-ocr page 1-
•wsr
s // I
Die
#9632;
Lehre von der Constitution
celMarpathologischen Standpunkte,
bearbeitet
Dr. Schütz,
Lehrer an tier Königl. Thierarzneischnle zu Berlin.
-lt;*raquo;raquo;wlaquo;*-
C
n
Berlin 1872. Verlag von August Hirschwald.
Unter (Jen Linden No. 68.
-ocr page 2-
-ocr page 3-
-ocr page 4-
RUKSUNIVERSITEIT TE UTRECHT
2671416 6
-ocr page 5-
#9632;
#9632;
Die
Lehre von der Constitution
cellularpathologischen Standpunkte.
bearbeitet
Dr. Schütz,
Lehrer au der König], Thierarzuei^chule zu ßtirlin.
s
Berlin 1872.
Vorlag von August Hirschwald.
Unter den Linden No. 68.
iHoaain MasHionaia
-ocr page 6-
-ocr page 7-
Vorwort.
1L
n spricht so oft vou der Selbstständigkeit,
#9632;welche die Thierheilkunde zu gewissen Zeiten ein­genommen bat und führt nur Klage darüber, dass jene Autonomie so ganz und gar verloren geht. Diejenigen, welche solche Behauptungen aufstellen, sind aber leider am wenigsten selbststandig ge­wesen! Man untersuche nur einmal die thierärzt-liche Literatur und schon eine kurze Einsicht lehrt, dass unsere Wissenschaft ausserordentfich arm an Special-Abhandlungen, dagegen ziemlich reich an voluminösen Lehrbüchern ist. Woher kam denn wohl das Material, mit dem jene Lehrbücher ge­füllt wurden? Das Material wurde der Menschen-beilkuude, oft ohne Angabe der Quellen entlehnt! Es fehlte oft den Antoren das Geschick, das Ma­terial saebgemäss zu ordnen. Ja, ich gehe noch weiter! Viele Autoren haben selbst das nicht ver­standen und nicht gesehen, was von ihnen be­schrieben worden ist. Wo bleibt da die Selbst­ständigkeit? Giebt es etwa eine Pathologie und Physiologie des Menschen und eine Pathologie und
-ocr page 8-
Physiologie der TMere? Die Pathologie und die Physiologie sind universelle Wissenschaften und ihre Sätze müssen so construirt sein, class sie auf alle lebenden Individuen bezogen werden können. Es würde viel vorthcilhafter gewesen sein, wenn die Thierheilkunde in der universellen Verbindung ge­hlieben wäre und sich nicht isolirt hätte. Welche Früchte hat diese Isolirung gebracht! — Die Wis­senschaft muss die praktischen Gesichtspunkte nicht verlieren. Das ist richtig. Aber die Prak-dker müssen auch den Bewegungen in der Wissen­schaft folgen. Prüfen wir unser Wissen an der Lehre von den Temperamenten.
Die leitenden Grundsätze für die folgende Arbeit verdanke ich meinem Lehrer, dem Plerrn Prof. Virchow. — Der Schüler ist nur den Ideen des grossen Meisters gefolgt! —
Berlin, den 20. November 1871.
Dr. Schütz.
-ocr page 9-
Inhalt.
Seite. Vorrede.
Geschichte der Lehre vom Temperamente.......nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; 1
Constitution...............nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp;15
Sanguinische Constitution ..... ......nbsp; nbsp; nbsp;
Lymphatische Constitution . . .........nbsp; nbsp; nbsp; 23
Nervöse Constitution......... ....nbsp; nbsp; nbsp; 33
Bindegewebs-Constitution............nbsp; nbsp; nbsp; 38
-ocr page 10-
-ocr page 11-
Die Lehre von den Temperamenten lilsst sich auf den Anfang der historischen Medicin zurückführen. Dieseu suchen wir bei den Priestern des Asklepias, bei den Asklepiaden. Der geschichtliche Anfang der Medicin liegt also in den Händen der Priester und man kann daher mit Recht behaupten, dass zuerst eine Verbindung zwi­schen Medicin und Priesterthum bestand. Unter den älte­sten medicinischen Schulen sind uns die von Kos und Kuidos am besten bekannt. Diese waren Asklepiaden-Schuleu. Unter den Koern ist Hippokrates der wich­tigste.
Die hippokratischen Schriften liefern eine Einsicht in das Wissen der griechischen Schulen. Dieser Satz ist be­sonders deshalb richtig, weil selbst die acht hippokratischen Schriften nicht ausschliesslich das eigene Wissen des Hippokrates produciren, sondern in diesen auch die Erfahrungen seiner Vorgänger niedergelegt worden sind. Hippokrates ist mehr als Autor und weniger als Ur­heber seiner allgemeinen Sätze anzusehen. In diesem Sinne kann nur von Hippokrates gesprochen werden. Will man aber den Inhalt dieser Schriften prüfen, so ist vor allen Dingen nothweudig, nicht mit modernen Prämissen an die Beurtheilung der Sache heranzutreten. Hippo­krates kannte die Circulation des Blutes nicht und er
Schütz, ConstUutionstelirenbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; i
-ocr page 12-
— 2 —
hatte keine Vorstellungen von den Absonderungen der ver­schiedenen Organe. Dennoch hat man diese Vorstellungen in die hippokratischen Anschauungen übertragen und darin ist die Ursache zu suchen, weshalb selbst bis in die neueste Zeit hinein unrichtige Definitionen und Erklärun­gen über die Temperamente geliefert worden sind.
Die Grundlage der hippokratischen Medicin ist die Lehre von den vier Cardinalsäften. Diese Lehre hat Hippokrates den damals herrschenden Ansichten in der Philosophie entlehnt, und wenn auch Galen dem Hippo­krates hohe philosophische Kenntnisse zuschreiben will, die selbst von einem Plato und Aristoteles nicht über­troffen sein sollen, so finden wir doch nirgends eine Be­stätigung dieser Ansicht.*)
Hippokrates verwirft die Entstehung aller Dinge aus der Einheit, aus einer Ursubstanz. In der Schrift: de natura hominis (Tlspt qrucrtcx; Wdpcu'wov) die vom Schwiegersohne des Hippokrates, vom Polybus, verfasst sein soll, wird der hippokratische Standpunkt vertheidigt und die Anschauung des Philosophen Melissus aus der eleatischen Schule verworfen. Hippokrates aber steht auf den Philosophemen des geistreichen Empcdocles, der im Jahre 504 v. Chr. zu Agrigent in Sicilien geboren ist. (Hippokrates wurde erst 40(5 v. Chr. geboren.) Em-pedocles construirte die Lehre von den -1 Elementen: Feuer, Wasser, Luft und Erde. Alles in der Natur ist nach seiner Ansicht aus diesen vier Elementen zusammen­gesetzt. Die Welt besteht nach ihm von Ewigkeit an:
*) De Hippocratis et Piatonis decretis. ITexi nSv 'beno-xüotovc xci flldjUirog ßoyfuirwv ßiß/Ju 9quot;i'.
-ocr page 13-
— 3 —
nichts entdteht und nichts vergeht, sondern die gegebenen vier Elemente vereinigen sich zu neuen Verbindungen oder trennen sich. Der Zufall entscheidet über den Effect der Vereinigung und Trennung.
Von diesen Prämissen ausgehend baute sich E m p e -do des den Körper aller lebenden Individuen auf.*)
Der Körper ist aus den vier Elementen, denen ewiges Sein beigegeben ist, erbaut. Die Vereinigung und Tren­nung ist aut zwei feindliche Kräfte zurückzuführen, die er mit den symbolischen Namen Freundschaft und Feindschaft
raquo;
bezeichnet. Die letztere trenne, die erstere vereinige. Die lebenden Individuen sind also auch zufällig entstanden aus Anziehung und Abstossung dieser vier Elemente. Der thierische Körper ist nicht nach nothwendigen Gesetzen gebildet worden. Harmonie der vier Elemente ist Gesund­heit, Disharmonie Krankheit.
Endlich ist aber wichtig, dass die Wärme in der Phy­siologie des Empedocles eine grosse Rolle spielt. Die Wärme war der Grund des Lebens und aller Leistungen des thierischen Körpers.**) Auch diese Ansicht finden wir beim Hippokrates wieder.***)
Die Lehre von den vier Elementen wandte Hippo­krates auf den thierischen Körper an und in diesem
*) Lommatsch. Die Weisheit des Empedocles etc. Berlin 1830. Ämed. Peyron. Empedoclis el Parmenidis fragmenta. Lips. 184Ü.
**) Plutarch, üb. V.
***) Wenn ich im Obigen den Empedocles allein als Vertreter der entwickelten physiologischen Ansichten aufstelle, so time ich das nur, um das Wissen jener Zeit an einen Namen zu knüpfen. Ich will dabei allerdings bemerken, dass auch schon ältere Philosophen, so Pytha goras und sein Schüler Alkmaeon, die Entwicklung dieser Richtung vorbereitet haben.
1
-ocr page 14-
_ 4 —
Sinne sprach er von den Cardinalsäften: Blut, Schleim, gelbe und schwarze Galle. Aus diesem Grunde sagt auch Plato, dass Hippokrates die Natur des menschlichen Körpers aus der Natur des Weltalls erklärt habe.*)
Ein wichtiger Commentar des Hippokrates ist Galen und wenn letzterer auch mannigfach subjective Ansichten in seine Schriften eingetragen und die Elemen­tarlehre des Aristoteles zur Erklärung über die Ent­stehung der vier Cardmalsäfte verwendet hat, so brachte er doch gerade die hippokratischen Ansichten von Neuem zur Geltung. Galen geht in seiner Verehrung des Hippo­krates selbst so weit, dass er ihm die Priorität gewisser Ansichten, die entschieden nie von ihm ausgegangen sind, zuschreibt; so z. B. hält er ihn für den Erlinder der vier Elemente. Umgekehrt dürfen wir aber den Skcpticismus auch nicht zu weit treiben, denn dann ist es vielleicht fraglich, ob Hippokrates überhaupt zuerst von den vier Cardinalsäften gesprochen hat.
in dem Augenblicke, wo die Lehre von den vier Car­dinalsäften begründet wurde, war die Trennung zwischen Medicin und Naturphilosophie vollzogen. Eine Anerkennung für diese Leistung erhält Hippokrates durch den Cel-sus, der bekanntlich das hippokratische AVissen in Rom verbreitete.**) —
In dem Vorstehenden versuchte ich zu erklären, wie Hippokrates zu seinen Anschauungen gelangt ist und es ist bei der Kenntniss dieser naturphilosophischen Vor­stellungen über Bau des Weltalls oder der Körper sehr
*) Sprengel. Gescliichlc der Amieikimde I. *') GelsuS. De artibus.
