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Glaube und Sittliehkeit.

V o rtrag

am 10. August 1882 in der Barnier Festwoche gehalten über das Thema:

„EÉe walfE SittlicM olie dei Hei ai Jesn Cbrlstuquot;

von

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Dr. J. H. Gunning,

Prediger im Haag. --

Amsterdam 1882.

Verlag von Hoeveker amp; Zoon.

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Vorwort.

Der Hauptgedauke dieses Yortrags ist eiu selir einfaclier. AVer ein sittlich ernster Mensch ist, der muss an den alten ewigeu Christus der heiligen Schrift glaubeu. Wie aueh Joh. 7, 17 gesagt wird, wer zuni Glaubeu an (den Johaunei-schen) Christum nicht komme, sei im Grimde ein Mensch der Gottes quot;Willen, d. h. das Gute nicht thun wolle, mit anderen Worten: ein schlecliter Mensch. Das scheint schroff und verletzend, ist aber einfach human. Denu wo wir einem Bekenner begegnen, der sich im Ganzen des Le-bens als eineu schlechten Menschen erweist, da müssen wir ihn für eineu Unglaubigen halten. Den guten Menschen dagegen, der Christum nicht bekennt, sehen wir nothwendig als eineu Christen an, der sicii selbst nicht versteht. Sein Inneres seufzet unter der augemassten Herrschaft seiner fal-schen Gedauken; es ist ja dieser Eitelkeit unterworfen olme seinen quot;Willen, und wartet zu seiner Erlösung auf das Offeubar-Averden der Kinder Gottes, der wahren frcien Persönlichkeit.

Der Gemeinde Jesu Christi aber, mit deren Köhleru und alten Mütterchen wir freudig an demselben Glaubeu Theil haben, ist ilir Glaube umnittelbar und imerschütterlich gewiss. Und diese Gewissheit selbst beweist ihr die quot;Wahrheit solchen Glaubens. Demi der gottebenbildliche Mensch steht dafür zu hoch, dass etwas Medrigeres als die congeniale, vou Gott ge-sprochone quot;Wahrheit selbst ihm solche Gewissheit geben könnte.

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Ich treibe also keine Apologetik, sondern beliauptc nur, dass sie überflüssig sei, wo der Glaube einfach und rein be-kannt wird. Da stellt es sich dann tou selbst heraus, dass der Glaube den Menschen wieder normal, wieder Tom Sünder zum Menschen mache, und dass wissenschaftlich wahr sein müsse, was durch Erfahrung und Beherrschung der quot;Welt dem Menschen dazu helfe, dieses Gute zu verwirklichen. quot;Wahr ist und schön wird sein alles was ich branche mn gut zu werden. Dennoch scheint mir die Wahrheit, welche die nachfolgenden Blatter betonen, namlich die sittliche Koth-wendigkeit des Glaubens, audi die einzig zeitgemasse Be-hauptung der wissenschaftlichen Unanfechtbarkeit unseres chiistUchen Bekenntnisses. Dieses aber weiter auszuführen ist hier nicht der geeignete Ort.

Was die Form betrifft bemerke ich, dass ich behn Lesen des Vortrags den dritten Abschnitt zur Abkürzung über-schlagen habe. Auch aus den andern Abschnitten habe ich Yieles beim Vortragen zusammengezogen, was hier in extenso mitgetheilt ist. Freundlichen Dank schulde ich dem verehrten Herrn Prof. Dr. Hatjpt in Kiel, der die letzte Correctur be-sorgte und dabei auch hie und da einen undeutschen Aus-druck berichtigt hat.

Im Haag, 23. August 1882.

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1.

Oil no micli konnt Ihr nichts thuii — sagt unser Heiland. Und wenn wir jetzt ausfiihren wollen, es sei „keine walire Sittlichkeit ohne den Glauben an Jesum Christumquot; möglich, so wollen wir nichts Wei teres, als Ilira dieses Wort anbetend nachsprechen. „Ohne mich könnt Ihr Nichts thunquot; — das sollen wir nicht abschwachen, als hiitte Er damit gemeint: nichts Bedentendes, nichts Gates, nichts Bleibendes —, sondern ganz einfach Nichts. Dn kannst zwar, o j\Ienscli. Durchgangspunkt sein für ein fremdes Thun, entweder der ausseren Natur, oder der Menschen, oder dei-ner eigenen fleischlichen Natur, die doch noch nicht du selbst, dein wirkliches und wahres Selbst ist. Aber selbst etwas thun, wirklich selbstandig etwas aus dir heraussetzen, weil du selbst das Leben in dir selbst habest, das kannst du nicht, wenn du nicht issest das Fleisch und trinkest das Blut des Men-schensohnes. Es kann ja Gott selbst ohne Christum nichts thun. Denn er ist nicht der Deïsten-Gott, sondern der Dreieinige, der Lebendige, der alle Dinge erschaffen hat durch das ewige quot;Wort. Und so ist es auch sein Rathschluss, wie den Ephesern gepredigt wird, in der Oeconomie der Fiille der Zeiten wie-derum Alles unter Christum als unter ein Haupt zusammen zu fassen. „Wiederumquot;, denn das Ziel der Weltentwickelung blickt auf den Anfang zuriick.

Unsere Sittlichkeit kann nun nichts Anderes sein als: dieser Weltgründung und diesem Weltzwecke gemass zu leben. Darauf aber dass die wahre, resp. die christliche

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Sittlichkeit eine Bestatigung nnd Yollendung der sogenannten natürlichen Sittliclikeit sei, kommen ^vir spater zurück. Hier wollen Avir nicht vom göttlichen quot;Weltplane sondem einfaeh Yom menschlichen quot;Wesen aus nntersuchen, was denn „wahre Sittlichkeitquot; sei. Sittlichkeit ist Freiheit, denn sittlich sein heisst: dem wahren Gesetze seines Wesens folgen. Was nun bloss der niedrigen leblosen Natur angehört, das geht ganz im Lebensgesetze der Natnr anf, ist unfrei. Der Mensch aber steht über der Natnr. Er kann, Avas er ist, wahrhaft erst dnrch eigene Setznng werden, nnterliegt aber auch der schrecklichen Möglichkeit, von sich selbst abznfallen. Sein Lebensgesetz muss er selbst erfüllen, er muss frei sein. Sittlichkeit ist also nichts Anderes als Entfaltung der Per-sönlichkeit. AYahre Sittlichkeit ist folglich diejenige, welche die Person des Menschen völlig nnd wahrhaft fi-ei macht, so dass er zu sich selbst kommt, sich selbst besitzt. Dieses aber geschieht nur wenn der Mensch Gott in sich find et. Nur durch Gott nnd in Gott findet der Mensch sich frei. Denn je nachdem er das Gesetz seines Lebens ernster, edler auffasst, denkt er höher von der Freiheit. Der rohe Kanni-bale nennt sich frei, wenn er seinen viehischen Gelüsten unverboten fröhnen kann; der Beduine, wenn nichts ilin hindert, hoch zu Eoss nach allen Seiten durch die Wüste-zu jagen; der reinst entwickelte Mensch aber nennt sich frei, wenn er das Höchste in seiner ÏSatur zu entfalten vermag. quot;Was ist dieses Höchste? „Gott der Herr bildete den Menschen aus Erdenstaub und blies ihm einen lebendigen Odem in seine Nase. Und also ward der Mensch eine leben-dige Seele.quot; Das heisst, die Gemeinschaft, die Verbindung mit Gott ist eben dasjenige, wodurch der Mensch selbst-stilndiges persönliches Leben ward. Gott blies ihm den Odem ein. D. h. clieser Odem ist nicht, nach der pantheisti-schen Irrlehre, von Gott geflossen, sondern durch Gottes quot;Willen eingeathmet. Die Gemeinschaft mit Gott ist also der Hintergrund des menschlichen Wesens. Diesen Hinter-

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grand dunkel, vom Gedanken imdurchclrungen zu lassen, das ware wie die Nachlassigkeit eines Menschen, der z. B. einen schonen Wald geerbt, jedoch nur am Eingang das gelieim-nissvolle Eauscben aus dem Innern gehort, den Wald selbst aber nie betreten, nie nrbar gemacht hatte und ibn also auch nicbt wahrhaft besasse. quot;Wenn ich dagegen zu diesem gött-lichen Hintergrunde meines Wesens durchgedrungen bin; Avenn Gott mir nicht mehr im Diuikel unerkannter Tiefe geblieben, sondern zu mir gekommen ist, wie in der nnaus-sprechlich schonen „Schöpfung Adamsquot; von Michelangelo an der Decke der Sixtinischen Kapelle; wenn mein Lebensgrund mir Licht geworden; wenn ich, so viel in diesem Fleische möglich, zu mir selbst gekommen bin: — so ist klar, dass dieses Selbstbewusstsein nicht ein Denkprozess, sondern That, That Gottes ist, welche die meinige wach rief, so dass ich von mir selbst Besitz ergriffen habe. Ich aber bin in die Siinde gefallen. Ich und die Schlange, wir haben zu einander ge-sagt; wir wollen Freundschaft halten. Und diese Freund-schaft ist das unbewusste, dumpfe Schlummern im Kachen des Todes. Gott aber hat von Anfang in seiner Gnade dagegen gesagt: Ich will Feindschaft setzen. Das heisst: .,0 Mensch, ich rette dein Gewissen, diesen Keim aller Per-„sönlichkeit in dir. Ich scheide alles Unwesentliche, alles „TJnmenschliche, Böse von dir axis, ich lasse dich also zu „dir selbst kommen.quot; Ja, mein Selbstbewusstsein ist That Gottes in mir und durch mich. Ich sehe, weil mein Auge nicht ins bodenlose Blaue hineinbohrt, sondern einem Auge begegnet, das mich siehet. Ich spreche, weil ein Wort zu mir gekommen ist, das mich triigt und belebt. Ich bin selbst-bewusste Persönlichkeit, ich bin ein Ich, weil eine richtende Gnade zu mir gerufen: Du, wo bist du? Denn diese Ge-meinschaft heisst von Gottes Seite erwjihlende, freie Gnade, von unserer menschlichen Seite heisst sie der Glaube.

In diesem Glauben rulit das sittliche Leben. Glaube und Sittlichkeit sind Eins — wir kommen spater darauf zu-

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rück. Glaube wird gerechnet zur Gerechtigkeit, ist Gerech-tigkeit. Denn Glaube ist die einzige That, die dem Menschen möglich ist. Ich sage nicht: „freie Thatquot;, denn That ist vou selbst frei, sonst ware sie nur Ereigniss. Gott vollbringt sie iin Menschen, also thut er sie selbst, deun uur was Gott in ihm thut, entfesselt den inuersten Grund seiner Persön-lichkeit. Der Meusch fühlt und sagt daim: „ich kaun nicht!quot; und dadurch kanu er. Nun sieht er ein, Avie seine einzige Schuld die sei, nicht frei sein zu wollen, und wie, was nicht aus dem Glaubeu gebet, Simde sei. Denn Glaube ist die primitive Einheit des Sittlichen und des Keligiösen. Der Glaube besitzt das Gute als gegenwiirtiges Eigenthuin, die Sittlicbkeit besitzt es als Möglicbes. Der Glaube als Gabe, die Sittlichkeit als Aufgabe. Der Glaube bat Gott im Mittel-punkte des Gemüthes: die Sittlichkeit will ihn peripherisch durch das Leben hindurchführen.

Wo finden wir nun aber diese wahre Sittlichkeit? Wann und Avie ist sie ins Leben getreten und bat sich dem Menschen gezeigt? Das ist eine historische Frage. Wir könnten, sie zu beantworten, eine Rundschau durch die Yölker halten und vou unten aufsteigend zeigen, wie das Ideal der Sittbchkeit nirgends völlig verwirklicht worden sei, ausser wo Christus im Herzen eine Gestalt gewonnen babe. So aber würden vir entweder zu ausfiilirlicli reden und dami nicht übersichtlich genug, oder zu Avenig moti-A'irt und dann nicht überzeugend genug. Dem aber stinunt allenfalls jeder Nachdenkende bei, dass nicht die Höhe der Kultur in der Geschicbte den Gradmesser für die wahre Sittbchkeit abgebe. Mit der schönsten Höhe der Kultur ging bekanntlich oft die scheussbchste Unsittlichkeit zusam-men. Bilduug ist an und für sich noch nicht Avirklicbe Ueberwindung der Natur, sondem nur Verfeinerung imserer Beziehungen zu ihr, geschickte Benutzuug ihrer Krafte. Das höchstgebildete Kultur volk, die Griechen, haben die Natur nicht überwunden, sondern nur eine zu früh gegriffene Ein-

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heit des Natiuiiclien und des Geistigeu erreicht, eine ent-zückeude Anticipation, in der jedoch die furchtbare Kluft, die von der Sünde gegraben, nicht ausgefüllt sondern nur überbriickt ward. Obwohl, weim wir die Griechen mit dem Morgeulande vergleichen, die menschliche Persönlichkeit bei den Griechen gewiss schoner und freier entwickelt war, trat doch aucli bei ilinen das Sittliche noch nicht selbstandig auf. Das Schone war selbst das Gute (in der Kalokagathie) und so war bei ilmen Glaube und Sittlichkeit noch nicht selbstandig, sondern mit dem natiuiiclien Leben, ruit den grossen Instituten der Staatsreligion, des Yaterlandes, der natioualen Sitte Terflochten.

