man siteß auf den hartnäckigen Wi-
derstand der Nationahsten, die alles oder nichts verlangten und
jeden Kompromiß
Vorschlag zurückwiesen. Hatte der Krimkrieg
es m den polnischen Landesteilen auch nicht eimnal zu einer Erhe-
bung kommen lassen, so hatte er doch gezeigt, daß eine
Koalition
der Westmächte gegen Rußland etwas durchaus mögliches war.
Die Zeit reifte heran, überall in Europa setzten sich
demokratische
und nationale Strömungen durch, es galt nur den Mut und die
Hoffnung nicht zu verlieren. Man hielt die russische Nachgiebig-
keit für Schwäche; je mehr die Russen boten, desto mehr
verlangte
man. Weitgehende Autonomie, soziale Besserungen, Schulreform
boten die Russen, aber nichts genügte mehr. Die Partei der radi-
kalen ..Rotenquot; und unversöhnliche Emigrantenelemente schlössen

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Sich zusammen und selbst „weißequot;, gemäßigte Aristokraten ge-
sellten sich zu ihnen; man ließ sich zu aufrührerischen Kundge-
bungen hinreißen. Als man russischerseits zu drakonischen Maß-
nahmen griff, um die Ruhe wiederherzustellen, brach im Januar
^863 der formelle Aufstand aus. Er war von Anfang an aussichtslos;
nichts war vorbereitet worden, weder Geld, noch eine Armee,
noch ein Feldherr war da; man setzte seine Hoffnungen auf eine
Intervention Napoleons HL, des Verfechters auch der italienischen
Freiheit; man erwartete Hilfe vom jungen radikalen Rußland.

Dieser Aufstand von 1863 war nicht mehr die Erhebung einer
Minderheit; der Adel, der noch in 1830 die Führung gehabt hatte,
War jetzt nur ein Teil, nicht mehr die Seele des Unternehmens;
die
Erhebung war eine viel breitere demokratische, hatte das ganze
Volk ergriffen, und da sie sich gegen den landesfremden Unter-
drücker kehrte, war sie so eine durchaus nationale im modernen
Sinne des Wortes. Die Bauern waren dabei, man wollte mit ver-
einten Kräften eine Bodenreform durchführen; die Juden und die
quot;Dissidentenquot; waren dabei, denn man war liberal geworden: die
quot;Gleichheitquot; war eines der neuen Postulate, und auch die „Weißenquot;
Wurden vom demokratischen Gießbach mit fortgerissen.

I^er Aufstand wurde zur planlosen Guerilla, das war alles was
nian einer wohldisziplinierten Armee gegenüberstellen konnte.

Man versuchte Zeit zu gewinnen und wartete auf Interventio-
nen, aber Preußen unterstützte Rußland und Oesterreich hielt sich
abseits; es griff nicht ein, wenn es sich auch schon den Protesten
. er Westmächte anschloß, denn es war anderweitig vollkommen
Auspruch genommen.

Oesterreich hätte unter Umständen den Verlust seiner polnischen
ebiete bei einer Wiedererrichtung Polens leicht verschmerzen
onnen; Galizien lag außerhalb der österreichischen geographischen
\' mheit, man hätte nach Süden hin Kompensationen finden kön-
nen in Gebieten, die leichter zu regieren waren und überdies hätte
eine Wiedererrichtung Polens Preußens Stellung erheblich schwä-
enen können. Das konnte nur im Interesse Oesterreichs liegen,
e enso wie dies ein Hauptgrund für eine mögliche französische
ntervention sein konnte. Dieser letzte Gedanke war auch der
ngelpunkt der preußischen Politik: den Polen in nationaler Hin-
\'ent irgendwie entgegenkommen, hieße sie nur noch höhere For-

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derungen steUen lassen; man würde nicht ruhen, ehe man irgend-
wie nationale Selbständigkeit erlangt hätte, ein selbständiges Polen
aber würde „nach pohtischen Naturgesetz immer nach seinen
weitesten Grenzen von ehemals strebenquot; i. Rußlands und Preußens
Stellung würde so geschwächt und gefährdet werden und das
war um jeden Preis zu vermeiden: da blieb nichts anderes übrig
als auf härteste Weise zu verfahren und gegen jeden Interventions-
versuch der Westmächte energische Verwahrung einzulegen.
Vor
den Konsequenzen eines Kampfes gegen die preußisch-russische
Macht wichen die Mächte zurück und der durch Ueberreichung
von Noten eingeleitete Interventionsversuch blieb völlig ergebnis-
los. Russischerseits wurde, da man der preußischen Hilfe im
Falle
irpndwelcher Komplikationen sicher war, auf schonungslose
Weise die Niederwerfung des Aufstandes durchgeführt. Mitte 1864
wurden die letzten Insurgenten hingerichtet, der letzte Polen-
aufstand, der einen Augenblick internationale Verwicklungen her-
beizuführen gedroht hatte, war beendet, auf ein halbes
Jahr-
hundert hinaus war von einer Aufrollung der polnischen Frage
nicht mehr die Rede.

Der Terror fing in Kongreßpolen an. Jeder Kompromiß hatte
sich als unmöglich erwiesen, da griff man zu den äußersten Mitteln,
sogar der Name „Polenquot; verschwand, man sprach fortan von dem
„Weichseidistriktquot;. Den nationalen Gedanken griff man an
seinen
stärksten Wurzeln an: man säkularisierte die Güter der katholi-
schen Kirche und zwang anderseits die „Uniertenquot; auf
gewalt-
samem Wege wieder zur Anerkennung der griechisch-orthodoxen
Autorität. Eine systematische, schonungslose Russifizierung setzte
em; die Polen wurden rechtlos.

Man versuchte den polnischen Bauern für die russische Sache zu
gewmnen, indem man ihm Land gab, man wollte Oppositionen im
Lande schaffen, wollte ihn gegen demokratische und
nationale
Elemente ausspielen. Aber das Ergebnis war nicht das erhoffte:
es entstand wohl ein kräftiger Bauernstand, aber das
Polentum
wuchs so nur in die Breite, die Russifizierung mißlang, da den
Bauern das schroffe Vorgehen in Religionssachen reizte,
und der
polnische Großgrundbesitz, den man hatte beseitigen wollen,
wurde
bei seiner Ueberlegenheit russischen Arbeits- und Verwaltungs-
^ Hans Wendt. Bismarck und die polnische Frage. Halle 1922.

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Methoden gegenüber nicht nennenswert zurückgedrängt. Da blieb
s anderes übrig, als die Entwicklung des Landes so viel wie
möglich niederzuhalten.

I^ie Industrie entwickelte sich und mit ihr, wie überall, die De-
mokratie und weiter sozialistische Strömungen. Das ließ auch in
5 Regel den „Klassenkampfquot; erwachen, brachte Risse und Brüche
1 Sich und konnte durch neu entstehende Parteiungen die natio-
a e Einheit wesentlich schwächen. Als sich aber die polnische
Sozialistische Partei in 1893 organisierte, war von einem Bruche
„nationalen Frontquot; keine Rede: die Arbeiterschaft war na-
^onalistisch wie andere Bevölkerungsklassen die internationale
^esinnung der westeuropäischen Arbeiterschaft war ihr fremd.

lese bemerkenswerte Tatsache erklärt sich vielleicht zum Teil
jj^^^.difsem Umstände, daß in Polen Nationalgefühl und Katho-
1 at in weitesten Kreisen noch nahezu identisch waren und dieser
die^ ® I^oppelfaktor andere Tendenzen überherrschte. Es ist in
Hs h^quot;^ Zusammenhang auch bemerkenswert, daß in den dem katho-
sät
Oesterreich einverleibten Gebieten die nationalen Gegen-
erheblich zurücktraten und nach aller Wahrscheinlichkeit
ri ^^^ Eintreten des Weltkrieges aus dem österreichisch-unga-
uen
Dualismus auf die Dauer ein österreichisch-ungarisch-
j. j.^l^cher Trialismus gewachsen wäre. Es sind auch heutzutage
au ^^^^^ Eaktoren noch keineswegs zu unterschätzen, wenn sie
im
Vergleiche zu früheren Jahrhunderten viel von ihrer Be-
eutung verloren haben.

tür ^nssifizierung wurde auch erheblich durch die geringe kul-
den p
Entwicklung Rußlands erschwert, denn einerseits mußte
gannbsp;Assimilierung durchaus als ein kultureller Rück-

Yg f ..\'j\'^scheinen, andererseits aber blieben die Russen bei solchen
nischnbsp;Kongreßpolcn auf eine zum größten Teile pol-

losquot; u .Beamtenschaft angewiesen. Die vollkommene Interessen-
etwa ^iissischerseits, die in dem „Wcichseldistriktquot; kaum noch
pol anderes als ein strategisches Objekt sah, zeigte sich, als die
Hgte • Industrie sich entwickelte: ausländisches Kapital betei-
Wach^^^^\' ^^^^ russisches; auch verkchrspolitisch wurde den
tragen*^quot; Bedürfnissen nur ganz ungenügend Rechnung ge-

I^ennoch gewann seit den achtziger Jahren die Partei der

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„Realpolitikerquot;, sei es auch nach vielerlei Schwankungen,
einen auf die Dauer wachsenden Einfluß. Sie empfahl, sich mit den
tatsächlichen Verhältnissen, bei der Erfolglosigkeit jeghcher Auf-
lehnung, abzufinden und legte vor allem den Nachdruck auf die
wirtschaftliche Abhängigkeit Kongreßpolens von Rußland. Die
schwachen demokratischen Regungen in Rußland, die sich in der
ersten und zweiten Duma äußerten, erweckten Hoffnungen und
Ausblicke, die nicht verfehlten einen gewissen Eindruck zu machen,
wenn man auch hinsichtlich des Wunsches nach nationaler Autono-
mie vollkommen getäuscht wurde; aber auf die Dauer konnte sich
das vielleicht bessern und der erwachende panslawische Gedanke,
die Forderung der „Gleichberechtigung der slawischen Völkerquot;
rief gleiche Hoffnungen wach.

Anderer Ansicht waren die unversöhnlichen Elemente, die an der
Forderung völliger Unabhängigkeit festhielten. Zu ihnen gehörten
die sozialistische Partei und die zu dieser in mancher
anderen Hinsicht in Gegensatz stehenden Nationaldemo-
kraten: das Bürgertum und die Bauernschaft, die die Bedrückung
der katholischen Kirche russischerseits ins nationale Lager trieb.
Der russisch-japanische Krieg schien einer Erhebung günstig
sein; aber es geschah nichts, die militärische Besetzung hielt das
Land nieder und die Sozialisten, die die Masse zu völhg
aussicht-
losem Aufruhr anfeuerten, verloren nur ihren Einfluß. National-
demokraten und Realpolitiker wurden fürderhin die beiden be-
deutendsten Gruppen. Die letztere setzte sich hauptsächlich auS
Adel und Grundbesitzern, konservativen und klerikalen Elemen-
ten zusammen, während bei der ersteren allmählich der rein
nationale Gedanke klerikale Tendenzen zu
überwuchern
anfing.

Die durch die wachsende Industrie stark zugenommene kapitalis-
tische Orientierung Polens, die bei den herrschenden Verhält-
nissen auf das russische Wirtschaftsgebiet angewiesen war, wurde
ein immer überzeugenderes Argument für eine „russischequot; Lösung
des Problems. Als die schroffe preußische Polenpolitik zu Anfang
des zwanzigsten Jahrhunderts auch von jener Seite nichts mehr
erwarten ließ, brachte der panslawische Gedanke bald eine
Annähe-
rung der Nationaldemokraten zu Rußland zustande. Ihr Führer,
Dmowski, der die Errichtung eines autonomen Polens im Verband

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des russischen Reiches forderte, hatte auf den späteren Lauf der
^inge einen bedeutenden Einfluß.

2u Anfang des Weltkrieges gab es — und das ist das bedeutsame
Von unserm Gesichtspunkte aus — in Kongreßpolen, neben einer
Unversöhnlich nationahstischen Soziahstenpartei, eine einfluß-
reiche „Reahstenparteiquot;, die für eine Orientierung nach Osten,
nr die Vereinigung aller polnischen Gebiete unter dem Zepter des
aren, eintrat. Ihr galt also die nationale Unabhängigkeit
nicht
jnehr als eine conditio sine qua non. Man anerkannte in Kongreßpo-
®n Verschiedene Entwicklungsmöglichkeiten. Daß der Weltkrieg
anders entschied, verändert daran nichts.

^^Auch in Galizien war während der ersten Hälfte des 19. Jahr-
nnderts die Lage keineswegs beneidenswert gewesen. Die absolu-
\'^ehe, zentralistische Politik Metternichs lastete auf dem Lande;
War die Reaktion auf die Napoleonische Zeit. Auch hier wurde
Germanisation gefördert, das Polentum zurückgedrängt und
j^.^J^nhe in energischster Weise aufrechterhalten. Der Fall Metter-
^|ens in 18^3 brachte eine Annäherung zustande, die in dem Maße
n
Bedeutung gewinnen mußte, in dem sich die preußische und
^sische Polenpolitik mit den Jahren unversöhnlicher zeigte,
ahrend des Krimkrieges und des Aufstandes von 1863 tauchte
lederholt der Gedanke auf, ein neues Polen mit einer habsbur-
ehen
Dynastie zu errichten. In Petersburg und Berlin rechnete
n mit dieser vom preußisch-russischen Standpunkte aus keines-
tät^^ ^\'quot;^reulichen Möglichkeit, und vielleicht hätte sie auch Rcali-
g^j^j.^erden können, wenn Oesterreich sich nicht ganz und aus-
g^j^J^^hch seinen wenig aussichtslosen intalicnischen und deut-
he ^^ Interessen gewidmet hätte. Zum mindesten geht hieraus aber
ein^T\' ^^^ ^^^ Hoffnung der Polen, durch den 1863er Aufstand
ntervention der Mächte hervornifen zu können, nicht völlig
\'^\'^Hründet war.

na quot;^^toberdiplomquot; von 1860 machte den Völkern der Mo-
nisnbsp;Vergleiche zu russischen und preußischen Verhält-
dem u schon recht erfreuliche Zugeständnisse in nationalen und
schr^R Fragen, und die sich denen der Westmächte an-
186 den österreichischen Proteste in Petersburg, während des
Aufstandes, konnten die Zuneigung der Polen zu Oester-

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reich nur mehren. Die Unschlüssigkeit der österreichischen Po-
litik ließ zwar auch in Galizien
noch eine Partei der Unversöhn-
lichen bestehen, die in der Monarchie nur einen nach deutschem
Vorbilde regierten Staat sahen, von dem auf die Dauer doch nicht
das rechte zu erwarten war, aber die überwiegende Mehrheit ver-
trat doch den Gedanken des „Ausgleichsquot;. Der föderative
Gedanke
wuchs in dem Maße, daß in 1866 nur eine Minderheit an den Erhe-
bungen, die zum Entstehen des Königreichs Italien führten, einen
regeren Anteil nahm; die Mehrheit und die politisch
wichtigsten
Faktoren im Lande: der Adel und die Geistlichkeit, vertraten eine
unbedingte Loyalität.

Schon zu Metternichs Zeiten hatte man eine Abtrennung des
ruthenischen Teiles Galiziens vom polnischen erwogen, aber
nicht
durchgeführt. Den Polen hatte man auf die Dauer dort freie Hand
gelassen und das Niederhalten der ruthenischen Elemente Ost-
gahziens polnischerseits hatte gespannte Verhältnisse geschaffen-
Als Oesterreich nun in Italien eine Niederlage erlitt, nahm die
mssophüe Neigung der orthodoxen ruthenischen Bevölkerung, die
naturgemäß schon nach Rußland neigte, in bedenklicher
Weise
zu; bei fortwährender Unterdrückung polnischerseits konnte sie
sogar zu einer keineswegs nur eingebildeten Gefahr werden.

Der polnisch-österreichische Ausgleich setzte sich in immer
weiterem Umfange durch. Schule und Universität wurden den
Polen ganz überlassen, die polnische Sprache, soweit wie möglich,
in der Verwaltung Galiziens zugelassen, und dem ganzen
Lande
weitgehende Autonomie zugebilligt. Galizien wurde zu einem inte-
grierenden Teile der Monarchie und der Einfluß der Polen,
denen
wiederholt höchste Regierungsämter übertragen wurden, ein recht
bedeutender. Allerdings bezog sich dieses Verhältnis hauptsäch-
lich auf die adeligen Großgrundbesitzer, die sich in Galizien einen
überwiegenden politischen Einfluß zu sichern wußten und eine
mehr opportunistische als konsequente Politik trieben. In
scharfe
Opposition zu ihnen traten die im ihren nationalen Aspirationen
unterdrdrückten Ruthenen, aber auch der polnische niedergehal-
tene Mittelstand, während sich daneben eine mehr im westUchen
Sinne internationalistische Sozialdemokratie entwickelte, die aber
doch dem recht starken nationalen Gefühle der Masse
Rechnung
tragen mußte. Diese starke nationaUstische Tendenz der Masse

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nahm zu Anfang des 20. Jahrhunderts bei fortschreitender Demo-
kratisierung zu; man forderte bald die völlige Autonomie für
Gahzien.

• Die äußerst nachgiebige österreichische Politik hatte aber doch
l^e^virkt, daß zu Anfang des Weltkrieges die Mehrzahl der gahzi-
schen Parteien den Gedanken des Trialismus vertraten: die Schaf-
fung eines neuen Polens aus Galizien und Kongreßpolen, mit
^esterreich-Ungam zu einer dreifachen Monarchie vereint. Auch
quot;ler sah man also in der völligen nationalen Unabhängigkeit nicht
^ehr die einzig mögUche Lösung. Auch hier wurden verschiedene
utwicklungsmöghchkeiten anerkannt.

Anders lagen die Verhältnisse in den zu Preußen geschlagenen
feilen Polens.

Nach der mißlungenen Erhebung von 1848 wurde den Polen
1850 durch die preußische Verfassung die Möglichkeit gegeben,
^^re
Beschwerden zum mindesten öffentlich in der Volksvertretung
Vorzutragen. Die Verwaltung der Provinz Posen wurde nacheinan-
er einer
Reihe von Männern übertragen, die nach wechselnden
Anschauungen, im allgemeinen ohne viel System und oft auf eigne
\'aust, entweder straffe Germanisierung betrieben, oder, und dies
überwiegend, sich hauptsächlich wirtschaftlichen Problemen zu-
^^ndten. Zu „Fortschritten des Deutschtumsquot; kam es unter sei-
nen
Umständen nicht, zumal zum nationalen noch der reUgiöse
egensatz trat. Stark antipreußische Gefühle traten in jenen
^hren nicht hervor; man hoffte sogar, wie unbegründet diese
Öffnung auch sein mußte, auf die Dauer mit preußischer Hilfe
r russischen Unterdrückung entgegentreten zu können. Gewisse
eiskreise waren sogar zu Annäherung bereit; hier, wie überall
^ te (Jas Vorhandensein bedeutender materieller Interessen ein
Urückdrängen der hemmungslosen Verteidigung ideeller Werte
zur Folge.

. I\'olitisch hatte aber dieser Adel in Posen keineswegs mehr die
uhrung. Fortschreitende demokratische Entwicklung und He-
ung der wirtschaftlichen Lage, das heißt also auch wachsender
^ndividualismus und Selbständigkeitsdrang, politisch wie national,
pachte den Mittelstand und hauptsächlich die Intelhgenz des
quot;des in den Vordergrund, neben denen auch die Geistlichkeit

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noch wesenthchen Einfluß behielt, denn nationale und rehgiöse
Interessen deckten sich im Kampfe gegen Preußen und
Rußland
ja nahezu, wenn auch andererseits, rein intern, Kirche und Demo-
kratie nicht immer im besten Einvernehmen mit einander leben.

Mit Bismarcks Auftreten, zu Anfang der siebziger Jahre, fing
auch eine konsequente Polenpoltik an; nach des Kanzlers Auffas-
sungen war nur eine bedingungslose Assimilierung der polnischen
Elemente möglich, da jede Nachgiebigkeit in nationalen Fragen
bei den Polen „erfahrungsgemäß quot;nur erneute und größere For-
derungen hervorrief. Der „Kxdturkampfquot;, die schroffe, bedingungs-
lose Germanisierung setzte ein und zwar mit weit größerem Rigo-
rismus als die Russifizierung in Kongreßpolen. Als in gleich stren-
ger Weise auch gegen den Katholizismus vorgegangen wurde,
hatte dies nur eine Ueberbrückung der sozialen und politischen
Gegensätze bei den Polen und einen noch festeren nationalen Zu-
sammenschluß zur Folge. Aber auch rief diese anti-katholische
Pohtik bei den deutschen Katholiken Proteste hervor. Aus diesem
doppelten, nationalen und kirchhchen Assimiherungsversuch wurde
nur der unversöhnlichste Haß bei den Unterdrückten geboren.
Als man auf die Dauer die zwangsweise Germanisierung auch auf
den polnischen Bauern ausdehnte, der bis jetzt in altgewohnter
Dumpfheit und Unterwürfigkeit sich durchaus loyal verhalten
hatte und dem preußischen Regimente für die Hebung seiner wirt-
schaftlichen Lage nur dankbar sein konnte, trat auch dieser be-
deutende Faktor ganz ins nationalistische Lager über, das sein
Heer großzügig zu organisieren anfing. Als man preußischerseits
nun auch nicht mehr auf die polnischen Bauern rechnen konnte,
warf man sich auf die Ansiedlung deutscher Bauern und begann
nach 1886 jenes, große finanzielle Opfer fordernde Werk des Auf-
kaufs und der Parzellierung polnischen Großgrundbesitzes, den
man unter deutsche Bauern verteilte. Der Erfolg war recht gering.
„Nur in 15 Kreisen der Provinz Posen und Westpreußen haben
die Deutschen von 1896—1914 an Boden gewonnen. In 49 Kreisen
hingegen sind die Deutschen trotz aller Anstrengungen der preußi-
schen Ansiedlungskommission, trotz der Ausnahmegesetze gegen
die polnischen Siedlungen zurückgedrängt wordenquot;. Da man aus
begreiflichen Gründen keine Katholiken ansiedeln wollte, kamen
nur Protestanten ins Land, was die bestehenden Gegensätze nur

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Verschärfen konnte. Auf den Ankauf und die Parzellierung pol-
nischer Güter preußischerseits antworteten die Polen mit gleichen
Maßnahmen hinsichtlich deutscher Güter, zu welchem Zwecke
sie, wie auch zur Unterstützung der bedrängten Volksgenossen,
eigene finanzielle Institute ins Leben riefen, die bei der leiden-
schaftlichen Solidarität der Volksgenossen mit außerordentlichem

Erfolge tätig waren.

Nach Bismarcks Abschied folgte eine versöhnlichere Periode.
Öie Germanisierung wurde weniger schroff betrieben und die in
ihrer Mehrheit aristokratische „Ausgleichsparteiquot;, die der „drei-
fachen Loyalitätquot; in den drei Teilungsgebieten vorstand, schien
einen AugenbHck an Einfluß zu gewinnen. Die Gegensätze und
hauptsächlich die Verbitterung waren aber auf beiden Seiten doch
schon zu tief gewurzelt. Als mit der versöhnlichen Politik der Re-
gierung unzufriedene Elemente in 1894 den „Verein zur Förderung
des Deutschtums in den Ostmarkenquot; gründeten, setzte der hart-
näckigste und für Preußen doch erfolglose Kampf wieder ein. Der
geschlossenen polnischen Streitmacht stellten auch die Deutschen
allmählich eine geschlossene Front gegenüber, sie fühlten sich auch
ihrerseits nicht mehr sicher, im GegenteUe in ihrer Existenz in den
Ostmarken bedroht, denn die erbitterten Polen blieben keineswegs
mehr in der Defensive: es wurde auf beiden Seiten ein Kampf um
die Existenz.

Auch die preußische Regierung betrieb seit 1894 wieder ener-
gischer und mit noch aufreizenderen Mitteln als früher das Ger-
manisierungswerk. Der Kampf wurde bedrohlich. Die polnische
Agitation stieß nach Mittel- und Obcrschlesicn und nach der Ostsee
Vor und versuchte hauptsächlich in jenem wirtschaftlich wichtig-
sten oberschlesischen Gebiete das vorhandene schwache National-
gefühl zu steigern.

Die Regierung griff zu noch drastischeren Maßregeln; da die
Siedlungspolitik, die durch Ankäufe polnischer Güter die Germani-
sierung betreiben wollte, vollkommen gescheitert war, wollte man
das Mittel der zwangsweisen Enteignung anwenden und nahm seine
Zuflucht in 1908 zu einem Enteignungsgesetze, ohne daß man
jedoch vorläufig praktisch zu solchen Maßnalmien zu greifen wagte.
■\'^Is man es in 1912 aber doch in vier Fällen anwendete, loderte
der Kampf nur noch wilder auf.

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Diese ganze unversöhnliche und jeder psychologischen Ein-
sicht bare Politik hatte nur zur Folge gehabt, daß es zu
Ausbruch
des Weltkrieges in Posen keine Ausgleichspartei gab, wie in Gahzien
und Kongreßpolen; es herrschte dort nur die unversöhnhchste
Erifeindschaft. Die Pohtik hatte weiter erreicht, daß weder in
Posen, noch in Gahzien, noch in den russischen Gebieten die
Polen
auch nur irgendeine Hoffnung auf die Besserung ihres Loses deut-
scherseits hegten und daß man in Posen nur an die völlige
Un-
möghchkeit einer Aussöhnung mit Preußen glaubte.

Es sei hier noch einmal kurz das aus dem Gesichtspunkte der
vorhegenden Arbeit Wichtigste zusammengefaßt. Zu Anfang des
Weltkrieges gab es in den polnischen Gebieten Vertreter
beinahe
aUer möghchen Lösungsvorschläge, von der vollkommenen Loyali-
tät bis zur völligen nationalen Unabhängigkeit. Für die „russische
Lösungquot; sprachen am stärksten die wirtschaftlichen Erwägungen,
für die „österreichische Lösungquot; die politischen und religiösen Ver-
hältnisse, für die „preußische Lösungquot; nur gar nichts,
während
zum mindesten heimlich in aller Herzen der Traum der nationalen
Auferstehung weiterlebte. Selbst nach der Meinung der in allen
Konfhkten am unmittelbarsten Betroffenen, der Polen, gab es
nicht eine einzig möghche Lösung der Polenfrage. Zeit
und
Umstände hatten ihren mannigfachen und großen Einfluß gezeigt-
Der Ausgang des Weltkrieges ermöglichte eine Lösung, die noch
m 1917
einem enghschen Autoren 1 ebenso widersinnig erschien,
wie es eine Wiedererrichtung der Türkenherrschaft in Südost-
Europa oder der Sarazenenherrschaft in Spanien gewesen wäre-
Und doch war es gerade diese Lösung, die zum mindesten den
Polen als „die bestequot; erscheinen mußte.

Siehe F. E. Whitton. A history of Poland from the earliest times to the
present day.
With maps. London 1917. Seite 295; siehe auch den Schlußsatz:
The fate of Poland is one indeed on wich it is difficult even to hazard a
wide solutionquot;.

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DIE ENTWICKLUNG DER POLNISCHEN FRAGE IM WELT-
KRIEGE UND IHRE LÖSUNG.

Von einer irgendwie eingehenden Darstellung der Ereignisse
der Jahre 1914—1919 kann hier nicht die Rede sein. Die gebotene
Beschränkung erlaubt nur einige der wichtigsten Punkte, die ver-
schiedenen Entwicklungsetappen der polnischen Frage herauszu-
greifen. Der nötige historische Abstand zu den Geschehnissen der
genannten Jahre ist noch keineswegs gewonnen, das Material im
Vollen Umfange noch nicht gesichtet und verarbeitet, in mancher
Hinsicht noch nicht einmal zugänglich. Unter diesen Umständen
empfiehlt es sich in großen Zügen nur diejenigen, aus unserm Ge-
sichtspunkte so wichtigen, Ereignisse zu schildern, die in recht
deutlicher Art zeigen, in wie hohem Maße die Entwicklung der rein
tatsächlichen Verhältnisse die Lösung der polnischen Frage be-
einflußt hat, oder mit anderen Worten wie wenig prinzipiell und
von vornherein beabsichtigt jene Lösung war, die sich in 1919

durchsetzte.nbsp;^

Der Weltkrieg teilte die Teilungsmächte in zwei Lager. Da dieser
Krieg aus Rivalitäten entstanden war, konnte für die einander
bekämpfenden Teilungsmächte von irgendwelcher „prinzipiellerquot;
\'.gerechterquot; Lösung der polnischen Frage nicht die Rede sein.
E^igner Machtzuwachs und Schwächung des Gegners konnte nur
bezweckt werden; es handelte sich demnach nur darum, ob die
..österreichischequot;, oder die „russischequot;, oder die „preußischequot; Lö-
sung sich durchsetzen würde. Als später erst Rußland und danach
Oesterreich-Ungarn und Deutschland zusammenbrachen und man
keinerlei „Rücksichtenquot; mehr zu nehmen brauchte, konnte es den
Anschein haben, als ob jetzt unter amerikanischem Einfluß die
..prinzipiellequot; und „gerechtequot; Lösung sich durchsetzen würde.
Das kann zweifelsohne im Gnmde der amerikanische Standpunkt
gewesen sein; man darf dabei aber dann doch nicht aus dem Auge
verlieren, daß für die europäischen Ententemächte eine Wieder-
errichtung Polens zwei recht erwünschte Folgen hatte, die im

16

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Grunde nichts mit grundsätzhchen Erwägungen zu schaffen haben:
einerseits nämhch die Schwächung Deutschlands, andererseits das
Zurückdrängen der bolschewistischen Einflußsphäre nach Osten
hin, und daß man außerdem die Lösung der Frage der östhchen
Grenzen durch neue Kriege, also neue faktische und nicht prinzi-
pielle Erörterungen zuheß. Es ist heute noch unmöglich, sich
über diese Dinge ein begründetes Urteil zu bilden; was in Paris
verhandelt wurde, ist nur aus zweiter Hand bekannt; es kann sich
demnach hier nur darum handeln, einige der wichtigsten Tenden-
zen hervorzuheben.

Beim Kriegsausbruch ^ wurde wohl auch in polnischen Kreisen
die Möghchkeit der Wiedererrichtung eines souveränen polnischen
Staates als Folge des Krieges kaum ernstlich erwogen. Daß der
Krieg aber eine Veränderung in die Lage der drei Teilungsgebiete
bringen würde, war sehr wahrscheinhch, sie würde aber vor allem
von dem Willen der siegenden Mächtegruppe abhängen, würde
für diese Mittel, nicht Selbstzweck sein, und in den seit einem
Jahrhundert allgemein anerkannten Umstand, daß die polnische
Frage eine innerstaatliche Angelegenheit der drei Teilungsmächte
(nach dem Weltkriege also wiederum der siegenden Teilungsmacht
oder -mächte) war und blieb, würde, so wie die Verhältnisse zu Aus-
bruch des Krieges lagen, wohl keine Veränderung kommen. Die
möghche Veränderung würde an erster Stelle entweder eine „rus-
sischequot; oder eine „österreichischequot; Lösung bringen, denn weder
polnischerseits wurde an eine „deutschequot; Lösung gcdacht, noch
begehrte Deutschland bei den schon vorhandenen großen Schwie-
rigkeiten noch einen unmittelbaren Zuwachs an polnischen Unter-
tanen. Dennoch konnte aber auch unter Umständen eine „deutschequot;
Lösung möglich werden, und in den ersten Kriegsjahren hatte es
sogar den Anschein, als ob sie sich durchsetzen würde: es würde
sich dabei um die Schaffung eines neuen polnischen Staates
aus lediglich russischen Gebieten handeln, dem weder öster-
reichisches noch preußisches Gebiet angegliedert werden würde.
Da nun weder die „österreichischequot;, noch die „russischequot; Lösung
in polnischen Kreisen allgemein als die bessere oder
wünschens-

I Dem 16. Kapitel liegt hauptsächlich zugrunde: Dr. Paul Roth. Die Ent-
stehung des polnischen Staates. Eine völkcrrechtlich-politische Unter-
suchung. Berlin 1926. (Oeffentlich-rcchtliche Abhandlungen, 7. Heft.).

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Wertere anerkannt wurde, befolgte man in allen drei Teilgebieten
die den Verhältnissen am meisten angemessene Politik der „drei-
fachen Loyalitätquot;. Es soll nun geschildert werden, wie im Laufe
des Krieges die Umstände immer weiter die Lösungsfrage in ent-
scheidender Weise beeinflußten.

Da die polnischen Auffassungen sich aus dem vorigen Kapitel
Und dem Obenstehenden ergeben, seien hier weiter die Gesichts-
Punkte der russischen Regierungen, danach die der Zentralmächte
und schließhch die.
der Alliierten Mächte im Rahmen der fortschrei-
tenden Entwicklung der Lage zusammenfgefaßt.

Die Zaristische Regierung blieb auch ihren Verbündeten gegen-
über mit Nachdruck auf dem Standpunkte stehen, daß die polnische
Frage eine innerstaatliche russische sei. Aber man wollte den Polen
doch Zugeständnisse machen: „Lasset die Schranken, die Polens
Völker trennen, fallen. Vereinigt Euch unter dem Szepter des mäch-
tigen Zaren! Unter seinem Szepter wird Polens Wiedergeburt in
Seiner Selbständigkeit, seiner Religion, seiner Sprache erfolgenquot;,
lautete der bekannte Aufruf des Oberstkommandierenden vom
August 1914. Man wollte alle polnischen Gebiete wieder ver-
einigen, die russische Macht stärken, das war das Kriegsziel; im
übrigen wurde den Polen „duldsame Bereitwilligkeitquot; anempfohlen.
I^raktisch veränderte nichts. Man war bestrebt, „alle Versuche
das zukünftige Polen unter die Garantie und Kontrolle der Mächte
zu stellenquot; auszuschalten, ließ England und Frankreich quot;volle
Freiheit in der Bestimmung der Westgrenzen Deutschlandsquot; und
Verlangte als Gegenleistung eine gleiche Freiheit in polnischen
fingen. Das war das altbekannte Rezept.

Die russische Märzrevolution von 1917 brachte aber den Durch-
bruch des demokratischen Gedankens. Als nun polnischerseits
m diesem selben Gedankengange das Sclbstbestimmungsrecht ge-
fordert wurde, konnte man logischerweise diese Entwicklung der
I^inge nicht mehr aufhalten; man anerkannte das Sclbstbestim-
mungsrecht, und zwar nach Maßgabe des Nationalitätsprinzips,
Wollte aber doch eine „freie MiUtärunionquot; zwischen Rußland
imd Polen ins Leben rufen und der „konstituierenden russischen
Versammlungquot; die endgültige Entscheidung über die aus der
neuen Lage sich
ergebenden Territorialfragen vorbehalten. Die
Schaffung eines unabhängigen polnischen Staates hielt man über-

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dies für „das hoffnungsvolle Pfand eines dauerhaften Friedens
in dem künftigen, neuerstandenden Europaquot;. Das war ein Pro-
gramm, das als berechtigt Anerkennen der Forderung nationaler Sel-
bständigkeit, das prinzipielle Zugeständnis der Gleichberechtigung
bei der zukünftigen Lösung eines vorläufig noch innerstaatlichen
Problems, während man aber andererseits schon die Einbeziehung
der ethnographisch von einer polnischen Mehrheit besiedelten
deutschen und österreichischen Gebiete in den neuen Staat als
selbstverständlich annahm. Man war sich über die Grundlagen zur
Lösung des bestehenden russisch-polnischen Gegensatzes einig,
wollte ihn durch friedliche Verhandlung aussöhnen, reservierte
aber doch wieder Rußland bei diesen Verhandlungen eine entschei-
dende Rolle. Die Westmächte begrüßten diese Entwicklung der
Dinge warm; es waren ihrerseits keine Interessen vorhanden, die
sich einer solchen Lösung widersetzten, sie konnte ihnen im Gegen-
teil nur willkommen sein, denn sie bedeutete in jeder Hinsicht in
einem zukünftigen Europa eine Stärkung ihrer Position.

Als aber im November 1917 die Provisiorische Regierung ge-
stürzt wurde und bolschewistische Elemente die Gewalt an sich
rissen, trat Rußland aus der Entente; es kam ein Riß in die Bezieh-
ungen, die Sowjetregierung wurde nicht mehr anerkannt, die
Beziehungen wurden sogar zu feindlichen, man hoffte in den En-
tenteländem auf einen Sturz der Sowjetregierung und eine Wei-
terentwicklung der inneren Verhältnisse auf dem von der Pro-
visorischen Regierung eingeschlagenen Wege. Hinsichtlich der pol-
nischen Frage blieb die Sowjetregierung ganz auf dem Stand-
punkte ihrer Vorgängerin stehen, anerkannte das Selbstbestim-
mungsrecht und verzichtete im Friedensvertrage von Brest-
Litowsk auf alle jenseits der vereinbarten neuen Grenze liegenden
polnischen Gebiete, über deren Schicksal „Deutschland und Oester-
reich-Ungarn im Benehmen mit deren Bevölkemng zu bestim-
menquot; beabsichtigten. Zu gleicher Zeit kündigte man russischer-
seits eine Reihe von Verträgen, die „dem Prinzip der Selbstbestim-
mung der Völker und dem revolutionären Rechtsbewußtsein des
mssischen Volkes widersprechen, das dem polnischen Volk das
unentziehbare Recht auf Selbständigkeit zuerkannt hatquot;.

Die russischen Auffassungen haben demnach im Laufe des
Krieges unter dem Einflüsse der Ereignisse eine recht bedeutende

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Wandlung durchgemacht. Die sehr liberale Gesinnung in der pol-
nischen Frage wird wohl zum großen Teile auf den Druck der Ver-
hältnisse, auf die schwierige Lage in den ersten Zeiten der Revo-
lution zuruckzuführen sein, denn späterhin hat die Sowjetregierung,
dort, wo sie sich durchsetzen
konnte, keineswegs eine sehr versöhn-
liche oder liberale Rolle gespielt. Das polnisch-russische Einver-
nehmen über die bei der Abgrenzung des beiderseitigen Staats-
gebietes
anzuwendenden Grundsätze (also über die Grundsätzer
nach denen Territorialkonflikte entschieden werden sollen) hat
auch nicht allzu lange gedauert, die endgültige Auseinanderset-
zung erfolgte im Kriegswege. Nach höchster Wahrscheinlichkeit
haben in den Ereignissen dieser Jahre eben die Umstände eine
durchaus entscheidende Rolle gespielt, man mußte preisgeben was.
aus welchem Grunde es auch sein mag, nicht mehr zu halten war.

Ein gleiches gilt für die Auffassungen und Ziele der Zentral-
mächte. Für sie ist „die polnische Frage während des ganzen Krie-
ges ein schwieriges, verworrenes, stetigen Wandlungen unter-
worfenes und nie gelöstes Problem gewesenquot;. Die Haupttendenz
War diesse, daß ein Zuwachs an polnischen Untertanen für Preußen-
Deutscliland unerwünscht war, demnach im Falle eines Sieges
neben der genannten Schaffung eines neuen polnischen Staates
aus nur russischem Gebiet, nur eine irgendwie „österreichische Lö-
sungquot; in Frage kommen konnte, die aber unter keinen Umstän-
den eine Vereiniging des preußischen Teilgebiets mit dem übrigen
Polen zur Folge haben würde, denn noch kurz vor dem Waffen-
stillstand erklärte, wie vor ihm seit Bismarck alle deutschen Staats-
quot;länner, der Prinz Lichnowsky \' die polnische Frage und die Wall-
ung der Ostgrenzen zu einer Lebensfrage des deutschen Reiches,
Von deren Lösung Deutschlands Stellung als Großmacht abhinge.
Vorübergehend war Oesterreich sogar in 1917 zu einem Verzicht
auf Galizien zugunsten Deutschlands bereit, da man wohl ohne
Abtretung Elsaß-Lothringens zu keinem Frieden kommen könne
und eine Einverieibung Rumäniens Oesterreich die nötige Kompen-
sation bringen werde. Es war dies noch ganz im Stile des Wiener
j^g
^resses gedacht._____

^ siehe: Ce qui se passa réellement à Paris en 1918—1919. Histoire de la
Conférence de la Paix par les Délégués Américains etc. Paris 1923. Seite 65.

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Einer austropolnischen Lösung widerstrebte aber Ungarn, das
bei einer zukünftigen trialistischen Monarchie einen Teil seines
Einflusses einbüßen würde, während eine solche Lösung
anderer-
seits die für Deutschland recht unerfreuliche Entstehung einer
starken irredentistischen Bewegung hinsichthch des
deutschen
Teilgebietes zur Folge haben würde.

