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BIBUOTHEEK UNIVERSITEIT UTRECHT
2911 770 6
1
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HANDBUCH
DER
VACCINAT
VON
Dr. HEINRICH BOHN,
a. o. Professor a. igt;. Alhertixa zu Klaquo;gt;niosbero-
?n ' v f*^ UTRECHT i*1*
ä S * g /.' , W V^ V UTRECHT ys.
LEIPZIG,
VERLAG VON F. C. W. VOGEL.
1875.
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Das Uebersetzungsrecht ist vorbehaltea.
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#9632;quot;quot;^quot;
VORWORT.
I
Wir besitzen in Deutschland kein Buch, welches, unsere Kennt­nisse von der Vaccine vereinigend, diese Lehre aus den patho­logischen und historischen Fundamenten heraus bis zu ihrer prak­tischen Verwerthung, in einer, heute angänglichen Vollständigkeit aufzubauen versucht. Der Mangel wird allgemeiner gefühlt werden, nachdem das Deutsche Eeichs-Impfgesetz ins Leben über­gegangen ist, und erhöhtere Anforderungen auf diesem Gebiete an die Aerzte stellt.
Geschrieben ist, seit zwei Menschenaltern, zu viel über den Gegenstand. Der Literaturstrom der Schutzblatternimpfung hat sich, wenn auch hier und dort recht tief, in eine kaum übersehbare seichte Breite verloren, und bunt treiben auf demselben, neben echten Wahr­heiten, zahlreiche übererbte Irrthümer, Bruchstücke von Beobach­tungen und Versuchen, und jenes Chaos von „Erfahrungen und Ansichtenquot;, zu deren Veröffentlichung Jeder sich berufen fühlte, der einige hundert Male die Impflancette geführt hatte.
Und doch, der Experimentation zugängig, wie kaum ein anderes pathologisches Gebiet, müsste sich die Lehre von der Vaccination in rein naturwissenschaftlicher Behandlung zu einem exacten Capitel der Pathologie ausbilden lassen.
Die vorliegende Arbeit wird und muss von diesem Ziele, das ihr vorgeleuchtet hat, weitab bleiben, und wird sich oft mit dem untergeordneten Verdienst bescheiden müssen, auf die vielen Lücken und Bedürfnisse, welche überall vorhanden sind, hingewiesen zu haben. —
Ich habe dem ersten Abschnitte nicht den anmassenden Titel einer Geschichte der Blattern vorgesetzt, welche als solche auch nicht hierher gehören würde. Sondern ich beabsichtigte einen unge­fähren Ueberblick über die äussere und innere Entwickelung, welche die Blatternkrankheit genommen hat, und wollte ihr Bild aus der Geschichte, so viel ich davon übersehe, herausskizziren. Die Vacci-
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IVnbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp;Vorwort.
nation wurzelt mit zahlreichen Verbindungen in den Blattern, und es lässt sich von derselben nicht sprechen, ohne dass der Blick rück­wärts gelenkt wird, sowohl in die Jahrhunderte, welchen sie unbe­kannt war, als in die letzten Jahrzehnte, in welche sie sich tief eingegraben hat. Alles, was im ersten Abschnitte für zweckmässig erachtet wurde, über die Blattern gesagt zu werden, sollte immer in festerem oder loserem Bezüge zur Vaccination stehen. Dabei waren viele Zahlen nicht zu umgehen.
Die ausführliche Darstellung der Inoculation der Variola, im zweiten Abschnitt, wolle man nicht für persönliche Liebhaberei halten. Die an sich höchst merkwürdige Erscheinung bildet nicht blos die geschichtliche, sondern auch die wissenschaftliche Vorstufe der Thierpocken-Impfung, und diese kann, ohne die erstere, nimmer­mehr richtig verstanden werden. Dass heutzutage aber die Blattern-inoculation tief unter das ärztliche Wissen gesunken ist, wird frei-müthig ausgesprochen werden können, wenn lebende Schriftsteller, mit und ohne grosse Namen, in Eintagsbroschüren und in gesuchten Lehrbüchern die entstellendsten Ansichten über dieselbe unbean­standet in die Welt schicken.
Eine besondere Sorgfalt verlangten die v e r s c h i e d e n e n T h i e r-pecken (dritter Abschnitt), weil auf ihnen, und ihrem Verhältnisse zu den Menschenblattem die ganze vaccinale Schutzfrage ruht.
Die übrigen Abschnitte handeln strenge von der Vaccination selbst.
Vielleicht ist es mir gelungen, den richtigen Rahmen für die Darstellung dieser wichtigen Lehre zu finden, und ich würde froh und dankbar sein, wenn das Buch weitere Forschungen mit neuer Aufklärung veranlasste, und mir durch öffentliche und private Mit­theilungen zugleich die Gelegenheit geboten würde, Irrthümer aus demselben zu tilgen, Lücken zu füllen und Uebersehenes einzufügen. Ein solches Buch ist wie ein liebes Kind, das man heranwachsen sehen, und fort und fort mit dem Besten ausstatten möchte, damit es der Gesellschaft recht nützlich werde.
Königsberg, October 1875.
Dr. Bolm.
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INHALT.
BESTER ABSCHNITT.
Seite
Die Blattern.......................nbsp; nbsp; nbsp; nbsp;1
Bedeutung der Krankheit.................nbsp; nbsp; nbsp; nbsp;1
Alter und Ursprung...................nbsp; nbsp; nbsp; nbsp;2
Die ältesten Nachrichten aus dem VI. Jahrhundert........nbsp; nbsp; nbsp; nbsp;3
Die frühesten ärztlichen Documente (Razes)..........nbsp; nbsp; nbsp; nbsp;3
Pocken und Masern...................nbsp; nbsp; nbsp; nbsp;4
Der Name Variola...................nbsp; nbsp; nbsp; nbsp;4
Die Blattern während des Mittelalters in Europa.........nbsp; nbsp; nbsp; nbsp;4
VII—X., XII. Jahrhundert.................nbsp; nbsp; nbsp; nbsp;5
Die Infection von Amerika.................nbsp; nbsp; nbsp; nbsp;6
Das XVI. Jahrhundert, Small pox — La petite veroie.......nbsp; nbsp; nbsp; nbsp;7
Das XVII. Jahrhundert. Pandemic von 1614 — Sydenham.....nbsp; nbsp; nbsp; nbsp;9
Das XVIII. Jahrhundert. Die Inoculation der Variola.......nbsp; nbsp; nbsp;11
Die Pathologie der Blattern. Die Vaccination..........nbsp; nbsp; nbsp;16
Die postvaccinale Periode von 1800—1830.........nbsp; nbsp; nbsp; tS
Die Pandemie der zwanziger Jahre..............nbsp; nbsp; nbsp;20
Die Varioloiden.....................nbsp; nbsp; nbsp;23
Die jüngste Periode der Blattern von 1830—1874......nbsp; nbsp; nbsp;27
Pandemie 1870—1872. Einzelne Epidemien..........nbsp; nbsp; nbsp;34
Rück- und Ueberblick..................nbsp; nbsp; nbsp;42
Die Aufnahme des Studiums der Blattern in der neueren Zeit ....nbsp; nbsp; nbsp;50
Die Varicellenfrage....................nbsp; nbsp; nbsp;51
Anhang. Die Ausrottung quot;der Blattern............nbsp; nbsp; nbsp; 59
ZWEITER ABSCHNITT.
Die Inoculation der Menschenblattern. Variolatiou........nbsp; nbsp; nbsp;63
Die Vorstellung, welche dem Verfahren zu Grunde liegt......nbsp; nbsp; nbsp;63
Erste Periode: Die Inoculation als Volksgebrauch (China, Ostindien,
Arabien, Georgien und Cirkassien, Griechenland und Constantinopel)nbsp; nbsp; nbsp;63
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VInbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; Inhaft.nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; ^
Seite
Zweite Periode: Die Verpflanzung der Inoculation nach Westeuropa im Anfange des XVIII. Jahrhunderts (Lady Montague, England), und
ihre Aufnahme in die gelehrte Medicin 1721—1760......66
Dritte Periode: Die Blüthe der Inoculation. Gatti, Sutton,
Dimsdale.....................73
Pathologie der inoculirton Blattern.............. 79
Die äussereu Schicksale der Inoculation im letzten Drittel
des XVIII. Jahrhunderts................85
Kritik der Inoculation..................88
Die Inoculation im XIX. Jahrhundert............. 91
Anhang. Dr. B. Thiele's Inoculations-Methode. 1830...... 93
DRITTER ABSCHNITT.
Die Thierpocken.....................nbsp; nbsp; nbsp;94
I. Die Kuhpocken. Variola vaccina. Cow-pox......nbsp; nbsp; nbsp;94
(Primäre und secundäre Kuhpocken).............nbsp; nbsp; nbsp;96
Künstliche Kuhpocken..................nbsp; nbsp; 101
Falsche Kuhpocken...................nbsp; nbsp; 101
II. Die Pferdepocken. Horse-pox. Mauke.........nbsp; nbsp; 102
Die Infection des Menschen mit der Pferdepocke, Equination ....nbsp; nbsp; 102
Künstliche Pferdepocken.................nbsp; nbsp; 106
III.nbsp; Die Schafpocken. Variola ovina............nbsp; nbsp; 107
Die Vaccination der Schafe................nbsp; nbsp; 107
Die Ovination des Menschen und verschiedener Thiere......nbsp; nbsp; 109
IV.nbsp; Die übrigen Thierpocken...............nbsp; nbsp; 113
V. Das Verhältniss der Thierpocken zu den Menschenblat-
tern. Ihre wechselseitige Cebertragung und Stellvertretung ...nbsp; nbsp; 111
VIERTER ABSCHNITT.
Die Impfung1 der Kuhpocken. Vaccination...........nbsp; nbsp; 118
Geschichte der Vaccination..............nbsp; nbsp; 118
Das Alter der Vaccination und die ersten Nachrichten über zufallige und
absichtliche Infection mit Kuhpockenstoff..........nbsp; nbsp; 119
Die nächsten Vorläufer Jenner's. Edward Je nn er und seine Leistungen
Die ersten Jahre der Vaccination in England.........nbsp; nbsp; 120
Die Vaccination in Oestreich und Preussen.........: .nbsp; nbsp; 125
Die Impfgesetzgebung in Bayern, Würtemberg und Baden. Die übrigen
deutschen Staaten...................nbsp; nbsp; 128
Italien — Sacco. Die Schweiz...............nbsp; nbsp; 130
Dänemark, Schweden und Norwegen. Paissland.........nbsp; nbsp; 132
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Inhalt.nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp;VII
Seite
Frankreich. Spanien. Die Türkei..............nbsp; nbsp; 134
Die Vaccination ausserhalb Europas. Asien. Amerika. Afrika . . .nbsp; nbsp; 136
Die weiteren Schicksale der Vaccination in England bis zum Jahre 1*55nbsp; nbsp; 13S Die vier Fragen des General board of health 1S55, und das englische
Blaubuch über die Vaccination 1857............nbsp; nbsp; 140
Die Vacciuationsacte von 1867 und 1871............nbsp; nbsp; 142
Die Revaccinatiou....................nbsp; nbsp; 143
Basil, Thiele u. Robert Ceely 183S...........nbsp; nbsp; 143
Die Vaccination von der Mitte der 50er Jahre bis zum Jahre 1S74 . .nbsp; nbsp; 143
Der Streit über die vaccinale Syphilis.............nbsp; nbsp; 143
Die animale Vaccination..................nbsp; nbsp; 144
Die Anti-Impfagitation..................nbsp; nbsp; 144
Das Deutsche Reichs-Impfgesetz vom S.April 1874........nbsp; nbsp; 145
FUNFTEE ABSCHNITT.
Die SymptomalOffie der geimpften Kuhpockcu..........nbsp; nbsp; 147
Der gesetzmässige Verlauf...............nbsp; nbsp; 147
Analyse der einzelnen Symptome............nbsp; nbsp; 15t
Vacciuen und Menschenblattern. — Die Grosse der Impfpocken. — Die Areola. — Das Vaccinefieber und seine Temperatur. — Die Structur
der Impfbläschen. — Morphologie und Chemie der Lymphe . . . .nbsp; nbsp; 151
Die Träger des Ansteckungsstoffes. — Die Impfnarben......nbsp; nbsp; 159
Die postvaccinalen Hautausschläge...........nbsp; nbsp; 160
Unwesentliche Abweichungen des Vaccineverlaufes . . .nbsp; nbsp; 161 Zu starke und zu schwache traumatische Reactionen. — Verfrühter und verspäteter Ausbruch der Kuhpocken. Zögernde Ausbildung. — Neben- und überzählige Impfpocken. — Secundäre und tertiäre
Borken.......................nbsp; nbsp; 161
Anomalien der Vaccine.................nbsp; nbsp; 164
Der negative Erfolg. Moditicirte Kuhpoeken, l'lasenpocken. Vacciue-
furunkel......................nbsp; nbsp; 164
Pathologie der Vaccine.................nbsp; nbsp; 166
Das Vaccinegeschwür..................nbsp; nbsp; 166
Die Adenitis axillaris..................nbsp; nbsp; 167
Gangränescenz der ulcerirten Pusteln.............nbsp; nbsp; 167
Das Impferysipel.........'...........nbsp; nbsp; 167
Betrachtungen über vac ciuale Früherysipele.......nbsp; nbsp; 180
Pyämie und Septicämie..................nbsp; nbsp; 184
Complicationen der Vaccine..............nbsp; nbsp; ISö
Chronische und acute Erkrankungen in Verbindung mit der Vaccine,
Masern, Scharlach, Varicellen, Vaccinen und Blattern......nbsp; nbsp; 185
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Yjjlnbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp;Inhalt.
Seite
Die Empfänglichkeit für d. Virus vaccinale.......nbsp; nbsp; 187
Behandlung......................nbsp; nbsp; 187
SECHSTER ABSCHNITT.
Hygieine und Technik der Impfung..............nbsp; nbsp; 1S9
Lehensalter der Impflinge. Früh- und Spät-Vaccination. Contraindi-cationen — Jahreszeit. Herrschende Blattern-Epidemien — Impfterrain (Telangiektasien). Impfmethode (Stich und Schnitt). Menge der Lymphe.
Zahl der Impfstiche. Die Resorption der Lymphe.......nbsp; nbsp; 189
Die Gewinnung, Aufbewahrung und Vervielfältigung der
Lymphe.......................nbsp; nbsp; 19'j
Trockene Lymphe....................nbsp; nbsp; 19'
Flüssige Lymphe iBretonneau's Phiolen)............nbsp; nbsp; 19quot;
Wasserlymphe.....................nbsp; nbsp; 199
Glyceriulymphe.....................nbsp; nbsp; '• #9632;
Glycerinborkenlymphe ..................nbsp; nbsp;200
SIEBENTER ABSCHNITT.
Die verschiedenen lymplien.................nbsp; nbsp; -02
Die Kuhlymphe. Originäre Lymphe...........nbsp; nbsp;202
Die humanisirte Lymphe................nbsp; nbsp;20ü
Die Revaccinlymphe..................nbsp; nbsp;208
Die Degeneration der humanisirten Lymphe.......nbsp; nbsp; 211
Die Methoden zur Regeneration der Lymphe:
1.nbsp; Die Wiederaufnahme der originären Lymphe......nbsp; nbsp;218
2.nbsp; Die Variolation der Kühe und die Variola-Vaccinlymphenbsp; nbsp;218
3.nbsp; Die Retrovaccination der Kühe u. die Retrovaccinlymphenbsp; nbsp;224
4.nbsp; Die künstliche Kuh- oder die animale Lymphe.....nbsp; nbsp;230
ACHTER ABSCHNITT. #9632;
Die Revaccination.....................nbsp; nbsp;241
Historisches .....................nbsp; nbsp;441
Der militärische Revaccinationszwang in Würtemberg, Preussen und den
übrigen Staaten....................nbsp; nbsp; 243
Die Revaccination in der Civilbevölkerung...........nbsp; nbsp; 244
Mit welcher Lymphe soll revaccinirt werden?..........nbsp; nbsp; 245
Zahl der Impfpocken....................nbsp; nbsp; 246
Die Symptomatologie und die Classification der Revaccinennbsp; nbsp;246
K-nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp;Die moditicirten Revaccinations-Erfolge............nbsp; nbsp; 24quot;
Das Revaccinations-Alter...............nbsp; nbsp; 252
Die militärischen Revaccinationstabellen............254
Die Früh-Revaccination und ihre Bedenken..........257
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Inhalt.nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; IX NEUNTER ABSCHNITT.
Seite
Die Seliutzkraft der Vaccine.................nbsp; nbsp; 260
Die Schutzkraft der Vaccine eine naturwissenschaftliche Thatsache . .nbsp; nbsp; 260
Die Vaccine schützt gegen Variola und Vaccine.......• .nbsp; nbsp; 261
Unabhängigkeit des Schutzes von der Anzahl der Impfpocken ....nbsp; nbsp; 262
Der Beginn des Schutzes und seine Vollendung......nbsp; nbsp; 263
Die Nachimpfungen...................nbsp; nbsp; 263
Die Dauer des Schutzes.................nbsp; nbsp; 265
Kriterien des Schutzes.................nbsp; nbsp; 269
Bryce's Probe....................nbsp; nbsp; 269
Gregory's Narbentheorie und Kritik der Narben........nbsp; nbsp; 271
Die Erneuerung des Schutzes und die Dauer des revaccinalen Schutzesnbsp; nbsp; 272
ZEHNTER ABSCHNITT.
Die Theorie der Vaccination ...............nbsp; nbsp; 273
ELFTER ABSCHNITT.
Würdigung- u. Kritik der Vaccination als allgemeiner Sanitilts-Massregelnbsp; nbsp; 2S4
Die Lobrednor und Gegner................nbsp; nbsp; 285
Der Unfug der Impfstatistik................nbsp; nbsp; 285
Der Standpunkt zur Beurtheilung der Vaccination........nbsp; nbsp; 286
Sind die natürlichen Blattern seit Einführung der Vacci­nation seltener geworden?..............nbsp; nbsp; 287
Die Pockensterblichkeit ist durch die Kubpockenimpfuug relativ und
absolut vermindert ..................nbsp; nbsp; 289
Die schwedischen ilortalitätstabelleu. — Der preussische Staat u. Berlinnbsp; nbsp; 289quot; Ungeimpftc Personen sind den Angriffen der Blattern mehr preisgegeben,
als Geimpfte.....................nbsp; nbsp; 296
Fliuzer und die Epidemie in Chemnitz. — Die Revacciuation in den
europäischen Armeen..................nbsp; nbsp; 207
Die Vaccine mildert die Variola...............nbsp; nbsp; 302
Historischer Rückblick auf den Einfluss der Vaccination.....nbsp; nbsp; 304
Die Gefahren der Impfung................nbsp; nbsp; 300
Die eingebildeten Gefahren der Vaccination..........nbsp; nbsp; 30(;
Die wirklichen Gefahren.................nbsp; nbsp; 311
Das Impferysipel....................nbsp; nbsp; 311
Die Syphilis im Gefolge der Vaccination. Irapfsyphilis . .nbsp; nbsp; 312
Die bisherigen Beobachtungen und ihre Kritik.........nbsp; nbsp; 312
Die Bluttheorie Viennois'. — Köbner's Hypothese.......nbsp; nbsp; 317
Die S ymptomatologie der Syphilis e vaccinatione.....nbsp; nbsp; 337
Prophylaxe......................nbsp; nbsp; 339
Rückblick.......................nbsp; nbsp; 340
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Xnbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp;Inhalt.
ZWÖLFTER ABSCHNITT.
Seite
Die Administration der Tacciuatiou..............nbsp; nbsp; 345
Der Rechtsstandpunkt in der Impffrage............nbsp; nbsp; 346
Das Deutsche Reichs-Impfgesetz............nbsp; nbsp; 349
Impfregulativ......................nbsp; nbsp; 352
Impfinstitute......................nbsp; nbsp; 354
^_^^^^^H
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Krster Abschnitt.
Die Blattern.
Unter allen Seuelien, die jemals über die Erde gezogen sind, behaupten die Blattern, von welchem Gesichtspunkte aus man sie betrachtet, den obersten Eang. Die älteste und häufigste, die am weitesten verbreitete und mörderischste Volkskrankheit, sind sie Jahr­hunderte lang mit den Geschicken der Völker verwachsen gewesen, und haben an den meisten grossen Weltereignissen, an den Fort­schritten wie an den Verirrungen der Gesellschaft, nicht als blosse Begleiter, sondern oft eingreifend und bestimmend Theil genommen. Sie rotteten Völkerschaften aus, veränderten die Physiognomie ganzer Länder, und die Vermehrung des menschlichen Geschlechts ist bis in das vorige Jahrhundert vornehmlich durch sie aufgehalten worden. Jede Betrachtung, der menschlichen Geschichte und CulturentWickelung hat auch mit ihnen zu rechnen.
Ungleich manchen, von den socialen Verhältnissen abhängigen, oder durch sie gross gezogenen Seuchen tragen die Blattern ein com-#9632;munistisches Gepräge. Der Schrecken und das Verderben in Palästen und Hütten, gilt vor ihnen kein Ansehen der Person, und nur der Mensch als solcher, gleichviel welcher gesellschaftlichen Gruppe er angehört, kommt in Frage. Das englische Blaubuch über die Vac­cination zählt eine lange Reihe fürstlicher Personen auf, welche ihnen in den früheren Jahrhunderten erlegen sind, und einzelnen Dynastien drohte die Gefahr des Aussterbens. — Keine andere Krankheit hat ferner eine solche Familien- und Personengeschichte hinter sich. Denn von zahlreichen, gleichgültigen und berühmten Personen wissen wir, ob und wann sie blätterten, häufig sogar die Veranlassung zur Infection und die Einzelheiten im Verlaufe der Erkrankung.
Und welches andere Gebiet der Pathologie hat endlich That-sachen von solcher Eigenthümlichkcit und solch capitalem Werthe
Bohn, Handbacb der Vaccination.nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp;1
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2nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp;I. Die Blattern.
ans Licht gebracht, wie die Inoculation der Blattern und die Ein­impfung der Kuhpocken sind! —
Das Alter der Blatternkrankheit und ihre Heimath haben zehn Jahrhunderte hindurch die gelehrtesten Federa in eine wenig fruchtbare Bewegung versetzt.') Die Einen, geneigt die Krankheit für so alt als das Menschengeschlecht selbst zu halten, glaubten die Spuren derselben in den frühestcn schriftlichen Ueberlieferungen nachweisen zu können, während die zweite, lange siegreiche Partei den viel jüngeren Eintritt der Blattern in die Geschichte behauptete. Die einzige Frucht dieses Streites ist die gewesen, dass, seit 1815, mit Monro *) angenommen werden muss, es seien die Blattern den Indern und Chinesen schon ein- bis zweitausend Jahre vor unserer Zeitrechnung bekannt gewesen. Mehr nicht; denn keine von den Krank­heiten, deren das alte Testament Erwähnung thnt, oder welche von den altgriechischen und römischen Schriftstellern geschildert werden, lässt eine ungezwungene Deutung der unsrigen zu, und P. Frank findet es mit vollem Rechte unstatthaft, von den alten Meistern der Beobachtung anzunehmen, sie hätten „ die erste und gemeinste Krank­heitquot; so gleichgültig beobachtet, dass man jetzt streiten müsse, was sie eigentlich vor Augen gehabt.'
Noch grösseren Schwierigkeiten begegnet die Forschung nach dem Stammlande der Blattern — wenn ein solches, im Sinne der strengen Contagionisten, überhaupt zulässig ist. Für den a us ser­europäischen Ursprung spricht die grosse Wahrscheinlichkeit, so dass die Wahl nur zwischen Asien und Afrika schwankt.
Wenn das Alterthum bei der historisch-geographischen Patholo­gie der Blattern beinahe ausfällt, so führt das Mittelalter die Krankheit, wie mit einem Sehlage, in ihrer ganzen schweren Bedeu­tung vor. Die Blattern stehen, neben der Pest, an der Spitze der epidemischen Erscheinungen dieser Periode, und vertreten deren ge-sammte Krankheitsconstitution. quot;#9632;)
Die erste Bekanntschaft mit denselben macht die Geschichte bei Gelegenheit eines Krieges, dessen Entscheidung sie herbeiführen.
1)nbsp; Krause, Ueber das Alter der Menschenpocken und anderer exanthem. Krankheiten. Hannover 1S25.
2)nbsp; History of the Small Pox. Lond. ISlö. — Aug. Hirsch, Historisch-geo­graphische Pathologic. 1S59—1S64.
3)nbsp; Haeser, Historisch-patholog. Untersuchungen. Dresden u. Leipzig IS39. I, 100.
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Früheste Kenntnisse.nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp;3
Das Heer der Abessinier wurde im Elephantenkriege, während der Belagerung von Mekka (569 oder 572), von einer Krankheit auf­gerieben, welche weniger durch die morgenländisch - phantastische Schilderung, als von den directen Zeugnissen arabischer Schriftsteller als Pocken beglaubigt wird — wobei nicht unbeachtet bleiben darf, dass diese Schriftsteller durchaus nicht, wie von einer neuen Krank­heit sprechen.
Fast in dieselbe Zeit fallen die frühesten abendländischen Nach­richten ; wiederholte Epidemien im Frankenreich und in Italien wäh­rend der letzten Decennien des VI. Jahrhunderts, welche von den Bischöfen Gregor von Tours und Marius von Avenches auf­gezeichnet sind. Die Krankheit folgte der Bubonenpest und wechselte mehrfach mit ihr ab, hiess Lues cum vesicis, Pusulae oder Pustulae, Morbus dysentericus cum pusulis. So gefährlich sie für jedes Lebens­alter war, wurden doch besonders Kinder von ihr hinweggerafft. Auch diese Berichte lassen nicht erkennen, dass die Seuche damals für etwas Aussergewöhnliches angesehen worden wäre. ')
Einmal erschienen, verschwanden nun die Blattern niemals mehr von der Weltbühne. In zahllosen Epidemien und pandemischen Zügen haben sie sich während des Mittelalters und der Neuzeit durch alle Länder und Erdtheile verbreitet, lim endlich auf fast sämmtlichen Punkten der Erde, und nur selten vorübergehend, ihre Herrschaft zu entfalten. Andere Seuchen tauchten im Laufe der Jahrhunderte neben ihnen auf und gingen, wie der Schwarze Tod, wieder zu Grunde, oder veränderten sich bis zur Unkenntlichkeit, wie die Bu­bonenpest. Die Blattern haben ihre Eigenthümlichkeit durch alle Zeiten bewahrt, so vielfach und durchgreifend die Constitution und die Cultur des Menschengeschlechts wechselten.
Das früheste ärztliche Document über die Blattern findet sich in der Schrift des Arabers Razes aus dem IX. Jahrhundert: de va-riolis et morbillis.2) Doch bietet dieselbe neben der, mit weitschwei­figer Vorliebe behandelten Medication wenig mehr als einige Aussen-seiten der Krankheit: dass nämlich Wenige ihr entrinnen, und dass dies namentlich von den Kindern und jüngeren Personen gilt, wäh­rend die Erwachsenen und Greise ausnahmsweise ergriffen werden. Nosologische Aufschlüsse entfallen spärlich bei der Prognose. Razes erkennt Galen die Bekanntschaft mit den Blattern zu, wenn ihn
1)nbsp; Krause a. a. 0. — Hecker, Geschichte der Heilk.,11. Berlin 1829.