Und noch viel weniger als bei den Griechen finden wir den Glaubeu bei den übrigen Yölkern irgendwo frei. Ueberall ist das Göttliche in das Xatürliche liinabgezogen. Da nun der Glaube der Tolker nicht frei ist, so ist auch ihre Sittlichkeit nicht rein; beide sind nicht geistig, sondern vom Fleische verunstaltet. Selbstverstandhch ist überall A'iel Gutes, viele vereinzelte Sittlichkeit zu finden. Deun viel Glaube an Christum, den verschleierten, unbekannten, ist unter den heidnischen Yölkern da. Lu schöpferischen AVorte, das bei Gott war und Gott war, in ilun war von jeher das Leben und so auch das sittliche Licht der Menschen. Aber es ist doch kein wahrhaft natiufreies, persönliches, darum auch noch kein wahrhaft sittliches Leben. Dem Pantheismus, wenn er auch nicht iu begrifflicheu Systemen ausgebildet war, der Yerflechtung Gottes und des Geistes mit der Natur, bat die Menschheit sich nirgends entzieheu können. Als aber die Zeit erfüllt war, da ward zuerst in Israel das Gesetz durch Mose gegeben, darnach ist die Gnade und quot;VYahrheit durch Jesum Clmstum worden. iSTun war die Zeit des Pantheismus vorbei. Früher koimte die Menschheit nicht zu sich selbst und so nicht zu Gott kommen. Der Mensch liess sein Gewissen traumerisch zerfliessen, und konnte so auch nicht in Gott die heilige Persönlichkeit sehen, die sich zornig gegen

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das TJnlieilige abgranzt, sondern nur das charakterlose All-gemeine, wenn es auch in verschiedenen, nicht heiligen sondem schonen Gestalten verkörpert war. Hatte der Mensch in charakterloser Zerflossenheit die heilige Persönlichkeit verloren, den Zug wahrer Menschennatur in sich ertödtet, so konnte er, dem entsprechend, Gott auch nnr nach seiner Inunanenz, d. h. gar nicht fassen.1) Nun aber griff Gott direkt ein. Alle wirldiche Bezielmng Gottes zu uns vollzieht sich nicht durch Philosophie, ist kein Denkprozess, sondern That Gottes, vom Mensch en aufgenommen. Jetzt erscholl das Evangeliuni, die Kraft und darum die Weisheit Gottes. Jetzt leuchtete der Glanz der Heiligkeit Gottes nicht nur matt, wie unter den Vólkern, durch den Xebel des sünd-lichen Fleisches, sondern ans dem Schoosse der Jungfrau ward seine volle, unverschleierte Offenbarung geboren und machte ringsum in der quot;Welt die Finsterniss der Sünde sicht-bar. Jetzt griff der Mensch in seine Ernst und zog die Hand aussiitzig heraus. Wir erinnerten uns wie der Mensch, wenn er sich selbst, seine Persönlichkeit mit wahrer Energie be-thatigt, Gott in sich fin de. Aber wie findet er Ihn? Ach, als einen von uns Geschiedenen. Er stösst auf eine un-durchdringbare Mauer. Das ist die Scheidewand zwischen unserer Sünde und Gottes Heiligkeit. quot;Will der Mensch dem Guten, der Stimme des Gewissens und Gottes Befehlen un-bedingt folgen, so findet er in sich ein Gesetz, wo er will das Gnte thim, dass ihm das Ec'se anhangt. quot;Will er also wahrhaft er selbst sein, so muss er ein Anderer werden. Will er sich bejahen, so muss er sich vernemen. Will er leben, so muss er sterben. quot;Will er der quot;Wahrheit folgen, so muss er sich selbst verleugnen.

') Lober, Alte quot;Wahrh. in neuer Gestalt. Gotha 1874.

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11.

Selbstverleugnung ist der eiuzige AVeg zur Wahrlieit auf jedem, sowohl auf wissenscliaftlichein als aiü' sittlichem Geblete. Demi SelbstYerleugnung ist im Menschen die innere Wahrlieit, die rechte Steilang des Herzens. Wo diese ist, da sieliet er die Wahrlieit auch ausser sich. „Im Sturm die Sonne spiegelt nicht ins Meer ihr heilig Angesichtquot;, — nur wenn sich der Wasserspiegel ganz geebnet, da zeigt sich das hehre Bild. Denn die Wahrheit erfüllt die geistige Atmosphiire überall. Sie ist, wie das Licht, überall gegen-wartig. Oeffnet Einer nur die Augen, sofort dringt das Licht in sein Inneres. Solches Oeffnen des Auges ist die Selbstverleugnung. Die Augenbinde des Fleisches fallt ab, mit Staunen sieht der Mensch die Wirklichkeit. Die Leute sagen: erfahre nur, begreife nur die induktive Methode, lass nur die Wirklichkeit gelten. — als ginge das so von selbst. Nein, die Traumwelt worin wir Alle leben, von der Wirkhchkeit durchbrechen zu lassen, das kostet heissen Kampf, das ist ei n Tod des natürlichen Lebeus. Wissenschaft ist der Muth, die Wirklichkeit zu sehen. Kunst ist der Muth, die Wirklichkeit zu fülilen. Wahr zu sein, das ist der Muth, sich von Gottes heiligem Willen brechen zu lassen. So drangt sich uns, einfacli und erhaben, folgende Definition der Wahrheit auf: Wahrheit ist Dasjenige was ein Mensch sieht, der sich selbst verleugnet. Wie wir gestern horten, dass wenn Einer im Glauben sage, das Feld sei schon weiss zur Ernte, solches dann auch sofort ge-schehe um dieses Glaubens willen, wenn es auch noch vier Monate bis zur Erntezeit seien.1) so spricht prophetisch der Dichter vom ewigen Bunde, in dem die Xatur mit dem Genius stehe, und ruft dem Columbus zu, ware die neue

') Am vorigen Tage hatte Hen' Prof. Lr. Eeich Haupt aus Kiel eine ergreifende Missionspredigt iiber Joh. 4, 35—38 gehalten.

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quot;Welt noch nicht, sie stiege jetzt, da Er erstanden, aus den Fluthen empor. Und so sagen audi wir: ware die hiihere Welt der Wahrheit noch nicht, sie stiege jetzt, da ein Mensch erstanden, der sich verlengnet, vom Himmel herab. Wie aber in der That Columbus nur darum nach quot;Westen segelte, Aveil eben doch wahrhaftig ein Land da war, das ihn unge-sehen anzog, so erstande in der Welt die Selbstverleugnung mit voller Thatsachlichkeit nicht, wenn nicht Einer vor uns stünde, der da sprache: Ich bin die Wahrheit. Ich bin die Wahrheit, d. h. in mir ist die Einlieit des Eeligiösen und des Sittlichen urbildlich da. „Wahrheitquot; bedeutet in der Allerweltssprache nur eine Beziehung unserer Gedanken zmn Gegenstand, ini Sinne Christi aber ist Wahrheit das Wesenhafte, das einzig Wirkliche, das ewig bleibt und auch mis des ewigen Lebens und Friedens theilhaft macht. Yon unserem Dahingeben des zeitlichen Lebens könnte nicht wahr-haft die Eede sein, wenn nicht der Gesalbte dastünde mit der hiimiilischen Verheissung, Er lege in dieses Sterben das Er-bliihen des ewigen wahren Lebens hinein. Solches ist also nicht etwa ün Sinne eiues egoistischen Selbsterhaltungstriebes gemeint, der nur das direkte Widerspiel der Selbstverleugnung ware. Es ist nicht so gemeint, dass der Mensch sich nicht dahingebe wenn er nicht einen genügenden Ersatz finde, wie der Muhamedaner sich nicht in den Tod stürzen würde, empfinge er nicht dafür das ewige Schwelgen mit den Houris ini Paradiese. Xein, ganz einfach die Unmöglichkeit der Selbstverleugnung ausser Christo ist gemeint. Demi Selbstverleugnung ist nur Yollendung der Selbsteifassung, des Selbstbewusstwerdens. ^ur durch Ausscheiden des Unwahren und Dunklen in mir werde ich wahrhaft licht, werde ich völlig ich selbst. Wenn Abraham frohen Muthes das ver-führerische Sodomland dem Lot überlasst, dann hört er Gottes Wort: „mm ziehe durch Kanaan nach allen Seiten, es ist dein und du bist mein Gesegneter.quot; So ist noch immer Ge-meinschaft mit Gott und Lebensfülle wahrhaft nur da, wo

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der Menseh. das falsch Menschliche von sicJi ausscheidet. wo er Er selbst wird. Daim wird er Er selbst; wo er dagegen sich selbst vernichtet oder wegwirft, wie der Buddhist oder der Pessimist, da ist eben so wenig Selbstverleugmmg als in der egoistischen Selbsterhaltung. Selbstsucht nnd Selbst-vernichtnng bilden nur scheinbar einen Gegensatz. In der That sind beide Selbstmord, denn das Leben wird eben so gut verloren, wenn ich es ins Meer der Selbstsucht, als wcnn ioh es ins Meer des salzigen Wassers begrabe. Nur in der Selbstverleugmmg wird das wahre Ich und so die wahre Sittlichkeit bewalirt. Und wenn wir nun behaupten, solche Selbstverlengnimg sei nur im Glauben an Jesmn Christum möglich, so schnialern wir damit nicht den AVerth der liebe-vollen Selbsthingabe, die uns auch nnter Nichtglaubigen er-freut und oft beschamt. Das natürlich rechtliche Leben, so wie es ist, auch in unserem sündlichen Zustande, ist ja durchaus nicht olme die Gnade Gottes in Christo. Die gött-liche Geduld will die Menschheit für die Erneuerung in Christo aufbewahren, denn Er hat uns in Christo erwahlt, ehe der quot;Welt Grund gelegt war, dass wir sollten sein heilig und unstraflich vor Ihm in der Liebe. So sind alle Güter der sittlichen quot;VVeltordnung nicht nur Theile einer Schöpfungs-ordnung, die etwa unabhangig von der erlösenden Gnade dastande, sondern Ausflüsse des ewigen Gnadenrathes Gottes, durch den der gleich ewige Liebesrath Gottes zur Ausführung konmit. Wir alle, so lange wir im irdischen Eleische wohnen, stehen unter einer natürlich-sittlichen Ordnung, welche durch die Gnade nicht aufgehoben, sondern nur erfüllt und so bekraftigt wird. Diese natürliche Sittlichkeit ist der feste Grund, der das Gnadenleben tragt, ja auf den es jedesmal, wenn durch sündliche Schwache der Glaube schwindet, als auf einen vor dem höllischen Abgrund noch schützenden Boden zurücksinkt, um daim, kraft der Bundestreue Gottes, wie Antaus neue Kraft zu gewinnen. Diese natürliche Ordnung Gottes wird also, wie im Schöpfungsgebiete durch die

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Eiiösung, so im sittlichen Leben durch die Gnade, nicht auf-gehoben sondem, wenn audi momentan reiieugnet, doek am Ende völlig bejaht nnd bestatigt. Jedes Preisen der gött-lichen Gnade, durch das die natürliche Sittlichkeit veiietzt würde, es ware ein Aufheben von Gottes Gebot nm mensch-licher Aafsiitze willen. Auch auf sittlichem Gebiete ist das Christliche, und nur das Christliche, das wahrhaft Mensch-liche; aber ebenso gewiss ist jedes wahrhaft Menschliche ein, wenn auch unbewusst, Ohristliches.1) Darum, nicht obwohl wir an Jesiun Christum glauben, sondern kraft dieses Glau-bens erkennen wir dankbar und freudig die oft so ergreifende Schönheit der nichtchristlichen Tugend an. Deun sie ist nur Beweis der allgegenwartigen Wirkung des quot;Wortes, in dem das Leben und darum das Licht der Menschen allezeit war. isicht um „Einen unter Allen zu bereichernquot;, muss die schone Welt ringsum rergehen. quot;Weder entgöttern wir die Natur, noch entsittlichen wir die Menschenwelt um des Glaubens willen. Die edle Tugend der Heiden und der heutigen Humanisten ist eben so gut Gottes That als die christliche. Jedoch nur wenn der Mensch in Christo ist, nur daim ist volle, wahre Selbstverleugnung möglich, weil nur dann der Hoclimuth des Fleisches völlig daniederliegt, nur dann der Liebe Gottes der Zugang bis ziun Boden des menschlichen Herzens geöfliiet ist. Kur wenn die ewige Liebe sich in menschlicher AYirklichkeit gezeigt, sich tief unter den wider-spenstigen Itenschen, ihn zu retten, erniedrigt hat, bricht der Stolz des Menschen zusammen, und statt des kalten, rechtlichen Verhiiltnisses, in dem er thörichter Weise sich selbst verzehrt, tritt er in die Gemeinschaft der Liebe, in der er allein die demiithige Begeisterung, die Gabe des neuen Lebens, und so den Boden zur wahren Sittlichkeit empfau-

') S. Die natürliclie Moral, cKristlicli bourtheilt u. s. \v. von Pastor Detlf.v Zahx, welclie lehrreiche Schrift mir leider erst nacb. dem Halten des Vortrags zur Hand kam.