-ocr page 15-
leicht, die physiologischen Groudideen des Hippokrates zu erfassen.
Die vier Cardinalsäfte des Hippokrates sind:
1)nbsp; Das Blut (at/Lia) ist nach H. nicht Mittelpunkt des Stoffwechsels und auch nicht gebunden an ge^Yisse Canäie. Hippokrates kannte nichts von unserer mo­dernen Anschauung über Bedeutung, Zusammensetzuug und Circulation des Blutes. Seine Kenntnisse auf dem Gebiete der Angiologie waren nur höchst oberflächliche. Für Hippokrates war das Blut eine Substanz, welche alle Theile des Körpers zusammensetzen half.
2)nbsp; Die Galle (xo^n')- Diese war kein Absonderungs-product, sondern ein Bestandtheil des Körpers. Sie war auch nicht etwa im Blute zu suchen, sondern im Körper. Die Galle existirte auch nicht allein in der Leber, son­dern in allen Theilen des Körpers. Die Galle konnte sich nach Hippokrates an einzelnen Theilen in grösserer Menge, so z. B. in der Leber anhäufen, dann war sie aber nur ausgeschieden, nicht au der Stelle gebildet worden.
3)nbsp; Der Schleim (yXs'y/noi). Es ist schwierig, einen Begriff für einen Körper, den Hippokrates mit dem Namen: cpXsy^ux belegte, zu linden. Wahrscheinlich rech­nete Hippokrates hierher alle Körper, welche gallert­artig oder zähe waren. Der Name würde also in diesem Sinne eine Reihe sehr verschiedenartiger Substanzen, die nur unter bestimmten Umständen ein ähnliches Aussehen zeigen, umfassen. Bei dieser Unsicherheit in der Stellung des vla'ytia ist auch die Lehre der phlegmatischen Krank­heiten des Hippokrates nicht begrenzbar.
•i) Die schwarze Galle (/isXac; schwarz und x0^7)
-ocr page 16-
— 6 —
Galle, woraus das Wort „Melancholiequot; gebildet worden ist; oder lateinisch atra bilis). Die Stellung dieser Substanz ist völlig unklar, da sie von unserer Erfahrung ganz ab­weicht. Wahrscheinlich ist es ein Zersetzungsproduct des Blutes gewesen. Bekanntlich leiden die Menschen im Sü­den sehr häufig an blutigen Durchfällen. Das Blut wird in den Darm entleert, mischt sich hier mit Galle und an­deren Körpern und gelangt als schwarze Masse zur Aus­scheidung. Hippo kr at es sah die schwarze Masse und hielt sie wahrscheinlich für ein directes Ausscheidnngs-product.
Diese vier Cardinalsäfte stehen, wie der erste Blick schon lehrt, in Uebereinstimmung mit den vier Elementen der griechischen Philosophen der vorhippokratischen Zeit. Diese Säfte waren im Körper gemischt und nahmen jene Stelle ein, die wir jetzt dem Sauerstoff, Wasserstoff, Stick­stoff und Kohlenstoff in der Zusammensetzung der orga­nischen Körper anweisen. Die normalmässige Mischung dieser Säfte im Körper hiess crasis (xydcng). [n dieser norraalmässigen Mischung hemmten sich die Säfte in ihrer gegenseitigen Wirkung, die Wirkung derselben wurde ge­mildert, oder wie man auch sagen kann: die Säfte tempe-rirfen sich. Daher nannte auch Galen dieses natürliche Mischungsverhältniss: Temperies hnmorum.*) Die Bezeich­nung Temperament drückt also das normale, das natür­liche Mischungsverhältniss jener vier Säfte aus.**)
Es resultirt aus dieser Betrachtung, dass das Tempe-ramentum rein materiell erklärt werden muss und dass
*) Galen. De elementis secumhim Hippokratem lib. 1. **) (ialeii. De temperamentis oea cornplexiomhy*.
-ocr page 17-
man jede psychologische Auffassung, wie die moderne Philosophie sie versucht hat, zurückweisen muss. In die­ser normalmässigen Mischung lag Wohlsein und Gesund­heit des Menschen; sie charakterisirte den Durchschnitts­menschen.
Die normalmiissige Mischung konnte durch die Präva­lenz eines dieser vier Säfte verändert werden, ohne dass gerade diese Prävalenz einen nachtheiligen Einfluss auf die Gesundheit des Menschen ausübte. Es bestand, trotz­dem dieser oder jener Saft in grösserer als normalmässiger Menge im Körper sich vorfand, Gesundheit. Dieses t'lus störte das Wohlsein noch nicht, es war dies ein harmo­nisches Plus. Dadurch entstanden die verschiedenen Arten des Temperaments.*;
1)nbsp; Das sanguinische Temperament bei harmonischem Plus an Blut.
2)nbsp; Das cholerische Temperament bei harmonischem Pins an Galle.
3)nbsp; Das phlegmatische Temperament bei harmonischem Plus an yXsy/ua.
4)nbsp; Das melancholische Temperament bei harmonischem Plus an schwarzer Galle.
Man würde nach unserer modernen Anschauung über die Einrichtungen des Körpers sagen, dass mit der Unter­scheidung der einzelnen Temperamente die individuellen Charaktere bezeichnet werden sollten.
Dies ist die hippokratische Humoralphysiologie (humo-res-Säfte- x1?10'); die eine fortlaufende, in sich zusammen-
') Galen. De iuae()uali temperie
— De optima enrporis nostri constitutione.
-ocr page 18-
hängende Lehre einschüesst. In dieser Lehre sind die lei­tenden Gesichtspunkte immer dieselben geblieben und sie hat durch Jahrtausende ihre Geltung bewahrt. Diese Lehre ist ein Continuum.
Noch klarer muss die Darstellung des Temperies wer­den, wenn wir einen Augenblick in die Ansichten der humoralpathologischen Doctrin des Hippokrates ein­treten.
Es wurde auseinandergesetzt, dass die individuellen Differenzen in dem Vorherrschen eines der erwähnten Säfte zu suchen seien. Dieser individuelle Charakter be­stimmte auch die Prädisposition zu den einzelnen Krank­heiten.
Besass ein Individuum ein sanguinisches Temperament und litt es an Blutungen irgend welcher Art, so erschien dies als eine natürliche Consequenz der Präponderanz des Blutes im Körper. Das sanguinische Temperament gab die Prädisposition zu Blutungen ab. Die Prädisposition dachte sich daher Hippokrates rein örtlich, d. h. in den localen Einrichtungen des Körpers gegeben.
Die hippokratische Medicin theilte dem entsprechend die Krankheiten in vier Gruppen ein.
Es gab Anomalien, die sich
1)nbsp; an das Blut,
2)nbsp; an die Galle,
3)nbsp; an den Schleim,
4)nbsp; an die schwarze Galle
anknüpften. Man unterschied daher sanguinische, chole­rische, phlegmatische und melancholische (atrabiliöse) Krankheiten.
-ocr page 19-
— 9 —
Fragen wir, worin der önterschied zwischen der aor-malen Eiurichtung, die als Temperament bezeichnet wurde, und den pathologischen Veränderungen, den Krankheiten lag, so ist dieses einfach in der Menge eines im ganzen Körper oder in den einzelnen Organen angehäuften Cardinalsaftes zn suchen. Während wir im Temperament einem harmo­nischen Plus begegnen, ist es hier das disharmonische Plus, welches die Krankheit schafft. War in einem einzelnen Organ ein Saft in übermässiger, d. h. in einer das natür­liche Mischungsverhältniss störenden Menge angehäuft, so entstand eine locale Krankheit. Bestand im ganzen Kör­per, d. h. in allen Theilen desselben eine solche Verän­derung, so war eine allgemeine Krankheit gegeben. Die localen, wie die allgemeinen Krankheitsprocesse zerfielen in die oben erwähnten vier Gruppen und darin liegt der Unterschied zwischen der alten und modernen humorai-pathologischen Anschauung. Das disharmonische Plus in allen Organen war die Grundlage einer allgemeinen Krank­heit, genau so, wie das harmonische Plus die Art des Temperaments feststellte.
Im alten Sinne waren die vier Säfte coordinirt und alle vier spielten in der Zusammensetzung des Körpers eine gleichwichtige Eolle. Sobald ein Saft in zn grosser Menge nach einer einzelnen Stelle gebracht wurde und sich hier anhäufte, das was die Alten: Congestio humoris nannten, so wurde die locale Mischung des Theiles, durch Vermehrung in der Menge eine- dieser Säfte, geändert. Die alte Therapie ging auf die Entfernung dieses dishar­monischen Plus hinaus. Die einzelnen Stoffe mussten ent­fernt werden Die Purgatio war der natürliche Zweck der
-ocr page 20-
— 10 —
Heilung. Bei die er Purgatio handelt es sit-h um eine materielle Entleerung, und nicht nur der ganze Körper, sondern jedes einzelne Organ konnte purgirt werden.
Diese veränderte Mischung einzelner Theile oder des ganzen Körpers war die Dyskrasie. Die Dyskrasie bezieht sich also auf die Veränderung in der Mischung, und zwar sowohl der localen, wie der allgemeinen Mischung. Nur so darf der Begriff des Wortes im Sinne des Hippokra-tes formalirt werden.
Für die normale Einrichtung des Körpers und für die pathologischen Veränderungen hatte Hippokrates eine quantitative Auffassung und wollten wir dieser Auffassung ein anderes System entgegenstellen, so müsstlaquo; es ein che­misches sein. Wir müssten uns die einzelnen Theile oder den ganzen Körper aus bestimmten Mengen von Albumi-naten. Kohlenhydraten. Fetten etc. zusammengegt;etzt den­ken, denn so dachte .-ich Hippokrates die Zusammen­setzung des Körpers durch seine vier Säfte. Die normale Mischung war das Temperies.
Die alte Humoralphysiologie wie — pathologic baute sich auf den Bestandtheilen des Körpers auf.