2)nbsp; Traite de la Variole et de la Eougcole de Kazes par Ledere et Le-noir. Paris 1S6G.
1*
*
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4nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; I. Die Blattern.
auch dessen geleg-entliche Erwähnung einer so häufigen, schweren Krankheit befremdet.
Höchst auffallend ist die gänzliche Verschmelzung der Maseru mit den Pocken, welche sich von den Arabern ab durch die folgenden Jahrhunderte bis tief in die Neuzeit erhalten hat. Im XVII. Säcu-lum verwechselten viele Aerzte die beiden Exantheme (Sennert), in den .schwedischen Mortalitätstabellen bilden sie bis zum J. 1773 zusammen eine Todesursache, und in den preussischen noch später. Die Historiker haben diese merkwürdige Verbindung so zu erklären versucht, dass die heutige charakteristische Masernform den Alten unbekannt gewesen sei, und die Masern ursprünglich eine Varietät der Pocken ausgemacht hätten. Allein das ist für uns heute eine ganz unmögliche Annahme, und wir würden rathlos vor jener histo­rischen Ueberlieferung stehen, wenn nicht die Morbilli papulosi et vesiculosi dem Verständniss einen schwachen Anhalt gewährten. Die letzten grossen Masern-Epidemien von 1869 und 1870, in welchen diese seltene Abart gehäuft, und zeitweise aussehliesslich vertreten war, haben uns nicht blos die Möglichkeit einer Verwechselung von Pocken und Masern v5r Augen geführt, sondern thatsächlich manche Diagnose, wenigstens im Beginne des Ausschlags, fehlgeleitet.
Der lateinische Name Variola wird zum ersten Male von Ma-rius von Avenches im VI. Jahrhundert gebraucht. Fraglich bleibt seine Herleitung, ob als Diminutiv von dem römischen Varus (Kno­ten) oder dem griechischen aioXos (varius oder variegatus). Aber erst durch die Schriften des Cons tan tin us A fr ic anus im XI. Jahr­hundert wurde er ärztlicher Terminus.
Ueber den Umfang, welchen die Blattern während des Mittel­alters in Europa erreichten, lässt sich wenig mehr als Allgemeines angeben. Die ärztlichen Schriften sind unklar, und den Legenden­schreibern und Chronisten, deren Interesse bei Erwähnung der Seuchen ein anderes als wissenschaftliches war, ist noch weniger zu trauen. Zweifellos gehören viele unter den Namen Pestilenz, heiliges Feuer ignis St. Antonii aufgeführten Epidemien jener seuchereichen Periode zu den Blattern, wie es wol auch aussei- Frage steht, dass die Zeit, wann die einzelnen Länder Europas in den Bann der Seuche gerie-then, für die meisten viel zu spät berechnet wird.
Der mächtigste Hebel für die Ausbreitung der eminent an­steckenden Krankheit war zu allen Zeiten der menschliche Verkehr, mit dessen Entwickelung dieselbe ziemlich gleichen Schritt hält, so
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Das Mittelalter.nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; 5
dass die einzelnen Länder und Welttheile, nach Maassgabe ihrer öffentlichen Betheiligung, früher oder später, die Zone der Seuche erweitern. In den frühen Jahrhunderten des Mittelalters, wo häufige Kriege die Völker durcheinanderwürfelten, sind es daher fast nur derartige Begegnungen, mit welchen gleichzeitig die Kunde von den Blattern ertönt. Vor Allem trugen, nach dem übereinstimmenden Zeugnisse der Zeitgenossen, seit dem XI. und XII. Jahrhundert die Kreuzzüge zur Pandemisirung derselben und zu ihrer Verpflanzung in bisher verschonte Gegenden bei, und Pockenhäuser bezeichneten die Strassen der Kreuzfahrer, wie sie umgekehrt zu ebenso vielen neuen Infectionsheiden der Krankheit wurden.
Aber auch manche stark ausgebildete Unsitte des späteren 3Iittel-alters begünstigte die unaufhörliche Verschleppung der Seuchen.
Es waren die fahrenden Leute des Mittelalters, anfangs Pilger und Mönche, dann die fahrenden Schüler, später das nichtsnutzige heimathlose Gesindel, dessen Menge allmählich ins Ungeheure an­wuchs, welche, selbst eine chronische ansteckende Psychose, die so-matischen Uebel von Ort zu Ort, von Land zu Land umhertrugen. Die grösseren Städte vermochten sich des Ungeziefers nur durch Errichtung von Fremdenherbergen vor den Thoren, die oft ein Spital neben sich hatten, zu erwehren.
Nachdem die Blattern am Ende des VI. Jahrhunderts in Europa deutlich erkennbar geworden sind, hat dieser Erdtheil nicht antgehört, den Schauplatz zahlreich wiederkehrender heftiger Epidemien zu bilden. In die südlichen Länder wurden sie wiederholt aus Klein­asien und Afrika eingeschleppt; so wüthete eine Epidemie im ganzen westlichen Europa im Jahr 711, kurz nachdem die siegreichen Sara­zenen in Spanien ihre Herrschaft aufgerichtet hatten.
Auch in Britannien und Irland tragen die grossen Epidemien vom VII. bis X. Jahrhundert die mehr oder weniger bestimmten Züge der Blattern. Die geistlichen Chronisten schildern die weite Aus­breitung der Seuchen, ihre starke Contagiosität und Tödtlichkeit, gedenken einer unförmlichen Hautgeschwulst, und' der später schwar­zen Haut der Kranken, welche einen abscheulichen Gestank aus­strömte; häufig blieb Blindheit und Contractur der Glieder zurück; das kindliche Lebensalter war vornehmlich heimgesucht.
Im XII. Jahrhundert wütheten die Blattern in den südlichen Ländern Europas und in ganz Frankreich ebenso häufig als allgemein. In diese Zeit fällt der erste griechische Pockenschrift­steller Synesius, durch seine arabische Bildung sehr gründlich über
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I. Die Blattern.
die Krankheit (loiur/.)] — von loi/uog, Verderben) unterricbtet. Urns Jahr 1270 waren sie in England überall bekannt. Dänemark scheint ihnen durch den regen Handelsverkehr frühe eröffnet gewesen zu sein. Von hier aus wurden sie durch ein Schiff nach Island gebracht, wo, nach den vorhandenen Annalen '), die Ejridemien der Jahre 1241—42 20,000 Menschen hinwegrafften. Von da ab blieb die Insel während des ganzen Mittelalters zahlreichen und furcht­baren Verheerungen durch die Krankheit unterworfen. Das oft zu erwähnende englische Blaubuch hebt besonders die Epidemien von 1257 und 58, 1291, 1310—11 (mit 1600 Todten), die von 1347—48, 1379—80, 1430—32 (mit 8000 Todten), endlich die von 1462—63 (mit 1600 Todten) und die von 1472 und 1511 hervor. Sie ertödte-ten die hohe Cultur, zu welcher diese Polarinsel frühe und schnell sich aufgeschwungen hatte. Auch die alte durch ihren Handel bedeu­tende normannische Colonie auf Grönland verkümmerte in Folge der Blattern und starb aus, so dass die Insel (seit dem Anfänge des XV. Jahrhunderts) fast auf drei Jahrhunderte in Vergessenheit sank.
lieber die ersten Blattern in Deutschland fehlt jede verläss­liche Nachricht. Die Angabe, dass sie 1493 durch Landsknechte Kaiser Maximilian's aus den Niederlanden eingeführt seien, kann sich nur auf einen erneuten Seuchenzug beziehen. Aber es scheint aller­dings, dass in den friihesten Jahrhunderten des Mittelalters vorwie­gend die Seewege der Seuche dienstbar gewesen seien.
Nach der westlichen Hemisphäre, nach Amerika, wurden die Blattern, fünfzehn Jahre nach der Entdeckung Westindiens, durch die Spanier eingeschleppt (1507). Sie richteten unter den Eingebo­renen ärgere Verwüstungen an, als das Schwert, die Feuerwaffe und der Branntwein der Europäer. Ganze Stämme wurden durch die Krankheit ausgerottet, in welcher die Unglücklichen, einen bösen Geist erblickten, der gekommen sei, alles Lebende zu vernichten.
1517nbsp; nbsp;erlag ihr der grösste Theil der Bevölkerung St. Domiugos,
1518nbsp; brachten sie die Spanier nach Hayti, 1520 griff sie nach Mexiko über (angeblich durch einen Blatternkranken im Heere des Narvaez) und tödtete 3l;i Millionen Einwohner. Ueberall ist das erste Auf­treten der Blattern, ebenso wie ihre Wiederkehr nach langen Zwischen­räumen , furchtbar gewesen. Aber in der neuen Welt verleugneten sie ihren europäischen Charakter als Kinderkrankheit vollkommen.
Zu erhöhterer Bedeutung für Amerika gelangten die Blattern iudess durch die mit dem Anfange des XVI. Jahrhunderts immer
1) Wen dt, Beiträge zur Geschiclite der Menschenpocken im dänischen Staate. Kopenhagen 1S24.
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Das XVI. Jahrhundert.nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; 7
umfangreicher werdende Negereinfuhr aus Afrika. Sie traten hier gleichsam als Rächer dieses grossen Frevels auf. Fast jeder neue epidemische Ausbruch der Variola in Amerika lässt sich später, sogar bis in die ersten Jahrzehnte unseres Jahrhunderts hinein (z. B. 1819 in Martinique), auf eine solche Einschleppung aus Afrika zurück­führen. Es gilt dies auch für den Continent Südamerikas, wohin die Blattern ein halbes Jahrhundert später als nach Nordamerika gelangt waren. Noch im Jahre 1834 nahm eine verheerende Epide­mie in Brasilien ihren Ursprung aus einem Negersklavenschiife.
Spärlich fliessen die ärztlichen Nachrichten über die Blattern des XVI. Jahrhunderts; die Alltäglichkeit der Krankheit gibt den Grund, warum ihrer nur gedacht wird, wenn sie das gewijhuliche Maass überschreitet. Heftige Epidemien grassirten 1536 zu Paris (Ferne-lius), 1551 zu Ancona (A. Lusitanus), 15G7 in Mantua (Donatus); 15(58 in Paris (Paraus), 1551 in Alkmar, 1562 und 1563 in Delft in Holland (Forestus), 1570, 1577 und 1588 in Brixeu (Botera). Vernichtende Blatteruepidemien durchzogen 1577 und 1586 Frank­reich: „eine solche Niederlage ist seit Menschengedenken nicht ge­sehen; es starben fast Alle, die ergriffen wurdenquot; (Ballonius). 1583 gedenkt Mercurial is einer ähnlichen Verheerung, welche einen ansehnlichen Theil Italiens betraf. In Schweden stammt die älteste Nachricht über die Blattern aus dem Jahre 1578, zweifellos einer späteren Zeit, als sie dort in der That bekannt gewordennbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp;jj
waren (Rosenstein). Island nimmt auch in dieser Periode Theil an der Seuche durch die Epidemien von 1555—56 (2650 Todte), von 1574 und von 1590—91. 1592 wurde das Mutterland Dänemark hart mitgenommen. Mehrere dieser Epidemien, namentlich die in Italien und Holland, besassen Eigenthümlichkeiten, welche Schön­lein geneigt machten, sie zu den Varioloiden zu stellen. Es wurden unterschiedslos Erwachsene wie Kinder befallen, darunter Viele, welche die Krankheit schon einmal durchgemacht hatten, und die Seuche war, im Vergleich zu ihrer extremen Verbreitung, weniger tödtlich. Auch wird das Exanthem in manchen Punkten von den echten Blattern abweichend beschrieben.
In England und Frankreich kamen in diesem Jahrhundert die bis jetzt dort gebräuchlichen Bezeichnungen Small-pox und la pe­tite veröle auf, welche die Pocken, zum Unterschiede von der Syphilis, erhielten. Die Syphilis, la grande veröle, hatte sich, seit dem Ende des XV. Jahrhunderts, angeblich als neue Pest von Ita­lien aus üher Europa gewälzt, und in der anfänglichen Uubekannt-
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I. Die Blattern.
schaft wurden ihre pustulösen Ausschläge von Vielen mit der Variola in Verbindung gebracht. Auch in Deutschland trifift man in jenen Zeiten den Namen Blatternhaus öfters für Syphilis-Spital. Die alten deutschen Bezeichnungen für die Krankheit waren Blattern (soviel als Blasen), und der gemeinere Ausdruck Pocken, dessen Grund­begriff die Erhöhung, Anschwellung, der Hügel ist.
Ergiebiger gestaltet sich das XVII. Jahrhundert; gleich in seinem Anfange, 1614 beginnt eine der gewaltigsten Pandemien, welche ganz Europa, Kleinasien und Nordafrika in ihren Bereich zog. Die­selbe ging, nach Schurrer1), von Persicn und Aegypten aus, nahm ihren Weg über Greta, über die Türkei, Italien und Frankreich nach den sämmtlichen Ländern des nördlichen Europa, und fand nur da ihre Grenze, wo die Gemeinschaft der Menschen aufhörte. 1616 brachte sie ein englisches Schiff nach Island, wo abermals mehrere Tausende erlagen. Ob dieser Seuchenzug es war, der zuletzt in Sibirien auslief, bleibt fraglich.2) Die Blattern sollen in dieses Land zum ersten Male 1620 eingedrungen sein und die Gebiete der Ostjäken, Tun-gusen, Jakuten und Samojoden mit grosser Bösartigkeit befallen haben. Sie sind hier durch das Hinderniss, welches sie dem An­wachsen der Bevölkerung entgegenstellten, verhängnissvoller als für die meisten übrigen Länder geworden. Sibirien wurde zum Theil ganz umgestaltet. Vorher war die Bevölkerung überall zahlreicher und in ihren Bestandtheilen mannichfaltiger gewesen; später waren viele Völkerschaften verschwunden oder durch die Furcht vor der Krankheit vertrieben. Was schon bei Island auffallen musste, wie­derholt sich in Sibirien aufs Neue. Vermuthlich in den Tropen ge­bürtig, haben die Blattern gerade im hohen und höchsten Norden den fruchtbarsten Boden für ihre Verheerungen gefunden. — Auch Nordamerika scheint von jener Pandemic nicht ausgeschlossen ge­blieben zu sein, denn während die Nachrichten über die ferneren Schicksale, welche die Blattern nach ihrer Einschleppung in Amerika gehabt, fehlen, wird von der ersten grösseren Epidemie in den atlan­tischen Staaten (namentlich in Virginien und Carolina) aus dem An­fange des XVII. Jahrhunderts berichtet.
Auch in den nächsten Jahren tauchen überall in Europa Epide­mien auf, von denen freilich nur immer die besonders schrecklichen namhaft gemacht werden, die von Bern 1626 (Hildanus), die in Würtemberg 1629 (Sennert), in Delft 1640 (Diemerbrök). 1651
1)nbsp; Chronik der Seuchen 1825.
2)nbsp; Richter, Gesch. der Medicin in Kussland.
Moskau 1813.
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Das XVII. Jahrhundert. Sydenham.
brachte ein Däne die Blattern nach der Inspl Ferroe, welche in allen ihren Tbeilen gelichtet wurde.
Zahlreicher und bestimmter werden die Berichte mit der zweiten Hälfte des XVII. Jahrhunderts: Zwei neue isländische Epidemien in den J. 1655 und 1G58, jedesmal durch ein englisches Schiff an­gefacht, standen den früheren an Bösartigkeit nicht nach; minder heftige fielen in die J. 1670 und 1672. In Dänemark gingen die Blattern in dieser Periode fast gar nicht mehr aus, und erhoben sich jedes vierte bis siebente Jahr zu heftigeren Epidemien, aus welchen die von 1656 als die verderblichste hervorragt. De la Motte war Zeuge einer sehr gefährlichen Blattern - Epidemie, die 1666 mitten im Winter in Frankreich grassirte, Tulpius einer ähnlichen in Amsterdam. In den SO und 90 Jahren herrschten die ausgedehntesten Epidemien fast in allen Ländern Europas, vornehm­lich in Deutschland, der Schweiz und Italien. Aber alle diese Vor­gänge und die Aufzeichnungen, welche sich daran knüpfen, werden in Schatten gestellt von den Epidemien, welche seit 1660 fast un­unterbrochen in England und vor Allem in London im Schwange waren, und von der denkwürdigen Schilderung, die ihnen Syden­ham gewidmet hat1).
Unmittelbar nach der grossen Pest von 1665 und 1666 kamen in London wieder die Pocken zum Vorschein, welche, so lange jene gedauert, entweder gar nicht oder selten gesehen worden quot;waren. Sie begannen mit dem Frühlingsäquinoctium von 1667, und ver­schwanden mit der Kälte des folgenden Winters, um denselben Turnus in den beiden nächsten Jahren (1668 und 1669) zu wieder­holen, und endlich, im August 1669, der epidemischen Ruhr das Feld zu räumen.
In den zwei ersten Jahren wurden in London mehr Menschen von ihnen befallen, als Sydenham vorher und später jemals beob­achtet hat. Aber sie hatten den regelmässigen milden Verlauf dis-creter Pocken, und tödteten, im Vergleich zu der grossen Anzahl der Kranken, nicht viele. Zur nämlichen Zeit grassirte eine neue Art von Fieber, welches, mit Ausnahme des Exanthems, in allem Uebrigen den Blattern glich, mit ihnen auch wieder verschwand (Febris variolosa). Im Bunde mit diesen beiden Krankheiten ging die Ruhr als dritte epidemische Erscheinung einher, und Syden­ham betrachtet alle drei nur als formell verschiedene Aeusseruugen desselben Grundleidens. — Es folgt nun die ausführliche Beschrei-
1) Observationes medicae circa morbor. acutorum historiam et curationem. London 1076.
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I. Die Blattern.
bong der regelmässigen discreten Pocken jener dreijährigen Periode, ein Bild, dem in seiner klinischen Vollendung auch heute nicht viel hinzuzufügen sein wird.
Ein von diesen Pocken durchaus verschiedenes Gepräge trugen die Epidemien der J. 1670, 1671 und 1672, welche mit schlimmen Masern, und später mit Dysenterie sich verbanden. Die Seuche er­schien regelmässig schon im Januar, war gleich im Anfange heftig, stieg dann allmählich auf ihren Höhepunkt, und erlosch, gemildert in den Zufällen und in der Anzahl der Erkrankungen, mit dem Herbste jeden Jahres. Discrete Blattern gab es diesmal wenige, und verleugneten dieselben frühzeitig den ihnen sonst eigenen, regel­mässigen und gutartigen Charakter. Die Mehrzahl der Kranken litt an Variola confluens, und auch diese unterschied sich in manchen Punkten von ihresgleichen aus früheren Zeiten. Frühzeitig nämlich bildete sich eine starke rothlaufartige Gesichtsgeschwulst, der Leib war von den unzähligen und zusammengewachsenen, aber nur mangelhaft entwickelten, sehr kleinen Efflorescenzen wie mit einem rothen Tuche überdeckt; zwischenein erhoben sich Blasen, nament­lich an den Schenkeln, den Brandblasen gleich, mit reichlicher seröser Flüssigkeit, unter welchen das Corium schwarz und brandig war. Häufig begann, wenn nicht früher, etwa um den 11. Tag, eine Gangränescenz des Gesichts, das zuletzt wie Ofenruss aussah. Sowol das Fieber, wie die übrigen Zufälle waren heftig, und der Tod das gewöhnliche Ende. Im dritten Jahre verloren die Blattern die schwarze Farbe und die Bösartigkeit, und gingen in die Form der gewöhnlichen confluenten über.
Im J. 1674 kehrten die schwarzen Pocken mit noch grösserer Malignität wieder. Diejenigen, welche nicht zu Grunde gingen, litten später viel von subcutanen und intermusculären Eiterungen, und schwebten lange in Lebensgefahr. Die Epidemie endete 1675.
Sydenham fasste die Pocken als eine Entzündung auf, welcher nichts feindseliger sei, als die, seit den Zeiten des Razes übliche Behandlung mit grosser Wärme und reizenden Arzneimitteln, wobei sie leicht zusammenfliessend und tödtlich würden. Es stürben des­halb, im Vergleich zu den Reichen, viel weniger unter dem gemeinen Volke, wo jene Behandlung nicht ins Extrem ausarte. Aber auch die vorwiegend schwächende Methode mit Aderlässen und Abführ­mitteln bekämpft er, und erhob die kühle Behandlung zum obersten Princip. Das Laudanum befürwortete er, als beruhigendes Mittel, bei den confluenten Blattern nach vollendetem Ausbruch des Exanthems.
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Das XVIII. Jahrhundert.nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; 11
Die Lehren Sydenham's, übrigens kaum andere, als die lange vorher von den Braminen Ostindiens befolgten Grundsätze, wurden von Wenigen verstanden, und von noch Wenigeren verwirklicht. Das unselige regimen calidum behielt in dem ganzen folgenden Jahrhundert die Oberhand, und ist auch heute nicht gänzlich aus der Praxis getilgt.
Mit dem XVIII. Jalirhundert beginnt eine neue wichtige Aera für die Blattern. Nicht so, dass nur unser historischer Gesichtskreis mit jedem Jahrzehnt sich ausdehnt. Sondern die eintönige Misere der Epidemien wird durch ein ebenso merkwürdiges, wie bedeutungs­volles Ereigniss, die Inoculation der Variola, unterbrochen, und, wesentlich im Anschlüsse daran, blühte das lange vernach­lässigte Studium der Blatternkrankheit rasch empor. Inden vortrefflichen Bearbeitungen von Bo er have 1700, Mead 1747, Huxham 1744, van Swieten 1772, Cotugni 1769, Borsieri 17S5, C. L. Hoffmann 1789 u. A. m. fand die klinische Darstellung der Blattern für lange Zeit ihren Abschluss.
Man begegnet den Blattern in diesem Jahrhundert überall, und fast immer in der äussersten Heftigkeit, wenn auch eine genauere Verfolgung der Seuchengänge an der Schweigsamkeit der meisten ärztlichen Zeitgenossen über die zu gewöhnliche Krankheit scheitert. An jeder Krankheits-Constitution theiluehmend hatte sich dieselbe in vielen grossen Städten fest eingenistet, und trieb in kurzen Zwischen­räumen immer frische Epidemien. Die vorhandenen Aufzeichnungen und die hingeworfenen Bemerkungen lassen erkennen, dass wir nicht entfernt das Bild ihrer wirklichen Häufigkeit und Verbreitung zu zeichnen im Stande sind.
Von 1700—1706 werden vornehmlich Epidemien1) in Deutsch­land genannt (zu Breslau, Berlin, Augsburg, Hamburg, in Holstein). Im J. 1707 kommt wieder die Kunde von einer gewaltigen islän­dischen Epidemie, die, aus Kopenhagen eingeschleppt, von 50,000 Bewohnern 32,000 übrig Hess. 1709 und 1711 wurde Laibach in Kämthen fast aufgerieben. 1711, 1713, 1715—1716 und 1717 wü-theten die Blattern in Süddeutschland (Augsburg), in Schlesien und Ungarn. 1717 beschreibt Lancisi eine furchtbare Epidemie in Ferrara; und in demselben Jahre kam eine ähnliche in York in England vor. 1719 war für ganz Europa ein Blatternjahr, und 1723 für Europa, Amerika und einen Theil Asiens. Paris blätterte in schneller Aufeinandeifolge 1711, 1716 (wo 14,000 Menschen starben),
I) Siehe u. A. bei Tissot Lettre ii M. de Haen sur riuoculation 1750.
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12nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; I. Die Blattern.
1720—1723 (im letzten Jahre erkrankte auch der jugendliche Vol­taire gefährlich), dann 1731 und 1735. 1739 bedeckten die Blattern ganz Frankreich. Von 1729—1740 folgten sich die Epidemien in England in erschreckender Häufigkeit und Heftigkeit (Huxham). Gregory berechnet die Pockensterblichkeit der Jahre 1711—174(1 auf 65,000 Personen. 1720 waren die Blattern über die Alpen nach Turin gewandert, verbreiteten sich durch das Piemontesische, und wütheten dann, wie die Pest, durch ganz Italien (S arc one); 1736 ward die Halbinsel abermals von ihnen durchseucht. 1721 und 1730 herrschten Blattern in Boston, 172S und 1729 in dem mittägigen Amerika allgemein, 1738 in Karolina. Schwere Epidemien in Europa kamen, in Schlesien und Ungarn, 1739—1742 vor. Dänemark, wegen seines regen Handelsverkehrs von jeher der Tummelplatz der Seuche, athmete im XVIII. Jahrhundert nur vorübergehend auf; berüchtigt sind seine Epidemien von 1716 und 1733. Holland litt besonders stark in den J. 1724 (Utrecht) und 1728 (Leyden). Haller beschreibt eine blutige Variola zu Bern 1735. Im Juni 1746 brach zu Montpellier eine Epidemie aus, welche in weniger als drei Monaten über 2000 Personen dahinstreckte, und ganze Familien auflöste. Die grauen­vollen Eindrücke, welche der Student Tissot hier empfing, brachten eine vollständige Umwandlung in seinem Leben hervor, und machten ihn zum begeisterten Apostel der Inoculution. Die Epidemie zu Lau­sanne gab ihm bald, 1749, Gelegenheit, seinen grossen Ruf auf diesem Gebiete zu begründen. — Auf Minorka erschienen die Blattern zum ersten Male 1725, pausirten dann bis 1742, um von da an jahrelang endemisch zu bleiben (Rosenstein).
Wie häufig sie von Europa in andere Erdtheile getragen wurden, kann aus den vereinzelten Beispielen nur vermuthet werden. Ein holländisches Schiff, das 171S, mit drei pockenkranken Kindern an Bord, nach dem Vorgebirge der guten Hoffnung kam, inficirte das Capland. Von hier drang die Seuche zu den Hottentotten, welche sich der erneuten Einschleppungen nur durch die Umwallung und strengste Bewachung ihres Gebietes erwehren konnten (Rosenstein). Nach Grönland kamen die Blattern 1734 mit einem Schiff aus Däne­mark und es starben beinahe 23 von den 6—7000 Einwohnern. —
Aus dieser düsteren Periode bricht, am Anfange der zwanziger Jahre, der Rettung verkündende Lichtstrahl der Blattern-Inocu-lation hervor. Der nächste Abschnitt dieser Arbeit wird dieselbe ausführlich darstellen und würdigen. Die edlen Geister fast aller Nationen begrüssten sie als die Erlöserin von einem Verderben, welchem die Menschheit wehrlos überantwortet gewesen war. Aber
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Das XVIII. Jahrhundert. Inoculation.nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; 13
widerwärtige äussere Schicksale hielten in Europa die Inoculation über ein Menschenalter nieder, so dass ihr Einfluss auf die Seuche, bis in die 50ger Jahre des Säculums, kaum nennenswerth sein konnte. Um diese Zeit aber, wo die Inoculation einen raschen und allgemeinen Aufschwung nahm, erfuhr der Krankheits-Charakter des Jahrhunderts eine durchgreifende Veränderung. Von 1720 —1750 hatten, neben den Blattern, alle übrigen acuten Exantheme, ferner die Diphtherie, der Eothlauf und die Ruhr vorgeherrscht; die Jahre 1750—1757 dagegen zeigten ein entschiedenes Zurücktreten dieser, von der historischen Pathologie als verwandt betrachteten Krank­heiten. Dass die Inoculation, was die Blattern betraf, unbetheiligt daran gewesen, lehrte schon das nächste Jahrzehnt, wo dieselben, inmitten einer sehr entwickelten exanthematischen Constitution, höher als je ihr Haupt erhoben.