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gen kann. Aber nicht nur die Liebe Gottes, sondern audi seine Heiligkeit kann allein durch Christi Tod zu uns kommen und uns beleben. Deun nur im Sühnopfer Christi ist der Much unserer Verdammniss völlig getragen und getilgt, das alte Leben wahrhaft abgethan. Daruni auch nur wenn wir mitgepflanzt worden sind zur Aehnlichkeit seines ïodes, werden wir's auch zur Auferstehung sein. Was bedeutet eigentiich das göttliche Geheimniss der Versöhuung im Blute Christi? Doch nur dieses, dass Gott nun ganz heilig sein und seine Heiligkeit in uns durcliführen kann, ohne den Menschen selbst zu vernichten. Demi nun trifft die zerstörende Macht seiner Heiligkeit nicht den Menschen selbst, der dann ja völlig zermalmt ware, sondern nur seine Simde, seinen alten Menschen, den falschen Menschen; so dass eben der wahre Mensch aus diesem Tode mit Christo aufersteht. „Ich heilige mich selbst,quot; spricht der Herr, „ich weihe mich selbst zum Opfer für sie, auf dass auch sie geheiligt seien in der Wahrheit.quot; D. h., nur durch Christi Stellvertretung werden wir selbst wahrhaft geheiligt. Die flache Rede spriclit; nein, Zurechnung fre, uden Verdienstes kann nie mich selbst heiligen. Ich selbst, ich selbst muss es thun. Unsere Ant-wort ist: ja eben du, du selbst musst es thun, und damit solches geschehen könne, eben dazu hilft dir die Gnade Christi. Ausser dem Glauben an Christum, ausser der Gemeinschaft mit ihm heiligt nur dein alter Mensch sich, nicht du selbst. Demi du kannst, armer Mensch, ausser Christo nicht zu dir selbst kommen, um dann von dort anzufaugen mit der Heiligung. Du willst selbstiindig sein, dich selbst bewegen? Ach, dass es dir doch mit dieser Einwendung ein rechter Ernst ware! Nur in Christo kannst du selbstiindig werden und dich selbst bewegen: ohne Ihn bleibst du nur ein Stück Natur, das bewegt wird. Christi Gnade aber tödtet das Todte in dir, so dass du lebst. Der Blitz trifft nicht den Gefangenen, nur die Maner seines Kerkers, und er ist frei. Jetzt wird die Sünde dadurch überwimden, dass sie völlig

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ertaimt und anerkannt wird: denn sie kami nicht überwunden werden, so lange nicht ihre volle Macht enthüllt ist. Das geschieht, wenn die Sünde min als Erbsünde erkannt wird. Wiedernm wendest du vielleicht ein: „das ist ein Ungedanke, der die Sünde zu etwas ganz Aeasserlichem macht: nein, nicht von anssen, als etwas Ererhtes, nnr von Innen, aus mir selbst, kann die Sünde konunen!quot; Wir wiederholen: ach, dass es dir mit deiner Einwendung nnr ein voller Ernst ware! Du erkennst die Sünde an, willst aber alles Aensser-liche daraus entfernen. Dass nun wirklich etwas Aeusserliches an der Sünde sei, kannst du nicht leugnen. Denn dass die Sünde über Alles herrsche, dass etwas Unabwendbares, Drückendes auch vor deiner eigenen Existenz da sei, kannst du nicht in Abrede stellen. Xur ist die Frage: wie schaffen wir das fort? O mm sei es dir ein voller Ernst da-mit, dass du willst selbstaudig sein: dass du nichts Ver-mmftloses, Aeusserliches über dir dulden willst! Dieses Driickende, dieses Aeusserliche, siehe es kommt nicht von dir weg durch ein quot;Wort der Lengnnng, das du leichthin in die Luft wirfst, sondern nur durch eine That: denn es ist selbst eine Thatsache, nicht nur ein luftiges quot;Wort. quot;Wie ver-neinte Christus den Satan ? Mcht wie die Herren, die ruhig lachelnd das Wort der Leugnung in die Luft werfen, nein, er leugnete seine Existenz nicht, sondern liess den Feind heran kommen und rang mit ihm in Todesangsten, bis er ihn überwunden hatte. So mm überwinde du die Erbsünde, nicht durch ein kraftloses Wörtchen der Leugnung, nein, er-kenne zuerst ihr Dasein an und dann überwinde sie, weren du kannst — so wirst du nach deinem Wunsche selbstandig sein und von dir, von deinem Innern aus handeln mit der Sünde! quot;Was auf dich drückt als etwas Aeusseres, das solist du vernei-nen, aber nicht kindisch leugnen, sondern mannlich abwal-zen; so erst kannst du Besitz nehmen von dir selbst. Es ist durchaus nicht zuiallig, dass derselbe Denker, der die un-heimliche Tiefe der Erbsünde mit seinen flammenden Gedanken

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beleuchtet, eben derselbe Tertullian so herrlich yoh der anima naturaliter Christiana, cl. h. Aron der natmiichen Cliristlichkeit der Seele zengt. Deun die Erbsünde aner-kennen, das ist nicht, wie tlas seichte Yorurtheil meint, eiue Selbsterniedrigung des Menschen, sondern das ist eben der vollendete Heroismns. Der nngliiubige Mensch sagt znr Natur nnd zum Fleische: ihr beide seid natürliche ilomente meines quot;Wesens, ich time das Eöse, aber ich kann ja nicht dafiir! Xatur nnd Fleisch, ihr seid mir eiue Erbschaft, ich muss gehorchen, habe also darin keine Süude. Der Glaubige aber sagt zmn Fleische nnd zurXatur: gewiss, ihr seid mir eiue traurige Erbschaft, eben darmn aber erkenne ich euch als eiue Simde. Diese ungehenre Wucht, die über mir liegt, ist mir nicht uur ein Ycrhangniss, das nun einmal nie ab-znwalzen nnd uur passiv zu tragen ware. Xoin, wohl bin icii erblindet nnd gebunden mit ehernen Ivetten und muss mahlen mi Gefangniss dieser Alltaglichkeit. Aber es ist von Aubeginn nicht also gewesen; es ist widergöttlich so geworden; es ist meine Schuld. Ich war ein Verlobter Gottes und habe mir meine sieben Locken abscheeren lassen. Und darmn, ihr Natur und Fleisch, ihr beiden Mittelsaulen des Götzentempels, in der Kraft des Blutes Jesu Christi um-fosse ich euch und neige inich kraftiglich, und wenu anch meine schuldige Seele stirbt mit den Philistern, so lebt den-noch mein Geist, ich selbst mit Gottes Kindern kraft der Auferstehung meines Herrn!

III.

Ich selbst lebc mit Gottes Kindern kraft der Auferstehung meines Herrn. quot;VVir haben, um unser Thema: „Keine wahre Sittlichkeit olme denGlauben an Jesum Christmnquot;, zuerweisen, nicht so sehr viele einzelne Charakterzüge des sittlichen Lebens etwa bei Heiden nnd Christen miteinander verglichen, mn

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zu zeigeu, wie darm jedesmal die Sittlichkeit, welche aus dem Glaubeu au Jesum Christum fliesst, die beste sei. Die Sittlichkeit hat für uus uur eiueu Charakterzug, die Selbst-verleuguuug, das Sterbeu mit Christo. Nur eius ist uoth: uud der sich uuter das Kreuz zu Jesu Füsseu setzt, der hat das gute Theil erwahlet.

Dieses Sterbeu mit Christo hat aber die Auferstehuug mit ihm zur Kehrseite. Uud es ist uuumgiiuglich, dieses uoch besouders hervorzuhebeu, weil soust auch die Kehrseite des Lebeus der Preiheit, uamlich die Liebe, die Gemeiuschaft, nicht zum Ausdruck geliiuge.

Wir habeu ausgefiüirt, wie Sittlichkeit uichts auderes als Freiheit, Persöulichkeit sei. Zu dieser Freiheit siud wir be-rufeu, nicht aber um durch sie dem Fleische Eaum zu gebeu, soudern uur um durch die Liebe einer dem Anderu zu dienen. Das ist nicht so gemeint, als hatte die wahre Freiheit die Liebe zur Folge, soudern nur so, dass die Liebe die Kehrseite, die Auspraguug der Freiheit sei. Hier ist das Yerhaltnis das uiimliche wie bei dem Kreuze uud der Auferstehuug des Herrn. Das Kreuz war die Ueberwindung des Todes: so war die Auferstehuug uur die Kehrseite, die Auspraguug, das Sichtbarwerden dieser Ueberwindung. Die Predigt tou Christo ist ja ebeu darum nicht lediglich Klang oder Buchstabe, weil sie durch deu lebeudig machenden Geist eine Kraft Gottes ist. Uud dieser heilige Geist kaun uus nur darum erfülleu, weil wir eiu lebeudiges, wirkungs-kraftiges Haupt, eiueu auferstaudenen, d. h. mit uus in persönlicher Beziehung stellenden Herrn habeu. Die Erfüllung mit dem heiligen Geiste, deren wir theilhaft siud, setzt die Auferstehuug Christi voraus. Wir siud Glieder des Hauptes, uud so uud darum mit einauder verbuudeu. „Wir wissen, dass wir vom Tode in das Leben gekouunen siud, deun wir lieben die Brüder.quot; Die Liebe ist nicht etwa Beschraukuug der Freiheit, die dafiir sorgt, dass sie nicht zu weit gehe; nein, die Freiheit macht mich zur Person, lasst

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mich aber zugleich inuewerdeu, dass ich nur in der Gemein-schaft, im Eeiche Gottes, wahrhaft Person bin. Je freier (von der Selbstsucht) ich bin, desto inniger schliesse ich nücli mit den Brüdern zusammen: wir sind eine Menschheit, deren Glieder einander bedürfen, um wirklich Glieder, nicht leblose Stücke zu sein. Im Gegensatz zu den irdischen Gütern smd die geistigen Güter nur daim wahrhaft die unsrigen, wenn wir sie den Brüdern mitgetheilt haben. Unsere brüder-liche Gemeinschaft der Liebe muss aber ein Haupt, eiuen Mittelpimkt haben. Und diesen lebendigen Mittelpunkt, der uns zu organischer Eiuheit zusammenfiigt, hat uns die ewige Liebe gegeben. Die heilsame Gnade Gottes, die in Christo erschien, bat der alten quot;Welt, da sie in der Zeifahrenheit ihres erschöpften Lebens ihrem Ende zueilte, nicht eine Doktrin gegeben, sondern ein neues sittliches Prinzip, ein von imien heraus und aus einheitlicher Urquelie entspringendes Lebeus-gesetz. Das war die Liebe zum Erlöser. „Die Liebe Christi dringet uns also: sintemal wir halten, dass so ein er für alle gestorben ist, so sind sie alle gestorben. Und er ist darum für alle gestorben, auf dass die, so da leben, hinfort nicht ihnen selbst leben, sondern dem, der für sie gestorben ui ui auferstanden ist.quot; Christus liat in sich selbst die mensch-iiche Natur, die da Fleisch war, dessen Tichten Feindscliaft wider Gott ist, zu einer solchen gemacht, deren ïichten die Erende am göttlichen Gesetze ist. In linn steht nun der Mensch da, wie Gott der Herr ihn gewollt, da er sprach: lasset uns Menschen (d. h. den jVIenschen) machen. Der erste Adam war nur dieses Menschen Anfang, Skizze, Entwurf: der zweite war dessen quot;Wirklichkeit, namlich in der Auf-erstehung. Da ist nun dieser auch wahrhaft das Haupt der neuen Menschheit; der erste Adam eine lebendige Seele, der zweite Adam ein lebendigmachender Geist. Hat doch die Menschheit die Bestimmung sich auszupragen, zur vollen Humanitat zu gelangen, wie der Baiun die Bestimnumg hat, zu seiner Tölligen Grosse und Fruchtentfaltung emporzuwachsen.

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Das aber gescliieht imr clurch die Gnade der Selbstmittheilung-Cliristi an nns, in der miser stolzes Fleisch getödtet wird, da wir das Leben andcrswoher empfangen. Demi auf sittlichem Gebiete sincl wir nicht nnabhiingig, leben wir nicht walirhaft aus mis selbst, sondern nnr durch die Person des lebendigen Erlösers. AVenn er nns nicht selbst, persönlich, der Mittelpunkt des Lebens bleibt, so wird die Person Christi geschieden von dor Menschheit, die daim entweder als Ciiltnr-menschlieit oder als Genieinde den Geist nuabhangig vom persönlich einwirkenden Haupte zu besitzen meint. Wenn namüch eine Genieinschaft zwar den Xamcn Christi hoch hiilt, aber doch sich nicht in Allem vom lebendigen Herrn regieren liisst, da ist der „Geistquot;, der diose Genieinschaft beseelt, nicht mehr ungetrübt der heilige Geist. Es hilft da wenig, ob man audi das quot;Wort Christi besitze, sei es in der heiligen Schrift, sei es in der von ilim sich herschreibenden Kirehe. Demi dieses quot;Wort wird daim einer falschen Kritik miterworfen; entweder der Kritik des migeheiligten Verstandes, wie im Protestantismus, oder der ebenso zerstörenden Kritik der Herrschsncht, wie im römischen Katholicismiis. Anch hier, wie an so vielen Puntten sonst, zeigt sich der sogen. „modernequot; Protestantismus der römischen Kirche verwandt: denn ob der Papst, der daim das Wort Gottes anslegt, „kritische Gelehrsanikeitquot; oder „Leo XIIIquot; heisst, das ist im Grimde einerlei. Denn uur der lebendige Herr selbst kann mit seiner beseligenden Gegenwart sein eigenes Wort verhindern, unter den Handen oines oder des andern dieser beiden Papste ein todtes Gesetzeswort zu werden. Pseudo-protestantische Ver-geistigung und römische Krassificirung siud gleich verderblich. Der Pseudo-Protestant ruft: „Geist, Geist!quot; und schiebt die leibliche Auferstehung bei Seite, die doch eben die Erweisung der lebend igmachen den Kraft dieses Geistes ist. Der Komische ruft: „Leib, Leib!quot; und schiebt die persönlich freie Gegen-wart des Herrn in der Genieinde zur Seite, die doch eben die Bedingung dazu ist, dass die Genieinde sein Leib sei.