Als man nun im Laufe des Krieges am 5. November 1916 die
Errichtung des Königreichs Polen proklamierte,
beabsichtigte
man damit an erster Stehe den Gewinn sehr erwünschter, neuer
Streitkräfte aus Kongreßpolen. Zugleich setzte sich aber hiermit
die „deutschequot; Auffassung der Errichtung eines unabhängigen
Staates nur aus russischem Gebiete durch. Dieser neue Staat, dessen
endgültige Konstituierung erst nach dem Kriege erfolge sollte,
wird (nach einer deutsch-österreichischen Vereinbarung) „dem
Bündnis der beiden Kaiserreiche angeschlossen; eine eigene aus-
wärtige Politik kann Polen nicht führenquot;. Uebrigens sollten beide
Mächte „gleiche wirtschaftliche Rechte in Polenquot; haben. Auch
dies war wieder ein Programm, man verschob seine Ausführung
bis in die Nachkriegszeit, denn was politisch und militärisch zu
erreichen war, war ja noch nicht zu übersehen. Uebrigens wurden
die heftigsten Proteste der damals noch zaristischen russischen Re-
gierung laut, denen sich die Westmächte anschlössen.
Inzwischen
schritten die Zentralmächte aber schon an den inneren Ausbau
eines polnischen Staates, was schon weit mehr als ein Programm
und nicht recht im Einklang mit völkerrechtlichen Grundsätzen war.

Während man polnischerseits im russischen Teilgebiet unter
dem Einflüsse Dmowskis, des Führers der Nationaldemokraten,
Anfang 1917 noch an der russischen Lösung festhielt, forderte man
schon im Herbst 1918 bei der fortschreitenden, für die Polen gün-
stigen Entwicklung der pohtischen Lage „die Schaffung eines
unabhängigen Staates, der alle polnischen Gebiete umfaßt, mit
einem Zugang zum Meer, mit politischer und wirtschaftlicher
Unab-
hängigkeit, wie auch mit territorialer Integrität, was durch inter-
nationale Verträge garantiert werden würde.quot; Das geschali, als
Deutschland Wilsons 14 Punkte annahm; die Forderungen wurden
größer, je nachdem man mehr durchzusetzen Aussicht hatte.

Danach überstürtzten sich die Ereignisse. Im Oktober 1918
zerfiel Oesterreich, in Westgalizien, wie im österreichischen Okkupa-

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tionsgebiet übernahmen die Polen die Regiemngsgewalt, in Ost-
galizien kam es zu kriegerischen, polnisch-ukrainischen Auseinander-
setzungen. Am.
II. November brach das deutsche Regiment im
deutschen Okkupationsgebiet zusammen und wenige Tage später
War eine unabhängige polnische de facto Regierung entstanden.
Der von den Zentralmächten eingesetzte Regentschaftsrat übertrug
die Regierung den demokratischen, unversöhnlich nationalis-
tischen und stark antirussischen Anhängern Pilsudski\'s, Elemen-
ten, die ihre Hoffnungen auf die Zentralmächte gesetzt hatten.
Das Gebiet des neuen Staates umfaßte ungefähr das Gebiet Kon-
greßpolens und Westgaliziens. Sein Entstehen wurde einfach durch
die Umstände
ermögUcht.Aber auch nun noch bekämpften sich
im neuen Staate aufs heftigste die russophile Nationaldemokratie,
die Anlehnung an Rußland erstrebt hatte, und die durchaus anü-
russische, linksorientierte Unabhängigkeitspartei, die jetzt im
Staate die Oberhand hatte und mit den Ententemächten in keiner-
lei Zusammenhang stand. Jene russophile Partei vertrat dagegen
durchaus die Anlehnung an die Ententemächte, was auf der kom-
menden Friedenskonferenz nur vorteilhaft sein konnte. Anfang
1919 erklärte sich die polnische Republiek ausdrücklich zum Ver-
bündeten der alliierten Mächte.

Welchen Einfluß hatten nun diese Ereignisse auf die Auffassun-
gen der alliierten Mächte?

Rußland wollte seinen Verbündeten keinerlei Einfluß auf die
Lösung der polnischen Frage einräumen. Man war daher gebunden
und enthielt sich. Die Sachlage änderte sich erst, als die proviso-
rische Regierung Anfang 1917 sich zu bedeutenden Konzessionen
bereit erklärte. Aber noch im August 1917, als über einen öster-
reichischen Separatfrieden verhandelt wurde, waren die West-
mächte bereit, die polnische Unabhängigkeit
aufzuopfern: II sera
attribué ä la Monarchie des Habsbourg la Pologne reconstituee

dans les limites au moment du partage de 1772----,quot; war eine

der Bedingungen. Man wollte Preußen schwächen und ließ auch
Rußland im Stich. Es handelte sich demnach hier noch gar nicht,
wie später, um das Nationalitätsprinzip, sondern lediglich um eine
Gleichgewichtsfrage. Die MentaUtät im Lager der Westmächte
War in dieser Beziehung ungefähr die gleiche wie im La gerder

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Zentralmächte. Erst am Ende des Jahres änderten sich die Anschau-
ungen und wurde die Wiedererrichtung eines selbständigen Polens
allmählich zu einem der Kriegsziele der Alliierten.

Die Entwicklung der politischen Verhältnisse zeigt auch ihren
Einfluß im polnischen Lager. In Kongreßpolen (und das russische
Polen spielte, da es auf Seiten der Entente stand, durch den Lauf
der Dinge auf die Dauer eine bedendende Rolle) trat zu Anfang des
Krieges unter der Führung Dmowskis hauptsächhch die national-
demokratische Partei in den Vordergrund. Sie hielt noch bis März
1917 an der „russischen Lösungquot; fest ,der Vereinigung aller pol-
nischen Gebiete unter dem Szepter des Zaren, also an der Schaf-
fung einer russisch-pohlischen Personalunion, zu der man auch in
Petersburg bei der fortschreitenden bedrohlichen inneren Auf-
lösung des Reiches allmählich mehr hinneigte. Sie hatte auch
schon in London, Paris und Rom agiert, um eine Lösung der pol-
nischen Frage in diesem Sinne zu erreichen, für den Fall, daß
Rußland seine Zusagen vergessen würde. Paderewski ging nach
den Vereinigten Staaten. Dort lebten 3V2 Millionen Polen; ihre
Stimme hat in gewissem Maße die Wahl Wilsons beeinflußt, so
wie Paderewskis Propaganda des Präsidenten Anschauungen über
die polnischen Frage in mancher Hinsicht bestimmt hat. „States-
men everywhere are agreed that there should be a united, inde-
pendent and autonomous Polandquot;, hieß es in seiner ersten Bot-
schaft vom 23 Januar 1917. Das war auch das Programm der kon-
greßpolnischen Nationaldemokratie. Nur eine Personalunion mit
Rußland sollte bestehen. Diese Lösung würde auch weiteste pol-
nische Kreise vollkommen befriedigt haben. Erst nach der
Märzre-
volution forderte auch die nationaldemokratische Partei die völlige
Unabhängigkeit Polens und teilte so den Standpunkt anderer
demokratischer Kreise, die von jeher unversöhnlich die polnische
Unabhängigkeit gefordert hatten.

Im Sommer 1917 wurde nun aus nationaldcmokratischen Krei-
sen das polnische Nationalkomitee
gegründet, dessen Hauptsitz Pa-
ris war, und dessen Propaganda in den Ententeländem darauf
hinausging, das Entstehen eines unabhängigen Polens aus allen
drei Teilgebieten als Verbündeten der Ententemächte zu beför-
dern. Zu diesem Zwecke sollte eine polnische Armee auf selten der
Alliierten kämpfen.

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Das Nationalkomitee wußte auch für sich die „reconnaissance
comme nationquot; seitens der Westmächte durchzusetzen, und als
..Befreiungsbewegungquot; anerkannt zu werden. Sein politisches Pro-
gramm, das Dmowski formulierte und das bis in 1919 konsequent
beibehalten wurde, war die Wiedererrichtung eines selbständigen
Polens aus all den Gebieten, die ethnographisch von einer polnischen
Mehrheit besiedelt waren, mit freiem Ausgang zum Meer, während
dem neuen Staate eine stark anti-deutsche Rolle zugedacht wurde.
Ganz gab man — zum mindesten theoretisch — die Wiederer-
richtung des historischen Polens auf. Dieses Programm machten die
Westmächte zu dem ihrigen, während es auch im 13. der Punkte
Wilsons enthalten ist.

Ende 1918 wurde das polnische Nationalkomitee als kriegführen-
de Macht anerkannt. Die Konstituierung eines polnischen Staates
War aber, wie oben geschildert wurde, nicht der Partei Dmowskis,
Sondern den Anhängern Pilsudskis vorbehalten, die politisch nahe-
zu entgegengesetzt orientiert waren. Aber beide Parteien söhnten
sich noch Ende 1918 aus. Auch den Mitgliedern des Pariser Natio-
ualkomitees wurde im neuen Kabinett-Paderewski Einfluß ge-
währt; diese Aussöhnung und Annäherung zu den Westmächten
hatten ihren großen Wert für die kommende Friedenskonferenz,
lu der danach gemeinschaftlich zusammengestellten Friedens-
delegation behielt Dmowski noch einen bedeutenden Einfluß. Als
diese Delegation zur Friedenskonferenz zugelassen wurde, geschah
damit auch zugleich implicite de facto die Anerkennung des pol-
nischen Staates als alliierte und assoziierte Macht.

In Paris entschieden die Westmächte, dem von ihnen angenom-
nieneni3. der 14 Punkte Wilsons gemäß, über die polnischen west-
lichen Grenzen nach dem Grundsatze der Nationalität. Es war für
sie auch kein Grund vorhanden, nicht so zu entscheiden; im Ge-
genteil, man wollte Deutschland schwächen und wenn man dazu
eine These anwenden konnte, die zur Zeit recht weit verbreitet war,
Und wenn diese These im
gegebenen Falle in keiner Weise die
Interessen der Westmächte beeinträchtigte, so sprach alles für
lt;^ine solche Lösung. In 1914 hatte man Rußland in der polnischen
^rage vollkommen freie Hand gelassen. In 1917 bot man Oester-
reich das polnische Reich in seinen Grenzen von vor 1772 an. In
^919 entschied man nach dem Nationalitätsprinzip. Eine Lösung

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aus „innerer Ueberzeugungquot; kann man das wohl nicht nennen, denn
es ist nicht anzunehmen, daß sich Ueberzeugungen hinsichtlich
der Lösung einer Territorialfrage innerhalb fünf Jahren
zweimal
ändern. Man entschied eben, wie die Umstände es mit sich brach-
ten. Wilson hatte durch den Lauf der Dinge einen großen fak-
tischen Einfluß bekommen und das wurde durchschlaggebend.
Daß aber die Lösung, die sich schließhch durchsetzte, Forderungen
und Anschauungen, die zur Zeit weit verbreitet waren, entsprach,
war im Grunde nur zufäUig .Man kann es einen glücklichen Zufall
nennen, wenn man will.

Der amerikanische Staatssekretär Lansing hatte eine etwas
andere als nur auf dem nationalen Grundsatz fußende Auffassung
von den Aufgaben der Friedenskonferenz, die wahrscheinlich der
Realität sehr nahe kommt. Man müsse vor allem eine
deutsche
Expansion nach Osten vermeiden, meint er, Deutschland dürfe
nicht im unmittelbaren oder mittelbaren Besitze eines der Wege
nach Osten belassen werden. Es müßten territoriale Schranken
errichtet werden, um dieses Reich zu verhindern, durch
politische
oder wirtschaftliche Durchdringung jemals in diesem Gebiet die
Herrschaft zu erlangen. Und dies sollte das im dreizehnten der 14
Punkte Wilsons enthaltene Programm verwirklichen. 1

Ueber das Selbstbestimmungsrecht der Völker und das ihm ver-
bundene Nationallitätsprinzip sagt Professor R. H. Lord, ein Mit-
arbeiter Wilsons, das Folgende: ,,I1 se peut que la doctrine des
nationalités ait été énormément exagérée; peutêtre en vérité le
principe du droit des peuples de disposer d\'eux-mêmes est-il tout
simplement une idée monstrueusement fausse; peut être les fac-
teurs économiques ou les droits historiques ou les relations politi-
ques anciennes devraient-ils constituer les seuls critériums en
matière de frontièresquot;. Man müsse dann aber bedenken, daß
seit
nahezu hundert Jahren hauptsächlich nach diesen Grundsätzen
Territorialkonflikte entschieden worden seien und solche nationale
Forderungen auch die meisten Kriege im letzten Jahrhundert her-
vorgerufen hätten. Während des Weltkrieges seien sie noch allge-
meiner laut geworden und man habe nun in Paris versucht,
dieses

1 siehe Dr. W. Recke. Die Wiederaufrichtung Polens in Versailles. Berlin
1928. Seite 13.

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Nationalitätsprinzip so systematisch und konsequent wie mög-
lich durch zuführen. ^

Deutschland war besiegt, die Entscheidung über die deutsch-
polnischen territorialen Streitpunkte lag in Händen der großen
Vier, der Vertreter Amerikas, Englands, Frankreichs und Italiens.
Frankreich 2 sei unbedingt für die polnischen Forderungen einge-
treten, es habe „une Pologne grande et forte, très fortequot; gewünscht;
England sei im Gegenteil nie für polnische Forderungen eingetreten,
es habe vermutlich so viel wie möglich zukünftige Konflikte ver-
meiden wollen, da es keine unnötige Verpflichtung zur Verteidi-
gung eines neuen Staates, der im Vergleiche zu seinen Nachbarn
ein schwacher sein würde und von dessen Lebensfähigkeit man
nicht allzu viel erwartete, auf sich nehmen wollte 3; Italien habe
eine den Polen wohlwollende Haltung gezeigt, ohne sich über-
mäßig für irgendetwas einzusetzen; Wilson habe schheßlich ver-
sucht, den großen RichtHnien und Grundsätzen so viel wie mög-
lich gerecht zu werden.

Die Polen forderten nun die folgenden deutschen Gebietet
F o s e n, weil es ganz überwiegend polnisch besiedelt, kcrnpolnisch,
der älteste Reichsteil des Königreichs Polen sei und ungeheuere
Bedeutung für die Zukunft der Nation habe, da dort der kulti-
vierteste und wertvollste Teil der Nation wohne. West-
Preußen, weil es historisch zu Polen gehöre, ethnographisch
überwiegend polnisch sei und die Zuweisung an Polen das Gebiet
wirtschaftlich heben würde, weil es ferner wirtschaftlich als na-
türlicher Ausweg zum Meer für Polen unentbehrlich sei und weil
man nur so eine drohende wirtschaftliche und politische Hege-
monie Deutschlands verhüten und aus Polen einen wirtschaft-
hch und strategisch starken und unabhängigen Staat machen
^önne. Obcrschlesicn und Teile Mittelschle-
siens, weil sie historisch zum ältesten polnischen Gebiete ge-
hörten, etnographisch polnisch seien, geographisch zu Polen ge-
hörten und wirtschaftlich für Polen grundlegende Bedeutung
hätten. Ostpreußen, das nur in seinem westlichen Teile

^ siehe Ce qui se passa réellement à Paris etc. Seite 66.
J \'bidem die Ausführungen Lords Seite 67 und 68.

^ siehe zum Beispiel in Rcckeop. cit. Seite 17 erster Absatz und Seite 19—20.
siehe Dmowskis Denkschrift an Wilson. Roth op. cit. Seite 133 ff.

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„sprachlichquot; polnisch ist (also nicht national polnisch fühlt), wäre
entweder Polen als autonomer Reichsteil einzufügen oder als
selbständige
Republik zu konstituieren. Es gehöre geographisch
zu Polen, historisch und ethnographisch sei es nicht deutsch, da
seine „ersten Bewohnerquot; litauischen Stammes gewesen seien;
wirtschaftlich sei es vollkommen auf Polen angewiesen und poli-
tisch sei seine in Unmündigkeit gehaltene
Bauernbevölkerung
noch keineswegs entwickelt. Uebrigens sei es ein Bollwerk des
preußischen Konservatismus und seine Abtrennung würde das
Wachstum eines demokratischen Deutschlands stark befördern.
Wenn man es bei Deutschland belassen würde, würde es eine dauern-
de QueUe nie endenden Streites werden, denn Deutschland
werde
es immer seinem Reichsgebiete wieder unmittelbar anzugliedern
versuchen und so Polens Unabhängigkeit bedrohen. Man habe
eben zwischen den Interessen von 2 Millionen Deutschen in Ost-
preußen und 25 Millionen Polen zu wählen.

Die Stichhaltigkeit solcher Argumente soll hier nicht erörtert
werden, in folgenden Kapiteln wird sich dazu Gelegenheit finden.
Es soll hier nur darauf hingewiesen werden, daß bei den
polnischen
Territorialforderungen in der Argumentation der Nachdruck kei-
neswegs nur auf das nationale Moment gelegt wird, sondern daß
man darauf bedacht ist, einen starken, lebensfähigen
polnischen
Staat zu schaffen. „Polen muß eine Grenzziehung zu seinem Vor-
teil in allen den Fällen erhalten, wo eine unerbittlich streng ethno-
graphische Grenze aus geographischen, ökonomischen oder
strate-
gischen Gründen der Verbesserung bedarfquot;. Ein solcher Grundsatz
ist sehr elastisch, er konnte im polnisch-deutschen Falle die Inkor-
poration von 2 Millionen Ostpreußen in den polnischen
Staat
unter Umständen motivieren.

Es wurde in Paris eine Territorialkommission eingesetzt, die
einen Entwurf für die Reglung der deutsch-polnischen Verhält-
nisse auszuarbeiten hatte. Oberschlesicn und Posen, bis auf einige
Randgebiete, schlug sie vor, Polen zuzuweisen, so wie den öst-
lichen und mittleren Teil Westpreußens und das 300 000
Einwohner
zählende deutsche Danzig, diese letzten beiden mit aus dem Grunde,
weil man den Polen einen freien Ausweg zum Meer versprochen
habe und die Belassung der Weichselmündung in deutschen Hän-
den, auch bei gleichzeitiger Intemationalisierung, keine
befriedi-

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gende Gewähr für jenen freien Ausweg sein würde. Ueberdies
sollte der Marienwerder Distrikt zu Polen geschlagen, und das
AUensteiner Gebiet, wo ein slawisches Idiom sprechende protestan-
tische Masuren leben, einem Plebiszit unterworfen werden. Das
östliche Ostpreußen sollte hingegen Deutschland gelassen werden.

Dieser Entwurf wurde einstimmig aufgestellt und dem Rate der
Vier unterbreitet. Er stieß dort aber auf heftigen Widerstand sei-
tens Lloyd George\'s, der neue Konflikte für die Zukunft fürchtete,
Wenn man Polen 2100000 Deutsche zuweisen würde, wie es nach
den Vorschlägen der Territorialkommission geschehen sollte. Er
Setzte durch, daß auch der Marienwerder Distrikt einem Plebiszite
untenvorfen wurde. Uebrigens meinte er, daß Deutschland den
Vertrag nicht unterzeichnen werde, wenn ihm Danzig genommen
Würde. Deutschland lehnte auch tatsächlich die Abtretung West-
Preußens und Oberschlesiens ab. Lloyd George einigte sich weiter
niit Wilson darüber, Danzig zu einer Freien Stadt zu machen, da
nian es auch nicht Deutschland belassen wollte. Es kam ihm eben
darauf an, dem neuen polnischen Staate, in dessen Lebensfähigkeit
er kein allzu großes Vertrauen stellte, nur das Nötigste zu geben
Und so viel wie möglich neuen Konfliktstoff zu vermeiden. Das
Ergebnis dieser zweifelsohne auch in mancher Hinsicht von der
^jerritorialkommission geteilten Auffassung waren die etwas mittel-
a terhch anmutenden ostpreußische und Danziger Enklaven. Man
hat weder das eine, noch das andere vollkommen durchführen
Wollen und die Lösung macht den Eindruck, als habe man die
endgültige Entscheidung hinausschieben wollen. Als nach Ueber-
reichung des Vertragsentwurfs Deutschland noch entschieden ab-
lehnte, Oberschlesien und Westpreußen abzutreten, setzte Lloyd
George, vermutlich unter dem Drucke der Labour Party, durch,
daß auch noch Oberschlesien einem Plebiszit unterworfen wurde.
Bekanntlich fielen das Allensteiner und das Marienwerder Plebiszit
Sanz zu Deutschlands Gunsten aus, während das oberschlesische
Plebiszit zu einem Kompromiß führte. Das war die deutsche Seite
der polnischen Frage.

Es seien nun noch einmal die Kardinalpunkte, auf die die Lösung
Sich stützte, zusammengefaßt. An erster Stelle sollte Deutschland
geschwächt und Polen als Barrierestaat zwischen Deutschland und

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Rußland geschaffen werden. Das waren einseitige Wünsche der
siegenden Mächte, die polnischen Wünschen nicht widerstrebten.
Ob sie begründet waren, ist hier nicht zu erörtern; es genügt fest-
zustehen, daß die besiegten Mächte, Rußland mit einbegriffen, mit
dieser Auffassung begreiflichenveise keineswegs einverstanden
waren. Sodann war das Selbstbestimmungsrecht der Völker nach
Maßgabe des Nationalitätsprinzips anzuwenden. Man wird das
eine allgemein verbreitete Forderung nennen. Es sei aber darauf
hingewiesen, daß die siegenden Mächte es hinsichtlich Polens noch
in 1916 keineswegs als eine „Notwendigkeitquot; ansahen, während
die besiegten Mächte und Rußland, die seine Anwendung schä-
digen mußte, es erst anerkannten, als im Grunde nichts mehr zu
retten war, und die Polen selbst allgemein es erst als „unabweis-
lichequot; Forderung hinstellten, als die Aussicht auf seine Verwirk-
Hchung kaum mehr fraglich war. Einen recht „allgemein aner-
kanntenquot; Grundsatz kann man dieses Selbstbestimmungsrecht
wohl nicht nennen. Ferner beeinflußten die Lösung noch drei
schwerwiegende Fragen. Was war für eine wirtschaftUch und
strategisch unabhängige Existenz Polens unbedingt nötig? Was
konnte man von dem neuen polnischen Staate erwarten; wiirde
er sich lebensfähig, politisch reif erweisen? (und die vielverrufene
polnische Anarchie beunruhigte hauptsächlich die Engländer noch
recht stark). Welchen Widerstand deutscherseits würden auf die
Dauer gewisse territoriale Konzessionen an Polen hervorrufen;
was würde es unbedingt bei der ersten Gelegenheit wieder zurücker-
obern wollen? Auf diese drei Fragen konnte in 1919 niemand eine
befriedigende Antwort geben; man kann es auch heute noch zum
Teile nicht. Und doch war die Losung des deutsch-polnischen Terri-
torialgegensatzes die Resultante all dieser Fragen. Man beurteile
nun selbst, inwiefern man die Entscheidung noch eine „prinzi-
piellequot;, nach „festen Grundsätzenquot; gegebene nennen kann. Es
setzte sich eben durch, was unter den Umständen, bei den vielen
einander entgegengesetzten Wünschen und Auffassungen zu er-
reichen
War. Es gab eine Reihe Tendenzen, mehr nicht.

Die österreichische Seite des Problems war weit einfacher. Die
Doppelmonarchie bestand nicht mehr. Es konnte mit ihr also
auch
keine Konfhkte mehr geben. Westgalizien war faktisch schon nach

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dem Zusammenbruch in den neuen polnischen Staat einbezogen
Worden. Anders lag es mit Ostgalizien. Dort stieß man mit den
Ukrainern zusammen; die Entscheidung wurde mit den Waffen
gebracht. Die Russen wollten das alte ruthenische Gebiet haben,
Wollten aus der Ukraine einen Ruthenenstaat schaffen; in 1918
hatte man in Ostgalizien eine „Westukrainische Repubhkquot; prokla-
miert. Polnischerseits wurde betont, daß das Land wirtschaft-
hch für Polen einen außerordentlichen Wert habe und daß seine
ruthenische Bevölkerung noch durchaus unentwickelt und poli-
tisch indifferent sei und nicht imstande sich selbst zu regieren. Man
müsse Ostgalizien Polen als autonomen Reichsteil eingliedern,
fui Frühjahri9i9 eroberten die Polen mit Waffengewalt das Land.
Da es österreichisches Gebiet betraf, entschieden auch noch in
diesen Dingen die Westmächte. Man wollte zu Ende 1919 den
^olen ein 25-jähriges „Mandatquot; auf Ostgalizien geben. Danach
sollte ein Plebiszit entscheiden; aber auf Andringen der Polen
^^rde dieser Beschluß vorläufig suspendiert. Dann folgte in 1920
der russisch-polnische Krieg und beim Frieden von Riga in 1921
Verzichtete Rußland auf seine ostgalizischcn Ansprüche. In 1923
endlich sprachen die Westmächtc endgültig Ostgalizien Polen zu,
(es handelte sich ja um ehemals österreichisches Gebiet, über
Welches sie sich die endgültige Vcrfügimg vorbehalten hatten)
nnter der Bedingung, daß es eine autonome Ver\\valtung bekäme,
^^ie Entscheidung gab der Botschaftcrrat, der sich aus Vertretern
Frankreichs, Englands, Italiens und Japans zusammensetzte und
mit der Ausführung der Friedensbestimmungen betraut war. Er
|quot;egelte schon in 1920 den polnisch-tschechischen Konflikt über
leschen, Zips und Orawa und setzte in 1923 auch mittelbar, in-
ern ganz Galizien Polen zugesprochen wurde, die polnisch-rumä-
msch Grenze fest. Wieder wurden die Entscheidugcn in bedeuten-
dem Maße durch äußere Umstände und Ereignisse beeinflußt,
-etzten Endes hatte hier Waffengewalt entscheiden.

fu gleicher Weise entschieden Waffentaten das kaum lösbare
roblem der polnischen Ostgrenzen. Es ist wiederholt darauf hin-
gewiesen worden, daß die auf Seiten der Entente stehende kon-
ßreßpoiniscbc Nationaldemokratie in politisclier Hinsicht während
des Kriegs am meisten in den Vordergrund trat. Aus ihr ging das

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Pariser Nationalkomitee hervor; das von ihrem Führer Dmowski
vorgetragene Programm beeinflußte die Auffassungen Wilsons
und beeinflußte naturgemäß nach dem Siege der Westmäche auch
die Lösung der polnischen Frage. Nun war Dmowski ein
Vertreter
der russischen Lösung. Das neue Polen sollte sich an Rußland an-
lehnen und gegen Deutschland Front machen. Man mußte also
in dem Gedankengang sich mit Rußland aussöhnen, ganz auf das
„historische Polenquot; verzichten und nur diejenigen, ehemals pol-
nischen Gebietsteile beanspruchen, die „ethnographischquot;
polnisch
waren und die die Provisorische Regierung den Polen zugesagt
hatte. Dmowski kam demnach im Großen und Ganzen zu dem
folgenden Vorschlage: Kongreßpolen war ganz zum neuen Polen
zu schlagen, ebenso die nördlich davon gelegenen polnischen Ge-
biete von Wilna und Grodno. Im Nordosten habe sich seit der
Mitte des vorigen Jahrhunderts eine junge nationalistisch-litauische
Bewegung gebildet. Die litauische Nation (2.000000 Seelen) sei
aber viel zu schwach um als selbständiger Staat bestehen zu kön-
nen, das ethnographisch litauische Gebiet sollte demnach Polen
als autonomer Reichsteil eingegliedert werden. Auf das livlän-
dische Gebiet wurde verzichtet. Die weiteren östlichen Gebiete aber,
die vor 1772 zu Polen gehört hatten, die Gouvernements Minsk,
Mohylew, Witebsk, Wolhynien, Podolien und Kiew, hätten
weißrus-
sische, ruthenische und zum Teile polnische Bevölkerung. Weiß-
russen und Ruthenen (Ukrainer) seien noch keineswegs
imstande,
sich selbst zu regieren; die Weißrussen seien obendrein politisch
und national vollkommen indifferent, und beide gehörten im
Grunde ebensowenig zu Polen wie zu Rußland. Zwei selbstän-
dige Staaten aus ihnen zu errichten, würde zu Anarchie führen;
die Gebiete Rußland zuweisen, würde nicht geringere
Anarchie
und Rückgang bedeuten; sie Polen eingliedern, würde heißen
diesem Staate eine Last aufbürden und es vor Aufgaben stellen,
denen es keineswegs gewachsen sei. Es sei deshalb ein Mittelweg
einzuschlagen; Polen seien all diejenigen Gebiete einzugliedern»
in denen eine polnische Mehrheit oder zum mindesten eine
starke
polnische Minderheit lebe, während alles übrige Rußland zu be-
lassen sei. Die Annahme dieser Lösung hätte dann bedeutet, daß
Polen seiner ganzen Ostgrenze entlang noch etwas mehr
Gebiet
erhalten hätte, als es heute besitzt.

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Die Haltung der Ententemächte diesen Problemen gegenüber
War äußerst vorsichtig und ganz von Eventualitäten und mög-
lichen Entwicklungen beeinflußt. Man rechnete noch mit einer
baldigen Restauration in Rußland, und mit diesem neuen, wieder
bündnisfähigen Rußland wollte man sich nicht schon von vom-
berein zerwerfen. Die letzte anerkannte russische Regierung hat-
te den Polen das von einer ethnographisch polnischen Mehrheit
besiedelte Gebiet zugesagt; dieser Umstand wurde die Direktive
der Westmächte: was der alte Bundesgenosse gewährt hatte, würde
der eventuelle neue den Polen nicht versagen können. Entscheidend
^rde demnach hier die Auffassung der Provisorischen Regierung,
deren Kompetenz zur Lösung der Frage man im Grunde allein

anerkannte.

Der polnische Standpunkt war aber im Laufe des Jahres 1919
ein anderer geworden. In Warschau trat die antirussische, unver-
söhnlich nationalistische Partei\'unter Pilsudskis Führung in den
Vordergrund; ihr lag vor allem an einer Schwächung Rußlands,
^icht mehr Dmowskis Programm herrschte vor, sondern der
föderative Gedanke. Man wollte eine polnisch-Utauisch-ukrainische
Föderation zustande bringen, einen breiten Gürtel von Randstaaten
um Rußland legen.

In Paris schob man eine Entscheidung hinaus, bis „in Rußland
eine Regierung existieren würde, mit der die Hauptmächte in dieser
Frage würden verhandeln könnenquot;. Ende 1919 aber schlug der
Botschafterrat eine „voriäufigequot;, in keinerlei Weise präjudizierende
polnisch-russische Grenze vor, die sogenannte Curzonlinie, die
äußerst vorsichtig, nur ganz unbestritten polnische Gebiete dem
neuen Polen zuwies: etwas mehr als das kongreßpolnische Gebiet.

1923 setzte der Botschafterrat anläßlich seines Eingreifens in
die polnisch-litauische Frage auch alle weiteren polnischen Ost-
Denzen fest; dabei anerkannte er die zwischen Polen und Rußland
Rigaer Frieden von 1921 vereinbarte endgültige russisch-
Polnische Grenze. Erst durch diesen Akt besaß Polen die ihm dabei
zugewiesenen Gebiete den Westmächten gegenüber de jure.

Entscheidend hatten hier kriegerische Auseinandersetzungen
eingewirkt, die kurz geschildert werden sollen.

Als Ende 1918 die deutschen Truppen sich aus den östlichen
Gebieten zurückzogen, schoben sowjetrussische Truppen nach.

17

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Sie besetzten Weißrußland und die Gouvernements Wilna und
Grodno und stießen bei Grodno auf polnische Truppen, die die
Russen zurückdrängten und am 19. April 1919 Wilna
nahmen.
Die Litauer drangen nun bei den Polen, unter Hinzuziehung der
Westmächte, auf eine gemeinsame polnisch-litauische Abwehr der
russischen Gefahr. Polen soUte dafür Litauen mit den Gouverne-
ments Kowno, Wilna, Grodno, Suwalki und einigem kurländischen
und ostpreußischen Gebiet, und mit Wilna als Hauptstadt aner-
kennen. Der Botschafterrat vermittelte auch wiederholt, ohne
irgendeinen Erfolg, auf dieser Basis. Die polnischen Truppen aber
drangen weiter vor, bis zur Düna und dem Oberlauf des Dnjepr
und im Süden bis nach Podolien hinein. Man wollte das
föderative
Programm durchsetzen. Im Januar 1920 bot die Sowjetunion den
Polen einen Frieden an, den die Polen ausschlugen. Die West-
mächte erklärten, daß sie den jungen Staat nur militärisch unter-
stützen würden, wenn er in seinen ethnographischen
Grenzen
angegriffen würde. Der Krieg blieb also vollkommen für polnische
Verantwortung. Am 8. Mai eroberten die Polen Kiew. Man wollte
einen mit Polen verbündeten ukrainischen Staat im Gegensatze
zu Rußland schaffen. Petljura, das Haupt des „Direktoriums der
ukrainischen Republikquot;, verzichtete, als Gegenleistung für die
polnische Waffenhilfe, auf Ostgalizien und das westliche Wolhynien.

Im Juni aber gelang den Russen ein Durchbruch durch die
polnische Front. Die Polen mußten die Ukraine räumen und einen
großen Teil Ostgahziens, während im Norden Wilna und
Grodno
verioren wurden und russische Truppen bald vor Warschau stan-
den. Inzwischen schloß aber Sowjetrußland am 20. Juli 1920 zu
Moskau mit Litauen Frieden, anerkannte es als selbständigen
Staat und zedierte ihm das Wilnaer Gebiet; überiieß aber im
übrigen die Feststellung der litauischen Grenzen friedlichen Verein-
barungen mit Polen und Lettland. Als nun der russische Vormarsch
vor Warschau zum Stehen kam und die Russen bald wieder zu-
rückgeworfen wurden, trat zuerst der polnisch
-htauische Gegensatz
in den Vordergrund. Da russische Truppen noch in Litauen standen
und die litauische Neutralität nicht einwandfrei feststand, gingen
pohlische Truppen auch gegen Litauen vor. Polen ging den Völker-
bundsrat um Intervention an und dieser beauftragte im September
1920 eine KontroUkommission, auf Grundlage der einmal von den

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Westmächten bis auf weiteres angenommenen Curzonlinie, zwischen
I\'olen und Litauen (soweit es die militärische Situation zuließ)
eine Demarkationshnie festzustellen, die als Provisorium, also
nicht als irgendwie endgültige Entscheidung, gelten sollte, bis
^e Streitigkeiten gelöst seien. Ueber diese Linie einigte man sich
7. Oktober zu Suwalki. Wilna blieb dabei den Litauern und
î\'olen beruhte darin, „mit Rücksicht auf die von den Westmächten
ansgesprochenen Wünschequot;. Am 9. Oktober aber erfolgte der
Handstreich des Generals Zeligowski, der das ganze Wilnaer Gebiet
wieder faktisch an Polen brachte. Der Vorsitzende des Völkerbund-
rates nannte dies in einer Note an den polnischen Vertreter „une
violation des engagements pris vis-à-vis du Conseil de la Société
des Nationsquot;.

Nach wiederholten Protesten fügte sich der Völkerbundsrat
in die geschaffene Lage. Zunächst sollte ein Plebiszit entscheiden,
^ber Zeligowski zog seine Truppen nicht zurück und die Sowjet-
yegierung mischte sich in die Angelegenheit. Sie hatte mit Polen
^zwischen am 12. Oktober 1920 einen Präliminarfrieden zu Riga
geschlossen
und sah sich in ihren Interessen und ihrer Sicherheit
bedroht. Sie habe im Moskauer Frieden vom 12. Juli 1920 Litauen
das Wünaer Gebiet abgetreten und habe die litauischen wie die
eignen Interessen zu wahren. Die Polen hingegen meinten, daß
Rußland sich in dem Rigaer Präliminarfrieden für alle jenseits
der darin festgestellten russisch-polnischen Grenze gelegenen Ge-
biete desintcressiert habe und demnach zu keinerlei Intervention
berechtigt sei. Als man in Völkerbundskreisen einsah, daß es sich
bier um einen von Zeligowski im Einverständnis mit der polnischen
Regierung geplanten Handstreich handelte und diese Regierung
m keiner Weise nachgab, stand man von dem Gedanken des
J^iebiszits ab, da dies bei den herrschenden Umständen doch keiner-
lei Wert haben würde, und schlug direkte Veriiandlungen zwischen
den Parteien vor.

•^ni. 18. März 1921 wurde zu Riga zwischen Polen, Rußland
^nd der (Sowjet) Ukraine ein endgültiger Friede geschlossen, in
dem die heutige Ostgrenze Polens festgesetzt wurde. Sie deckte
Sich ungefähr mit den Forderungen des Pariser Nationalkomitees.
Ueber die polnisch-litauischen Gegensätze sollten diese beiden
Staaten allein zu entscheiden haben, während sowohl Polen, wie

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Rußland und die Ukraine auf alle Rechte und Ansprüche auf die
im Vertrage der andern Partei zugewiesenen Gebiete verzichteten.

Die russisch-polnischen Territorialgegensätze waren demnach
durch das Schwert entschieden worden. Am 15. März 1923 aner-
kannte ein Beschluß des Botschafterrats die im Rigaer Vertrage
vereinbarte polnisch-russische Grenze mit der Bemerkung den bei-
den Staaten gegenüber, daß diese Grenze „sousleurresponsabihtequot;
festgesetzt sei. Man legte sich bei einem Faktum nieder, versagte
aber den Polen auch auf diese Weise die Garantie ihrer Ostgrenzen.

Die polnisch-litauische Frage schleppt sich noch bis heute,
im Grunde ungelöst, weiter. Ueber sie soll im folgenden Kapitel
gehandelt werden.

Kurz zusammengefaßt ergibt sich aus dem Obigen, daß seit und
nach dem Weltkriege die ganze pohlische Frage, ihre vorgeschla-
genen Lösungen, wie ihre endgültige Lösung, durchaus von äußeren
Umständen und poHtischen Ereignissen bestimmt worden ist.

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DIE PROBLEME DER NACHKRIEGSZEIT.

^ Die Friedensschlüsse haben die polnischen Territorialfragen
keineswegs endgültig gelöst. Der Verlauf von beinahe allen Gren-
zen wurde durch kriegerische Aktionen diktiert, folglich aber nur
zwangsweise anerkannt. Beinahe alle Grenzen Polens sind bestrit-
ten, beinahe alle Grenzgebiete bilden die Objekte mannigfacher
latenter oder akuter Konflikte. Man möchte meinen, daß wenig-
stens die Berechtigung freier Existenz des polnischen Volkes, in
wie engen Grenzen es denn auch sein möge, allgemein ist, aber
^ogar hierin würde man sich täuschen. ^

Es seien hier die Probleme dem Verlaufe der Grenze nach von
^est nach Ost besprochen.

Es ist an erster Stelle die Danziger Frage zu erwähnen. Sie
^st nicht mehr eine nur polnisch-deutsche Frage, sondern, da der
Völkerbund die Garantie des Freistaates übernommen hat, eine
durchaus internationale. Jeder Vorschlag zur Abänderung des
Danziger Status würde dem Urteile und der Genehmigung aller
^ignatarmächte des Völkerbundpaktes unterworfen werden
müs-
^en. Von irgendwelcher nur bilateralen Auseinandersetzung der
beiden unmittelbar interessierten Parteien kann demnach nicht
^ehr die Rede sein. Welcher Art eine eventuelle Abänderung des
Danziger Status sein könnte, ist hier nicht zu erörtern. Es genügt
darauf hinzuweisen, daß Deutschland seine Ansprüche auf das
^rein deutschequot; Danzig keineswegs aufgegeben hat, daß aber an-
dererseits, während anfänglich das Verhältnis Danzigs zu Polen
gespanntes war, in letzter Zeit eine gewisse Annäherung

J^as vorliegende Kapitel stützt sich hauptsächlich auf Zeitungsnotizen,
^ill sich nicht in den Irrgarten politischer Prophezeiungen begeben,
Ebensowenig durch ,,Vorschläge zu objektiven und gerechten Lösungenquot;
®«ndigen, sondern lediglich ein Bild der sidi in der Tagespresse spiegelnden
j bekämpfenden Anschauungen skizzieren.

öiehe z.B. den gewisse Geschichtsbetrachtung typierenden Aufsatz von
Langguth „Die pohtische Lagequot; in den Süddeutschen Monatsheften.

I Oktober 1926,

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stattgefunden hat und sich die Gegensätze etwas auszugleichen
scheinen.

Deutschlands augenbhckliches Verhältnis zu Polen, auch hin-
sichthch der Territorialfragen, beruht, noch abgesehen vom Kellogg-
pakte und dem Artikel lo der Völkerbundssatzung, hauptsächhch
auf dem deutsch-pobiischen Schiedsgerichtsvertrage von Locamo,
m dessen Präambel die Parteien „constatent que le respect des
droits établis par les Traités, ou résultant du droit des gens, est
obligatoire pour les tribunaux internationauxquot; und sich damit
einverstanden erklären „pour reconnaître que les droits d\'un
Etat ne sauraient être modifiés que de son consentementquot;, und
in dem weiter für alle zukünftigen Streitigkeiten zwischen ihnen
friedliche Schlichtungsmittel vorgesehen werden.