Im J. 1752 gingen in London 3538 Menschen an Blattern zu Grunde. Italien blutete unter der Seuche fast das ganze Decennium hindurch, Neapel und die Provinzen 1753, Eom verlor 1754 in wenigen Monaten mehr als 6000 Menschen. 1755, 1757 und 175S wurde Florenz durch furchtbare Epidemien in die tiefste Trauer ver­senkt. Sarcone, der sie schildert, verlor selbst zwei Söhne, und sah den dritten unter grossen Gefahren genesen'). Boston wurde durch die Epidemie von 1752 zur Inoculation getrieben (Douglas). In Berlin starben 1759: 600 Personen, 13,20 Proc. aller Todten des Jahres. 1761 waren die Blattern über ganz Deutschland, 1762 und 1763 über Frankreich verbreitet, beide Male starken Ruhrepidemien folgend, und die Vorläufer von bösartigem Scharlach. 1761—1763 kam Schweden an die Reihe, wo im J. 1762: 12,412 Kinder den Pocken und Masern (an letzteren zum geringen Theile) erlagen. Das Jahr 1706 bezeichnet für Europa den Höhepunkt der Epide­mien, und war auch für Südamerika unheilvoll; in Carracas allein sollen gegen 8000 Menschen gestorben sein'2). In Berlin starben 1066 (darunter 948 Kinder) oder 22 Procent der Gesammt-Todten, nicht weniger in London und Göttingen, lieber Sibirien (1767) kam die Seuche zum ersten Male nach Kamschatka, dessen Bevölkerung 10,000 Seelen nicht überstieg, und das 1768 und 1769 über die Hälfte derselben verlor11). — Von 1760-1768 folgten sich abermals in Florenz sechs furchtbare Epidemien; die von 1764 durchseuchte ganz Italien (Sarcone)- Als Dimsdale 1768 zur Inoculation der
1)nbsp; Sarcone, lieber die Kinderpocken, übers, von Lentiu, 1792.
2)nbsp; Schnurrer, Chronik der Seuchen, II. 347.
3)nbsp; Pallas, Reisen III. 2ö. und Hecker a. a. O.
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Kaiserin Katharina und ihres Sohnes nach Russland ging, — der Entschluss der Kaiserin lässt die Noth ahnen — schätzte er die Pockensterblichkeit im Kaiserreiche ins Ungeheure.
Ueber die Pocken in Ostindien, in der Mitte des vorigen Jahr­hunderts, gibt ein Augenzeuge, Hol well, Bericht. Sporadisch immer vorhanden, kehrten sie in etwa siebenjährigen Zwischen­räumen wieder, um, als conflnente Form, mit höchster Bösartigkeit die Bevölkerungen zu lichten; Wenige, die durch gewöhnliche An­steckung erkrankten, kamen mit dem Leben davon. Der Tod er­folgte in den frühen Perioden der Krankheit, die Kunst erwies sich ganz ohnmächtig, und die Furcht der Europäer war so gross, dass sie ihr durch die Flucht auf ihre Landsitze, und strenge Absperrung zu entrinnen suchten.
Die enorme Pandemic der Faulfieber, welche gegen den Schluss der 60ger Jahre sich zu entwickeln begann, und in ihrer Akme (1770—1772) einen grossen Theil der bewohnten Erde umfasste, schien anfangs die Blattern niederzudrücken, welche dann jedoch, im J. 1770, fast an allen Punkten des unermesslichen Gebietes, das jene typhöse Pandemic beherrschte, mit neuer Wuth sich be­festigten. Ihre Verheerungen unter den indischen Völkern, schreibt H e c k e r, waren beispiellos. Nie sah man eine grauenvollere Nieder­lage ; der schwarze Tod raubte Europa den vierten Theil seiner Be­völkerung in zwei Jahren — hier wurden 3 Millionen Menschen aut einem kleinen Eaum innerhalb weniger Monate vernichtet. Und wo wir nur irgend in Europa von herrschenden Krankheiten Kunde haben, da sehen wir ihnen auch die Pocken beigesellt. Wäre nicht die Aufmerksamkeit der Aerzte von der längst gewohnten Erschei­nung so abgestumpft gewesen, dass man ihrer im Ganzen wenig achtete, so würden wir noch das Bild einer Pockenseuche entwerfen können, die an Ausdehnung vielleicht von keiner ttbertroffen, zwi­schen den Wendekreisen von sengender Hitze, ihrem eigentlichen Elemente, und in den nordischen Himmelsstrichen von der Nässe des Dunstkreises, von winterlichen Nebeln begünstigt wurde l).
Von dieser Zeit ab, durch die noch übrigen Decennien bis zum Schlüsse des Jahrhunderts, ja in das nächste hineinragend, behauptet die Seuche nicht blos die verderbliche Höhe, welche sie erstiegen hatte, sondern scheint in stetigem Anwachsgn begriffen. quot;
Mancherlei Ereignisse unterstützten sie durch ihr Zusammen­treffen: die vielen Kriege diesseits und jenseits des Oceans, der,
1) Heckcr, Geschichte der neueren Heilkunde. Berlin 1839.
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Schluss des XVIII. Jahrhunderts.nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; 15
gegen Ende des XVIII. Säculums immer reger sich gestaltende inter­nationale Verkehr, und die engere Verknüpfung aller Welttheile durch die seefahrenden Nationen. Auf den Slidsee-Inseln und in Neu-flol-land erschienen die Blattern, kurze Zeit nach der Entdeckung Austra­liens, in den 70ger und 80ger Jahren. Aber auch die Blattern­impfung selbst, welche inzwischen überall, namentlich in Europa, Boden gewonnen, hat ihren Antheil an der Verschleppung und Be­festigung der Krankheit.
In den meisten grösseren Centren der Bevölkerung blieben die Blat­tern fortan endogen, und flammten alle 3, 5, 7 Jahre zu Epidemien auf.
Von 1774 bis 1S01 wurde Schweden alle fünf bis sechs Jahre von Epidemien durchzogen, welche innerhalb zwei bis drei Jahren ihr Maximum zu erreichen, und in ebenso langer Zeit wieder zurück­zugehen pflegten. In 18 von diesen 28 Jahren verlor es jährlich auf die Million Einwohner mehr als 1000 Menschen an Blattern, und zwar in 8 Jahren über 1000, in 5 über 2000, in 2 über 3000, in 2 über 5000 und in 1 über 7000; nur in einem einzigen jener 28 Jahre (1786) wenig mehr als 300. Schweden wurde wiederholt von Eussland angesteckt, in dessen weitem Gebiet die Krankheit be­ständig umherzog, und eine enorme Sterblichkeit unterhielt.
In der Mitte Deutschlands sah man Epidemien alle 5—6 Jahre (Hufeland), in Weimar 1777, 1782 und, mit Jena zusammen, 1788. 1787 litt Erfurt sehr schwer. Berlin hatte 1770: 987 Todte, 19 Procent, 1786: 1077 Todte, 21 Procent aller Todesfälle, 1789: 911 Todte, oder 15 Procent. Die Städte Wolfenbüttel und Braunschweig blätterten das ganze Jahr 1787, in letzterem starben 372 Personen (Hildebrandt'). — 1784 furchtbare Epidemie in Amsterdam, 1782, 1785 und 1789 in Kopenhagen: Island wurde zum letzten Male von 1785 — 1787 heimgesucht, und brachte der Seuche den Tribut von 1425 Leichen u. s. w. Von jenseits des Meeres lauten die Nachrichten spärlich, doch nicht weniger schrecklich, in Mexiko erlagen 1779 von etwa 39,000 Erkrankten beinahe 9000.
Das letzte Decennium des Jahrhunderts sah die Blattern auf dem Gipfel.
In Kopenhagen herrschten Epidemien während des ganzen Jahr­zehnts, 1794 und 1797 die heftigsten seit den 60ger Jahren. In London starben allein im J. 1796: 3549 Personen. Turin verlor in der Epidemie 1796 — 1797 ebenso viele Menschen, als gleichzeitig ge­boren wurden; Prag im J. 1796: 6680, und im J. 1799: 17,587 Per-
1) Ueber Pocken. Braunschweig 1788.
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16
I. Die Blattern.
sonen. Nach der amtlichen Statistik Böhmens starben (bei einer Durchschnitts-Bevölkerung von 3,039,722 Seelen) von 1792—1802 jährlich 94,955, davon an Blattern der zwölfte Theil 7663 (Lösch­lier1)- Im J. 1796 waren in ganz Preussen 24,646 Menschen an Blattern gestorben (Casper). Warschau erlebte 1796/97 eine furcht­bare Epidemie. In Würtemberg haben sich aus den Kirchenbüchern für die Jahre 1790—1800 folgende Zahlen, Bruchtheile der Wirklich­keit, feststellen lassen 2). Es starben
1790
3421
1794
2415
1798
3255
1791
1679
1795
3775
1799
8867
1792
973
1796
3630
1800
4745
1793
1255
1797
2918
in Summa von 1790—1800: 36,933 Menschen. In Königsberg nimmt die Blatterusterblichkeit im J. 1799 die höchste Ziffer ein (darunter 522 Kinder), welche sie seit 30 Jahren erstiegen hatte. — In Hannover raifte eine der mörderischsten Epi­demien, von 1799—1800, anfänglich das fünfte, dann das vierte Kind weg. In der Türkei, in der Walachei, wie überhaupt in den Donau-ländern richteten die Blattern fortdauernd ungeheure Verheerungen an (Rigler). — In Mexiko erlag 1797 von etwa 25,000 Kranken fast der fünfte Theil (Stricker, Oppenheim'laquo; Zeitschr. Nr. 31) — kurz, von überall her die gleiche Schreckensbotschaft. Zwar wird bereits 1798 in England das Wort Vaccination gehört, und dasselbe findet ein hundertfaches schnelles Echo, aber die Seuche fällt nicht so rasch in ihren Bann, und überschreitet mit ver­stärkter Macht die Grenze des XIX. Jahrhunderts. Schweden macht 1800 und 1801 eine seiner tödtlichsten Epidemien durch, Berlin zählt 1801: 1626 Todte = 21,27 Procent aller Sterbefälle. Brescia, Verona, Bologna und Venedig werden fast verwüstet (S a c c o u. Mo r esc hi), ebenso Schlesien (Buch holz), Mitteldeutschland und Oestreich. Wien hatte 1800 eine bösartige Epidemie (Frie-dinger), 2236 Kinder waren innerhalb der drei Herbstmonate ge­storben u. s. w.
Es fehlen alle Unterlagen zu einem Vergleich der früheren Jahr­hunderte mit dem achtzehnten, und um die hohen Blattern-Verluste des letzteren annähernd zu bestimmen. Ich werde daher die, nur geschätzten, enormen Zahlen der Opfer nicht wiederholen, welche den Blattern während des vorigen Jahrhunderts in Europa gefallen
1)nbsp; Epidemiol, u. klinische Studien. Prag 18C8.
2)nbsp; Cless. Pocken und Impfung. Stuttgart 1871.
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Die Blatternnoth der früheren Jahrhunderte.nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; 17
sein sollen. Sondern man muss der schwärzesten Wahrheit nahe zu kommen suchen, indem man vertrauenswürdige Genossen jener Un-gllickszeiten sprechen lässt. Ihre gleichmässigen Urtheile machen jede Phantasie-Statistik Überflüssig.
Seit Razes ausgesprochen, dass die Krankheit, in Arabien und Persien, kaum einen der Menschen verschone, findet sich dieses Axiom aller Orten und unzählige Male wiederholt: „Es können wol auch Einige ganz frei von den Blattern bleibenquot; — „wenn hie und da Einer stirbt, aus dessen Munde man hört, dass er niemals die Pocken gehabt, so kann das doch in den ersten Jahren seines Lebens vor­gefallen sein, oder er hat sie im Mutterleibe überstandenquot;, denn „man trifft nur wenige, über 30 Jahre alte Menschen, welche noch nicht an ihnen gelitten habenquot; (Hildebrandt 1788). „Die Blattern sind eine Pest eigener Art, und haben eine Wirksamkeit, die alle Vorkehrungen vereitelt, sie befallen bald oder spät alle Menschen, und gegen ihre Gewalt schützt keine Vorsicht, kein Klima, weder Alter, Geschlecht noch Temperamentquot; (Thebosius 1651). Indem die ersten Quellen der Blattern (in Asien) nicht aufgesucht wurden, und völlig unbekannt waren, fing man an, das Pockengift als der menschlichen Natur eigen, und so nothwendig und unvermeidlich anzusehen, dass man annahm, der unglücksvolle Samen und Keim dazu sei schon von dem ersten Augenblicke seines Lebens in die Adern des Menschen gelegt (S arc one).
Die Blattern waren nicht alle Jahre von gleicher Heftigkeit, gelinde Pockeuconstitutionen gar nicht selten, aber die schlimmsten Pockenepidemien kamen weit öfter vor, als die gelinden. Nach Jurin (Anfang des XVIII. Jahrb.) tödteten die natürlichen Pocken unter 14 Erkrankten einen, und Rosen stein und Andere lassen den siebenten und sechsten Kranken sterben. Das waren günstige Mortalitätsprocente, die häufig auf 50 und mehr stiegen. Nicht zu selten „starben fast Alle, die ergriffen worden warenquot; (Ballon!us 1577). „Wenige entrannen der Grausamkeit der Seuche, und unter denen, welche davon kamen, fanden sich die Mehrsten verstümmelt, oder hatten Schaden am Gesichte erlittenquot; (Hildanus 1B26). In der Londoner Seuche vom J. 1692, berichtet Morton, kamen von 23 Blatternkranken nur 13 davon, zehn starben; die ersteren kehrten kaum vor dem Tode um, und waren mit Furunkeln, und verschie­denen andern hartnäckigen Geschwüren bedeckt. Im XVIII. Jahr­hundert liest man wiederholt, dass Alle erlagen, welche in einer Epidemie erkrankten. Helvetius war es 1710 unmöglich, auch
Bohn, Handbuch der Vnccination.nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp;2
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I. Die Blattern.
nur einen einzigen Kranken zu retten u. s. w.1). So berechnet denn la Condamine, dass von 1726 —1754 in Frankreich 760,000 Menschen den Blattern erlegen seien, und Eosenstein, dass in Schweden während der 16 Jahre (1749-1705), bei 1,391,233 Ge­burten, 144,194 an Blattern starben, mithin etwa der zehnte von den Geborenen; in Stockholm einmal von 300 Kindern 2702). Aus den Todtenlisten der einzigen Stadt London ergibt sich, dass die Pocken daselbst in 67 Jahren 113,851 Menschen dem Staate ent­rissen haben (de Haen). Hatte da J. P. Frank nicht Recht, im Hinblick auf die unausweichbare Gefahr der Blattern, zu sagen: Nemo ante obitum beatus!
Die postvaccinale Periode.
Erste drei Decennien des XIX. Jahrhunderts.
Bald nach dem Beginne des jetzigen Jahrhunderts schien eine glückliche Blatternzeit anzubrechen. Die furchtbaren Seuchengänge aus dem Ende des XVIII. waren verlaufen; Epidemien fehlten bier und dort keineswegs, namentlich in England und Schweden, hielten sich aber beschränkt; in die grossen Städte wurde die Variola häufig eingeschleppt, doch schwollen diese Fälle nicht sofort, wie ehedem, zu heftigen Epidemien an. Als Völkerseuche waren die Blattern ab­getreten, trotzdem es Kriegszeiten sind, von welchen wir reden. Diesen Umschwung hatte in manchen Ländern, wie in Dänemark und Schleswig - Holstein, zum Theil auch in Frankreich, sicherlich die Vaccination bewirkt. Für die Allgemeinheit konnte dieselbe jedoch zu keiner durchgreifenden Einwirkung gelangt sein; man muss viel­mehr, in den beiden ersten Decennien, ein Zusammentreffen der Schutzimpfung mit dem Nachlass der exanthematischen Krankheiten überhaupt anerkennen3).
Allein der Waffenstillstand währte keine fünfzehn Jahre, wieder tauchten die epidemischen Blattern an verschiedenen Punkten Europas auf, um allmählich zu weiteren Umzügen sich anzuschicken, und ob-wol viel weniger tödtlich, eine um so tiefere Bestürzung zu erzeugen, als gerade die vaccinirten Bevölkerungen aufgesucht wurden.
1)nbsp; Siehe die furchtbare Liste bei Tissot: Lettre ä M. de Haen. 1759. p. 30 sqq.
2)nbsp; Rosenstein, Kinderkrankheiten, übers, v. Murray. 1798. S. 202.
3)nbsp; Eble, Fortsetzung von K. Sprengel's Versuch einer prag.nat. Gesch. der Heilk. Wien 1837—40.
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Die postvaccinale Periode.nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; 19
So viel die lückenhaften Berichte combiniren lassen, sind es meh­rere, weit von einander getrennte Herde, aus welchen die Blattern im zweiten Decennium fast gleichzeitig ihren Anfang nehmen. Schon vom Jahre 1813 ab waren sie über mehrere kleinere Städte S c h o 11-lands zerstreut; sie häuften sich daselbst in den folgenden Jahren, und verschmolzen 1817 und 1818 zu einer, das ganze Land um­klammernden Epidemie. Edinburg, das gerade unter einem bös­artigen Typhus seufzte, wurde mit dem Anfange dös Jahres 1818 tief in dieselbe hineingezogen, und die von hier ausgegangenen Be­obachtungen und Ansichten haben vielfach bedeutungsvoll auf die ärztlichen Anschauungen jener Zeit eingewirkt. Die vortrefflichen Historiker der Epidemie, Monro und John Thomson, erkannten zuerst alle die abweichenden Formen, aus denen sie überwiegend zusammengesetzt war, und für die bisher keine gleichmässige Be-urtheilung bestand, als wirkliche Pocken an, und vereinigten die­selben unter dem Namen der Varioloiden. Sodann hatte Thomson besonders darauf geachtet, ob die ergriffenen Personen vorher ge­blättert, ob sie inoculirt oder vaccinirt gewesen waren, und hatte ermittelt, dass die Varioloiden, bei allen drei genannten Kategorien sehr gewöhnlich, häufig aber auch bei solchen Personen vorkamen, deren variolöse Empfänglichkeit auf diese Weise nicht verändert worden war. — Er zog endlich die, seit Heberden abgetrennten Varicellen, als eine variolöse Species, wieder in die Pockenkrankheit hinein, welche Ansicht nun für lange Zeit maassgebend unter den Aerzten blieb. Die, jenseits des Kanals mehrfach erprobte, Methode, durch eine stylisirte Umfrage bei den Collegen', von allen Theilen des Landes her, Aufschluss über die wesentlichsten Punkte der Krankheit zu gewinnen, gab seinen Untersuchungen und Schlüssen die breiteste Grundlage.
Nach Süden fortschreitend betrat die Seuche England, um hier 1819, in sehr verderblicher Form, zu gipfeln; in Norwich z. B. er­krankten mehr als 3000 Menschen, der 13. Theil der Einwohner­schaft, und von je G Erkrankten starb einer. Etwas später ward Irland ergriffen, wo D u b 1 i n im Jahre 1821 schwer litt (Stokes). — Von Grossbritannien setzten die Blattern nach dem Continent über, und erschienen an den Ausflüssen des Rheins, der Scheide, der Seine, sowie fast in allen Häfen des westlichen Europas. Die Epidemie in Rotterdam (vom April 1817 bis Februar 1818 fast 312 Todte) brachte das Volk gegen die, freilich sehr schwach benutzte Vaccination auf.
Den zweiten Herd bildete die Schweiz, von wo die Pocken in den Jahren 1814 — 1817 nach Würtemberg und Baden wanderten.
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1. Die Blattern.
Würtemberg wurde mit Ausuahme einzelner Gegenden, wo die Vacci­nation rechtzeitig eingriff, ganz durchseucht; der Höhepunkt der Epidemie fällt in das Jahr 1816, doch war die Sterblichkeit, da es sich Yomehmlich um Varioloiden handelte, im Vergleich mit den früheren Epidemien, unerheblich, 2,5 Pre. (Cless). Würtemberg erntete aus dieser Noth sein gutes Impfgesetz (1818), und Elsaesser durchschaute schon damals sehr klar, wie die Schutzkraft der Vaccine mit dem zunehmenden Alter der Geimpften sich vermindere ').
Eine dritte Ansammlung von Blattern finden wir im Osten von Deutschland, in Breslau und Chemnitz 1813 und 1814, in Berlin 1814.2) Im Jahre 1816 war das ganze Preussen überzogen, Steier­mark 1817, Wien 1818/19. Von einer massigen Epidemie 1820/21 in Prag berichtet Stelzig.
Fast nirgends, wo sie aufgetreten, fernerhin ganz ausgehend, nehmen nun die Blattern, mit dem Anfange des dritten Deeeu-niums, in beständigem Wachsthum immer weitere Dimensionen an, und in der Mitte dieses Zeitraumes, von 1823—28, sahen sich die meisten Länder Europas in schwächere oder stärkere Epidemien ver­wickelt, deren Charakter freilich ausserordentlich wechselte.
1821 war die Mitte Englands von einer der umfangreichsten, aber milden Epidemien eingenommen (J. Forbes), 1823 und 1824 hatte Cambridge eine ähnliche; London verlor 1825: 1399 Personen an den Pocken (Gregory), die höchste Blatternsterblichkeit in dieser Stadt seit 1796 (wo sie 3549 betragen hatte). — In Hamburg und Umgegend, wo die Vaccination nur lässig betrieben war, herrschte eine Epidemie vom Februar 1823 bis Juni 1825, 1684 erkrankten und 273 starben. Hamburg theilte die Seuche erwiesenermassen, sowol durch Menschen, wie durch Waaren, an Preussen, an das Königreich Hannover und weiter an die anderen deutschen Staaten mit.
Berlin und Breslau blätterten IS23 und 18243), und in den Jahren 1823 bis 1826 war die Krankheit wieder über den ganzen preussischen Staat zerstreut. 1825 zog sie nach Mittel- und Süd-Deutschland. Nur die wenigsten Epidemien sind autgezeichnet wor­den, unter welchen die Würzburger (vom Mai 1825 an) insofern Be­deutung gewonnen hat, als sie Schönlein zur Annahme der Spe-
1)nbsp; J. A. Elsaesser, Beschreibung der Menschenpockenseuche in Würtem­berg in den Jahren 1814—17. Nach amtl. Mitth. 1820. — Cless, Impfung der Menschenpocken. 1872.
2)nbsp; Bremer, Hufeland's Journal. Mai 1815.
3)nbsp; Hufeland's Journal 1824.
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Die postvaccinale Periode.nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; 21
cificität der Varioloiden ftihi-te, und zu dieser, lange von seiner Schule aufreclit erhaltenen Lehre Veranlassung gab.
Von Würzburg kamen die Blattern 1825 nach Frankfurt a. M., um dann in fast alle Gegenden Süddeutschlands herabzusteigen ')• Doch kam Deutschland in dieser Periode, unter den Ländern Europas, am besten fort.
In Dänemark, das, mit dem Jeuner'sehen Schutzmittel frühe und innig vertraut, die Bekanntschaft der Pocken seit dem Anfange des Jahrhunderts verloren hatte, drangen sie erst wieder im De­cember 1823 ein, sie herrschten bis zum März 1825 in Kopenhagen zwar sehr verbreitet, hatten aber, wegen des guten Impfzustandes, nur eine geringe Mortalität im Gefolge-).
Nach Schweden waren die Blattern im Anfange des Jahrhun­derts häufig von Russland, das ihrer nie los wurde, eingeführt worden, wenngleich die Sterblichkeit keinen Vergleich mit früheren Zeiten aushielt. Diesmal siedelten sie von Westen her, von Amsterdam, via Gothenburg, über (1823), und bedeckten bald, mit Ausnahme weniger Gegenden, das ganze Land. Die Epidemie erlosch erst 1825, und war die erste namhafte, welche das Königreich seit der furchtbaren Verwüstung im Jahre 1800;0l erlebte. Confluente tödliche Formen überwogen. Schweden litt3) in dieser Zeit, nächst England, am meisten.
In Frankreich, wo die Republik, um den Anfang des Jahr­hunderts, sich der Schutzpockenimpfung energisch angenommen hatte, werden, bis in die Mitte des zweiten Decenniums, trotz der unauf­hörlichen Kriege, wenige und kleine, meist gutartige Epidemien an­getroffen; nur die zu Montpellier 18164) und zu Milbau 1817 5) er­schienen bedeutender. In den Kriegen des Kaiserreiches aber war die Vaccination verkümmert, und während der zwanziger Jahre wird das Land der Schauplatz überall auftauchender und langer Epide­mien, aus welchen die von Paris, Bordeaux, und namentlich die von Marseille hervorragen. In Paris starben vom 1. Januar bis 1. Oc­tober 1825, bloss in den Wohnungen der zwölf Arrondissements, 1264 Personen, je der fünfte von den Erkrankten. Am furchtbarsten jedoch verlief die Marseille!' Epidemie in den heissen Sommermonaten
1)nbsp; Eichhorn, Neue Entdeckungen über Menschenblattern. Leipzig 1S29.
2)nbsp; Möhl, De Varioloidibus et Varicellis. 1827.
3)nbsp; Englisches Blaubuch über Vaccination. London 1857.
4)nbsp; Berard et Lavit, Essai sur la variole. Montpellier 1818.
5)nbsp; Fönten eile, Description de la varicelle, qui a regne epidemiq. et con-jointement avec la variole dans Milhau. Montpellier 1818.
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22nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; I. Die Blattern.
Mai, Juni, Juli, des Jahres 1828. Die Blattern waren durch einen Arbeiter aus dem Departement der Niederalpen eingeschleppt. Es starben 1473 Personen, darunter 1071 ungeimpfte Kinder und Er­wachsene, und 45 solcher Personen, welche ihre Impfung nach­weisen konnten. Die Blattern nahmen sehr häufig, unter den ungünstigen Verhältnissen der engen, schmutzigen Seestadt, den hämorrhagischen Charakter an, und riefen die Londoner Pocken von 1670—72 in Erinnerung, welche Sy den ha ra geschildert hatte. Wie Marseille stand die Umgegend der Stadt und die ganze Provence unter der Seuche. Dieselbe gab dem Professor der Hygieine an der medicinischen Schule zu Marseille, Dr. Robert, den Stoff zu einer der werthvollsten und auf klärendsten Schriften, welche über die Blattern in Frankreich veröffentlicht sind1). Robert wies durch Impfungen nach, dass aus den mildesten Varioloiden echte und tödt-liche Variolen entstehen können, was die, damals bestrittene, Iden­tität des Contagiums beider sicher stellte. In keiner andern Epi­demie waren ferner so schwere und selbst lethale Varioloidfälle an Geimpften und Geblätterten, beobachtet worden. Aber noch wurde die Forderung der Revaccination nicht laut, obgleich glückliche zweite Impfungen, 15 Jahre nach der ersten, als „ merkwürdige Vor­fällequot; berichtet werden, und „ Alle, welche nach der zweiten Impfung gute Pusteln zeigten, von Blattern verschont bliebenquot;.