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Da diese falsclio Lehre von der spiritualisirteu oder krassificir-ten Gegenwart des Herrn, seine Zukuuft, seine Wiederkuuft verfinstert, priigt sie sieh nothweudig in einer falsclien Sitt-liclikeit aus. Der Pseudo-Protestant (demi mit ihm, nicht mit den römisclieu, liaben wir es doch hauptsachlich zu thun) macht die Sittlichkeit egoïstisch. 1st der Auferstandene unser Mittelpmikt nicht, so hegehrt nnsere Sittlichkeit selbst-süchtig nnrnnsere eigene Vollendung. nicht die derG-emein-schaft. Demi die Bedeutung der Anferstehung des Herrn liegt auch darin, dass sie unserer Sittlichkeit eine hestimnite Eichtung giebt. Kraft der Anferstehiuig ist Christus nicht wie ein frommer Gestorbener von der Erde geschieden, sondern er ist in Yerklarter Gestalt der Erde zurückgegeben; und wenn auch einstweilig gen Hinmiel gefahren, bleibt er doch diesem Leben eben so gut als dem himmlischen ange-horig. Die Wiederkunft ist also sein nothwendiger, nattir-licher Zweck. Es ist dieser Erde verbiirgt, dass sie der Boden des künftigen Keiches sein werde. Bas hat nun für die Sittlichkeit eine sehr grosse Bedeutung. Diejeiiigen, welche es nicht glauben, gehen im leider noch allzugewöhnlichen Spiritualismus einer selbstsüchtigen Selig-keitserwartung einher. Sie sehen zum „Himmelquot; auf, in dem jeder für sich erwartet selig zu werden. Von der persön-lichen Yollendung nur, nicht von der Yollendung der Geinein-scliaft ist bei ihnen die Kede. Wenigstens ist die letztere ihnen für die persönliche Yollendung nicht nothweudig: sie glauben nicht an eine solche Zusaimuengehörigkeit des Leibes der Gemeiude, dass die Dahingeschiedenen „nicht ohue ims vollendet werden köunenquot; (Hebr. 11, 40). Und so geht auch ihrer Yorstellung gemiiss ihre persönliche sittliche Ent-wickelung im „Himmelquot; ins Unbestinunte fort, ohne je zum Abschlusse zu kommen, den die Yerheissung des grossen letzten Gerichtes uns in Aussicht stellt.

quot;Wie herrlich ist dagegen das Leben in persönlicher Ge-meinschaft mit dem Aufersüindenen! llir tiefstes Geheimniss

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besteht darin, dass wir von Gnade leben. Gnade ist freie, unberechenbare Bezieliimg der Person zu der Person. Alles Gesetzliche, Mechanische ist ans dieser Beziehung entfemt. Darum hat eben der Glaube solche unerschütterliche, gött-liche, weil gottgewirkte Gewissheit. Wer Christi Zeugniss anninunt, der „versiegeit es, dass Gott wahrhaftig seiquot;. Er geniesst der hohen Ehre sein eigenes Siegel dabei setzen zu dürfen, persönlich dafiir einzustehen, dass Gott wahrhaftig sei im Zeugniss, das er von Christo gegeben. Die höchste That des Menschen ist die der Begeisternng, durch die er erklart, Gott sei walirhaftig, d. li. das Höchste, Schönste, Heiligste, die Wahrheit selbst wie sie sich offenbart, könne nicht lügen. Nach Erschöpfung aller Yerstandes-Erörternn-gen und Beweise steht der Glaube zuletzt auf einer Höhe, wo er einfach sagt: es ist so, weil Christus es sagt, und mit diesem Autoritats-Glauben (wie ihr es nennt) wage ich mich freudig gewiss in die Ewigkeit hinein. Wir gestehen willig, unseren Glauben nicht beweisen zu können. Denn Gnade ist, noch einmal, Beziehung der Person zn der Person, und Gott, von dessen Treue wir ganz und gar abhangen, „steht über sein Thun nicht Eedequot; (Hiob 33, 13). Der letzte Grund ist — nicht unser Gewissen, sondern die Treue Gottes, die quot;Wahrhaftigkeit Gottes, welche sich unserem Gewissen be-zeugt. Yon unserer Selbstverleugnnng ist der Verstand (mit Unrecht gewöhnlich Yernunft genannt) nicht ausgenonunen. Denn was die naturgesetzliche Ordnung betrifft. auf die der Yerstand sich steift, diese Ordnung ist zweimal durchbrochen. Zuerst von unserer Simde, die wider die Xatur ist; dann aber von der Gnade, die aus der unberechenbaren Tiefe von Gottes Persönlichkeit, des göttlichen Erbarmens hervorquoll, und so von der anderen Seite eben so gut wie die Sünde wider die Natur ist. Wir sind auch nicht in anderer Weise, von aussen, nach intellectueller Controllirung, zimi Glauben ge-kommen. Unser Erstes ist nicht etwa eine Idee der Keligion, die der Menschheit innewohne und so vom Verstande erkannt,

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beschrieben und zum „quot;Wesen des Menschenquot; gerechnet werden könne: eine Idee, mit deren Massstabe man das „Christen-thumquot; wie alle anderen Eeligionenquot; messen und im Christen-thurae das echt Religiose vom vergangliehen zeitgeschichtlichen Beiwerk scheiden könne. Nein, nns ist mit der Genieinde das ncue Leben xmd gleichsam darin eingeliüllt auch die er-fahrnngsmassige Idee von der Eeligion von Gott gegeben, und nachher kam nun allerdings die intellektuelle Beurthei-lung unseres gemeinschaftlichen Besitzes, mittels deren wir sowohl den Inhalt dieser Erfahrung geordnet, als alles Andere, was sich als Eeligion anmeldet, beurtheilt haben. Dass wir uns aber nicht tauschen, dass wir auf dem Boden der ewigen quot;Wahrheit stehen, davon macht uns das Licht des heiligen Geistes gewiss, das uns über Grund imd Wesen unseres Selbst vollkommen erleuchtet, uns unseres Selbst ganz und voll bewusst macht. Das Selbstbewusstsein im Glauben, noch einmal, ist göttliche, freimachende, dariun himmlische Ge-wissheit darreichende That.

IV.

quot;Was hat nun die Sittlichkeit, welche des Fundamentes des Glaubens an Jesimi Christum entrathen zu können meint, diesem Allen entgegen zu setzen?

So viel ich sehe, setzt sie dem christlichen Ideale ent-weder kein Ideal, oder ein vermeintlich unabhangiges Ideal, in der sogenannten „unabhangigen Sittenlehrequot; (morale indépendante) entgegen. So liegt uns noch ob, diese Ein-wendungen zu prüfen.

Yon denjenigen, die auf jedes Ideal verzichten, wollen wir nur zwei Standpunkte etwas naher besehen. Zuerst den Utilismus. Er behauptet es gebe kein göttliches, absolut sittliches Ideal. Xur das allgemeine Interesse, die Nützlich-keit, Utilitiit, das, Avas dem allgemeinen quot;Wohlbefinden förder-

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lick sei, das sei Maassstab mid Kichtschnur der Sittlichkeit. Allo Sittlichkeit sei ja relativ. Der Menschenfresser meiue auf seinem Staudpuntte eben so gut wie der Christ, sittlich zu haudebi. So sei er deun, da er persönlich aufrichtig inehit was er thut, nur der ilmi uuvemieidlichen Unwissenheit, nicht der IJnsittlichkeit zu zeihen. In seiner Oberflachlichkeit ineint eben der Utilist, dio Schuld des Uenschen reiche nur so weit als das Bewusstsein der Schuld; weil der quot;Wilde nicht darum wisse, so habo er audi keme Slinde. TV'enn aber dieser Heide zu Christo konunt, so weiss er ganz gut, dass er alles rrühere in seiner Unwissenheit gethan habe. Aber sein jetzt erleuch-tetes Gewissen sieht, wie die Missionsgeschichte zur Genüge zeigt, auf dieses unbewusst Yerschiüdete dennoch in tiefstem Schmcrz und aufrichtigster Eeue zurück. Wenn wir nun. Ton anderen nichtigeu Einwendungen absehend, an diesen Standpunkt den gefnndenen sittlichen Maassstab der Sclbst-verleugnung anlegen, so finden wir, dass der Utilist nur das Höliere, das Ewige in sicli veiieugnet, d. h. eben Dasjenige, was er behaupten und befreien sollte; und dass er dagegen das Niedrige, das Egoïstische in sich bejaht und befestigt. quot;Wie deun auch die Erfahrung oft genug zeigt, dass dieses vor-geschobene „allgemeine Interessequot; nur der Egoismus aiif breite-ster Grundlage sei, und z. B. die Place de Grève zu Paris von der Vaterlandsliebe des Comité du salut public deutlich aber schaurig zu erzahlen weiss. Das Gefühl des Angenehmen und des Unangenehmen, wenn auch gereinigt und verallge-meinert, kann als Maasstab des Guten und Schlechten nur dienen, wenn das Xatïirliche für identisch mit dem Sittlichen genommen, d. h. wenn die Bodeutung der Simde verkannt wii'd. Bei diesem folgenschweren Irrthum wird man immer, so aufi'ichtig man es auch meint, doch wirklich die quot;Welt auf sich beziehen, d. h. einen unwahren Mittelpunkt der Dinge setzen. In soldier scheinbaren Beherrsclumg der quot;Welt sucht man das Angenehme und findet das Unglück. Denn wer ■schon in diesem Erdenleben seinen Theil an der Weltbeherr-

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scliung haben will, der ist vou dieser Welt abhangig, uud Avird durch den Dienst der Welt am rechten Gebrauch der quot;Welt verhindert. Xur wer sich ini Dienste Gottes der Welt entaussert, gebraucht sie recht. Geben ist seliger deun nehmen, anch darum weil es der einzige Weg ist, dereinst mit Gottes Kindern die verklarte Welt zn besitzen. Und nur wer sich selbst vergisst, sich dein in Gottes Lichte betrachteten Ganzen, d. h. dom Eeiche Gottes hingiebt, uur der ist gliicldich selbst hn Elende, weil ihm der wahre Mittelpunkt der Dinge gezeigt ist, von dom aus geschaut alle Dinge recht stehen. Der Utilist aber muss stets unruhig bleibeu, weil er die Euhe die er sucht, forhvahrend vor sich her treibt.

Nuu aber tritt ein zweiter, ebeuso auf das Ideal verzichtender Standpunkt, der Pessimismus auf, und behauptet mit stolzer Zuversicht, die einzig haltbare Sittliclikeit zu lehren. Er klagt das Evaugeliiun Jesu Christi ebeu seiner niedrigen uud völlig verfehlten Sittenlehre wegen aufs heftigste au. Schrieb doch sein Hauptprophet, Ed. vou Hartmami, die „Phii-nomeuologie des sittlichen Bewusstseinsquot; als „Prolegomena zu jeder künftigcn Ethikquot;. Er mustert der Eeilie nach die vielen Prinzipieu, auf die friiher oder spiiter die Moral und die Mo-ralsysteme gestützt worden sind. Wie in einer gewisseu re-publikanischen Lyrik vor etwa vierzig Jahren die deutschen Eürsten zur Begründung der Ereiheit masseuhaft in Yersen hingeschlachtet wurden, so werden bei Ed. vou Hartmaun die Moralitatspriuzipieu, vorzugsweise die der Heteronomie, d. h. die auf Gottes Autoritiit hinweisendeu, eins nach dem anderu zmn Tode abgefertigt. Yor Allem aber bespricht er die christliche Sittenlehre mit einer Bitterkeit, die deutlich den glühendeu Hass verrath, der sich bewusst ist, gegeu die Eestung eines immer noch lebendigen und starkeu Geguers die Brand-rakete zu schleudern. You unserer Seite sollen wir den Wahrheitsbestandtheil des Pessimismus als Christen nicht leugnen, nein dankbar anerkeuuen. Er ist aufrichtiger als die meisten anderu Systeme, weil er nicht, wie diese, das

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Elend der Welt ausser Gott als Durchgangspunkt ziun Guton beschonigt oder niit niclitigen Eloskeln verdoekt, sondern es möglichst bestimnit offenbart.