Aus diesem Vertrage, im Lichte des ganzen Komplexes der Ver-
träge von Locarno, insbesondere des Rheinpaktes, betrachtet, ergibt
sich, erstlich,
daß deutscherseits die Grenzen des Reiches nach
polnischer Seite nicht als definitiv anerkannt werden S dann aber
auch, daß, wenn auch Grenzveränderungen durch
Waffengewalt
und durch Anrufung eines Schiedsgerichtes ausgeschlossen werden,
aUe anderen Mittel, die eine Grenzveränderung bewirken könnten,
vorbehalten bleiben: so zum Beispiel friedliche Einigung, Appell
an Artikel 19, vieUeicht sogar an Artikel 15 2 der Völkerbunds-
satzung, oder .... der ökonomische Krieg.

1 Siehe Nieuwe Rotterdamsche Courant „Stabilisatiequot; Avondblad C. i. lH
1928 und Avondblad C. 2. III. 1928.

\' In Schücking-Wehberg, Die Satzung des Völkerbundes. 20 Auflage. Seite
591—592, liest man: „Das Selbstbestimmungsrecht der Völker ist in der
Völkerbundsakte nirgends festgelegt. Es steht daher im Ermessen des
Rates, ob z.B. einem eventuellen Verlangen Deutschlands, daß in den an
Polen bedingungslos abgetretenen früheren deutschen Gebieten eine
Völker-
abstimmung stattzufinden habe, nachgegeben werden sollquot;. Wenn diese
Annahme berechtigt ist und der Rat tatsächlich die Entscheidung über
eine solche Abstimmung nicht zu einer innerpolitischen polnischen Frage
erklären
würde (und es ist nicht einzusehen, weshalb der Rat sich in dieser
Frage durchaus inkompetent erklären müßte), so könnte Artikel 15 der
Satzung Anwendung finden. Würde der Rat dann nach Maßgabe der darin
enthaltenen Bestimmungen einstimmig zu einem gewissen Lösungsvorschla-
ge kommen, so wären die Parteien zum mindesten theoretisch daran gebun-
den. Würde diese Einstimmigkeit aber nicht erreicht werden, so
würden
die Parteien volle Handlungsfreiheit behalten, und könnten nötigenfalls zU

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Deutschland hat diesen letzten Weg schon einmal gewählt, aber
ohne Erfolg i. Es ist ihm nicht gelungen, durch die Abschnürung
Wesentlicher Absatzgebiete und deren Rückwirkung auf Handels-
bilanz und Währung Polen einer gefährhchen Wirtschaftskrise ent-
gegenzutreiben, deren Folgen politische Wirren und „Revisions-
niöghchkeitenquot; sein könnten. Deutschland will an erster Stelle
das „Koloniallandquot; Ostpreußen nicht aufgeben und dieses Gebiet
wieder unmittelbar mit dem des Reiches vereinigen; aus haupt-
sächlich nationalen Gründen also begehrt es den „Korridorquot;, durch
dessen Besitz es zu gleicher Zeit auch die Weichselmündung und
dadurch ökonomisch das ganze Hinterland beherrschen würde;
es begehrt die wertvolle „Kornkammerquot; Posen und den ökonomisch
noch wichtigern polnischen Teil Oberschlesiens. Es spielen hier
also nationale, ökonomische und schließlich auch Machtsmotive
eine Rolle. Polen dagegen begehrt den ungetrübten Besitz seines
oberschlesischen Gebietes und Posens aus denselben ökonomischen
nnd nationalen Gründen (obwohl nicht sosehr als „Verbindungs-
stückequot;. sondern mehr als polnisches Siedlungsgebiet), wie auch
den des
„ethnographisch polnischenquot; Korridors, des „freienquot; Aus-
wegs zum Meer. Und nach Zaleski\'s Worten 2 ist dieser Ausweg
zum Meer „für einen Staat von 30 Millionen Seelen nötiger als die
Landverbindung einer Provinz von 2 Millionen Seelen mit dem
übrigen Deutschlandquot;. Implicite will dies sagen, daß auch hier der
Machtfaktor eine Rolle spielt, — die Furcht vor Machtmißbrauch
seitens des Nachbarn. Es hat keinen Zweck, sich an dieser Stelle
n^it ethnographisciien Einzelheiten, mit ökonomischen „Notwen-
digkeitenquot;, mit „politischen MögUchkeitenquot; und „militärischen Ge-
fahrenquot; auseinanderzusetzen, deren einwandfreie Feststellung,
sicher insofern es die drei letztgenannten betrifft, vollkommen

Unmöglich ist. Die Anschauungen hierüber — denn es handelt sicli

hier schließlich immer nur um Anschauungen, um per-
kriegerischer
Auseinandersetzung greifen. Diesem Lösungsmittel würde sich
^ann zwar wieder der Kelloggpakt widersetzen. Inwiefern es möglich wäre,
dessen Bestimmungen für den gegebenen Fall wieder auszuschalten, mag hier
^nerörtert bleiben. Es genügt festzustellen, daß das Ost-Locamo theoretisch
®ogar noch kriegerische
Auseinandersetzung zuläßt.
^ Siehe Nieuwe Rotterdamsche Courant Ochtendblad D 11. XII. 1927.

Siehe Nieuwe Rotterdamsche Courant 8. I. 1929 Avondblad C.

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sönliche Wertmessung kaum greifbarer, aber oft sich unwider-
stehlich durchsetzender Dinge — haben sich in den letzten Jahren
schon oft so eingreifend geändert, daß man sich persönhcher Stel-
lungnahme ihnen gegenüber (auch mit den besten und unpar-
teiischsten Absichten) kaum voUkommen genug enthalten kann.

Es genügt hier festzustellen, daß beide Parteien sich bei der
Begründung ihrer Wünsche und Ansprüche auf dieselben Grund-
sätze berufen, sei es auch aus verschiedenen Gesichtswinkeln:
auf nationale, ökonomische und (strategische oder) Machtserwä-
gungen. Es ergibt sich hieraus also, daß diese Grundsätze so allge-
mem, so elastisch und wenig festumrissen sind, daß sie sich auf
ungefähr alle Verhältnisse und Forderungen anwenden lassen,
ohne die Lösung des Problems zu erleichtern, oder auch nur die
entgegengesetzten Standpunkte in deutliche, objektive, kontrol-
lierbare und unanfechtbare Formulierungen zu kleiden\'. Es mag
einleuchten, daß auf diese Weise eine „einzig mögliche und rich-
tige Lösungquot; des Konfliktes nicht zu geben ist. Es sind viele mög-
lich, ganz unerwartete, aus den zufälligen Umständen und Ver-
hältnissen sich ergebende. Die jedem einleuchtenden, allgemein
anerkannten, kategorischen Grundsätze festumrissenen, deut-
lichen Inhalts, fehlen eben: es gibt nur Tendenzen, Rich-
tungen in denen man eine Lösung suchen kann, ohne daß sich je
eme „einzig mögliche und gerechtequot; Lösungsart feststellen ließe.

Es sind hier latente Konflikte vorhanden. Wann und unter
welchen Umständen sie akut werden können, braucht hier nicht
erörtert zu werden; welche ihre Lösung sein kann, ist hier zu
erörtern überflüssig; welche ihre Lösung sein soll, ist nach der
Meinung des Verfassers überhaupt nicht auszumachen. Es genügt
darauf hinzuweisen, daß nationale, ökonomische und strategische
Erwägungen sicherlich eine Rolle spielen werden und daß jeden-
falls irgendeine Lösung gefunden werden muß,
wenn man sich wenigstens nicht, um den allgemeinen Frieden zu
wahren, omnium consensu zur Handhabung des Status quo ent-
schließen sollte.

Dennoch möchte man deutscherseits das Problem gern aus
der Sphäre der Relativität aller Werte hinausheben und auf
ent-
scheidende Weise die ausschließliche Berechtigung des eignen
Standpunktes klarlegen. Am besten eignet sich hierzu die
Methode

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historischer Begründung, die das Problem dem Wirrsal der zeit-
genössischen Anschauungen entrückt. Ein solcher Versuch sei hier
als Beispiel geschildert.

Dr. W. von Boeckmann^ bezeichnet als Volksgrenze der Ger-
nianen zu Beginn unserer Zeitrechnung nach Osten hin die Weichsel.
Ich zitiere: „Die ganze Grenzmark, auch heutiges Slawenland war
germanische Heimat. Die Völkerwanderung bringt das ganze ge-
schlossene Siedlungsgebiet von der Weichsel bis zum Rhein in
Bewegung, zum ersten verhängnisvollen Strom von Ost nach West.
In furchtbaren Flutwellen branden die germanischen Stämme über
die Grenzen, errichten die glänzenden Kriegerstaaten der Goten,
Vandalen. Langobarden und versinken im Heldenkampf vor über-
niächtigem Gegner. In die verlassenen Ostgebiete rückte der Slawe
langsam und vorsichtig nach. Das Endergebnis war die Einpressung
der deutschen Stämme zwischen Elbe und Rhein. Niemals konnte
diese Grenze dem wachsenden Volk genügen. Der Gegenstrom von
besten nach Osten beginnt unter Karl dem Großen und wird unter
den Sachsenkönigen wesentlich militärisch vorgetragen. Die däni-
sche Nordmark, die slawische Ostmark und die avarische Südmark
^jnd Bollwerke starker Herrscher, zuerst als Schutz gegen feind-
liche Einwirkungen gedacht, dann aber von selbst in die Aufgabe
deutscher Ausfallstellung hineinwachsend. Von ihnen gewinnt die
Ostmark als naturgewiesener Weg in die alte
^ o 1 k s h e i m a t 2 die größte Bedeutung .... (zwei Seiten wei-
• • • ■ Es ist ergreifend, %vie gerade die Urheimat der
andalen und Burgunder immer wieder im uralten Hei-
^a t d r a
n g hartnäckig umspült wird .... (und am Schlüsse). . .
ir haben diese reichen und uralt deutschen Gefilde,
^e wir zu unserer Grenzziehung so nötig brauchen wie der Ernte-
sehnitter den Arm, verioren .... usw.quot;

Es wird hier zwar nicht unumwunden ausgesprochen, aber doch
^ur allzu deutlich suggeriert: „Im Anfange haben die Germanen
^ni Gebiete zwischen Oder und Weichsel gesessen und diese Tat-

pSiehe seinen Aufsatz: Deutsche und Polen in der Ostmark, in ,,Das neuc
Olenquot; Heft 1 Oktober 1926 der Süddeutschen Monatshefte. Sehr verwandte
Polnische Gedankengänge dagegen widerlegt Dr. M. Haubert im Anfange
Aufsatzes „Polens geschichtliche Entwicklungquot; (ebenda),
^on mir spatiiert.

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Sache gibt den Deutschen ein unanfechtbares Recht auf diese
Provinzenquot;. Man kann in der Tat der Situation irgendeines „An-
fangesquot; große Bedeutung beimessen; es ist dies eine Sache, zwar
sehr subjektiver, aber ziemlich aUgemein verbreiteter Anschau-
ungen. Hierum aber handelt es sich nicht; der Kern der Sache hegt
anderswo: „im Anfangquot; war ganz etwas anderes! Es ist genau so
willkürhch und unlogisch, die Geschichte der Germanen im Jahre
eins anfangen zu lassen, wie die der Polen im Jahre
1920. Die
Unhaltbarkeit des Satzes: „die Tatsache, daß die Polen im Jahre
1920 über den Korridor und Posen herrschten, gibt ihnen einen
unanfechtbaren Anspruch auf diese Gebietequot; ist einleuchtend und
doch ist er mutatis mutandis mit dem ersten identisch. Die Ge-
schichte der Germanen geht eben auch weit über das Jahr eins
zurück, und die Tatsache, daß wir von dieser Vorgeschichte nichts,
oder kaum etwas wissen, berechtigt noch nicht sie einfach zu
ignorieren. Die Germanen sind nicht zwischen Elbe und Weichsel
aus der Erde gekrochen, und selbst wären sie das, und wollte man
dieser Tatsache eine entscheidende Bedeutung zumessen, so ver-
gäße man dann, daß sie gerade durch üire Massenauswanderung
während des „ersten verhängnisvollen Stroms von Ost nach Westquot;
doch recht deuthch zu kennen gegeben haben, daß ihnen am Be-
sitze des Gebietes zwischen Elbe und Weichsel nichts lag. Und
gibt es in Europa nicht ziemlich allgemein anerkannte Anschau-
ungen über die „res derelictaquot;? Aber hier gleite ich selbst
zwecklos
auf gefährliche Wege ab. Es genügt festzustellen, daß die Begrün-
dung^ des Dr. von Boeckmann keine Wissenschaft ist, sondern
Demagogie in quasi-wissenschaftlichem Kleide. Wenn man will-
kürlich gewählten Tatsachen irgendwelche Wirkung
anerkennt,
so kann diese Wirkung nie entscheidend sein, da sie ja mit w i H\'
k ü r 1 i c h e n Annahmen begründet wird, ganz noch von dem
Umstände abgesehen, daß die Anerkennung entscheidender Wir-
kung reine Anschauungssache ist und in dieser nicht exakten Ma-
terie nie wissenschaftlich begründet werden kann. Solche
Begrün-
dungen sind außerdem gefährlich, da sie der wenig nachdenklichen
großen Masse, an die sie sich richten, überzeugend scheinen und
so zu schweren Folgen führen können.

^ Ein ganz ähnlicher Gedankengang fand sich in Dmowskis Bemerkungen
über Ostpreußen. Siehe oben Seite

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Die südwestliche, heutige tschechisch-polnische Grenze, welche
zum Teile (in den Gebieten von Teschen, Orawa und Spits) durch
Beschlüsse des Botschafterrats von 1920 und 1921 fixiert worden
jst, verläuft, bis auf nicht allzu wesenthche Veränderungen, wie
iu früheren Jahrhunderten; irgendwelche tiefgehenden Gegensätze
Werden dort wohl nicht zu Tage treten. Anders steht es mit den
südösthchen Grenzen, dem ganzen ostgaUzischen Gebiete. Es ist
das alte, handelspolitisch so wichtige ruthenische Land, das auch
heute noch militärisch und ökonomisch für Polen großen Wert
hat, da es ihm die direkte Landverbindung mit dem rumänischen
Bundesgenossen sichert. Wichtig ist es auch durch seine Oelfelder
geworden, die sich hauptsächlich in englischen und französischen
Händen befinden^ und diese „Interessen Dritterquot; werden die
Lösung kommender Konflikte beeinflussen.

Gegensätze bestehen und entwickeln sich in Ostgahzien; denn
das Land ist gemischt besiedelt: polnische Intelligenz und Kultur
Und breite ruthenische Unterschicht, die sich sprachlich und reli-
giös dem ukrainischen Lande verbunden fühlt und sich mit ihm
auch staatlich vereinigen möchte, wie auch am Ende des Welt-
krieges von Seiten der gaUzischen Ukrainer vergebens versucht
Worden ist. Jener Ukraine wird die „Berechtigung nationaler
Existenzquot; russischer-, sowie polnischerseits gern abgesprochen,
ihrer Sprache nur die Bedeutung eines Dialektes zugelegt. Sol-
eheriei Bewertungen aber haben wenig Sinn; ein ukrainischer Staat
besteht schon als Zentrum mit starker Anziehungskraft, und wenn
fuch heute noch der Gegensatz: Kapitalismus — Kommunismus

jenen Gegenden eine große RoUe spielt, so ,,wächstquot; dort doch
eine
Nationalität ^ und eines Tages kann sie sich stürmisch mel-
den. Ueber die Art und die Lösung solcher Konüikte kann das-
selbe gesagt werden, wie oben über die deutsch- polnischen Gegen-
sätze. Es hat keinen Sinn, sich an Prophezeihungen zu wagen oder
die „beste Lösungquot; vorzuschlagen. Es wird sich die Lösung durch-
setzen. die entweder den Schein der „besten Lösungquot; für sich hat,
oder über die entscheidenden Machtmittel verfügt,
^^^i
^gleiches güt von dem polnisch-weißrussischen Verhältnis.

I Siehe I. Bowman The New World rev. ed. London etc. 1924 Seite 344.

Siehe z.B. das Kapitel Lembergquot; in A. Döblins anregender„Reise in
Polenquot;. Berlin ,926. quot;

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Auch hier ist ein „nationalerquot; Staat anerkannt, dessen ethnogra-
phische Grenzen beträchtlich über die des Staates hinausgehen,
wenn auch hier ein nationales Leben und nationale Kultur noch
kaum entwickelt sind. Die Bevölkerung gravitiert aber eher
nach
Großrußland, als Anhänger des griechischen Bekenntnisses, wäh-
rend wertvolle strategische Grenzen gerade an der großrussischen
Seite liegen. Der kapitalistisch-kommunistische Gegensatz macht
sich augenblicklich auch hier geltend und eine, jedenfalls vor-
läufig, friedliche Gesinnung als Folge der unverweilten Anerken-
nung der Grundsätze des Kelloggpaktes durch das Litwinoff-
Protokoll, macht baldige Zusammenstöße nicht vereinbarer An-
schauungen unwahrscheinlich; daß sie aber in Zukunft sich ein-
stellen werden, ist anzunehmen.

Bei weitem am interessantesten, durch ihren akuten Charakter,
ist aber die Wilnaer Frage. Sie rollt ungefähr alle Anschauungen,
Grundsätze und Theorien auf, die in der neuen Staaten weit je
geherrscht haben; bei ihr stellen sich all die Umstände und Ver-
hältnisse ein, die die Lösung des Problems von jeher
erschwert
haben. Es sei darum am Ende dieses ersten Teiles auf sie, als
„Rekapitulationquot;, näher eingegangen.

Während der ersten Konsolidationswirren der jungen osteuro-
päischen Staaten trat ein polnisch-litauischer Konflikt über den
Besitz des Wilnaer Gebietes hervor, den die litauische
Regierung
durch die militärische Besetzung des Streitobjektes, während des
russisch-polnischen Krieges im Sommer 1920 zu ihren Gunsten ent-
schied. Auf diese miUtärische Lösung der Frage antwortete die
polnische Regierung ihrerseits mit einer militärischen Aktion: am 9.
Oktober 1920 eroberte General Zeligowski, „in Rebellion gegen
die Autorität seiner Regierungquot;, Wilna zurück.

Es entstand hier ein akuter Konflikt, durch kriegerische Hand-
lungen schon kompliziert. Welche waren nun die Anschauungsge-
gensätze, die ihn hervorriefen?

Die litauische Regierung stellt fest, daß Wilna die Hauptstadt
des alten litauischen Großherzogtums gewesen ist und folglich
auch der Kern des neuen Staates sein muß; daß ferner die Tat-
sache, daß man heute in der Stadt eine polnische Mehrheit
findet,
nur auf Migration zurückzuführen ist, also auf ein freiwilliges

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dem litauischen Staatsverbande Sich-einfügen beruht und nie der
Grund zu einer Annexion aus ethnographischen Motiven werden
kann. Man stellt also Tatsachen fest und spricht ihnen einseitig
einen gewissen entscheidenden Wert zu. Zum Beispiel: Wilna war
litauische Hauptstadt und diese Tatsache allein hat über ihr heu-
tiges Los zu entscheiden. Historische „Rechtequot;, historische Zuge-
hörigkeit entscheiden auch über heutige Zugehörigkeit. Es ist dies
die Methode der historischen Begründung, der man gewisse Ge-
fühlswerte nicht aberkennen kann. Sie kommt aber meistens mit
Sich selbst in Widerspruch; so auch hier, denn wenn die polnische
I^egierung daran erinnert, daß zwischen den beiden Ländern vier
Jahrhunderte lang eine stets enger werdende Union bestanden
hat, und eine Erneuerung dieser Union suggeriert, verwirft die
htauische Regierung diesen Plan entschieden mit der Begründung,
»die Verhältnisse seien nicht mehr dieselbenquot;, die Litauer seien
eine Nationalität im modernen Sinne, und wollten ein eignes Leben
eignen Staat und könnten sich nicht mit den Polen in einem
Staate zurechtfinden. Nach ihrem eignen Urteile ist hier die histo-
rische Begründung doch wieder nicht die richtige und entschei-
dende. Sie kommt mit einem neuen Grundsatz: der Intensität
eignen nationalen Lebens und der Unversöhnlichkeit nationaler
Gegensätze. Diese Umstände beruhen aber wiederum auf sehr
persönlichen Urteilen, deren Stichhaltigkeit sich in keiner Weise
teststellen läßt. Aus Ausbrüchen und Handlungen kann man
höchstens a posteriori über die Intensität gewisser Gefühle urteilen
Und auch dann noch keineswegs mit vollkommener Sicherheit. A
priori läßt sich dagegen über diese Intensität nichts mit Bestimmt-
est sagen, ebensowenig wie über Konfliktmöglichkeiten nach
eventueller Union oder Inkorporation. Nur dies kann man fest-
gellen: daß bei dem sehr ungleichen Zahlenverhältnis der beiden
olker die Wahrscheinlichkeit einer vollkommenen „Assimila-
spnquot; und eines Verschwindens der nationalen Eigenart für die
f-itauer groß ist. Daß sie sich dem aus aller Macht widersetzen,

ist begreifhch.

Es gibt aber noch mehr Gründe, die den Besitz Wilnas für Litauen
begehrlich machen und den Eindruck einer entscheidenden Be-
gründung wecken. Litauen kann ohne das Gebiet von Wilna
ökonomisch als selbständiger Staat nicht bestehen. Auch das läßt

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sich aber nicht einwandfrei feststehen; es ist eine Ueberzeugung
und nichts mehr als das. Man wäre überdies geneigt zu sagen: wenn
Litauen als rein ethnographischer Begriff nicht bestehen kann, so
hat es keinen Gnmd, staathche Selbständigkeit mit der alleinigen
Begründung nationaler Eigenart für sich zu verlangen. Hier aber
gleite ich wieder unversehens in die Domäne persönlicher An-
schauung hinüber, die bei wissenschaftlicher Erörterung gemieden
werden muß.

Pohiischerseits wird hauptsächhch ausgeführt, daß das Gebiet
von Wilna überwiegend polnisch besiedelt ist und aus diesem
Grunde dem polnischen Staatsverbande angehört, daß übrigens der
litauische Standpunkt inkonsequent sei, da ein sich ,,rein nationalquot;
nennender Staat schwerlich die Inkorporation fremdvölkisch be-
siedelter Gebiete verlangen kann. Seinerseits aber ist auch wieder
der polnische Standpunkt inkonsequent, da ein nicht „rein natio-
nalerquot; Staat wie der polnische das Nationalitätsprinzip doch
nicht
als den entscheidenden Faktor bei Territorialkonflikten anrufen
kann.

Es handelt sich hier also um einen typischen Konflikt, aus dem
man sich auf keine alle befriedigende und ohne weiteres einleuch-
tende Weise retten kann. Während der Jahre 1920—1922 hat man
vergeblich versucht, zwischen den beiden Standpunkten zu ver-
mitteln. Die Lage ist aber noch komplizierter. Eine formeUe Er-
klärung der Vertreter der Bevölkerung des Wilnaer
Gebietes
erklärt sich am 20. Februar 1922 für den Anschluß an Polen. Die
Vertreter Englands, Frankreichs und Italiens warnen in
Warschau
vor einer ,,annexion pure et simplequot;, aber die Erklärung wird
am 24. März 1922 vom polnischen Parlament anerkannt und be-
kräftigt. Auf die schon früher erfolgten formellen Anfragen der
litauischen und der polnischen Regierung hin stimmt die Gesand-
tenkonferenz darin zu, Polen gegenüber dazu noch kraft Art. 87
des Versailler Vertrages berechtigt, eine Entscheidung über die
Zugehörigkeitsfrage des Wilnaer Gebietes zu treffen und
anerkennt
in ihrem Spruche vom 15. März 1923 die Anrechte Polens. Diese

Gesandtenkonferenz ist der Rumpf jenes „Concert Européenquot;, jener

Konferenzen europäischer Großmächte, die ein Jahrhundert lang mit
wechselndem Erfolg politische Gegensätze ausglichen und drohen-
de Kriege beschworen. Ihre Funktion wurde von den
Hauptor-

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ganen des Völkerbundes übernommen; auch war sie in jenen
Uebergangsjähren nicht mehr vollzählig, da die Vertreter Rußlands,
Deutschlands und Oesterreichs fehlten. ^ Dennoch hatten ihre Ent-
scheidungen den Wert, in gewissem Maße die öffentliche Meinung
Europas zu widerspiegeln. In diesem besonderen Falle war sie
sogar berufen einen Schiedsspruch zu tun. Ihr Urteil war für
Litauen ungünstig und stützte sich offenbar auf die Anerkennung
des Nationalitätsprinzips als entscheidenden Faktor. Am 20.
^Pril 1923 anerkannte der Völkerbundsrat dieses Urteil, an dessen
Fällung die bedeutendsten seiner Gheder mitgewirkt hatten. Man
meinte Litauen zufriedenstellen zu können, indem man ihm die
freie Hand im Memelgebiet ließ, das litauischerseits im Januar
desselben Jahres besetzt worden war. Aber man verrechnete sich;
Litauen zeigte sich keineswegs gewillt, den Schiedsspruch anzuer-
kennen. So bildete jene, vielleicht zu übereüt getroffene Entschei-
dung eine neue, unerwartete Komplikation der Lage. Die oben-
genannten Entscheidungen machen den Eindruck, ein „Handelquot;
^^ sein. Dieses Wort hat einen herabsetzenden Beigeschrhack und
doch gibt keins gerade besser als dieses die wahre Art all jener
Erörterungen und Lösungen territorialer Fragen wieder.

Wenn man ferner in Rechnung zieht, daß Polen keineswegs der
Gruppe der kleinen Mächte angehört, sich eher langsam zu einer
Ueuen Großmacht entwickelt und nach dem Urteile ebenjencr
\'•öffentlichen Meinung Europasquot; nicht mehr ohne weiteres zur
uerkennung irgendeiner Auffassung Dritter gezwungen werden
inn, so leuchtet es ein, daß Polens Stellung in diesem Konflikte
Urch die unerwarteten Folgen jener „öffentlichen Meinungs-
äußerungquot; doppelt gestärkt wurde.

. Litauen ist in die Defensive getrieben. Es will nicht auf Rechte
^men Verzicht leisten, der von der Mehrheit seiner Bcvolkeumg
^^eht gebilligt werden würde, und büßt durch das Auftreten seines
quot;Diktatorsquot; die
Sympathie Europas ein, ohne daß diese „euro-
paische Stellungnahmequot; sich irgendwie auf eine wirklich entschei-
^ude Bewertung des
Streitfalles an sich zurückführen Heße. Sie
^zieht sich mehr auf den Diktator als auf den Fall. Auch Polen
S2hi.un^stark diktatorialem Einfluß; die Führung der Unter-

.-vu^r^^^® dagegen waren dazu gekommen: Vertreter Japans und anfänglich
I der Vereinigten Staaten.

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handlungen hängt von einzelnen Persönlichkeiten ab, deren Talente
und Charaktere beträchthches Gewicht in die Schale werfen.

Die litauische Diktatur hat aber noch andere Konsequenzen.
Der Staat ist schwach und innerhch keineswegs ausgeglichen. Der
herrschenden Gewalt steht eine starke Opposition gegenüber
und
die Möglichkeit innerer Wirren ist nicht ausgeschlossen. Eine Re-
volution aber kann den Staat dermaßen schwächen, daß er
zeit-
weihg das widerstandslose Objekt der Politik anderer, seiner Nach-
barn, werden kann, hauptsächUch wenn sein Gebiet für diese
großen ökonomischen und strategischen Wert hat. Denn das
sind
letzten Endes die Hauptmotive auch jenes Streites um den Besitz
des WUnaer Gebietes, wenn man sie auch Ueber nicht
zuviel erwähnt.
Durch die genannte Revolutionsgefahr und ihre mögUchen Folgen
halten die „Rechte Dritterquot;. aU derer, die Verwicklungen,
Kriege
und Veränderung der Machtverhältnisse fürchten, ihren Einzug.
Wieder macht sich der Einfluß „unvorhersehbarer Umständequot;
geltend.

Verwicklungen drohen jeden Augenblick. AnläßUch eines Kon-
gresses in Wilna im November 1927 drückt die Iszwestia ihre
Befürchtungen betreffs der „drohenden Inkorporation
Litauens
durch Polenquot; aus. Sie konstatiert Manövervorbereitungen, die
Einberufung von Reservisten, die wachsende Tätigkeit der Waf-
fenindustrie, die Anwesenheit gefährlicher Elemente in der Nähe
der Grenze, die herrschende Kälte als günstigste Zeit zu
kriegeri-
schen Unternehmungen in morastigen Gebieten und schheßUdi
das warnende Beispiel der früheren Inkorporation des Wilnaer
Gebietes und die Agitation der politischen Flüchtlinge in Rig^
und Wilna ^ Es ist einleuchtend, in wie hohem Maße
dergleichen
Suggestionen auf die Furcht und die Einbildungskraft des Schwä-
chern einwirken müssen, zumal wenn er von aller direkten Ver-
bindung mit dem „Feindequot; abgeschlossen ist und jede
Nachricht
durch den Filter der Presse seiner Nachbarn erhält. Solchc Ein-
flüsse, heben das Verhältnis aus der Sphäre ruhiger
Verhandlungei^
heraus und provozieren unerwartete, gewalttätige Eingriffe

» siehe Nieuwe Rotterdamsche Courant (weiterhin abgekürzt zitiert
N. R. Crt.) Ochtendblad (weiterhin abgekürzt als O.) C. 22. XI. 1927 quot;quot;
Avondblad (weiterhin abgekürzt als A.) D. vom 25. XI. 1927 und O. C-
vom 26. XI. 1927.

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Lösungen, die entweder auf der „Ausnützung günstiger Umständequot;
oder auf der Furcht vor gefährUcheren Komphkationen beruhen.
Die Anwesenheit bewaffneter Banden in der Gefahrzone kann
schließhch zu Uebergriffen führen, aus denen sich ein regelrechter
I^rieg entwickelt, ohne daß man mit Bestimmtheit die „Anfalls-
Parteiquot; anweisen könnte. Da stürzen aUe Verträge, alle mit den
besten Absichten getroffenen Vereinbarungen eines Kelloggpaktes,
yor der Macht der Umstände restlos in sich zusammen, ohne
jeglichen Einfluß auf die eben nicht zu meisternde Situation. All
dies zeigt mit größter Deutlichkeit, in wie geringem Maße die Par-
teien unter Umständen die Lösung des Konfliktes in Händen haben.
Es zeigt aber auch, wie Dritte in den Strudel hineingezogen werden,
^le Konflikte „internationalquot; werden und „berechtigte Interessenquot;
der Staatengemeinschaft, der hauptsächlich an der Vermeidung
^kriegerischer Aktionen und allzu großer Veränderungen in den be-
stehenden Machtverhältnissen liegt, Einfluß und Anerkennung
Verlangen. Es sei hier auf diese „Rechte Dritterquot; näher einge-
gangen 1.

Die Liquidation der russischen Front hatte logischerweise eine
neue Orientation Deutschlands im baltischen Gebiete zur Folge.
I^ie
Konstitution des neuen Litauen \\vurde am ii. Dezember 1917
»Landesratquot; proklamiert und sali die Gründung, unter
deutschem Schutze, eines unabhängigen, Deutschland durch ein
ewiges Bündnis, durch Militär-, Verkehrs-, Zoll- und Währungs-
konventionen verbundenen Staates vor. Deutschland anerkannte
Unter den genannten Bedingungen die Errichtung des neuen Staa-
es am 24. März 1918. Als Hauptstadt wurde Wilna genannt, des-
sen
Bevölkerung aus einer litauischen oder zum mindesten „poloni-
^lerten litauischenquot; Mehrheit bestehe. Uebrigens sei auf alle Fälle
as Entstehen einer „polnischen Barrierequot; zwischen Litauen und
er Ukraine zu vermeiden.

.Spätere Ereignisse haben diese deutsch-litauische Orientierung
jlje grundsätzlich verändert; nicht einmal die Memeler Frage.
J^eutschland fürchtet eine polnisch-litauische Annälierung. Denn
einer solchen Annälierung würde das Einwirken der polnischen
Sll!lii^ufda^eniger ent
wickelte litauische Volk schließlich eine

die Berliner Korrespondenzen in N. R. Crt. 26. XI. 1927 A. C. und
• l^-Crt. 27. XI. 1927 O. D.

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vollkommene Assimilation zur Folge haben, — darüber ist man
es sich im aUgemeinen einig. Diese Assimilation setzt aber auch
ökonomische Penetration voraus, die in gewissen litauischen Krei-
sen sogar propagiert wird, und würde schheßlich eine neue staats-
rechtliche Union der beiden Länder zur Folge haben. Der
neue
polnische Einfluß würde Deutschland ersthch im Memelgebiet
treffen: die schwache deutsche Mehrheit dieses Distriktes würde
sich viel weniger gegen Polonisierung als gegen ein Aufgehen in
die kulturell weniger entwickelte litauische Bevölkerung
sträuben
und Deutschland würde durch den Verlust dieser „Minderheitquot;
ein wertvohes Argument bei möglichen späteren „Revisionenquot; ein-
büßen. Am verhängnisvollsten würde die neue Situation aber für
Ostpreußen werden. Ganz von polnischem Gebiete eingekreist
und
der Energie des mächtigen und unternehmenden Nachbarn aus-
gesetzt, würde es allmähhch den Zusammenhang mit dem
Deut-
schen Reiche ganz verlieren und polnischer ökonomischer Pene-
tration unterhegen; auch hier könnte letzten Endes eine Union
oder Inkorporation das Ergebnis sein. Deutschland aber
möchte
gerade seinerseits Polen aus dem Korridor verdrängen, seine Ver-
bindung mit Ostpreußen wiederherstellen und sich den „Weg
nach
Ostenquot;: die Verbindung mit Rußland unter Vermeidung polnischen
Gebietes, sichern. Es ergibt sich, daß das polnisch-litauische Pro-
blem und die Korridorfrage engstens miteinander verbunden
sind.

Wie die obigen Ausführungen zeigen, handelt es sich hier um
„Möglichkeitenquot;, ,,WahrscheinHchkeitenquot;, ,.Interessenquot; und „Le-
bensbedingungenquot;, um persönliche Anschauungen und Vermu-
tungen, die zutreffen können, um persönliche Würdigung der Fol-
gen gewisser Eventualitäten, um persönliche Wünsche, die man
so formuhert, daß sie auch auf Andere den Eindruck machen, „allge-
meingültigequot;, „berechtigtequot;
Anschauungen und Interessen zu sein-
Es stellt sich also eine dritte Partei ein, mit eigenen
Ansprüchen,
die die Lösung des Konfliktes in dem Maße beeinflussen wird, in
dem entweder ihre Ansprüche als „berechtigtquot; anerkannt
werden,
oder ihr persönhcher Einfluß in der Staatengemeinschaft ein Faktor
ist. GrundsätzUch ändert sich nichts am Problem, es wird nur kom-
plizierter: es gibt jetzt drei, schließhch noch mehr
Anschauungen,
die mit einander versöhnt werden wollen. Keine der drei kann
eine nach aller Meinung wirklich entscheidende Begründung für

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die ausschließliche Berechtigung ihrer Ansprüche beibringen: man
ist gezwungen mit einander zu handeln, ein Kompromiß zu
suchen, wenn man nicht- Waffengewalt entscheiden lassen will.
Getrübt wird die Situation nur dadurch, daß diese Dritten (zumal
die
Großmächte) sich gern „Schiedsrichterquot;, „Unparteiischequot;, „Ver-
luittlerquot; nennen, während sie in Wahrheit Interessierte, „Parteienquot;
Sind. Ob es sich nun dabei um die Gesandtenkonferenz oder den
^ölkerbundsrat handelt, bleibt sich im Großen und Ganzen gleich.

Als vierte Partei stellt sich in unserm Falle Rußland ein. Seine
Interessen sind den deutschen ziemlich gleich. Der „Weg nach
stenquot; führt über Ostpreußen, Litauen und Lettland ins uner-
j^eßhche russische Gebiet; er hat nicht nur einen ökonomischen
ert (die Verfügung über ihn würde Deutschland das Monopol
er Verkehrswege im baltischen Gebiete sichern), er hat haupt-
sächlich einen strategischen Wert in einem eventuellen russisch-
Pplnisch-deutschen Kriege. Beide Staaten haben also ein strate-
Slisches Interesse am Besitze oder zum mindesten an der Unabhän-
^gkeit Litauens.

Ebenso England. Aber die englischen Interessen sind doch noch
anderer Art. England ist eine Seemacht ersten Ranges, es hat be-
utende Handelsinteressen, auch im Baltikum. Würde es Rußland
quot;quot;der Polen auf die Dauer gehngen, beträchtliche Strecken der Ost-
2 üste unter ihre Botmäßigkeit zu bringen, also die „lästigen
schenhändlcrquot;, die neutralen Randstaaten, die vom freien
Warenaustausch leben, auszuschalten, so würden sie nicht nur
Handelskonkurrenten Englands werden (indem sie
dek ausschließliche Verfügung über wichtige Häfen und Han-
lieb^^^^ verschaffen und dadurch den Handel ganz nach Be-
sond\'^ \'^\'^g^heren, kontrollieren und gar unmöglich machen können),,
ern sie würden auch auf die Dauer gefälirliche militärische
, ^rrenten werden, eine bedeutende Kriegsmarine schaffen
^ endlich nach der „Beherrschung des Baltikumsquot; streben. Die
See ^^^ ^^^ „Freiheit der Seequot;, eine der Lebensinteressen der
od
quot; Handelsmächte, geschieht am besten durch die Schaffung
^er
Erhaltung einer großen Zahl kleiner „Küstenstaatenquot;, die
sind um nach irgendwelcher Hegemonie zu streben
UnK ^^^ Eebensinteresse an ungehemmtem Warenaustausch und
^bedingter Neutralität haben.

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Wenn England also einerseits gern bereit ist Polen gegen Ruß-
land, den großen Rivalen Englands, zu unterstützen, so sähe es doch
andererseits nicht gern, daß dieser polnische Staat die Hegemonie
über die „Randstaatenquot; gewönne, sich vielleicht eines jener
Gebiete einverleiben würde. England hegt demnach an der Er-
haltung des „selbständigen neutralen Zwischenhändlersquot; Litauen,
der aber in voller Harmonie mit Polen leben soll, nur schon der
gemeinsamen Interessen dem drohenden Rußland gegenüber, halber.

Aehnliche Erwägungen gelten für Polen. Der. Besitz Litauens
würde begreiflicherweise auch seine strategische und wirtschaft-
hche Position erheblich stärken. Aber es will nicht durch ein-
seitige Aktionen die Zahl seiner schon beträchtlichen Minoritäten
noch erhöhen und begnügt sich (wenigstens vorläufig) mit dem
Besitze des Wilnaer Gebietes, strategisch für Polen von großer
Wichtigkeit, da es die „erste Verteidigungslinie Warschausquot; gegen
russische Anfälle darstellt. Es ist wohl überflüssig, daraufhin-
zuweisen, daß auch all diese „strategischenquot; Bewertungen
gewisser
Gebiete nur auf persönlicher Anschauung beruhen und keines-
wegs unanfechtbare Tatsachen darstellen.

Alle drei Mächte wünschen die Unabhängigkeit Litauens, nur
hat dieses „unabhängigquot; für ihrer jede eine andere Bedeutung.
Für Deutschland bedeutet es den Ausschluß polnischen Einflusses,
der Ostpreußen bedroht und Deutschland nach Osten hin
isoliert,
bedeutet es das Propagieren deutschen Einflusses, der gerade das
Gegenteil bewirken soll. Für Rußland gelten gleiche Bewertungen:
es will den Weg nach Osten frei halten und eine polnische „Bar-
rierequot; vermeiden, während Polen Litauen „unabhängigquot; von
Deutschland und Rußland, aber nicht von Polen selbst
wünscht.
Es will seinen Weichselkorridor und den „Wilnaer Korridorquot; ver-
stärken.

Es leuchtet ein, daß jede einseitige und gewalttätige Lösung
dieses Konfhktes die Gefahr eines bewaffneten Konfhktes, viel-
leicht sogar eines allgemeinen Krieges, heraufbeschwören würde.
Hier fängt das Interesse eines noch größeren Kreises von
Staaten
an: die Wahrung des allgemeinen Friedens. Indem nun die Groß-
mächte sich als Wahrer dieses allgemeinen Friedens
aufwerfen,
allgemeine Interessen vertreten, setzt sich bald die Anschauung
durch, daß sie die Instanz sind, der die Lösung solcher Konflikte

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obliegt; und dadurch entsteht wiederum fälschhch die Meinung,
daß sie „Schiedsrichterquot; sind. Sie haben aber selbst ein Interesse
an der Wahrung des allgemeinen Friedens, und schon aus diesem
Grunde sind sie gewissermaßen Partei, denn ein-Interesse-haben
schließt eben nicht-Partei-sein aus.