Gleichen Schritt mit Europa hatte Nord-Amerika gehalten. Nachdem die Blattern im Jahre 1818, angeblich durch deutsche Aus­wanderer in Lancaster (Massacbussets) eingeschleppt worden waren, tauchten sie alsbald in den verschiedensten Städten des Landes auf, anfangs nur milde Epidemien zu Wege bringend. 1821 waren sie wieder durch ein Schiff aus Liverpool nach Baltimore gebracht, wo sie bis zum Jahre 1823, mit pemiciösem Charakter, andauerten. 1823 erschienen sie in Philadelphia und New-York, dort starben, nach dem Berichte des Gesundheitsrathes, bis zum Februar 1824 über 300 Personen, New-York zählte von November 1823 bis Juni 1824 322 Todte; die Sterblichkeit repräsentirte ',5 der Erkrankungen. Man machte hier die Wahrnehmung, dass sich die Krankheit bei den Geimpften stets milder artete, als bei denen, welche zum zweiten Male blätterten. Auch wurde nicht übersehen, dass fast alle Ge­impften, welche erkrankten, nur Eine Narbe aufzuweisen hatten. Zu derselben Zeit grassirten zahlreiche Lokal-Epidemien im ganzen Be-
1) Robert, Precis historiques de l'epideniie, qui regne ä Marseille, et vues nouvelles sur la Vaccine. Marseille 1S28. Deutsch von Güntz. Leipzig 1830.
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Varioloiden.nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp;23
reiche der nordamerikanischen Union, von Georgien his Canada hin­auf. Auch Süd-Amerika (namentlich Chili) wurde von der Seuche überfluthet.
Die zahllosen Blattern der eben beendeten Periode (von 1816— 1830), welche zuletzt in eine beide Hemisphären umspannende Pau-demie ausgingen, haben gleichwohl jene Sehrecken nicht wieder heraufbeschworen, mit welchen ihr Name einstmals die Welt erflillt hatte. Denn in der grossen Masse war die Krankheit nicht mehr die ehemalige, sondern hatte, neben schweren und verderblichen Er­krankungen, überwiegend eine gemässigte Form auf die Ober­fläche geworfen, welche, an sich von hoher pathologischer Bedeutung, dieser Blattern-Periode eine bestimmte Signatur aufdrückt:
Die Tarioloiden.
Der Name ist von Thomson, in der schottischen Epidemie 1816—IS, unpassend gewählt, weil die Varioloiden wirkliche, nur graduell tiefer stehende, Blattern sind, und keine der Variola blos ähnliche Krankheit.
Sie stellen eine Blatternform dar, welche, bei gleichem Conta-gium, anatomisch auf einer geringeren Intensität der exanthe-matischen Hautentzündung beruht als die Var. vera, und deren klinische Charaktere in dem unregelmässigen, gesetzlosen Ausbruch des Exanthems, und in der schnelleren und unvollständigen Entwickelung der einzelnen Efflorescenzen bestehen. Dadurch wird eine Beschleunigung, ein kürzerer Verlauf der ganzen Krankheit bedingt. Alle übrigen, den Varioloiden beigelegten Eigenschaften, ihre Mildheit, das fehlende Eiterungsfieber, die selteneren Nachkrankheiten, folgen in der Regel aus jenem Verhalten des Exanthems, bilden aber keines­wegs die maassgebenden und entscheidenden Merkmale dieser Pocken­form.
Die Incubationsdauer, von durchschnittlich 14 Tagen, unterschei­det die Var. modificata nicht von der vera, und auch in der Dauer und Beschaffenheit des febrilen Invasionsstadiums macht sich im Allgemeinen wenig Abweichung von der letzteren bemerkbar — ein Beweis für die Gleichartigkeit des in beiden Fällen eindringenden Giftes. Allein die Eruption, welche nun folgt, geschieht nicht in dem stossweisen Vorrücken der Efflorescenzen, nach dem den echten Blat­tern eigenen anatomischen Princip, vom Kopfe abwärts über den Stamm nach der unteren Körperhälfte hin, sondern der Ausbruch
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I. Die Blattern.
erfolgt willkürlich und fast gleichzeitig auf der gauzen Hautfläche zerstreut. An Zahl meistens weit unter den echten Pocken bleibend^ häufig leicht zählbar, nicht selten durch wenige Exemplare vertreten, entstehen sämmtliche Varioloiden zwar aus Knötchen, setzen dann aber die weitere Entwickelung in mehr oder weniger unvollständiger Weise fort. Denn während die Efflorescenzen der Var. vera in ge­regelter Ausbildung, durch die papulose und vesiculöse Form, zur Pustulation fortschreiten, an welche sich die allmähliche Austrock­nung u. s. w. anschliesst, wobei die früher ausgeschlagenen Körper-theile den später befallenen stets um etwas voraus sind, fehlt den Varioloiden dieses fortschreitende Bild der Entwickelung. Ein Theil derselben verkümmert auf der Stufe der Knötchen- oder Bläschen­bildung; die Pocken aber, welche zur Reife kommen, beeilen sich damit, so dass häufig am achten Tage, wo die echte Variolapustel in Blüthe steht, schon ihre Austrocknung beginnt oder bereits ein­getreten ist: die exanthematische Hautentzündung bewegt sich eben, was Umfang, Tiefe und Intensität betrifft, in viel niedrigeren Graden und kann deshalb schneller ablaufen. Efflorescenzen der verschie­densten Entwickelungsphasen, bunt durch einander gemischt, bedecken den Körper des Varioloid-Kranken; vielen Pusteln fehlt sogar der complicirte Bau der echten Pocken, und eröffnet entleeren sie sich wie einfache Hohlräume. Eine Febris secundaria findet bei der ge­ringen Zahl eiternder Pocken, und bei der oberflächlichen Verschwä-rung des Coriums kein hinreichendes Substrat, und die Krankheit, welche oft mit dem Sturme der echten Variola anhebt, verrinnt, nach dem Erscheinen des Exanthems, im Sande. Es bleiben gar keine oder seichte, bald sieh verwischende Narben zurück.
In dieser eben skizzirten Eigenthümlichkeit der Entwickelung besteht das wesentliche und unumgängliche Kriterium der Var. mo-dificata, so unendlich zahlreich und höchst mannichfaltig ihre Ab­stufungen sein können. Denn von den schweren Fällen, welche hart an die confluenten Formen der Vera grenzen, und fast schon mit ihr verschmelzen, läuft abwärts eine vielgliedrige Kette von mehr und mehr modificirten Erkrankungen, deren letzte Glieder so unscheinbar werden, dass sie nur mit dem Aufgebot aller diagnostischen Hilfen als solche noch festgestellt werden können. So eignet sich die mo-dificirte Pocke, aus der jeweiligen variolösen Constitution des Erkrank­ten, einen durchaus individuellen Charakter an, welchem der generelle Typus der echten Blatternkrankheit gegenübersteht.quot;)
1) Zwar einfach, aber weder richtig und „praktischquot;, und noch weniger wissen­schaftlich, ist Hebra's Unterscheidung, welcher jene Pocken Varioloiden nennt,
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Varioloiden.nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp;25
Es ist die historische Seite der Varioloiden lange ein Tummel­platz der gelehrtesten Controversen gewesen1), weil man, als sie die Aerzte zu beschäftigen anfingen, sofort begriffen hat, wie stark die Pathologie bei der Entscheidung über das Alter der Krankheit betheiligt ist. Sind, wie Manche meinten, die Varioloiden Pocken, welche durch die Blattern-Inoculation ins Leben gerufen, und dann von der Vaccination gross gezogen wurden, oder lässt sieh ihre Existenz vor Inoculation und Kuhpockenimpfung, und unabhängig von denselben nachweisen ? in welch letzterem Falle die Varioloiden als selbststän­dige Aeusserung des Variolagiftes erscheinen wtirden.
Der geschichtliche Nachweis des allzeitigen Vorkommens der­selben kann mit zwingender Klarheit nicht geführt werden; die gut­artigen Blatternepidemien früherer Jahrhunderte, mit ihrer befrem­denden Mortalität von angeblich 1—3 Procent lassen nicht sicher erkennen, ob sie aus blos milden echten, oder aus wirklich mitigirten Pocken zusammengesetzt gewesen sind, und wenn Thomson meint, die Krankheit sei in allen Jahrhunderten, welche die Kenntniss der Variola verrathen, beschrieben, und von Razes ab sei immer auch von falschen oder Zwitterpocken, die später vesiculöse, Horn- oder Warzenpocken genannt werden, gesprochen, so bietet der schottische Autor keinen Verlass, weil er Varioloiden und Varicellen durchein­ander gewürfelt hat.
Indess, das Schicksal der Streitfrage hängt nicht von der Ge­schichte ab, wenn heutzutage jede Blatternepidemie unbestreitbare Beispiele von Varioloiden an solchen Personen vorführt, die vor­her weder geblättert haben, noch geimpft sind, gemeinhin gerade bei solchen Menschen, welche den wiederholten Vaccinationsversuchen getrotzt haben. Dieselben erfreuen sich von Natur, zeitlebens oder temporär, jenes niederen Grades variolöser Empfänglichkeit, auf welchen die künstliche Variola oder die Vaccine den Menschen zu setzen pflegt, und machen den Uebergang zu den seltenen Ausnahmen, wo das Variolagift absolut keinen Boden findet.
Wie die Vorgeschichte der Varioloiden beschaffen sein mag, die Fälle mehrten sich in Europa während des vorigen Jahrhunderts, als die Blatterninoculation allgemeine Praxis wurde, und die Empfäng­lichkeit für das Pockencontagium bei zahlreichen Individuen abge-
die zwischen der dritten und vierten Woche enden, während die Var. vera vier Wochen und darüber dauert. Darnach könnte die Diagnose erst bei der Ent­lassung des Kranken gestellt werden.
1) Fuchs, Die Hautkrankheiten. 1840. — Conradi, Bemerkungen über die Varioloiden. 1841.
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26nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; I. Die Blattern.
stumpft hatte. Ein grosser Theil selbst der inoculirten Blattern war, wie gezeigt werden wird, nichts anderes, als Varioloiden. Seit dem Anfange unseres Jahrhunderts jedoch, wo die Vaccination wie ein Lauffeuer durch die cultivirten Länder eilte, sind die modificirten Blattern fast mit jedem Jahre häufiger und allgemeiner geworden und, im dritten Deeennium zu den umfangreichsten Epidemien und Seuchen-zügen angewachsen, so in den Vordergrund getreten, dass die vario-löse Physiognomie des Zeitalters vollständig verändert erscheint. Die Aerzte wurden durch die grosse Mannichfaltigkeit ihrer Formen ver­wirrt, und dass sie gerade eine besondere Vorliebe für die Vaccinir-ten verriethen, machte sie vollends zu einer höchst unbequemen und fraglichen Erscheinung. Man schenkte ihr anfangs (namentlich in England, wo die ersten Fälle bei Vaccinirten vorkamen) gar keine Beachtung, und als die, immer lästiger sich vordrängende Krankheit den Aerzten eine Stellung zu ihr aufnöthigte, da wurde sie allgemein zu den Varicellen, welche damals nicht für Pocken galten, geworfen, oder, von einer Minderzahl der Aerzte, für eine besondere, genetisch von den Blattern zu trennende Krankheit angesehen. Die blinde Strenggläubigkeit an die infallible Vaccine hielt Sinne und Logik gefesselt. Selbst als ihre Variolennatur schliesslich nicht mehr fort-zuleugnen war, half man sich, bei den Geimpften, welche von Vario-lois befallen waren, eine unvollständige oder falsche Kuhpocken­krankheit vorauszusetzen.
In diese Verwin-ung brachte Thomson 1S20 Licht, aber während die Mehrzahl der englischen Aerzte ihm beitrat, und die Varioloiden als zweite Pockeuform anerkannte, schwankte man in Frankreich, wo die grossen gelehrten Körperschaften wiederholt zu Gutachten über die neue Krankheit herausgefordert wurden, noch lange hin und her, und in Deutschland klagte Schönlein Thomson der abermaligen Verwirrung an, und definirte die Variolois als eine eigenthümliche, formal zwischen Variola und Varicellen stehende, essentiell von ihnen grundverschiedene Affection. Sie sei nichts weniger, als eine durch die vorausgegangene Vaccination modificirte Variola, wenngleich sie bei Vaccinirten weniger heftig aufträte. Aus dieser Schule ertönte demnach folgerichtig die, auch heute nicht ganz verklungene wunder­bare Behauptung: die Vaccination schütze nicht vor Varioloiden!
Der Ausweg aus dem Labyrinthe der Meinungen konnte nur am Faden des Experimentes gefunden werden. Eine Anzahl deutscher Aerzte (s. Canstatt's Handb. der medic. Klinik. 2. Aufl. 1S47. II. Band) stellte in der Mitte der zwanziger Jahre, und Robert 182S, in der grossen Marseiller Epidemie, zahlreiche Inoculationen mit
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Variolois an, und erzeugte durch die Lymphe derselben sowol wieder Variola modificata, als Variola vera, jene bei Vaccinirten oder Vario-lirten, letztere bei Ungeimpften.
Es liegt demnach ein gleiches Contagium den echten Blattern wie den Varioloiden zu Grunde; beide sind nur graduell verschiedene Aeusserungen desselben Krankheitsstoffes; indem aber beide wiederum das nämliche Virus reproduciren, kann jede Form aus der andern sich erzeugen. Welche von Beiden im einzelnen Falle entsteht, das bestimmt die vanolöse Empfänglichkeit des Inficirten. Die Vario­loiden sind Variolae modificatae und mitigatae, Blattern, die verändert und gemildert worden sind entweder durch eine schwache variolöse Anlage, die natürliche Mitgift mancher Individuen, oder (das weitaus Häufigste) durch vorangegangene künstlich erzeugte Blattern oder Vaccinen. Die Abhängigkeit der Varioloiden von der Kuhpocken­impfung zeigt, sich in mehreren Parallelen: die Zahl der ersteren, und die ihrer Epidemien in den frühen Decennien unseres Jahr­hunderts richtete sich nach der Ausbreitung, welche die Jenner'sche Entdeckung in den einzelnen Zeiten und Ländern gewonnen hatte. England machte daher die ersten Erfahrungen von „Blattern bei Vaccinirtenquot;. Die Varioloiden wurden ferner nicht blos häufiger, sondern arteten sich auch schwerer, je weiter von den ersten Im­pfungen man sich entfernte, und es entging den aufmerksamen Beob­achtern nicht, dass die Heftigkeit der Erkrankung und das Alter der Impfung meist im geraden Verhältniss zu einander standen. Hatten die Varioloiden im ersten Decennium nach J e n n e r so unscheinbar aus­gesehen, dass sie von den Aerzten vernachlässigt werden konnten, so ward ihre Physiognomie mit jedem folgenden Lustrum eine strengere, bis die, in vieler Hinsicht denkwürdige Marseiller Epi­demie (1828) im Grossen den bösartigen Charakter, welcher sie dicht neben die schweren echten Variolen zu rücken vermag, ent­schleierte.
Die jüugste Periode der Blattern von 1850—1874
gleicht einem Rückfall in frühere Jahrhunderte. In den volkreichen Städten nicht mehr ausgehend haben die Blattern, in immer öfterer Wiederkehr, fast auf allen Punkten der Erde zahllose, meist weit um sich greifende Epidemien gesetzt, um zuletzt in eine Pandemic aus­zuarten, wie sie unser Jahrhundert, nach Umfang und Intensität, nicht erlebt hatte. Der vereinigte Einfluss der Vaccination und Re-
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vaccination ist in diesem Zeiträume keineswegs zu verkennen; die Pflege beider in den einzelnen Ländern bestimmte den Antheil, welcber ihnen von den Epidemien zufiel; die Variola hatte, nach wie vor, ihren Charakter als Kinderkrankheit eingebüsst, und erschien, wenn auch nicht so dominirend wie in den zwanziger Jahren, doch immer noch bei der grossen Mehrzahl der Erkrankungen unter den modifi-cirten Formen. Allein noch klarer hat sich herausgestellt, dass der gute Glaube, im Zeitalter der Impfung zu leben, für den erfolgreichen Kampf mit der Seuche nicht ausreichte, und dass geregeltere Impf­zustände, als die bisherigen, nothwendig waren, um nicht wieder in längst verflossene Zeiten hineinzutreiben. Die Blattern der letzten Jahrzehnte bedeuten weder einen Triumpf der Impfgegner, noch sind sie geeignet, die Leistungsfähigkeit der Vaccine zu messen. ')
Es lassen sich innerhalb der letzten 40 Jahre drei grosse Seuchen­gänge unterscheiden, von welchen der erste in die 30ger,. der zweite in die 40ger Jahre fällt, und der letzte, im 7. Decennium beginaend, mit dem Anfang des 8. (1870) zur höchsten Entwicklung gelangt. Die beiden ersten Male bewegten sich die Blattern im grossen Ganzen von Süden nach Norden, das letzte Mal von Westen nach Osten, und bilden die drei Züge, hinsichtlich ihrer Ausbreitung, Morbilität und Bösartigkeit, eine sehr deutliche Steigerung. Die Pandemic von 1869—1873 hat alles in diesem Jahrhundert Dagewesene weit hinter sich, und die zur Tradition abgeblasste Blatternfurcht wieder auf­leben lassen. Es könnte selbst, da nun, je näher der Gegenwart, die Epidemieberichte immer mehr sich häufen, die Erkrankungs­zahlen immer höher steigen, und immer beträchtlichere Verluste an Menschenleben uns entgegentreten, es könnte fast scheinen, als ob wir manches frühere Jahrhundert bereits überflügelt hätten, wenn wir uns nicht erinnerten, wie ganz andere Materialien zur Kenntniss der heutigen Variola uns zu Gebote stehen.
Nachdem die Blattern während der 20ger Jahre ununterbrochen in Frankreich geherrscht, und nach und nach fast alle Departements überschwemmt hatten, wandte sich die Seuche von Marseille aus (1828) nach Oberitalien 1829. Genua, das seine Blattern fast immer von Frankreich zu bekommen pflegte, überstand in diesem Jahre eine Epidemie, in welcher die Zahl der Opfer die Hälfte der Ge-
1) Wo keine besonderen Quellen citirt sind, liegen den historischen Berichten meist zu Grunde: Canstatt's Jahresbers und Fortsetzung, Schmidt's Jahr­bücher, das englische Blaubuch über Vaccination 1857, Haeser's Geschichte der Seuchen, 2. Aufl. 1853.
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burten betrug; Turin ward 1829/30 stark ergriffen. Von Oberitalien ging die Seucbe auf die österreichiscben Küstenländer über (Istrien 1830), um 1831 und 1832 nacb allen Eichtungen in das Kaiserreich zu dringen (Prag 1832), und die preussischen und sächsischen Grenzen zu überschreiten (Breslau und Chemnitz, Dresden, Leipzig, ziemlich mörderische Winterepidemie 1832/33). Ein andrer Zug derselben ging von Frankreich nach der Schweiz, von wo Baden, Baiern und Würtemberg angesteckt wurden. Der Epidemie, welche in Würtem-berg von 1831—1836 andauerte, entwuchs eins der wenigen werth-vollen Documente in der Blatternliteratur, die Schrift von Heim in Stuttgart1), In Frankfurt a. M. waren die Blattern 1832 -), in Ber­lin und dem gesammten Preussen fand ihre epidemische Häufung in denJ. 1832—1834 statt3) (Halle 1832 4)), in Meklenburg, Schleswig-Holstein und Dänemark 1833—1835 (Nagel u. Hoppe), in Schweden 1833 und 1834, London 1834. Das Jahr 1834 bezeichnet für Europa den Culmiuationspunkt dieser Blattern, welche, den Rest des Deeenniums nicht freilassend (Hamburg 1837, Frankfurt a. M. 1838, Wien 1838/39, Schweden 1838,39), in dem der Vaccination ab­geneigten England von 1837—1840 sogar eine ausserordentliehe Stei­gerung erfuhren; für London, wo die Epidemie 1838 gipfelte, ergaben die Sterbelisten in diesem Zeiträume 36,000 Blattemtodte.
Auch in Indien, und bald darauf in Nordamerika, bis zu den kältesten Landstrichen der Vereinigten Staaten hinauf, richtete die Seuche im Aufauge der 30ger Jahre sehr bedeutende Verheerungen an. Am Michigansee starben die Menomorre Indianer zu Hunderten bei einer Kälte von — 30 Grad R., in dem Lager der Mandons blieben von 1600 nur 35 am Leben. Aus diesen Gebieten wichen die Blattern auch während des übrigen Deeenniums nicht; 1837 rieben sie die Indianer an der Westgrenze der Vereinigten Staaten fast ganz auf. Der Prinz von Neuwied berechnet die damals gefallenen Opfer auf 60,000. — 1838/39 herrschten bösartige Blattern in Sidney (Australien).
Die vierziger Jahre bis in die ersten fünfziger zeigen eine aber­malige weite Verbreitung und Häufung der Blattern. Die Türkei und Italien scheinen die Herde gewesen zu sein, Frankreieh; Bel­gien, England und Schweden waren die Hauptsitze der Seuche.
1)nbsp; Historisch-kritische Darstellung der Pockenseuchen im Königreich Würtem-herg. Stuttgart 1838.
2)nbsp; Stricker, Studien über Menschenblattern u. s. w. 1861.
3)nbsp; Quincke, Charite-Annalen. Berlin 1855.
4)nbsp; v. Baerensprung, Ueber die Folge und den Verlauf epid. Krankheiten. Beobachtungen aus der med. Geschichte und Statistik der Stadt HaUe a. S.
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Die Epidemie in Hamburg währte vom December 1840 bis Oc­tober 1843, und hatte ihre Akme im Jahre 1842 mit gegen 4 pCt. aller Gestorbenen. Es wird berichtet von Epidemien in Breslau und Halle 1842,43, in Constantinopel 1842/43; auch Jerusalem, wo sich Pocken selten zeigen, hatte 1842 eine Epidemie, welche viele Kinder fortraffte1). 1844 herrschten Pocken in England (Epidemie von London), 1847—50 in der Schweiz (Zürich 1S4S), 1848—50 in Wtir-temberg, 1850 in Baden; in Köln und Halle 1849; Frankfurt a. M. und Chemnitz 1848/49. In Prag beginnt die Epidemie 1848, und ragt, mit mehreren Unterbrechungen, bis ins Jahr 1851 hinein-). Die Epidemie, welche sich 1848 in Schweden anmeldete, 1849 und 1850 schnell anwuchs, culminirte im Jahre 1851, und konnte erst 1855 als geschlossen betrachtet werden. Schweden hatte seit Ein­führung der Vaccination im Jahre 1851 den grössten Menschenver-lust an Pocken — auf 31,2 Millionen Bewohner 2488. — Im Juli 1851 überzogen die Pocken, welche schon einige Zeit auf den Westin­dischen Inseln geherrscht hatten, endlich auch Jamaika, welches seit 20 Jahren von ihnen verschont geblieben war, und deshalb die, früher vortrefflich geübte Vaccination vernachlässigt hatte. (Eng­lisches Blaubuch.) — 1851 — 53 grassirte die Seuche in St. Fran-zisko, vornehmlich unter den Indianern und Chinesen 3). In Persien war sie im Winter 1853,54. Im Frühling 1854 rafften die Pocken, nach zwölfjähriger Pause, in Jerusalem, wo die Impfung stets nur in massigem Umfange geübt war, 1600 Menschen fort.
In Europa epidemisirten dieselben im sechsten Decennium überall, und in den grösseren Städten wiederholt, doch im Durch­schnitt mit mildem Charakter: in England besonders 1851 und 1858 — im Innern von Frankreich und auf der französischen Ostseeflotte 1854, in Spanien 1856, in Italien hauptsächlich am Schlüsse des De-cenniums, 1858 in Turin, 1859 in Genua. In Deutschland sind zahl­reiche Epidemien verzeichnet, die von Breslau 1852/53 und 1850,57 (v. Pastau, Berl. kl. Wochenschr. 1864), in Hamburg 1852—1853, 1858-1860; in Chemnitz 1855/56 (Flinzer), in Dresden 1856 (Förster), Leipzig 1856 und stärker 1857 (Wunderlich), Halle 1856,57, Nürnberg 1858,60. Preussen verlor im Jahre 1853: 6734, und 1854: 7490 Menschen. In Würtemberg währte die Epidemie von 1858—60, zu gleicher Zeit in Oestreich (Prag, Wien).
1)nbsp; Tobler, Beitrag zur medic. Topographie Jerusalems. Berlin 1855.
2)nbsp; Löschner, Epidem. u. klinisclae Studien. II. Thl. 1868.
3)nbsp; Praslow, Californien in med. Hinsicht. Göttingen 1857.
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Vereinzelt in ihrer Bösartigkeit steht die Genfer Epidemie von hämorrhagisehen Blattern, März 1858 bis Februar 1859: von je 1000 Einwohnern des Cantons erkrankten ca. 21, und starben 2, 3 — im Ganzen 170 Personen. In 7 Procent der Fälle complicirte sich die Krankheit mit Blutungen (schwarze Blattern des Volks), und von diesen endeten 88 pCt. tödtlich l).
Erschütternden Zuständen begegnet man in Russland2), wo die Blattern, kaum von der Vaccination behelligt, während der Jahre 1856—59, über welche der officielle Bericht sich erstreckt, ununter­brochen in den meisten Gouvernements, oft gleichzeitig in fast allen, herrschten, und die einstigen berüchtigten Verheerungen wieder in Scene setzten. Kein anderes Land lässt die Spuren der Jenner'schen Entdeckung so wenig erkennen. In einzelnen Kreisen wurden aus-schliesslich Kinder von 1 — 7 Jahren die Beute der Seuche; die Mortalität schwankte im Jahre 1856 in den verschiedenen Gouverne­ments von 6 bis 30, 40 und (Astrachan) 50 pCt. Im Jahre 1857 starb in einzelnen Bezirken von drei oder vier Erkrankten einer, 1858 starb durchschnittlich der 5., 7., 10. und 15. Kranke, von Kin­dern je das dritte. Aber es kommen auch Angaben vor, wo von 74 er­krankten Individuen 23 unterlagen (Gouvernement Tobolsk), von 197: 73 (Podolien), ja von 78: 38 (Orenburg), und in einer Stadt des Taurischen Gouvernements von 1247 Erkrankten 333 — Zahlen, welche die schlimmsten Zeiten früherer Jahrhunderte auffrischen, und den Glauben ermöglichen, dass in den letzten 70 Jahren lOVa Millionen Bewohner Russlands von den Blattern verschlungen sind3), und dass diese eine Krankheit zu allermeist die grosse Sterb­lichkeit veranlasst, durch welche das Kaiserreich, trotz des Ueber-gewichts seiner Geburten, fast alle andern europäischen Staaten übertrifft4).
Die ganzen 60ger Jahre waren ein Blatterndecennium, und be­reiteten die dritte und höchste Steigerung am Anfange der 70ger vor.