In der Philosophie galt noch Tor wenigen Jalirzehnten nnter Terschiedenen Namen eine Anschauung, die Alles was besteht für nothwendig nnd so fiir relativ gut erklarte. Sie lehrte eine allgemeine Entwicklung der Dinge; einen allge-nieinen, alles Bestellende beherrsclienden regebnassigen Fort-schritt, der das Besondere, das Persönliche ganz absorbirt. Dieser Hintansetzimg des Persönlicben steilte sich schliesslicli das Persönlichkeitsgefühl des Menschen entgegen. „Mein per-sönllches Leiden, mein besonderer Lebenskampf soil nicbts gelten, soli mir ein Missklang sein der, wie Ihr behanptet, in der allgemeinen Harmonie der Dinge sicli in sein Gegen-theil umsetzt, in die allverschlingende Einheit zur Harmonie aufgelöst wird? Nein, dagegen straubt sich mein Persönlichkeitsgefühl. Meine Erfalirnng des Lebens, des Leidens, des Kampfes um die Existenz empört sich gegen diesen Moloch der Alleinheit, ob ihr ilm nun Gott oder Natur oder sittliche quot;Weltordnung oder wie immer nennet. Ihr logischen und pan-theistischen Philosophen, ihr wollt das giu. se Ganze gelten lassen, ja es anbeten; das individuell Persönliche aber, das meine und das deine, soil dabei ins Nichts oder wenigstens ins Bedeutungslose schwinden? So behaupte ich dann, dass ener Ganzes, aus einer endlosen Zahl soldier Nullen zusam-mengesetzt, selbst auch eine Null sei!quot; Hier spricht ein sehr richtiges menschliches Gefiihl. Diese Inspiration, die im gemalen Schopenhauer dem Denken die Kichtung des Persön-lichen, des kraukhaft Persönlichen wies, ist an und für sich treffend wahr. Und wenn min das Denken, von der Persön-lichkeit, dem menschlichen quot;Willen aus, Gott und seine Offen-barung umgehend, den allgemeinen Weltwillen zu erklaren versucht, — o dann ist eine erhabene Wahrheit, eine maje-statische Ironie Gottes in der scheusslichen Leidensgestalt, die der Pessimismus als das Weltbild uns Torzeichnet. Oder

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was sollte die quot;Welt ohne Gott Anderes sein als Leiden nnd Elend? Das ist die Aufrichtigkeit des Pessimismus. Die anderen Systeme erdichten einen schonen, wohl gesclilossenen Weltzusammenhang nnd lassen die Leute oline den lebendi-gen Gott, ohne Heiland herrlich nnd in Frenden leben. Allein der Pessimismns zeigt die Inmpenhafte Nacktheit einer solchen quot;Weltgestalt. Will man denn einmal einen Phaeton malen, mm so gebe man ihm wenigstens krumme Linien auf seiner Bahn nnd nach vielem Sengen nnd Frieren endlich einen jahen Fall in den Abgrund!

Haben -wir hiemit dem quot;Wahrheitstheile im Pessimismns sein Eecht gegeben, so behanpten wir mm desto bestimmter, dass in diesem entsetzlichen Systeme für wahre Sittlichkeit, so hoch sie darin gepriesen werde, doch in der That kein Kamn sei. Es ware leicht, der pessimistischen Sittenlehre die frappantesten Widerspriiche nachzurechnen'). Yorzüglich darin dass sie antonom, keiner Antoritat als nur der eigenen nnterworfen sein will nnd doch mit diirren Worten erkliirt, es handle sich für die Sittlichkeit ran die Aufgabe, die Zwecke des Absoluten, des Unbewussten, zu Zwecken des Bewusst-seins zu machen : das heisst doch wohl, sich seiner Antoritat zu unterwerfen — nur nicht der Antoritat der ewigen Liebe sondern der unbegriffenen nnd unbegreiflichen Antoritat der ins Mchts hinabziehenden Finsterniss. Für unseren Zweck aber gemigt die Bemerkimg, dass zwar im Pessimismus viel von Selbstverleugnung die Kede sei, für sie selbst aber in diesem Systeme durchans keine Stelle sich linde. Denn die Sittlichkeit steht hier nicht über dem Individuum sondern ist nur der ins Bewusstsein aufgenommene Bestand desselben. Eben so gut als beim Utilismus wird hier das Sittliche zum

') Den zahlrciclieu Kapitein uud Absclmitten auf dem Fusse folgcnd tlrut Solches in sehr treffender AVeise Alb. Baoieister in der Schrift: „Der Pessimismus und die Sittenlehre etc.quot;, Gütersloh 1S82, die ich dankbar benutzt habe.

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Katüiiiclieii, die Ethik zur Pliysik Iierabgesetzt. Kur durcli Yollendung des quot;Weltprozesses, an der wir ïlieil liabeu, kann das Absolute erlöst werden. Demi wohlgemerkt, hier eiiöst Gott nicht nns, sondern wir erlösen Gott. In blasphemischer Weiso schliesst das Buch mit dein Satze: „Das reale Daseia ist dio Inkarnation der Gottheit, der ^Veltprozess die Passions-geschichte des fleischgewordenen Gottes, nnd zugleich der quot;Weg zur Erlösuug der im Fieische Gekreuzigten; die Sitt-liclikeit aber ist die Mitarbeit an der Abkürzung dieses Lei-dens- nnd Eiiösungsweges.quot;

Ich meine, diese Weisheit können wir der Selbstzersetzung die sie dein Christenthum in Aussicht stellt, getrost überlasseu. Um Yieles ehnvürdiger ist eiu anderer Widersacher der christ-lichen Sittliclikeit, dessen Anspruch wir noch prüfen wollen, namlich die Sittliclikeit die sich „unabhangigquot; nennt, die morale indépendante. Zwar nennt sich die pessimistische Sittenlehre selbstverstandlich auch vom christlichen Glauben unabhangig, aber sie gesteht doch ihre Abhangigkeit vom philosophischen Systeme, dessen Namen sie führt, willig ein. Die morale indépendante dagegen erkliirt sich von jedem be-sthnmten philosophischen oder Glaubenssysteme unabhangig, und stützt sich rein auf den Menschen selbst und sein an-geboreues sittliches Gefühl. Die Unzuverlassigkeit aller Systeme des Glaubens und der Philosophie ist ihr eben ein Motiv, eüizig und allein im Sittlichen die Wahrheit zu suchen. Hier kann — so nieint sie — der Mensch, rein auf sich ge-stellt, olme jegliche göttliche Offenbarung oder sonstige Stiitze sich selbst helfen. Der Mensch, seine Natur selbst ist ihr der Ursprung, das Ziel nnd die tragende Kraft der Sittliclikeit. Wird sie auf die bekannte Verschiedenheit der sittlichen An-schauungen bei den Vólkern hingewiesen, so antwortet sie, man solle von den wechselnden und unwesentlichen Fornien absehen und nur das darunter liegende Wesen, das sich immer und überall gleich bleibende, in Betracht ziehen. Wie kein denkender Mensch sich weigere, im Kaukasier einen höheren.

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Avahreren ïypus der mensehlichen Xatur anzuerkennen als im Hotten totten, so sei audi ganz klar die höhere Sittliclikeit von der niedrigeren zu untersclieiden und jcne dieser vor-zuziehen. In nnserer Zeit mul in cliristlicher Umgebnng be-lianptet diese Sittliclikeit, zwar mit dem cliristlichen Glaubcn, allein dnrcliaus nicht mit den höchsten Menschheitsidealen gebrochen zu haben. 3Iit dem dogmatischen lürcliengiauben erklaren ilire Anhiiuger sich zerfallon und bczeugen das in den versclüedenstcu Tonarten; von der grauenliaften Frechheit eines Stendhal, die für Gott keine andere Entschuldigung gelten liisst als diese, class Er nicht existirc — bis zur ergreifenden AVehmuth mit der z. B. ein Alt'r. de 31 asset sich nach dem verlorenen Kindheitsglauben zurückschnt; oder in Freiligrath's ..Bilderbibelquot;:

O Zoit, du bist vergangen!

Ein Marclien schoinst du mir!

Dor Bilderbibel Prangen,

Das gliiub'ge Aug' dafür,

Die tlieuern Eltem beide,

Der stillzufried'ne Sinn,

Der Kindheit Ijust und Fieude —

Alles dahin, daliin!

Damit sei mui aber dnrcliaus nicht das Ideal selbst ge-fallen. Nur von dogmatischen Schlacken sei es befreit, und stehe eben dadurch reiner vor ilirem Auge, wolme fester in ihrem Herzen. Und auf die Prage „wie ordnen wir uuser Leben?quot; anhvorten sie (mit dem 4. Abschnitt des „Alten und neuen Glaubensquot;): für die alte elmvürdige, der grossen Menge immerhin unentbehrliche Kirche sei en ihnen die edle Wissenschaft, die Begeisteruiig für die hohenCultumvecke, die Kunst, die „Bretter, die die Welt bedeutenquot;, kurz der Cultus des Genies, des Wahren und Schonen ein genügender Ersatz. Uebrigens solle man unsrerZeit ihre gahrende Unklarheit nicht in's Gewissen schieben. Sie schleppe noch die Last einer an-geerbten Zerfahrenheit mit sich. Xur zu lange sei das Christen-thum die einzige Stütze der Sittliclikeit gewesen. Jetzt da nach Beseitigung dieses Alpdruckes die befreiten Humanisten

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über das abgethaue Intermezzo der christlichen Jahrhunderte den Brüdern Altgriechenlands die Hande reichen, sei die rich-tige Formel zwar noch nicht gefunden, das aber könne doch die Errungenschaft der freien Sittlichkeit nicht mehr rück-gangig machen. So ungefahr spricht und lehrt die morale indépendante. Was sagen nun wir dazu, die wir „keine wahre Sittlichkeit oline den Glauben an Jesiun Christumquot; wollen geiten lassen?

Y.

Vor allen Dingen wollen wir dieser morale indépendante ein wichtiges quot;Wahrheitsmoment zuerkennen. Die christ-liche Kirche hat leider grosse Schuld. Das apostolische Wort: „eurenthalben wird Gottes Usame gelastert unter den Heidenquot; — findet auch heute noch die Anwendung, dass die Welt nicht ohne Ursache klagt, dieser Glaube der Kirche heilige die Menschen nicht: es finde sich ausserhalb seines Gebietes erweislich eben so grosse, wenn nicht grössei-e, sittliche Rein-heit als innerhalb desselben. Xicht wahr ? Obwohl das böse Gewissen des Unglaubens diese Schuld der Kirche übertreibt, um die eigene Unruhe zu beschwichtigen, erkennt doch jeder von uns mit Beugung uud Scham ihro Wirklichkeit an. Das fallt aber nur desto schwerer in's Gewicht, weil die untrenn-bare Zusammengehörigkeit des Glaubens und der Sittlichkeit im tiefsten Grimde nicht mit Worten bewiesen, sondern nur erlebt und nacherfahren werden kann. Es ist zwar die aller-gewisseste Wahrheit dass „autonome (sich selbst ihr Gesetz gebende) Sittlichkeitquot; ein widerspruchsvoller Gedanke ist: deun ist die Persönlichkeit des Menschen nicht in Gott. dem höchsten Gesetzgeber, garantirt, so würde die Störung, welche die Thatsache der Preiheit in den begrifflichen Zusammenliang der Welt hineinwirft, für jedes gut geschlossene Welterklii-rungssystem früher oder spiiter zimi Motiv, diese Freiheit, und damit die Persönlichkeit selbst, — daim aber auch den

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Gnuid der Sittlichkeit — zu leugneu. Lebt dagegen die Per-sönlichkeit des Menschen wirklich in voller Energie, so hat Timl fühlt sie Gott als den Hintergrund Hires Wesens (S. 6). Dieses muss nun aber Jedem, der es nicht miterlebt, inuner mehr oder weniger nur ehie mystische Behauptung scheiiien; denn wenn ich es ihm beweisen und zu dieseni Zwecke es begrifflich klar niachen' will, so entwischt es. Nur im „Beten ohne Unterlassquot;, im Leben der Anschauung, im „Duquot;-Sagen ist es uns klar und gewiss. Sobald wir, um es einem Andern zu beweisen, „Erquot; sagen, sehen wir die Sache nur im TJni-risse, im „Bildequot;, im „Idolequot;, vor dem Johannes, im Gegen-satze ziun „Sein in dem quot;Wahrhaftigenquot; (1. Br. 5, 20. 21) uns wamt. Das Leben in der Anschauung, in der Gemem-scliaft Gottes verhalt sich ja zum begTiö'lichen Erkennen wie nach der schonen griechischen Mythe das Aufsteigen des Orpheus zum Lichte der oberen quot;Welt sich zur Eurydike verhalt, die ihm huldvoll beigegeben ist. So lange er vorwiirts strebt, lunrauscht ihn von hinten das Schweben der geliebten Ge-stalt: wendet er sich aber um (d. h. fallt er aus der geisti-gen Anschauung in den Begriff hinab) — sofort schwindet sie, ach! in die dunkle Ferne zurück. JsTur dort obeu im ewigen Lichte wird die selige Yereiuigung wieder hergestellt: dort werden wir „erkennen wie wir erkannt sindquot;.