Im Grunde ist der oben geschilderte Interessengegensatz der
Mächte im baltischen Gebiet nur eine neue Version der alten Theorie
des „Europäischen Gleichgewichtsquot;. Heute wie früher stützt sie
sich
auf das folgende Axioma: Jeder Staat, der seinen Nachbarn
gegenüber wichtige strategische und ökonomische Vorteile besitzt,
^rd diese Vorteile — sobald sich die Gelegenheit dazu bietet —
im Nachteile der andern ausnützen, sei es, daß er seine Handlungs-
Weise mit der Notwendigkeit der Selbstverteidigung, der „Wahrung
Seiner Unabhängigkeitquot; begründet, oder ohne weiteres von einer
Gewaltherrschaft über andere träumt, dem allzu menschlichen
Drange nach Expansion eriiegend. Diese Voraussichten sollen durch
den Zusammenschluß der Bedrohten neutralisiert werden; der
drohenden Machtentfaltung soll das Gegengewicht gehalten werden

Diese These des unwiderstehlichen Expansionsdranges hat einen
bohen Grad von Wahrscheinlichkeit für sich; sie ist aber unbe-
weisbar. Die Verwirklichung der Expansionsgelüste, oder auch
nur ihre Anwesenheit ist nie einwandfrei vorherzusagen, ebenso
^enig wie die Wirksamkeit der sich ihm widersetzenden Verteidi-
gnngsmittel im Voraus festzustellen ist. Es handelt sich hier wieder
nur um Tendenzen, Anschauungen und subjektive Urteile, wenn
auch das Bestehen solcher (von einander zwar abweichenden)
Anschauungen recht allgemein ist.

Es sind bis jetzt im Wesentlichen nur die Faktoren geschildert
forden, aus denen der Konflikt sich zusammensetzt. Es folge nun
eme Uebersicht der letzten Versuche ihn zu lösen.

. Der Besitz des Wilnaer Gebietes ist nach dem Urteile der Re-
gierung für Litauen eine Lebensfrage. Sie vermeidet folglich — da
die militärische Schwäche kein aktives Eingreifen eriaubt — jeden
-^kt, der einem Verzicht, oder nur einem Beruhen in dem status
^uo ähneln könnte. Sie unterhält zunächst einen „theoretischen
Kriegquot; mit Polen, schließt die Grenzen und weigert jeglichen Ver-
kehr, bevor ihr das Wilnaer Gebiet abgetreten wird. Ende No-

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vember 1927 wird die Lage kritisch; bewaffnete Banden in den
Grenzgebieten bilden eine drohende Gefahr. Die Mächte machen
ihren Einfluß geltend, um die Erregung zu beschwichtigen. Die
Sowjetregierung sendet sogar drohende Noten an Polen und Li-
tauen, vermutlich um sich irgendwelchen Einfluß auf die kom-
menden Unterhandlungen in Genf zu sichern Hauptsächlich in
Kowno dringen die Mächte, sowie die baltischen Staaten, auf die
Liquidierung des Kriegszustandes an. Der htauische Premier Wol-
demaras richtet nun eine Note an den Generalsekretär des Völker-
bundes, in der er auf den drohenden Ton der polnischen Presse
hinweist, und sein polnischer KoUege Pilsudski äußert gleicherweise
die Absicht, den Konflikt vor das europäische Forum zu bringen.
Es beginnt hier eine neue Phase, durch eine beruhigende Note
Polens an die befreundeten Regierungen eingeleitet.

Zu gleicher Zeit weiß der Daily Mail zu berichten (am 26. No-
vember), daß mit der baldigen Errichtung eines autonomen Gou-
vernements Wilna unter polnischer Oberhoheit zu rechnen ist
Es ist der Vorschlag zu einem Kompromiß, in immer noch für Polen
günstigem Sinne, durch den man die litauische Opposition ver-
söhnen will, um so den Sturz der Diktatur Woldemaras\' vorzube-
reiten. Es muß hier eingefügt werden, daß es in Litauen eine Partei
gibt, die die Annäherung an Polen propagiert. Es ist auch bemer-
kenswert, daß die Mitteilung in der englischen Presse auftaucht,
die von Zeit zu Zeit immer wieder Vorschläge im Sinne der Auto-
nomie und des Kompromisses machen wird, während sie offen
eingesteht, daß die Zuweisung Wilnas an Polen durch den Völker-
bundsrat eine der schwächsten und schädlichsten Entscheidungen
des Rates gewesen ist.

Es folgt hierauf die Ratsversammlung in Genf. Dieser Völker-
bundsrat ist, da „interessiertequot; Elemente darin noch eine
größere
Rolle spielen als für ein „über den Parteien stehendes Forumquot;
erwünscht ist, in mancher Hinsicht noch nicht viel anderes als die
erweiterte, permanent gewordene und regelmäßig
zusammen-
tretende Gesandtenkonferenz des vorigen Jahrhunderts. Es ist
eine Interessengemeinschaft, der außerdem die Wahrung der In-
teressen anderer Staaten delegiert worden ist. Es finden vor ihr

\' siehe N. R. Crt. 28. XI. 1927 A. C.
siehe N. R. Crt. 17. XII. 1927 A. C.

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^so keine gerichtlichen Verhandlungen, sondern nur
Unterhandlungen statt. Sie ist eine rein politische In-
stitution, deren Urteil aber durch das Ansehen und die Macht
der
Mehrzahl der in ihr vertretenen Regierungen einen Eindruck
macht, der an den eines regelrechten Schiedsspruches grenzt und
mit ihm oft verwechselt wird. Die Unterhandlungen in Genf wer-
den durch vertrauliche Gespräche verschiedener Staatsmänner
miteinander eingeleitet. Außer Polen und Litauen ist vielleicht
Deutschland am meisten interessiert; aber auch die französischen,
englischen und italienischen Vertreter beteiligen sich. Sogar sowjet-
rnssische Vertreter sind anwesend, nehmen an Vorbesprechungen
^eil, obgleich die Union dem Völkerbunde nicht angehört; ihre
Interessen werden jedenfalls anerkannt, man trägt ihrem Stand-
punkte wenigstens faktisch Rechnung. Es ist bemerkenswert, wie
gerade in den „Vorbesprechungenquot; die Vertreter der Großmächte
hervortreten: man wird an die alte Gesandtenkonferenz erinnert
jjnd möchte annehmen, daß seitdem nicht gar so viel sich geändert
hat.
Der Rat in seiner Gesamtheit reagiert nicht schnell genug, er
\'St an seine Sitzungstermine gebunden; inzwischen aber kann ein
Konflikt drohende Formen annehmen. Die diplomatischen Me-
thoden, obgleich „veraltetquot;, arbeiten da leichter und gelenkiger;

läßt sich auch alles nicht so leicht ohne „Konsequenzenquot; in der
Oeffentlichkeit formulieren und andererseits ist die Bedeutung,
die der Anschauung irgendeiner Großmacht beizumessen ist, von
iltersher bekannt, während der Völkerbund noch nicht lang
ge-
nug besteht, seine Kompetenz zu wenig fest umrissen ist, um
einen alles überherrschenden Einfluß auszuüben. Man hat den Ein-
■^ek, daß das Wichtigste noch im alten „Europäischen Konzertquot;
geschieht. Deutlich tritt auch die Neigung der Großmächte zn-

t^ge. die Lösung der polnisch-litauischen Frage sich zu reservieren. i

Eine öffentliche Sitzung des Rates wird am 7. Dezember abge-
halten. Woldemaras zitiert den Artikel 11 des Völkerbundpaktes,
der das Eingreifen des Völkerbundes vorsieht, falls dem allge-
meinen Frieden Gefahr droht. Aber er kann nicht recht annchm-
machen, daß diese Gefahr wirkUch droht. Zaleski schlägt ihm
die
Liquidation des „theoretischenquot; Krieges vor, aber Wolde-

\' siehe N. R. crt. 7. XII. 1927 O. C. und A. D.

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28onbsp;sechzehntes kapitel

maras nimmt den Vorschlag nicht ohne weiteres an. Er verlangt
erst die Beseitigung der „augenbhckhchen Gefahrquot;. Die
Wilnaer
Territorialfrage wird nicht einmal berührt. Die Sitzung wird auf-
gehoben, nachdem Jhr. Beelaerts van Blokland, der niederlän-
dische Minister des Aeußeren, zum Ratsrapporteur ernannt wor-
den ist.

Am 10. Dezember findet eine geheime Sitzung statt, in der die
beiden Diktatoren persönlich miteinander in Berührung kommen.
Pilsudski fragt Woldemaras, „ob er den Frieden oder den Krieg
wollequot;. „Den Friedenquot;, antwortet dieser und seine Erklärung
wird
die Grundlage zu einem Kompromiß. Beelaerts arbeitet ununter-
brochen einen ganzen Tag, um seinen Bericht zusammenzustellen
und eine beide Parteien befriedigende Formulierung seiner Kon-
klusionen zu finden, die in keiner Weise die verschiedenen Thesen
der Wilnaer Besitzfrage präjudiziert. Auf die Zusammenkünfte mit
den Delegationen der Parteien folgt eine mit Chamberlain
und
endlich gegen zehn Uhr abends haben sich alle über die folgenden
Punkte geeinigt:

Litauen erklärt, daß es sich nicht mehr als mit Polen in Krieg
betrachtet und konstatiert, daß zwischen den beiden Staaten
Friede herrscht. Polen anerkennt und respektiert
vollkommen
Litauens Unabhängigkeit und territoriale Unverletzlichkcit. Der
Rat empfiehlt dagegen das Anknüpfen direkter
Verhandlungen
zwischen den beiden Staaten, um den Frieden zu befestigen, bietet
seine guten Dienste an und regelt weiter noch einige Punkte von
weniger Wichtigkeit. Endlich erklärt der Rat noch: daß die vor-
liegende Resolution in keiner Weise die Frage, über welche die An-
schauungen der Parteien geteilt seien, präjudizierc.

Diese Resolution hat einen großen Wert für die Wahrung des
allgemeinen Friedens. Polen verzichtet öffentlich auf die
Anwen-
dung eines gewissen Mittels zur Lösung der Frage: auf die Inkor-
poration ganz Litauens, und dieses verzichtet auf ein zu gefähr-
hches Mittel um seine Ansprüche „unverjährtquot; und unvergessen
zu halten: auf den theoretischen Krieg. Im Gnmdc wird die Kern-
frage nur im letzten Satze der Resolution berührt, in dem der Rat
erklärt, daß er sich von jeder neuen Meinungsäußerung in der
Wünaer Frage enthält; es handelt sich hier nur um die
Ausschal-
tung allzu gefährhcher Lösungsmittel. Der Rat also, dessen Mehr-

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b e i t aus den Vertretern jener Staaten besteht, die in 1923 den
Streich Zehgowskis als berechtigt anerkannt haben, wiU nicht mehr
öffentlich auf seinem eignen Standpunkte beharren. Er wiU weder
Polen noch Litauen vor den Kopf stoßen und zwingt lieber seine
früher vielleicht zu schneU, zu unüberlegt gegebene Anerkennung
in eine vage und daher gefährhche Form. Es zeigen sich hier wie-
derum die Einflüsse unerwarteter Wendungen: Nach polnischer
Auffassung, wie nach der des Rates, besteht gar kein Konflikt,
denn die Frage ist in 1923 international geregelt worden; Litauen
aber fürchtet den Verlust seiner Ansprüche durch stillschweigende
■\'Anerkennung des bestehenden Zustandes, wünscht in jedem Akt
auf irgendeine Weise zu protestieren und willigt endlich in den oben
genannten Schlußsatz der Ratsresolution ein. Dieser aber kann
nun außer der bekannten Bedeutung: daß der Rat sich jeder neuen
Meinungsäußerung zu enthalten wünscht, noch eine andere, sicher-
Ijeh vom Rapporteur nicht gewollte Bedeutung haben, diese näm-
lich: daß die Lösung des Konfliktes den beiden Hauptparteien an
erster Stelle vorbehalten werden muß und daß der Völkerbunds-
\'■at, der die Anerkennung der Entscheidung der Gesandtenkon-
ferenz von 1923 nicht mehr öffentlich zu zitieren wagt, dadurch
folglich diese Entscheidung und Anerkennung stillschweigend an-
iiulliert hat. Mit dieser unerwarteten Komplikation, die den li-
tauischen Standpunkt unterstützt, war nicht zurechnen. Die Tat-
sache aber, daß diese Deutung in der litauischen und englischen
•quot;esse 1 propagiert wird, kann einen gewissen Einfluß auf die wei-
tere Entwicklung haben.

Die Prawda stellt fest ,2 daß die Wilnaer Frage nur durch direkte
quot;^iiterhandlungen zwischen Litauen und Polen gelöst werden kann
Und der litauische Gesandte in Berlin ^ erklärt, daß sich die polnisch-
ntauischen Konflikte in zwei Gruppen teilen lassen, die, welche
sich unmittelbar auf die Territorialfrage und die, welche sich auf
die
Rechte und die Behandlung der Minoritäten im umstrittenen
l^^^ie
^nd auf die ganze drohende polnische Haltung beziehen.

\' siehe N. R. Crt. 20. XII. 1927 O. A. und N. R. Crt. 12. XII. 1927 A. D.

die polnische Presse beklagt sich über die „entweichende Berührung
j« Wilnaer Fragequot; (siehe N. R. Crt. 13 XII. 1927)-
ajJ-^-Crt. I. XII. 1927 O. B.

^•^•Crt. I. XII. 1927 A.C.

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Nur diese letzten Probleme seien für eine Erörterung in Genf ge-
eignet. Die litauische Regierung weigert wenigstens „für den Augen-
bHckquot; die Anerkennung jedes Lösungsversuches der Besitzfrage
seitens des Völkerbundsrates, da auch wegen des
Htauisch-nissischen
Friedensvertrages von Moskau (1920), eine Lösung nur bei unmit-
telbarer Beteiligung der Sowjetunion an den Unterhandlungen
zu finden sei. Ob diese Aeußerung mehr die Anerkennung
russischer
Interessen, oder die Verstärkung der eignen „Parteiquot; bezweckt,
ist nicht mit Sicherheit zu sagen.

Woldemaras erklärt am 3. Dezember in Berlin, daß sich der
Völkerbundsrat nicht mit dem Wilnaer Konflikt befassen
werde,
es sei denn, daß Polen die Frage anschneidet ^ Woldemaras gibt
auch eine neue offizieUe Motivierung der Htauischen Ansprüche
Die historische Kontinuität in den polnisch-Htauischen
Bezie-
hungen sei voHkommen durchbrochen, poHtischen Wert in der
ganzen Frage hätten nur noch die „Interessenquot; des Staates, auch
sogenannte „Rechtsansprüchequot; seien wertlos. Im Mai 1928^
erklärt er in London, und es ist wert dies festzuhalten, daß eine
Lösung des Konfliktes nur mit Beteiligung „aUer ökonomisch inte-
ressierten Mächtequot; an den Unterhandlungen zu finden sei.

Das Obige genügt wohl um das Ungreifbare der Beziehungen
und Anschauungen zu schildern. Man verläßt schließlich Genf nur
mäßig befriedigt. In Kowno spricht man von einem „Sieg der West-
mächte, denen es gelungen sei die Sowjetunion vollkommen zu
isolierenquot;; man ist fest entschlossen, in der Wilnaer Frage
nicht
zuzugeben. In Polen spricht man von einem „Kompromißquot; und
im übrigen Europa begnügt man sich mit der zweifellos wertvollen
Tatsache, daß zum mindesten ein Krieg vermieden worden ist. Der
Konflikt an und für sich ist durch den elastischen letzten Satz der
Ratsresolution im Grunde nur noch kompliziert worden.

In dieser neugeschaffenen Sphäre fangen die direkten polnisch-
Htauischen Unterhandlungen an. Woldemaras leitet sie mit der
Erklärung ein, daß Litauen nie auf Wilna verzichten
werde.
Solche Aeußerungen können nur eine Verkühlung des augenblick-
lichen Verhältnisses zur Folge haben. Die zu vereinbarenden Kon-

1 N. R. Crt. 4. XII. 1928 O. D.
» N. R. Crt. 9. I. 1928 A. B.
® N. R. Crt. 21. V. 1928 A. C.

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ventionen dürfen in keinerlei Weise die Wünaer Frage berühren;
da aber beinahe die ganze polnisch-litauische Grenze aus einem
^strittenen Länderstreifen besteht, läßt sich kaum eine Bespre-
chung „zwecks Herstellung von Beziehungen, die geeignet sind
gutes Verhältnis zwischen den beiden benachbarten Regie-
\'^ugen zu schaffen, von dem der Friede abhängtquot; erdenken, die
nicht irgendwie den Kern der Frage berührte. Das Resultat sol-
cher Unterhandlungen ist deutlich. Woldemaras läßt sich übrigens
Zeit.

Er hatte schon öfters den Standpunkt gewechselt. In 1923 ging
er die
Gesandtenkonferenz um einen Schiedsspruch an, unter-
warf sich ihm aber nicht; es stellte sich heraus, daß die Richter die
^hnographischen Interessen entscheiden ließen, während nach
Woldemaras\' Anschauung ökonomische oder „Lebensquot;interessen
die entscheidende Rolle zu spielen hatten, daß man es sich also
yher die allernötigsten Grundlagen nicht einmal einig war. Er bat
1927 den Völkerbund um Intervention, aberkannte ihm aber
im März des nächsten Jahres die Berechtigung „ohne formelle
Einladung sich mit dem Konflikt zu beschäftigenquot;

Man verabredete nun, am 15. Januar 1928 zusammenzutreten,
dann Ende Februar, schließlich den 30. März in Königsberg,
nachdem ein gewisser Druck auf Woldemaras geübt worden war.

^n Königsberg beschloß man drei Kommissionen einzusetzen,
J\'^n denen die erste die ökonomischen Probleme und die Verkehrs-
Jagen. die zweite das Niederlassungsrecht und den Grenzverkehr,
le dritte die „Reparationen und Sanktionenquot; erörtern soll.
Die nächste Plenarsitzung findet Anfang Mai in Kowno statt;
litauische Delegation lehnt dort einen polnischen Entwurf
^nes Schiedsgerichts- und Sicherheitsvertrages ab, angeblich\'»
der polnische Delegierte Holowko eine Anspielung auf die
Lederherstellung der baltischen Allianz, der „Barrierequot; zwischen
entschland und Rußland, gemacht hat. Die Litauer erklären
emeswegs zu dieser Politik bereit zu sein. Eine einfachere Er-
larung wäre vielleicht diese, daß Litauen fürchtet durch den
Dschluß eines solchen Vertrages seine Ansprüche auf Wilna
^^^S^gg
^Die zweite Kommission stellt gegen Ende Mai den

9. III. 1928 A.D.
lehe N. R. Crt. lo. V. 1928 A. C.. 14. V. 1928 A. C. und 15. V. 1928 O.B.

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Entwurf für einen Vertrag zur Regelung des Grenzverkehrs fertig
und dieser bleibt das einzige, magere Resultat der
Unterhand-j
lungen.

Am 25. Mai kompliziert die litauische Regierung noch einmal
die Lage. Eine Verfassungsänderung wird verkündigt, nach der
die Hauptstadt des Landes Wilna ist (vorläufig durch
Kowno
ersetzt). Eine solche Erklärung kann nur die bedingungslose
Ablehnung jeghchen Kompromißvorschlages bedeuten. Zu glei\'
eher 2^it verbreitet sich das Gerücht, die Sowjetunion habe ^
die Inkorporation Litauens durch Polen zugestimmt unter dem
Vorbehalte, daß ihr zu gleichem Auftreten Lettland gegenüber freie
Hand gelassen werde. Aehnliche Gerüchte tauchen von Zeit z^
Zeit über Deutschlands SteUungnahme solchen Plänen
gegenüber
auf: es sei die deutsche Regierung bereit, dergleichen Inkorpo-
rationen anzuerkennen unter der Bedingung, daß ihr der polnische
Korridor retrozediert werde. Man möge nun über solche Gerüchte
denken wie man will, die Tatsache, daß sie bestehen und immer
wieder in der Presse auftauchen, genügt um ihnen einen Platz
im Bereiche des Möglichen zu sichern; unerwartete Entwick-
lungen der politischen Lage aber könnten sie unter Umständen zU
Wahrscheinlichkeiten erheben.

Der holländische Minister Beelaerts bringt als Rapporteur i^^
der Junisitzung des Völkerbundsrates einen düster
gestimmten
Bericht aus und richtet sich mit einer ernsten Mahnung an Wol-
demaras, aber ohne viel Erfolg. Die Vertreter Englands,
Frank-
reichs und Deutschlands teilen die im Berichte ausgeführten
Anschauungen und weigern Woldemaras die nochmals
verlangte»
stillschweigende Anerkennung der litauischen Ansprüche auf Wilna-
Erst jetzt steht einwandfrei fest, daß für den Völkerbundsrat
kein Zweifel über das polnische Anrecht auf Wilna besteht.

Im Juli macht die litauische Regierung der polnischen einen
Vorschlag über den Abschluß eines Sicherheitsvertrages, in wel-
chem die Wünaer Frage als unentschieden anerkannt wird und
die Demihtarisation des ganzen streitigen Gebietsstreifens
einer Breite von fünfzig Kilometern vorgesehen ist; übrigeii®
wird ausdrückhch jeder Grenzverkehr auf der genannten Zone
ausgeschlossen. Dieser Vorschlag lehnt nicht nur jeden Kom-
promiß ab, er macht außerdem auch jede fruchtbare Arbeit der

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beiden anderen Kommissionen, die sich über weniger wichtige
Punkte einigen soUen, unmöghch. Die Lage ist hoffnungslos.
Nieder verbreiten sich drohende Gerüchte über Grenzzwischen-
fälle. gefürchtete polnische Manöver und mögUche Komphka-
tionen. Wieder
bittet die litauische Regierung den Völkerbundsrat

um Intervention und wieder folgen englische, französische und
deutsche Vorstellungen an
Kowno.

Woldemaras schlägt eine Plenarsitzung der Königsberger Ver-
söhnungskommission für den
15. August vor, lehnt aber dann
einen gleichen polnischen Vorschlag für den 30. August ab. Wie-
derum tauchen Gerüchte über die Aenderung der polnischen
Verfassung in föderahstischem Sinne auf, aus der die Autonomie
des Wilnaer Gebietes sich ergeben würde, aber Woldemaras er-
^ärti dieser Lösung der Frage nicht zustimmen zu können,
^as Gerücht kam wieder aus England; Woldemaras hatte während
elues Aufenthaltes in London dagegen selbst seine Sympathie
für eine Lösung in autonomistischem Sinne geäußert, sogar kei-
nerlei
unüber%vindliche Abneigung gegen eine polnisch-htamschc
quot;uion, in der das Wilnaer Gebiet einen dritten autonomen Teil
bilden
würde gezeigt = Die Stadt Wilna würde sich einer solchen
Lösung gern\'fügen und die litauische Regierung erklärt endlich,
^laß ..sie bereit sei jeden Versuch zur Besserung der Lage der Litauer
Polen zu unterstützenquot;. Das kann bedeuten, daß sie gewillt
sich mit der Autonomie Wilnas zu begnügen, und dies könnte
eiu kleiner Lichtpunkt auf dem schweren Wege zur Verstände
^ug sein. Es ist hier noch die Notiz ^ hinzuzufügen, daß Sir
pusten Chamberlain eine keineswegs für Litauen ungünstige
Lösung der Wilnaer Frage entworfen habe.

Die Septembersitzung des Völkerbundsrates bringt aber keinerlei
Förderung.
Jhr. Beelaerts steht fest, daß die Unterhandhmgcn
^er Parteien ohne Erfolg geblieben sind und der Zeitpunkt nalier
quot;^ekt, auf welchem der
Rat sich gez^vungen sehen wird um „zu-
^usten der Interessen und Rechte Dritterquot; einzugreifen . Za-

:: ;r/s iilT^^r^ 7. vm. ..s

10. VIII. 1298 A.B. II. VIII. 1928 A.B.
^ Siehe N. R. Ct. 20. VIII. 1928 A. C.
Siehe N. R. Crt. 9. IX. 1928 O. D.

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leski meint, daß Litauen sich endlich der „moralischen Pression
der Mächtequot; fügen müssen wird i. Woldemaras dagegen ist op
thnistischer, er bestreitet dem Völkerbunde das
Interventions-
recht, erklärt, daß es keineswegs notwendig sei, „heut oder morgen
Wihia zurückzugewinnenquot; 2, daß es am besten sei „etwas
Opti-
mismusquot; zu bewahren und daß übrigens die Zeit wohl das Nötige
tun werde. Schließhch sei es zu hoffen, daß die Wilnaer Frage
— vieUeicht in einer noch fernen Zukunft — einmal gelöst werden
könne mittels einer internationalen Konferenz, an der auch Ruß-
land beteiligt sei

Für den Augenblick vereinbart man, am 3. November die pol-
nisch-htauischen Unterhandlungen wieder aufzunehmen. Auf der
Dezembersitzung des Völkerbundsrates ist aber der Bericht über
die Erfolge dieser Unterhandlungen noch nicht eingegangen. An
SteUe des Rapporteurs Beelaerts ist inzwischen Quinones de
Leön getreten. Man gibt während der Sitzungen in Lugano li-
tauischer- sowie polnischerseits unumwunden zu, daß das Ein-
greifen des Völkerbundes vor einem Jahre die Kriegsgefahr im
Osten Europas beschworen habe«. Es sei aber besser,
meint
Woldemaras, die Zeit ihr Werk tun zu lassen und noch nicht in
die direkten polnisch-litauischen Unterhandlungen
einzugreifen.
Zaleski nennt die Königsberger Konferenz dagegen einen voU-
kommenen Mißerfolg und dringt auf die Mitarbeit der techni-
schen Völkerbundsorgane an der WiederhersteUung normaler pol-
nisch-litauischer Beziehungen an. Am
14. Dezember beschließt
der Rat im Einvernehmen mit Zaleski und Woldemaras, die
technische Völkerbundskommission für Verkehrs- und
Transito-
fragen mit dem Entwürfe einer Lösung der zwischen Polen und
Litauen bestehenden Verkehrshindernisse zu beauftragen.
Dieser
Beschluß stützt sich auf Art. 23e des Völkerbundspaktes, der
die Völkerbundsstaaten verpflichtet, die nötigen Maßnahmen zur
Wahrung der Verkehrsfreiheit und der gleichen Handelsberechti-
gung aller Völkerbundsstaaten zu treffen

\' siehe N. R. Crt. 26. VIII. 1928 O. B.
» siehe N. R. Crt. 28. VIII. 1928 O. A.
® siehe N. R. Crt. 10 . IX. 1928 A. C.
* siehe N. R. Crt. 13. XII. 1928. O. C.
\' siehe N. R. Crt. 14. XII. 1928 A. D.

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Die Wünaer Besitzfrage bleibt unangerührt; sie ist seit Dezem-
ber 1927 keinen Schritt vorwärts gebracht worden.

Es seien die Grundzüge dieses bunten Bildes hier noch einmal
zusammengefaßt; alle erdenkHchen Anschauungen, Einflüsse und
Interessen spielen im Wilnaer Territorialkonflikt eine Rolle: das
Nationalitätsprinzip, die ökonomischen Interessen, die strategischen
Erwägungen, historische „Rechtequot;, „Rechte Dritterquot;, unvor-
bersehbare Ereignisse imd Komphkationen, gute Vorsätze und
^resseintrigen, Unwüle, unbegründete Aspirationen und Machts-
träume, Gewalttaten, drohende kriegerische KonfUkte, — alles.
Ein Schiedsspruch wurde
verlangt, aber nicht anerkannt, die In-
tervention des Völkerbundes das eine Mal erbeten, das andere
als unberechtigt abgelehnt. Kein (einziges Mittel wurde entdeckt
nni zu einer wirklichen, unanfechtbaren Lösung zu gelangen. Die
quot;Zeitquot; soU dieses Mittel werden, vielleicht wird sie es auch.

Man findet endlich einen Lichtpunkt: den Gedanken eines
autonomen Wilnaer Gebietes, einer polnisch-litauischen Union.
Diese Union würde nun nicht so sehr die Lösung des Konfliktes
bringen, als vielmehr die Möglichkeit eröffnen, ihn ganz verschwin-
den zu lassen. Es wäre aber gerade interessant zu wissen, welche
Eösung man finden könnte im Falle die beiden Staaten unabhän-
gig und ohne Union nebeneinander weiterleben würden.

Welche würde die Lösung in diesem Falle sein? Vermutlich die, die
Von einem talentvollen Anwalt überzeugend vorgetragen werden
Wird, die den ökonomischen und strategischen „Notwendigkeitenquot;
nach den Anschauungen der Zeitgenossen am besten Rechnung
tragen wird und in genügender Weise den „berechtigten Interes-
sen Dritterquot; entgegenkommt....

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ZWEITER TEIL

DAS PROBLEM DER
TERRITORIAL-KONLIKTE.

siebzehntes kapitel

DIE GRUNDLAGEN DER TERRITORIALKONFLIKTE

Es handelt sich in diesem zweiten Teile darum, aus den Bau-
stoffen des ersten all das zu einem geschlossenen und
übersichtlichen
Büde zusammenzusetzen, was, auf welche Art auch, den Begriff
der Territorialkonflikte bedingt. Der vorige, mehr historische Teil
wird beim Leser vermutlich schon eine gewisse Vorstellung von
dem, was hier erörtert werden wird, hervorgerufen haben; er
%vird
sich VieUeicht auch schon ein Urteil über das Wesen dieser Kon-
flikte geformt haben. Es ist dies bei einem Probleme wie dem hier
erörterten wohl auch kaum zu vermeiden, denn kann man
nicht
nur auf historischem Wege sich ein allumfassendes Bild von seinem
Wesen machen?

Der erste Teil soUte schildern, wie in der Vergangenheit terri-
toriale Konflikte gelöst wurden; bei dieser SchUderung aber
mußten
unvermeidlich die Grundlagen und Eigenschaften dieser Konflikte
zu Tage treten, jene unmißbaren Bausteine für die Kernfrage des
Problems: können Gebietsstreitigkeiten auf rechtlichem Wege,
nach
deutUchen, unanfechtbaren und als „gerechtquot; anerkannten Grund-
sätzen gelöst werden? Die Territorialgeschichte Polens gibt hierauf
keine positive Antwort. Sie gibt kein Beispiel irgendeiner
fried-
hchen, rechtlichen Lösung solcher KonfUkte. Es genügt, in großen
Zügen auf das Entstehen und Verschwinden jenes polnischen Rei-
ches hinzuweisen. Da ist aUererst der Kampf gegen das heilige
römische Reich, der Kampf gegen Kiew, gegen den Deutschen
Orden,
gegen Moskau und gegen Schweden. Schließlich der große Zusam-
menbruch, das Schachspiel der TeUungen und das
hundertjährige
Ringen um die neue Freiheit. Auch diese wurde nicht auf friedlichem
Wege erworben, Umwälzungen und Zusammenbrüche waren nötig,
um sie erstehen zu lassen. Gleich aussichtslos ist in dieser
Hinsicht
der AusbUck in die Zukunft; kein Grundsatz, keine Methode läßt
sich anweisen, deren Anwendung eine AUe befriedigende
Lösung
bringen könnte.

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Die polnische Geschichte kennt für verschiedene Zeiten und
unter verschiedenen Umständen Beispiele von Unionen. Erst die
zwischen den Herzogtümern im 14. Jahrhundert, dann die polnisch-
litauische, schließlich die Union mit dem westpreußischen und dem
livländischen Gebiete. Diese Unionen aber, Akte durchaus fried-
licher Natur, streifen kaum das hier behandelte Problem, denn bei
ihnen besteht ja kein Gegensatz in Auffassungen. Bei beiden Par-
teien besteht ein auf dasselbe Ziel gerichteter Wille, man bringt
den tatsächlichen Zustand mit den allgemeinen Wünschen in
Uebereinstimmung und von einem Konflikte ist nicht die Rede.

Neben ihnen stehen die zahlreichen Zessionen, Inkorporationen
Und Sezessionen, die die typischen Territorialkonflikte ausmachen
Und deren Auftreten ausnahmslos mit Gewalttaten verbunden ist:
eine andere Lösung konnte man nicht finden. Die Sezession der
Schlesischen Herzogtümer zeigt zwar einen beinahe friedlichen
Verlauf, der aber zum Teil durch die Tatsache bedingt wurde, daß
er in eine Zeit pohtischer Ohnmacht Polens fiel; von einem polni-
schen Staate konnte kaum die Rede sein, es handelte sich mehr
Um die Union selbständiger Herzogtümer mit dem deutschen
l^eiche. Die Reihe Sezessionen aber, die zum Entstellen des neuen
polnischen Staates leiteten, waren durchaus gewalttätiger Natur.
Kriege, Waffelstillstände, Siege und Niederlagen ohne Ende zeigt
das Bild der Territorialkonflikte.

Die Ergebnisse der historischen Untersuchung sind sehr negativ;
aber sie hat ein reiches Material an Fällen, Anschauungen, Lösungs-
vorschlägen und einseitigen Lösungen verschafft ,lwichtige Unterlagen
für die Ergründung des Wesens und des wunden Punktes jener Terri-
torialkonflikte, die in diesen letzten Kapiteln versucht werden soll.

Wenn zwei oder mehr Fürsten oder Staaten den Besitz eines und
desselben Gebiets begehren, das sich in Händen eines unter ihnen
befindet, oder wenn ein neuer Staat sich zu bilden im Begriffe ist
Und Gebietsteile des Mutterstaates für sich beansprucht, ist von
dem Bestehen eines Territorialkonfliktes die Rede. Die Wünsche
eines Staates sind implicite menschliche Wünsche, menschliche
Anschauungen und im Grunde sind die Territorialkonfhkte Zu-
sammenstöße mehrerer, auf ein gleiches Objekt gerichteter mensch-
hcher Bewertungen, von denen jede sich den andern gegenüber als
die „einzig berechtigtequot; durchsetzen möchte.

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In der Regel werden diese Bewertungen, die sich recht oft auf
gleiche Begründungen stützen, so wenig mit einander
auszusöhnen
sein, daß eine Lösung sich nur auf gewalttätige Weise durchsetzen
läßt und die Anschauungen und Wünsche des- oder derjenigen
Staaten den Sieg davontragen werden, die über die nötigen Macht-
mittel verfügen um sich Geltung zu verschaffen. Im
allgemeinen
aber, und so auch in diesen besonderen Fällen, ist der Mensch, wie
oben schon angedeutet wurde, bestrebt Konflikte über die Sphäre\'
des rein tatsächhchen, gewalttätigen Zusammenstoßes
hinaus-
zuheben
und nach allgemeinen Grundsätzen für ein Gleichgewicht,
für friedliche Aussöhnungen zu suchen; es gilt dies für alle, für
den Zuschauer, für Interessierte so gut wie für Unbeteihgte. Der
Wunsch sich zu rechtfertigen, seinen Anschauungen Geltung über
den persönlichen Kreis hinaus zu verschaffen, treibt den
Beteihgten
dazu. Wahrheitsdrang und der Wunsch gewalttätige Auseinander-
setzungen zu vermeiden treiben beide, Beteiligte und Unbeteiligte,
dazu nach allgemein menschlichen Anschauungen und Urteilen zu
suchen, die der Wahrung des Friedens und der Förderung der
Eintracht dienen könnten; sie versuchen, einander
gegengesetzte
Anschauungen zu versöhnen, „ewige Wahrheitenquot; und über-
zeugende Anschauungen zu finden, verschiedene Werturteile durch
ein einziges, so allgemeiner und überzeugender Art, zu
ersetzen,
daß sich ein jeder vor ihm beugt und es als ,,wahrquot; und ,,not-
wendigquot;, ,,unumgänglichquot; anerkennt.

Aus diesem menschlichen Wahrheitsdrange, diesem Wunsche
mehr oder weniger persönliche Anschauungen zu allgemeinen zn
erheben, der heimlichen, vielleicht sogar unbewußten
Ueberzeugung,
daß man in diesen Dingen ,,die Wahrheit an sichquot;, die absolute
Wahrheit finden könne, lassen sich alle wissenschaftlichen und
politischen Debatten,.... aber auch alle Mißverständnisse er-
klären. Jeder meint der ,,Wahrheitquot; am
nächsten zu sein und jeder
will ihr Geltung verschaffen. Politiker meinen ihren Standpunkt
überzeugend und unanfechtbar vortragen zu können und
Gelehrte
meinen die Panazee gefunden zu haben,.... wälirend in Wirk\'
lichkeit wahrscheinlich jene „ewige Wahrheitquot;, jene ,,einz\'^
mögliche gerechte Lösungquot; der Territorialkonflikte bei dem
Mange
an festen und unanfechtbaren Stützpunkten, welche sie begründen
könnten, wohl kaum festgestellt werden kann.

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Um mögliche Mißverständnisse zu vermeiden und Worte und
Begriffe zu umgehen, deren Klang verschiedene Gedanken aufrufen
^ann, deren Inhalt nicht eindeutig feststeht, ist es unumgänghch,
das hier erörterte Problem so einfach und allgemein verständlich
Wie möglich darzustellen.

. Es zeigte sich, daß Territorialkonflikte sich aus dem Zusammen-
stoße verschiedener, auch oft verschieden begründeter, auf ein
Selbes Objekt gerichteter Wünsche ergeben. Es drängt sich da schon
allererst diese fundamentale Frage auf: aus welchen Gründen kann
man den Besitz eines bestimmten Gebietes begehren? Da aber
dergleichen „Interessenquot; zugleich auch die Grundlage bilden für
as
Entstehen eventueller „Rechtsauffassungenquot; in dieser Materie,
also die Begründung eventueller „Notwendigkeitenquot;, ,,Anrechtequot;
°.der „Berechtigungenquot; werden, wird die Frage bald nicht mehr so
einfach gesfellt, sondern verwandelt sich in diese: welche An-
schauungen, welche Werturteile können einen wesentlichen, oder
®ogar entscheidenden Einfluß auf die Zuerkennung des bestrittenen
Gebietes an eine der Parteien haben? Da aber in der Regel wolü
\'mmer mehrere Anschauungen in jedem Falle Anspruch auf Geltung
^rheben, ist man bestrebt aus jenen die wertvollste, die entschei-
ende und allgemein befriedigende herauszufinden.
Konflikt bedeutet hier Zusammenstoß verschiedener mensch-
^^her
Anschauungen. Alle, Betcüigte wie Unbeteüigtc, sind auf
le
Dauer bestrebt, diese Zusammenstoße durch friedlich Lösung
er
Gegensätze zu vermeiden. Und da dient sich eine zweite grund-
zliche Frage an: wer hat diese Lösung zu bringen und auf wel-
em Wege soll sie gefunden werden?
na Fragen finden mehrere Beantwortungen. Die erste sucht
j, einer Lösung in materiellem Sinne, sucht nach Grundsät-
die mehr oder weniger allgemeingültige Maßstäbe für eine
d^pquot;^ Werden können. Die zweite untersucht die formelle Seite
es Problems, sie sucht nach dem geeigneten Richter oder Arbiter
^ d nach der geeigneten Prozedur. Beide Fragen beherrschen im
runde die Art und die Lösung des Problems, wenn man auch
hi^^\'^^ ist, die erste als die wichtigere zu bezeichnen. Ihr sei auch
der Vorrang eingeräumt.

^ns Welchen Gründen kann man den Besitz eines bestimmten

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Gebietes begehren? Die Gründe sind dreierlei: man kann das Ge-
biet an und für sich begehren, als Mittel, um sich aus seinem
Ertrage an Feldfrüchten zu ernähren, bezw. sich seiner Boden-
schätze zu erfreuen; man kann es als Mittel zur Vergrößerung
seines pohtischen Einflusses aus Machtserwägungen begehren; man
kann es schheßhch als das Mittel begehren, um diejenigen in
festere Einheit zu verbinden, die dem Geiste nach zusammen-
gehören. Von den genannten drei Bewertungen bezieht sich eine
jede insonderheit auf je eins der drei Elemente, die den Begriff
des Staates ausmachen: auf das Staatsgebiet, auf die organisierte
Macht, die es regiert, und auf die Menschengruppe, die seine Be-
völkerung ausmacht.