Die alte Temperamentenlehrc beschäftigte sich mit der Natur der localen Einrichtungen. Jetzt umfassen wir die letzteren mit dem einfachen Ausdrucke: „Bau'' und daher kann mit Recht behauptet werden, dass die alte Lehre von den Temperamenten mit unserer Auffassung vom Bau vollständig übereinstimmt.
Ehe ich in der Betrachtung fortfahre, möchte ich ge­rade hier auf die hohe Bedeutung des Hippokrates auf­merksam machen. Seine ganze Lehre steht auf dem kal-
-ocr page 21-
— 11 —
ten und nüchternen Boden exacter Foivschungen, an denen nnr die Prämissen falsch sind. Wir sehen, class Hippo-krates keine theologischen Kenntnisse in die Mediein eintrng, dass seine Lehre nichts Pastorales enthält. — Hippokrates liefert keine mythischen Erklärungen über Gesundheit und Krankheit, er spricht nicht von den patho-genetischen Exercitien eines Apoll oder der Schwester des letzteren, der Artemis. Das System des Hippokrates war ein harmonisches, es konnte erlernt und mit Zuver­sicht executirt werden. Daher die grosse Haltbarkeit sei­ner Lehre, die selbst jetzt noch, wenn auch rudimentär und entstellt, vielfach verbreitet ist.
Später wurde der Kreislauf entdeckt und die Zusam­mensetzung und Bedeutung des Blutes erforscht. Allmäh­lich entwickelte #9632;•ich die moderne Humoralphysiologie und —pathologic (die Haematophysiologie und Haematopatho-logie), und mit ihrer Begründung gingen die klaren An­schauungen des Hippokrates zu Grunde.
Das Blut wurde der Mittelpunkt aller Betrachtung und von seiner normalen Mischung die Gesundheit, von seiner veränderten Beschaffenheit die Krankheit abgeleitet Die Einrichtung des Körpers war gänzlich abhängig von der Beschaffenheit des Blutes. Man setzte die Temperamente in die Mischung und Zusammensetzung des Blutes und dachte sich, dass z. B. das sanguinische Thier mehr Blut aufzuweisen habe. Alles konnte nur durch das Blut er­klärt werden. Die Frage nach der localen Einrichtung der Theile ging verloren.
Das Blut galt als Träger der ganzen inneren Einrich-
!
-ocr page 22-
— 12 —
Unit;. Kam ungünstiges Material, kamen dyspeptische Stoffe iji da.s Blut oder wurde schleehte Luft eiugeathmet,
so änderte sicli die Einrichtung des Körpers, sie ver-schleehterte sich. Man glaubte, dass auf diesem AVege dauerhafte Dyskrasien entstehen könnten, die selbst resti­ren sollten, wenn das Thler aus den unglücklichen Ver­hältnissen entfernt wurde. Die Dyskrasis des Hippo-k rates bedeutete locale Veränderung der Theile, die moderne Dyskrasie bezieht sich auf die Mischung des Blu­tes. Die noch durchweg gebräuchliche Bezeichnung: „Blut-verwandtschaftquot; beweist, dass man den Samen als Destillat aus dem Blute angesehen hat. Das Blut war die dauer­hafte Quelle, der Samen der jeweilige Träger der Eigenschaft.
Wie irrthümlich ist aber die ganze Vorstellung. Die Eigenschaften des Samens liegen in den Samenfäden, die im Hoden erzeugt werden. Die Samenfäden sind Productc Idealer Natur, sie werden durch die Thätigkeit des Hodens gebildet und sind nicht als Derivate des Blutes zu be­trachten. Wir müssen die ..Blutsverwandtschaftquot; auf die Testikel zurückführen. Es giebt gar keine „Blutsverwandt­schaftquot;, sondern nur te.-ticuläre oder ovariale Verwandt­schaft. Bei der Vererbung ist das Blut weder activ noch passiv betheiligt. Im Blate pflanzt sich kein Zustand von den Eltern auf die Kinder fort.
Alle Eigenschaften, die der Körper besitzt, sind zu localisiren. Die Eigenschalten residiren an den Organen, dabei kann die .Mischung des Blutes durch die localen Z-a-stände beeinflusst werden. Dauerhafte Veränderungen des Blutes entstehen durch dauerhafte locale Veränderungen.
-ocr page 23-
— 13 —
Andere permanente Dyskrasien giebt es nicht, da das Blut weder die Bedingmigen zur Erlialtung, noch zur Er­neuerung in sich trägt. Die Blutkörperchen können sitli weder erhalten, noch können sie sich durch sich selbsi erneuern.
Für uns ist das Blut ein Weg, der
1)nbsp; allgemeine MiscliungsVeränderungen machen kann;
2)nbsp; die localen Verändeiuugen mit allgemeinen ver­bindet;
3)nbsp; die localen Veränderungen unter sich vereinigt. Das Temperament ist folglich nicht in das Blut zu
verlegen, sondern in die Theile des Körpers. Die Perma­nenz der Einrichtungen des Körpers, die sich lange Zeit erhält und von Generation auf Generation überträgt, be­findet sich nicht im Blute-, sondern ausserhalb desselben. Ist die Blutmischung verändert, so müssen wir nach den localen Gründen suchen. Theilt sich eine Zelle, so ent­stehen zwei neue Zellen, die die Eigenschaften der ersteren besitzen, das ist Erblichkeit im cellularen Sinne. Die Samenfäden sind Zellen des Vaters, die Eier solche der Mutter; die ersteren entstehen im Hoden, die letzteren im Eierstocke. Beide, Hoden und Eierstock, sind die Träger der Einrichtungen resp. Eigenschaften der Eltern und durch sie vermitteln wir die substantiellen Eigenthümlichkeiten.
Die Körpercinrichtungen sind im cellularen, nicht im humoralen Sinne zu erklären. Die Einrichtung des Organes entscheidet über seine Leistung.
Diese Auffassung war aber erst möglich zu einer Zeit, in der man die Einrichtungen der einzelnen Organe kennen gelernt hatte. Da ergab sich, dass in vielen Organen neben
-ocr page 24-
— 14
eigenthümliehen Geweben auch solche nachgewiesen werden konnten, die vielen Organen gleichzeitig zukommen. Man lernte die similairen und dissimilairen Gewebe kennen, und mit dieser Erkenntniss trat man in die Betrachtung der heutigen Zeit ein. Mit Recht wird Bichat als der Schöpfer unserer Auflassung bezeichnet
Die Breite der individuellen Einrichtung schwankt im Körper und dessen Organen. Die verschiedenen Individuen besitzen verschieden eingerichtete Organe. Auf diesen Abweicliungeii beruhen die individuellen Verschiedenheiten der Thiere und zwar sowohl in pathologischer, wie physio­logischer Beziehung.
An Stelle der Temperamente haben wir jetzt die Lehre von den individuellen Verschiedenheiten nach der anato­mischen Einrichtung. Die Auffassung in der alten Tem-perameuteulehre und der modernen Anschauung ist dieselbe, in beiden wird nach der feineren Einrichtung der Theile geforscht. Nur ist die irrthümliche Ansicht über die Zu­sammensetzung der Theile, wie sie Hippokrates besessen hat, verdrängt durch die Lehre von der elementaren Zu­sammensetzung des Körpers. An Stelle der Säfte sind die Gewebe getreten.
Ich wiederhole daher, die alte Temperamentenlelire stimmt mit der Lehre vom Bau überein.
Jeder Körper besteht aus einer mehr oder weniger grosseu Anzahl von Theilen (Organen, Geweben). Jeder Theil des Körpers besitzt eine gewisse Autonomie. Diese Selbstständigkeit ist aber keine absolute, denn die Theile stehen unter einander in einem gewissen Abhängigkeits-Verhältuisse Jeder Theil hat eine gewisse Bedeutung und
-ocr page 25-
— 15 -
einen gewissen Einfluss auf die anderen und dieses all­gemeinrechtliche Verhäliniss der Theile unter­einander nennen wir Coustitutiou. Die Einrichtung der Theile bestimmt daher die Constitution. Besitzen ein­zelne oder mehrere Theile gewisse Eigenthümlichkeiten, so kann von diesen ein genereller EinÜuss auf den ganzen Körper ausgeübt werden. Diesen Einfluss nennen wir den constitutionellen Einfluss.
Wir benutzen an Stelle des Wortes: Temperament den modernen Ausdruck: Constitution, und zwar einzig und allein, weil er klarer ist. Die Lehre von den Tempera­menten ist durch die modernen liumoralen Anschauungen so verschoben, dass die Bezeichnung: Temperament total unhrauchbar geworden ist, und selbst im Sinne des Hippo-krates schliesst sie völlig falsche Vorstellungen ein. Man vergleiche nur einmal die verschiedenen Definitionen, die über das Temperament geliefert worden sind und mau wird den grössten Irrthümern begegnen.
Wenden wir uns zur Betrachtung der verschiedenen Constitutionen:
Die sanguinische Constitution,
Worin liegt nur die Eigenthümlichkeit der sanguinischen Constitution, ist die Eigenthümlichkeit im Blute oder in den Gefässen zu suchen? Liegt der Grund in einer grösseren Blutmenge, wie die humorale Doctrin vom san­guinischen Temperamente annahm, oder ist die grössere Anzahl von Gefässen das Entscheidende?
Die Entscheidung ist nicht schwer. — Man nahm an,
-ocr page 26-
— 16 -
class bei der artcrieUcu Constitution das venöse Blut die Eigenschaften des arteriellen an sich tragen sollte, dass das venöse Blut arterialisirt wäre, und dass bei der ve­nösen Constitution das ganze Blut mehr venös, oder, wie man sagte, weniger decarbonisirt erscheinen sollte.
Diese Auflassung ist aber total unhaltbar. Wir beob­achten allerdings Fälle, wo das ganze Blut, also auch das venöse, mehr die Eigenschaften des arteriellen au sich trägt, wo arterielles Blut in die Veuen gelangt. Wir sehen diese Veränderung des Blutes bei beschleunigter Circulation eintreten. Hier wird das ganze Blut aus leicht fassbaren Gründen mehr arteriell. Aber, wer wird diese Veränderung des Blutes eine constitutionelle nennen wollen, wer wird in diesem Falle von einer arteriellen Constitution sprechen? Die Veränderung ist ja einzig und allein ab­hängig von gewissen krankhaften Verhältnissen! —
Ferner sehen wir unter anderen umständen das ganze Blut mehr venös werden, so z. B. wenn die athmende Fläche bei den verschiedensten Aft'ectionen der Lunge kleiner wird und das venöse Blut nicht genügend arterialisirt werden kann, oder wenn bei Persistenz des ductus Botalli oder des Foramen ovale venöses Blut von der rechten in die linke Herzhälfte gelangt und nun mehr venöses Blut im ganzen Körper kreist.*) — Ja, das ist keine venöse Constitution, sondern die MischungsVeränderung des Blutes resultirt aus krankhalten Zuständen!