Kami man es also den Yertretern der morale indépendante nicht verargen, dass sie die Sittlichkeit von einer sich oft so schwerlich beweisenden Grundlage unabhangig zu stellen versnellen, so bleibt es doch immer eine verkehrte Zerspaltung der lebensvollen Einheit des menschlichen quot;Wesens, wenn sie die sittliche Seite dieses geistigen Wesens von der rehgiösen trennen wollen. Ein ganz vergebliches Unterfangen! Demi die unsichtbare, höhere quot;Welt, deren Mittelpimkt Gott ist, bleibt doch immer, anerkannt oder geleugnet, der tragende Grand dieser sichtbaren Welt. Und so ist Eeligion in der Wissenschaft, in der Kunst, im Staatsieben, in der Familie, in derLiebe, in der einfachen Freundestreue. in der burger-

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lichen Eechtscliaffenheit. Sobakl der ilenscli etwas Unbedingtes glaubt, ist er wirklich, wenn er es audi verkennt oder leug-net, tou eiiier höheren oder niedrigeren quot;Welt, von oben oder von imten iuepirirt. Je nachdem er diesem himmlisclien oder deni damonischen Einflusse nachgiebt, Avird er von dieser Region angezogen, denn beide wollen das zvischenliegende natürliche Gebiet filr sieh in Besitz nelunen. Dieser beider-seitige Einfluss ist aber in der Zwischenzeit dieses Erden-lebens meistens verborgen. Der Feind und seine dienenden Geister lassen sich bekanntlich am liebsten lengnen, um desto uugestörter wirken zu können; wie Gott der Herr über dem Lobe Israels (Ps. 22), so thronet der Satan über dem schallenden Gelachter, mit dem die Durchschnittsbildung und ilire Theologie die Xennung seines Namens begi'üsst. Aber audi miser Gott ist ein Gott der Yerborgenheit, der heiligen Stille. Die gauze Weltgeschichte ist ein erschütternder Beweis der unausdenklichen Selbstverleugnung Gottes. So geduldig und langmüthig wie Er lasst sich doch kein Mensch in seinem eignen Hause meistern. Endlich wird Er sprechen: es ist genug, ich bin noch da — wie im eilften Kap. der Apoc. nach dem schweren letzten Gerichte die Aeltesten im Himmel sagen; „Wir danken dir, allmachtiger Gott, dass du deine grosse Kraft angethan hast.quot; Bis dahin namlich wirkt Gott scheinbar mit kleiner Kraft. Christus ist gekommen, nicht dass er sich dienen lasse sondern um zu dienen, — audi darin dass er verkannt und gleichsam anonym wirken will. Ja selbst die Kraft welche seine Feinde haben, ist seine Gabe, ist von ihm. Er hat die Menschheit zu einer Freiheit, wie sie vor seiner Erscheinung in der quot;Welt nicht bekannt war, auferzogen. Wie die sorgende Mutter mit Hingabe aller Hirer Leibeskrafte das Kind bis zur Freiheit erzieht, audi bis zur Freiheit sie an die Kehle zu greifen und zu Boden zu werfen; — so hat Christus die Menschheit bis zur Müiidigkeit erzogen, wo sie sich selbst besitzt, um sich Ihm geben — aber audi um sich ihm verweigern zu können. Das eben.

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class die Menschheit ihrem Gott and Erlöser sagen kann: „für meine Sittlielikeit brauche ich dich nicht!quot; — das eben ist dieses Gottes, dieses Eiiösers Gabe. Dazu musste es kommen. Um sich geben zii können, muss man znerst sichbe-sitzen. Wenn ich wirklicli frei alles zur Ehre Gottes tliim soli, so muss es mir audi möglich sein, dieses alles als einen Kaub dahin zu nehmen und ausschliesslich mir selbst zuzueignen.

So bekampfen und leugnen die Feinde den Herrn mit den Waffen und Kriiften, die er selbst ihnen verleiht. Wo also die Sittlielikeit unabhangig zu sein meint, da lebt sie dennoch wahrhaft von Ilim. Alle Sittlielikeit, wenn sie es auch selbst nicht weiss, hat ihre Lebenskraft vom Glauben. Die Nichtglaubigen mit ihrer Begeisterung fiir das Ideal, fiir die edle Tugend, die schone Sittlielikeit, bekunden, dass sie glauben, die sittliche Macht sei eben das Hochste, die Weit-macht, das Weltgesetz selbst. Dieser Sittlielikeit liegt dunkel der Glaube an eine sittliche quot;Weltordnung, und so an den lebendigen Gott, zu Grande. Hire Anhanger machen die Sittlielikeit zur Eeligion. Hierin liegt wieder die grosse TVahr-heit, dass Glaube und Sittlielikeit (wie S, 8 angegeben) eins sind. Das meinen Avir aber nicht im Shine der morale indépendante, die da sagt: „der Glaube besteht eigentlich in der Sittlielikeit, geht in ilir aufquot;, — sondern so: „die Sittlielikeit besteht eigentlich in dem Glauben, geht in ilun auf.quot; Der Glaube an den dreieinigen Gott ist die höchste Sitten-lehre. Durch ihn allein begreifen und erkennen wir imser eignes Leben und die Entwicklung im Leben der ganzen Menschheit. In der Sittlielikeit also, wenn sie wirklich unabhangig, d. h. vollkraftig lebend und wirkend ware, kitme der Glaube nicht zu seiner Auflösung, sondern eben zu sei-nem herrlichsten Siege. Es ist Gott, der in mis wirket beides das Wollen und das Vollbringen nach seinem Wohlgefelleu. Wenn ich nun wirklich es so weit bringe, dass ich will, dass ich selbst und bis zum wirklichen Yollbringen will, dann

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ist Gott nicht müssig in uiir, sondern ebeu dann hat Gott in mir seinen Zweck erreicht.

Ohne Christum kann ich nichts thun. Wenn ich in ilnn nun wirklich etwas thue, wenn ich nun wirklich in voller Manneskraft dastehe und sagen kann: schauet meine Unab-hangigkeit, und wie ich mich ganz auf niich selbst stiitze, — dann ist Christus nicht zur Seite geschoben sondern dann ist er eben in niir alhnaehtig. Wenn in der That eine unab-haugige Sittlichkeit da ware (es ist weit davon entfernt, aber wenn sie nun da ware), so würden wir nicht sagen: nun ist Gott, nun ist der Glaube abgethan, sondern eben: nun feiert Gott, nun feiert der Glaube seinen höchsten Triumph, wie der Arzt seinen höchsten Triumph feiert, wenn der Todtkranke wieder gesimd und kraftig vor ihm steht. So wird auf der neuen Erde unter dem neuen ïïinmiel, eben weil Gottes Zweck dort vollkommen erreicht sein wird, gar keine Ee-ligion mehr stattfinden: im heihgen Jerusalem, das die Herrlichkeit Gottes hat, ist keiu Tempel, deun der Hen-, der alhnachtige Gott, ist sein Tempel, und das Lamm.

Das versteht die morale indépendante nicht. Sie be-hauptet, Tom Glauben unabhangig zu sein in dem Simie, dass der Glaube au Ursprung und Blüthe des sittlichen Lebens keinen Antheil habe. Allein wenn nun wirklich einmal aus ihrer Wissenschaft, Kunst, Idealitiit, der Glaube, der in der That dieses alles triigt, herausgenommen werden kömite, wie traurig würde es daim, wie in einer von der Atmosphare entleerten Luftpmnpe, zusammenschnmipfen und dahin-schwinden!

Es würde sich dann ja klar herausstellen, wie diese Sittlichkeit nur ein Eückschritt ist bis zum Eesthetischen Pan-theismus (S. 9), der überwunden wurde, als in Christo das wahre Menschheitsideal hervortrat. Dieser Staudpunkt konnte in der vorchristlichen Periode gewissermassen unschuldig sein. Jetzt aber ist es der Menschheit deutüch geworden, dass es ihres Wesens eigentliches Gesetz sei, in der sittlichen Voll-

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endung der Persönlichkeit den Lebenszweck zu finden. Wei-jetzt wieder zur früheren Entwicklungsstufe des sittlichen Bewusstseins zurückgeht, der meint, mit Beseitigung der Religion, Cultur und Sittlichkeit durch innige Yerbindung beider zu retten. Allein er stösst die beiden Schwestern in einen Fluss der Gottlosigkeit, in dessen quot;Wellen sie, fest nni-schlnngen, ertrinken. Die Cultur versucht die Sittlichkeit zu retten, aber sie sinkt selbst. Die Sittlichkeit will die Schwester heraufziehen, aber ihr fehlt der feste Anhaltspunkt, und beide schwinden hin. An deu wohlmeinenden aber kurz-sichtigen Humanisten der morale indépendante wird solches zur schrecklichen Wirklichkeit werden.

Diese nichtglaubigen Yerehrer des Ideals sitzen auf' dem Aste, den sie abzusagen beschaftigt sind. Wenn nun der Ast zuletzt hinabstürzt, erfahren sie mit Todessehmerzen, wohin sie selbst gekommen. Oline Christum, ohne christliche Sitte und Scluüe erziehen sie zur schonen Humanitat und Sittlichkeit ein Geschlecht, das nicht, wie sie selbst, in der Jugend von den Eindrücken der belebenden Atmosphare des Glaubens erwarmt wurde, ein Geschlecht, das, wie seine Eltern das Evangelium für den Hmnanismus, die Kirche für das edle Schauspiel vertauschten, so auch seinerseits diesen Hmnanismus für die Barbarei, das edle Schauspiel für Orte, die ich nicht nenne, vertauschen und mit der Keu Ie den Eltern die anmuthige Leier aus den Handen schlagen wird!

Dieser angeblich unabhangigen Sittlichkeit halten wir den Spruch Augustin's vor: Suchet immerhin was ihr sucht, es ist aber nicht da, avo ihr es sucht. Quaerite quod quasritis, sed non est ubi queeritis. Unabhangige Sittenlehre, o wir wollen sie so gut wie ihr, wie wir mit euch ein selbstandi-ges Leben wollen. Allein wir wissen, dass um das Leben in Tins selbst zu haben, um wirklich unabhangig und selbstiin-dig zu sein, wir essen müssen das Fleisch des Menschen-solmes und trinken sein Blut (Joh. 6, 53). Die Unabhangigkeit ist eine herrliche Saclie — wer sie uur vorerst besiisse!

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Wenn euro Sittlichkeit (was freilich umnöglicli ist) nach hinten, unabhangig Aviire vom Denken, von der Geschiclite, von der bisherigen Entwicklnng der Menschheit; wenn von solchem psychologischen Atomismus das Innere des Menschen auf die Dauer zerrissen werden könnte: — mm so ware diese Sittlichkeit doch gewiss nach vorn abhangig von der Con-seqnenz, mit der eure Kinder sic in den Stanb hinabziehen wtirden, — nnd ilberdies ware sie nach beiden Seiten abhangig vom blinden Stolz des natiirlichen Menschen, der sich selbst behanpten will nnd eben dadurch sich selbst emiedrigt; der statt die Freiheit in Christo die Freiheit von Christo sucht nnd eben dadurch der Simde Knecht wird.

VI.

So haben wir jede Gnmdlage, die der Sittlichkeit ausser

dem Glauben an Jesnm Christum imterbreitet wird, hinfallig

befimden. In der Selbstverleugnung, dem Sterben mit Christo

damit wir mit Ihm auferstehen, concentrirte sich uns das

Avahre, darum unzertrennlich mit Christo dem Haiipte A'er-

bnndene, sittliche Leben. Und Avas ich mit prosaischen Worten

ausgeführt, das habt ihr, lieben deutschen Briider, die ihr

vor uns Hollandern die köstliche Gabe des Gesanges voraus

habt, schon so oft gesungen im Liede, das die SiegesgeAviss-

heit in Christo nnd die Siegesbedingung des Sterbens mit

Ihm zusammenfasst:

Die Sach.' ist dein, Herr Jesu Christ,

Die Sach', an dor wir stehn.

Und Aveil es deine Sache ist Kann sio nicht untergehn.

Allein das AVeizenkorn, bovor Es fmchtbar sprosst zum Licht empor,

Muss sterben in der Erde Schooss Zuvor Aquot;om eig'nen quot;Wesen los,

Durch Sterben los,

Vom eig'nen AVescn los!

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So fosse Muth, tkenre Gemeinde Jesu Christi, die du liiiltst an seiuem Namen und -vvillst seinen Glanben nicht ver-lengnen, fasse doch einen frohen Muth, in diesen schweren Tagen den Herrn zu bekennen. Schliesslich wivd die Mensch-lieit sehen, dass doch wahrhaftig nichts Gntes, nichts Wirkliciies zu Stande gebracht sein wird ausser durch den Glauben an Jesum Cluistimi. Wenn die Gemeinde nur ruhig die Zeit abwartet, wird sie noch erleben, dass es sich (freilich nach schweren Trübsalen und Gerichten) zuletzt noch herausstellt, die Weltgeschichte habe bis an ihren Ablauf einen apagogi-schen Beweis fiir Christiun gefiihrt. D. h. gleiclnvie in der quot;Wissenschaft die tausend Yersuche Ciuistum aus der quot;Welt zu erkliiren statt die Welt aus Christo, alle fehlgeschlagen sein werden, ebenso wird im praktisch - wirklichen Leben von den tausend Wegen, auf welchen die Menschheit ausser Christo das Heil sucht, kelner zum Ziele gefiihrt haben. Bel soldier Erwartung liegt uns aber schon jetzt ob, der Welt den Glauben in der am meisten gewinnen den Form zu zeigen. Und diesem allgemein gefiihlten Bediirfnisse suchen Tiele durcli verdienstvolle, zum Theil treffliche, apologetische Gedanken entgegen zu kommen. Gewiss werden audi solche Terthei-digungsversuche die heilsame Wirkung haben, wo die Herzen schon zugeneigt sind, einzelne Steine des Anstosses zu ent-fernen. Allein sie bleiben alle im Ganzen doch mehr oder weniger verfanglich und kraftlos, weil es in letzter Instanz immer lediglich auf den sittlichen Ernst ankommt, auf den Willen, die anerkannte Wahrheit gelten zu lassen. Als den einzig hinreichenden Beweis, den wir liefern sollen, stellt uns das Wort Gottes vor, „mit Offenbarung dor Wahrheit uns gegen aller Menschen Gewissen vor Gott zu beweisen1'; das heisst, der Welt den Glauben in der Form, die sie allein sehen kann, in der Gestalt der Sittlichkeit, der Liebe zu zeigen. Denn zwar kann die quot;Welt den Geist der Wahrheit, so lange sie quot;Welt bleibt, nicht empfangen, denn sie siehet ihn nicht und kennt ihn nicht. Wolil aber

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kann sie die quot;Werke, die Frucht des Geistes sehen; iind diese Frucht kann den Aufrichtigen ziun Rückschluss auf den Baiun, anf die göttliche Quelle dieses Lebens veranlassen und ilin dahin weisen. Die Frucht aber des Geistes ist Liebe, Freude, Friede, Geduld, Freundlichkeit, Gütigkeit, Treue, Sanftmuth, Keuschheit. Sittlicher Natur ist die Wahrheit, die heilsame Gnade Gottes: denn Gott ist die Liebe, und Mittelpunkt und Kern unseres Bekenntnisses ist die Fleisch-werdung, d. h. die Herablassiuig der ewigen Majestat zur un-ergründlichen Selbstverleugnung in der Liebe. Wollen wir diese Lehre glaubhaft machen, so mussen wir sie sichtbar stellen, darin dass auch wir mit selbstverleuguender Hingabe lieben. Wo es nicht gelingt die Feinde zu überzeugen, da sollen wir wenigstens durch die imleugbare Macht unsrer Liebe zu den Menscheu für unsre Liebe zu Gott Yergebuug erwirken.