Die Bewertung des Gebietes an und für sich als Existenzmittel
in primitivem (oder später auch komplizierterem) Sinne, als
ökonomisches Gut also, ist wohl die älteste. Das wandernde Hir-
tenvolk sucht Weideflächen für sein Vieh, das Jägervolk Jagd-
gründe, Wälder und fischreiche Gewässer und das seßhaft ge-
wordene, Ackerbau treibende Volk, das Urbild unsrer Staatsor-
ganisationen, siedelt sich auf Ackerboden, in weit auseinander-
liegenden Niederlassungen an. Es sucht sich das beste aus dem
Ueberflusse an Siedlungsfläche aus (denn es ist zahlenmäßig noch
schwach) und hat für das dazwischenliegende Land kein Interesse.
Mit der Zeit aber schließen sich größere Gruppen zusammen, es
entstehen Interessengemeinschaften und das Bedürfnis nach einem
Organ, das die Sorge für die gemeinschaftlichen Interessen, für
Gerichtsbarkeit, Ordnung und Sicherheit nach innen sowie nach
außen, übernimmt, stellt sich ein. Zu dieser zentralen Gewalt,
zu diesem Organe entwickelt sich der Landesherr, der Fürst, mit
seiner unmittelbar von ihm abhängigen Beamtenschaft, eine kleine
Gruppe mit besonderer Begabung und besonderem Interesse für
das, was man weiterhin ,,regierenquot; nennt. Es ist möglich, daß
diese Gruppe ihren Einfluß durch Machtmißbrauch, durch Usur-
pation gewonnen hat, sei es, daß sie stärker und begabter als die
Volksgemeinschaft war und günstige Umstände auszunützen wußte,
sei es, daß ihr Auftreten durch Interessenlosigkeit und
Mangel
an Durchdenken seitens der Volksgemeinschaft möghch wurde.
Aber andererseits kann diese auch das Entstehen der landesherr-
lichen Gewalt beeinflußt haben, indem sie dem Fürsten
gewisse

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Befugnisse, die ihr bis jetzt zustanden, delegierte, Funktionen auf
ihn übertrug, die es ihr zu erfüllen zu schwer wurde, oder für die
ihr Interesse zurückgegangen war. Jedenfalls besteht im Anfange
keinerlei Opposition gegen die Fürstengewalt, man würdigt sie
als notwendig, als erwünscht, oder einfach als tatsächlich vor-
handen und auf den ersten Blick unschädhch, als etwas neues,
dessen Tragweite man noch nicht zu schätzen weiß.

Der Gedankenkreis des Fürsten ist aber ein anderer als der der
Volksgenossen. Geschlossene Staatenbildung fängt an, sei es aus
innerer Notwendigkeit, oder sei es unter dem T)range äußerer
Umstände. Der Fürst sieht nicht mehr nur zerstreute Siedlungen,
ohne viel Zusammenhang, er sieht gerade die Gesamtheit dieser
Siedlungen, er sieht gerade den Zusammenhang, die Entwicklung,
die gemeinsamen Interessen; und das ganze zwischen den ein-
zelnen Siedlungen gelegene, unbewohnte und .unbebaute Gebiet
bekommt für ihn den Wert eines Verbindungsstückes, einer
Brücke, eines Mittels um das Ganze abzurunden, zu einer geschlos-
senen Einheit zu machen. Er nimmt all dies herrenlose Gebiet
in Besitz und erklärt es zu seinem Eigentum.

Die Volksgemeinschaft aber entwickelt sich weiter; Tausch-
wirtschaft und Industrie entstehen und das Gebiet gewinnt aus
anderem Gesichtswinkel neuen Wert. Der Begriff neuer begehrens-
werter Objekte entwickelt sich, man schätzt Häfen, Stapelplätze,
Handelsstraßen, Durchfuhrgebiete, Wasserwege, Bergwerke und
Rohstoffe und das Problem der Territorialkonflikte, dem all diese
neuen Begriffe einverleibt werden, wird komplizierter. Durch
starken Bevölkerungszuwachs gewinnt das Gebiet auch neuen
Wert als Siedlungsfläche; durch die Entwicklung der Industrie
entsteht das Problem das ,,Absatzgebietesquot; und wächst der
Wert der sehr begehrlichen ,,Bodenschätzequot;, dieser Lebensbe-
dingung vieler Industrien; neue Rohstoffe werden entdeckt und
die Verwendbarkeit bekannter Produkte* nimmt zu, die Jagd nach
Kolonialgebiet und tropischen Schätzen setzt ein. Die Entwick-
lung der Staatengemeinschaft, hauptsächlich nach 1648^ endlich
der Ausbau des Systems selbständiger, gleichberechtigter und
vor allem souveräner Staaten läßt die Forderung der „ökono-
mischen Unabhängigkeitquot; entstehen, läßt merkantilistische Auf-
fassungen, nach denen das Staatsgebiet ein in sich geschlossener,

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die eigenen Bedürfnisse selbständig befriedigendes, ökonomisches
Ganzes sein soll, heranreifen.

Oben wurde das Entstehen der Fürstengewalt angedeutet. In
der Gedankenwelt des Fürsten entwickelte sich die zweite grund-
sätzliche Bewertung des Gebietes, diejenige nämhch, die es als
ein brauchbares Mittel sieht um die Fürstengewalt auszudehnen,
oder auch nur ihren Fortbestand zu garantieren. Auf dem Fürsten
ruht die Pfhcht, die Volksgemeinschaft gegen Feinde von außen zu
verteidigen: alle diesem Zweck
dienenden Verteidigungsmittel werden
für ihn wertvoll, er schätzt die Beherrschung von Flüssen und Furten,
Brückenköpfen und Bergpässen, Morasten und wichtigen, die Gegend
dominierenden Punkten. Für,,natürliche Grenzenquot; wird er eifern und
,,strategische Punktequot; wird er gern in seinen Besitz bringen.

Aber seine Gedankenwelt kennt auch andere Gebilde, Träume.
Er sieht den Staat nicht an erster Stelle als die ökonomische Inte-
ressengemeinschaft, die sich langsam aus vielen kleineren Kreisen
entwickelt hat und weiter zu einem kulturellen Begriff auswächst;
für ihn ist der Staat an erster SteUe ein über den Menschen und ihren
Interessen stehendes Gebilde, die Schöpfung seiner Ahnen, viel-
leicht auch seine eigne Schöpfung, die Frucht vieler Kriege und
Arbeit. Und der nur zu menschliche Trieb sich andern mitzuteilen,
sich Geltung zu verschaffen und die eignen Anschauungen und
Träume auch andern aufzudrängen, die Interessen anderer sogar
seinen Träumen zu opfern, — seine menschlichen Schwächen und
Begierden bringen ihn dazu, Gebiet auch noch aus andern Gründen
zu schätzen: er möchte, daß sein Staat so groß und mächtig werde,
daß er zum Gegenstand der Furcht und der Bewunderung seiner
Nachbarn wird. Er wird den Besitz des Gebietes fortan begehren,
weil es sein Reich und seine Macht vergrößert, weil es ihm zum Quell
neuer Einkünfte wird, ihm neue Kriegerscharen verschafft, weil
es seinen Hunger nach Land und Autorität stillen kann. Er wird
noch weiter gehen: wenn sein Reich zu den größten und mächtigsten
gehören wird, wird er die Alleinherrschaft, die Oberhoheit über
alle anderen begehren; ,,Familienpolitikquot;, ,,Hausmachtquot; und
„Hegemoniegedankequot; halten ihren Einzug und der Kampf um
die Vorherrschaft der „Häuserquot; setzt auf dem Welttheater ein;
Sukzessions- und Koalitionskriege beginnen.

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Es ist möglich, daß dieser Trieb nach der Vorherrschaft nur um
seiner selbst willen besteht, sich roh und primitiv Geltung ver-
schafft; aber es kann auch sein, daß die Zeitumstände jenen Autori-
tätsgedanken ins Leben rufen: eine Religion zum Beispiel kann diese
Vorherrschaft für sich verlangen; oder die Zeit, oder ein Volk, ein
Kulturkreis entdeckt seine ,,historische Missionquot;, die der Herrscher
zu seiner Losung erheben kann, um so bewußt oder unbewußt seine
Ruhmesgier und seinen Expansionsdrang zu befriedigen; die Losung
macht Eindruck, sie tut sich als „Wahrheitquot; vor, als altruistischer,
alle beseelender Gedanke. So zogen die Herrscher der Christenheit
mit singenden Heeren gegen die Heiden zu Felde, so stürmten die
Gläubigen des KaUfen gegen Konstantinopel an, so kämpften
preußische Könige für die „historische Missionquot; ihres Staates und
wollten die Zaren allen Slawen das Heil der Wiedervereinigung im
Schöße der ewigen und einzig wahren orthodoxen Kirche bringen.

Es ist noch die dritte grundsätzliche Bewertung des Gebietes
zu erörtern: jene, die in dem Gebiete an erster Stelle eine durch
eine in geistigem, kulturellem Sinne zusammengehörige Bevölke-
rung besiedelte Fläche sieht und alle durch eine kulturell und
stammverwandte Menschengruppe besiedelten Gebiete auch zu
einem einheitlichen Staatsgebilde zusammenfassen will.

Die ursprünglichen Freibauernsiedlungen waren Interessenge-
meinschaften, aber sie waren zugleich auch „Blutsgemeinschaftenquot;.
Man kann diese schließlich auch als Interessengemeinschaften be-
zeichnen, oder aber als Geistesgemeinschaften, die sich von Anfang
an zu größeren, umfassenderen Genossenschaften hätten ent-
wickeln können. Sie taten es aber nicht, ihre Mitglieder vergaßen
eher die Blutsverwandtschaft, kannten ihr keinen Wert mehr zu.
Fürsten wie Bolislaw Chrobry, die in den Westslawen zwischen
Weichsel und Oder noch Blutsverwandte sahen und sie zu gemein-
schaftlichem Kampfe gegen den gemeinschaftlichen Feind, den
Kaiser, aufforderten, „weil sie doch Brüder seienquot;, wurden nicht
mehr verstanden; ihre Pläne und Gedanken blieben Träume. Wohl
brachten aber oft gemeinschaftliche religiöse Ueberzeugungen ein
solches Gemeinschaftsgefühl auf Jahrhunderte hinaus zustande. Der
Kampf gegen die Heiden und die Gegensätze zwischen oströmischem
und weströmischem Bekenntnis waren Beispiele solcher Art.

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Die lokalen Interessengemeinschaften aber entwickelten sich in
reicher Verschiedenheit: Niederlassungen, Rechtsgemeinschaften,
Gilden, Brüderschaften, Sterbekassen, Städte, Deich- und Wasser-
genossenschaften, Stände, Landschaften, autonome Provinzen
bildeten sich und entwickelten sich in föderalistischem Sinne, im
Gegensatze zu der Zentralgewalt, im Gegensatz zu der Staats-
gewalt.

AUe aber (es ist hier nur von West- und Mitteleuropa die Rede)
wurden in jener großen Geistesgemeinschaft, der römisch-kathoh-
schen- Kirche zusammengefaßt. Und in ihrem Gemeinschaftsge-
fühle hinsichthch der wichtigsten Lebensfragen kehrten sie sich
einig gegen die Heiden, Nicht-Christen, die rechtlos, als Ausge-
stoßene außerhalb der Christengemeinschaft standen, und sich
in sie nur durch die Taufe Zugang verschaffen konnten. Humanis-
mus, Renaissance und Reformation durchbrachen nun diese Ge-
meinschaft, sie stürzten jene, das ganze menschliche Denken be-
herrschende Autorität der Kirche und brachten Selbstbesinnung,
Unabhängigkeitsdrang, Individuahsmus und die Erinnerung an die
„uralte Freiheit und Gleichheitquot;. Die Folgen waren mannigfach
und recht verschieden.

In der Staatenwelt entwickelte sich der Individualismus zumquot;
System der koordinierten, gleichberechtigten und souveränen
Staaten. Die kaiserliche Macht, die Jahrhunderte lang die Herr-
schaft über die römisch-katholische Christenheit behauptet hatte,
war zum Phantom geworden. Die Autorität des Papstes, der sich
die gläubige Christenheit bedingungslos unterworfen hatte, zeigte
seit dem 15. Jahrhundert bedenkliche Risse, die Reformation
durchbrach sie voUkommen. Neben diesen Tendenzen setzten sich
aber auch andere durch. Die Staaten fingen an, sich zu konsoU-
dieren. Günstige geographische Vorbedingungen, mehr oder weniger
zufäUige Vereinigung in der Hand eines Herrschers, ethnographische
und sprachliche Gegensätze schufen auf die Dauer Einheiten, die
aUmähhch als altbekannte und bestehende Größen anerkannt
wurden,„historischquot; geworden waren, und fürderhin als zusammen-
gehörig betrachtet wurden, weü sie „seit undenklichen Zeitenquot;
schon eine Einheit gewesen seien. In 1648 wurde dieses System der
gleichberechtigten, koordinierten Staaten in West- und Mittel-
europa offizieU anerkannt. Faktisch hatte es schon lange bestanden.

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Es war seit dem Westphälischen Frieden aber noch keineswegs
„fertig entwickeltquot;; es wurde nur als Prinzip anerkannt, • konnte
sich noch ganz erheblich weiterentwickeln und tat das auch. Es
sollen hier auch nur Tendenzen angegeben werden, Entwicklungs-
linien, die mannigfach und durch vielerlei Umstände und gegen-
sätzliche Tendenzen durchbrochen und abgebogen wurden.

Aber auch im innern Leben dieser Gemeinschaften drang In-
dividualismus durch. Das Individuum widersetzte sich der Auto-
rität. Es fing an -selbständig zu denken und entdeckte eigne Er-
teilskraft. Mit der Glaubensfreiheit begann es einerseits; die Auto-
rität des Papstes wurde nicht mehr anerkannt, das „eigne Gewis-
senquot; wurde die neue Autorität. Andererseits rüttelte man auch
an jeder welthchen Macht. Man warf schon früh im fünfzehnten
Jahrhundert die These auf, daß das Volk dem Fürsten, der die
Privilegien des Volkes nicht einhalte, den Gehorsam aufsagen dürfe,
und man tat es auch hier und da. Das waren die Vorboten des
Contrat social. Zur Reformationszeit brachen Bauernaufstände
los, man rebellierte gegen den aussaugenden, knechtenden Grund-
herrn; aber die Aufstände wurden mit Gewalt niedergeworfen, man
sank wieder in die Lethargie zurück. Die breitere, äußere Ent-
wicklung ließ noch lange auf sich warten, sie kannte Sprünge,
Irrwege, Rückfälle und die Macht unvorhersehbarer Koinzidenzen.
Aber der Gedanke lebte weiter, in kleinem Kreise zwar, jedoch
bei denen gerade, die am schärfsten dachten. Man suchte nach
der „Vernunftquot; in allem und entdeckte die Gleichheit, die gleiche
Berechtigung für Alle, wenn dieses „Allequot; vorläufig auch noch
auf einen recht kleinen Kreis beschränkt blieb. Man rüttelte an
der Autorität des Fürsten, der seine Gewalt als „von Gottes Gna-
denquot; bestempelte und auf diese Art der Diskussion vollkommen
entziehen zu können glaubte. Aber man anerkannte seine These
nicht mehr unbedingt, verlangte Freiheit und Respekt vor der
Persönhchkeit und eroberte sich das eine „unveräußerhche Men-
schenrechtquot; nach dem andern. Man rüttelte aber auch an jeder
anderen Autorität; es gab deren noch viele; kleinere, zahlreiche
Korporationen und Interessengemeinschaften, Genossenschaften
die historisch in strenger Hierarchie gewachsen waren, ihre Mit-
glieder drückender Reglementierung unterwarfen und in streng
geschiedene lokale Gruppen spalteten, die im Grunde schon lange

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veraltet waren. Das verstieß gegen die „Naturquot;, die bestehenden
Schranken waren „unnatürhchquot;. Die „Naturquot; wurde ein Schlag-
wort im Laufe des 18. Jahrhunderts. Man sollte frei leben, wie
die Natur es verlange. AUe drückenden Bande sollten abgeschüttelt
werden, das heißt im Grunde also aUes, „was veraltet warquot;. Von
Natur aus waren die Menschen frei und einander gleich. Der Zwang
der althergebrachten Genossenschaften war Willkür, Irrtum und
verstieß gegen die Natur, die Schranken sollten gesprengt werden:
so kam man zu der Forderung der Zentralisation, die an erster
Stelle unnatürliche, das freie Leben beeinträchtigende, Hinder-
nisse wegräumen wollte. Die Macht des Fürsten war Unrecht,
Usurpation, Despotismus, ihm stand kein „Recht über die Unter-
tanenquot; zu, seine Stellung beruhte in Wahrheit nur auf Delegation.
Das „Rechtquot;, die „Berechtigungquot; lag beim ganzen Volke; nicht
mehr in Ungleichheit, in drückenden veralteten Verbänden sollte
es leben, sondern frei soUte es sein, frei und gleich in dieser großen
neuen Einheit, der Genossenschaft „par exceUencequot;: dem Staat.
Nicht mehr „Bürgerquot;, sondern „Staatsbürgerquot; war man, nicht
mehr Objekt, sondern Herr. Und da diese freien, gleichberechtig-
ten Staatsbürger doch auch irgendwie bei der Erledigung der
Staatsgeschäfte zu Beschlußfassung kommen mußten, da der
„WiUequot; dieser neuen Einheit doch irgendwie festgesteUt werden
mußte, so forderte die „Vernunftquot; (da die Menschen von Natur
einander ja doch vöUig gleich und auch gleichberechtigt seien),
daß der WiUe der Mehrheit als entscheidend anerkannt werde.
Das war die Demokratie.

So brach sie am Ende des 18. Jahrhunderts deutlich, mit festum-
rissenem Programm durch. Sie war aber noch nicht voll entwik-
kelt, sie war noch erst ein Programm, das im nächsten Jahr-
hundert erst zum großen Teil verwirkhcht wurde und auch heute
an manchem Orte noch nicht voll entwickelt ist... ., während es
andererseits vieUeicht schon wieder als „veraltetquot;, überlebt,
verworfen wird.

Seit Jahrhunderten aber hatten die Völker, durch zahllose Schran-
ken und Gegensätze von einander geschieden, nebeneinander ge-
lebt. Sie waren „historischquot; geworden, hatten einen eignen Cha-
rakter entwickelt, einen ^jgn-a Geist, der sie von andern Völkern
unterschied. Sie waren selbstbewußte „Nationenquot; geworden. Der

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Wunsch nach Harmonie, nach dem Erringen der höchsten Ver-
wirklichung des demokratischen Ideals aber näherte allmählich
die Begriffe „Demokratiequot; und „Nationquot; einander: die Grenzen
des demokratischen Staates und der Nation sollten in Zukunft
zusammenfallen; und Gebiete, von „Söhnen eines Volkesquot; be-
wohnt, sollten auch in e i n Land, in e i n e n Staat vereinigt werden
Das Gebiet erhielt einen neuen Wert: es konnte auch die Sied-
lungsfläche sein, wo „Verwandte und Brüderquot; lebten. Die Ver-
einigung „nationalquot; zusammengehöriger Gebiete konnte die Mensch-
heit ihrem Ideale der Harmonie nur näher bringen.

Die auf die Dauer „nationalquot; empfindenden Demokratien blie-
ben aber nicht immer auf diesem ideellen Standpunkte stehen.
Auch sie erlagen der Verführung des Expansionsgedankens, dem
Verlangen sich Geltung zu verschaffen und „ihre Wahrheitquot; auch
andern aufzudrängen. So wie früher religiöse Genossenschaften,
in heiliger Verblendung mit Feuer und Schwert und Vernichtung
die Heiden zwangen, sich vor dem Statthalter Gottes auf Erden
zu beugen, so wurden die Demokraten der französischen Revolu-
tion von Befreiern zu Eroberern und Knechtern und versuchen
in unsern Tagen Bolschewisten mit Gewalt und unerlaubten Mit-
teln\'ihrer „neuen Wahrheitquot; auch in fremden Gebieten Eingang
zu verschaffen. Gebietseroberungen, Wiederherstellung des alten
Staatsumfanges bedeutet für sie Verbreitung und Zuwachs an
Macht und Autorität für ihre Ideologien. Hier nähert sich ihr Ge-
dankengang unvermerkt den Machtsträumen des absoluten Fürsten
und wird mit ihnen beinahe identisch, denn beide können auf-
richtig sein und in Ueberzeugung handeln. Sichere Grenzen sind
hier nicht zu ziehen.

Es wurde hier in wenigen Zügen geschildert, welche Erwä-
gungen ein bestimmtes Gebiet begehrenswert machen können.
Es wurde auch schon darauf hingewiesen, daß diesen Erwägungen
unmittelbar ein größerer, allgemeinerer Wert zuerkannt wird: sie
bleiben nicht einfache Tatsachen, die man feststellen kann, sie
werden sogleich aus der Sphäre des rein Tatsächlichen heraus-
gehoben und in den Bannkreis der Werturteile gebracht. Man
stellt nicht mehr nur fest, daß A. oder B. aus diesen oder jenen
Gründen ein bestimmtes Gebiet begehrt, sondern fällt das Wertur-
teü, daß es „begreiflichquot;, „verständHchquot;, „berechtigtquot; ist, daß A.

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oder B. jene Wünsche hegen. Man spricht von ihren „Motivenquot;,
der „Berechtigungquot;, der mehr oder weniger „allgemeinen Gültig-
keitquot; ihrer Motive, findet es selbstverständlich, daß solche Motive
zum mindesten in gewissen Kreisen gelten, behält sich aber (da
es sich hier ja immer nur um Werturteile handelt) vor, gewisse Motive
seinerseits anzuerkennen oder zu verwerfen, ihnen größeren oder
geringeren Wert beizumessen. Es gilt dies für die Parteien im Kon-
flikt so gut wie für Unbeteihgte, es handelt sich um aUgemein
menschliche Urteile.

Der Kürze halber sei es erlaubt, auch hier weiterhin die oben
geschüderten drei grundsätzhchen Bewertungskomplexe der Terri-
torialfragen mit den Worten „Motivquot; oder „Faktorquot; zu nennen.
Es spielen demnach bei der Beurteilung von Territorialkonfhkten
ökonomische Motive, Macht (oder strategische) Motive
und kulturelle (weniger umfassend: religiöse oder natio-
nale) Motive eine Rolle. Sie können in allen möghchen Verbin-
dungen einander gegenüberstehen, gleiche und ungleiche, viele
und wenige; sie werden aber immer in verschiedener Intensität
auftreten, das heißt: in der Gedankenwelt und den Urteilen von
Beteihgten und Unbeteiligten zutage treten und Anerkennung fin-
den, denn es handelt sich ja lediglich um Werturteile. Welche von
ihnen sich in einem bestimmten Falle durchsetzen werden, wird
davon abhängen, wie die Parteien oder die Richter im Konfhkte
über Wesen und Zweck des Staates, über ethische, ökonomische,
rechthche und pohtische Probleme denken, wird also von Zeit
und Ort, von Staatsform und Staatslehre und Rechtsüberzeugungen,
wie auch von anderen WerturteUen recht verschiedener Art ab-
hängen.

Ausschließhch um den Leser über den im letzten Satze ausge-
drückten Gedankengang zu orientieren, um eine Tendenz anzu-
weisen, die bei der großen Verschiedenheit und dem komplizierten
Wesen all dieser Lebensäußerungen nie mehr als eine Tendenz
sein kann und sein wird, sei auf den Zusammenhang hingewiesen,
der zwischen der Existenz gewisser Staatsformen und dem Vor-
herrschen gewisser Motive bei Territorialkonflikten festgestellt
werden kann. Es sei erlaubt, zu diesem Zwecke die Staatsformen
hier einer sehr schematischen und dadurch vielleicht wiUkürhchen
Einteilung zu unterwerfen, je nach dem Hervortreten gewisser

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Merkmale, sie zu scheiden in: aristokratische, demokratische und
oligarchische. Aristokratisch wiU der Verfasser die Staatsformen
nennen, in denen der Staat transpersonalistisch, als über den Men-
schen stehendes Gebilde aufgefaßt wird und in denen die Führung
in Händen einer Minderheit ruht, wie bei den absoluten Monarchien,
den Aristokratien, dem fascistischen Staat, den Diktaturen und
dem im Anfang seiner Entwicklung stehenden Ständestaat. Demo-
kratisch will er jene Staatsformen nennen, deren Existenz mit den
Begriffen „Volksgemeinschaftquot;, „Volkswillequot; und „Mehrheits-
prinzipquot; begründet wird, wie die der Republiken, der konstitutio-
nehen Monarchien und des vollentwickelten Ständestaates. All jene
Staatsformen aber, die in ihrer Blütezeit Aristokratien oder Demo-
kratien waren, die aber versteinert und verkümmert sind und deren
Existenz, sei es vorübergehend oder dauernd, mit keinerlei Prinzip, quot;
Ueberzeugung oder „Notwendigkeitquot; begründet wird, es sei denn
diese, daß ihre Fortexistenz einzelnen Persönlichkeiten oder kleinen
Gruppen materielle Vorteile einträgt, in denen im wahren Siime
des Wortes also nicht mehr „regiertquot; wird, seien unter den Begriff
„oligarchischquot; zusammengefaßt. Einleuchtende Beispiele sind
Polen und die Republik der Vereinigten Niederlande, beide im 17.
und 18. Jahrhundert, obgleich sie in aUen Zeiten zu finden wären.

Es zeigt sich nun, daß bei den aristokratischen Staatsformen im
FaUe eines Territorialkonfliktes Vorherrschen der Machtmotive
festgestellt werden kann, derjenigen Motive also, die besonders
geeignet sind, das transpersonalistische Gebilde instand zu halten,
zu verstärken und zu vergrößern, und zu mehr Ruhm und Ansehen
zu verhelfen. Bei ausgebildeten demokratischen Staatsformen
dagegen, die sich das Erhalten und Ausbauen kultureUer Gemein-
schaften recht angelegen sein lassen, zeigt sich ein Vorherrschen
ebenjener kultureUen, nationalen oder religiösen Motive, während
bei den oligarchischen, den grundsatzlosen, aus Schwäche konser-
vativen Staatsformen, bei denen es sich hauptsächhch um Er-
haltung von Bestehendem und Förderung der Interessen Einzelner
handelt, bei eventuellen Territorialkonflikten an erster Stelle
ökonomische Motive hervortreten. Es handelt sich hier natürlich
nur um eine Tendenz. Konträre Einflüsse und Komplikationen
mannigfacher Art können diese Tendenzen durchkreuzen; wenn
dies aber nicht der Fall ist, so frappiert gerade regelmäßig das

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Vorherrschen bestimmter Motive bei jeder der drei genannten
Gruppen. Dieses Zusammentreffen hier irgendwie zu ergründen,
hieße weit über den Rahmen der Arbeit hinausgehen. Der Verfasser
meinte nur auf diese Koinzidenz hinweisen zu dürfen und zu dem
Zwecke die aus andern Gesichtspunkten vielleicht willkürliche
Einteilung machen zu können.

Welchen Wert die genannten Motive für die verschiedenen
Staatsformen haben v/erden, ist nicht mit Bestimmtheit zu sagen.
Die Bewertungen können von Fall so sehr von einander abweichen,
daß zwei verschiedene Territorialkonflikte, in die ein und derselbe
Staat verwickelt ist, auf den ersten Blick keinerlei Analogie zeigen;
verschiedene Umstände können weitgehenden Einfluß haben. Es
sei auch noch hierauf hingewiesen: die ökonomischen, strategischen
und nationalen Motive schließen einander keineswegs aus, sie er-
gänzen sich oft und greifen ineinander: der Zuwachs des Staats-
volkes durch Vereinigung national zusammengehöriger Teile kann
zum Beispiel auch ökonomischen Wert haben durch die Tatsache,
daß aus den neugewonnen Teilen ein hoher Steuerertrag zu erzielen
ist. Bevölkerungszuwachs bedeutet aber bei allgemeiner Dienst-
pflicht auch Heereszuwachs, und Verstärkung der ökonomischen
Stellung hat auch im Falle eines Krieges hohen Wert. Strategische
und ökonomische Vorteile können aber auch umgekehrt den Zu-
sammenschluß national verwandter Gruppen befördern.

Dennoch darf aber wohl angenommen werden, daß bestimmte
Staatsformen denjenigen Motiven einen erhöhten Wert zuerkennen
werden, die am meisten mit ihrer Auffassung vom Staate überein-
stimmen, so wie es sich aus Obigem ergibt. Da es aber unwahr-
scheinlich ist, daß je eine einzige Staatsform in allen Ländern der
Staatengemeinschaft herrschen wird, ist es auch unwahrscheinUch,
daß alle Territorialkonflikte durch eine allgemein anerkannte An-
schauung beherrscht werden können und ihre Lösung durch die
Anwendung eines einzigen festen Prinzips zu finden ist. Oder ein-
facher gesagt: solange der Staatsgedanke verschiedenen und wech-
selnden Inhalt haben wird, werden auch nur schon aus diesem
Grunde die Anschauungen über die Territorialkonflikte verschie-
dener und oft gegensätzhcher Art sein, und eine Verständigung,
die Herausbildung allgemein anerkannter und alle befriedigender
Sätze und Anschauungen außerordentlich erschweren.

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Da es sich hier um einen aus dem Gesichtswinkel der vorhegenden
Arbeit außerordenthch wichtigen Punkt handelt, sei dasselbe noch
einmal mit andern Worten gesagt. Einen Konflikt im Rechtswege,
nach allgemein anerkannten Grundsätzen lösen, bedeutet ihn ver-
einfachen, bedeutet gewissen Umständen, die^man für besonders
wichtig hält, eine entscheidende Bedeutung zumessen. Man sucht
in dem Konfhktverhältnisse nach den Tatsachen und Erwägungen,
die alle anderen „nebensächlichenquot; in den Schatten stellen, und
vereinbart, die „Anrechtequot; oder die „Berechtigungquot; nur nach diesen
besonders wichtigen Gesichtspunkten zu beurteilen. Territorial-
konfiikte sind nun Konflikte, die ausschließlich den Staat betreffen.
Das Gebiet hat für den Staat außerordenthche Wichtigkeit, es ist
eines der Elemente, aus denen er sich zusammensetzt. Welchen
Wert aber nun das Gebiet für den Staat hat, wird davon abhängen,
wie man über den Zweck, den Daseinsgrund, die Pflicht des Staates
denkt, kurzum, wird von der jeweiligen herrschenden Staatsform
und Staatsidee abhängen. Diese werden an erster Stelle jene Um-
stände, Tatsachen und Erwägungen sein, nach welchen man in
einem Territorialkonfhkte würde entscheiden wollen. Wenn es aber
nun unwahrscheinlich ist, daß man sich je allgemein über die
Vorzüglichkeit einer dieser Staatsformen und Staatsideen über allen
andern einigen wird, so ist es auch äußerst unwahrscheinhch, daß
man sich je über die Grundsätze, nach denen Territorialkonfhkte
entschieden werden sollen, einigen wird.

Im Anfange des Kapitels wurde noch eine zweite grundsätzliche
Frage gestellt, deren Beantwortung für das hier behandelte Problem
Von großer Wichtigkeit ist. Diese nämlich: wer hat die Lösung eines
Territorialkonfhktes zu bringen und auf welchem Wege soll sie
gefunden werden?

Auch auf diese Frage kann verschieden geantwortet werden, je
nach der Weltanschauung dessen, der die Antwort gibt. Es handelt
sich dabei um allgemein menschliche Urteüe, sie soll daher vom
Allgemeinen zur besondern Anwendung hin hier erörtert werden.

Man kann der Meinung sein, daß eine Entscheidung, in welcher
Angelegenheit es auch sein möge, nur durch den persönhchen
Entschluß und das eigne Urteil dessen, den die Frage angeht, her-
beigeführt werden soll. Nicht „das Gesetzquot;, nicht „die Geschichtequot;,

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oder „die Offenbarungquot; entscheiden: äußere anerkannte Autori-
täten, an deren Macht man nicht riittelt, vor denen man sich beugt
und an die man vor jeder Entscheidung wie an ein Orakel heran-
geht, sondern der freie, ungebundene, sich seiner Urteilskraft be-
wußte Mensch. Nach eignem „freiem Ermessenquot;, nach eignem
Willen und eigner Anschauung soll er entscheiden, sich um nichts
anderes bekümmernd, als um seine eigne, ehrhche, freie Meinung.
Ein Mensch, der in dieser Weise handelt, denkt autonom.

Man kann aber andererseits auch der Anschauung huldigen, daß
eine Entscheidung, selbst in eignen Angelegenheiten, nicht nach
den eignen Wünschen und persönhchen Auffassungen getroffen
werden soll, sondern nach dem, was das „Gesetzquot; darüber sagt,
was der Nachbar meint, nach dem, was die Artigkeit, die Konven-
tion mit sich bringt, nach dem, was seit undenkUchen Zeiten dar-
über gesagt ist und Anerkennung gefunden hat. Wenn man so denkt
(und nahezu alle Menschen tun es in nahezu allen Fällen), so denkt
man heteronom.

Diese beiden einander gegengesetzten Denkarten können sich
nun auch auf verschiedene Art in Genossenschaften, in unserm
Falle in Staaten oder ähnlichen Gebilden, entwickeln. Eine Ge-
meinschaft kann von Natur aus, oder unter dem Einflüsse gewisser
Entwicklungen und Umstände, heteronom denken, sie kann sich
für die Regelung gewisser Verhältnisse, zum Beispiel der auswärti-
gen in einem Staate, völlig desinteressieren und sie andern: der
„Regierungquot; überlassen. Diese Regierung wird dann ihrerseits sehr
autonom denken, überzeugt sein, daß die Entscheidung über solche\'
Angelegenheiten tatsächlich auch in ihren Händen zu beruhen hat,
ob man nun diese Ueberzeugung mit der ,,Offenbarungquot;, wie in
historisch gewachsenen monarchischen Staaten, oder nur mit der
persönhchen, hervorragenden Fähigkeit begründet, wie in dikta-
torisch regierten Staaten, ist im Grunde gleichgültig.

Andererseits kann eine Gemeinschaft aber auch sehr autonom
denken. Sie kann der Meinung sein, daß jedem Volksgenossen, da
die Menschen der „Vernunftquot; nach ja „gleichquot; und „gleichberech-
tigtquot; sind (diese beiden im Grunde verschiedenen Thesen verwech-
selt man in der Regel und vertauscht sie willkürhch), daß jedem
Volksgenossen also ein gleicher Einfluß auf die Führung der Staats-
geschäfte zusteht. Da man aber nun irgendwie zu Beschlußfassung

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und Handlung kommen muß, einigt man sich, wieder der „Ver-
nunftquot; nach, darüber, daß die Meinungsäußerungen der Mehrheit
die Entscheidung bringen sollen. Die Regierung ist dann nur eine
Vertretung, eine letzten Endes im Auftrage anderer handelnde
Instanz.

Es wurde nun schon oben in anderem Zusammenhange darauf
hingewiesen, daß je nachdem eine Regierung autoritär, nach eignem
Ermessen über die Interessen des Staates entscheidet, oder nur
heteronom nach dem Willen der Mehrheit im Staate handelt, allerlei
Angelegenheiten, auch Territorialkónflikte, von verschiedenen
Standpunkten aus, unter Hervorkehrung verschiedener Interessen,
beurteilt werden und daß dieser verschiedene Standpunkt in der
Regel -das Problem komplizieren und das Finden einer Lösung
außerordentlich erschweren wird.

Es können einander also in Territorialkonflikten ersthch ent-
weder zwei autonom orientierte, monarchische Regierungen, oder
zwei heteronom orientierte demokratische Regierungen, oder je
eine monarchische und eine demokratische gegenüberstehen. (Von
der schwachen, passiven, ohgarchischen wird hier abgesehen, um
die Auseinandersetzung nicht zu sehr zu komphzieren.) Beide,
werden einander in allen genannten Fällen autonom gegenüber-
treten, denn die monarchische Regierung ist an und für sich auto-
nom und die demokratische ist nur die Vertretung einer ebenso
autonomen Volksgemeinschaft. Wenn nun ein Territorialkonflikt
vorliegt, wird man erst anfangen mit einander zu unterhandeln,
denn das ist am praktischsten; und in sehr seltenen FäUen kann
man sich ja einigen, so wie es bei dem polnisch-htauischen Streite
um Podolien um 1450 der Fall war. Für diese Einigung können sehr
triftige Gründe vorhegen; in der Regel, wenn es sich um bedeutende
Objekte handelt, werden sie nur den Wert
einer Waffenruhe, eines
Hinausschiebens der endgültigen Lösung haben; so war es auch in
dem genannten polnisch-litauischen Gegensatz. In der Regel wird
man sich aber nicht einigen, denn keine der Parteien will nachgeben
und dann kommt es zu der bekannten kriegerischen Auseinander-
setzung und der Entscheidung durch Gewalt.

Autonome und heteronome Denkart sind zwar eins vom andern
das Gegenteil, zwei grundverschiedene menschliche Veranlagungen
(vieUeicht auch nur ein tiefer Temperamentunterschied), können

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aber doch in ein und demselben Individuum auch in ein und der-
selben Regierung zutage treten und durch die Umstände entwickelt
oder unterdrückt werden. So können die beiden, anfangs autonom
aneinander geratenen Regierungen zu der Auffassung gelangen, daß
sie mit dieser Lösungsart nicht auf dem richtigen Wege sind.

Der Wahrheitsdrang des Menschen, seine Sehnsucht nach dem
Absoluten, sein Wunsch „die volle Wahrheit und nur die Wahr-
heitquot;, „die Wahrheit an sichquot; an den Tag zu bringen, treibt ihn
dazu, den Konflikt auf einen höheren Plan zu heben, ihn aus der
Sphäre der Parteileidenschaften und des vielleicht doch nicht ganz
vorurteilslosen eignen Gedankenganges herauszureißen und dem
Urteile einer höheren Instanz zu unterwerfen. Er wird ,,die Wahr-
heitquot; wissen wollen (wenn er auch in der Regel wohl meinen wird,,
daß „seinequot; Wahrheit auch nur ,,diequot; Wahrheit sein kann) und
versucht Abstand vom Konflikte zu gewinnen, ihn als Objekt zu
sehen, oder ihn wenigstens als Objekt dem Urteile Dritter, Unbe-
fangener, UnbeteiHgter zu unterwerfen. Er will „sein gutes Rechtquot;,
von dem er überzeugt ist (denn man ist doch sehr oft in diesen
Dingen aufrichtig und guten Glaubens), auch von andern bestätigt
sehen und er will der Meinung Anderer, wenn sie sich als begründet
erweist, auch gerecht werden: kurzum, er fängt in dem Konflikte
heteronom zu denken an.

Man kommt so im Reiche der internationalen Beziehungen zur
Institution des Schiedsgerichts. Im ersten Teile zeigte sich, daß
schon seit der allerfrühsten Zeit die Neigung bestand solche Schieds-
gerichte anzuerkennen, sei es, daß man von seinem Rechte durchaus
überzeugt war (und früher, bei primitiveren Verhältnissen, ließen
sich solche Fragen noch in befriedigender Weise lösen), sei es, daß-
man den Krieg müde war oder einen neuen nicht riskieren wollte.
Dieser letzte Umstand wird auch heute noch einer der triftigsten
Gründe sein, die die Parteien zur Anerkennung eines Schiedsge-
richts bestimmen können. Man kann der Ueberzeugung sein, daß
die Unterwerfung einer vereinzelten Gebietsstreitigkeit der Ent-
scheidung Dritter, mit dem Risiko eines ungünstigen Urteils über
die eignen Territorialansprüche als weniger schädlich anzusehen ist,
als der Versuch in autoritärer Weise mit Waffengewalt diese eignen
Ansprüche zu erzwingen, denn der deshalb geführte Krieg kann
schUeßlich auch der gewinnenden Partei doch größeren
Schaden

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zufügen als durch den Gebietszuwachs aufgewogen werden würde.
Man kann des weiteren auch erwägen, daß bei einer längeren Reihe
von Schiedssprüchen (wenn es sich nicht um allgemein als unhalt-
bar angesehene Ansprüche handelt) die Aussicht auf Erfolg keines-
wegs geringer zu $ein braucht als die Aussicht auf Mißerfolg, das
„Risikoquot; also auf die Dauer geringer wird, — wenn diese Erwägung
im Falle der Territorialkonflikte wegen der, in den Augen der
Parteien, außerordentlichen Wichtigkeit dieser Fragen und der
verhältnismäßig sehr geringen Anzahl der auf einen jeden Staat
entfallenden Schiedssprüche solcher Art, auch wohl kaum eine
RoUe spielen wird. JedenfaUs kann aber die dauernd wachsende
Notwendigkeit Kriege zu vermeiden, sehr günstig auf die Anerken-
nung der Schiedsgerichtsbarkeit einwirken.