Bei der sanguinischen Constitution handelt es sich um veränderte Vertheilungsverhältnisse
•) Dadurch entstellt aber nocli nicht die Cyanose, wie fälschlich be-hanptol norden ist! —
-ocr page 27-
— 17 —
der Gefässe. Die Vertheilung der Gefässe ist eigen-thümlich und darin liegt das CoDstitutionelle. Diese Eigenthümlichkeit kann vererbt werden. Wer kann sagen, dass bei der sa.aguinisehen Constitution mehr Blut im Kör­per existirt? Wo ist jemals eine Bestimmung der Blut­quantität bei solchen Thieren ausgeführt worden? Es war nur die Consequenz der humoralen Doctrin, die diese An­nahme forderte, und die weiter nichts für sich hat, wie das Alter.
Bei der arteriellen Constitution ist nicht das Blut arterieller, sondern die Arterien des Körpers sind stärker entwickelt, und bei der venösen Constitution zeigt sich dasselbe Verhältniss im Venensystem. Die starke Ent­wicklung der einen oder der anderen Gefässabtheilung ist das Absonderliche und diese Absonderlichkeit ist hereditär.
Welcher Theil des Körpers präponderirt? — Das Ge-fässsystem; das letztere ist verhältnissmässig besser ent­wickelt als die übrigen Theile des Körpers. Die arterielle, wie die venöse Constitution haben eine anatomische Grund­lage und diese ist nicht im Blute, sondern im Gefässsysteme zu suchen.
Woher wissen wir aber, dass bei dem einen Thiere die Venen stärker entwickelt, dass bei dem andern Thiere die Arterien mehr ausgebildet sind? Wir erschliessen dies aus der Einrichtung gewisser Theile, wir schliessen aus dem äusseren Aussehen auf die Einrichtung der inneren Theile.
Es ist dies ähnlich, wie wenn mau aus der Beschaffen­heit der Zunge, also eines sichtbaren Theiies, auf die Be-schaftenheit des übrigen Digestionsapparates, also der nicht sichtbaren Abtheilungen schliesst Wir beurtheileu das
Schütz. Consthutionslehre,nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp;,gt;
-ocr page 28-
— 18 —
Thier nach dem Habitus. Der Habitus ist also das allgemeine Verhalten nach der äusseren Erschei­nung des Thier es. Es ist also Constitution, so weit sie nach äusseren Merkmalen zu beurtheilen ist. Wir schliessen hier aus den letzteren auf das gesammte innere Verhalten des Thieres. Die Frage ist nur die: ob wir zu solchem Schlüsse berechtigt sind? und da muss Jedermann orten gestehen, dass diese Auffassung viel Irriges in sich scHiesst, dass die Auffassung zum Theil dogmatisch ist. Es liegt das darin, dass uns bis jetzt die individuellen Einrichtungen wenig bekannt sind Die Erschliessung des Normalen oder Typischen hat bisher die volle Arbeit in Anspruch genommen. Aber das Normale ist nicht indi­viduell. Die Lösung des Geheimnisses der Individualität ist nur möglich, wenn wir das Durchschnittsindividuura mit den individuellen Einrichtungen vergleichen. Bisher sind solche Vergleiche kaum ausgeführt worden und daher fehlt jener Beurtheilungslehre zum Theil die wissenschaft­liche Grundlage.
Die Frage über die Bedeutung des Habitus ändert aber nichts an der Lehre von den constitutionellen Einrichtun­gen des Körpers. Die arterielle Constitution zeichnet sich durch den Reichthum an Arterien, die venöse Constitution durch den an Venen aus. Je mehr aber die Zahl der Arterien oder Venen steigt, um so mehr steigt auch die Möglichkeit zur Erkrankung. Je mehr Apparate ein Thier besitzt, um so mehr können betroffen werden! Mit der Zahl steigt die Prädisposition. Wie wichtig ist daher das Studium der Lehre von der Individualität, wenn es gilt, das Causalitätsverhältniss der Störungen zu ermitteln.
-ocr page 29-
— 19 —
Die sanguinische Constitution ist durch den Keichthum an Gefässen, nicht durch den Reichthum an Blut zu er­klären. Sie beruht darin, class die Zahl normal eingerich­teter Gelasse zugenommen hat.
Mit dieser Kenntniss über die constitutionellen Ver­hältnisse des Körpers wird es ausserordentlich leicht, eine Einsicht in gewisse, gleich zu erörternde pathologische Zustände zu gewinnen, deren Stellung durch die humoral-pathologische Auffassung so ganz und gar räthselhaft ge­blieben ist.
Ich erinnere hier beispielsweise an die Bluterkrank­heit. Die Humoralpathologie hat auch für diese Krank­keit eine Dyskrasie erfunden. Ich sage „erfunden4-, weil zu keiner Zeit die supponirte Veränderung des Blutes nachgewiesen worden ist. Die Humoralpathologen nahmen eine Verflüssigung des Blutes an und wollten durch diese die Neigung zu Blutungen erklären. Als ob eine Flüssig­keit noch flüssiger werden könnte! Es fehlt bis jetzt jede Erfahrung darüber, dass das Blut anders ist wie bei ge­sunden Thieren. Diese Krankheit hat mit dem Blute nichts zu thun. Die Vorstellung mit der Dyskrasie ist der reine Nothbehelf. Bis jetzt wissen wir von dieser Krankheit: 1. dass die Blutung nicht leicht zu heilen ist, 2. dass sie leicht wiederkehrt, 3. dass sie oft ohne Verletzung eintritt und 4. dass sie nach Traumen ungemein hartnäckig ist. Berücksichtigen wir weiter, dass jede ergiebige Blutung eine laesio continui des Gefässes voraussetzt, so muss der Fehler im Arteriensysteme gesucht werden. Da fejner alle Arterien solcher Thiere in diesem Störungsverhältnisse sich befinden, so ist die Bluterkrankheit ein eminent con-
2*
-ocr page 30-
- 20 —
stitutionelles, aber nun und nimmermehr ein dyskrasisches Leiden. Das Arteriensystem ist schlecht angelegt und diese schlechte Anlage kann sich von Generation auf Ge­neration fortpflanzen, -wie die Erfahrung bei Menschen ge­lehrt hat. Nur so erklärt sieh die Heredität. Die Arterien zeigen gewisse Eigenthümlichkeiten und von die^en leiten wir den generellen Einflus-s auf den ganzen Körper, den constitutiouellen Einfluss ab. Dah^r kann man mit Recht behaupten, dass bei der Bluterkrankheit ein constitutioueiles Verhältniss sehr erheblicher Art im Arteriensysteme besteht. Diese schlechte Einrichtung der Arterien giebt die Causa interna für die Blutungen ab.
Eine andere Frage ist aber die, welche Veränderungen am Gefässsysteme bestehen? Die^e Veränderung ist uns bis jetzt unbekannt. Die Arterien sind wahrscheinlich zu eng und können deshalb das Blut nicht aufnehmen. In Folge dessen mu-s zunächst die Circulation beschleunigt und der Seitendruck in den Arterien erhöht sein. Das Blut muss de-shalb im Allgemeinen mehr arteriell erschei­nen. Gerade die beschleunigte Circulation und die Zu­nahme im Blutdrucke würde uns mit Leichtigkeit die Nei­gung zu Blutungen erklären Es würde sich auch ferner aus der Steigerung im Drucke erklären lassen, weshalb die Blutung i o schwer zu stillen ist. Nicht die veränderte Blutmischung ist also die Ursache des Mangels in der Ge­rinnung des Blutes. Erst später, wenn das Individuum eine grössere Menge Blut verloren hat, und der Blutdruck zu sinken beginnt, wird die Blutstillung leichter erfolgen, weil dann die Bänder des Loches in Folge der ElasticiUt der Gefässwände sich berühren können.
-ocr page 31-
— 21 -
Doch wozu diese SpecuJation. Ich gestehe gern ein, dass bis jetzt die anatomische Grundlage für diese Ver­änderung im Arteriensysteme nicht ganz aufgedeckt ist. Aber diese Lücke kann nichts in der Auffassung über die Bluterkrankheit ändern. Deshalb muss sie doch auf die schlechte Anlage im Arteriensysteme zurückgeführt werden.
Ein ähnliches Beispiel für das Venensystem liefern uns die Hämorrhoiden. *) Bekanntlich bezeichnen wir mit diesem Namen die aus den Gefässen der Analgegend ein­tretende Blutung. Als Quelle der Blutung ist der Plexus haemorrhoidalis zu betrachten. Die Humoralpathologen suchten den Grund in einer Verunreinigung oder Ein-dickung des Blutes, sie nahmen also eine allgemeine Stö­rung als Grundlage an und leiteten von dieser die ört­lichen Vorgänge ab. Für sie gab es eine hämorrhoidale Krankheit und die Blutung war als eine Folge der Krank­heit anzusehen. Die höchste Entwicklung dieser Lehre linden wir bei Stahl, der in dem Glauben, dass die Anima die Gefässe beherrsche, den ganzen Vorgang als einen wohl angelegten und zweckmässigen bezeichnete. Er war der Meinung, dass jedes Individuum zu preisen wäre, welches von solchen Zufällen befallen w-orden; hier habe die Anima die glücklichste Stelle für die Ausscheidung der Impuritäten gewählt. Daher der Name Vena aurea, gol­dene Ader, für die Vasa haemorrhoidalia.
Wie weit weicht unsere Auffassung von dieser Vor­stellung ab. Untersuchen wir die Veränderung, welche an den Venen besteht, so ergiebt sich, dass sie stark über
*) Ich knüpfe hier an eine Beobachtung aus der Menschenheil-kunde an.