Dass die Wahrheit des evangelischen Zeugnisses mit der Yernunft, wie man es nennt, übereinstimme, das sollen wir ia mit vollem Herzen glauben. Dass Gott sei der Dreieinige, wie die Gemeinde von jeher seinen Namen bekannt hat; dass Christi Blut und Gerechtigkeit unser Schmuck und Ehrenkleid, und das Wort an das wir glauben, wahrhaftig Gottes Wort sei, — das alles lüsst sich zwar wissenschaftlich nicht bewei-sen, wohl aber lasst sich beweisen, dass eine Wissenschaft, die es leugnet, nur Machtsprüche bringe und ihre eigene Unwissenschaftlichkeit durch Ueberschreitung ihrer Grenze zeige. Dass nun aber „der Glaube die höchste Yernunftquot; sei, was wir freudig glauben imd bekennen, das soil auf sittlichem Wege bewiesen werden. D. h. die Methode, die Weise soldier Yertheidigung unseres Glaubens soil folgende sein.

Mit den Utilisten, Pessimisten und den Anhangern der „unabhiingigen Sittlichkeitquot;. mit TJnglaubigen und Nichtglau-bigen (deren Unterschied Luk. 12, 47, 48 beschrieben wird) sollen wir anfangen beim Satze; „es muss gut sein, das Gute zu thun.quot; Dieser Ausgangspunkt ist unanfechtbar: ihm kann nicht vorgeworfen werden, er sei willkürlich an-

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genommen, da er jedem menschlichen Gewissen sofort ein-leuchtet. Weun jemand nach dem Grimde fragte, wanun wir das absolute Eecht des Guten zum Ausgangspunkte genommen, so würde die ganze Menschheit folgende Antwort gnt-heissen: „es ist nicht gut von dir, es ist nicht erlaubt, dies zu bezweifeln: wir geben dir billig keine weitere Antwort.quot; Die Wissenschaft kann auch niclits dagegen einwenden. Denn zwar ist der Wille, wie ein mathematischer Punkt, durch die Sinne nicht wahrzunehmen, allein er ist eine That-sache, die als solche sich dem Gewissen unmittelbar lie wei st. Ich sage nicht: „der freie Willequot;, sondern einfach „der Willequot;: denn wer das Eine sagt, der sagt das Andere. Dass der AVille, wenn die natürlichen Bedingungen, die ihn allerdings be-schranken, ihn auch wirklich erklarten und hervor-brachten, einfach nicht existiren würde, das ist eben so ld ar. als dass er an diese Bedingungen gebunden ist und uur ahnahlig frei wird. Die sittliche Freiheit ist eine Thatsache aiif die, vom imabweislichen Pflichtgefühl aus, eben so notli-wendig zurückgeschlossen wird als von den sinnlichen Dingen aiif ihre TJrsache. Sie ist kein logischer Begriff, sondern Thatsache, die da bleibt, wenn es auch dem Verstande nicht ge-liinge sie zu durchdringen und zu begreifen. Wenn jemand sie deterministisch') wegdeutet, weisen wir ihn einfach dar-anfhin zurtick, dass er sein Versprechen, die Sache zu er-klaren, nicht gehalten habe, weil Yernichten kein Erklaren sei. Nun ist aber die Pflicht. die sittliche Nothwendigkeit das Gute zu thun, ebenso gewiss in der Grundthatsache dieser Freiheit enthalten, als die mathematischen Theoreme in den Axiom en, in den ersten einfachsten Grundsatzen, enthalten sind. Auch fur die Wissenschaft hat also die sittliche Xothwendigkeit das

') Ich mcino hier den natürlichen physischen Determinismus. Deun dass wir einen sitüiehen Determinismus allerdings anzunehmen und den Indeterminismus entschioden abzuweisen haben, dafiir erlaube ichmirauf meineSchrift Spinoza en de Idee der Persoonlylcheidquot;, S. 239 ff. zu verweisen.

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Gute zu thun, die uimmgangliche Evidenz der Sache als Legitimation hiuter sich. Audi hier hat also die Porscliung, ■\vie der Christophorus der Legende, den „starksten Herinquot; gefunden, den sie suchte imd dein sie mm den Gehorsam nicht verweigern darf. Also nocli eimnal, es muss gut sein, das Gute zu thun.

Nachdem wir alle gemeinschaftlich dieses bejaht haben, fangt nun jedermann an dasjenige zu thun, was er für das_ Gute hiilt. Dass nun hingebende Selbstverleugnung dies Gute sei, darin werden wohl noch die Meisten mit uns übereinstmnnen. Denn die „organische Weltanschauungquot;, die man so oft als die grosse Errungenschaft dieses Jahrhunderts preist, bestelit doch in einem lebendigen Gefülil der Zusam-mengehörigkeit aller Theile des üniversums zu einem Ganzen, in dem jedes Glied solidarisch mit allen andern verblinden, nicht für sich selbst lebt und uur in „Selbstverleugnungquot; den Zweck seines Daseins erfüllen kami. Wir sollen also zuniichst mit der Menschheit in selbstverleugnender Liebe eins werden. So jedoch, dass wir unser eignes, wahres AYesen nicht ver-leugnen sondern im Gegentheil es bewahren und befestigen. Hier scheiden sich nun unsre Wege und die unsrer Gegner. quot;Wir behaupten, dass, wenn wir mit volleni Ernste uns daran machen, in der Liebe und weiter in jeder Hinsicht vollkommen zu sein, wir auf die unüberwindliche Mauer des Fleisches, der sündlichen Natur in uns stossen, und das Gesetz finden, dass, die wir wollen das Gute thun, uns das Böse anhanget. Der unentrinnbare Fluch dieses Gesetzes ist, dass wir aller Anstrengung ungeachtet nicht können zur vollen Hingabe kommen, weil wir leider uns selbst nicht mehr besitzen. Mich selbst wirklich zu besitzen, dazu branche ich den Er-löser, der meiii falehes Ich von meinem wahren Ich scheidet (S. 15) und mich als freien, neuen Menschen wieder herstellt, damit ich diese Freiheit zur Hingabe gebrauche. Sonst, wenn ich ausser dem Erlöser bleibe, gebe ich mich, wo ich mich verleugne, dem Ganzen nur in aesthetischer, nicht in sitt-

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licherWeise hiii. Der hier gemeinteUuterschied ist folgen-der. Wenu ich micb, wie der Inder, der Grieche, der Eö-mer, der moderne Pantheist oder Humanist, dem Ganzen hin-gebe, werde ich nur ein unselbstandiger, versclnvindender Theil des Ganzen. Das ist aber die Art der Theile eines Knnstwerks, dass seine einzelnen Theile kein Leben für sich selbst, sondern nur im Ganzen haben. Diese aesthetische Hingabe findet nothwendig überall statt, Mquot;o der „Geistquot; dem wir uns hingeben, nicht der persönliche und deshalb person-bildende Heilige Geist ist, sondern der Geist eines Allgemei-nen, des Yaterlandes, der Menschheit, der Cultur, des Fort-schrittes, der Liebe, der Humanitat, etc. Im Erlöser dagegen, in der Kraft seines Blutes, seiner Hingabe fiir uns, werden wir zur wahrhaftig freien Persönlichkeit erneuert, so dass wii- zur wirkiichen, sittlichen, nicht nur sesthetischen Hingabe kommen. Kraft dieser Hingabe haben wir, eben darin dass wil- Mensch en kinder geworden sind, d. h. allen Interessen und Leiden der Menschheit in wirkender und mittra-gender Liebe verwandt, nun zu zeigen, dass wir Gotteskinder sind. quot;Wir führen alle unsere Kraft zuriick auf die Gnade unseres Hauptes, der uns mit sich begraben hat durch die Taufe in den ïod und ebenso uns zuin neuen Leben mit sich auferweckt hat, und der sein verheissenes „Bei uns sein alle Tage bis au der quot;Welt Endequot; so ansführt, dass Er in der Ge-meinde sein eigenes Liebeswerk wiederholt, und bewirket, dass „gleichwie Er ist, so audi wir seien in dieser quot;Weltquot;. Was wir sündlich und fehlerhaft thun, davon ist in Ilmi die ur-bildliche Yollkonnnenheit. quot;Was ist denn das Geheimniss seines Wesens ? Johannes bezeugt im Anfang seines ersteu Briefes, durch den Umgang, die Gemeinschaft mit dem Herin in seinem irdischen Eieische sei dieses Eleisch ihm und seinen Mitglaubigen gleichsam durchsichtig geworden, so dass sie den göttlichen Hintergrund seines Wesens hindurchglanzen sahen, und au ihn glaubten. Im historischen Leben, im selbstver-leugnenden Hingeben, im Mensch-sein, hat das ewige Wort

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seine Gottheit nicht abgelegt sondern eben sie bewahrt. Dort am Kreuze, wo er in der tiefsten Tiefe der Selbstverleugmmg Mensch ist, dort ist er mehr als je Solui Gottes. Dort am Kreuze ist also für uus die Stelle, wo das göttliche Geheim-niss menschlich vermittelt wird: der Ort, wo wir uus dem heiligen Gott nahern köimen ohne zu sterben, um als des Todes und der Verdannnniss Schuldige Sühnung und Ver-gebimg ini Blute des Stellvertreters zu empfangen. Hier aber nehmen wir auch, allen Brüdern sichtbar, unser Kreuz auf uns, und treten so als Kreuz trager vor die quot;Welt hin. Wenn wir das in aufrichtiger Demuth thun, so kann hier cüe Welt aus der Liebe der Gemeinde die ewige Liebe, die Liebe Christi lierausfiihlen und ziun Glauben an diese Liebe, d. h. an Ihn selbst, erweckt werden. Es ist also, um Alles in Eins zu-sammenzufassen, nicht eine dogmatische Doktrin sondern ein-zig und allein die Person des Heilandes selbst, die mit der Kraft ihrer heiligen Liebe, d. h. mit dem Kreuze, uns zur Selbstverleugnung beiahigt. Eben diese ganz und gar sitt-liche Natur des Glaubens bringt uns zum Dogma. Hoch-verehrte Christen sagen: „Nicht als metaphysische Logos-incarnation sondern als Erlöser von Schuld und Simde vermittelt Christus uns das Heil.quot; Wir aber können dieses Dilemma, diesen Gegensatz, nicht anerkennen. Dass der Erlöser das tleischgewordene ewige Leben sei, das haben wir nicht metaphysisch construirt und dann zum Kreuze hinzu-gethan, sondern wir haben es auf dem Kreuze gelesen. Und dort hat es auch der heilige Apostel Johannes gelesen. So haben wir nun auch kraft seiner Gnade dieses Kreuz auf uns genommen. Und diese thatsachliche Darstellvmg des Kreuzes ist die eigentliche Beschreibung dessen, was wir glauben. Wie beim Haupte, so kommt bei den Gliedern erst das ïhun, dann das Lehren (Apg. 1, 1). Wie Pauli Predigt darum so machtig war, weil er „die Malzeichen des Herrn Jesu an seinem Leibe trugquot;, und „erstattete an seinem Fleische, was noch mangelte au Trübsalen Christi für seinen Leib, die

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Gemeinequot;, so auch bei Tins. Nicht was Christus in uns ge-wirkt hat, nein Er selbst ist „unser Lebenquot; (Col. 3, 4).

Dieses Leben hat also seine Gestalt in der Liebe, der Selbstverleugnung, die da „wahrhaftig ist bei Ihm und bei den Seinigenquot; (1. Joh. 2, 8). quot;Wenn wir diese sittliche Idee der liebe ergründen und ihren Hintergrund beschreiben, so haben wir die dogmatische Wahrheit des geoffenbarten quot;Wesen Gottes (l. Joh. 4, 16). Schelling sagt, wer die Geschichte seines eigenen Lebens von Grund aus schreiben könnte, der hatte damit auch die Geschichte des Weltalls in einen kurzen Begriff gefasst. Unser „eigenes Lebenquot; ist allerdings nur noch ein schwacher Anfang. Allein Gottlob! der „Grundquot; dieses Lebens ist nicht wir selbst, sondern Christus der Herr. Und von diesera Grimde aus können wir, was uns geoffenbart ist, beschreiben. Christus, wie er lebt im Tater, in sich selbst und in der Gemeinde, — das ist die wahre Dogmatik. Und hier ist nun auch die wahro Apologie des Glaubens.