Die kardinale Frage bei einer solchen Anerkennung ist aber,
ob man überzeugt ist, daß ein solches Schiedsgericht auch wirk-
lich, wenn schon nicht die „einzig richtigequot;, so doch zum minde-
sten die „besserequot; Lösung finden kann, ob es wirklich über die Mittel
verfügt, um das „überzeugend Gerechtequot; seiner Entscheidung dar-
zutun, ob es über Grundsätze verfügt, die allgemein anerkannt
werden können und keine Debatte über den Wert oder den Un-
wert des ganzen Schiedsspruches, der doch die beste und „gerech-
testequot; Lösung bringen will, zulassen. Im letzten Kapitel soll nun
erörtert werden, aus welchen Gründen das ganze Problem gerade
auf diesem Punkte strandet.

Wenn aber dieser Schiedsspruch nicht überzeugend sein kann,
wenn Unsicherkeit und begründeter Meinungsunterschied über
den Wert der Entscheidung fortbestehen bleiben, so wird der Kon-
flikt weiter schwelen, bis er in helle Lohe wieder ausbricht. Dann
ist aber auch gar kein Grund vorhanden, die Entscheidung einem
Schiedsgerichte zu übertragen: man wird die Wahrung seiner In-
teressen einem Schiedsrichter, der — möge er auch sonst die besten
Absichten haben — nicht in der Lage ist, den Fall auf wirklich
überzeugende Weise zu lösen, nicht anvertrauen wollen. Man
wird sich die Entscheidung lieber selber vorbehalten, wenn ein
anderer doch keine bessere brmgen kann. Man wird dann, unter
Vermeidung kriegerischer Auseinandersetzungen, sich unmittel-
bar, oder nur unter Vermittlung Dritter, zu verständigen
suchen. Das wird dann eine Einigung, em Kompromiß; nach irgend-

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einer annehmbaren Lösung wird man suchen, wenn die „besserequot;
doch nicht zu finden ist.

Die ganze Frage, ob Territorialkonflikte der Entscheidung eines
Schiedsgerichts unterworfen werden sollen, wird so wieder in den
Hintergrund geschoben. Man wird unmittelbar von Partei zu Partei
unterhandeln, aber mit diesem Gewinne, daß man durch die Einsicht
in die Unlösbarkeit des Problems nach „anerkannten Grund-
sätzenquot;, sich eine weit versöhnhchere Denkart erworben hat.
Man wird wieder zusammentreten, gleichberechtigt der Eine dem
Andern gegenüber und man wird wissen, daß auf jeden Fall eine
gewalttätige Auseinandersetzung in beider und aller Interesse zu
vermeiden ist. Wieder wird man versuchen, „allgemeine Grund-
sätzequot; zu finden; ein jeder bleibt autonom, denn er hat sich ja
gerade „seine Rechte vorbehaltenquot; und will sich mit dem Gegner
nach freier und ehrlicher Auseinandersetzung einigen. Und wieder
wird man finden, daß die Standpunkte nicht auszugleichen sind,
daß es an jenem festen Punkte mangelt, an jenem Fundament,
auf dem man weiter aufbauen könnte. Dann bleiben zwei Mög-
hchkeiten, entweder daß man das Streitobjekt teilt oder irgendwie
auf andere Art zum Kompromiß kommt, oder aber daß man die
Entscheidung einem Dritten überträgt, eine Autorität
anerkennt,
deren Spruch man den Wert eines „Rechtsspruchesquot; zusprechen
will. Nicht weil dieser Spruch wirklich die „beste Lösungquot; bringen
würde, sondern nur weil irgendwie entschieden werden soll, weil
die Unsicherheit nicht länger fortbestehen kann, weil man wissen
Avill, „woran man sich fortan zu halten hatquot;. Auch dieser Weg
ist möghch. Es soll auf ihn im letzten Kapitel zurückgekommen
werden.

Der Gegensatz in den Anschauungen der bei einem Territorial-
konfhkt direkt Beteihgten (es können dies zwei oder mehrere
Staaten sein) hinsichthch der Lösungsgrundsätze und der Lösungs-
methode wird noch komphziert (wenn auch nicht prinzipiell be-
troffen) durch die Existenz indirekt BeteUigter und deren „Interes-
sen und Rechtequot;, durch die Tatsache also, daß bei
Territorial-
konflikten in der Regel zwei Interessentengruppen bezogen sind:
direkt und indirekt Beteiligte.

Schon Kaiser und Papst begründeten ihre Autorität mit der
These, daß sie das Oberhaupt einer großen allgemeinen
christhchen

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Interessengemeinschaft seien, und als sie ihren Einfluß verloren
hatten, als ihrer Autorität alle Reahtät entschwunden war, über-
nahmek die neuen pohtischen Mächte, die souveränen Staaten,
die These der Existenz einer allgemeinen europäischen Interes-
sengemeinschaft. Jede neue Phase, im Laufe des 14. und 15. Jahr-
hunderts, im Konflikte zwischen Polen und dem Deutschen Orden
wurde von beiden Parteien den europäischen Höfen in ausführ-
lichen Deduktionen auseinandergesetzt; eine jede versuchte die
andere so viel wie möghch anzuschwärzen und sich selbst zu recht-
fertigen und Beschuldigungen zurückzuweisen. Später, bei den
Gegensätzen zwischen Polen und Moskau, geschah dasselbe und
bis in unsere Zeit hat sich die Gewohnheit der Kanzleien um in
den verschiedensten Fällen den Standpunkt der Regierungen an-
dern nicht unmittelbar interessierten Mächten klarzulegen, nur
noch entwickelt. In stets höherem Maße äußert sich das Bestre-
ben, Konflikte vor ein größeres Forum zu bringen, sie zu „un-
temationalisierenquot;. Es bedeutet dies nicht so sehr, daß man nach
einem
„unparteiischenquot; Forum sucht, nach einem Gerichtshofe,
der geeignet wäre, diese Konflikte leidenschaftslos und „objektivquot;
zu lösen. Es äußert sich in diesem Bestreben eher die Ueberzeu-
gung, daß durch die Lösung solcher Konflikte auch Interessen
Dritter, nicht unmittelbar Beteihgter berührt werden und daß
es sich\' empfiehlt, von Anfang an dieser Tatsache Rechnung zu
tragen, andererseits aber auch nur Vorteil bringen kann, diese
indirekt Beteiligten davon zu überzeugen, daß die eigne Auffassung
ihren Interessen am meisten entspricht und die Aspirationen des
Gegners nur gemeingefährlich sind.

Aus diesen Ueberreichungen von Apologien durch Gesandt-
schaften und aus der mannigfachen Anwesenheit von Ge-
sandtschaften dritter, unmittelbar beteihgter Staaten bei Un-
terhandlungen über wichtige Staatsgeschäfte entwickelt sich all-
mählich die Institution der Kongresse wie jener erste, der den
Friedensschluß zu Münster vorbereitete, schließhch das „Euro-
päische Konzertquot;, die
Botschafterkonferenz und Völker-
bundsrat und
-Versammlung. AU diese Institutionen sind
keine
RichterkoUegien, keine Arbitragekommissionen; ihre
Mitglieder sind keine leidenschaftslosen Zuschauer, sondern
Interessierte, sie haben die Interessen ihrer Regierungen und

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Länder wie die der Allgemeinheit zu wahren und ihre Gedanken-
gänge, ihre Anschauungen gründen sich zum großen Teile auf die-
selben Tatsachen und Erwägungen, wie die der unmittelbar Be-
teiligten. Zweifellos aber stehen sie auf einem höheren Standpunkte:
sie haben allgemeine Interessen zu wahren und „allgemeine In-
teressenquot; sind der Rohstoff, aus dem sich positive Rechtssätze
entwickeln können. Es wird dies auch oft der Fall sein, es können
aber Umstände mitwirken, die gerade diese „Rechtsquot;-entwicklung
verhindern, die verhindern, daß „Interessenquot; auch „Rechtssätzequot;
werden, sie vielmehr über den Wert einer „Tendenzquot;, eines „Fak-
torsquot; nicht hinauskommen lassen: weshalb dies bei den Territorial-
konflikten der Fall ist, wird im letzten Kapitel erörtert werden.

Die Interessen und Motive jener auf Konferenzen und Kongres-
sen vertretenen Mächte werden zum großen Teil dieselben sein
wie die der unmittelbar am Konflikte beteihgten Staaten, wenn
sie auch weniger positiver, eher passiver Natur sind: es kann die
Befürchtung von Einbuße an Macht und Einfluß sein, oder die
Furcht vor dem Verluste von Absatzgebieten oder von der Ver-
fügung über begehrenswerte Bodenschätze, die Befürchtung
der Vernichtung irgendeiner Kultureinheit, oder des Macht-
mißbrauchs der stärkeren Partei, die Erwägung endhch, daß die
kriegerische Entscheidung des Konfliktes schwere ökonomische
Folgen für die Gesamtheit haben kann. Diese letzte Erwägung
hauptsächlich findet in stets breiteren Kreisen Eingang. Das In-
teresse aller Staaten an der Wahrung des Friedens wird durch
die fortwährend wachsende „Interdependenzquot; stets größer und
durch dieses wachsende allgemeine Interesse werden auch die Ter-
ritorialkonflikte in stets erhöhtem Maße breiteren, allgemeineren
Erörterungen unterworfen. Dadurch aber wächst auch ein Mißver-
ständnis: da der Zweck dieser Kongresse und Konferenzen: die
Friedenswahrung, je länger je allgemeiner anerkannt und gelobt
wird, meint man auch, daß die Grundsätze, über die sie zur Lösung
der Gegensätze verfügen, ebenso allgemein anerkannt und deutlich
sind, daß sie also die Grundlage für wirkliche „Rechtssprüchequot;
bilden können. Solche Grundsätze sind aber bis jetzt noch nicht
gefunden worden und ob sie je gefunden werden können, ist äußerst
fraglich; es wird sich bei den Terrirorialkonflikten
vermutlich
immer nur um Tendenzen handeln, um äußerst elastische Rieht-

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linien, über deren Anwendbarkeit die Anschauungen recht weit
auseinandergehen werden.

Es soll dies, wie schon erwähnt, in letzten Kapitel näher beleuch-
tet werden. Jede Lösung wird so ein Werturteil, eine Anschauungs-
sache bleiben; es kann unter Umständen durch Zufall aus den vie-
len möghchen die rechte Lösung gewählt worden sein, es besteht
darüber aber nie irgendwelche Gewißheit, denn diese allen Interes-
sen am besten Rechnung tragende Lösung kann nicht im Voraus
mit Sicherheit festgestellt werden, da die Intensität und der Wirk-
lichkeitswert der verschiedenen Interessen allein schon mit mensch-
hchen Mitteln nie einwandfrei festgestellt werden kann. Ein
„Rechtsquot;-spruch im Sinne des Findens der „besten Lösungquot; wird
nicht getan, denn über die Frage, welche bei den vielen gleich-
wertigen Lösungsmöghchkeiten die „bestequot; ist, einigt man sich
nicht, könnte es auch gearnicht, da das ganze Problem dazu viel zu
komphziert ist. Es ist nur durch die Unterhandlungen dieser
Kongresse irgendeine friedliche Lösung gefunden worden, deren
Verdienst nur in der Vermeidung von Waffenkonfhkten besteht:
man hat auf eins der Lösungsmittel, die allzu gefährliche gewalt-
tätige Entscheidung, verzichtet---- darum aber das Problem

noch nicht in Wahrheit gelöst.

Die oben geschilderten Motive und Faktoren, die bei jeder Erör-
terung über Territorialkonfhkte, sei es auch immer in verschie-
denem Maße, eine Rolle spielen werden und aus denen sich die
„Meinungquot; über einen bestimmten Konflikt zusammensetzt, die
ihrerseits wieder die Lösung beeinflussen wird, sind aber nicht die
einzigen Umstände^ denen bei der Lösung Rechnung zu tragen
ist. Außer ihnen werden noch eine Reihe anderer Umstände rein
tatsächhcher Natur, sich ganz unabhängig, neben diesen mensch-
lichen Anschauungen und Werturteüen Geltung verschaffen. Sie
ins Leben zu rufen, liegt ebenso wenig in menschlicher Macht, wie
ihren Einfluß auszuschalten. Dieser Einfluß kann ganz wesenthch
sein, er kann unter Umständen die Lösung eines Konfliktes voll-
kommen beherrschen. Und so wird das Problem noch einmal kom-
phziert, in noch höherem Maße jeder Möghchkeit „rechthcherquot;

Lösung entrückt.

Da ist an erster Stelle der Einfluß der Persönlichkeit auf die Ent-

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Wicklung der Lage. In wie hohem Maße zum Beispiel die Persön-
lichkeit Friedrichs des Großen, seine hohe politische Begabung
das Zustandekommen der ersten polnischen Teilung beeinflußt,
vielleicht sogar erst möghch gemacht hat, ist bekannt. Anderer-
seits sei daran erinnert, wie sehr die Persönlichkeit der letzten pol-
nischen Könige, ihr geringes Interesse am Gedeihen und an den
Forderungen des Staates das Entstehen jener dem Teilungsge-
danken günstigen Sphäre beeinflußt, vielleicht gar erst geschaffen
hat. Gewisse Motive und Anschauungen werden wohl zu allen Zei-
ten die Handlungen der Menschen beeinflussen und sie werden
sich im Grunde ebenso wenig ändern wie die Gedankenwelt des
Menschen selbst; ob sie sich aber durchsetzen können, oder in wel-
chem Maße sie sich Geltung verschaffen werden, wird oft davon
abhängen, ob sie überzeugend und im rechten Augenbhcke vorge-
tragen werden. Man kann sie so formuheren, daß sie Eindruck
machen, sich so der Denkart Anderer anpassen, daß ihre Wider-
legung und Bekämpfung äußerst schwierig, oft unmöglich wird;
man kann die Schwäche des Gegners ausnützen, seine eignen Ar-
gumente gegen ihn kehren, man kann schheßhch bei richtiger
Beurteilung der Verhältnisse ungefähr schätzen, bis zu welchem
Grade auf den Gegner Druck ausgeübt werden kann. Manche Cha-
raktere werden versöhnhch, andere hart und unerbittlich sein.
Kurzum, auf welche Art gewisse Interessen vertreten werden,
wird oft von den Persönlichkeiten, denen die Führung anver-
traut ist, abhängen und in wiefern diese ihre Absichten verwirk-
hchen können, wird durch die Umstände und durch ihre Begabung
bedingt werden. Ob aber im wichtigen Augenbhck die rechte Per-
sönlichkeit vorhanden sein wird, bleibt eine Öffne Frage. Es liegt
nicht im menschlichen Vermögen, dies zu befördern oder zu ver-
eiteln, und so macht sich bei beinahe jeder Lösung ein
Element
der Unsicherheit geltend. Andere Einflüsse als nur Anschauungen
verschaffen sich Geltung.

Oben wurden die zur Zeit der Lösung herrschenden Umstände
und Verhältnisse erwähnt; auch ihr Dasein ist keineswegs durch
MenschenwiUen und Menschenmacht bedingt. Ihr Auftreten ist
nicht vorherzusehen, ihr Einfluß nicht auszuschalten. Man weiß,
daß das Zusammentreffen starker Entwicklung der drei Polen
umringenden Großmächte und innerer Schwäche im
polnischen

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Reiche selbst die Teilungen begünstigt hat, daß aber auch die
Teilungsmöglichkeit bei stärkerem polnischem Widerstande durch
die drohende Gefahr eines allgemeinen Krieges um vieles proble-
matischer gewesen wäre. In gleicher Weise wurde die Wiederher-
stellung der polnischen Einheit in 1918 erst ermöglicht durch den
gleichzeitigen Zusammenbruch der drei Teilungsmächte. Das
Vorhandensein all dieser Zusammentreffen, all dieser Gleichzeitig-
keiten aber ist unabhängig von menschlichem Willen und mensch-
licher Macht; andererseits können aber auch gleich vor oder gleich
nach einer Entscheidung eines Territorialkonfliktes in unerwarteter
EntAvicklung sich Umstände einstellen, die den Wert der Entschei-
dung illusorisch machen, neuen Möglichkeiten den Weg ebnen
oder einfach jede weitere Entwicklung der Lage durchaus un-
sicher machen. Auch das kann den Wert jeder Entscheidung
äußerst fragwürdig werden lassen.

Schließlich kann noch die Existenz einer gewissen historischen
Vergangenheit Territorialkonfhkte komplizieren, und zwar in der
Weise, daß Tatsachen und Verhältnisse aus früheren Jahrhunderten
die Anschauungen der Zeitgenossen beeinflussen. Es geschieht dies
nicht aus dem Grunde, daß diese Tatsachen mit der Situation des
Augenblicks in irgendwelchem unmittelbaren Zusammenhange
stehen, sondern ledigHch darum, weil im Augenblicke des Handelns
die Erinnerung an jene folgenlosen Tatsachen geweckt wird und
das Urteil der Parteien beeinflußt. Es handelt sich hier nicht um
historische Zusammenhänge, die zum Beispiele das Entstehen einer
Nationalität zur Folge gehabt haben, oder zum mindesten irgend-
ein Verwandtschaftsgefühl hervorriefen, sondern nur um jene
mzidentellen Tatsachen, die gern zur Begründung irgendwelcher
zweifelhafter „Anrechtequot; benutzt werden und eine gewisse Ueber-
zeugungskraft besitzen, da die wenig nachdenkliche große Masse
„historische Tatsachequot; und „Anrechtquot; in der Regel verwechselt.\'

Die hier oben geschilderten Motive, Faktoren und Tatsachen
bilden im Spiel und Widerspiel der ewig wechselnden Kombina-
tionen die Grundlagen der Territorialkonflikte. Es leuchtet wohl
ein, daß sich bei ihrer wechselnden Intensität, bei ihrem unregel-
mäßigen Auftreten nie irgend ein festes Bild jener Konflikte bil-
den kann.

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Es sei aber zur Verdeutlichung im folgenden Kapitel noch ein-
mal
zusammengestellt, auf welche Art Staatsmänner und Theore-
tiker durch die Jahrhunderte hindurch dennoch versucht haben
die Lösung einfachen, greifbaren und ewigen Normen zu unter-
werfen.

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DIE VERSUCHE EINER RECHTLICHEN LÖSUNG DES

PROBLEMS.

Es ist im vorigen Kapitel, auf die Doppelseitigkeit des Problems
hingewiesen worden. Aus zwei Grundfragen setzt es sich zusammen,
von denen die ersten sich auf die Grundsätze bezieht, nach wel-
chen ein Territorialkonflikt entschieden werden soll und die zweite
sich mit der Reglung der Kompetenz und der anzuwendenden
Prozedur befaßt. Beide spielten bei jedem Lösungsversuch in der
Vergangenheit eine RoUe und soUen auch der vorHegenden
ZusammensteUung zu Grunde liegen. Es sei wieder der ersten der
Vorrang eingeräumt und zunächst den Grundsätzen, deren An-
wendung zur Lösung vorgeschlagen wurde, die Aufmerksamkeit
zugewandt.

1 Zur Zeit, da der Kaiser Territorialkonflikte entschied, war
das Problem noch verhältnismäßig einfach. Dre Kaiser hielt
Reichstage ab und bei diesen Gelegenheiten entschied er wichtige
Streitfälle, wozu auch mögliche Territorialkonflikte gehörten. Sie
unterschieden sich keineswege van andern StreitfäUen, denn eine
Scheidung zwischen privatem und öffentlichem Recht wurde in
jener Zeit noch nicht gemacht. Es wurden auf Territorialkon-
flikte dieselben Rechtssätze, wie auf andere Streitfälle angewen-
det: ein Unterschied zwischen Meinungsverschiedenheiten zweier
Freibauern über ihre Anrechte auf einen Acker und einem Kon-
flikte zwischen Reichsgrafen oder Vasallen über ihre Ansprüche
auf größere Gebietsteile bestand im Grunde nicht, denn in beiden
Fällen handelte es sich um Bodenbesitz, und der hatte an erster
SteUe Geldeswert. Es waren jene Konfhkte noch nach aUgemein

\' Auf rein theoretische Konstruktionen wird hier nicht ausdrücklich ein-
gegangen, denn insofern sie für die Praxis Wert erlangt haben, widerspie-
geln sie sich doch schon in den angewandten oder vorgeschlagenen Grund-
sätzen; insofern sie dagegen keinerlei praktischen Einfluß erlangten,
sind sie für die vorliegende Arbeit bedeutungslos, denn das Problem
5oll hier ja an einem rein praktischen Falle ergründet werden.

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anerkannten Grundsätzen zu lösen. In Frage kamen hier die all-
gemein anerkannten Rechtssätze und im FaUe diese nicht aus-
helfen konnten, das freie Ermessen des Kaisers, denn er war ja
eine Autorität, deren Entscheidungen man als „Rechtquot; aner-
kannte. Die Verhältnisse waren noch recht
patriarchalischer
Art. Der Kaiser war der Oberherr der christhchen Völkergemein-
schaft, und als solcher konnte er über alle richten, die zu ihm in
einem Lehns- oder Vasallitätsverhältnis standen; auch wenn es
Gebietsstreitigkeietn betraf. Er konnte züchtigen, indem er Lehen
einzog, er konnte belohnen, indem er neue Belehnungen vornahm.
Wenn diese kaiserhche Autorität auch bald durch die Bildung
faktisch unabhängiger Gebietskomplexe recht iUusorisch wurde,
so kann doch andererseits festgestellt werden, daß sie jedenfalls
eine Zeitlang Realität gewesen ist: auf dem Reichstage zu Qued-
linburg in 973 (und auch noch späterhin in andern Fällen) wurde
ein
Territorialkonflikt zwischen einem deutschen Markgrafen und
dem Polenherzog durch den Richterspruch des Kaisers — also,
worauf es in diesem Zusammenhange hauptsächlich ankommt:
durch nach des Kaisers Anschauung maßgebende Rechtssätze oder
Auffassungen — gelöst. Diese Lösung wurde aUseitig
anerkannt
und damit war der Fall erledigt. Ob nun diese „Anerkennungquot;
mehr die kaiserhche Autorität oder die vom Kaiser angewendeten
Rechtssätze betraf, mag dahingestellt bleiben: vermuthch hat man
sich darüber nicht aUzu sehr den Kopf zerbrochen. Ueberhaupt,
daß die Art und Weise der Lösung nach unsern Anschauungen
„patriarchalischquot;, „primitivquot; war, ist irrelevant, denn die Ver-
hältnisse waren damals ja auch ganz andere wie heute. Es
ergibt
sich aber hieraus auch, daß jene Lösungsgrundsätze unbrauchbar
wurden, sowie die Verhältnisse komphzierter geworden waren,
daß ihre Anwendungsijiöglichkeit also zeitlich sehr bedingt war.

Ein gleiches kann von den päpsthchen Richtersprüchen gesagt
werden. Wenn ein Konflikt vor die Kurie gebracht wurde, und das
geschah tatsächlich wiederholt hinsichthch der pommerellischen
Frage, wenn beide Parteien die Kompetenz des Papstes aner-
kannten, so waren die Grundsätze des kanonischen Rechtes maß-
gebend. Daß diese päpstlichen Sprüche sich so wenig Geltung
verschaffen konnten, war eine Frage der Kompetenz, die unten
erörtert werden wird.

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Kaiser und Papst und die von ihnen postulierten Rechtssätze
waren in höchster Instanz innerhalb der römisch-kathohschen Völ-
kergemeinschaft maßgebend. Wie war es aber mit dem außerhalb
dieses Heihgen Römischen Reiches Bestehenden? Da war an erster
Stelle die grundsätzhch gleichberechtigte, modern ausgedrückt
„souveränequot; byzantinische Welt. Wenn es mit ihr zu Territorial-
konflikten kam, so bheb nichts anderes als Unterhandlungen oder
Krieg übrig, denn es gab weder eine Instanz, die über beiden Welten
stand, noch einfache, beiderseits als entscheidend anerkannte
Grundsätze. Hier zeigt sich schon der recht relative Wert der kaiser-
lichen und päpsthchen Lösungsgrundsätze: aUes konnte man
damit keineswegs erledigen. Die Schwierigkeit wuchs immer in
dem Maße, in dem sich jener Gedanke der ,,Souveränitätquot; durch-
setzte.

Außer dieser byzantinischen Welt gab es noch den recht vagen
und vielumfassenden Begriff: die Heiden. Diese waren aus der
christlichen Rechtsgemeinschaft ausgeschlossen, sie waren für die
Christen „rechtlosquot;. Irgendwelche Ansprüche auf Schutz und
Anerkennung ihrer Interessen konnten sie erst nach dem Ueber-
tritt zum Christentum geltend machen und dieser Uebertritt
spielte immer eine entscheidende Rolle. Die Auffassung der Recht-
losigkeit der Heidenwelt hat jahrhundertelang viele Territorial-
konflikte beherrscht. Das Verhältnis zwischen dem deutschen Orden
und den Preußen und Litauern, zwischen Polen, Pommern, Preußen
und Litauern vor deren Uebertritt zum christlichen Glauben,
gründete sich auf sie; und ähnliche Auffassungen haben in mancher
Hinsicht noch die europäische Kolonialexpansion bis tief ins 19.
Jahrhundert beeinflußt. Die normalen Beziehungen sind in diesen
FäUen Krieg, Eroberung, Inkorporation und Unterwerfung. Für
die Relativität aller Weltanschauungen, für eine Gleichberechti-
gung von in Glaubenssächen nicht christlich denkenden Gemein-
schaften ist in diesen Gedankengängen kein Raum. Es gibt nur
eine Wahrheit für sie und das ist die christliche. Für Andersden-
kende kommt nur Unterwerfung in Frage und wenn sie nicht zu
erreichen ist, Ausrottung wie es in Preußen geschah. Von irgendwie
„objektiverquot; Lösung kann hier nicht die Rede sein. Der Rechts-
gedanke wird hier ganz ausgeschaltet, er ist eine Art Luxus, der
„Höherquot;-entwickelten vorbehalten bleibt. Diese Auffassungen

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3i8nbsp;achtzehntes kapitel

haben die christhche Welt (genau so gut aber auch die mohamme-
danische) auf Jahrhunderte hinaus vollkommen befriedigt. Deren
recht relativer Wert trat aber doch oft zutage, denn wenn man
nicht im gegebenen AugenbHck über die nötigen Mittel
verfügte
um die heidnischen Nachbarn mit Krieg zu überziehen, so war
man gezwungen mit den „Rechtlosenquot; zu paktieren. Das waren
aber nur Gegensätze zwischen Ideal und Praxis, wie man sie
überall findet. Im Grunde spielen ähnhche Auffassungen auch
heutzutage noch eine RoUe: sie werden stets mehr durch das „Er-
wachen der gelben und der schwarzen Rassequot; zurückgedrängt.

Es fragt sich jetzt, welche greifbaren und positiven Rechtssätze
in Bezug auf Territorialkonflikte für jene mittelalterliche Christen-
gemeinschaft in Frage kamen.

Gebietskomplexe wurden, mit der Absicht einen Staat zu bilden,
anfängHch durch Eroberung und das „jus primae occupationisquot;
oder durch freiwiUige Anerkennung der Macht des „Staatsschöp-
fersquot;, zusammengebracht. Diese Tatsache der „Anerkennungquot;
weckt den Eindruck, daß schon gleich im Anfange etwas wie „Volks-
souveränitätquot; gegolten hat. Man muß sich die Sachlage aber
nicht
in so positivem, sondern eher in negativem Sinne vorsteUen: der
Herrscher stößt auf keinen Widerstand bei den Volksgenossen im
AugenbHcke, da er sich Geltung verschaffen will. Und wenn
schon
so etwas wie „Delegationquot; bestanden hat, so verschwanden die
sich daraus ergebenden VorsteUungen recht bald, denn der Herr-
scher war unbedingt darauf aus, ein ,,absoluter Herrscherquot; zu sein.
Es wird hier vieUeicht für das Entstehen des „Staatesquot; ein will-
kürliches Kriterium angenommen, nämHch das Auftreten des
Herrschers. Ein aUgemein anerkanntes Kriterium zur Lösung
dieser Frage besteht wohl kaum; in der Regel nimmt man als den
Ausgangspunkt die ständige Siedlung auf einem bestimmten Ge-
biete an; ohne das Eintreten dieses Umstandes ist das
Eintreten
eines Territorialkonfliktes nicht recht denkbar. Ständige Siedlung
bedeutet aber „Konsohdationquot; und Verteidigung gegen Eindring-
linge und äußere Feinde; sowie dies aber geschieht, ist auch
schon
der „Anführerquot; und gleich darauf der „Herrscherquot; da, denn der
Anführer will auch gleich Herrscher werden. Sowie in frühen
Zeiten
von einem Staate die Rede ist, ist von seinem Herrscher die Rede:
er ist die Seele, oft auch erst die Ursache des Ganzen. Der Herr-

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scher hat den Staat gemacht; dieser besteht aus einem Gebiet und
einer dem
Herrscher unterworfenen Bevölkerung, über welche
beiden er ganz frei verfügt; die Staatsmacht ist er selbst. Der
Herrscher kann folghch auch den Staat wieder zunichte machen,
denn in diesen
Sachen kommt alles ja nur auf ihn an: er kann ihn
zum Beispiel unter seine Söhne verteüen. Will er das aber nicht
bedingungslos, will er seiner Schöpfung eine Existenz über sein
Leben hinaus sichern, so wird er Lehnsverhältnisse, Vasallitäts-
verhältnisse oder Institutionen wie den Prinzipat ins Leben rufen.
Fortan wird dann nicht mehr ein Fürst über das Zusammenbleiben
gewisser Gebiete entscheiden, sondern werden das die Bestimmun-
gen der jeweils maßgebenden Institution tun. Es sind dies die ersten
und für die Territorialkonfhkte bedeutendsten Rechtssätze; es sind
die ersten, die eine Konsohdierung des Staatsgebietes anbahnen.
Und wenn man den irreführenden Ausdruck anwenden will: es
sind auch die ersten öffenthchrechtlichen Bestimmungen. Wie
wenig aber gerade in ihrer technischer Entwicklung aus späterer
Zeit stammende Unterscheidungen wie die von Privatrecht und
öffenthchem Recht im Grunde zutreffen, ergibt sich einerseits aus
dem Umstände, daß sich solche Lehnsverhältnisse in hierarchi-
scher Staffelung bis auf ganz kleine Landgüter beziehen konnten
und andererseits daraus, daß auf sie recht eigentlich privat-
rechtliche Begriffe wie Kauf, Schenkung, Erbgang u.d.m. anwend-
bar waren. Bei all diesem muß eins an erster Stelle im Auge behalten
werden: der Herrscher schenkte seinen Söhnen oder seinen Unter-
tanen Land um sie auszusteuern, um ihnen ein Existenzmittel zu
verschaffen. Er behielt sich in der Regel zwar noch ein gewisses,
im Lehnsverhältnisse ausgedrücktes Anrecht an jenen Gebieten
vor, um die Reichseinheit zu wahren, im Grunde aber hatte das
Gebiet doch an erster Stelle Geldeswert, denselben Wert wie ein
Acker; es war ein Existenzmittel, und schließhch konnte der Herr-
scher es ja auch einem andern Herrscher verkaufen oder verpfänden,
er konnte seine letzten im Lehnsverhältnis ausgedrückten Anrechte

darauf ganz lösen.

Der Einfluß des Herrschers, der „Zentralgewaltquot; im Staate,
auf die einzelnen Gebietsteile ging nun auf die Dauer stark zurück:
in Polen zum Beispiel durch die einfache Abschaffung der Prinzi-
patsinstitution, bei primitiveren Vasallitätsverhältnissen durch

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die faktische Lösung solcher Beziehungen, bei den komphzier-
teren Lehns
Verhältnissen durch mehrere Umstände. Denn einer-
seits ging das Lehnsverhältnis auf die leibhchen Erben über und
wurde so das Verfügungsrecht des Herrschers beschränkt, anderer-
seits konnte ein Lehnsmann wieder Untersassen haben und wurden
so die unmittelbaren Beziehungen zwischen Herrn und Untertan
verwischt, Schheßlich aber, und das war von wesentlichstem Ein-
fluß (und wurde in gewisser Hinsicht durch die beiden erstgenann-
ten Umstände hervorgerufen), wuchs die faktische Macht der be-
deutenderen Untertanen auf Kosten der des Herrschers: durch
Usurpation gründeten mächtige Lehnsmänner neue „Staatenquot;,
die auf die Dauer gleichberechtigt mit dem ursprünglichen wurden.
Ein typisches Beispiel solcher Entwicklungen bot oben die ältere
Territorialgeschichte Polens: in 1226 bestätigte der deutsche Kaiser
dem Orden die Belehnung seitens des Masovierherzogs mit den
Gebieten von Kulm und Löbau, Er nennt den Masovier „devotus
nosterquot; und die Bestätigung sein „gutes althergebrachtes Rechtquot;.
Er stand demnach auf dem Standpunkte, daß der Polenherzog
noch sein Vasall sei und daß ihm selbst demnach in höchster In-
stanz die Verfügung über dessen Gebiet, beziehungsweise die Be-
stätigung neuer Belehnungen zustehe. Faktisch war aber der Pole
gar nicht mehr sein Vasall und die Urkunde behielt einen rein theore-
tischen Charakter: der Orden hatte sie sich „auf alle Fällequot; aus-
stehen lassen.

Wenn dieses Lehnsverhältnis nun auch durch faktische Ueber-
griffe und Veränderungen in den Machtsverhältnissen oft recht
zurückgedrängt wurde, so blieb es doch hauptsächlich bei „prinzi-
piellenquot; Auseinandersetzungen an erster Stelle maßgebend. Die
darauf bezüghchen Rechtssätze tauchten immer wieder auf und
wurden auch anerkannt, wenn die Umstände nicht
Usurpation
ahzu verlockend machten.

Wie oben schon angedeutet wurde, galten neben den Regeln
der verschiedenen Vasallitätsinstitutionen noch eine Anzahl andere
aUgemein anerkannte Rechtssätze, privatrechtlicher Natur, für
die Regelung aUer auf die Anrechte auf Gebiete sich beziehenden
Fragen.

Es wurde schon die Anwendbarkeit erbrechthcher Anschauun-
gen auf Gebietsfragen genannt, und es mag hier erst noch auf einen

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anderen Umstand hingewiesen werden: sowie sich Gemeinschaften
bilden, möge es sich nun um private, oder staatliche, oder Völker-
gemeinschaften handeln, tritt auch das Bedürfnis zutage, die rein
faktischen Beziehungen zwischen den Mitgliedern durch „recht-
hch geregeltequot; zu ersetzen; es hegt einem jeden an Sicherheit und
Unanfechtbarkeit seiner Situation. Privatrechtlich gelang dies
ziemlich schneU, es waren dafür zwingende Umstände da; staats-
rechthch und völkerrechthch ging es weniger schnell (völkerrecht-
lich ist es sogar bis heute noch nicht in größerem Umfange gelun-
gen), es war da nicht so eine conditio sine qua non wie für den pri-
vaten Verkehr. Andererseits aber waren in frühen Zeiten diese staat-
hchen und außerstaatlichen .Beziehungen noch so wenig kom-
pliziert, daß man Meinungsverschiedenheiten durch die Anwen-
dung einfacher privatrechtlicher Anschauungen nach aUer Zufrie-
denheit regeln konnte. Solange diese Primitivität der Verhält-
nisse bestand, solange, mit andern Worten, das Gebiet noch nichts
weiter als ein Vermögensteü war, so wie ein Acker oder ein Haus,
waren Rechtssätze anzuweisen, durch deren Anwendung auch
eine „rechtlichequot; Lösung gefunden werden konnte. Es fielen diese
günstigen Umstände aber weg, als die gesellschaftliche Organisa-
tion komphzierter wurde: da waren keine anerkannten „Rechts-
sätzequot; mehr zu finden, man mußte sich mit Anschauungen, Ten-
denzen, Prinzipien zufrieden stellen, von denen ein jeder seine
eignen Auffassungen hatte. Das verhindert aber nicht, daß zur
Zeit, da das Gebiet noch nichts anderes als ein Objeckt von Geldes-
wert war, Anschauungen wie erbrechthche vollkommen zutrafen
und befriedigten. Auch späterhin, als sie nicht mehr ausschheßlich
zutrafen, wollte man sie noch in gleicher Weise anwenden und da
erst wurde die Lage schief und traten die Mißverständnisse ein: die
Lösung wurde im Grunde wieder rein faktisch, auch wenn man
sich auf allerlei (eben nicht mehr zutreffende) Rechtssätze stützte.

Dasselbe ist von andern Rechtsanschauungen zu sagen, von
Kauf, Schenkung, Verpfändung und der Exekution solcher „Si-
cherheitenquot; für Schulden. Auch solche Rechtssätze waren durch-
aus zutreffend und entscheidend, solange andere Komphkationen
sich nicht einstellten. Sie spielten bei dem Uebergange Schlesiens
an Böhmen und bei der Bildung des Ordensstaates eine große Rolle
und niemand bestritt ihre Gültigkeit. Wenn sie dennoch nicht

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imstande waren, rechtliche Lösungen in manchen Gegensätzen
zwischen dem Orden und den Polen, und in der Lemberger und
Haliczer Frage zwischen Polen und Ungarn herbeizuführen, so
lag das eben daran, daß sie als rein formale Scheingründe ange-
führt wurden, also entweder kein eindwandfreier Kauf usw. vorlag,
oder es sich schon um wesentlich andere Motive und andere An-
schauungen handelte und diese privatrechtlichen schon etwas
„veraltetquot; zu werden anfingen. Ganz schieden sie aber erst recht
spät aus; neben alten standen neue Formen, beide griffen in ein-
ander ein und genaue Grenzen und Uebergänge sind hier, wie
auch für andere Verhältnisse, im allgemeinen nicht anzugeben.

Zwecks Geltendmachung solcher „Rechtsansprüchequot; kam es
oft zu Interventionen und von Interventionen zu Kriegen war
es ein kleiner Schritt. Die Folge eines Krieges war in der Regel
eine Eroberung. Man konnte nun auch einfache Eroberungskriege
führen, aber die sind hier, als von rein tatsächlicher Natur, ohne Be-
deutung. Man konnte aber auch die Eroberung nur als notwen-
dige Folge eines Krieges sehen und diesem Werturteile „not-
wendigquot; auch einen quasi-rechthchen Anstrich geben. Die Erobe-
rung ist dann die „gerechtequot; und „notwendigequot; Strafe für einen
„leichtfertigquot; und „grundlosquot; begonnenen Krieg. Ob nun so ein
Krieg zu Unrecht angesagt worden war, entschied das Ergebnis;
es wurde vom „Siegerquot; beurteilt und damit wurde die Sache schon
recht bedenklich. Der Sieger war „im Rechtquot;: es war hier eine
„höhere Gerechtigkeitquot; vorhanden, eine Art Gottesurteil. Aber
das wurde schon sehr persönliche Anschauungssache, über die man
sich nie einigte; man teilte solche Anschauungen eben in der Regel»
wenn man „gute Aussicht auf Erfolgquot; hatte und damit wurde der
„rechtlichequot; Gedanke so ziemlich zur Seite geschoben. Man konnte
aber die Notwendigkeit der Eroberungen als Kriegsfolgen auch
auf andere Art begründen und hier spielen schon
komphziertere
Gedanken eine Rolle: sie konnten als Ersatz für gehttenen Schaden
gelten und sie konnten eine „Garantiequot; sein, den Gegner so schwä-
chen, daß er nicht leicht wieder Kriegsgelüste zeigen würde. Ueber
die „Entschädigungquot; läßt sich dies sagen: man könnte sie genau
so gut in Geld festsetzen, aber man will eben kein „Geldquot; mehr,
sondern „Gebietquot;; Geld und Gebiet sind nicht
mehr gleichwertig,
es gelten andere Motive, man verschweigt Heber etwas und hängt

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den Mantel der „Entschädigungquot; darum. Bei der Garantie wird
die Lage schon deutlicher: es stellen sich da schon „strategischequot;
Erwägungen ein. Allein man kann sich über ihre Stichhaltigkeit
nie einigen. Es befremdet schon, daß der Sieger noch müitärische
Garantien nötig hat; er zeigt sich als der Ueberlegene (wenn es
auch in manchen Fällen einen Kampf auf Leben und Tod gegeben
haben wird; aber diese Fälle seien hier außer Betracht gelassen) und
muß noch überlegener werden zu seiner eignen Sicherheit. Das
ist nicht recht verständlich; und dennoch, selbst wenn man ihm
die „Sicherheitquot; zubilligen wollte: worin soll sie denn bestehen?
In strategisch wichtigen Punkten, in erhöhter Steuerkraft, also
erhöhter Leistungsfähigkeit seines Landes im Falle eines neuen
Krieges? Wird aber ein Krieg wirkhch durch den Besitz wichtiger
strategischer Punkte oder durch höhere materielle Leistungs-
fähigkeit entschieden? Welche Rolle spielen psychologische Mo-
mente und strategisches Talent? auf all diese Fragen kann man
antworten was man wiU, ohne je irgend etwas beweisen zu kön-
nen: es ist reine Anschauungssache und die „rechtliche Grundlagequot;
ist hier recht weit zu suchen.