Vom October 1861 bis Ende Juni 1863 herrschte eine, zu riesigen Verhältnissen anwachsende, aber milde und uncomplicirte Epidemie in Wien, die erste bedeutende seit 1838. Die Mortalität betrug im allgemeinen Kraukenhanse (siehe dessen ärztlichen Bericht) nur
1)nbsp; Marc d'Espine, Arch. gen. de Med. 1S59.
2)nbsp; Bericht über den Volksgesundheitszustand u. s. w. in Eussland während der Jahre 1856—59. St. Petersburg u. Berlin 1862.
3)nbsp; Angeblich officielle Mittheilung. Allgem. med. Centr.-Z. 1S70. 35.
4)nbsp; Blumenthal, Populationsverhältnisse Eusslands. St. Petersb. med. Zeit-schr. 1865. Bd. IX.
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32nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; I. Die Blattern.
5,23 pCt., während sie sonst in den Spitälern wol kaum unter 10 geht, gewöhnlich 12—20 pCt. ausmacht.
lu Sachsen waren für Dresden1) und Chemnitz2) 186^ und 64, ttlr Leipzig3) 1864 Blatternjahre. Hamburg hatte eine grosse Epidemie vom März 1863 bis November 1865 (Akme im Juni 1864). Die Blatterntodten betrugen mehr als 3:i/i pCt. aller Gestorbenen.
Das Königreich Würtemberg war in den Jahren 1862—67, namentlich 1864—66, der Schauplatz der verbreitetsten Epidemie, welche seit Einführung der Vaccination gesehen worden (Frölich4). Die Epidemie ward dem Lande von der Hauptstadt mitgetheilt.
Nachdem im Winter 186263 gehäufte Blatternerkrankungen in Oberfranken sich gezeigt, wurde Oberbaiern vom Februar 1864 bis October 1865 epidemisch ergriffen. Die Seuche war notorisch aus den Nachbarländern eingeschleppt. In München (April bis August 1863) war eine Papierfabrik der Ausgangspunkt, wo zu gleicher Zeit fast ein Dutzend Arbeiterinnen, die mit dem Sortiren und Bearbeiten von, aus Leipzig gekommenen Lumpen beschäftigt waren, erkrankten, und die Krankheit rasch in ihre Herbergen verstreuten. — Im März 1866 drangen die Blattern aus der Schweiz über den Boden­see nach dem Kreise Lindau, und von hier weiter in Baiern vor, dessen sämmtliche Provinzen mehr oder weniger stark ergriffen wur­den; 1867 war ihr Maximum, sie dauerten bis zum Herbst 1870 5). In der Schweiz hatten die meisten Cantone Blattern; Aargau vom November 1865 ab; Basel 1865. (Bernouilli.)
Im Haag war 1864 eine starke Epidemie, in Brüssel 1865. England überstand 1864 ein Epidemiejahr; in der Hauptstadt er­schienen die Blattern mehrmals epidemisch 1860, 1862 und 1867.
In Berlin wuchs die Zahl der Pockenkranken im Jahre 1863 auf 1270 (wovon 220 starben). Während der ersten Hälfte von 1864 gewann die Epidemie immer stärkere Verbreitung, fiel aber von der Mitte rasch ab,. (Gesammtzahl der Kranken für 1864 3319 mit 617 Todten = 18pCt.) Die Epidemie concentrirte sich aufs Früh­jahr, April, Mai, Juni. Im December 1864 flackerte dieselbe wieder auf, um, erheblich schwächer, das ganze Jahr 1865 anzudauern; dann gestalteten sich die Blattern-Verhältnisse Berlins bis zum Jahre 1870 günstiger6).
1) Förster, a. a. 0.nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp;2) Flinzer, a. a. 0.
3) Leo, Arch. f. Heilk., 5. Jahrg. 1865. — Wunderlich, Arch. f. Heilk.
#9632;1) Med. Correspondenzbl. der würtemb. Aerzte. 1867.
5)nbsp; Bayr. ärztl. Intelligenzbl., Jahrgänge 1865, 66, 67 u. 1873.
6)nbsp; E. Müller, Berl. klin. Wochenschr. 1866. 23.
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Breslau hatte von 1858—62 nur sporadische Blattern gehabt; im Januar 186^ begann eine sehr langsam sich entwickelnde Epidemie, welche bis zum April 1864 währte, und als Winterepidemie in den Monaten November, December 1863, und Januar und Februar 1864 culminirte, um dann rasch abzufallen. Fast alle Stände waren in ziemlich gleicher Stärke betheiligt. Es herrschte der sauguinolente Charakter vor, so dass die Variola cruenta neben der Diphtheritis laryngea die verhältnissmässig ungünstige Mortalität verschuldete. Ausserdem fanden sich auch bei leichten Pockenformen häufig Pe-techien und Purpuraflecken, vereinzelt bei jungen kräftigen Indivi­duen an solchen Korperstellen, wo ein roseoles Prodromal-Exanthem vorausgegangen war. Dann waren die Fälle nicht selten, wo unter heftigen Initialerscheinungen reichliche Petechien auftraten, welche sich mit der Ausbildung des eigentlichen Pockenexanthems resor-birten; die so Erkrankten genasen sämmtlich. — Entsprechend dem erythematösen Sehenkeldreiecke Hebra's im Vorläuferstadium wurde ein reichliches, rothes Exanthem, aus hirsekorngrossen, zum Theil masernähnlichen, zum Theil petechialen Flecken bestehend, beob­achtet, welches von der hintem Halsfläche aus nach der Supracla-viculargegend sich hinzog, hier verlor, und mit der Ausbildung des Exanthems erlosch. — In den Jahren 1868 und 69 hatte Breslau abermals eine mittelstarke Epidemie ')•
In Halle a. d. S. bestand 1866 eine kleine Epidemie.
In Königsberg i. Pr. eine solche 1864 und 1865, und eine er­heblich stärkere vom Herbst 1S66 bis Frühjahr 1867, worauf eine Pause bis 1S70 folgte.
Nach einem vorübergehenden merklichen Nachlass im Jahre 1868 kehrte die Seuche 1S69 in der Mitte und im Westen Europas wie­der zurück. Während dieses ganzen Jahres waren die Pocken über Sachsen, Thüringen u. s. w., freilich in massiger Stärke, verbreitet. (Jahresbericht des Landes-Med. Colleg. in Sachsen 1S70.) In dem­selben Jahre brach, nach dreijähriger Pause, in Würtemberg eine Epidemie aus, welche, wie die vom Jahre 1863, ihren Ausgang von Stuttgart nahm; wir werden ihr später begegnen, wie einer Anzahl anderer, gleichfalls aus dem Jahre 1869 entsprungener Epidemien.
Italien litt, die sechziger Jahre hindurch, vielfach von Blattern; u. A. machte Genua 1S64 und 1866 zwei starke Epidemien durch.
Aus diesen, sowie aus einer Reihe weiterer Angaben, welche des Zusammenhanges wegen später folgen, wird ersichtlich, wie wenig
') v. Pas tau. BerL kliu. Wochenschr. 1864, 42.
BoUq, Handbuch der Vaccination.
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Grund man hatte, überrascht zu thun, als sich die Blattern während der Jahre 1870 und 1571 rasch zu der verderblichsten Pandemiö des Jahrhunderts aufschwangen. Sie hatten ein Jahrzehnt hindurch gedroht, aber ihr Nahen und Wachsen war übersehen worden, zumal 1867 und zum Theil 1868 ein Rückgang erfolgt war.
In London wird der Beginn der Epidemie auf den November 1869 verlegt; immer steigend währt sie 1870 hindurch, und nimmt 1871 eine Besorguiss erregende Gestalt an; in einer Maiwoche 1870 starben 270 Personen, mehr als doppelt so viel, als in irgend einer Woche während der verschiedenen Epidemien von 1840 —1871. Zwanzig Pockenaufnahmen im Monat bedeutet im Londoner Pocken­spital ein sporadisches Vorkommen der Krankheit. Vom November 1869 bis October 1870 stieg die monatliche Aufnahme bis auf 178, die jährliche betrug für 1870: 1285 Kranke. Die Sterblichkeit in den Spitälern war eine sehr grosse, 13—20 pCt. Es kamen viel hämorrhagische Blattern vor (sämmtlich lethal), weniger bei Kin­dern, als bei Erwachsenen, welche durch Elend und Trunksucht heruntergekommen waren. Unter den, vom December 1870 bis Februar 1871 in das Blatternhospital zu Hampsted aufgenommenen 800 befanden sich 50 hämorrhagische Pocken, vorwiegend unter Ungeimpften und Trinkern, welche sämmtlich starben. In den Spi­tälern wiesen sich '/s bis beinahe [2 üngeimpfte aus, mit einer Mortalität von 38—45 pCt., gegenüber der Sterblichkeit von 7—9 und 10 pCt. bei Geimpften. Aus einem Vergleich der Epidemie mit der Tagestemperatur (zwischen dem 12. November 1870 bis 4. März 1871) ging hervor, dass ein auffallender Temperaturabfall die Aus­breitung der Epidemie zu begünstigen, eine starke Temperaturzu­nahme dieselbe zu schwächen schien. (Med. Times Febr. 1871, Lancet 1871.)
Neben der Londoner Epidemie gingen zahlreiche Epidemien durch ganz England und Irland, ans denen namentlich die von Brighton und Dublin hervorzuheben sind.
Auch die Pariser Epidemie befiel die Hauptstadt nicht plötzlich. Nach ministeriellen Angaben waren an Blattern in Paris gestorben im Jahre:
1860
328
Personen
1865 740 Personen
1861
549
n
1866 615
n
1862
476
n
1867 301
n
1863
398
n
1868 655
n
1864
384
1i
1869 723
n
her erst
um die Mitte
des
November 1869
erregte die Zahl
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der Pockentodesfälle die öffentliche Auünerksamkeit, und von da an hat dieselbe allwöchentlich zugenommen, und die Schrecken des Krieges und der Belagerung furchtbar gesteigert. l) Die nördlichen und nord­östlichen Arrondissements machten den Anfang: diese Vororte sind solche, wo sehr viele Wäscherinnen leben, und man hat dem Trans­port inficirter Wäsche eine bedeutende Eolle in der Verschleppung der Variolen zugetbeilt. Gegen Ende März 1870 hatte sich die Epi­demie über' ganz Paris verbreitet, und sowohl hierin, als in der zu­nehmenden Gefährlichkeit der Seuche ist die stetig steigende Mor­talität begründet. Es starben 1S7() im
Januar 174 Personennbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; Juninbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp;866 Personen
Februar
293
März
406
April
561
Mai
. 7S6
Julinbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp;983
nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp;Augustnbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp;697
vnbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp;September 741 „
October 1381
In den Civilhospitälern waren in den Monaten Januar bis Sep­tember (incl.) 9756 Fälle aufgenommen, von denen 1784 tödtlich endeten.
Von dieser Zeit ab gehen alle sicheren Nachrichten in dem Wirr­war der Belagerung unter.
Da, seit dem Beginn des J. 187(1, Blattern-Epidemien, meist bös­artige, auch in vielen anderen Gegenden Frankreichs herrschten, in Havre, Tarbes, Clermont, Lyon, Bordeaux, Perpignan u. s. w., so war es natürlich, dass die Seuche durch den Krieg bald über das ganze Land getragen wurde, und dass ferner die ungeheure Zahl von Gefangenen, welche durch Deutschland sich zerstreute, und die nach Belgien und der Schweiz Uebergetretenen das Contagium weit­hin verschleppten. Aber es ist ein, wenn auch naheliegender, Irr-thum, für die Pocken in diesen Nachbarländern nur Frankreich ver­antwortlich zu machen. Belgien und Holland hatten selbst die Krank­heit seit dem Anfange des J. 1870, und in Deutschland ging sie bereits während desquot; J. 1869 an vielen Orten im Schwange.
Mit dem Herbst 1870 erhoben sich die Blattern in Deutschland fast überall zur Epidemie, um in verschiedener Dauer die nächst­folgenden Jahre zu überziehen. Sie herrschten während des J. 1871 im ganzen preussischen Staate, überall ziemlich gleich hohe Morta-litäts-Procente ergebend. Seit 1816 war es die erste Pandemic des Staates. Innerhalb dieser 56 Jahre waren an Pocken gestorben
1) Union med. de Paris, Jahrg. 1ST0 u. 1871. — Arch. gen. de Mod. 1870 u. 1871. — Delpech, Rapport sur les faits de l'epid. variol. ä Paris. — Annales d'Hygiene, Tom. XXXV.
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36nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; 1. Die Blattern.
von 1000 Bewohiiem in 3 Jahren 0,09
„ 30 „ 0,10—0,20 „ U „ 0,21-0,40 „ „nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp;nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp;„ S „ 0,41-0,62.
Das Jahr 1871 zählt auf 1000 Einwohner 2,43 Pockentodte. Anders berechnet entfielen in den 56 Jahren auf die Pocken niemals 2 Pro­cent der jährlichen Todesfälle, während 1871; 2,13 sämmtlicher Ge­storbenen Blatterntodte waren. Im ganzen Staate wurden 59,839 Todesfälle an Blattern gemeldet. Die Mortalität der Lazarethe mit 16 Procent zu Grunde gelegt, würden sich darnach die Erkrankungen auf ca. 420,000 belaufen, was selbstverständlich viel zu gering istl). Berlin. Nachdem in dem Zeitraum von 1865—1869 182 Todes­fälle an Pocken in den amtlichen Listen verzeichnet waren, ist das J. 1870 allein mit 171 repräsentirt. Die wirkliche Epidemie begann mit dem December 1870, um vom Anfange 1871 rasch anzuwachsen, im Juni und December zwei Culminationspuukte zu erreichen, und erst im Juli 1872 abzuschliessen. Sie übertrifft alle ihre Vorgän­gerinnen, seit Einführung der Schutzpockenimpfung, an Ausbreitung und Intensität. Die amtlich aufgestellten Erkrankungen und Todes­fälle sind, wie überall, weit unter der Wahrheit geblieben, und doch aussei- allem Vergleich mit den vorangegangenen 70 Jahren. Es wurden im J. 1871 und in der ersten Hälfte von 1872 20,476 Er­krankte angemeldet, durch Todtenscheine beglaubigte Todesfälle sind 6478 vorgekommen. Während der jährliche Procentsatz der Pocken — zu den Gesammt- Todesfällen in Berlin, im Laufe dieses Jahr­hunderts, selten 1 überschritten, und nur in der Epidemie vom Jahre 1864 auf 3,45 gestiegen war, beziffert er sich für 1871 mit 15,70 und für 1872 (die stetig fallende Epidemie ging nur bis zur Hälfte) auf 3,82. — Die Epidemie erreichte den enormen Umfang ohne Frage wegen der Anhäufung so vieler Ungeimpfter, indem das Vacciniren in den letzten Jahren in Verfall gerathen war. Es ist berechnet worden, dass beim Beginn der Epidemie mindestens 20,000 Unge-impfte vorhanden waren, daher die furchtbare Kindersterblichkeit. Ausserdem traten aber auch die bösartigen Formen der Variola, vor Allem die hämorrhagischen, deren in diesem Jahrhunderte selten, im vorigen öfter Erwähnung geschieht, in grosser Zahl hervor. Sie sind am häufigsten während des Höhepunktes der Epidemie vorge­kommen, und in den Lazarethen wurden ca. 25 pCt. von den Todes­fällen durch sie veranlasst.
1) Guttstadt, Die Pockenepidemie iu Preussen, insbesondere in Berlin, 1870— 1872. Nach amtl. Quellen, Zeitschr. des Kgl. Preuss. statist. Bureaus. Berlin 1873.
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Jüngste Periode der Blattern v. 1830—1S74.nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp;37
In auffallender Uebereinstimmung mit Berlin befindet sich Bres­lau l)- Die Epidemie beginnt im Januar 1871 und erlischt April 1872, an Ausdehnung und Heftigkeit die schwerste seit dem An­fange des Jahrhunderts. In beiden Städten war, in den letzten 20 Jahren, jede neue Epidemie verheerender, als die vorherige, gewesen. In der Breslauer Epidemie wurden 7309 Erkrankungen und 1245 Todesfälle gezählt, und, wie an vielen anderen Orten, zahlreiche blutige Pocken beobachtet; so im Allerheil. Hospital, unter 2416 Kranken, 182 Fälle mit 162 Todten. Man unterschied zwei Formen: 1) solche, wo sich in den Efflorescenzen und in der Basis derselben Blut zeigte, und 2) die eigentlich hämorrhagischen, wo Blutungen in die Haut und in die inneren Organe ohne Ausschlag, oder mit einem sehr spärlichen verbunden, erfolgt waren; von den letzteren genas keiner.
Seit Anfang April 1871 heftig auftretende Epidemien in den Städten Oberschlesiens.
In Königsberg i. Pr. constituirte sich die Epidemie im Herbste 1870, culminirte in den ersten Monaten von 1871, und verlor sich langsam in der zweiten Hälfte des Jahres. Die Epidemie schien sich zeitlich und örtlich an die französischen Kriegsgefangenen an­zulehnen, doch bleibt der Zusammenhang fraglich.
In Danzig2) begann die Epidemie, mit schwachen Anfängen, im September 1870, stieg erheblich im 5. Monat (Januar 1871), und hatte ihre Höhe im April, Mai und Juni 1871, hielt sich dann in ziemlicher Intensität 6 Monate hindurch, um im Januar und Februar 1872 eine zweite, aber geringere Anschwellung zu machen, und er­losch allmählich im October 1872 — hatte also volle 2 Jahre ge­dauert. Sie ist auf die ersten französischen Kriegsgefangenen von Wörth und Weissenburg nicht zurückzuführen, aber ebenso zweifel­los ist, dass die Ankunft der Metzer Gefangenen, welche von dem Pockengifte stark inficirt waren, die Epidemie, welche ohne diesen Zwischenfall in der gewöhnlichen Weise, kaum merkbar, verlaufen wäre, zu einem, seit Menschengedenken unbekannten Umfange an­fachte. Polizeilich angemeldet waren von der Civilbevölkerung Danzigs, welche im December 1871 71,271 Köpfe zählte, 2748, was eine Morbilität von 3,85 Procent ergibt. Pockentodte sind notirt 832 = 30,38 Procent der Erkrankten, oder 1,17 Procent der Bevöl­kerung. Die grössere Lethalität fiel in die Sommermonate.
1)nbsp;v. Pastau, Deutsches Arch. f. klin. Med. 1S72.
2)nbsp;Li^vin, Deutsche Vierteljahresschr. f. öffentl. Gesundheitspfl. 1873.
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38nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; I- Die Blattern.
Halle a. d. S. wurde seit Ende März 1871 in die allgemeine Epidemie hineingezogen, welche im Mai einen sehr bedrohlichen Charakter annahm, und Ins in das J. 1872 hintibergriff. Von 52,450 Einwohnern starben im J. 1871 207.
In 19 Städten und Kreisen des Regierungsbezirks Düsseldorf be­trugen die Erkrankungen vom Beginn der Epidemie (Herbst 1870) bis zum October 1S71 15,799. Von 15,4S1 derselben waren 3070 Menschen gestorben = 19,83 Procent.
In Leipzig (Wunderlich, Thomas u. E. Wagner1)) ent­stand die Epidemie im November 1870; der erste Pockenkranke war ein französischer Kriegsgefangener; ihre Höhe trifft auf die Monate März, April und Mai 1871, ihr Ende bezeichnet erst der März 1872. Es starben 1027 Einwohner, fast 1 Procent der lebenden Bevölkerung. Die ungünstigsten Mortalitätsprocente lieferten die ungeimpften Kin­der. Kein einziger Geimpfter unter 8 Jahren kam in Behandlung. Sehr deutlich liess sieh der Einfluss erkennen, welchen die Ausbrei­tung der Epidemie auf die Sterblichkeit hatte, indem mit der Ver­minderung der Erkrankungsfälle die tödtlichen nicht nur absolut, sondern auch relativ abnahmen.
Chemnitz hatte schnell hintereinander zwei Epidemien, die erste vom Januar 1870 — April 1871, die zweite, welche jene be deutend tibertraf, im J. 1S72. Wir kommen in einem folgenden Abschnitt auf diese, von Flinzer2) vorzüglich dargestellte Epidemie zurück, und fügen hier nur bei, dass 5 Procent der Bewohner von Chemnitz an Pocken erkrankten.
In Thüringen grassirten Epidemien von 1869 bis 1872, und zeichneten sich in Weimar (1871) durch grosse Bösartigkeit aus (Pfeiffer).
Auch in Würtemberg hatte die Epidemie bereits 1869 auge­fangen; sie währte das ganze Jahr 1870 hindurch und setzte sich, mit verminderter Heftigkeit, noch weit in 1871 hinein fort; die Dauer war also, gleich der ihrer Vorgängerinnen in diesem Lande, eine 3—4-jährige, aber an Intensität überholte sie alle früheren (Cless a. a. O.).
In Ober-Baiern war die vorhergehende Epidemie eben fast erloschen, als, Herbst 1870, plötzlich eine bedeutende Zunahme der Er­krankungen stattfand; 1871 wurde eine früher nie erreichte Kranken­zahl notirt (5658 mit 832 Todten). Ende October 1872 war die
1)nbsp; Archiv f. Heilkunde, IST2.
2)nbsp; Mittheilungen des statistischen Bureaus der Stadt Chemnitz. I. Heft. Chemnitz 1873.
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Jüngste Periode der Blattern v. 1830—1874.nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp;39
Epidemie ziemlich am Ende. München, Nürnberg und vor Allem Augsburg hatten stark gelitten.
In Baden, wo seit 18G5 die Pocken leicht epidemisirten, er­hoben sie sich 1870 und namentlich 1871 um die fast achtfache Zahl.
Frankfurt a. M. blätterte 1871.
Seit August 1870 bis in den April 1872 (20 Monate) herrschte in Hamburg eine Pockenepidemie, wie sie, der Zahl der Erkran­kungen und Todesfälle, und der Grosse der Mortalität nach, in diesem Jahrhundert noch nicht vorgekommen war '). Einige Monate mit über­normaler Häufigkeit der Erkrankungen gehen der Epidemie voraus. Die Bevölkerung von Hamburg betrug nach der Zählung von 1871 235,361 Seelen, gestorben sind etwa 4000 Personen an Variola und erkrankt ca. 18,600 — es erkrankten demnach etwa 9,7 und starben 1,7 pCt. an Pocken —, Kinder waren vorwiegend ergriffen; unter obiger Einwohnerzahl befanden sich ca. 36,000 Kinder bis zu 5 Jahren, von diesen erkrankten 12 und starben 5,5 pCt.
Wien2) wurde von November 1871 bis Juni 1873 von der ver­heerendsten Epidemie dieses Jahrhunderts heimgesucht, und die für gewöhnliche Zeiten hinreichenden Belegräume in den öffentlichen Krankenanstalten genügten der rasch anwachsenden Zahl der Blattern-kranken nicht, so dass communale Hilfshospitäler geschaffen werden mussten. Die Seuche hatte, in ihrer ersten Hälfte, bis zum Aug. 1872 besonders auf die Kinderwelt sich geworfen, wurde dann aber ebenso verhängnissvoll für die Erwachsenen. In der ersten Zeit bot die Mortalität keine ungünstigen Procente, die sich erst später auffallend verschlechterten. In den fünf vorangegangenen Jahren, vom Novem­ber 1866 bis October 1871, waren in Wien 1599 an Blattern ge­storben und der Monatsdurchschnitt hatte 26,6 Todte betragen. Im November 1871 starben 65, und von da ab stieg die Blatternsterb­lichkeit ununterbrochen, und ziemlich gleichmässig von Monat zu Mo­nat, bis auf 427 Todte im October 1872. Mit dem December 1872 ermässigte sich die Epidemie, welcher im Ganzen, laut dem statist. Bureau Wiens, 4415 Individuen erlegen waren. Die ärmere Bevöl­kerung hatte das Hauptcontingent gestellt.
Die Epidemien von 1870 und 1871, welche durch ganz Italien verbreitet waren, gehörten auch hier zu den hartnäckigsten und tödtlichsten dieses Jahrhunderts; keine Provinz blieb frei, keine grössere Stadt verschont. Die ausserordentliche Sterblichkeit musste
1)nbsp; Knecht, Arch. f. Dermat. u. Syphilis, 1872.
2)nbsp; J. Neumann, Aerztl. Bericht über das städt. Blattern-Spital Zwischen­brücken. Wien 1874. — Oesterreich. Zeitschr. für prakt. Heilk. 1872, No. 51.
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40nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; I. Die Blattern.
man zum Theil der häufigen Variola haemorrhagica zuschreiben. M a r -t o r e 11 i schildert einige der hauptsächlichsten Epidemien. •) In den 60er Jahren hatten die Blattern, wie überall in Europa, in vielen Provinzen der Halbinsel nicht gefehlt, waren aber, mit Ausnahme der Distriete von Mailand und Brescia, 1868 und 18G9, meist spora­disch und gutartig aufgetreten. In Genua, wo die Pocken häufig wiederkehren, nahm die Epidemie im Mai 1870 ihren Anfang, wuchs sehr schnell an (von Mai bis Juli 448 Erkrankungen mit 156 Todes­fällen), gipfelte im August und September mit 1526 Kranken und 507 Todten und fiel langsam bis zum März 1871 ab. Diese stärkste aller letzten Epidemien kostete Genua 4435 Kranke und 1255 Todte-Nachlässigkeiten in der Impfung werden vornehmlich angeschuldigt, viele Geborene waren gar nicht vaccinirt. Die Ansteckung verbrei­tete sich sehr schnell über einen grossen Theil der ligurischen Küste, wo die Seuche bis Ende 1871 anhielt und 2879 Opfer forderte; die Zabl der angemeldeten Kranken 6694 steht damit in zu grellem Miss-verhältniss, um die wahre zu sein. Von den 3153 Ungeimpften starben 1518 und von 3541 Geimpften 554. — Die Stadt und Provinz Turin machte, von Mitte Mai 1870 bis Ende 1872 (Höhe Januar 1871), eine ungefähr über 212 Jahre gedehnte Epidemie durch, welche aber. Dank der in den Gebrauch der Bevölkerung tibergegangenen guten Impfung, keine weiten Dimensionen annahm. Ebenso in den anderen Provinzen von Piemont. Angezeigt waren 10,558 Erkrankungen und 1510 Todesfälle, Nichtrevaccinirte 4531 mit 1176 Todten, Vaccinirte 6000 mit 320 Todten.
In Mailand standen, unter den Todesursachen des Jahres 1871, die Blattern mit 12,74 pCt. der Gesammtmortalität obenan. Abwei­chend von den gewöhnlichen Erfahrungen steuerte die Altersstufe vom 20. bis 39. Lebensjahre die schwersten Erkrankungen und die meisten Todesfälle bei; dann erst folgten die Jahre von 0—9. — In Rom begann die Epidemie October 1871 und dauerte bis tief in 1872 hinein. Sie stürmte anfangs heftig ein (von October 1871 bis Ende Januar 1872 524 Todte), verlief dann aber milder. Die Gründe für diesen ungewöhnlichen Gang werden nicht angegeben. Vielleicht sind sie darin zu suchen, dass der Schrecken vor den Pocken viele Re-vaccinationen veranlasste. Im Jahre 1872 befanden sich unter 737 gestorbenen Individuen 67,6 pCt. Kinder unter 5 Jahren.. —
Kopenhagen wurde vom November 1871 bis über die Hälfte des Jahres 1872 von der Epidemie ergriffen: es war die bösartigste
1) Rapporte gener. statist, sulle Vaccin. ed Epidem. vajuol. Torino 1873.