Wir verkennen nicht den relativen AVorth der histo-rischen Beweisfiihnuig für dasjenige, was man „die Wahrheit des Christenthunisquot; zu nennen pflegt. Wenn aber gefragt wird, wie der Herr selbst in That und Wort (Joh. 7, 12) uns diese Beweisführung lehre, so können wir nichts anderes ant-worten als nur dieses: Selbstverleugnung ist nothwen-dige Voraussetzung zum Sehen der Wahrheit; und nur die Gemeinschaft mit dem gekreuzigten Christus befiihigt zur Selbstverleugnung. In jeder Selbstverleugnung, die ausser Christo versucht wird, konunt die Persönlichkeit des Menschen zwar zum Tode, aber sie bleibt in diesem Tode stecken und konunt nicht an der andern Seite auferstanden heraus um sich nun als zur Selbstverleugnung befahigt zu zeigen. Denn dazu ist nothwendig, dass der Mensch, wenn er sich nun in den Tod gegeben hat, dort eine ewige Liebe finde, die ihn lebendig mache, so dass er, aus dem Todesthore wieder heraustretend, spreche; „Lasset uns Ihn lieben, deim Er hat uns zuerst geliebt.quot; Sucht nun der Mensch

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seine Befriedigung, seiue Seligkeit (nicht Glückseligkeit) in der Hingabe an die Pflicht, an die Notlnvendigkeit in phy-sischem oder in sittlichem Shmo, oder an „Gottquot; ohne Christum, so wird seine liebende Hingabe und so seine Seligkeit etwas, das ausser und abgesehen von Gott kann erlebt werden; und diese Liebe wird also ein blosses Mittel zur Seligkeit, statt in heiliger Gottesgemeinschaft die Seligkeit selbst zn sein. Hier wird also die Persönlichkeit vernichtet, da sie zwar Gott ilire Liebe giebt, aber sie nicht von Gott empfangt: wie Spinoza ausdrücklich und consequent lehrt, wer Gott liebt, könne nicht wollen, dass Gott ihn wieder liebe (Eth. Y L. 19). Wenn aber, wie hier'), die Persönlichkeit des Men-schen zinn blossen Mittel filr die „Ehre Gottesquot; wird (da man behauptet, man sorge nicht für die eigne Seligkeit son-dern nm- fiii- Gottes Ehre), — wird in der That nicht nur die menschliche Persönlichkeit sondern audi die so lioch er-hobene Ehre Gottes selbst vernichtet. Denn Gottes höchste Ehre ist eben, den Menschen nicht zum blossen Mittel fiir seine Ehre sondern als Selbstzweck zu setzen, ihn aus dem Yerderben zu seiner Lebensgememschaft und Heniiclikeit emporzulieben. Solches geschieht durch das Kreuz (S. 15) nicht aber wo, wie hier, das Höchste, dem der Mensch sich hingiebt, unter dem Namen Gottes oder der sittlichen quot;Welt-ordnung nur die natürliche Welt- oder Yernunftordnung, und die Gottesidee nicht eine sittliche sondern nur eine logische und metaphysische ist. Hier findet auch nicht eiu Hingeben, ein Thun statt; denn die Kraft zum wahren Thun fliesst uns daraus zu, dass wir wirklich etwas gottliches enipfangen (S. IS), und hier wird überhaupt nichts „empfangenquot;: wir

') Und im Jesuitismus. Aucli liior (wie S. 20) stollt sicli die Ver-■«■andtscliaft zwischen dem Kationalismus und dem römischeti Katliolicis-mus heraus, welclie auch in dei- abstract-logischen Gottesidee des Thomas v. Aquino am Tage liegt. Der Gegensatz von Simde uud Guade wird unvermerkt iu den Gegensatz des Endüchen und Unendlichen, die selbstverleugneude Hingabe in selbstbehaaptende Ekstase verwandelt.

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nehmen nur ehifach, was uns licgegnet, unci von einem pcr-sönlichen Yerhaltnisse ist keine Rede, da sich audi unsre Persönlichkeit niclit behauptet sondern in Gott verschwindet.

So erhellt, dass fur die wahre Selbstverleugnung, uud damit fiir die einzig wahre Sittenlehre und Dogmatik, nur unter dem Kreuze Christi die Statte sich lindet; unter deni Kreuze, wo die quot;Wesenseinheit des Taters und des Solmes, die herrliche Grundwahrheit uns eras Glaubens, auf sittlichem AVege erwiesen und so der Grand unsres Lebens gelegt ist. Auf das Sichtbarwerden dieser göttlichen Einheit in wahrem Leben weist der Herr Inn als auf die einzig wahre Apologie des Glaubens. Denn dadurch, dass die Einheit des Vaters und des Solmes sich in der Gemeinde abbildet, wird die quot;Welt glauben, derYater habe den Sohn gesandt (Joh. 17,21). Diese Heiligkeit Gottes im Menschen ist das Gute schleeht-hin. Das Gute aber ist die Sichtbarkeit desWahren, wie im Hinunel das vollendet Schone die Sichtbarkeit des Wall ren sein wird, und das irdisch Schone schon jetzt dessen Prophetic ist. Das Wahre ist geoffenbart im Guten: d. h. Gott ist geofieubart im Fleische. Ton dem Geoffenbarten schliessen Avir zuriick auf das Terborgene: von dem unmittelbar Ge-wissen: „es muss gut sein, das Gute zu thunquot; schliessen wir zuriick auf den lebendigen, dreieinigcn Gott der Gemeinde. Das ist nicht etwa ein ungeheui'cr unmotivirter Sprung: es ist wahrhaft folgerichtig. Dass es solches ist, kann jedoch nicht theoretisch sondern nur praktisch bewiesen werden. Dem Terstande wird diese Argumentation immer lückenhaft, ja in hohem Grade abenteuerlich erscheinen. Xur das Leben, die Erfahrung kann deutlich machen wie dem einfach auf-richtig entschlosseneu Wollen Gottes Willen zu thun sich der Fluch des Gesetzes und, wo daim das Evangelium verkün-digt wird, die rettende Erbarmung offenbare, und daim aus der Rechtfertigung durch den Glauben eiu Friede erblülie, in dem der Mensch allaugenblicklich nur von Gnade lebt, da Gott sich seinen Kindern als Anfang, Mitte und Ende ihres

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ganzen Lebens, d. h. als der Dreieinige, kundgiebt. Dieses Alles ist ja nicht ein logisches Gedankensvstem, wo man die Folgerungen eine ans der anderen der Eeihe nach ab-leitet; sondem wie die Gemeinde selbst, so ist auch ihr Be-kenntniss ein Leib, wo jedes Glied zugleich die andern triigt nnd von den andern getragen wird, so dass man es nur dann riclitig beurtheilt, wenn man anf einmal das Ganze lebendig anschaut nnd mit darin lebt. Es ist namlich nicht so von uns gemeint, als ob der Anfang, den wir setzten, namlich dass „es gut sein müsse das Gute zn thnnquot; et was nur vom Men-schen selbst Hinzugebrachtes sei, und spater komme dann der Hen- mit seinem Evangelium hinzu. Nein, vom ersten Anfang an ist es die, wenn audi erst spater deutlich hervor-tretende, Gnade, die persönliche Wirkung Jesu Christi, aus der wir denken nnd leben. AVer das erwagt, wird auch aufhören, mit der oben (S. 42) genannten Einwendung zu behaupten, der Herr Jesus sei „nicht metaphysische Logosincarnation son-dern Erlöser von Schuld nnd Simdequot;. Er ist uns die Fleisch-werdung des quot;Wortes, wir wiederholen es freudig, weil er uns der Erlöser von Schuld und Sünde ist. Das Bekenntniss der ewigen Gottheit des Herrn Jesu Christi bezeugt eine sitt-liche quot;Wahrheit. Und statt „Dogmatismusquot; zu sein, ist eben dieses Bekenntniss die lauteste, kriiftigste Verwerfung von allem und jeglichem Dogmatismus, der die zarte Innigkeit unserer Yerbindung mit Dem, den unsre Seele liebt, mit ab-stracten Formeln verletzen und lunfloren möchte. Denn wo die Gemeinde mit Thomas aubetend spricht: „mein Herr und mein Gott!quot; will sie zu erkennen geben, wie alle Glaubigen in allen Jahrhunderten bei aller Yerschiedenheit der Aus-drucksweisen dasselbe erfahren, namlich dass die Festigkeit, die Persönlichkeit, der wahre Charakter im Menschen aus dem Glauben an diesen Menschensohn fliesse und deshall) der Hintergrund seiner Erscheinung ewig sein müsse. Die Gemeinde bet et au, das heisst: sie verneint, dass je eine dogmatische Bestimmung möglich sei, die das Wesen ilires Haup-

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tes vollkommen aussage; sie bekennt, diese Gabe sei „anaus-sprechlichquot; (2. Kor. 9, 15) und „niemand kenne Ihn demi nur der Yaterquot; (Matth. 11, 27). So bezeugt die Gemeinde eben anf dem Höhepunkte ihres Lebens, wo ihr Bekennen sich als Anbeten offenbart, die Unzulanglichkeit einer jeg-lichen dogniatischen Fomnüirung. Sieglaubt. Der „Glaubequot; bat immer nur eine Person zum Gegenstand, und zwar Gott. Denn Glaube ist Hingabe, volle Hiugabe: und der Mensch steht zu boch, um ohne unerlaubte Selbstemiedrigung sich hingeben zu können an Einen, der weniger ware als Gott. Darum liegt im Ausdruck „Glaube an Jesiun Christumquot; für jeden Naehdenkenden schon das einfache Bekenntniss der Gottheit dieses Menschen eingeschlossen; denn „Glaubequot; an einen blossen Menschen ware gleichsam ein Hybridisnms auf sitthchem Gebiete, eine naturschandende Yeremigung zweier geschaffener quot;Wesen'). Glaube ist Anbetung. Xur praktisch, d. h. nur durch Anbetung, kann und muss das Leben der Gemeinde sich in seiner vollen Wahrheit aussprechen. Und ebenso nur praktisch, d. h. nur durch die Liebe, kann und muss dieses Leben der Gemeinde seine Wahrheit jedem Menschen beweisen. Dann muss allerdings nachher die wissen-schaftliche Argumentation kommen und bat eine schone und wichtige Aufgabe zu erfüllen. Nur behaupten wir, dass diese wissenschaftliche Beweisführung und Auslegung einzig bei

') Hj'bridisch lieisst jodo Vereinigung Zweier, die niclit zusamnicn-gehören, z. B. wenn aus zwei Sprachen cin Wort zusammengesetzt odcr in oiner mythologischen Vorstellung (der Centauren u. s. w.) die Xatur vergewaltigt wird. luh bemerko noch, dass beim Ausdruck der „Glaubequot; die nahere Bestimmung „an Josuin Christumquot; eigentlicli überflüssig ist, (Joli. 1, 51; 20, '211); denn wie die freihangende Magnetnadel sich von selbst dem Norden zuneigt, so liat die Bewegung dos mensclilichen Iler-zens, die man „Glaubequot; nermt, wo sie von störenden Umstanden froi ist. aus innorer Nothwendigkeit Jesum Christum, sobald er gepredigt worden ist, zum Gegenstand. Darum ist auch der tautologisclie Ausdruck „dor christliche Glaubequot; nicht der heil. Schrift gemiiss, die ja immer vom „Glauben au Jesum Christumquot; oder einfach vom „Glaubenquot; spricht.

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solchen etwas ausrichtet, bei denen die Berührung des Le-bens selbst einen Anfang verwandten Lebens, eine Sympathie des Herzens erweckt hat. Daim fühlt jedes Scheinleben, das noch ausser Christo ist, seine Armuth und wird geneigt, die Predigt des quot;VVortes zu horen und sich von der Kraft Christi gesimd machen zu lassen. Da kornrnt daim zur Amvendung das tiefe Wort des Apostels: „So deinen Feind hungert, so speise ilin; diirstet ihn, so tranke ilm.quot;

Auch die Sittlichkeit, die ohne den Glauben an Jesimi Christinn eine Lebenskraft zu haben walmt, ist solch ein Feind, den hungert und diirstet. Er ist eine Frage, die ihre Lösung, eine Leere, die ihre Fülle, eine Form, die ihren In-halt, ein Hunger, der seine Speise sucht.

So speise ihn, du lebendig liebende Gemeinde Jesu Christi! speise ihn mit dem Brot, von dem die Erfahrung der Jahrhunderte erwiesen hat, dass, wer davon isst, nimmer-mehr hungern werde.

Ich — so spricht der allmachtige Heiland, der im Keiche nicht nur des Wahren sondern auch des Guten, nicht nur für den Glauben sondern auch für die Sittlichkeit der einzige König ist — Ich bin das lebendige Brot, vom Himmel ge-kommen. Wer von diesem Brot essen wird, der wird leben in Ewigkeit.

Druck von C. Grumbach io Leipzig.