-ocr page 32-
— 22 —
die Oberfläche getreten and erweitert sind. Die Wand der Säcke ist nicht dünner als die der ursprünglichen Venen, oft sogar dicker und es handelt sich mithin nicht um eine passive Dilatation, sondern um eine excessive Entwicke­lang der Venen. Es handelt sich um ein varicöses Anal-Augiom. Prime loco besteht bei den Hämorrhoiden ein locales Leiden des Afters, welches allerdings Veranlassung zu einer Blutung geben, aber oft auch lange Zeit hindurch bestehen kann, ohne zur Blutung zu führen. Die Natur und das Wesen dieser Veränderung sind daher nicht an eine Möglichkeit, nämlich an die Blutung geknüpft.
Fragen wir nun nach den Ursachen des Anal-Angioms, so ergiebt sich, dass es kein rein locales Uebel ist. Hier­gegen spricht auch schon die eminente Erblichkeit der Hämorrhoiden, wie sie in gewissen Familien bei Menschen zur Beobachtung kommt. Nein, der Grund ist in ge­wissen constitutionellen Verhältnissen zu suchen, die man mit dem Namen der „venösen Constitutionquot; bezeichnet hat. Bei diesen Allgemeinzuständen lässt sich in vielen Theilen des Körpers die Neigung zur Erweiterung der Venen nack-weisen und diese Erweiterung tritt unter gewissen localen Einwirkungen ein. Nicht die Hämorrhoiden sind erblich, sondern diese eigenthümliche Einrichtung des Venensystems. Daher leidet, ein neugeborenes Kind niemals am Anai-Angiom, sondern dieses entwickelt sich erst später. Nicht die Krankheit, sondern die Disposition vererbt sich. Daher kann man behaupten, dass die Disposition zu dieser Krank­heit constitutionell ist. Es handelt sich um eine fehler­hafte Einrichtung im Venensysteme. Also auch dieser Krankheit liegt ein constitutioneller Zustand im Venen-
-ocr page 33-
— 23 —
Systeme (und zwar ein pathologischer) zu Gruade, ähulich wie wir bei der Bluterkrankheit einen solchen Zustand im im Arteriensysteme kennen gelernt haben —
Kehren wir jetzt zu unserer alten Betrachtung zurück. so steht fest, class im Sinne der Blutmischung weder eine arterielle, noch eine venöse Constitution existirt. Nur die stärkere Entwickelung der Venen darf als venöse Consti­tution bezeichnet werden. Bei Menschen hängt von der Zahl der Venen einzelner Körpertheile die Färbung der­selben, so z. B. des Gesichts, ab. Liegen die Venen dabei gleichzeitig sehr oberflächlich, so zeigt das Gesicht eine mehr rothe, oder im umgekehrten Falle eine mehr blaue Farbe. Die Gesichtsfarbe hängt immer von der Zahl und Lage der Venen ab. Venen sind es immer, wodurch die Gesichtsfarbe jener Menschen erzeugt wird, die man als „sanguinischquot; bezeichnet. Ganz ähnlich liegt das Ver-hältniss bei Pferden. Es giebt gewisse Racen, bei denen die Venen der Haut reichlich entwickelt und ebenfalls sehr oberflächlich gelegen sind. Es gehört diese Einrichtung zu ihrem Ra^eeharacter, die sich von Generation auf Ge­neration fortpflanzt.
Die lymphatische Constitution.
Bei dieser handelt es sich nicht um Eigenthümlich-keiten in der Lymphe, sondern um Eigenthümlichkeiten im Lymphgefässsysteme Das letztere zeigt eine auffallende Ausbildung, es prävalirt in der Einrichtung des Körpers. Dadurch erlangt der letztere gewisse Besonderheiten, die mit dem Namen der lymphatischen Constitution bezeichnet
-ocr page 34-
- 24 —
werden. Also auch diese hat eine anatomische Grundlage, welche folglich auf die Nachkommen übertragen werden kann.
Zu dem Lymphgefässsysteme rechnen wir die Lymph­drüsen und Lymphgefässe. Die Vorstellung über das Vor­kommen der ersteren hat sich im Laufe der Zeit bedeu­tend erweitert. Die Lymphdrüsen bestehen aus Lymph-follikeln, und Lymphfollikel kommen ausser in den Lymph­drüsen auch in der Milz, in den Peyerschen Haufen, in den Zungenbalgdrüsen, in den Tonsillen und ferner in der Schleimhaut des Rachens (Follikel der Rachenschleimhaut) und des Digestionsapparates (die solitären Follikel) vor. Die neuere Zeit hat auch den innigsten Zusammenhang dieser Organe mit den Lymphgefässen festgestellt. Aber wir besitzen bis zu diesem Augenblicke eine bessere Kennt-niss von dem Vertheilungsverhältnisse der Lymphdrüsen; denn die Lymphgefässe, besonders die feineren, sind den gewöhnlichen üntersuchungsmethoden nicht so zugänglich und deshalb ist ihre Mächtigkeit bis jetzt wenig bekannt. Die Zahl der Lymphdrüsen lässt sich anatomisch sehr leicht feststellen, und die bis jetzt gesammelten Erfahrun­gen haben ergeben, dass die einzelnen Thiere gerade in Bezug auf Zahl und Grosse der Lymphdrüsen die äusser-sten Mannigfaltigkeiten erkennen lassen. Das eine Thier besitzt mehr Lymphdrüsen als das andere. Vergleichen wir ferner die einzelnen Organe in dieser Beziehung unter­einander, so ergiebt sich weiter, dass vor allen anderen der Darm die grössten Schwankungen constatiren lässi. Nirgends wechselt die Zahl und Anordnung des Lymph­apparates so sehr wie gerade hier.
-ocr page 35-
— 25 -
Je mehr Lymphapparate ein Thier besitzt, um so mehr können betroffen werden. Die Möglichkeit zur Erkrankung wächst mit der Zahl der orkrankungsfähigen Organe. Eine Epidemie wird in einer viehreichen Gegend mehr Opfer fordern, wie in einer vieharmeu, weil eben mehr erkran-kangsfähige Tliiere in ersterer leben. In demselben Thiere werden ferner diejenigen Organe am schwersten erkranken können, die am reichlichsten mit erkrankungsfähigen Appa­raten ausgestattet sind, üeberail ist die Prädisposition durch die anatomische Vertheilung erklärt.
Für die Lehre von der Prädisposition ist ausser der anatomischen Vertheilung auch die innere Einrichtung der Lymphdrüsen von Bedeutung. Die feinere Einrichtung ist eine solche, dass die Neigung zum Erkranken gesteigert ist. Anatomisch lässt sich diese Einrichtung nicht defi-niren und aus diesem Grunde fällt sie in das Gebiet der physiologischen Untersuchung. Die Eigenschaft eines Theiles, durch eine Einwirkung in grössere Stö­rungen versetzt zu werden, als man nach der Einrichtung des Theiles erwarten könnte, nennt man VulneraMlitiit. Die Vulnerabilität ist also die Stö-rungsfähigkeit der Organe. An den Organen treten auf geringe Reize schon Leistungen ein oder gewöhnliche Reize rufen sehr starke Leistungen hervor. Das Unverhältniss-mässige zwischen Reiz und Leistung beweist die krankhafte Reizbarkeit. Es besteht in den Theilen eine unproportionale Reizbarkeit und dies nennen wir Vulnerabilität. Mit die­sem Namen wollen wir also das Verhältniss des betreffenden Theiles zu äusseren Dingen anzeigen.
Den höchsten Grad der Vulnerabilität besitzen die in
-ocr page 36-
— -2laquo; —
dei Entwickelmig begriftencii Lymphdrüsen. Daher kommt es, dass gerade bei jungen, in der Ausbildung stehenden Pferden die Lymphdrüsen im Kehlgange sofort miterkran-kcn, wenn die Schleimhaut der Nase im Zustande des Catarrhs sich befindet. Solche Thiere sind allerdings lymphatischer Constitution in unserem Sinne und der Grund /.u diesem Combinationsverhältnisse der Störungen, kurz­weg .,Drusequot; genannt, ist nicht in der Lymphe oder gar im Blute, sondern in den Lymphdrüsen zu suchen. Je mehr Lymphdrüsen ein Pferd besitzt und je vulnerabeler die Lymphdrüsen sind, um so leichter wird es an der Druse erkranken können. Die Vulnerabilitüt ist oft auf die Lymphdrüsen einzelner Regionen beschränkt oder sie ist an den Drüsen einzelner Theile höher ausgebildet als an anderen. Dies erklärt uns, weshalb gerade die Lymph­drüsen am Kopfe resp. Halse so häufig, ja man kann sagen, regelmässig befallen werden, während die Erkran­kungen anderer Drüsen, die ebenfalls mit ausgebreiteten Oberflächen in Verbindung stehen und von diesen ihre Lymphe beziehen, verhältnissmässig viel seltener auftreten. Aber es giebt auch Ausnahmen von dieser Regel und in­sofern erinnere ich an die Erkrankungen der Mesenterial-drüsen nach Reizungen der Darmoberfläche Ein Störungs-kreis, der ätiologisch genau ebenso aufzufassen ist, wie die xVffection am Kopfe. Mit Recht vermeiden die Thier-ärzte die Abführmittel bei der sog. „Drusequot; der Pferde. Die Abführmittel können leicht die zuletzt erwähnte Com­bination einleiten. Wenn aber diese neue Störung als eine Metastase aufgefasst worden ist, so liegt das nur in der falschen Vorstellung, welche die Humoralpathologen iioer
-ocr page 37-
— 27
diese Krankheit, erdacht haben. Wer hat jemals eine Dyskrasie als wesentliche und alleinige Ursache der Druse nachgewiesen! Schon die einfache Beobachtung der regio-nären Erkrankung muss von dieser Ansicht dauerhaft zu­rückbringen.