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Jüngste Periode der Blattern v. 1830—1874.nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp;41
der acht Epidemien, welche die Stadt seit 1810, wo eine strenge Vaccination eingeführt worden, erlebt hatte.
Nach der Schweiz drangen die Blattern im Laufe der Jahre
1870nbsp; und 1871, zumeist von Frankreich her; im Herbst 1870 nach Basel-Stadt, wo die Epidemie von Ende November 1870 bis August
1871nbsp; nbsp;dauerte und von Januar bis April am stärksten war. Die Blat­tern bedingten 5—6 pCt. der Gesammtmortalität, statt des 0,7 pCt. im Vorjahre 1870. Die Kürze der Epidemie rührt wol daher, dass 4/5 der Kranken ins Spital gebracht werden konnten, während z. B. in London, im Februar 1871, die Spitalverpflegung für nur Vs der Blatterukranken ausreichte ')• — Genf hatte eine schwere Epidemie.
Im Ganzen betrachtet nahm die Pandemic dieser Jahre in Eu­ropa ihren Weg von Westen nach Osten. Nach Warschau kam sie im Frühjahre 1871, später nach Petersburg, wo sie neben der im Zunehmen .begriffenen Cholera und neben Typhus grassirte, und und zahlreiche Opfer hinstreckte.
Ueber die aussereuropäischen Blattern dieser Jahre sind die Nachrichten spärlicher eingegangen, stellen jedoch die allgemeine Verbreitung der Pandemic auf der ganzen Erde aussei- Zweifel. In Cincinnati hatten die Blattern bereits von 1868 — 70 epidemisirt; 1871 wütheten sie in Philadelphia, es starben 1879 Menschen, was auf 10,000 Lebende 27 Blatterntodte machte, während für London nur 24 ermittelt worden sind. Auch andere Städte der Union wurden schwer heimgesucht. New-York kam (1870 und 1871) gelinder fort. In Vera-Cruz, wo die Blattern in beschränkter Weise fast alle Jahre auftreten, erhoben sie sich, Sommer 1872, zu einer mörderischen Epidemie, welche von der Hauptstadt aus, längs der grossen Strasse sich fortpflanzend, sehr viele Menschen hinwegraffte. Der Wider­stand der Bevölkerung gegen die Impfung, die Nachlässigkeit mit welcher bisher diese gesetzlich gebotene Maassregel ausgeführt wurde, hatten der Seuche die Wege geebnet2). — In Südamerika reiht sich Valparaiso 1870 mit einer bedeutenden Epidemie an.
In Asien wurden in den Jahren 1870 und 1871 zahlreiche Variola-Epidemien im Punjab und in den Centralprovinzen Indiens, nicht minder in Calcutta, Bombay u. s. w. beobachtet, immer in den ersten Monaten des Jahres, und mit der Regenzeit erlöschend.
1)nbsp; Siehe den musterhaften „Bericht über das Blatternspital u. s. w.quot; von Dr. Wilh. Bernouilli. Basel 1S72.
2)nbsp; Dr. Heinemann, Bericht über die in Vera-Cruz während der letzten 6 Jahre beobachteten Krankheiten. Virch. Arch. 58. Bd.
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#9632;#9632;#9632;
42nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp;I. Die Blattera.
Resume.
Fassen wir, die Einzelheiten der vorangegangenen Darstellung gruppirend, die Hauptzüge der Seuche im raschen Ueberblick zusammen, so lehrt ein Vergleich des Einst mit dem Jetzt, dass die Macht, welche die Blattern bis ans Ende des XVIII. Jahrhunderts zur schwersten aller menschliclieu Plagen befähigte, heute nicht mehr in ihren Händen ruht, und dass nur die Vaccination als jenes be­deutende Hinderniss bezeichnet werden kann, welches der Seuche auf ihrem Wege entgegengeworfen ist.
So hat die geographische Stellung der Blattern in unseren Tagen sich derart gestaltet, dass dieselben, auf europäischem Boden und unter der weissen Bevölkerung Nord-Amerikas zwar das häufigste acute Exanthem bildend, doch in die gleichen, weit engeren Grenzen, als früher, gedrängt sind, wenn sie sich auch, befreit von der Fessel der Vaccination, geeignet erwiesen haben, jederzeit wieder'die Geissei über diesen Kationen zu schwingen.
In Central- und Süd-Amerika dagegen, und unter den Indianer­stämmen der westlichen Wildnisse Nordamerikas, sowie in den übrigen Welttheilen tritt die Variola noch immer überwiegend in ihrer natürlichen Gestalt auf, unbeirrt durch das heilsame Präser­vativ Jenner's, ja vielfach gefördert durch die autochthone Sitte der Blatterninoculation.
Am verbreitetsten und verderblichsten herrschen die Blattern in Egypten, Nubien und anderen Ländern des nordöstlichen Afrika, wo sie, nächst der Ruhr, die verheerendste Seuche sind. Ihre Häufig­keit und Gefährlichkeit wächst mit der Annäherung an die inneren Gegenden dieses Welttheils, stromaufwärts vom Nil; sie scheinen hier, die alleinige mächtige Seuche, bestimmt, der Pest in den unteren Nilländern, der Cholera in Indien, und dem gelben Fieber in Amerika zu entsprechen. Bis wie weit nach Süden diese allgemeine Herr­schaft reicht, muss unentschieden bleiben, doch scheint die Krank­heit in den östlichen und westlichen Küstenländern, sowie jenseits der Wüste im Innern Südafrikas eine nicht weniger unheilvolle Rolle zu spielen, und in Algier tritt sie gleichfalls so häufig, als bösartig auf').
Asien, mit seinen höchst ungleichen, im Ganzen durchaus un­zureichenden Impfzuständen, hat der Seuche, bis in die neueste Zeit, ungeheure Tribute gezollt2). In einer ausführlichen Abhandlung
1)nbsp; P run er, Die Krankheiten des Orients,
2)nbsp; Po lack, Wien. med.Wochenschr. 1S53. 32. — Report of the Small-Pox etc. Calcutta 1850. — A. Hirsch, Schmidt's Jahrb. Bd. 95. S. 255.
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Resume.nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; 43
vom Jahre IStiO theilt der englische Militärarzt und Impfungs-Super­intendent für Nordwest-Indien Pringle mit1), dass z. B. in Doab, einem District von 9 Millionen Seelen, nicht weniger als 95 pCt. die Spuren überstandener Blattern an sich trugen. Die Pockensterblich­keit streifte in Gegenden, wo keine Prophylaxe geübt wird, an ein Aussterben der Bevölkerung, erreichte bei jungen Kindern zuweilen 80 pCt. und ging fast niemals unter 40 pCt. Der Fatalismus der Eingeborenen beugt sich unter die Seuche, wie unter eine göttliche Fügung. — In den grossen Städten Chinas sind die Blattern stationär, und gewinnen in der kalten Jahreszeit epidemische Verbreitung.
Das Festland von Australien kennt die Blattern erst seitdem Ende des XVIII. Jahrhunderts, doch bereits in einigen sehr furcht­baren Epidemien.
Auf Neu-Seeland, van Diemensland, und dem grössten Theile des australischen Polynes waren die Blattern, bis vor einem Jahr­zehnt, noch vollkommen unbekannt. —
Das Klima, die Bodeubeschaffeuheit, die wechselnde Erhebung über dem Meere kommen bei den Blattern gar nicht in Frage. Auf jedem Punkte der Erde beobachtet, und überall, wo sie hingetragen wurden, sofort Fuss fassend, reihen sich, hinsichtlich der Ausbrei­tung und Bösartigkeit, die Epidemien des hohen Nordens denen der Tropen ebenbürtig an.
Aber sind die Blattern — die Einzelfälle wie die Epidemien — heute noch immer dieselbe Krankheit, als ehemals, oder haben sie ihren Charakter geändert? Die Varioloiden, welche die Phy­siognomie der postvaccinaleu Epidemien deutlich gemildert erscheinen lassen, können bei dieser Frage nicht mitsprechen, weil sie zum grössten Theile auf Rechnung der Vaccination gestellt werden müssen. Dagegen Uussern sich die, von der letztern unberührten Blattern heute ganz so, wie zu allen Zeiten, welche Schilderungen der Krank­heit hinterlassen haben. Immer hat man gutartige Fälle und Epide­mien gekannt, und andrerseits kann die Seuche ihre pestilentialische Natur heute wieder in so schrelaquo;khafter Weise vorkehren, wie jemals in früheren Zeiten. Was von variolösen Erblindungen und Verkrüp­pelungen aus ferner Vergangenheit herübertönt2), haben Po lack in Persien, wo die Vaccination wenig mehr als dem Namen nach be-
1)nbsp; Lancet, I. 1869.
2)nbsp; Siehe Adler, Die #9632;nährend und nach der Variola auftretenden Augen­krankheiten. Wien 1ST4.
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44nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; I. Die Blattern.
kannt war, vor zwanzig Jahren, Morache in den 60er Jahren in Peking, mit eigenen Augen gesehen, und die Sterblichkeit gipfelt in den, der Vaccination verschlossenen oder abholden Ländern, und in manchen unserer Hospitäler auf antivaccinaler Höhe. Mit den hämorrhagischen Blattern haben wir die Vergaugenheit sogar über­flügelt. Zuerst in Marseille 1828, dann in Genf 1858/59 die Er­innerung an die schwarzen Pocken Sydenham's auffrischend, häuften sie sich in den späteren Epidemien mehr und mehr, um endlich, als erheblicher Bruchtheil der Erkrankungen in den grossen Städten, einen fast charakteristischen Zug der Blatterajahre 1870—72 zu bilden. Steckt, angesichts solcher Vorgänge, ein Sinn in der Be­hauptung mancher Impfgegner, dass die fortgeschrittene Cultur des Jahrhunderts die Krankheit auf eine mildere Form herabge­drückt habe?
Das Pockengift ist dem menschlichen Organismus durchaus fremd­artig, und die variolöse Erkrankung keine nothwendige, wie Razes lehrte, und Hoff mann durch seine „ Pockendinisenquot; anatomisch be­gründen wollte. Dieselbe war grossen Völkerschaften, und vielleicht ganzen Erdtheilen, Jahrhunderte lang fremd, und ist es entlegenen Eilanden noch jetzt. Aber die Empfänglichkeit des Menschen für das in seine Nähe gebrachte Virus gibt sich als eine überaus energische, fast absolute kund. Nur die Masern finden ein ähnliches Entgegen­kommen, während der Scharlach weniger allgemein um sich greift.
Kein Lebensalter geniesst gänzliche Immunität, doch besitzt das kindliche, wie für alle acuten Exantheme, auch für die Blattern eine hervorragende Prädisposition, während der Typhus mit gleicher Ent­schiedenheit dem Blüthenalter zugeneigt ist. Jene Bevorzugung der Kinder durch die Seuche ist zu allen Zeiten angemerkt worden, die Krankheit führte bis in dieses Jahrhundert hinein schlechtweg den Namen der Kinderblattern, und rechtfertigt, bei gebotener Ge­legenheit, auch heute diese- Bezeichnung. Durch die Inoculation, mehr noch durch die Kuhpocken-Impfung wurde jedoch die natür­liche Blatternanlage verschoben, und die stärkste MorMlität in spätere Decennien, in das 15.—30. Lebensjahr hineingedrängt. Ob die all­gemeine Disposition zu den Pocken mit dem höheren Lebensalter von selbst sich einschränke, wofür die Beobachtung zu sprechen scheint, kann erst auf Grund einer sicheren Pockenstatistik, die bis­her fehlt, beurtheilt werden; ein allgemeines Erlöschen der Dispo­sition findet jedenfalls nicht statt.
Wenn die absolute Sicherheit vor der Ansteckung nur ver-
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Resumö.nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp;45
einzelten Menschen als Mitgift zu Theil geworden ist, so scheiut eine zeitliche Immunität öfters zu bestehen.
Dagegen erweist sich die grosse Mehrzahl der Menschen nur einmal im Lehen befähigt, das Contagium aufzunehmen und zu reproduciren. Manchen erfahrungsreichen Beobachtern älterer Zeit (van S wie ten, Stell, Lieut au d) sind zweite Erkrankungen niemals vorgekommen. Im zweiten und dritten Deeennium unseres Jahrhunderts wird von einer zunehmenden Vermehrung zweiter Er­krankungen berichtet, die sich fernerhin erhalten hat. Das Ver-hältniss der zwei- zu den einmaligen Blattern wurde geschätzt
von Oondamine wie 1 : 50000,
von Heberden wie 1 : 10000,
von anderen englischen Aerzten 1 : 8000,
von Eichhorn wie 1 : 250,
Robert in Marseille berechnet es 182S wie 1 : 75,
Heim in Würtemberg (1831—36) 1 : 29.
Im Breslauer Allerheil. Hospital war in der Epidemie 1863 64 unter 988 Kranken 1 pCt. zum zweiten Male befallen, in der Wiener Epidemie 1860 —1863 sogar 8 pCt., doch ist hier den Angaben der Kranken wol zu viel getraut. Zwischen der ersten und zweiten Erkrankung lagen, nach v. Pas tau in Breslau, 5, 15, 16, 17, 18, 19, 26 und 39 Jahre; derselbe erwähnt auch eine Familie, in der ein Bruder und zwei Schwestern, von welchen die älteste 22 Jahre alt war, bereits zweimal geblättert hatten. Ein Seiten­stück zu jenen ganzen Familien, welche einige Generationen hindurch nie an Blattern gelitten (S a c c o). Das Ueberstehen sehr bösartiger Blattern schützte keineswegs vor einer zweiten Infection, welche öfter gerade nach solchem Vorausgange erfolgte. Die zweiten Er­krankungen verlaufen bald erheblich leichter, bald bei weitem ge­fahrvoller, so dass hier von vornherein keine sichere Prognose zu­lässig ist. Todesfälle beim zweiten Erkranken sind durchaus nicht unerhört. Es muss für dergleichen Fälle wol eine schwer erschöpf-bare Disposition zu den Blattern vorausgesetzt werden, und sie er­innern an die Erfahrung Heim's und vieler Militärärzte, dass die Revaccination meist vortrefflich anschlägt, wenn das Gesicht durch Pockennarben entstellt ist.
Im Punkte der Mortalität hat das erste Lebensjahr von jeher alle späteren weit hinter sich gelassen, und die Vaccination konnte darin wenig ändern, weil von derselben auch heute eine grosse Zahl junger Kinder, aus verschiedenen Ursachen, unerreicht bleibt. Vom 5.—10. Jahre steht die Sterblichkeit auf dem Minimum. In den
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46nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; I. Die Blattern.
späteren Decennien jedoch wird dieselbe, je nach den verschiedenen Impfzuständen der einzelnen Länder ungleich, und während Fox für London und England das zweite Maximum der Sterblichkeit zwischen das 20.—25. Lebensjahr verlegt, kommt es nach deutschen Berech­nungen zwischen dem 31. und 40. Lebensjahre zu liegen. Dass die Sterblichkeit der Männer diejenige der Frauen um ein Geringes über­ragt (Verhältniss von 6:5), hat seinen Grund in der häufig depra-virten Constitution, mit welcher jene in die Krankheit eintreten. —
Die Ursache der Blattern ist unbekannt, aber sicher, dass die­selben einem specifischen Gifte entspringen, welches nur wieder Pocken und nichts Anderes erzengt. Ein spontanes Erkranken, in Folge gewöhnlicher und allgemeiner Ursachen, „ als die nächst-liegende und allein berechtigte Annahmequot; hinstellen (Oesterlen), heisst mit den Sinnen, und mit der menschlichen Urtheilskraft Spott treiben.
Ob das Blatterngift an manchen Orten und unter besonders günstigen Bedingungen allezeit von Neuem erzeugt werden kann? Die vielfachen isolirten Erkrankungen mit vollkommen dunkler In-fectionsquelle nöthigen freilich, bei einer fast überall heimischen Krankheit, nicht zur autochthonen Entstehung, wol aber dürften die Umstände, unter welchen sich häutig die Kuh- und Pferdepocken, die kein Contagium aushauchen, entwickeln, jener Annahme das Kecht zur weitern Nachforschung geben.
Die gewöhnliche Fortpflanzung des Pockengiftes geschieht durch den Kranken selbst, und können die Blattern als das Muster einer direct ansteckenden Krankheit hingestellt werden. Nur das Fleckfieber steht ihnen darin sehr nahe. Die Verimpfbarkeit des vario-lösen Blutes und der Pustellymphe ist eine demonstrirbare That-sache, aber auch die Lehre, dass die Atmosphäre eines Pocken­kranken, auf eine gewisse Entfernung und namentlich in geschlos­senen Räumen, die nämliche Wirkung äussere, wie die Inoculation, folgt aus den klinischen Beobachtungen so scharf, wie aus einem Experiment. Als Eingangspforte für die in der ausgeathmeten Luft und in den Hautemanationen des Kranken enthaltenen Giftpartikel­chen dient in dem fremden Organismus vor Allem die Schleimhaut der Athmungstläche, zweifelhaft ist die allgemeine Decke und die Schleimhaut der Verdauungswege l).
Wie häufig das menschliche Pockengift an rauhen Gegenständen
l) Zülzer, Centralbl. für die med. Wissenseh. 1574. Mo. C.
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Resum6.nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp;47
aufbewahrt bleibt, um sich dann gelegentlich zu zerstreuen, kann aus den wenigen Beispielen nicht abgeschätzt werden. Wiederholt hat man guten Grund gehabt, die aus Afrika und den Vereinigten Staaten seewärts eingeführte Baumwolle als die Schuld von Blattern-Epide­mien in Südfrankreich anzuklagen; so zeigten sich die Blattern, welche daselbst im J. 1S27 hausten, zuerst in einer Spinnerei zu Sisteron, wo nur egyptische Baumwolle verarbeitet wurde (Robert 1. c. S. 9). Ein anderes Beispiel aus München, wo Lumpen die Ver­mittler waren, ist vorhin mitgetheilt worden. Breslau beobachtete die Entwicklung von Pocken bei Maurern, welche im Miinchener Pockenhause den Kalk von den Wänden kratzten, nachdem die be­treffenden Zimmer zwei Wochen lang, bei Tag und Nacht, offen ge­standen hatten.
Für die Ausbreitung der Blattern gibt der menschliche Ver­kehr die sicherste und unumgänglich nothwendige Bedingung ab. In den frühen Jahrhunderten waren es vornehmlich die Kriege, welche die Seuche umherstreuten und anwachsen Hessen. Später hat die­selbe auch die friedlichen Eroberungen in der Welt, durch den Handel und durch Entdeckungsreisen, sich dienstbar gemacht. Sie betrat den vierten Welttheil kurz nach dessen Auffindung; die see­fahrenden Nationen wurden ihre Pionire, Handelsschiffe führten sie an Bord, und brachten mit den Genüssen und Bedürfnissen des Lebens zugleich das Gift, welches beide überflüssig machte. Und wenn die Blattern in den letzten Jahrzehnten in fast beständiger Steigerung immer häufiger und allgemeiner umgegangen sind, so wird darin Niemand das rastlose AVogen einer, wie nie zuvor ge­drängten Bevölkerung, sowie die Leichtigkeit der Verkehrsmittel verkennen. Ein gewaltiger Krieg verschaffte dann zuletzt der Seuche die pandemische Ausdehnung.
Allein die ausserordentliehe Contagiosität der Blattern, und der Verkehr reichen für sich nicht hin, um zeitweilig Epidemien ins Leben zu rufen, und man hat daher stets die Zuflucht zu einer be­sonderen Beschaffenheit der Atmosphäre genommen, welche den epidemischen Aufschwung der Krankheit motiviren sollte.
Was man Genius epidemicus nennt, ist bereits für manche Krankheiten mit vollem Rechte aus der Luft auf die Erde verlegt worden, und so gibt es auch ein klareres Moment, welches ihn bei den Blattern ersetzt. Der epidemische Aufschwung derselben erfolgt nämlich, wenn eine beträchtliche Summe ungeschützter Menschen in einer Bevölkerung sich angehäuft hat; wobei unter Schutz nicht bios die Inoculation oder Vaccination, sondern auch die stattgehabte
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48nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; I. Die Blattern.
Durchseuchung- mit Blattern selbst gedacht werden muss. Die früheren Jahrhunderte gewähren hier sehr durchsichtige Verhältnisse, indem Beispiele in Fülle vorhanden sind, wo blatternfreie Städte und Länder nacli der Ankunft eines pockenkranken Fremden sofort einer Epi­demie anheimfielen. In den zahlreichen Fällen dieser Art kann un­möglich jedesmal das Zusammentreffen einer variolösen Atmosphäre mit dem Eintritt des Variola-Kranken angenommen werden.
Verwickelter liegt die Sache in den Ländern, wo die Blattern wiederholte Umzüge gehalten haben, und wo, neben der geschehenen Durchseuchung, noch der Gebrauch der Vaccination ins Spiel kommt. Hier lebt stets eine verschieden grosse Zahl immuner Personen. Sind deren Viele, wie nach einer umfassenden, von zahlreichen Impfungen begleiteten Epidemie, so mangelt auf einige Zeit der Boden zur epidemischen Entwicklung der Blattern. Sie kehren des­halb erfahrungsgemäss sobald nicht wieder, wenn sie einen Ort gründlich durchseucht haben, was bei der Cholera entgegengesetzt sich verhält. Hat dagegen die ungeschützte Bevölkerung Zeit zur Vermehrung gefunden, dann gleicht sie dem Zunder, welchen ein Funke nach allen Eichtungen erglimmen macht. In grossen Städten ist das Blatterngift immer vorräthig, und die sporadischen Fälle unterhalten die Continuität der Krankheit; die Epidemien gehen daher nur von ihnen, nie von kleinen Orten, aus, wiederum im Gegensatz zur Cholera.
Es kann nicht als Beweis einer besonderen Pockenluft gelten, wenn mit der Zahl der Kranken an einem Orte die Intensität der Ansteckung wächst. Die Virulenz der Giftstoffe verstärkt sich durch die Anhäufung gleichartiger Kranker. Indem so einerseits die Letha-lität der Pocken mit der Dauer der Epidemie zunimmt, werden andrerseits Personen in dieselbe schliesslich hineingezogen, welche ihren Anfechtungen lauge widerstanden hatten. Bei allen zymoti-schen Krankheiten spielt ferner die Dichtigkeit der ergriffenen Be­völkerung eine wichtige Rolle; je gedrängter die Menschen, um so grosser die Zahl der Erkrankungen, und um so verheerender die Seuche.
Seit Eazes hat man von einer Periodicität der Blattern-Epidemien gesprochen. Am häufigsten schienen sie im 5 bis 7jährigen Turnus wiederzukehren. Bengalen hatte in der Mitte des vorigen Jahrhunderts, laut Hol well, alle 7 Jahre eine Epidemie; Schweden wurde in der zweiten Hälfte desselben Säculums alle 5 bis 6 Jahre von allmählich au- und absteigenden Epidemien gelichtet. In Frank­reich epidemisirten die Blattern, im Anfange unseres Jahrhunderts,
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Eesum^.nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp;49
alle 7 bis 8 Jahre (Favart), Quincke berechnet für Berlin, in den 30er und 40er Jahren, einen 4 bis 6jährigen Turnus u. s. w. Allein diese scheinbare Periodicität löst sich bei genauerer Verfol­gung in Uuregelmässigkeit auf, sie konnte deshalb von der Inocu­lation und Vaccination nicht alterirt werden. Nur eine ziemlich rasche Wiederkehr der variolösen Seuchengänge erhellt aus allen derartigen Mittheilungen.
Die Ejndemien tragen einen verschiedenen Charakter, indem die Menge des Exanthems wechselt, gewisse Complicationen häufiger oder seltener sich hinzugesellen u. s. w. Zum Theil hängt das von der Individualität der Erkrankten, von socialen Aussenbedingungen, von dem gleichzeitigen Herrsehen anderer Krankheiten ab, so dass der gutartige Verlauf, der nervöse, entzündliche oder septische Cha­rakter der Epidemien nicht in dem Contagium zu suchen ist.
Der loealen Hilfsursachen, wie die Cholera, bedarf die Variola nicht; sie befällt daher auf ihren langsameren Wanderungen die ein­zelnen Bezirke viel gleichmässiger, und jene eigenthümliche Ver-th eilung der Cholera in einem Lande, wonach manche verkehrsreiche Orte übersprungen werden, wird bei den Blattern nicht bemerkt. Um so mehr erscheinen sie an die atmosphärischen Zustände gebunden. In Ostindien kehren die Epidemien immer in der heissen Jahreszeit wieder (vom Januar bis Juni), eulminiren im März und April, und die Regenzeit setzt ihnen spätestens ein Ziel'). In Konstantinopel treten sie meist alljährlich mit dem Beginne des Winters auf, um beim Nahen der heissen Jahreszeit vollkommen zu erlöschen (Rig­le r). Auch an klimatisch weniger differenten Orten stehen Winter-und Sommerepidemien in ziemlich strenger Begrenzung einander gegenüber. Folgt nun hieraus auch keine bestimmte Abhängigkeit von der Höhe des Thermometerstandes, so beschränken sich doch die Blattern-Epidemien auf eine der entgegengesetzten Jahreszeiten. Selbst da, wo die Epidemie an einem Orte ein Jahr und länger an­dauert, macht sie diesen Extremen entsprechende Steigerungen.
Wie Blattern gleichzeitig neben Masern und Ileotyphus2) in demselben Individuum vorkommen, so schliessen ihre Epidemien die­jenigen verschiedener anderer Infectionskrankheiten nicht aus. Das
1)nbsp; In Calcutta sind innerhalb 20 Jahren 15,768 Todesfälle an Blattern in den ersten 0 Monaten des Jahres, dagegen nur 1S21 in der zweiten Jahreshälfte con-statirt worden. Bombay zählte im 1. Quartal 11,15, im 2. 0,24, im 3. 1,19, im 4. 1,36 pCt. Blatternsterblichkeit und dem entsprechende Notizen liegen aus allen übrigen Theilen Indiens vor (Macpherson).
2)nbsp; Th. Simon, Berl. kl. Wechenschr. 1S72. No. 11.
BoUn, Ilanäbuch der Vaccination.nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp;4
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50nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; I. Die Blattern.
gilt namentlich von Typhus und Variola; die 60er und 70er Jahre des verflossenen Jahrhunderts waren reich an dieser Verbindung; und in unsern Tagen hat die letzte Pockenepidemie an vielen Orten den Ileotyphus neben sich gehabt, in Hamburg, in verschiedenen Gegenden Frankreichs. Cholera und Blattern haben, um bei der Jetztzeit zu bleiben, namentlich in den Hauptstädten Russlands mehrfach gemein­schaftlich gewüthet; kurz überall bewährt die Variola ihre scharfe Eigenthiimlichkeit und Selbstständigkeit.