Diese zuletzt erörterten Fragen wiesen schon auf kompliziertere
Verhältnisse. Noch deuthcher tritt das bei der These der „natür-
lichen Grenzenquot; zutage. Der Ausdruck an und für sich ist schon
bezeichnend. Man will so ungefähr sagen: nicht Erbrecht und Kauf
haben in griUiger Art über den Umfang und die Grenzen des Staats-
gebietes zu entscheiden, sondern die „Vernunftquot;, und „vernünf-
tig gedachtquot; haben die Grenzen eines bestimmten Staatsgebietes
so oder so zu laufen. Aber wie denn? Da der Staat nicht mehr etwas
willkürhch Zusammengewürfeltes ist, sondern ein rationelles Gan-
zes, eine Einheit geworden ist, sollen all diejenigen Gebiete in seine
Grenzen einbezogen werden, die „ökonomisch und strategisch ge-
dachtquot; zu ihm gehören. Der Staat soll „lebensfähigquot; sein und
mihtärisch und ökonomisch auf eignen Beinen stehen können.
Ueber dieses „lebensfähigquot; und über die „ökonomischen und strate-
gischen Forderungenquot; hinsichtlich des Gebietsstandes kann nun
aber wieder eine endlose Debatte geführt werden, ohne daß man
je zu einem Ergebnis kommen wird. Ganz entschieden spielt aus
ökonomischem und strategischem Gesichtspunkte das Gebiet auch
eine Rolle, es ist aber nur ein Faktor neben andern und welcher

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Wert ihm beizumessen ist, welche Rolle er spielen kann und wird,
ist nicht festzustellen: man kann in diesen Dingen nicht „wahr-
sagenquot;, alle Anschauungen darüber sind sehr persönliche Urteile,
die im besten FaUe zutreffen können, ohne daß dieses „zutreffenquot;
im voraus schon festgestanden hätte. Es kann für einen Staat sehr
„wünschenswertquot; sein, ein gewisses Gebiet zu besitzen, aber daruni
ist es noch nicht durchaus „nötigquot;, es braucht keine „Forderungquot;
zu sein.

Es seien einige Beispiele aus dem Stoffe des ersten Teils heraus-
gegriffen. Im 13. und 14. Jahrhundert begehrten Russen, Polen
und Ungarn den Besitz des als Handelszentrum äußerst wichtigen
ruthenischen Landes. Für keine der drei war es eine ,,Lebensfragequot;;
wer von ihnen aber, „ökonomisch gedachtquot;, die begründetsten
„Anrechtequot; hatte, ist nicht zu sagen, denn von „Anrechtenquot; kann
hier ja nie die Rede sein, höchstens von einer „wünschenswertenquot;
Zuweisung. Eine „einzig möglichequot; Lösung ist in solchen Fällen
nie zu geben. Uebrigens gehen solcherlei Anschauungen von der
recht anfechtbaren These aus, daß, wenn staatliche und ökonomi-
sche Grenzen nicht zusammenfaUen, die Staatsgrenzen den ökono-
mischen Zusammenhang bedingungslos zerstören; es bestehen aber
gerade aUerorten mannigfache Interessen, die sich solchen Zer-
störungen widersetzen: in der Regel nimmt man im Gegenteil
immerzu sich entwickelnde ökonomische Beziehungen wahr.

Es sei noch ein anderes Beispiel genannt. In jener selben Zeit
begehrte Polen außer dem ruthenischen Lande, also dem Oberlauf
des Dnjestr, auch das Mündungsgebiet der Weichsel: es waren zwei
wichtige Zentren auf einer der großen europäischen Handelsstraßen.
Der Besitz des einen verschaffte den Zugang zur Ostsee, der des
andern war ein erster Schritt auf dem Wege zum Schwarzen Meer.
Wo hört aber nun die eine „ökonomische Einheitquot; auf und wo
beginnt die andere? AUes hängt vom Gesichtspunkte ab und in der
Regel haben eben aUe Probleme mehrere Seiten.

Aehnhch Hegt es bei den „natürlichen Grenzenquot; im engern Siime.
Der Bug war eine Zeitlang für Polen und der Dnjepr für Litauen
eine solche natürhche Grenze. Dort wo sie breit wurden, waren sie
eine brauchbare Verteidigungshnie, es wurden dadurch aber wieder
Stromgebiete: natürhche ökonomische Einheiten, zerspalten. In
dem Streite um das Driesener Land erklärten die Polen die Netze

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ZU einer natürlichen Grenze, während sie am Oberlaufe desselben
Flusses auf beiden Ufern ausgestreckte Gebiete besaßen. Bei
Gebirgszügen scheint die Lage einfacher zu sein, durch sie werden
wirklich Flächen geschieden; aber von den Höhen aus beherrscht
man mihtärisch die Zugangswege, es sind für die Landesverteidi-
gung äußerst wichtige Punkte. Welcher der beiden Grenzstaaten
soll sie aber beherrschen? Die befriedigende Antwort hierauf bleibt
man schuldig. Dennoch haben die Karpathen lange eine brauch-
bare Grenze gebildet, bei den Teilungen aber wurden sie über-
schritten, ähnlich wie es mit den Vogesen geschah.

Es handelt sich in diesen Fällen immer um Anschauungen, bei
denen der Wunsch der Vater des Gedankens ist; es sind Suggestio-
nen, Vorschläge, politische Programme, denen man das Kleid der
Objektivität geben möchte. Von allgemeingültigen Ueberzeugungen
ist hier nicht die Rede. Man ist schon recht eigentlich zu den „Prin-
zipienquot; gekommen. Ein anderes oft angerufenes solcher Art ist das
bekannte Prinzip der ,,historischen Rechtequot;.

Dieser Grundsatz möchte gern zwei Dinge, die einander aus-
schließen, doch wieder in einem Gedanken vereinigen. Er möchte
die privatrechtliche Institution der Verjährung auch in politischen
Dingen einführen und sie doch zu gleicher Zeit davon wieder fern-
halten. Wenn polnische Könige sich im 14. Jahrhundert „Erben
von Pommernquot; nennen und später der Moskowiter Ansprüche auf
die Gebiete des alten Reiches von Kiew, auf die „Erbschaft Mono-
machsquot; erhebt, so wollen sie damit sagen: wenn wir auch augen-
bhcklich nicht Besitzer der Gebiete sind, so anerkennen wir doch
nicht irgendwelche Verjährimgs- oder Ersitzungsgrundsätze zu-
gunsten des heutigen Besitzers, wie man sie auch konstruieren
möge. Umgekehrt aber erheben sie Anspruch auf die betreffenden
Gebiete, weil ihre „Rechtsvorgängerquot; sie früher eine Zeitlang be-
sessen haben, und da man sich wenig darum kümmert, wie diese
in den Besitz der Gebiete gelangt smd, beruft man sich implicite
doch wieder auf irgendwelche Ersitzung. Wie diese Widersprüche
aber zu erklären sind, darüber zerbricht man sich nicht den Kopf.
In einem und demselben Satze verwirft man Verjährungsgrund-
sätze und beruft sich doch wiederum auf sie. Der „Rechtsgrund-
lagequot; solcher
Besitzverhältnisse (insofern von einer solchen über-
haupt die Rede sein kann) tragen diese Anschauungen nur in ober-

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flächlicher und willkürlicher Weise Rechnung: man begehrt den
Besitz eines bestimmten Gebietes, sucht nach einem Zeitraum, in
dem der „Rechtsvorgängerquot; das Gebiet besessen hat und mißt
diesem Umstände eine entscheidende Bedeutung bei, das ist aber

durchaus persönlich und____wiUkürhch. Ferner wurde aber im

Obigen öfters darauf hingewiesen, daß territoriale Konflikte durch
die Jahrhunderte hindurch keineswegs immer derselben Art sind:
Anschauungen, Vorbedingungen, Verhältnisse und Intensität wech-
seln fortwährend, ohne daß man sie je irgendwie fassen könnte. Da
ist es doch recht unlogisch obendrein, Beziehungen und Verhält-
nisse früherer Zeiten, die im Grunde anderer Art waren und anderen
Anschauungen unterworfen waren, als für die eigne Zeit und die
eignen Verhältnisse entscheidend bezeichnen zu wollen. Das recht
wechselvoUe und oft revolutionäre Leben der Völker verwirft
ebenso leidenschaftlich den Grundsatz der Ersitzung, wie es den
der Verjährung anruft. Diese „historischen Rechtequot; sind im all-
gemeinen nichts als demagogische Mittel; im besten Falle der Aus-
fluß emer begreiflicher „nationalen Sentimentalitätquot; oder (in frü-
heren Zeiten) eines Fürstentraumes. Daß sie praktisch oft recht
großen Einfliß übten, besagt nichts über ihren „inneren- Wertquot;;
es ergibt sich daraus nur ihr hoher „demagogischerquot; Wert.

Im Laufe der Zeit haben auch noch andere, in gewisser Hinsicht
ähnhche Gedankengänge eine Rolle gespielt. So zum Beispiel jener
der „Staatsraisonquot;, dessen klassischer Bekenner wohl Friedrich
der Große geworden ist. Es handelt sich um Anschauungen, die
im Staate die höchste Gemeinschaft sehen und nur die Vermehrung
seiner Macht und Größe im Auge haben. Territorialprobleme
werden ausschheßhch nach der Nützhchkeit und Durchführbarkeit
erwünschter Vergrößerungen des Gebietes beurteilt und von einer
Rücksicht auf die Interessen anderer, von einem Streben nach
Allgemeingültigkeit (sei es auch nur in sehr geringem Umfange)
solcher Auffassungen wäre auch nicht die Rede, wenn nicht von
ihren Vertretern eine gewisse Gleichberechtigung anderer, gleich-
mächtiger, oder über legener Staaten anerkannt würde. Es kommt
so zu einem „Teilen der Beutequot; auf Kosten unterlegener Staaten.
Das Verhältnis, in dem „geteiltquot; werden soll, wird zum System,
die Teilung an und für sich ist eine reine Machtfrage, bei der „recht-
hche Erwägungenquot; keine Rolle spielen. „Gleichberechtigungquot; und

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„Unabhängigkeitquot; werden in diesem Gedankengange ebenso le-
dighch zu Machtfragen. Oft stützen sich dergleichen Anschauungen
noch auf den etwas befremdenden Grundsatz, daß „gesundequot; Staaten
„natumotwendigquot; Expansion betreiben. Ihre letzte und grandio-
seste Konsequenz hat diese Theorie in den Teilungen Polens er-
reicht. Aber sie hat bis in den Weltkrieg hinein noch manchem
„Programmquot; zugrunde gelegen. Sie war aus den Verhältnissen der
Zeit erwachsen, sie war zum Teile eine Reaktion auf anarschische
und zersetzende Einflüsse und zum Teile die Erkenntnis der „Not-
wendigkeit des Schritthaltensquot; mit den Rivalen; in diesem Zu-
sammenhange vor allem muß man sie beurteilen.

Manchmal traten auch gleiche Strömungen auf, aber mit anderen
Begründungen und mit dem Ansprüche auf Allgemeingültigkeit.
Es waren dies der Hegemoniegedanke und die These der „histo-
rischen Missionquot;. Beide waren durchaus einseitige Ideologien, de-
nen man sich widersetzte wo und wie man konnte; sie haben aber
auch, wenn ihnen die nötigen Mittel zu Gebote standen, sich oft
durchzusetzen gewußt. Deutsche Kaiser und französische Könige
haben sie verfochten, Habsburger und Hohenzollern und auch,
auf mehr religiösen Grundlagen, die Moskauer Herrscher. Sie sind
aber mehr poUtische Programme gewesen als Grundsätze, nach
denen Territorialkonflikte zu lösen waren.

Es bleiben noch zwei weitere „Prinzipienquot;, die weit mehr An-
spruch auf
Allgemeingültigkeit erheben: es sind dies der Gedanke
des pohtischen Gleichgewichts und das Nationalitäsprinzip.

Wenn man aus seinen vielfältigen Abfassungen das heraus-
schält, worauf es ankömmt, so besagt der Gleichgewichts-
gedanke ungefähr das folgende: wenn Staat A. sein Gebiet
vergrößert, so soll auch dem Staate B. (usw.) ein Gebietszuwachs
in gleichem Verhältnisse gesichert werden. Oder: eine Gebiets-
vergrößerung des Staates A. ist nur zulässig, wenn auch dem Staate
B. (usw.) ein gleichwertiger Gebietsteil zufäUt: es kommt darauf
an, das einmal bestehende Gleichgewicht in den Machtverhält-
nissen der Staaten zu beständigen. Die Theorie äußert sich keines-
wegs über Grundsätze, nach denen ein TerritorialkonfUkt ent-
schieden werden soll, sondern ledigHch darüber, welche Ansprüche,
auf einen Anteil an der Beute dritte Staaten haben sollen. Der
Umstand, daß Gebietsvergrößerungen stattfinden, wird einfach

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als Tatsache anerkannt und nicht weiter diskutiert. Man aner-
kennt die Machtpolitik und versucht nur selbst auch dabei zu ge-
winnen oder zum mindesten nicht zu verlieren. Man kommt so
entweder zu dem Grundsatz: „wo einer stiehlt, da stehl ich mitquot;,
oder zu der Gemütsverfassung Maria Theresias bei der ersten Tei-
lung Polens: „sie weinte und nahmquot;. Diesem letztgenannten Ge-
sichtspunkte könnte man noch eine gewisse Berechtigung zuspre-
chen; er versucht die Interessen einer größeren Gruppe Staaten
zu wahren: da es nicht möglich ist die Machtpolitik anderer Staaten
auszuschalten, so will man zum mindesten verhüten, daß die Fol-
gen solcher Machtentfaltung allzu bedenklich werden. Man ver-
sucht den Machtzuwachs der „maßgebendenquot; Staaten gleichen
Schritt halten zu lassen. Die erste wiUkürhche Annahme in diesem
Gedankengange ist schon dieses „maßgebendquot;. Welche Staaten
maßgebend sind, darüber entscheiden rein tatsächliche Macht-
verhältnisse: es sind die Großmächte und deren Satelliten: Staaten
geringeren Umfanges, die für ihre Absichten verwendet werden
können. Willkürlich ist ferner die Annahme des Bestehens eines
Gleichgewichts. Wann besteht ein Gleichgewicht? Wenn von drei
Mächten je zwei die dritte in Schach halten können? oder wenn
nur zwei Mächte schon einander gewachsen sind? oder wenn sich
ein Staat gegen aUe anderen behaupten kann? oder wenn die ganze
Staatengemeinschaft in zwei gleich starke Lager verteilt ist? AU
dies kann Gleichgewicht bedeuten und die Anschauungen werden
geteilt sein. Was ist aber ferner „gleich stark?quot; Welche Faktoren
bestimmen die Gleichwertigkeit von Gebieten? Soll jeder der „teil-
berechtigten Staatenquot; einen gleich großen Gebietsteil erwerben oder
nur einen den bestehenden Größenverhältnissen der Staaten ent-
sprechenden? Welche Faktoren bestimmen eigentlich letzten Endes
die „Machtquot; eines Staates? Auf aU diese Fragen gibt es mannig-
fache Antworten; keine wird voll befriedigen und über keine wird
man sich voUkommen einigen können. Das ganze System des Gleich-
gewichts hängt in der Luft; sein Bestehen und sein Funktionieren
ist in keiner Weise eindeutig klarzulegen. AUes ist Anschauungs-
sache, wie bei den andern vielfach empfohlenen Prinzipien. Daß
man nach diesen Grundsätzen hie und da befriedigende Lösungen
finden konnte, besagt noch nichts über ihren wirklichen Wert. Es
bleibt immer noch die Frage, wer befriedigt war und ob Alle be-

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friedigt waren: darüber äußerte man sich nicht und „einer, der die
Zeche bezahltequot;, war immer da, letzten Endes mußte ja stets
„geteiltquot; werden.

Auf ganz anderer Grundlage beruht das Nationalitäts-
prinzip. Es geht von dem Gedanken aus, daß die in der Völker-
gemeinschaft entscheidenden Einheiten nicht die Staaten, sondern
die Nationen sind. Nicht das Gebiet, sondern die Menschen sind
die Zusammenhänge, auf die es ankommt. Und so wird die folgende
Forderung gestellt: jede Nation soll einen Staat bilden und jeder
Staat soll auch eine Nation sein. Nun zeigt sich aber, daß in ver-
schiedenen Staaten mehrere Nationen nebeneinander wohnen und
augenscheinlich damit ganz zufrieden sind. Da fangen die Zweifel
schon an: was ist eine Nation? Eine Menschengruppe, die sich aus
verschiedenen Gründen als zusammengehörig fühlt und von andern
wesensgleichen Gruppen verschieden weiß. Gut, aber wo liegt nun
die Grenze zwischen „nationalemquot; und „provinzialemquot; Zusammen-
gehörigkeitsgefühl? Gibt es vielleicht auch noch höhere Einheiten
als diese Nationen? Wohnen in der Tschechoslovakei eine oder
zwei Nationen, in der Schweiz drei oder eine, in Belgien eine oder
zwei? Bleibt sich dieses Zusamengehörigkeitsgefühl immer gleich?
Kann es sich nicht in ein höheres auflösen oder in neue spalten;
kann es nicht zunehmen und zurücktreten, gereizt und besänf-
tigt werden, überspannt sein oder zu ruhiger Ueberlegung im-
stande sein? Kann Unterdrückung es nicht zur Auflehnung zwin-
gen und Nachgiebigkeit nicht sein Einschlafen oder seine Auf-
lösung befördern? Man könnte solche Fragen noch mehren, es ist
hier aber zwecklos. Es genügt festzustehen, daß weder der Begriff
Nationalität noch die Notwendigkeit des Zusammenfallens von
Staat und Nation feststeht. Die im Anfang zitierte stolze Forderung
reduziert sich also auf den Satz, daß bei Territorialkonfhkten natio-
nalen Strömungen Rechnung zu tragen ist. In welchem Maße aber,
das läßt sich nicht feststellen, denn die Intensität solcher Strö-
mungen ist ebenso wenig zu messen und aufzuzeigen wie jene
anderer Interessen und Wünsche; sie wird von Fall zu Fall sogar
stark variieren. Alles bleibt eine „Tendenzquot;, ein „Faktorquot;, ohne
daß irgendwelche Präzisierung möglich wäre. Während man in
früheren Jahrhunderten bei primitiveren Verhältnissen noch
brauchbare und deutliche Rechtssätze statuieren konnte, dreht

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sich in unserer Zeit alles um Interessen, Tendenzen, Wahrschein-
lichkeiten, Wünsche und unbeweisbare Behauptungen, denen
man allgemeine Anerkennung und ausschließhche Geltung verschaf-
fen möchte, ohne daß es gehngt. Es bleibt eine durch mannig-
fache Faktoren und unsichere Voraussetzungen bedingte An-
schauungssache und weiter ist man auf dem Wege der „recht-
hchen Lösungquot; bis heute noch nicht gekommen.

Es ist jetzt noch zu schildern, welche Wandlungen die zweite
Grundfrage, jene der Kompetenz und der Prozedur, im Laufe der
Jahrhunderte durchgemacht hat.

Die Kompetenzfrage war zur Zeit der kaiserlichen Entscheidun-
gen verhältnismäßig einfach. Der Kaiser stand über den Parteien,
er war die höchste Instanz der Christenheit. In jener römisch-
katholischen Welt aber, jener in sich geschlossenen Glaubensge-
meinschaft, handelte es sich eigentlich nicht um zwischenstaat-
hche Konflikte, sondern nur um innerstaatliche, wenn die An-
wendung dieser Begriffe auf jene Zeit überhaupt zulässig ist. Es
konnte nur von einem Staate und verschiedenen ihm unterworfenen
Vasallen die Rede sein. Der Kaiser war daher nicht ein unbeteiligter
und unabhängiger Richter, er war vielmehr in jedem Falle interes-
siert und die unmittelbaren Parteien waren von ihm abhängig. Es
waren patriarchalische, wenig geghederte Beziehungen, in denen
Machtverhältnisse eine bedeutende Rolle spielten. Sowie nun die
Macht des Kaisers zu schwinden anfing, sowie in jener Christen-
gemeinschaft sich Kreise abzusondern anfingen, die später zu
„souveränenquot; Staaten auswuchsen, wxirde auch die kaiserliche
Kompetenz bestritten; nach und nach wurde sie vollkommen hin-
fälhg, denn sie hatte eben weniger auf „Anerkennungquot; als auf
„Auferlegungquot; beruht.

Anders verhielt es sich mit der päpstHchen Kompetenz. Sie dräng-
te sich nicht auf, sondern man anerkannte sie freiwilhg; der Papst
hatte eine große geisthche Autorität. Wenn nun aber seine Sprüche
dennoch so wenig Erfolg hatten, so lag das zum Teile an der Auf-
fassung der Parteien, daß Schiedssprüche mehr ein Grund zur Ver-
einbarung einer Waffenruhe als eine Methode der Lösung von
Konfhkten waren; in zum mindesten ebenso hohem Maße lag es
aber an dem Umstand, daß eben der Papst auch nicht ein leiden-

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schaftsloser Philosoph war, sondern an jedem Falle ein eignes, oft
sehr bedeutendes Interesse hatte. So wurde ihm im Laufe des 14.
Jahrhunderts oft vorgeworfen, daß seine Prokuratoren nicht vor-
urteilslos entschieden hätten; seine Sprüche konnten sich keine
Geltung verschaffen. Als im Anfange des 15. Jahrhunderts die
pommerellische Frage erneut dem Urteile der Geistlichkeit auf dem
Constanzer Konzil unterworfen wurde, kam das Konzil schon
überhaupt nicht mehr zu einem Schiedssprüche. Die Lage war
schon so verfahren, die Anschauungen schon so kompliziert ge-
worden, daß man keinen befriedigenden Ausweg mehr fand. Auch
hatte das Ansehen der Geistlichkeit schon bedenklich gelitten.

Neben jenen beiden Autoritäten ging man auch nach und nach
mehr andere weltliche Fürsten um Schiedssprüche an. In dieser
Hinsicht spielten in den osteuropäischen Fragen oft der böhmische
und der ungarische König eine Rolle. Man übertrug ihnen die Ent-
scheidung nicht wegen ihrer hervorragenden richterlichen Fähig-
keiten, sondern weil ihre Macht und ihr Ansehen bedeutend war,
weil sie am Falle interessiert waren und doch schon im Konflikte
eine Rolle spielten, und eben wegen ihrer Macht, wegen ihrer die
Parteien überragenden Stellung, am meisten berufen schienen
Ordnung zu schaffen. Sie waren einer der Parteien in der Regel
verschwägert oder durch gemeinsame politische Interessen ver-
bunden, manchmal drangen sie sich auch als Arbiter auf und ihr
Eingreifen war mehr eine Vermittlung als eine schieds-
richterliche Entscheidung. Die beiden Verfahren hielt man nicht
recht auseinander; auch zeigten sich auf die Dauer recht bedenkhche
und wenig erhabene Auffassungen über die schiedsrichteriiche
Pflicht. Als der Gedanke der Gemeinschaft souveräner Staaten sich
in größerem Umfange durchzusetzen anfing, kam die Schiedsgerichts-
barkeit allmähUch in Unbrauch. Sie vertrug sich nicht recht mehr
mit dem Gedanken der neuen Zeit, mit jener selbstherrlichen Auf-
fassung der ungebundenen Souveränität und der vollkommenen Un-
abhängigkeit. Die neue Zeit entwickelte andere Gedankengänge,
die mit ihren Anschauungen vom Staate in besserem Einklang
standen.

Eine jener den neuen Verhältnissen gemäßen Lösungsmöglich-
keiten war die unmittelbare Verhandlung der gleichberechtigten,
souveränen Parteien. Da in der Regel aber niemand zugeben wollte.

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kam es normalerweise immer zu kriegerischen Auseinandersetzun-
gen, ein jeder versuchte seine Wünsche durchzusetzen, die Lösung
wurde eine rein faktischer Art. Nun konnte man aber auch solche
Lösungen in eine andere, höhere Sphäre bringen. Man konnte der
Ueberzeugung sein, daß, wenn es auch nicht möghch sei nach
menschlichen Grundsätzen eine allerseits anerkannte Entscheidung
herbeizuführen, es doch irgendwo und irgendwie eine Instanz gäbe,
die zu einer „gerechtenquot; Lösung verhelfe. Man kam dazu ein
Gottesurteil einzurufen, dem Schicksale, das heißt bei
überzeugten Christen, Gottes Allmacht die Entscheidung zu über-
tragen. Schon im Mittelalter hatte man zu dieser Art Lösung ge-
griffen, man hatte Turniere oder Zweikämpfe entscheiden lassen,
und noch im i6. Jahrhundert beherrschte sie die polnisch-russischen
Beziehungen. Als der Polenkönig weigerte dem Moskauer Zaren
„russische Gebietequot; abzutreten, und als man nach endlosen Unter-
handlungen zu keinerlei Ergebnis kam, ließ der Zar dem Polen
mitteilen, „daß Gott zwischen ihnen entscheiden werdequot;. Man griff
zu kriegerischer Entscheidung. Eine solche Mitteilung kann ein-
fach eine Phrase sein, sie kann aber auch genauso gut auf einer
Ueberzeugung beruhen und es ist kein Grund vorhanden um das
in diesem Falle nicht anzunehmen. Solche Auffassungen bestehen
noch, kaum modifiziert bis in unsere Tage. Man anerkennt dem
„Recht des Stärkerenquot; auch heutzutage noch „eine große innere
Berechtigungquot;, die es „für ewige Zeiten behalten wirdquot;. Man an-
erkennt noch vielfach „die innere Gerechtigkeit und Wahrheit des
Rechtsspruches der Geschichtequot; i. Es wird von Autoren noch viel-
fach angenommen (und ich glaube, daß auch Herr Hanisch zu diesen
gehört), daß der polnische Staat im i8. Jahrhundert nach götthcher
Gerechtigkeit vernichtet wurde, daß Gott immer dem Guten und
Gerechten beisteht. Es ist dies eine Frage der Weltanschauung,
über die es sich nicht debattieren läßt. Man kann gegen sie ebenso
wenig wie für sie mit wissenschaftlichen Mitteln einbringen. Nur
das kann gesagt werden, daß, wenn man sie als praktisches Ent-
scheidungsmittel anerkennt, man damit im Grunde jeden irdischen
Rechtsbegriff zur Seite schiebt und einer Art mystischer Anarchie
dén Weg bereitet. Deshalb wird sie wohl in der Reg
el die Ueber-

1 Siehe zum Beispiel: Grünberg op. cit. Seite 97. auch Caro op. cit. Teil III
Seite
495 Mitte und weiter passim.

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Zeugung einer Minderheit sein, wenn auch darauf hingewiesen wer-
den kann, daß sie in naiver denkenden Zeiten in der christhchen,
wie in der mohammedanischen Welt eine alles entscheidende Rolle
gespielt hat.

Eine andere dem Gedanken der Staatssouveränität entsprechende
Lösungsmethode war die aUgemeine diplomatische Unterhandlung
der Vertreter gleichberechtigter Staaten, wie sie seit dem West-
phälischen Frieden allerorten in Schwang gekommen war. Es
handelte sich dabei nicht um „rechtlichequot;, sondern um „prakti-
schequot; Lösungen; man handelte und versuchte soviel zu erreichen,
wie unter den herrschenden Umständen zu erreichen war. Alhanz-
kombinationen und diplomatische Talente spielten dabei eine
große Rolle, während man dem Ganzen durch die Berufung auf den
äußerst elastischen und vagen Gleichgewichtsgedanken eine feste
Grundlage zu geben versuchte. Tatsächlich spielten bei diesen Ver-
handlungen „gleichberechtigterquot; Staaten die Großmächte eine über-
wiegende Rolle, denn jene Gleichheit war im Grunde vollkommen
illusorisch und theoretisch. Im 19. Jahrhundert konsohdierte sich
diese Lösungsmethode zum „Europäischen Konzertquot;, zur „Bot-
schafterkonferenzquot;, ohne daß sie eingreifende Abänderungen erfuhr.

In der zweiten Hälfte jenes Jahrhunderts, hauptsächlich seit
der Entstehung des Königreiches Italien, gewannen demokratische
Strömungen an Einfluß. Man wollte die Entscheidung nicht mehr
Fürsten, Diplomaten und „Regierungenquot; überlassen, sondern der
Volksgemeinschaft zusprechen. Es entstand nun aber die Schwierig-
keit auszumachen, welche Volksgemeinschaft es sein sollte: die
der beiden unmittelbar beim Konflikt bezogenen Staaten, oder
die des umstrittenen Gebietes? Bei den Unionen war die Sache
einfach, von einem Konflikte war da ja eigentlich nicht die Rede.
Anders lag es bei den Sezessionen und Zessionen. In praxi ent-
schied man sich für die Volksgemeinschaft des umstrittenen Ge-
bietsteiles. Es mag aber darauf hingewiesen werden, daß wo sich
solche Volksentscheidungen bei Sezessionen durchsetzten, dies auf
revolutionärem Wege geschah, oder zum mindesten unter Ausnut-
zung günstiger Umstände, während bei Zessionen nur in weniger
wichtigen FäUen die Entscheidung der Bevölkerung überlassen
wurde und erst nur dann, wenn sich die Parteien über die Anwen-
dung dieses Mittels verstanden hatten.

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Seit dem Ende des i8. Jahrhunderts wurde von Amerika aus
der Gedanke des schiedsgerichthchen Verfahrens, jener rechthchen
Lösungsmethode „par excellencequot;, wieder neu belebt. Man machte
einen scharfen Unterschied zwischen Vermittlung und Schieds-
gerichtsbarkeit, kam allmählich vom isolierten Schiedsgericht, wel-
ches ad hoc geschaffen wurde und nur einen bestimmten Fall er-
ledigte, zu der institutionellen Schiedsgerichtsbarkeit und rief
schheßlich eine ständige Instanz ins Leben (1920) der man die
Entscheidung über bestimmte Arten von Konflikten übertrug.
Bald erklärte man, regelmäßig unter gewissen Vorbehalten, die
Schiedsgerichte kompetent zur Entscheidung aller Konflikte „recht-
licher Naturquot; und ausnahmsweise sogar zur Entscheidung aller
Konflikte, zu denen sodann eventuell auch die Territorialkonflikte
gehören können. Recht weit ist diese Entwicklung aber noch nicht
gediehen. Ob man einem Schiedsgerichte die Lösung von etwaigen
Territorialkonfhkten übertragen wird, wird von verschiedenen
Umständen abhängen: ersthch von der Frage, ob überhaupt
Territorialkonflikte zwischen den ein institutionelles Schieds-
gericht vereinbarenden Staaten möglich sind; wenn sie nicht
irgendwie aneinander grenzen, wird dies wohl kaum der Fall sein;
femer von der Frage, obmöghche Territorialkonflikte von geringer
oder großer Wichtigkeit sein werden; endlich davon, ob Grund-
sätze aufzuweisen sind, die die MögUchkeit einer rechtlichen Lö-
sung garantieren. Hauptsächhch diese letzte Frage wird zu schwer-
wiegenden Bedenken Anlaß geben.

Dennoch haben verschiedene Staaten die Zuständigkeit institutio-
neller Schiedsgerichte für alle zwischen ihnen entstehenden Kon-
fhkte anerkannt; von diesen Vereinbarungen haben für uns Ver-
träge wie der italienisch-schweizerische Schiedsvertrag die meiste
Bedeutung, Für den Fall, daß man sich nicht auf friedUchem Wege
einigen könne (und das wird regelmäßig bei so wichtigen Konfhkten
wie es Gebietsstreitigkeiten sind, der Fall sein), wird verabredet
den Sreitfall vor den Haager Gerichtshof zu bringen. Dieser wird
sich nach aller Wahrscheinlichkeit, wenn es einen Territorial-
konflikt im Sinne der vorliegenden Arbeit betrifft, auf den Stand-
punkt stellen, daß ein solcher Konflikt nach dem (weiter unten
zu besprechenden) Artikel 10 der Völkerbundssatzung überhaupt
inexistent ist. Da beide Staaten Mitglieder des Völkerbunds sind,

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ist anzunehmen, daß auch sie, in Anbetracht des auch für sie gel-
tenden Artikels lo, beim Abschlüsse des Schiedsgerichtsvertrages
überhaupt nicht an solche Territorialkonflikte gedacht haben und
diese demnach auch nicht einem eventuellen Schiedssprüche haben
unterwerfen wollen. Im Falle nun aber entweder der Haager Ge-
richtshof, oder beide Staaten sich nicht auf diesen Standpunkt
stellen würden, was nicht durchaus ausgeschlossen ist, würde ein
eventueller Territorialkonflikt dem richterlichen Verfahren unter-
worfen sein. Ob er dann als „Rechtsfragequot; oder als „politischer
Konfhktquot; behandelt werden würde, kann hier unerörtert bleiben,
außerordenthch interessant würde die Lösung auf jeden Fall sein.
Daß aber hier doch wohl Grund zu einiger Skepsis vorhanden ist,
möge der Hinweis aud die Regelung der Fiumefrage und die Be-
setzung Korfus rechtfertigen.

Während die Anerkennung institutioneller Schiedsgerichts-
barkeit hauptsächlich der Initiative der einzelnen Staaten über-
lassen wurde, versuchte man andererseits auch die Regelung der
Kompetenzfrage auf kollektivem Wege zu erreichen. Hier wurde
der Ausgangspunkt jenes „Europäische Konzertquot;, das durch die
Schaffung eines Völkerbundes in dem analogen „Völkerbunds-
ratequot; wesentlich ausgebaut wurde. Es wurde permanent und auch
kleineren Staaten wurde durch die Institution der „nicht perma-
nenten Sesselquot;quot; ein gewisser Einfluß gesichert. Von grundlegenderquot;
Bedeutung ist der Umstand, daß der Völkerbund, und in engerem
Sinne der Völkerbundsrat, genau wie das Europäische Konzert,
zur ersten Pfhcht die Wahrung des allgemeinen Friedens hat.
Insofern er Einfluß auf die Beüegung von Konflikten erhält, be-
steht seine Tätigkeit mehr darin, eine gewisse Art der Lösung, die
kriegerische Entscheidung, zu verhindern, als rechtliche Lösun-
gen zustande zu bringen. Völkerbundsmitglieder wie Völkerbunds-
rat haben die Pfhcht der Wahrung des Friedens. Ein Eingreifen
oder eine Anrufung des Völkerbundes findet also statt, sowie
ein Konflikt den Frieden bedroht. Die Mitglieder sind in dem Falle
verpflichtet, entweder eine richterliche oder schiedsrichterHche
Entscheidung über ihre Meinungsverschiedenheit herbeizuführen,
oder, wenn sich der Fall ihrer Ansicht nach nicht dazu eignet — und
das wird regelmäßig bei Territorialkonflikten der Fall sein —, die
Angelegenheit einer Untersuchung seitens des Völkerbundsrates

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ZU unterwerfen. Gelingt es diesem die Angelegenheit zu regeln,
so ist naturgemäß die Sache erledigt, obgleich es sich in diesem
Falle nicht um einen Schiedsspruch, sondern um Vermittlung han-
delt. Gelingt es ihm aber nicht, den StreitfaU beizulegen, wohl
aber ein einstimmiges Urteil seiner Mitgheder (mit Ausschluß der
Vertreter der Parteien) über den Streitpunkt zustande zu bringen,
so soh diejenige Partei, die dem Urteile gemäß handelt, vor Krieg
gefreiwahrt sein; die Mitgheder verpfhchten sich wenigstens ihr
keinen Krieganzutun. Gelingt es dem Rate aber nicht, ein einstim-
miges Urteil über die Frage zu erlangen, so behalten sich die Völ-
kerbundsmitglieder das Recht vor „d\'agir comme ils le jugeront
nécessaire pour le maintien du droit et de la justicequot;. Darunter
kann man dann vielerlei verstehen, denn was Recht und Gerechtig-
keit im gegebenen Falle sind, darüber hat man sich ja gerade nicht
einigen können. Auch der Kriegsweg steht dann noch offen und
was in einem solchen Falle Anfalls- und Verteidigungskrieg ist,
wird wohl kaum zu sagen sein, man erinnere sich nur der polnisch-
litauischen Spannung Ende 1927.

Nun liegt aber die Sache noch ganz anders. Zwischen den Völ-
kerbundsmitghedern wird das territoriale Verhältnis augenblick-
hch an erster Stelle durch den mehrgenannten Artikel 10 der Völ-
kerbundssatzung beherrscht. Es heißt dort: „Les Membres de la
■Société s\'engagent à respecter et à maintenir contre toute agres-
sion extérieure l\'intégrité territoriale et l\'indépendance politique pré-
sente de tous les Membres de la Sociétéquot;. Was bedeutet dieser Satz?
Ist er der große neue Grundsatz, das aUgemein anerkannte Kri-
terium, nach dem in Zukunft in erster Linie
Territorialkonflikte
entschieden werden soUen? Will er also das besagen: daß bis auf
die wenigen Fälle, in denen infolge des Weltkrieges Staatsgrenzen
nocht nicht endgültig in Verträgen festgelegt worden sind, die
Mitglieder des Völkerbundes sich gegenseitig ihren
augenblick-
lichen territorialen Umfang garantieren, „für alle Zeitenquot;, und
demnach eigentlich erklären daß zwischen ihnen Territorialkonflikte
inexistent sind? Oder will dieser Satz nur besagen, daß man auf
unbestimmte Zeit hinaus eine Waffenruhe schließt und daß die
Staaten, die nach dem Weltkriege Gebietsverluste erlitten haben
(und es werden doch wohl an erster SteUe diese sein, nach
deren
Meinung es noch „Differenzenquot; gibt), vorläufig, „bis zu gelegenerer

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Zeitquot; von territorialen Erörterungen absehen? Es kommt dem
Autor vor, daß der Artikel 10 nur in dem letztgenannten Sinne
aufgefaßt werden kann. Ein Beispiel sei nur herausgegriffen: es
ist aUgemein bekannt, daß Deutschland die augenblickhche deutsch-
polnische Grenze nicht als endgültig feststehend anerkennt und
die erste die beste Gelegenheit ergreifen wird um eine neue Debatte
über die Frage zu eröffnen. Deutschland ist demnach bereit das
pohlische Staatsgebiet zu „respektierenquot; und gegen „AnfäUe zu
behauptenquot;, ohne daß diese beiden Begriffe noch mit „anerkennenquot;
identisch sind. Mehr als eine Waffenruhe und den Verzicht auf
kriegerische Auseinandersetzung wird man deutscherseits in diesem
Artikel 10 wohl nicht sehen.

Es handelt sich in der Völkerbundsatzung demnach vor allem
darum, Krieg zu vermeiden, das aUgemeine Interesse am Frieden
zu wahren. Da man dem Problem der Lösung nicht auf positivem
Wege näherkommen konnte, wählte man den negativen Weg. Man
einigte sich nicht darüber, wie das Problem wohl zu lösen sei, wohl
aber darüber, wie es nicht zu lösen sei. Aber seitdem hat man doch
noch versucht, auf dem Wege der positiven Lösung weiter zu kom-
men. Da sind die Vorschläge des bekannten „Genfer Protokolsquot;
(1924). Es hat jeden Anfallskrieg, jeden „Individualkriegquot; aus-
schalten woUen, und nur noch „Kollektivkriegequot; anerkennen wol-
len. Aus diesem Grunde wurde verpfUchtete Schiedsgerichtsbarkeit
für alle internationalen Konflikte verlangt. Die Schiedsgerichts-
barkeit ist nicht mehr nur ein Werkzeug der Gerechtigkeit, sondern
auch, sogar vor allem, „ein Werkzeug der Friedensquot; (Politis). Auch
wenn keine anwendbaren internationalrechtlichen Regeln und
Grundsätze zu finden sind, ist dennoch eine Entscheidung „nach
BiUigkeitquot; zu geben, „denn um den Völkern Gerechtigkeit zu
sichern, müsse man ihnen allererst den Frieden gerantierenquot;
(Politis). Daran aber haben die Staaten doch nicht gewoUt. Man hat
diesen Weg wieder verlassen und sich mit bescheideneren Ergeb-
nissen zufrieden gestellt.