Wie ist die Vulnerabilität zu erklären? Sie kann einen doppelten Grund haben:
1) Die äussere Ursache trifft den Theil nicht stärker als einen anderen, aber die Ausgleichung, die Regulation, kann sich nicht in normaler Weise vollziehen. Wirkt auf einen Theil irgend eine Ursache ein, so entwickelt sich in ihm eine Störung. Diese Störung ist aber nicht patho­logisch, wenn die Kegulation leicht ist. Erst dann, wenn die Kegulation schwer oder gar nicht möglich ist, tritt Gefahr ein, und damit ist der Charakter der Krankheit gegeben. Der dauerhafte Charakter jeder Störung erklärt sich aus der Verschleppung der Kegulation. Wie wichtig ist diese Angabe für die Erklärung bei der Entstehung acuter oder chronischer Krankheiten. Die chronischen Krankheiten setzen gerade die erwähnten prädispositionellen Zustände voraus. Daher kommt es, dass ein solcher Theil. wenn er durch eine Causa externa betroffen wird, gleich dauerhaft erkrankt, und darin liegt eben der Grund, wenn man alle chronischen Krankheiten auf humorale Verände­rungen zurückgeführt hat. Dadurch erklärt sich auch das Rebellärsein der chronischen Kraiikheitsprolt;:esse, d. h. Besserung und ein neuer Rückfall bei schwacher Störung.
Quetschen wir ein Organ, so tritt in ihm eine Ver­schiebung seiner Theile ein. Ob aus solcher Verschiebung eine Krankheit wird, hängt nur allein von der Möglichkeit
-ocr page 38-
— 28 —
der Regulation ab. Ist, die Regulation leicht, so tritt nie­mals eine Krankheit ein
Der Grand, weshalb die Regulation nicht eintritt, kann darin liegen, dass vielleicht die Möglichkeiten der Resorp­tion nicht bestehen. Die'Möglichkeit besteht nicht, wenn z. B. das zur Resorption bestimmte Material nicht resorbir-bar ist. Ich erinnere hier an das Blut. Dieses repräsen-tirt, um kurz zu sprechen, ein Gewebe, welches aus Zellen und einer lässigen Intercellularsubstanz zusammengesetzt. ist. Die letztere kann wohl resorbirt werden, aber nicht die Zellen! Diese müssen erst zerfallen und erst die Zer-fallsproducte sind resorbirbar. Die Resorption kann fer­ner nicht eintreten, wenn fort und fort neue Massen aus den Blutgefässen hervortreten.
Wie gefahrbringend kann ein solcher Mangel an Re­sorption für die fraglichen Organe werden; die nicht resorptionsfälligen Massen bleiben ja hier liegen, unter­halten die Reizung an den Geweben und können schliess-lich die Gewebe zum Zerfalle bringen. '
Weiter sind die Elasticitätsverhältnisse der Theile für die Resorption wichtig. Die Bezeichnung: Elasticität muss man aber nicht rein functionell auffassen und etwa an­nehmen, dass es sich hier um eine dauerhafte Innervation handle. Der Name soll den Ernährungszustand der Ge­webe andeuten, er soll die „nutritive Spannungquot;*) aus­drücken. Der Druck, den die Theile auf die angehäuften Massen ausüben, entscheidet über die Entfernung der letzteren. In dem Masse, wie der Druck abnimmt, in dem-
') Virehow, Cellular-l'athologie.
-ocr page 39-
— 29 —
selben Masse sinkt die Möglichkeit der Resorption. Diese Verhältnisse sind in der Therapie schon lange gewürdigt worden. Die Erfahrungen auf dem Gebiete der Therapie lehren, dass das Resorptionsverhältniss der Gewebe bei der Compression ungleich günstiger ist, als ohne Druck. Der schlaffe Theil leistet von Natur wenig Gegendruck und gestattet gerade deshald die starke Anhäufung ausgetre­tener Substanzen Dies ist der Grund, weshalb die locke­ren Bindegewebsmassen in einen so starken Schwellungs­zustand gerathen können! Es sind dies jene Zustände der Gewebe, welche die Alten „strictumquot; und „laxumquot; bezeichnet haben und die später mit dem Kamen: Tonie und Atonie belegt worden sind. Diese Ausdrücke bezeichnen kurzweg Spannung und Mangel an Spannung und beziehen sich auf die innere Einrichtung aller Gewebe, nicht nur der Muskeln, wie vielfach ganz irrthümlich angenommen wird. Mit Recht werden die Thiere mit ,.schlaffer'- Constitution gefürchtet. Warum? Weil sie sich durch den Mangel an Regulation auszeichnen. Es sind dies constitutionelle Ver­hältnisse, die gewissen Rayen eigen und, weil sie an den Geweben haften, eminent erblich sind. Im Blute liegen diese individuellen Eigenthümlichkeiten nicht. Es giebt keine „schlaffequot; Dyskrasie. „Tonisch einwirkenquot; hoisst die innere Einrichtung der Gewebe so umändern, dass ihre Elasticitätsverhältnisse sich verbessern, dass die untritive Spannung steigt. „Tonische Thierequot; sind „widerstands­fähigerquot;, weil sie die Störungen leichter ausgleichen. Will man die Ernährungsverhältnisse eines Thieres verbes ern, so muss man zuerst Tonica verabreichen. Wir müssen zu­erst die Theiie in Zustände bringen, in denen sie das Plus
-ocr page 40-
— 30 —
an Ernährungsmaterial auch verarbeiten, d. h. assimiliren können; wir müssen die Tüiere zuerst leistungsfähiger machen. Den Satz: „zuerst Tonica und dann Roburantiaquot; rufe ich jedem Practiker zu!
Ehe ich weiter gehe, will ich noch kurz bemerken, dass die üebersetzung der Ausdrücke Tonie und Atonie ml* „Spannungquot; und „Mangel an Spannungquot; zwar zutreffend ist, aber immerhin manche Einwände zulässt. Wir haben iu der That kein einfaches Wort, um diese Gewebszu-stände zu bezeichnen. Ich kann dies an einem Beispiele erläutern: Die atonischen Gewebe besitzen nicht nur eine schlechte Regulation, sondern sie sind auch gleichzeitig empfindlicher. Schon sehr schwache Reize, an denen an­dere Theile nicht erkranken, rufen bei ihnen Erkrankungen hervor. —
Die Vulnerabilität ist also nicht bloss durch den Man­gel an Regulation, sondern auch durch ein Verhältniss zu erklären, welches wir gleich kennen lernen werden.
Aber diese Zustände haften den Geweben an, bevor sie durch eine äussere Ursache betroffen werden und sie sind relativ dauerhaft. Wahrscheinlich spielt hier die Einrich­tung der zwischen den Zellen gelegenen Gewebstheile, der Intercellularsubstanz, eine grosse Rolle. Die Elasticitats-verhältnisse der Theile erklären sich wohl durch die Zu­sammensetzung der Intercellularsubstanz fast ganz allein.
2) Die Theile besitzen einen höheren Grad von Reiz­barkeit. Es treten in den Theilen, wie bereits gesagt, schon nach der Einwirkung geringer Reize Leistungen ein, sjnbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; oder die gewöhnlichen Reize rufen starke Leistungen her-
vor. In den Theilen besteht eine Prädisposition zu allerlei
-ocr page 41-
— 31 —
krankhaften Thätigkeiten. In diesen Fällen ist die Fällig­keit der Theile, auf die Bewirkung von Reizen in den Zu­stand der Reizung versetzt zu werden, gesteigert. Audi diese Eigenthümlichkeit der Gewebe ist zu locaiisiren. Diese gesteigerten activeu Vorgänge sind iu der besonde­ren Thätigkeit der Gewebe begründet und diese Besonder beit auf die Einrichtung der Elementartheile zurückzu-führeu. —
Es wurde oben mitgetheilt, dass die Zahl der Drüsen bei den verschiedeneu Thieren variirt, und dass die Er­krankungen der Lymphdrüsen bei vielen Thieren häufiger vorkommen, weil bei diesen a) die Zahl der Angriffspunkte eine grössere ist oder b) weil die Drüsen vulnerabeler sind. Reizt man bei solchen Thieren einen Theil, der durch Lymphgefässe mit Lymphdrüsen in Verbindung steht, so schwellen die Lymphdrüsen sofort an. So z. B. nach Rei­zung der Nasenschleimhaut die submaxillaren Lymphdrüsen und nach Reizung der Darmschleimhaut die mesenterialen Lymphdrüsen. Wir sehen ferner, dass die Reizung der Lymphdrüsen oft persistirt, trotzdem die Erkrankung der­jenigen Theile, von denen die Lymphdrüsen ihre Lymphe beziehen, bereits abgelaufen ist. In diesen Fällen zeigen die Lymphdrüsen neben der entwickelten Fähigkeit zur Aufnahme von Reizen gleichzeitig einen Mangel an Re­gulation.
Diejenigen Thiere, an denen wir diese Eigenthümlich-keiten im Lymphgefässsysteme nachweisen können, be­sitzen eine lymphatische Constitution.
In das Gebiet der lymphatischen Constitution hat mau den Begriff der Scrofulose gesetzt.
-ocr page 42-
— 32 —
Untersuchen wir, was der Scrofulose eigenthümlieh ist, so ergiebt sich, dass die Drüsen, welche dem gereizten Theile (Nasenschleimhaut etc.) entsprechen, in eine schwere und anhaltende Mitleidenschaft versetzt wer­den. Die Scrofulose ist daher ebenfalls zu localisiren Die Lymphdrüsen erkranken bei solchen Thieren leicht und schwer, und dabei ist gleichzeitig die Regulation uu-möglich. Darin liegt der Grund, weshalb die gereizten Lymphdrüsen bei der Scrofulose zerfallen, zerstört oder, wie wir sagen, käsig werden. Die Lymphdrüsen geheu massenhaft zu Grunde und darin ist das Characteri-stische der Scrofulose zu suchen. Man kann daher nicht sagen, dass jede Affection der Lymphdrüsen eine scrofulose ist. Sie erlangt erst durch den Untergang der erkrankten Lymphdrüsen die „scrofulose'1 Eigenthüm-lichkeit. Aber auch diese Eigenthümlichkeit ist nicht im Blute, sondern in den Lymphdrüsen selbst zu suchen; sie beruht in der eigenthümlichen Einrichtung der Elementar-theile der Lymphapparate. Man kann daher den Begriff der Scrofulose mit dem der lymphatischen Constitution nicht verwechseln. Wenn das Characteristische der Scro­fulose im Absterben der Theile liegt, wie gesagt worden, so kann höchstens gefragt werden, ob bei scrofulösen Thieren die Lymphdrüsen auch sehr leicht erkranken, ob sie auch vulnerabel sind? Und wenn diese Frage nach unserer Auffassung zu bejahen ist, so ist der Ausspruch berechtigt, dass die Scrofulose fast nur an Thieren auf­tritt, an denen wir gleichzeitig die Eigenthümlichkeiten der *.nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp;lymphatischen Constitution nachweisen können.