Es ist leicht verständlich, warum auch bei den Aerzten das Interesse für die Krankheit abgeschwächt war, als dieselbe, seit J e n -ner, ihre allgemeine gesellschaftliche Bedeutung eingebüsst hatte. Das Studium der Blattern lag Jahrzehnte lang brach, und die Schriftsteller des vorigen Jahrhunderts blieben die reiche Fundgrube ftir ihre Kenntniss. Ein grosser Fortschritt geschah in diesem Jahr­hundert nur dadurch, dass die Ansicht von der entzündlichen Natur der Blattern verlassen, und an ihrer Stelle die Auffassung derselben als einer Infectionskrankheit zur allgemeinen Ueberzeugung wurde.
Erst wieder in den letzten Zeiten ist, unter dem Drucke der Epidemien, und bei der tiberreichen Gelegenheit zur Beobachtung, der wissenschaftliche Eifer für die anscheinend erschöpfte Krankheit erwacht. An allen Punkten mit den neueren Hilfsmitteln in Angriff genommen, und unter die Beleuchtung der heutigen Wissenschaft ge­stellt, hat die Symptomatologie, die pathologische Anatomie der Variola erhebliche Bereicherungen erfahren, ist ihre Histologie erst in Angriff genommen, hat man sich nicht abschrecken lassen, den aussichtslosen Boden der directen Therapie mit neuen Mitteln und Methoden zu bearbeiten, und sind die Blattern in hervorragender Weise in den grossen Streit verwickelt worden, welcher auf ätiolo­gischem Gebiete durch die Parasitentheorie entflammt ist.
Die specielle Aufzeichnung dieser jüngsten Bestrebungen und Leistungen muss hier unterbleiben, wo die historische Entwicklung der Krankheit als Aufgabe vorschwebt. Und so erübrigt nur, einen Grenzstreit zu erledigen, welcher gerade in den letzten Jahren mit der solchen Händeln eigenen Hartnäckigkeit geführt, aber, wie mir scheint, endlich ausgefochten ist, ich meine die Varicellenfrage. Je leichter die Varicellen als rasch vorübergehendes Unwohlsein ins Gewicht fallen, um so störender haben sie in die Geschichte der Blattern eingegriffen. Wiederholt von den letzteren abgetrennt, und
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Die VariceUenfrage.nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp;51
mit denselben wieder zusammengeworfen, verdunkelten sie lange Zeit die Varioloiden, und hinderten den gedeihlichen Fortschritt der Vacci­nation. Sie sind nun in Folge des jüngsten Streites wol für immer als eine selbstständige Erkrankung ausgeschieden, und das Gebiet der Blattern abgegrenzt worden. Damit schliesst die Geschichte der Variola mitten in unseren Tagen.
Die Yaricellenfrage.
Varicellen und Varicellen-Epidemien waren lange vor der Vacci­nation und vor der Inoculation der Menschenblattern bekanntl). Nicht die erste, aber eine gute Beschreibung lieferte River ins 1641, und die Bezeichnung Ravaglione, welche sie damals in Italien trugen, hat sich bis heute erhalten. Morton nannte sie Chiken-pox, und Vogel führte 1764 den Namen Varicellae ein, welcher von Will an angenommen, fortan der gebräuchliche ge­blieben ist.
lieber die Stellung der Varicellen im nosologischen Systeme waren die Ansichten von jeher abweichend, indem sie von Einigen für sehr leichte Menscbenpocken gehalten, von Anderen für speci-fischen Ursprungs erklärt, oder mitten zwischen Pocken und Masern gestellt wurden. Praktische Bedeutung gewann diese Differenz erst durch die Inoculation, als diejenigen, welche die Identität von Variola und Varicellen behaupteten, durch das häufige Vorkommen der Vari­cellen bei Inoculirten die Nutzlosigkeit der Blatternimpfung thatsäch-lich erwiesen glaubten. Den Umschlag führte 1767 Heberden herbei, welcher durch aufmerksameres Studium belehrt, die eigen­artige Natur der Varicellen erkannte, und sie von den Blattern tiber­zeugend schied. Er hielt sie für inoculabel. Sein Verdienst wäre noch grosser gewesen, wenn er nicht eine Anzahl leichter modifi-cirter Pocken, welche damals unter den inoculirten Bevölkerungen öfter gesehen wurden, gleichfalls mit den Varicellen vermengt hätte. Die Lehren Heber den's kamen nicht blos den Inoculatoren, sondern später noch mehr den Anhängern der Vaccination sehr gelegen, welche in ihrer Voreingenommenheit für die Kuhpockenimpfnng alle nach derselben erscheinenden wirklichen variolösen Ausschläge kurzweg zu den Varicellen warfen. So ging es bis auf Thomson 1820, der Heb er den's zu weiten Begriff von den Varicellen einschränkte.
1) Hesse, üeber Varicellen n. s. w. Leipzig 1S29.
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52nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; I- Die Blattern.
die eigenthiimlicben Pockenausschlage der Vaccinirten als Varioloiden charakterisirte, und drei Formen des Einen variolösen Contagiums aufstellte, die echte Pocke, die Varioloiden und die Varicellen. In England und Frankreich hat seitdem die Identität dieser drei Formen die Oberhand behalten (eine bemerkenswerthe Ausnahme bildete Trousseau), während man in Deutschland, Dänemark1) u. s. w. mehr zur Specialität der Varicellen hinneigte, und ihnen höchstens eine ferne Verwandtschaft mit den Pocken einräumte (Hesse, Can­statt). Unter dem Einflüsse der Wiener Schule wurde jedoch in den 40er Jahren abermals die Identität der Variolen und Varicellen ein Lehrsatz, welcher, kaum angefochten, bis in die letzten Jahre bestand, wo die Varicellenfrage plötzlich auftauchte und der Inhalt des lebhaftesten Streites wurde. Derselbe hat die Reihen der Identisten stark gelichtet, deren Sache augenscheinlich in den letzten Zügen liegt. Die Praxis freilich hatte immer gegen die Scbullehre ge­handelt, indem es keinem Arzte eingefallen war, die Varicelleu-kranken, wie Pockenkranke, zu isoliren2).
Es kommt bei diesem Streite wesentlich darauf an zu zeigen, dass die Varicellen nicht, wie die Identisten meinen, mit der Vario-lois ganz verschwimmen, sondern eine eigene Erkrankung bilden, welche bestimmt von ihr zu trennen und sicher zu diagnosticiren ist.
Die Varicellen verhalten sich wie eine acute contagiöse lufec-tionskrankheit. Das Exanthem bricht mit auffallender Pünktlichkeit 14 Tage nach der Infection aus.
Ihre Verimpf barkeit, nicht ganz fraglos, scheint jedenfalls an besonders schwierige Bediugungen gebunden zu sein. Um so fester steht dagegen die Thatsache, dass der luhalt von echten Varicellen-bläschen, wenn er inoculirt wurde, niemals Variola Vera oder modi-
1) Journal f. Kinderkr. 186S, 9 u. 10.
21 Die einschlägige Literatur bei Hebra, Zeitsehr. der Ges. der Aerzte zu Wien, 1S45. I.Heft, S. 45. Acute Exanthome u. Hautkr. (Handb. der spec. Path, u. Ther. Bd. 3) (Uiiitarier). Ueber die Identität der Variola u. Varicella (Biblioth. f. Laeger, Bd. X. Kopenh.); Journ. f. Kinderkr. 186S, Heft 9 u. 10. Allgem. med. Centr.-Z. v. 7. März 1S69 (gegen die Identität). — Fleischmann. (Specifiker), W. m. W. 1870. Xr. 51. — Eisenschütz (Specifiker), Jahrb. f. Kinderheilk. 1871. — Kassowitz (Unitarier), Jahrb. f. Kinderheilk. 1873. — Kaposi, Ueber die Variola-Varicellenfrage und Discussion über dieselbe im ärztl. Verein in Wien. Arch. f. Dermat. u. Syphilis, 1873 (Identist). — Senator, Jahrb. f. Kinderheilk., 1874. — Thomas in Ziemssen's, Handb. Bd. II. 2. 1874.
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Die Varicellenfrage.nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; 53
ficata erzeugte, gleichviel ob des Impflings variolöse Empfänglichkeit vorher getilgt war oder nicht #9632;).
Fast immer erfolgt die Eruption unter febrilen Symptomen, die aber leicht und flüchtig, von 6—lOstündiger Dauer sind, gewöhnlich in die Nacht fallen, und als einfache fieberhafte Unruhe sich dar­stellen. Selten werden Delirien, Angst u. dgl. beobachtet. Zuweilen hat die Umgebung gar nichts vom Normalzustande Abweichendes wahrgenommen.
Der schnell hervorbrechende Ausschlag besteht in hochrothen, auf dem Gesichte, der obern Brustfläche, dem Rücken und behaarten Kopfe, weniger auf den Extremitäten, zerstreuten, grossen Flecken, die jeder Infiltration ermangeln, und in deren Mitte ein rundes oder längliches, krystallhelles Bläschen, wie eine winzige Vesicatorblase, sitzt2). Das Bläschen ist einfächerig und gleichmässig gewölbt, oder hat auf seiner Höhe eine nabelartige Vertiefung.
Der klare Inhalt der Bläschen ist von alkalischer Reaction und enthält Lymphzellen in nicht unbedeutender Anzahl, sowie kleine
1)nbsp; Steiner (Compend. der Kinderkr., 2.-41110., 1S73 und Wien. med. Wochen-schr. 1875. 10.) hatte unter 10 Impfversuchen 8 Mal einen ausgesprochenen posi­tiven Erfolg und 2 Mal einen negativen. Während die Impfstellen keine Reaction zeigten, erfolgte am 8. Tage ein gleichzeitig über die ganze Hautoberüäche zer­streuter Ausbruch; das Incubationsstadium betrug 8 Tage, in 4 Fällen bei unge­störtem Allgemeinbefinden, 4 Mal ging der Eruption ein viertägiges lebhaftes Fieber voraus. — Dieser Mittheilung stehen etwa 150 namhaft gemachte Impfungen (von Heberden, Dimsdale, Hesse, Vetter, Fleischmann, Thomas U.A.) entgegen, von -welchen die allermeisten ganz negativ ausfielen, und sehr wenige ein zweifelhaftes Resultat ergaben. Diese zum Mindesten äusserst erschwerte künstliche Fortpflanzung stellt das Exanthem in einen schneidenden Gegensatz zu den Menschen- und den uns bekannten Thierpocken. Bin men thai (St. Petersb. med. Zeitschr. 1SG5, S. 224) meint zwar, die milde Varicelle verlange zur Haftung eine sehr entschiedene Prädisposition zum Pockengift. Allein dann begreift sich's nicht, warum der grösste Theil der vaccinirten Kinder, früher oder später, manch­mal sehr bald nach der Impfung, d. h. nach getilgter Empfänglichkeit für das Pockengift, im blossen Verkehr mit Varicellösen so leicht angesteckt wird, oder warum Varicellen nicht hafteten, während die gleichzeitige oder die ihrer Impfung bald nachfolgende Vaccination auf eine sehr entschiedene Disposition zu den Pocken stiess.
2)nbsp; Es kann nicht ausdrücklich genug betont werden, dass sich die Varicellen-bläschen niemals aus einer papulösen Basis entwickeln, was, nach den Iden-tisten, welche darin 4en Uebergang zu den Varioloiden erkennen, für manche Fälle behauptet wird. Eine allmähliche Bildung der Bläschen, wie bei den letzteren, findet dort nicht statt,' sondern die Varicellenvesikel schiesst ebenso schnell auf den rothen Flecken auf, wie diese selbst gesetzt werden, und die einzige Meta­morphose geht an ihrem Inhalte vor sich.
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54nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp;I. Die Blattern.
scharfconturirte Körperchen. Gerhardt fand ihn eiweisshaltig. Er trübt sich nach 1 bis 2mal 24 Stunden molkig, wird später auch schleimig-eitrig, trocknet aber schnell zu einer dünnen bräunlichen Borke ein. Das Exanthem verursacht lebhaftes Jucken, und von den Kleidungsstücken gescheuerte oder aufgekratzte Bläschen verschwären leicht mit bleibenden Narben;, seltener entstehen Geschwüre O-
Die Affection ist von einer geringen oder intensiveren Stoma­titis und Angina begleitet, und fast regelmässig finden sich an ver­schiedenen Steilen der Mund- und Eachenhöhle, vornehmlich auf dem hintern Abschnitte des harten Gaumens, runde gelbe Plaques, mit oder ohne Epidermisbekleidung, welche den Hautbläschen gleiche Bildungen vorstellen (Schleimhautvaricellen).
Die Varicellen vermehren sich in den ersten 2—3, nicht selten noch in den späteren Tagen durch Nachschübe, welche zwischen die bereits vorhandenen Efflorescenzen eingestreut werden. Jedem ein­zelnen Nachschübe pflegt wieder eine febrile (meist nächtliche) Auf­wallung voranzugehen, welche bald schwächer, bald stärker, als die früheren, ausfällt.
Das Thermometer zeigt überhaupt im Verlaufe der unbedeu­tenden Erkrankung ebenso grosse Regellosigkeit, wie die letztere selbst. Sie beginnt mit mehr oder weniger ausgesprochener Tem­peratursteigerimg (Gerhardt-)), die ein paar Tage anhält, oder rasch vorübergeht. Die höchste Temperatur fiel dicht vor die Erup­tion, mit ihr zusammen, oder auf einen Nachschub. Aber es kommen auch Varicellen ohne jede Temperatursteigerüng vor. Dement­sprechend artet sich das Allgemeinbefinden verschieden, das bei nicht wenigen Kindern ungetrübt bleibt.
Durch die Nachschübe erlangt die Affection, welche gemeinhin in 5 bis 6 Tagen abgelaufen ist, eine Dauer von 8 bis 10 und darüber.
Die Menge der im einzelnen Falle vorhandenen Vesikeln wechselt sehr. Doch ist es unrichtig, wenn die „drei Pockenformenquot; nach Hebra auch dadurch gekennzeichnet sein sollen, dass bei echter Variola die meisten, bei der modificirten weniger, und bei Varicellen
1)nbsp; Es sind linsen- bis pfenniggrosse, vereinzelte oder durch Confluenz gyrirte Geschwüre, wie mit einem Locheisen scharf aus der Haut geschlagen, und mit grauweissem schleimigem Belage. Die Umgebung ist nicht hart infiltrirt, wie bei diphtheritischen, an welche sie erinnern. Sie heilen langsam.
2)nbsp; Wehner, Ueber Varicellen und ihr Verhältniss zur Variola. Inaug.-Diss. Würzburg 1875.
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Die Varicellenfrage.nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp;55
die geringste Zahl von Efflorescenzen vorkomme. In gewöhnlichen Fällen zählt man der letzteren 300—500, und sie übertreffen damit gar nicht selten weit die Varioloiden.
Die Varicellen verdienen den Namen einer Kinderkrankheit in fast absolutem Sinne; die erfahrensten Praktiker wissen nur von varicellösen Kindern zu berichten, und eine Anzahl, mit dem Exan-them ganz vertrauter Schriftsteller versichert aufs Bestimmteste, nie­mals bei Erwachsenen etwas gesehen zu haben, was in dieser Be­ziehung einem diagnostischen Zweifel Kaum gelassen hätte. Schon jenseits des 10. Lebensjahres wird die Krankheit zur Ausnahme. Ich habe ein einziges Mal Varicellen bei einem 16jährigen Mädchen ge­sehen, das ich einen Monat vorher mit beinahe legitimen Erfolge revaccinirt hatte. Und doch wäre nicht einzusehen, warum dieselben, falls sie die mildeste Pockenform vorstellten, nicht über die ver­schiedenen Lebensalter, wo die Varioloiden in allen Abstufungen der Mildheit vorkommen, verbreitet sein sollten; Gelegenheit zur An­steckung ist in den Familien reichlich geboten.
Die Varicellen kommen in Haufen, oder epidemisch, seltener vereinzelt vor. Da sie ihr Contingent nur aus der Kinderwelt be­ziehen, ist der Umiang ihrer Epidemien, im Vergleich zu den vario-lösen, geringer. Dafür treten sie ungleich häufiger, als diese, auf, und sind an manchen Orten fast endemisch, so in Leipzig nach Thomas. In Halle a. S. bestanden sie von 1862 bis 1872 fast 'ununterbrochen, und stiegen ganz unregelmässig in engen Grenzen auf und ab, ohne sich an eine bestimmte Dauer und Jahreszeit zu binden (Weineck ')). In Dresden sind sie, nach Förster, alle 1 — 3 Jahre, und zu den verschiedenen Jahreszeiten. Mehrmalige Varicellen bei demselben Individuum scheinen ungewöhnlich zu sein.
Es gibt reine Epidemien von Varicellen, die ausser aller Ver­bindung mit Variola-Epidemien stehen. In dem Wohnorte Hesse's, in Wechselburg, hatten über zwanzig Jahre, von 1806—1828, keine Menschenblattern geherrscht, während Varicellen häufig epidemisirten. Ebenso fehlten in Kopenhagen von 1809—1823 die Variolen, und traten fast alljährlich die Varicellen auf, so dass keiner von den dortigen Aerzten an der specifischen Differenz beider Exantheme zwei­felte (Möhl a. a. O.). In Halle a. S. zeigten sich, nach Weineck, in dem Zeitraum von 1830—1872, die Varicellen durchaus ohne Zu­sammenhang mit den Pocken. Zahlreiche weitere Bestätigungen, selbst von Identisten (Lebert), finden sich in der Literatur. Solche
1) Die Epidemien der Stadt Halle a. d. S.
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56 'nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; I. Die Blattern.
isolirte Varicellen-Epidemien wären unmöglich, wenn es sich dabei nur um abgeschwächte Blattern handelte, denn alsdann könnten die anderen Pockenformen, mit den Varicellen untermischt, nimmermehr fehlen, wie bekanntlich weder ausschliessliche Epidemien von Variola vera, noch von Variolois vorkommen. Die Varicellen erscheinen überhaupt gern zu Zeiten, wo die Neigung zu Exanthemen vor­waltet, und gesellen sich deshalb nicht öfter zur Variola, wie zu anderen acuten Ausschlägen, namentlich zu den Masern. Auch Keuchhusten besteht oft mit ihnen epidemiscb.
Die Varicellen behaupten sich in absoluter Unabhängigkeit von der Vaccination und Variolation. Ueberstandene Kuh- und Menschen­pocken gewähren gegen dieselben keinen Schutz, und umgekehrt vernichten die Varicellen bei den Ungeimpften weder die Disposition zur Variola, noch die Reactionsf ähigkeit auf die Vaccine. Säuglinge, die geblättert haben, und in Folge dessen für die Vaccination gleich­gültig geworden sind — geimpfte Kinder, welche dem intensiven Pockencontagium um sie her Widerstand leisten — andere, die weder geblättert haben, noch vaccinirt sind — sie Alle werden unterschieds­los, wenn die Gelegenheit vorhanden ist, von Varicellen überfallen. Und ebenso hängt der Erfolg einer Vaccination, oder die Ansteckung mit Variola nicht davon ab, ob und wann das betreffende Indivi­duum vorher Varicellen durchgemacht hat. Hesse citirt aus dem vorigen Jahrhundert eine Anzahl gelungener Blatterninoculationen, welche während, oder sofort nach Varicellen vorgenommen wurden. Vetter ') und Förster2) impften Kinder nach kurz iiberstandener Varicelle erfolgreich mit Kuhpbcken. In quot;VVürtemberg trafen, laut Heim3), Varicellenepidemien gar nicht selten mit den öffentlichen Impfungen zusammen, ohne deren Ausfall zu beeinflussen, und kaum von Varicellen hergestellte Kinder brachten gute Impfpocken hervor. Ferner haben Lothar Mayer4), Eisenschütz, Fleischmann, Steiner, Förster, Quiucke neuerdings Fälle veröffentlicht, wo ungeimpfte Kinder bald oder selbst unmittelbar nach den Varicellen einer heftigen und mitunter tödtlichen Variola anheimfielen. Diese Beispiele waren vor Einführung der Vaccination sehr häufig (Hess e). Umgekehrt schlössen sich nicht selten der Vaccine oder einer Va­riola verschiedene kurze Zeit hinterher Varicellen an (Vetter, Förster u. A.).
1)nbsp;Virchow's Arch. 1864, Bd. 31.
2)nbsp;Jahrb. f. Kinderheilkunde. N. F. 1868.,
3)nbsp; 1. c. S. 547.
4)nbsp; Deutsche Klinik 1870. 6.
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Die Varicellenfrage.nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; 57
Es treten diese verschiedenen, unter sich durchaus harmoniren-den Thatsachen in den strengsten Widerspruch mit einigen hervor­ragenden Gesetzen, unter welchen die Blattern stehen. Zunächst würde, wenn die Identisten Recht hätten, die Variola eine Krankheit sein, welche regehnässig zweimal, als Variola und Varicelle, an den ungeschützten Menschen herantritt.
In einem späteren Abschnitte werden wir den, vom Experiment erhärteten Cardinalsatz kennen lernen, dass alle bisher bekannten Thier- und Menschenpocken das Vermögen der gegenseitigen Aus­schliessung und Stellvertretung besitzen. An dieser Solidarität haben die Varicellen keinen Antheil, da sie in die jugendlichen Körper einfallen, ohne Rücksicht auf deren vorhandene oder aufgehobene variolöse Empfänglichkeit; das heisst, sie stehen ausserhalb einer Krankheitsfamilie, deren Glieder durch jene eigenthUmlichen Wechsel­leistungen, sowie durch eine sehr sichere Verimpfbarkeit charak-terisirt und zusammengehalten werden.
So hat denn auch die Vaccination keine Vermehrung der Vari­cellen bewirkt, wie solche, seit Jenner, bei den Varioloiden sicht­bar geworden ist.
Nach alledem sind die Varicellen kein Krankheitsbild von vagen Umrissen, sondern tragen hinreichend deutliche und eigenartige Züge. Dass die Erfassung derselben bei sehr grosser Oberflächlichkeit des Processes Schwierigkeiten bereiten kann, dieses Schicksal theilen sie wol mit fast allen Krankheiten. Es liegt übrigens den Verthei-digeru ihrer Specifität nichts ferner, als den Identisten die Unkenntniss jenes Bildes vomicken zu wollen. Aber die letzteren haben sich, der Theorie zu Liebe, eingeredet, Dinge mit dem Namen Varicellen zu belegen, welche es nicht sind. Man versteht wirklich nicht, warum sie noch eine besondere dritte Pockenart nöthig haben; denn wenn die Varicellen nur die abgeschwächtesten Pocken vorstellen, und zwischen ihnen und den Varioloiden keine Grenze besteht, dann müssen sie mit den letzteren, welche die mannichfachsten Grade der Mitigation des Pockengiftes offenbaren, verschmolzen werden. Dass die Identisten eine Kategorie der Varicellen aufstellen, schliesst das Anerkenntniss von deren Besonderheit ein.
Die ganze Hinfälligkeit der Identitätslehre kommt endlich bei jener „ positiven Erfahrungquot; zu Tage, „ dass aus Variolen: Varicellen, und umgekehrt aus der Ansteckung mit Varicellen echte Pocken hervorgehen.quot; Diesen recht spärlichen „ Erfahrungenquot;, welche eigent­lich über die „seltenen Fällequot; nicht hinausgekommen sind, stehen in überwältigender Zahl die alltäglichen Beobachtungen entgegen,
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58nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; I. Die Blattern.quot;
wo varicellenkrankc Kinder, unabgesondert mit geimpften und unge-impften Familienmitgliedern in beständigem und dem nabesten Ver­kehre lebend, diesen nicht gefährlich werden, sondern höchstens nur wieder Varicellen ausstreuen.
Was soll man aber zu dem historischen Beweise He bra's sagen, dass die Varicellen auch die Quelle verheerender Blatternseuchen gewesen seien, weil die Inoculatoren des vorigen Jahrhunderts sich gewiss nie des Inhaltes der echten Pocken, sondern der gutartigen Form, der Varicelle bedient, und damit das Contagium oft verstreut hätten? Soll man ein Nichtwissen der Wahrheit, oder ihre willkür­liche Behandlung voraussetzen? Ob Hebra, die Gatti, Tissot, Dimsdale, Rosenstein, Hufeland gelesen, ob er wirklich von den vielfachen Discussionen jener Zeit, wann die Pockenlymphe am geeignetsten zur Uebertragung, Notiz genommen ? ob er den Verlauf, die Symptomatologie der inoculirten Blattern mit den späteren Vari-cellenimpfungen verglichen hat? Nein, denn dann würde er nicht einen Einfall als historischen Beweis in die Welt geschickt haben. (S. den zweiten Abschnitt.)
Die eminent praktische Bedeutung der Varicelleufrage springt Jedermann in die Augen: sind die Windpocken wirkliche Blattern, so müssen die damit Behafteten wie Pocken­kranke gehalten und isolirt werden. Die Identisteu tbun es, und legen, falls sie Hospitäler verwalten, ihre Varicellösen (die merk­würdig oft Erwachsene sind) auf die Blatternabtheilungeu. Was sie ge­erntet haben ? Auf Pockenstationen, wowirkliche Varicellenkrankc aufgenommen werden, sind, wie Eisenschütz mittheilt, die Fälle nicht selten, dass ungeimpfte Varicellenkrankc von echten Pocken ergriffen werden. Auch Fleischmann berichtet über 5 Fälle, wo die Sitte, varicellenkranke Kinder auf die Blatternzimmer zu legen, diesen theuer zu stehen kam. Wenn solche unglückliche Vorfälle sich nicht öfter ereignet haben, wie z. B. niemals in den preussilaquo;chen Garnisonlazarethen, deren Pockenstationen gleichfalls „Varicellenquot; führen, so erklärt sich dieses Wunder eben durch den irrthümlichen Gebrauch des Wortes Varicellen. Es kann sich Niemand, welcher die Blattern in der leichtesten Form schon besitzt, bei seinen vario-lösen Stubengenossen anstecken, auch wenn ihn sein Arzt hartnäckig unter die Varicellösen rubricirt.
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Anhang. Ausrottung der Blattern.nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp;59
Anhang. Die Ausrottung der Blattern.
Unablässig haben die früheren Jahrhunderte daran gearbeitet, die Blattern auszurotten, und mehr als einmal wähnte man sich dicht vor dem Ziele. Man suchte unter den Medicamenten ein, dem vario-lösen Gifte feindliches, das Antidot.
Bei den wechselnden Anschauungen von der Krankheit ist der grösste Theil der Heilmittel nach und nach an die Reihe gekommen.
Emetica und Laxanzen haben zu allen Zeiten als Purifica in besonderer Gunst gestanden.
Boerhave, die Pocken für ein Entztindungsfieber haltend, glaubte die Krankheit durch das energische Aufgebot aller Anti-phlogistica ersticken zu können. Lange schrieb er einer Verbindung von Spiessglanz und Quecksilber die Fähigkeit zu, das Pockengift zu zerstören, bis er später selbst daran irre wurde.
de Haen traf schon zu seiner Zeit der Vorwurf, dass er mit allzu häufigen Aderlässen den Kranken zusetze.