Der nächste Schritt auf dem oben angegebenen negativen Weg
war der Komplex der Locamoverträge (1925). Sie woUen nur eine
Ergänzung der Völkerbundsatzung sein und ihre Geltung behalten,
bis der Völkerbundsrat, auf Antrag einer der Vertragsparteien, mit
einer Stimmenmehrheit von zwei Dritteln erklärt haben wird „que

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la Société des Nations assure aux Hautes Parties contractantes
des garanties suffissantesquot;. Außerdem geht der Rheinpakt weiter,
nicht nur als Artikel 15, 7. Absatz (vgl. Art. 2, sub 3°), sondern auch
als Artikel 10 der Völkerbundsatzung. „Les Hautes Parties con-
tractantesquot;, heißt es im ersten Artikel des Rheinpaktes, „garan-
tissent individuellement et collectivement .... le maintien du
statu quo territorial résultant des frontières entre l\'Allemagne et la
Belgique et entre l\'Allemagne et la France, et l\'inviolabilité des-
dites frontières telles qu\'elles sont fixées par, ou en exécution du
Traité de paix, signé à Versailles . . ..quot;

Was man unter dieser Garantie genau verstehen will, ist letzten
Endes eine Frage der Interpretation. Wenn man aber in Betracht
zieht, daß in diesem ersten Artikel die polnisch-deutsche Grenze
nicht „garantiertquot; wird, so wäre a contrario und imphcite daraus
zu schließen, daß Deutschland die deutsch-französische und die
deutsch-belgische Grenze wohl als endgültig feststehend anerkennt,
hierüber demnach ein Territorialkonflikt nicht mehr möglich ist.
Uns interessiert hier aber hauptsächlich die deutsch-polnische
Grenze. Auf sie bezieht sich der Passus in der Präambel des deutsch-
polnischen Schiedsgerichts- und Vergleichs Vertrages: „que le
respect des droits établis par les Traités, ou résultant du droit des
gens est obligatoire pour les tribunaux internationaux. . . .quot; Ter-
ritorialkonfhkte im Sinne der vorliegenden Arbeit werden demnach
der Schiedsgerichtsbarkeit entzogen. Da man ferner „le règlement
pacifique des différends, qui viendraient à surgir entre les deux
paysquot; wünscht, soll also kriegerische Auseinandersetzung auch
ausgeschlossen werden. Aber der Territorialkonflikt besteht und
bleibt bestehen und alle anderen Lösungsmethoden (direkte Ver-
handlungen, Vermittlung Dritter, Anrufung des Artikels 19 der
Völkerbundssatzung, eventuell auch des Artikels 15) können An-
wendung finden. Die Frage der Kompetenz und der Grundsätze,
nach denen entschieden werden soll, bleibt bis auf die genannten
Beschränkungen vollkommen offen.

Der schon erwähnte Gedanke der Ausschaltung des Krieges als
Lösungsmethode bei Gebietsstreitigkeiten wurde schließhch noch
einmal allumfassender und allgemeiner in dem Kelloggpakte (1928)
niedergelegt. Man will darin den Krieg als Mittel zur Erreichung
politischer Zwecke einfach in den Bann tun, hat aber doch Reserven

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anerkennen müssen, hinsichtlich der aus der Völkerbundssatzung,
den LocamoVerträgen, den französischen Neutralitätsverträgen,
dem „Rechte der Selbstverteidigungquot;, der Monroelehre und ge-
wissen dieser Lehre analogen Anschauungen ^ sich ergebenden
Rechte und Verpfhchtungen. Der praktische Wert dieser Erklärung
wurde so wieder erheblich herabgesetzt, denn allem lag wieder die
schwierige und kaum lösbare Frage zugrunde, was denn ein Anfalls-
und was ein Verteidigungskrieg sei. Der moralische Wert bleibt
dennoch ein bedeutender und wird auch Territorialkonflikte be-
einflussen, wenn auch nur in jener negativen Weise.

Wenn man diese Entwicklung noch einmal überMickt, ergibt
sich, daß Kaiser und Papst und auch das Gottesurteil ausgeschieden
sind, daß aber im übrigen alle anderen Lösungsmöglichkeiten der
Kompetenz- und Instanzfrage bestehen geblieben sind. Zugunsten
der einen oder der andern, der unmittelbaren Verhandlung zwischen
den Parteien, der Lösung durch Schiedsgerichte, oder der Lösung
auf „Konferenzenquot; hat man noch keineswegs entschieden. Man
kann die eine oder die andere auch nicht aus irgendwelchen sach-
lichen Gründen ausschließlich bevorzugen; eine jede wird in ge-
wissen Fällen den Vorzug haben können, im voraus ist das nicht
unbedingt auszumachen. Es kommt auch nicht so sehr darauf an,
wer die Lösung gibt, sondern darauf, daß eine Lösung gefunden
wird und da man im allgemeinen hinsichtlich der Existenz anwend-
barer Rechtssätze sehr skeptisch gestimmt ist, scheidet man lieber
den schiedsgerichtlichen Weg und die allzu wenig kontroUierbare
Methode des Plebiszits aus und hält sich in praxi mehr an die
autonome Lösungsart der direkten Unterhandlung zwischen den
heteihgten Parteien und jene nicht allzu riskante Methode der Ver-
mittlung. In wie hohem Maße es bei solchen Lösungen, wie zuch bei
allen andern, auf die Gesinnung und den guten Willen ankommt,
zeigt die letzthin ziemlich unerwartet zustande gebrachte Lösung
der römischen Frage.

Der Schwerpunkt beim Problem der Territorialkonflikte liegt
in den anzuwendenden Grundsätzen. Die Frage nach der Kompe-
tenz ist weniger bedeutend, sie kann unter Umständen einen Fall

^ Siehe z. B. die Aeiißerungen Chamberlains über die britischen
Reserven. N. R. Crt. 31. VII. 1928. O. B. und die Ausführungen Prof.
E. Borchards an der Yale Universität. N. R. Crt. 24. VIII. 1928. O.A.

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komplizieren, auch können die von einander abweichenden Auf-
fassungen und Weltanschauungen der verschiedenen als kompetent
anerkannten Gruppen jede in ihrer Art die Lösung beeinflussen
und ihr einen mehr oder weniger persönlichen Anstrich geben; sie
werden es auch in der Regel tun, denn eine „einzige Wahrheitquot; ist
in all diesem ja nicht zu finden.

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DIE EIGENSCHAFTEN DER TERRITORIALKONFLIKTE
UND DIE FRAGE DER LÖSUNG IM RECHTSWEGE.

Die Ausführungen des achtzehnten Kapitels haben vielleicht
beim Leser den Eindruck erweckt, alsob nach der Anschauung
des Autors Territorialkonflikte etwas ganz besonderes seien und
mit anderen Streitigkeiten in keiner Weise verghchen werden
könnten. Dem ist aber nicht so. Menschliche Konfhkte (und auch
Gebietsstreitigkeiten sind solche) ähneln einander immer; ein prin-
zipieUer Unterschied kann zwischen ihnen nicht bestehen, wohl
aber ein sehr großer gradueller, der die Möghchkeit der Lösung
„im Rechtswegequot; entscheidend beeinflussen kann. Dieser Gedanke
soll im Folgenden näher ausgeführt werden.

Es sei erlaubt die Parallele eines Zivilprozesses heranzuziehen.
Auch in einem solchen kann der Tatbestand derart komphziert
sein, daß durch eine einfache Argumentation und durch Anwen-
dung anerkannter Rechtssätze der Konfhkt nicht zu gunsten der
einen oder der andern Partei auf wirklich überzeugende Weise
zu lösen ist. In solchen Fällen werden zwei oder mehr voUkommen
gleichwertige oder gleich wertlose Entscheidungen möghch sein,
keine wird von den ädern so abstechen, daß man sie ohne Beden-
ken sofort als die beste wählen könnte. Der Richter weiß nicht,
welche er wählen soll, er ist unschlüssig, nichts kommt ihm über-
zeugend genug vor, aber er muß entscheiden, er ist ja dazu da, er
darf kein „Recht weigernquot;, seine Pflicht gebietet ihm zu wählen
und er zählt heimlich an den Westenknöpfen ab, welche der Ent-
scheidungsmöglichkeiten den Vorzug haben soll. Ob er
nun ehr-
lich und vorurteilslos genug gegen sich selber ist um an den Westen-
knöpfen abzuzählen, oder ob er sich suggeriert wirklich doch noch
die „besserequot; Entscheidung herausfinden zu können, oder ob er
sich von bewußten oder unbewußten Sympathien für eine gewisse
Lösungsart bestimmen läßt, das ist hier im Grunde gleichgültig
relevant ist nur, daß es so komplizierte FäUe gibt, daß bei ihrer
Lösung von „Ueberzeugungquot; keine Rede sein kann.

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Die Entscheidung fällt also und wenn sie in letzter Instanz ge-
fallen ist, so beruht man in ihr. Man tut dies aber nicht aus dem
Grunde, daß ihre „hervorragende Gerechtigkeitquot; so überzeugend
zutage tritt, sondern nur weil man weiß, daß Sicherheit bestehen
muß, daß irgendwie Streitfälle entschieden werden müssen.
Denn geschähe dies nicht, so würde ja die ganze Gesellschaftsord-
nung aus ihren Angeln gehoben, so wäre ja jede feste Beziehung,
jedes geordnete Verhältnis der Menschen untereinander ausge-
schlossen. Man hat also an erster Stelle omnium consensu die
kategorische Notwendigkeit der Sicherheit, oder wie man sich
lieber ausdrückt, der „Rechtssicherheitquot; anerkannt, hat dann
weiter nach Regeln und Grundsätzen, nach welchen entschieden
werden könnte, gesucht und hat schließlich für all die Fälle, in
denen die anerkannten Grundsätze nicht ein überzeugendes Er-
gebnis herbeiführen können, vereinbart die Entscheidung des
Richters als „Rechtquot; anzuerkennen; hat also für die durchaus
zweifelhaften Fälle nur eine Instanz angewiesen, deren „Orakelquot;
dann den entscheidenden Wert haben sollte. In einfachen Worten
ausgedrückt, bedeutet das, daß in den „unentwirrbarenquot; Fällen
der Würfel entscheiden soll; der Richter ist zwar ein sehr kompli-
zierter Würfel, aber deshalb bleibt er doch ein Würfel. Man wird
ihn nun offiziell nie „Würfelquot; nennen, sondern eben „Richterquot;,
nur schon der „Autoritätquot; halber, des Ansehens der Masse gegen-
über, denn die große Masse kann den Gedanken nicht vertragen,
daß etwas nicht wirklich festgestellt werden könne, daß die
„Wahrheitquot;, das ewige und unverrückbare „Rechtquot; nicht zu fin-
den sei; in Rechtsfragen geht es bei ihr wie in Glaubenssachen:
sie hat den Glauben an eine unfehlbare Autorität nötig, um nicht
allen Halt zu verheren.

Im Zivilprozeß bringt dieses Würfelspiel keinerlei Schwierig-
keiten mit sich. Ein jeder ist überzeugt, daß ohne „Rechtssicher-
heitquot; nicht auszukommen ist und daß möglicherweise durch die
Entscheidung der Würfel angetane Unrecht nicht aufwiegt gegen
die außerordenthchen Vorteile der Sicherheitquot;. Uebrigens sind die
Objekte, um welche es sich bei Zivilprozessen handelt, recht ver-
schwindend klein im Vergleiche zu der Gesamtheit der zu schüt-
zenden „Güterquot;. Und was die Parteien im Prozeß anbelangt, sie
werden in der Regel „schäumenquot;, wenn ihre Interessen, ihrer An-

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sieht nach, nicht in genügender Weise berücksichtigt wurden,
aber es sind nur ein, oder zwei, oder vieUeicht zehn Individuen
einer MiUionenzahl im Staate gegenüber und ihr Protest verhaUt
ohne einen Resonanzboden zu finden. Hier und da wird vieUeicht
Einer den Kopf schütteln, oder ein Rechtsgelehrter wird über den
Richterspruch ein vernichtendes Urteil fäUen, aber im Großen
und Ganzen wird man den FaU so bald wie möghch vergessen (und
man vergißt erstaunlich schneU), denn der Kampf ist ja voUkom-
men aussichtslos.

Ganz anders wird aber das Verhältnis schon, wenn die Aus-
sicht auf den Erfolg eines Kampfes wächst. Ensteht ein Konflikt
zwischen größeren Gemeinschaften, zum Beispiel zwischen der
Direktion und der Arbeiterschaft einer Fabrik, so gibt es einen
Streik. Man versucht mit Machtmitteln seine Forderungen durch-
zusetzen. Gleich gibt es auch Leute, die jeglicher Genossenschaft
das „Recht um zu streikenquot; versagen und in manchen recht be-
sonders wichtigen FäUen, in denen durch einen Streik die normale
Funktion des Staatsorganismus gefährdet werden würde, gehngt
es auch mit Aller Einvernehmen gewissen Genossenschaften den
Streik gesetzlich zu verbieten. In den meisten FäUen gehngt das
aber nicht; die Anschauungen sind geteilt und die Verbitterung
wächst in dem Maße, in dem der Umfang der streikenden Genosseri-
schaft und der Wert des Streitobjektes oder die Höhe des verur-
sachten Verlustes wächst. Die Polizei muß eingreifen, es herrscht
Kampfesstimmung, Macht nicht eine Fabrik, sondern eine ganze
Provinz Opposition, aus welchen Gründen es denn auch sein mag,
so kommt es zum Aufstande, in noch schwereren FäUen zum Bür-
gerkrieg. So gleitet man allmählich in jene Sphäre hinüber, in der
es Territorialkonflikte gibt.

Der sehr bedeutende Unterschied zwischen diesen Konflikten
und jenen, die nur zivihechtlicher Art sind, liegt demnach hierin,
daß während die Situation gleich „unentwirrbarquot; wie bei den schwie-
rigsten zivilrechtlichen ist, hier das Streitobjekt ungleich wert-
voller ist, man demnach nicht so leicht nachgeben wird, und ferner
die Machtverhältnisse der Parteien untereinander und haupt-
sächhch zwischen ihnen und der Gesamtheit (in diesem FaUe die
Staatengemeinschaft) für eine hartnäckige Verfechtung des eignen
Standpunktes ungleich günstiger hegen und so die Mehrzahl jener

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Faktoren wegfällt, die beim Zivilprozesse die Folgen und Schwä-
chen des. „Würfelspielsquot; neutralisieren.

Es sei mm auf diese besondern Schwierigkeiten hier näher ein-
gegangen.

Es wurde im 17. Kapitel schon darauf hingewiesen, daß rein
tatsächliche Umstände einen Territorialkonflikt, seinem Inhalte
nach wie hinsichtlich seiner Lösung, entscheidend beeinflussen
können. Es wurden als die zwei bedeutendsten Faktoren solcher
Art der Einfluß der Persönlichkeit und das Eintreten unerwarteter
Ereignisse genannt. Eine hervorragende Persönlichkeit kann dem
Lauf der Dinge eine eigne Wendung geben, Verhältnisse ausnützen
und Kombinationen machen, die auf den ersten Blick vom Gegner
nicht durchschaut werden und ihn auf die Dauer, vielleicht ohne
daß es ihm bewußt wird, einer Lösung entgegentreiben, die er hatte
vermeiden wollen, oder mit welcher er nicht im mindesten gerechnet
hatte. Bedeutender sind aber noch jene unerwarteten Ereignisse:
das Eintreten neuer Umstände, eingreifender Veränderungen in der
politischen Lage, das neue Voraussetzungen schafft und bestehende
hinfällig werden läßt, Lösungen ermöglicht, die bis zu dem Augen-
bhcke vollkommen indiskutabel waren, andere wieder gerade in-
diskutabel macht, kurzum dem ganzen Konflikte im Grunde ein
anderes Ansehen gibt und in bezeichnender Weise dartut, wie
wenig konstant, wie überaus schwankend und äußeren Einflüssen
unterworfen Territorialkonflikte ihrem Inhalte nach sind.

Bei der Schüderung der polnischen Territorialgeschichte trat
hervor, daß nahezu alle großen Veränderungen hinsichtlich des
Staatsgebietes solchen äußeren Umständen unterlagen, von ihnen
eigentlich bedingt wurden. Es seien nur die bedeutendsten Momente
der letzten anderthalb Jahrhunderte herausgegriffen. Die Orient-
frage und die augenblicklichen Machtverhältnisse unter den Groß-
mächten ermöglichten die erste polnische Teilung, suggerierten sie
nahezu. Die unerwartete Rückkehr Napoleons von Elba zwang
zu einer schnellen Einigung auf dem Wiener Kongreß und ermög-
lichte es den russischen Aspirationen sich durchzusetzen. Das
gleichzeitige Zusammenbrechen Deutschlands, Oesterreich-Ungarns
und Rußlands ermöglichte die Wiedererrichtung eines souveränen
Polens, machte diese Lösung der polnischen Frage zur „bestenquot;,
beinahe zur „einzig möglichenquot;, während man noch in 1914 gerade

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diese Lösung nahezu allgemein für die „einzig nicht mehr mög-
lichequot; hielt. Man wird nun einwenden, daß eine geordnete inter-
nationale Welt, in der vor einem großen, allgemein anerkannten
Forum solche Fragen nach den höchsten moralischen Forderungen
sine ira et studio behandelt werden, soche Einflüsse doch ganz
erheblich zurückdrängen und neutralisieren kann. Obgleich diese
These recht anfechtbar ist, sei ihre Stichhaltigkeit hier zugegeben,
nur um das Problem zu vereinfachen. Aber auch dann noch werden
andere, rein tatsächliche, nicht vorhersehbare Umstände auf die
Lösung einwirken. Denn nicht nur sind hier Tatsachen in Betracht
zu ziehen, die kurz vor, oder während der Verhandlungen über die
Lösung territorialer Gegensätze eintraten, sondern auch solche, die
in Zukunft eintreten können. Zwei Beispiele mögen dies erläutern.

Bei den Verhandlungen in Paris über die Frage, welche deutschen
Gebiete dem neuen polnischen Staate einzugliedern seien, spielten
zwei Fragen eine bedeutende Rolle. Die erste war: in welchem
Maße wird das neue Polen sich lebensfähig erweisen, imstande sein
sich selbst zu regieren? Die zweite: welche Gebiets
Verluste wird
Deutschland auf die Dauer nicht verschmerzen, welche Gebiete
wird es bei der ersten besten Gelegenheit wieder zurückgewinnen
wollen? Auf diese beiden Fragen war in 191g überhaupt keine Ant-
wort zu geben. Man kann in solchen Dingen nicht prophezeien und
doch beeinflußten diese Gedanken ganz wesenthch die Entscheidung
über die polnischen Forderungen. Gewisse Faktoren mußten berück-
sichtigt werden, die vollkommen unsicher waren und denen dennoch
ein ganz konkreter Wert beigemessen wurde.

Etwas ähnliches geschah bei der Entscheidung über die Mosul-
frage. Die Kommission, die dem Völkerbundsrate einen Bericht
über die geeignetste Lösungsart aufzustehen hatte und in wirklich
mustergültiger und vorbildhcher Weise alle Faktoren berücksich-
tigte, die in der Frage irgendwie eine Rolle spielten, kam zu dem
Ergebnis, daß sie eher dazu neigte, das Mosulgebiet der Türkei
zuzusprechen, unter der Bedingung, daß den Kurdenstämmen als
nationale Minderheit ein gewisser Schutz gerantiert würde. Wenn
der Völkerbundsrat das strittige Gebiet aber Irak zuweisen woUe,
so empfehle es sich, daran die Bedingung zu knüpfen, daß dieses
Reich noch mindestens für 25 Jahre enghsches Mandat bleibe. Man
machte hier also zwei Vorschläge, von denen keiner durchaus als
die beste Lösung angepriesen wurde. Die Brauchbarkeit beider hing

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aber von ganz hypothetischen Bedingungen ab: einerseits davon,
ob die den Kurden zugebilligte Autonomie sich auf befriedigende
Weise durchführen lassen werde, andererseits davon, ob das engli-
sche Mandat wirklich den „erzieherischen Erfolgquot; haben werde,
den man von ihm erwartete. In beiden Fällen konnte nur die Zu-
kunft das Berechtigtsein der Annahme erweisen, und doch hing
von ihnen zum großen Teile die Entscheidung ab.

Solche Umstände, die sich in nahezu allen Territorialkonflikten
zeigen, genügen im Grunde schon um jede „prinzipielle Lösungquot;
ungefähr illusorisch zu machen. In jede Lösung bringen sie ein
beträchtiiches Element der Ungewißheit, das vielleicht in gewisser
Hinsicht neutralisiert werden könnte, wenn man sich über die
allerwichtigsten Grundsätze, nach denen Territorialkonflikte ent-
schieden werden soUen, einigen könnte. Denn einen Konfhkt
„rechtUchquot; lösen, bedeutet doch nur: ihn vereinfachen, gewissen,
nach aller Meinung wichtigsten Faktoren einen entscheidenden
Wert beilegen. Aber auch hier liegen die Verhältnisse ungünstig.

Im siebzehnten Kapitel wurde geschildert, wie man hinsichtUch
der Territorialkonfhkte annehmen könne, daß allgemein gefordert
werde, daß bei ihrer Lösung nationalen, ökonomischen und strate-
gischen Erwägungen Rechnung getragen werde. Diese drei Fak-
torenkomplexe stellen jene allerwichtigsten Kriterien dar, durch
welche man einen Gebietsstreit „rechtlichquot; lösen könnte, indem
man ihnen eine entscheidende Bedeutung beimißt. Es wurde aber
auch zugleich darauf hingewiesen, daß die Beantwortung der Frage:
in welchem Maße diese drei Faktoren zu berücksichtigen
seien, davon abhängt, welche Auffassung man vom Staate habe,
von seinem Zweck, semem Daseinsgrund und seinen Zielen. Da es
aber nun äußerst unwahrscheinlich ist, saß man sich je über die
Daseinsberechtigung nur einer einzigen Staatsform und Staatsidee
einigen wird, ist es auch in gleichem Maße unwahrscheinlich, daß
man sich je über den allgemeinen Wert der drei Faktoren, über
ihr Verhältnis zu einander, über die Notwendigkeit des Hervor-
tretens des einen, oder des Zurücktretens des andern, einigen wird.
Ueber ihre Bedeutung, ihre größere oder geringere Wichtigkeit
ließe sich demnach schon nichts mit einiger Sicherheit sagen; alles
wird von Fall zu Fall variieren. Man kann also höchstens folgendes
fordern: irgendwie, in irgendwelcher Intensität ist bei der Lösung

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von Territorialkonflikten nationalen, ökonomischen und strategi-
schen Faktoren Rechnung zu tragen.

Was bedeutet nun aber: man soll den nationalen Faktor berück-
sichtigen? Im Grunde recht wenig und recht verschiedenes. Man
kann auf nationale Wünsche Rücksicht nehmen, indem man natio-
nal zusammengehörige Gebiete in einen Staat zusammenfaßt, also
zu Zessionen oder Inkorporationen greift. Man kann aber auch zum
Beispiel den föderativen Gedanken anwenden und eine Realunion
oder einen Staatenbund ins Leben rufen, oder autonome Reichsteile
schaffen, oder nur einen Minderheitenschutz gewähren. All diese
Lösungsarten können durchaus befriedigen; wirklich ,,notwendigquot;
wird in der Regel keine sein, und selbst wenn man in einem gege-
benen Augenbhcke eine dieser Lösungsgarten für unbedingt „not-
wendigquot; halten würde, so braucht sie es im nächsten Jahre schon
nicht mehr zu sein, denn Leidenschaft und augenblickliche Erregung
spielen hier ja eine so große Rolle. Nahezu alle Lösungsarten werden
ungefähr gleichen Wert haben. Die eine ,,voraussichtlichquot;, „wahr-
scheinhchquot;, „unter gewissen Bedingungenquot; etwas mehr als die
andere, ohne daß sich hier eindeutig, ,,wissenschaftlichquot; etwas
feststellen heße. Man „vermutetquot;, „nimmt anquot;, „erwartetquot;, „ist
überzeugtquot;, und mehr nicht: man „weißquot; nie, kann auch nie „be-
weisenquot;. Alles bleibt hier eben Tendenz, Wahrscheinlichkeit, aber
das ist noch nicht „allgemein überzeugendquot;.

Dasselbe gilt von den ökonomischen Forderungen. Man kann
ihnen gercht werden, indem man „ökonomisch zusammengehörige
Gebietequot; zu einem Staat vereinigt. Man kann aber auch Zoll-
unionen schaffen oder andere neue Interessengemeinschaften, die
die Staatsgrenzen durchbrechen: Trusts, Kartelle; man kann wich-
tige Handelsstraßen internationalisieren, Freihäfen schaffen, durch
Handelsverträge den Schranken des Staates das Drückende, Ein-
engende entnehmen. Und wieder läßt sich hier keineswegs im voraus
sagen, wie die Maßnahmen wirken werden, denn soviel hängt ja
Vom guten Willen ab. Und auch zeigt die wirtschafthche Tätigkeit
ein so großes
Anpassungsvermögen, so viel verschiedene „Orien-
tierungsmöglichkeitenquot;, daß es schwer ist, hier von bestimmten
Notwendigkeiten zu sprechen. Genau wie im Obigen bleibt es hier
bei einem „Wünschenswertenquot;, bei einer „voraussichtlich bestenquot;
Lösung.

Bei den strategischen Forderungen liegt es nicht anders. Man

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kann strategisch wichtige Punkte dem Staate einverleiben, der
ihrer am meisten bedarf, und gleich ist schon wieder nicht festzu-
stellen, welcher von beiden (oder mehreren) das sein wird, denn
der „Gefechtswertquot; eines Staates hängt nicht nur von seiner Trup-
penzahl und seinen wirtschaftlichen Hilfsmitteln ab. Man kann
aber auch die strittige Zone nur demihtarisieren, neutrahsieren;
man kann Garantieverträge und Kelloggpakte schließen und es ist
keineswegs im voraus zu sagen, welche von diesen Lösungsarten
unter den gegebenen Umständen die zweckmäßigste sein wird.

Von den drei „entscheidenden Kriterienquot; bleibt demnach nichts
anderes übrig als eine Reihe Tendenzen und Möglichkeiten. Durch
das Finden allgemein anerkannter Grundsätze wird die Lösung
der Territorialkonflikte im Rechtswege wohl kaum gebracht wer-
den, denn das würde voraussetzen, daß man sich über festumrissene,
allgemeine Grundsätze, nach denen entschieden werden soll, einigt.
Das ist aber gerade bei jenen drei genannten Faktoren durchaus
zweifelhaft, in hohem Maße unwahrscheinhch. Es bleibt natürlich
möglich, daß sich einmal die politischen Verhältnisse und An-
schauungen in der Weise ändern werden, wie sie sich vom elften
Jahrhundert bis auf heute geändert haben, und daß unter diesen
neuen Vorbedingungen sich neue, andere Grundsätze aufbauen
ließen. Es fällt dies durchaus in den Bereich des Möglichen, sogar
des Wahrscheinlichen; vom Gesichtspunkte dieser Arbeit aus kann
aber solchen Umständen keine Rechnung getragen werden, denn
es soll sich hier ja nicht um Prophezeiungen handeln, sondern nur
um die Klärung bestehender Verhältnisse. Es ist aber andererseits
auch möglich, daß schon heutzutage andere Grundsätze als die drei
genannten Faktoren aufzuweisen sind und eine prinzipielle Lösung
der Territorialkonfhkte ermöglichen.

In letzter Zeit wurde einem solchen Gedankengang der Weg
gebahnt. Die Anerkennung des im Kelloggpakte ausgeführten
Grundsatzes würde hinsichtlich der Territorialkonfhkte bedeuten,
daß man bei der Lösung solcher Gegensätze ganz auf militärische
Mittel zur Erreichung seiner Absichten verzichtet, also annimmt,
daß die durch den Weltkrieg herbeigeführten Gebietsveränderungen
die letzten kriegerischen gewesen sind. Man könnte nun, da man ein
neues Leben anfangen, „ein Blatt umschlagenquot; will, und da ir-
gendwie und irgendwo begonnen werden muß, in der Ueberzeugung,
daß nach wirklichen Rechtssätzen für Territorialkonfhkte doch

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keine Lösung zu finden ist, vereinbaren den in Art. 10 des Völker-
bundspaktes niedergelegten Gedanken als Ausgangspunkt zu
wählen. Man könnte also dem status quo in Gebietsfragen eine
entscheidende Bedeutung beimessen, eine Bedeutung, die weit
über die einer Waffenruhe hinausgeht, in dem vollen Bewußtsein,
daß dies im Grunde eine wiUkürliche Annahme, ein wiUkürhcher
Ausgangspunkt ist und man sich nur dazu versteht, weil eben in
dieser Hinsicht kein besserer Vorschlag zu machen ist. Man könnte
das und es wäre auch möghch, wenn auch unwahrscheinlich, daß
alle Staaten, auch die im Weltkriege besiegten, sich dazu ver-
stünden. Angenommen, daß der gute Wille und die rechte Einsicht
in den Wert des Friedens bestünden, könnte man dann diesen
konservativen Gedanken weiter ausbauen und vereinbaren — da
objektive Lösungen doch nicht zu geben sind und Veränderungen
in der Regel viel Schwierigkeiten verursachen — in diese bestehen-
den Verhältnisse nur dann eine Veränderung zu bringen, wenn
deutlich und überzeugend zutage tritt, daß eine wirkliche Ver-
besserung der Lage damit erreicht wird.

Angenommen, daß dies gelingen würde, so würde dieser ganze
Vorschlag doch nur ein Verschieben der Schwierigkeit bedeuten.
Denn wiederum fragt man sich: wer entscheidet das Eintreten des
genannten Umstandes, wie entscheidet man ihn, hat man nicht
durch die Jahrhunderte hindurch die einmal bestehenden Ver-
hältnisse beständigen wollen, wird hier nicht aUzu viel dem guten
Willen überlassen, wird dadurch nicht wieder einseitigen Interessen
gedient?

Man entkommt dem Dilemma nicht. Ueber die „überzeugende
Notwendigkeitquot; einer Territorialveränderung oder über die „über-
zeugende Verbesserungquot; der Lage einigte man sich ja gerade nicht,
man kann in dieser Hinsicht nie etwas beweisen, es bleibt
immer bei Suggestionen, Vorschlägen, Faktoren und Tendenzen.
Ueberdies würde aber auch der obengenannte Vorschlag unter
Umständen das Gegenteil von dem, was er bezweckt, in die Wege
leiten können. Er will konservativ sein, er will die einmal statuierten
Verhältnisse fortbestehen lassen. Aber auch dies ist auf diesem
Wege nicht einmal immer möghch. Ein Beispiel möge es zeigen.

Bei der heutigen Lage Ostpreußens Polen gegenüber ist es sehr
Wahrscheinlich, daß, wenn keine Gebietsveränderung zugunsten
^Deutschlands eintritt, das heute noch deutsche Land auf die Dauer

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polnischen Einflüssen in dem Maße ausgesetzt sein wird, daß es
wirtschafthch wie kultureU mehr nach Polen hin gravitieren wird.
Die „deuthche Verbesserung der Lagequot; würde dann eine An-
gliederung an Polen bedeuten, die in hohem Maße durch den
durchaus konservativen Gedanken der Erhaltung des status quo
beeinflußt worden wäre. Es ist äußerst fragHch, ob man sich mit
einer so gefähriichen „Garantiequot; des Territorialbesitzes zufrieden
stellen würde.

Es kann nur wiederholt werden. Territorialkonfhkte sind politi-
sche Konflikte; sie entziehen sich jeder Lösung auf Grund
allgemein
anerkannter Kriterien, denn der Boden, auf dem man Rechtssätze
aufbauen könnte, fehlt, nicht zwei Fälle sind einander gleich und
keine einzige feste unbestrittene Forderung läßt sich formuUeren.

Wenn nun aber auf die Lösung der Territorialkonflikte nach
allgemein anerkannten Grundsätzen so wenig Aussicht ist und
man kriegerische Auseinandersetzungen vermeiden will, so blei-
ben zu friedlicher Lösung nur noch zwei andere Möglichkeiten.
Entweder der unmittelbar zwischen den Parteien getroffene Ver-
gleich, der Kompromiß, oder eine Lösung im Rechtswege, ohne
Anwendung prinzipieller Kriterien. Der Vergleich wird möghch
sein, wenn es sich um nicht allzu große Interessen handelt, wenn
sich die Parteien darüber einig sind, daß es sich nicht lohnt, den
Streit „prinzipiell auszutragenquot; und es im Interesse beider Par-
teien liegt, sich „unter der Handquot; zu einigen. So geschah es in der

danisch-isländischen Frage, auf die unten noch zurückgekommen
wird.nbsp;®

Mit einer Lösung im Rechtswege, ohne Anwendung prinzi-
pieller Kriterien aber ist die zu Anfang dieses Kapitels geschil-
derte „Lösung durch den Würfelquot; gemeint, also die Anerkennung
irgendeiner Autorität, der die Entscheidung übertragen wird
und
deren Spruche man sieht fügt, deren Spruch man als Recht aner-
kennt. nicht weil die gefundene Lösung die „bestequot; ist,
sondern
weil eine Entscheidung faUen muß, weil Sicherheit bestehen muß
und man doch nicht imstande ist, die „bestequot; Lösung zu finden.

.Eine solche Autorität war der Kaiser gewesen, war auch der
Papst gewesen, wenn auch beider Macht und Ansehen auf
ganz
anderen Grundlagen ruhte und zur Zeit ihrer größten Machtsent-
faltung Territorialkonflikte viel primitiverer Natur waren als

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heutzutage, jedenfaUs zum Teile noch nach aUgemein anerkannten
Grundsätzen gelöst werden konnten. Außer diesem günstigen Um-
stände aber verfügten beide Richter über recht bedeutende Macht-
mittel um ihre Entscheidungen durchzusetzen, die Machtverhält-
nisse der Parteien näherten sich mehr denen in rein privatrecht-
lichen Konflikten und erleichterten es erheblich den Entschei-
dungen Geltung zu verschaffen. Es sei auch noch darauf hinge-
wiesen, daß diese kaiserliche und päpstliche Autorität weder von
der griechisch-orthodoxen, noch von der mohammedanischen Welt
anerkannt wurde, demnach sich nur in einem gewissen gleich-
gesinnten Kreise Geltung verschaffen konnte, und daß diese Auto-
rität vöUig zum Schatten herabsank, sowie ihre (pohtischen oder
geistigen) Machtmittel iUusorisch wurden.

Kann sich nun in Zukunft wieder eine solche Macht entwickeln,
oder wird man irgendeiner Autorität die Macht der Entscheidung
übertragen woUen? Diese Frage muß offen bleiben. Eine solche
Entwicklung ist weder vorauszusagen, noch zu erzwingen. Es ist
sicher ein Umstand vorhanden, der sie begünstigen könnte: dieser
nämlich, daß das Schreckbild der Folgen zukünftiger Kriege nach-
denklich und versöhnlich stimmen kann. Andererseits aber werden
gerade die Machtmittel, über die die Parteien verfügen, und der
Wert der Streitobjekte dem Wunsche, der eignen Auffassung Gel-
tung zu verschaffen, doch recht entgegenkommen.

Aber es bleibt zum mindesten der Weg, und wer weiß, welche
Entwicklungen noch möglich sind. Es gibt nun in dieser Richtung
einen kleinen Anlauf: die dänisch-isländische Auseinandersetzung
im^ Jahre 1918 hat in dieser Beziehung etwas neues gebracht. Die
beiden Länder sind seit 1918 in einer Personalunion vereinigt, in
dieses Verhältnis soU keine Veränderung vor 1943 kommen; dann
erst soll über das Verhältnis der beiden Staaten ein endgültiger
Beschluß gefaßt werden und zwar auf folgender Grundlage: Das
einmal statuierte Verhältnis der Personalunion soll unverändert
quot;leiben, wenn nicht in beiden Ländern durch Mehrheitsbeschluß
der Parlamente, anerkannt durch Volksreferendum, das Gegen-
teil beschlossen wird. Ganz abgesehen von dem Umstände, daß
nier im Grunde demokratische Ideologien anerkannt werden und
iiian darüber aUerlei kritische Betrachtungen anstellen könnte,
^ann hier festgesteUt werden, daß die Entscheidung über einen

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352nbsp;neunzehntes kapitel__

Territorialkonflikt: die mögliche Sezession Islands, einer Autorität,
dem Volke übertragen wird, ohne daß man nach einer
zeugenden Begründungquot; des Urteils fragt. Es handelt hi^
nun zwar nur um eine negative Entscheidung: die
Sezession Ka
durch das Veto der Volksmehrheit in einem der beiden Lan e^
vereitelt werden; der Fall einer positiven Entscheidung
würde in^
teressanter sein, aber das Faktum besteht, und ist als
solches vo
Bedeutung.

Nur liegt in dem ganzen Verhältnis etwas Bedenkliches.
Entscheidung wird den Parteien übertragen. Sind nun aber ge^
rade die Parteien die „Vertrauen einflößendequot;
Autorität par eX
cellence? Ferner kann eine der Parteien jede Veränderung in
Beziehungen vereiteln, und wurden nicht gerade durch diese
„konservative Gesinnungquot; der „besitzendenquot; Partei durch
Jahrhunderte hindurch gerade vielerlei
Territorialkonflikte g®^
schaffen? Das dänisch-isländische Beispiel ist nicht eines der gW\'^,\'
liebsten, aber deshalb besagt es noch nichts zu ungunsten der
ihm angewandten Lösungsmethode. Uebrigens handelt es sic^
hier nicht um einen recht wichtigen Fall. Nach
gelegentlichen ^^
tungsnotizen zu urteilen, beabsichtigen die Dänen keineswegs
einem eventuellen isländischen Sezessionswunsche irgendwas lU
den Weg zu legen. Mag der Fall auch unbedeutend sein, so beha
er doch als Beispiel seinen Wert.

Aus dem Obigen wird es dem Leser ersichtlich sein, daß ^^
Autor das Problem der Territorialkonflikte nicht lösen kann. Ej^
hat auch nicht in dieser Absicht seine Arbeit angefangen, er ha
nur untersuchen und erläutern, nicht politisch, sondern
wissen-
schaftlich das Problem erörtern wollen. Nicht in dem Stellen von
Forderungen und dem Fällen von Werturteilen sah er seine Au \'
.gäbe, sondern nur darin: festzustellen, was sich bei dem Problem®
einwandfrei und allgemeingültig feststellen läßt.

Das Ergebnis wird vielleicht auf den Leser in mancher HinsicU
einen pessimistischen Eindruck machen. Es sei aus diesem Grün
dem Autor erlaubt das Bekenntnis abzulegen, daß er trotz alledeH^
an die Möglichkeit einer befriedigenden Lösung territorialer Kou
flikte glaubt. Das ist aber keine Wissenschaft mehr, sondern Uebeiquot;\'
Beugung.

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STELLINGEN

I

Voor de West- en Centraaleuropeesche groep der statengemeen-
schap kan als groeiende gewoonterechtsnorm worden aangenomen,
dat in alle gevallen van Statensuccessie de opvolgende Staat ver-
plicht is een aan de draagkracht van het door hem verworven
gebied evenredig gedeelte der staatsschuld over te nemen.

II

De meening van Stammler, dat slavernij nimmer ,,Rechtquot; zoude
kunnen zijn, is onhoudbaar. De gronden immers, waarop men,
eenerzij ds tot het aanvaarden van de instelling der slavernij en
anderzijds tot het aanvaarden van den algemeenen dienstplicht
komt, verschillen in beginsel niet van elkander.

III

De aan het systeem der progressieve inkomstenbelasting tot
grondslag dienende gedachte is een uiterst betwistbaar, misschien
zelfs onhoudbaar waardeeringsoordeel.

IV

Indien men de stroeve en in den grond der zaak al te schemati-
sche verdeeling der Statenbonden in reëele en personeele Unies
op de
Poolsch-Litausche verhouding sedert het einde der 14de
eeuw wil toepassen, dan was de tusschen Polen en Litauen in 1386
gesloten en in 1401 te Wilno nader geregelde Unie eerder een
reëele dan een personeele.

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De in art. 7 lid 5 van dé Wet op het Nederlanderschap gemaakte
bepaling kan slechts beoogen op ondubbelzinnige wijze te doen
vaststellen, of door den buiten het Rijk en zijne Koloniën en Bezit-
tingen geboren Nederlander nog op het behoud van het Nederlan-
derschap prijs wordt gesteld.

VI

De redactie van art. 41 lid i van het Wetboek van Strafrecht
houdt niet in voldoende mate rekening met de moeilijkheden der
zelfverdediging. Het risico van mogelijke (trouwens nooit met
zekerheid aan te wijzen) „niet noodzakelijke verdedigingquot; behoort
de indringer of aanrander te dragen, terwijl art.
41 hd i juist hem,
en niet den in zijn rust verstoorde of aangerande beschermt.

VII

Een Nederlandsch Gezant of Consulair Ambtenaar is niet be-
voegd aan een Nederlandschen erfgenaam ab intestato een in zijn
ressort opengevaUen nalatenschap van een Nederlander te ont-
houden, enkel op grond van het losse gerucht, dat er een testament
zoude bestaan.

VIII

De Nederlandsche Ambtenaar van den Burgerlijken Stand is

niet bevoegd een huwelijk te voltrekken tusschen een Nederlander

en een Duitsche vrouw, wier vorig huwelijk korter dan driehonderd

dagen geleden werd ontbonden, zelfs indien de aanstaande echt-

pnoote de volgens § 1313 B. G. B. Absatz 2 mogelijke dispensatie
heeft verkregen.

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