Die anhaltende und schwere Erkrankung der Lymph-
-ocr page 43-
- 33 —
drüseu bei der ScroMose ist nicht durch eine veränderte Blutmischung zu erklären. Der Grund liegt in den Lymph­drüsen selbst.
Wer kann noch wagen, die lymphatische Constitution n das phantastische Gebiet der Dyskrasien zu verlegen? Die bei solchen Thieren nachweisbaren Veränderungen in der Mischung des Blutes sind einzig und allein dadurch zu erklären, dass die Lymphapparate, die nach unserer Auflassung durchweg hämatopoetische Organe darstellen, einen Einfluss auf die Mischung des Blutes und der Lymphe ausüben. Zuerst die lymphatische Constitution und dann die Dyskrasie. Die moderne Physiologie beweist die Ricb-tigkeit dieses Satzes.
Die nervöse Constitution
Hiermit gelangen wir auf ein äusserst schwieriges Feld. Die einzelnen Thiere zeigen nicht nur anatomische, son­dern auch functionelle Difterenzeu an den nervösen Apparaten.
Behalten wir zunächst die anatomischen Diffe­renzen im Auge, so leuchtet ein, dass wir alle indivi­duellen Schwankungen in die Rubriken des Excesses oder des Defectes verlegen können. Ein Thier hat entweder mehr Nervenapparate, wie ein anderes, oder aber Mangel an solchen. Wir drücken uns im gewöhnlichen Leben über diese Verhältnisse kürzer aus. Wir nennen den Excess kurzweg:^günstige Anlage und den Defect: ungün­stige Anlage. Dabei muss ich aber bemerken, dass ich das Wort „Anlagequot; hier im anatomischen Sinne, als Plus
Schütz, CojulilulioiKlehre.nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; 3
-ocr page 44-
— 34 —
oder Minus an Nervenmasse und nicht im fimctiouellen Sinne als .leistungsfähigu' auft'asse. Ich fasse die Bezeich­nung Anlage als anatomische Prädisposition auf. Besitzt ein Tliier mehr nervöse Substanz, so weicht die individuelle Einrichtung gewaltig von dem Thiere ab, welches weniger Nervensubstanz aufzuweisen hat. Es giebt also auch in­dividuelle Verschiedenheiten in der anatomischen Verthei-lung der Nervenmasse. Diese individuellen Abweichungen müssen natürlich bei der Bedeutung, die das Nervensystem überhaupt besitzt, einen gewaltigen Eiutiuss, sowohl in physiologischer, wie pathologischer Beziehung ausüben.
Leider sind aber bis jetzt die anatomischen Difterenzen so gut wie gar nicht bekannt. Die Massenverhältnisse sind bei den grösseren Centralapparaten, wie Gehirn- und Kückenmark, am besten studirt worden; aber gerade hier haben sich schon mächtige Schwankungen ergeben. Man kann an diesen Abschnitten mit Maass und Wageschaale die Grosse oder das Gewicht feststellen, aber welche Diffe­renzen ergeben sich da! Man sehe sich einmal die Syni-pathici am Halse der Pferde an, welche gewaltigen Unter­schiede kann man an diesen in den Dimensionen con-statiren!
Aber welches ürtheil soll man denn auf diese Wahr­nehmung gründen? Man kann zwischen den verschiedenen Kacen einer Thierart, z. B. bei Hunden, Differenzen nach­weisen und ebenso zwischen den verschiedenen Thierarten. Niemand weiss aber, was aus dieser Differenz resultirt. Das grössere Gehirn ist noch kein Beweis für grössere intellec-tuelle Befähigung und umgekehrt. Es fehlt uns also hier, trotzdem wir die Differenzen sehen, fast jede Einsicht, und
-ocr page 45-
wir sind daher auch nicht im Stande, die Bedeutung die­ser Verhältnisse auf den Gesammtorganismus festzustellen. Dazu kommt endlich, dass uns die anatomischen Differen­zen in den peripherischen Abschnitten der Kerveu absolut unbekannt sind.
Mit anderen Worten: die anatomischen Differenzen, die wir an der Nervensubstanz sehen, lassen kein Urtheil aber die constitutionellen Verhältnisse eines Thieres zu
Viel besser und lange bekannt sind die functionelleu Differenzen. Ich erinnere z. B. an die Nerven in der Haut; alle ftmctionellen Verschiedenheiten liegen bei ihnen zwischen Schmerz und Anästhesie. Die Thätigkeit der Empfindungsnerven besteht vorzugsweise darin, dass sie die Ganglienzellen, mit denen sie sich verbinden, erregen. Reize ich einen Empfindungsnerven, so erzeuge ich in ihm eine Bewegungserscheinung und diese pflanzt sich auf die im Gehirn gelegenen Ganglienzellen fort und kommt hier zum Bewusstsein. Andere Male tritt nach Reizung der Empfindungsnerven ein Reflexvorgang ein. Die Function der Emptlndungsnerven ist also nicht so einfach, wie man früher geglaubt hat. Die Reizung wird also in dein ersten Falle auf Empfindungs-, im zweiten Falle auf Bewegungs­zellen übertragen. Wie grossartige Differenzen können wir in diesen Vorgängen bei den einzelnen Thieren uaeh-weisen!
Noch complieirter werden die Unterschiede, wenn wir die Thätigkeiten der Ganglienzellen verfolgen, oder gar die verwickelten Vorgänge dos instinetiven oder intellectuellen Lebens beobachten.
Diese Differenzen bestellen, aber wir kennen nicht die
-ocr page 46-
— 36 —
Ursache derselben. Es fehlt für diese Schwankungen des physiologischen Lebens die anatomische Grundlage.
Die physiologischen Beobachtungen beweisen nur, dass die Einrichtung des Nervensystems Lei den verschiedenen Thieren abweichen muss, und wir müssen diese individuellen Abweichungen in molcculareu Eigenthiimlichkeiten ver-muthen. Die feinere Einrichtung der nervösen Apparate wechselt bei den versehiedenen Thieren und dadurch er­langen die letzteren gewisse Eigenthümlichkeiten. immer­hin ist aber auch diese feinere Einrichtung etwas Typisches und dadurch die Möglichkeit der üebertragung auf die Nachkommen erklärlich.
Unterwerfen wir aber die fuuctionellen Differenzen einer weiteren Kritik, so ergiebt sich, dass es sich auch hier nur um einen Excess oder Defect von Leistung handelt Alle Differenzen liegen in diesen Möglichkeiten. Eine Hörzelle wird immer nur hören und eine Riechzelle nur riechen können. Ob ich gut höre oder gut rieche, ist von der Einrichtung dieser Zellen abhängig. Ebenso erklärt sich die umgekehrte Eigenschaft. Die gute oder schlechte Ein-richtung dos nervösen Apparates resp. einzelner Theile desselben ist gewissen Thieren oder Thierarten eigen uucl sie verpflanzt sich von Generation auf Generation. Es existirt bei den verschiedenen Individuen ein Grenzgebiet der individuellen Fähigkeiten, aber der Unterschied ist immer nur ein quantitativer, nie ein qualitativer. Das Gebiet der physiologischen Fähigkeiten ist ein Gegebenes, es kann sich erweitern und verengen, aber nirgends ent­stehen neue Functionen. Ein solches Individualitätsvtr-hältniss nennen wir eine Idiosyncrasie. Die besondere
-ocr page 47-
- 37 —
Fähigkeit beruht in der Differenz der Einrichtung der vor­handenen Theile. Die Einrichtung kann vollständiger und unvollständiger sein.
Genau dasselbe lässt sich von den psychischen Func-tionen behaupten. Der Mensch denkt stets nach denselben Gesetzen der Logik. Auch hier giebt es keine qualita­tiven Differenzen. Die Denkapparate können nur gut oder schlecht angelegt sein. Um vor Irrthümern bewahrt zu bleiben, vergesse man niemals den Satz, dass die einzel­nen Theilequot; des Nervenapparates entsprechend ihrer Ein­richtung auf bestimmte Functionen beschränkt sind. Diese Functioncn können sich bei vielen Krankheiten in kurzer Zeit verändern, aber auch diese Veränderungen liegen im­mer nur innerhalb der physiologischen Möglichkeiten!
So erklären sich die functionellen Differenzen im Ner­vensysteme, für die man bis jetzt die materielle Grund­lage nicht nachgewiesen hat. Dennoch hat die moderne Philosophie versucht die ganze Temperamenteulehre auf das dunkele Gebiet psychologischer Vorgänge überzuführen. Auf Grundlage der Differenz in den psychischen Functionen hat man bei Menschen die Temperameute construirt und diese Unterscheidung ist ohne Weiteres in die Thierheil-kunde übertragen worden. Man höre nur, in welchem Sinne das Wort „Temperament- von den Hippologen an­gewendet wird. Gerade hier zeigt sich, wie wenig die letzteren den wissenschaftlichen Forschungen gefolgt sind. Wenn ich alle Lebensthätigkeit vom Nervensysteme aus­gehen lasse, wenn ich glaube, dass alle Lebeusverrichtun-gen durch das Nervensystem hervorgerufen werden, dann mag jene Auffassung berechtigt sein! Dann kann ich mir
-ocr page 48-
die Temperamente im ncunstisclieu Sinne ebenso eon-stmiren, \Yie es seiner Zeit auf Grund Immoraler Anschau­ungen geschehen ist. Das Nervensystem ist aber ebenso­wenig der Mittelpunkt des Lebens wie das Blnt. Bis jetzt ist eine anatomische oder gar eine physiologische Einheit des Lebens nicht construirt worden. Die Zellenthätigkeit müssen wir erforschen, wenn wir das Leben kennen ler­nen wollen. Körper und Leben bilden kein ünum, son­dern ein Multum. Anatomie wie Physiologie drängen auf das cellulare Princip zurück. Die Art der Untersuchung ist die ausgedehüteste Analyse. Wir untersuchen die Ge­webe und lernen ihre Bedeutung für den ganzen Körper kennen. In diesem Sinne baut sich die Lehre von den Temperamenten auf und dadurch bekommt sie jene ma­terielle Grundlage wieder, die sie ursprünglich besessen hat. —
In der Weise, wie oben geschehen, lässt sich jeder Apparat oder jedes Gewebe durchnehmen und bei jedem können wir individuelle Unterschiede nachweisen.
So z. B. an dem bindegewebigen Apparate. Dieser ist gewissermassen der Stützapparat im Körper, er stellt die fundamentale Einrichtung dar. Es giebt auch eine Binde-gawebs-Constitution. Auch das Bindegewebe kann der Träger gewisser individueller Eigenthümlichkeiten sein. Die alten Ausdrücke: „schlaffe und straffe Faserquot; deuten diese Eigenthümlichkeiten an. Diese Bezeichnungen sind aber heute unhaltbar geworden Die Lehre über die Faser ist in die Medicin durch Hall er eingetragen worden, nach ihm sollten alle Gewebe aus Fasern bestehen. Viele thier-ärztliche Autoren stehen mit ihren histologischen Kennt-
-ocr page 49-
— 39 -
nissen noch heute auf diesem Boden. Später hat man sich von der irrigen Auftassung, die in dieser Lehre über die Einrichtung der Gewebe liegt, abgewendet, aber sie am längsten bei dem sogenannten Zellgewebe beibehalten. Zellgewebe und Fasergewebe waren Synonyma. Wir nen­nen dieses Gewebe jetzt Bindegewebe und wissen, dass es durchweg aus Zellen (Bindegewebszelleu, ßindegewebs-körpercben) und Intercellularsnbstanz zusammengesetzt ist. Mit der guten Ernährung steigt die Solidität aller Gewebe und bei der seh.echten Ernährung fällt sie. In dem einen Falle verbessert sich die Constitution, im anderen ver­schlechtert sie sich. Mit der Verbesserung in der Ernäh­rung steigt die Function und mit der Verschlechterung sinkt dieselbe. Gute Ernährung mit guter Leistungsfähig­keit nennen wir Tonus und das umgekehrte Verhältniss bezeichnen wir als Atonus. So gut wie diese Zustände erworben werden, ebenso können sie angeboren, hereditär sein. Die Beobachtung der Alten war eine richtige, wenn sie von „strafferquot; und „schlafferquot; Faser sprachen, nur die histologische Grundanschauung eine falsche.
Wir können diese Betrachtung noch erweitern. In die Reihe der Bindesubstanzen gehören ausser Bindegewebe, neben anderen Geweben, die in geringerer Menge im Kör­per vorkommen, auch das Knochengewebe. An diesem können wir dieselben Eigenthümlichkeiten nachweisen. Man spricht kurzweg von „festen'quot; und „porösenquot; Knochen, ja werden mit diesen Namen nicht die erörterten Zustände bezeichnet? Sind das etwa keine constitutiouellen Eigen­thümlichkeiten? Dabei machen wir die Erfahrungquot;, dass die ganze Reihe der Bindesubstanzen bei den einzelnen
-ocr page 50-
— 40 —
TMeren in demselben Zustande sich befindet. Die Binde-substanzeu sind bei dem arabischen Pferde ganz anders eingerichtet als bei dem Marschpferde: Der Grund liegt nicht im Blute, sondern in den Geweben! Diese ßaijen weichen constitutionell von einander ab. Die Gewebe sind die dauerhaften Träger für diese Eigenschaften und letztere deshalb erblich. Wie wollte man sich die Frage der Züchtung zurechtlegen, wenn die constitutionellen Verhält­nisse nicht in den Geweben residirten? Leider sind diese Verhältnisse noch lange nicht genug studirt und gerade von den Seiten vernachlässigt worden, denen die höchste Kenntuiss über die Constitution zugemuthet werden müsste. Bleibe man doch mit den Phrasen von der „Bluteinfüh­rungquot; fort, studire man doch die Individuen und ihre Ein­richtung !
Von welcher Bedeutung die constitutionellen Verhält­nisse des Bindegewebes werden können, lehrt uns die Pathologie. Es giebt Thiere, bei denen die Cutis, selbst wenn sie von geringen Beizen betroffen wird, immer in derselben Weise erkrankt. So ruft z. B. jeder Reiz die Entwifkelung von Warzen hervor. Die Causa externa ist oft so geringfügig, dass sie übersehen werden kann und diese falsche Beobachtung hat auf die Idee geführt, dass der Warzenbildung eine Dyskrasie zu Grunde läge. Mau hat sich, um die Absurdität gleich zu zeigen, eine „warzige Dyskrasiequot; construirt. So liegt die Sache aber ganz und gar nicht. Die Cutis ist eine bindegewebige Membran. Antwortet die Cutis auf einen Reiz mit Warzenbildung, so liegt der Grund in der Cutis und nicht im Blute. Die Cutis besitzt gewisse individuelle Eigenthümlichkeiten und
-ocr page 51-
— 41 —
daher kommt es, dass nach den schwächsten Reizen an verschiedenen Punkten gleiche Veränderungen auftreten können. Läge der Grund nicht in der Cutis, müsste die Ursache ganz allgemein im Blute gesucht werden, so ist kein Grund einzusehen, weshalb in diesen Fällen nur die Cutis und kein anderer Körpertheil „warzigquot; erkrankt. Hier trägt ein Gewebe und zwar das Bindegewebe der Cutis eine Eigenthümlichkeit und diese Eigenthümlichkeit kann gleichfalls ererbt sein.
Gehen wir von den Einrichtungen des Bindegewebes auf die quantitativen Differenzen über, so bietet sich uns ein neues Feld constitutioneller Zustände dar. Es kann nicht gleichgültig sein, ob ein Thier viel oder wenig Binde­gewebe besitzt. Das Bindegewebe ist ein träges Gewebe, dem eine speeifische Function abgeht; daher die Bezeich­nung: Stützapparat. Das Plus an Bindegewebe muss die Leistungen der übrigen Körpertheile erschweren. Dadurch erklären sich vielfach die Differenzen in den äusseren For­men und die Unterschiede in den physiologischen und pathologischen Vorgängen einzelner Thiere oder Ka(;en, ja selbst gewisser Thierarten. Ein Thier mit vielem Bindege­webe ist und bleibt ein träges, selbst wenn die übrigen Gewebe bestens eingerichtet sind. Auch hier zeigt sich, dass die ganze Reihe der Bindesubstanzen betroffen ist. Solehe Thiere sind gleichzeitig „grobknochigquot;, d. h. sie besitzen viel Knochenmasse. Diese Trägheit tritt vollends hervor, wenn das Bindegewebe die Tendenz besitzt, sich in Fettgewebe umzuwandeln. Nicht das Blut ist der Grund, wenn gewisse Schweine- oder Schafrapen so reiche Fettmassen produciren, auch nicht die Ernährang ist die
-ocr page 52-
___ J.-2
einzige Quelle dieser Eigentbfimlichkeit, sondern der Grund ist in den constitutionellen Verhältnissen, in den Geweben, im Binde- oder Fettgewebe zu suchen.
So schwankt die natürliche Einrichtung! Durch die Vcrtheilung und durch die Einrichtungen der Gewebe er­klären sich die Leistungen der Thiere. Das Studium der Constitution ist deshalb so wichtig, weil es die physiolo­gischen und pathologischen Möglichkeiten eines Thieres oder gewisser Racen oder ganzer Thierarten aufdeckt. Diese Möglichkeit ist in der anatomischen Einrichtung zu suchen. Diese Einrichtung ist gegeben, sie präexistirt und deshalb nennen wir sie Prädisposition. Die Prädis­position umschliesst also einen rein anatomischen Begriff.
Die Prädispositionen beurtheilen wir aber nach einem doppelten Gesichtspunkte:
1)nbsp; nbsp;nach allgemeinen Gruppen der Theile und zwar rechnen wir zu den allgemeinen Gruppen: die Gefässe, die .Lymphdrüsen, die Nerven, das Bindegewebe, Knochenge­webe etc. Es handelt sich hier stets um aligemeinere Verhältnisse, um Eigenthümliehkeiten im ganzen Organis­mus und deshalb nennen wir dieselben Constitution:
2)nbsp; nach einzelnen Theilen des Körpers, z. B. der Organe der Brust und Bauchhöhle. Auch die einzelnen Organe besitzen bleibende Eigenthümliehkeiten und diese führen den Namen der Prädisposition. Diese Organe nehmen eine solche Bedeutung im Organismus nicht ein, dass der ganze Organismus dadurch bleibende Eigenthümliehkeiten bekommen könnte
Die Leber ist heut zu Tage ein locales Organ und die Galle ein Absondernngsproduct dieses Organs. Es giebt
-ocr page 53-
— 43 —
daher kein biliöses Tempernment, keine biliöse Constitution.
Es giebt höchstens eine hepatisehe Constitution, wenn man so sagen will; dann ist die Leber der Gesammtpunkt? des Leidens Es gehen dann von der Leber aligemeine Störungen aus, die den eonstitutioncllen Character an sich tragen. Es entwickelt sich dann aus der Störung in der Leber ein allgeineines Leiden. Diese allgemeinen Ein-liüsse, die die Leber dann ausübt, sind aber ganz anderer Art, als die besprochenen. Es sind dies eben schon Stö­rungen und keine Prädispositionen mehr.
Denselben Einiluss können die Nieren ausüben und mau könnte mit demselben Eechte von einem renalen oder harn-stoffigen Temperamente sprechen. Diese Consequenz haben sich wohl die Anhänger des cholerischen Temperaments nicht vorgelegt?
Die effectiven Störungen, welche solche Organe einlei­ten können, bestehen auch nicht für das ganze Leben, son­dern nur für gewisse Zeiten. Das icterische Thier ist nicht constitutionell icterisch, nicht für das ganze Leben icterisch. Hat ein Mensch (ohne icterisch zu sein) eine gelbliche Farbe in der Haut, so sagt man, er ist „icterischquot;, „cho­lerisch-', als wenn das Pigment im rete Malpighi mit der Leber etwas zu thun hätte.
Icterus ist ein Störungsverhältniss, keine Prädisposition.
Die Constitution (Prädisposition) ist mit dem Thierc verwachsen, ist dem Thiere als bleibende Eigenthümlichkeit zugegeben. Diese hat sich mit den übrigen Vorgängen in's Gleichgewicht gesetzt, so dass das Thier existiren kann.
-ocr page 54-
Gedruckt bei Julius Sittenfeld iu Berlin.
-ocr page 55-
-ocr page 56-
/fftsyt
-ocr page 57-