Nach Dr. Labb und Cotugni sollten der Aethiops mineralis und die Schwefelblumen im Stande sein, die Natur des Pockengiftes zu ändern, das Gift zu mitigiren. Vor Allem aber behauptete lange diesen Ruf das von einem Laien, dem Bischof Barkley von Irland, angepriesene T heerwasser. Die präservirendenPillen aus Campher, Calomel, Aloe, Guajac stammen von Rosenstein her (1774), wenngleich demselben die Inoculation für das zuverlässigste Schutz­mittel galt. Um die Blattern vom Gesichte abzuziehen, Hess er die Haut der Arme und Beine mit einer Nadel wund ritzen.
Auch die im Jahre 1640 in Europa eingeführte Chinarinde wurde als Vertilgungsmittel der Pocken eine Zeit lang gerühmt.
Durch die meisten dieser Empfehlungen, welche von den be­rühmtesten Namen getragen wurden, zieht sich der richtige Gedanke, dass die Gefahr der Pocken parallel der Stärke des Hautausschlages läuft, und dass seine thunlichste Beschränkung die Aufgabe des ärzt­lichen Handelns bilde.
Interessant, wegen der pathologischen Vorstellung, welche zu Grunde lag, muss uns das Tragen von Bisam und von Quecksilber sein, deren Ausdünstungen die Insekten tödten sollten, „welche für die Ursache der Pocken sowohl, als der Pest und anderer Arten von Ausschlägen gehalten wurdenquot; (Beiloste).
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60nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; I. Die Blattern.
Ob aber nützlich oder nicht, oder gar abgeschmackt — die Mittel dienten unbestritten dazu, zahllosen, in der Pockenfurcht schwe­benden Gemüthem Rübe zu verschaffen.
Es wurden endlich die günstigen Erfahrungen, welche die Ab­sperrung der Kranken bei der Pest aufzuweisen hatte, auch für die Blattern zu verwerthen gesucht. Aber [begreiflich nicht mit dem gleichen Erfolge, denn die Blattern wucherten in Europa zu ver­breitet, und wiederholten sich zu häufig, als dass Quarantainen durch­führbar gewesen wären, welche nur bei isolirten Völkerschaften Nutzen schaffen konnten, und, wie z. B. bei den Hottentotten auch schafften, die sich dadurch der Pocken ihrer Nachbarn gewöhnlich erwehrten. —
Bevor die überraschende Idee aufging, den Blattern mit ihrem eigenen Gifte entgegenzutreten, gibt es nur Einen rationellen Gedanken, welcher sich in ihrer Therapie vorfindet: die kalte Behandlung der Pockenkranken — leider durch Jahrhunderte nur ein Gedanke —, der von Zeit zu Zeit auftauchte. Schon uralt, und von den Braminen mit grossem Erfolge angewandt, war das Regimen frigidum, als Sy den ham dasselbe im XVII. Jahrhundert verlangte, eine unerhörte Neuerung. „Die Blattern waren den Völkern immer als ein nothwendiges Läuterungsfeuer der anwachsenden Geschlechter erschienen, und die Aerzte hatten dieselben in schulgerechter Ver­blendung gehegt, und durch die Behandlung die ohnehin grosse Zahl der Opfer, die ihr anheimfielen, zu einer unnatürlichen Höhe ge­steigert. Ueberall war der erhitzenden Behandlung das Wort ge­redet; von Moskau bis Paris trieb man die fieberhaften Ausschläge gewaltsam mit Hitze hervor, und vornehmlich in Deutschland wurden den Kranken die aufgehäuften Federbetten verderblich. Wie die Mönchsärzte des Mittelalters ihre Pockenkranken in rothen Fries ein­nähten, so war es in den österreichischen Landen noch vor der Mitte des XVIII. Jahrhunderts üblich, class die barmherzigen Brüder mit Decken und Riemen zu den Kranken eilten, um jede Abkühlung der Betthitze zu verhüten (de Haen).
Sydenham's Stimmehatte geringen Anklang gefunden, Hahn's l) Erfolge mit den kalten Waschungen der Pockenkranken waren un­beachtet geblieben, Gatti, van Swieten suchten vergeblich die englische Methode, wie sie seit Sydenham hiess, laquo;u verallge­meinern. Erst die Jetztzeit hat sich zu ihr bekannt.
1) Unterricht von Kraft und Wirkung des frischen Wassers. Breslau u. Leipzig
1743.
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Anhang. Ausrottung der Blattern.nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp;61
Siebt man von der einzigen und bewunderungswertlien'Prophy­laxe ab, welche die Blattern an der Inoculation und Vaccination ge­wonnen haben, so sind die Fortschritte in der Behandlung der aus­gebrochenen Krankheit selbst, welche bis heute gemacht worden, keine grossen. Von der Ohnmacht der Specifica, denen früher nach­gejagt wurde, durchdrungen, und bei der Behandlung der acut und typisch verlaufenden Processe überhaupt zur Resignation gelangt, hielt sich die Therapie gegen die Variolen lange Zeit indifferent, nur in symptomatischer Verfolgung der Complicationen. Erst in den letzten Jahren haben die gehäuften Epidemien wieder den Muth geweckt, zu versuchen, ob aus der gebundenen Lage, angesichts dieser furchtbaren Seuche, herauszukommen sei.
Die Kaltwasserbehandlung, welche nach den Erfolgen beim Typhus, auf die Pockenkranken ausgedehnt wurde, hat zwar die vollständig berechtigten Erwartungen noch nicht erfüllt, darf aber nimmermehr als gescheitert angesehen werden. Sie kann nur den . einen Sinn haben, die Menge des Exanthems zu beschränken, findet also ihre rechte Stelle allein in dem fieberhaften Prodromalstadium, und ich möchte mit Zuversicht erwarten, dass eine, von seinem frühesten Beginne consequente Kühlhaltung des Körpers im Stande ist, die Zahl der nachfolgenden Pocken erheblich zu verkleinern. In der Eiterungsperiode kann Nichts, als vielleicht eine geradezu nachtheilige Einwirkung von der Methode erwartet werden.
Dass auch das Chinin heute wieder, bald gegen die febrilen Symptome, bald als Antiparasiticum gegen die Pockenpilze, auf­genommen ist, nachdem es früher wiederholt gepriesen und wieder verworfen war, dass in der gegenwärtigen Strömung die Carbol- und jetzt die Salicylsäure als Pilzfeinde die kühnsten Hoffnungen erweckt haben, darf nicht in Verwunderung setzen.
Unter -den Mitteln, welche gegen schwere und gefährliche Symptome sich richten, scheint das von Zülzer und Burkart empfohlene Xylol hoher Beachtung werth'). Auf das Fieber (Puls und Körpertemperatur) übt es keinen Einfluss, verhütet auch nicht die massenhafte Eruption von Blattern. Aber indem es die Coagulirung des Pustelinhalts bewirkt, wird die vorzeitige Berstung der Pusteln verhindert, der Pustelinhalt vertrocknet ziemlich schnell, die Eiterung wird verkürzt, und Schorf- und Narbenbildung geringer. Damit ist ein massigerer Verlauf des Eiterungsfiebers gewonnen. Aus derselben Einwirkung des Xylol auf die Blattern im Rachen leitet
I) Berl. klin. Wochensclir. 1871, 51, u. 1872, IT u. 52.
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62nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; I- Die Blattern.
sich die schnelle und erhehliche Milderung der anginösen Be­schwerden her, welche dem Mittel gerade in schweren Fällen, einstimmig nachgerühmt wird. Auch beseitigt es fast vollständig den während der Eiterung und Eintrocknung von dem Kranken ausströmenden Geruch.
Gleichfalls gegen die lästigen Erscheinungen der Suppurations-zeit gerichtet, ist das im Wiener allgemeinen Krankenhause seit einiger Zeit geübte Verfahren, die an confluirenden Blattern Er­krankten am 10. und 11. Tage, und zur Zeit der eitrigen Trübung der Efflorescenzen, ins warme Bad zu legen, und durch 3—6 Stun­den in demselben zu belassen. Das Bad wird täglich wiederholt, bis die Desquamation vollendet ist. Die Maceration der Pustel­decken, und die Schrumpfung der Efflorescenzen beseitigt die Span­nung der Haut, die Borken lösen sich leicht, eine Incrustation wird verhindert, und so der Eiterabsperrung und ihren Folgen vorgebeugt.
Glücklich ist man endlich in den Mitteln und Methoden ge­wesen, um die narbige Entstellung des Gesichts zu verhüten.
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Zweiter Abschnitt,
Die Inoculation der Mensclienblattern.
Yariolation.
Die Fruchtlosigkeit aller Bemühungen, die Blatternseuche aus­zurotten, oder den Verlauf der einzelnen Erkrankung zu unterbrechen, und ihren Verwüstungen im Körper eine Schranke zu ziehen — diese uralte Erkenntniss hat, im Verein mit anderen richtigen Wahr­nehmungen, den menschlichen Geist schon frühe zu einem Verfahren geleitet, welches wohl die Hoffnung vorspiegeln konnte, die Seuche allmählich zu bemeistern, oder der Krankheit, falls sie unabwendbar, wenigstens den gefährlichen Charakter zu benehmen.
Die künstliche Erzeugung der Variola an bisher Ver­schonten ging, gleichsam eine Nachahmung der Natur, von zwei Gesichtspunkten aus. Zunächst konnte zu keiner Zeit das patho­logische Gesetz übersehen werden, nach welchem der Mensch ge­wöhnlich nur einmal im Leben von den Blattern befallen wird, und eine erstmalige, selbst schwache Erkrankung die spätere Ansteckung in der Regel ausschliesst. Sodann zeigte die Erfahrung einen durch­schnittlich viel milderen Verlauf bei dem sporadischen Auftreten der Pocken, als wenn dieselben epidemisirten. Machte man sich dem­nach, ausserhalb einer Epidemie, durch die Ansteckung mit gut­artigen Blattern vorsätzlich krank, und glückte es, dadurch eine gleichfalls gefahrlose künstliche Erkrankung herbeizuführen, so durfte man hoffen, gegen die Bösartigkeit der zufälligen epidemischen Va­riola, die für „unvermeidlichquot; galt, in Zukunft gewaffnet zu sein. Die Praxis hat diese Anschauung im Wesentlichen gerechtfertigt.
Die Sitte der Blattern-Inoculation, worunter die ver-
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64nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; 11. Die Inoculation der Menschenblattern. Variolation.
schiedenen Methoden der künstlicbeu Ansteckung zusammengefasst werden, verliert sich im Dunkel der ersten Jahrhunderte unserer Zeitreclmuug, wenn nicht gar der vorhistorischen Zeit. Es scheinen, unabhängig von einander, verschiedene Völker darauf gekommen zu sein, und zwar öfter der gewöhnliche Mann, als die priesterlichen Kasten, welche aus der Heilkuust ihr Privilegium machten. Natür­lich werden hier solche Völker genannt, welchen die Geschichtsfor­schung die älteste Bekanntschaft mit den Blattern zuschreibt.
Die Chinesen zogen ihren Kindern entweder Hemdchen an, welche mit dem Blatterngift geschwängert waren, oder steckten den­selben Blatternschorfe, um Bisam gelegt, in die Nasenlöcher (Pocken-säen). Beide Methoden, nicht ohne Gefahr, scheinen gleichwohl Vortheile genug geboten zu haben, dass die Tataren sieb Inocula-toren aus China kommen Hessen 1).
In Ostindien hat die Inoculation ein nicht zu berechnendes Alter, sie lag ganz in den Händen der Braminen, wurde wie eine priesterlicbe Function ausgeübt, und hatte deshalb weite Verbreitung gewonnen. In den letzten Wochen der kalten Jahreszeit durchzogen die Braminen das Land, um mit dem Eintritt der heissen Jahreszeit, welche gewöhnlich die Blatternepidemien brachte, ihre Thätigkeit zu beginnen. Die Vorbereitung, welche als unerlässlich von den zu Inoculirenden gefordert wurde, bestand in vierwöchentlicher Enthaltung von Milch, Fischen u. s. w. Alsdann gingen die Braminen von Haus zu Haus, und impften vor den Thüreu. Die Impfstelle war die Aussenseite des Vorder­armes oder der äussere Theil des Oberarms. Sie rieben die Haut da­selbst mit einem Tuche trocken, und machten dann fünfzehn oder sechs­zehn halbzöllige, kaum blutende Schnitte mit einem Messer. Auf die­selben ward ein baumwollenes, mit vorjährigem Impfstoff ge-, tränktes, und mit Gangeswasser benetztes Bäuschcheu gelegt, welches sie durcb'einen einfachen Verband befestigten, und, wenn dieser nach sechs Stunden entfernt war, bis zum Abfall liegen Hessen. Niemals impften sie frische, oder Lymphe aus natürlichen Pocken ein, sondern entnahmen dieselbe nur den künstlich erzeugten. Die Behandlung der Inoculirteu, welche ihre enthaltsame Lebensweise noch vier Wochen fortsetzen, bestand, bis zum Abfall der Schorfe, in einer zweimaligen täglichen üebergiessung des Körpers mit kaltem Wasser, welche nur während des dreitägigen Fiebers, das gewöhnlich am
1) J. Kirkpatrik, The analysis of inoculation etc. London 1754. A. d. Engl. Zelle u. Leipzig 1750. — Kurt Sprengel. Vers, einer pragmat. Gesch. der Arzneikunde. 3. Aufl. V. Halle 1S2S.
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Die friiheste Praxis der Inoculation.nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp;65
sechsten Tage sich einstellte, ausgesetzt wurde. Ferner wurden alle Pocken, sobald sie eitrig geworden, mit einem spitzen Dorn eröffnet, und unter Vermeidung des Lufteintritts vorsichtig ausgedrückt. Das Zimmer zu hüten war den Inoculirten strenge untersagt; sie mussten sich zu jeder Tageszeit der freien Luft aussetzen, und durften nur bei sehr heftigem Fieber auf einer Matte vor der Thttr ruhen. Dabei tranken sie viel kaltes Wasser und genossen einfache reizlose Nahrung. Die Gefahren der künstlich erregten Krankheit waren bei dieser Art der Inoculation und Behandlung so gering, dass nur in den allerseltensten Fällen Jemand starb. Sowol das Eruptions- wie das Eiterungsfieber verliefen gelinde, Beschwerden wurden wenige geklagt; gewöhnlich kamen gegen 50 bis 200 Pocken auf dem Körper heraus, bisweilen unterblieb der allgemeine Pocken­ausbruch ganz, und waren die Local blättern an der Impfstelle die einzigen Vertreter des Exanthems. Kaum jemals schlug die Inocu­lation fehl. Hol well1), der fast ein Menschenalter in Ostindien ver­lebte fl732—1761), fand diese ursprüngliche Inoculations-Methode der Braminen unverändert vor.
Die Inoculation war ferner, wie neuere englische Forschungen ergeben haben, frühe unter den Arabern gebräuchlich, welche sich gewöhnlicher Nadeln bedienten, in der Berberei, am Senegal und in den Küstenländern des mittelländischen Meeres; sie Mess hier das Blattern kaufen, indem landesübliche Preise für die Hergabe des Pockeneiters gezahlt, und der Verkauf an manchen Orten durch Ausrufer angekündigt wurde. So ist es ein fast zusammenhängender Gürtel aussereuropäischer, asiatischer und afrikanischer Länder, auf welche die friiheste Uebung der Blatternimpfung sich vertheilt findet.
Allgemein bekannter ist die Sitte von einigen Völkerschaften des kaukasischen Isthmus her, den Bewohnern von Georgien und Circassien, wo ihr gleichfalls ein hohes Alter zugeschrieben wird; sie ward hier vornehmlich geübt, um das Leben und die Schönheit der, für die Harems erzogenen Mädchen zu schützen. Die Blattern wurden den Kindern im ersten Halbjahr des Lebens von alten Weibern eingeimpft, unter abergläubischen Förmlichkeiten, aber auf eine sehr einfache und vernünftige Weise mittelst der Nadel.
In dem übrigen Europa stösst man in den verflossenen Jahr­hunderten nur auf vereinzelte Spuren, das Alter und die Herkunft des Gebrauches bleiben ungewiss. Es werden England und Schott-
1) An account of the manner of inoculating the small-pox in East-Indies. London 1767. — Geschichte der neuem Heilkunde von Hecker. 1839.
Bohn, Handbuch der Vaccination.nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; 5
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66nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; II. Die Inoculation der Menschenblatteru. Yariolation.
land (Kirkpatrik), Schweden (Eosenstein), Dänemark, die Au-vergne und Perigord, Moeurs und Cleve, selbst Thorn in Westpreussen genannt, wo im 17. Jahrhundert die Inoculation wol bekannt war. In Ost- und Westgothland, schreibt Rosenstein1), führt man das Kind zu einem, der gute Pocken hat, und lässt es 5 —7 davon kaufen. Die Geldstücke legt man auf die reifen, geborstenen Pu­steln, uud bindet sie alsdann dem Kiude auf die Beine, oder man reibt die Haut mit trockenen Blatternschorfen kräftig ein (Einreiben der Blattern); seltener ward die Nadel benutzt.
Wirkliche Bedeutung für Europa gewann die Inoculation erst durch Griechenland, welches sie zweifellos aus dem Orient oder aus Afrika herübergenommen hatte. Thessalien scheint ihre Pflege­stätte gewesen zu sein; aus der Zahl der alten Weiber, in deren Händen sie sich daselbst befand, ragt, um den Anfang des vorigen Jahrhunderts, eine häufig erwähnte, alte Thcssalierin hervor, welche die Blatternimpfung als „ geoffenbartequot; Kunst mit allerlei mystischem Beiwerk, aber auch mit vorsichtiger Auswahl des Impfstoffes, der Impflinge und der Jahreszeit betrieb, so dass ihre Erfolge weiten Ruf hatten. Sie impfte mit der Nadel auf dem Gesicht und dem Handrücken, vermied überflüssige Verbände, und deckte nur Nuss-schalen über die Pocken, um das Kratzen zu verhindern. — Im An­fange des XVIII. Jahrhunderts war die Pockenimpfung unter den zahl­reichen, in Constantinopel lebenden Griechen allgemein üblich, während sich der Fatalismus der Türken vor ihr verschloss. Hier nun lernten sie die beiden italienischen Aerzte, Timoni und Py-larini, kennen, welche darüber an die Kgl. Gesellschaft der Aerzte nach London berichteten.
Wol aus derselben Quelle, wie sie, hatte Carl XII. von Schweden geschöpft, als er bei seinem Aufenthalte in Bender (1714) eine aus­führliche Denkschrift über die Art und die glücklichen Erfolge der Blatterninoculation verfassen Hess, und nacb Stockholm schickte, wo man indess den Absichten des Königs nicht entsprach.
So blieb es denn einer Frau vorbehalten, den Anstoss zur all­gemeinen Aufnahme der Blatternimpfung in Europa zu geben, und den Grund zur culturhistonschen Entwickelung derselben zu legen. Lady Montague, die Gemahlin des englischen Gesandten in Con­stantinopel, welche daselbst Zeugin von den günstigen Resultaten der Inoculation gewesen war, besass den Muth, 1717 ihren sechs-
1) Kinderkrankheiten, übers, von Murray 1798.
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Die Inoculation in Europa im Anfange des XVIII. Jabrh.nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; 67
jährigen Sohn, und, nach London zurückgekehrt, vier Jahre später (1721) auch ihre sechsjälirige Tochter durch Dr. Maitland aus echten Pocken impfen zu lassen. Der Knahe hatte nicht iiher hundert Blattern gehabt, das Mädchen hekam noch weniger. Die kühne That setzte London in grosse Bewegung. Auf königlichen Befehl wurden Versuche an sechs, dem Tode verfallenen Verbrechern in Newgate angestellt (Aug. 1721), welche glücklich verliefen, und die Verbrecher sowol vor der Hinrichtung, als vor den bösartigen epidemischen Blattern schlitzten, denen sie nach überstandener Impfung preisge­geben wurden. Zum Ueberfluss wurde der Versuch an fünf Waisen­kindern des Kirchspiels St. James wiederholt, ehe man zur Inocula­tion der Kinder Georg's I. schritt. Dem Beispiele des Hofes folgten 20U Personen aus den angesehensten Familien Englands. In dem­selben Jahre (1721) unternahm auch ein Arzt in Halifax Inocula-tionen an 40 Kindern, welche säramtlich die künstliche Krankheit gut überstanden. Damit schien die Bahn gebrochen. Allein die nun verallgemeinerte Ausübung der neuen Methode schlug die hoch-fliegenden Erwartungen bald nieder, und die Zahl der Widersacher wuchs schneller, als die ihrer Freunde.
Wir besitzen die Listen der in den ersten Jahren in London variolirten Personen; 1722 wurden 1S2 geimpft, wovon 3 starben, 1723 in und um London 445 Personen mit 9 Todesfällen, 1724 waren nur 40 inoculirt, von denen 1 starb, 1725: 143 Personen mit 3 Todten. Dr. Boylston in Boston, der zuerst seine eigenen und dann 244 andere Kinder geimpft hatte, verlor 6 der letzteren.
In Frankreich begegnete der erste Versuch, die Inoculation einzuführen (1723), dem heftigsten Widerstände1), und in Deutsch­land, wo der englische Leibarzt Maitland einen hannoverschen Prinzen und mehrere Kinder aus den ersten Familien des Landes geimpft hatte (1724), reizten diese und einige andere glückliche Vor­bilder gleichfalls mehr zum Widerspruch, als zur Nachahmung.
Es waren anfangs weniger die Gefahren des Schutzmittels, welche die Opposition herausforderten, auch nicht die mangelhafte Ausfüh­rung der Operation, welche sie in Misscredit brachte, sondern die Blatternimpfung rief fast überall zuerst die gleichen moralischen und
1) Auch Voltaire hatte die warme Empfehlung der Inoculation, für welche er während seines langen Aufenthaltes in England sehr eingenommen worden war, zu büssen. Er lenkte die ärztlichen Angriffe auf sich, wie er mit dem übrigen Inhalte der „Briefe über Englandquot; den Staat, die Kirche und die Gelehrten heraus­forderte.
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68nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp;II- Die Inoculation der Menschenblattern. Variolation.
religiösen Scrupel wach. Sclion die rechtgläubigen Muhamedaner hatten sie als einen Eingriff in die Hand des Schicksals verdammt; derselbe Vorwurf hegleitete die ersten englischen Inoculationen. „ Die körperliche Sicherheit wider die Pocken setzet die Seele in Gefahr.quot; Diesen wirklichen und erheuchelten Bedenken mischte sich in Europa geistlicher Hochmuth bei, welcher die neue Methode um ihres orien­talischen Ursprungs willen verketzerte, wie andrerseits die Aerzte beleidigt waren, weil dieselbe von Laien und alten Weibern aus­gegangen war. Geistliche traten an die Spitze der Gegnerschaft, die Menge, voller Vorurtheile und dem Neuen und Ungewöhnlichen ohne­hin abhold, folgte blindlings, und der von den Kanzeln geschürte Hass loderte schnell zum Fanatismus auf. Kein Mittel, selbst nicht die Lüge und der Betrug wurden verschmäht, indem man miss-lungene Inoculationen erdichtete und durch die Schrift verbreitete. So hatten die ersten Vertheidiger der Inoculation fast nur mit den Theologen zu kämpfen, und den Sinn des Publikums mit der selt­samen Erscheinung zu befreunden1). Wir werden sehen, wie alles das, ein Jahrhundert später, bei der Vaccination fast wörtlich wiederkehrt.
Zwanzig Jahre, von 1726—1746, lag die Inoculation so gut wie todt; in England waren von 1726—1738 nur etwa 2000 Personen geimpft worden (Kirkpatrik). Da wurde in Folge der kräftigen Anregung des Bischofs von Worcester, der gleichfalls die Kanzel in ihren Dienst nahm, 1746 eine Privatgesellschaft gegründet, welche sich die Verbreitung der Inoculation zur Aufgabe stellte, und eine öffentliche Impfanstalt in London errichtete; 1809 Personen, darunter 300 Erwachsene, ergriffen die Gelegenheit, sich inoculiren zu lassen. Auch einzelne Privatärzte nahmen die Inoculation wieder auf, und im J. 1754 gab endlich das Collegium der Aerzte zu London eine günstige Erklärung für dieselbe ab.
In Frankreich, und über dessen Grenzen hinaus, machte in dem­selben Jahre das erste bedeutende Werk, was über die Inoculation geschrieben ist, das von de la Condamine, grosses Aufsehen und Eindruck2). Der Verfasser hatte darin alle bisher vorgebrachten Einwürfe gegen dieselbe mit Glück entkräftet, und ihre Vortheile ins beste Licht gestellt. Das epochemachende Buch schliesst mit der
l)Maitland, Account of inoculating the small-pox vindicated. London 1722.
2) de la Condamine, Memoire sur l'inoculation de la petite veröle. Paris 1854.
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Erste Periode der Inoculation.nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp;69
Berechnung, dass, wenn die Inoculation seit 1726 allgemein in Frank­reich benutzt worden wäre, dem Staate 760,000 Menschen erhalten sein würden, welche nun innerhalb der 28 Jahre den Blattern zum Opfer gefallen wären.
Die Bestrebungen delaCondamine's fanden in der Schweiz an Tissot, Haller und Bernouillidie kräftigste Unterstützung. Tis-s o t 's vortreffliche Schrift l) brachte die in diesem Lande bisher wenig beachtete Inoculation zu Ehren; sie erschöpfte Alles, was sich zu Gunsten der Methode sagen liess, fand reissenden Absatz und wurde auch auswärts viel gelesen. Im J. 1759 wandte sich der imermüd-liche Vorkämpfer der Inoculation gegen de Haen mit seiner be­rühmten Streitschrift: Lettre sur rinoculation, und später fand auch eine Brochure des Grafen Roncalli, welcher sich an die Spitze der Anti-Inoculisten Italiens gestellt hatte, ihre Abfertigung. Die Inocu­lation, gegen .welche das Volk bereits fanatisirt war, fing von da an Boden in Italien zu gewinnen, und wiederum war es eine Frau, die Marchese Buffalini, welcher sie die wesentlichste Förderung ver­dankte; Florenz erhielt ein Inoculations-Hospital.
Nach Holland war die Blatternimpfung im J, 1748 gekommen, ohne besonderen Anklang zu finden; nach Dänemark und Schwe­den gelangte sie im J. 1754. Trotz der Gegenbemühung der Re­gierung, und mancher privaten Anstrengungen, verhielt sich die Be­völkerung Dänemarks zu derselben mehr als lau. Dagegen wurde das Schutzmittel in Schweden, wo die Blattern längst als die vor­nehmste Ursache des Volksmangels schwer empfunden waren, mit Freude begrüsst. Die Regierung belehrte und munterte unablässig das Volk auf, prämirte die thätigen Impfärzte, und die Begüterten boten den Armen reichlich die Mittel dar, um die Kosten, welche die Inoculation erforderte, zu bestreiten. In Gothenburg und Chri­stianstadt entstanden Impfhäuser, und unter 7 — 8000 Inoculirten hatte man keinen Unglücksfall zu beklagen.
Auf deutschem Boden dagegen schlug in dieser Zeit die neue Schutzmethode nur schwache Wurzeln, Hannover und Sachsen viel­leicht ausgenommen, wo sich englische Einflüsse wirksam zeigten. Die Gesammtzahl der Inoculirten im übrigen Deutschland war noch zu Anfang der 70er Jahre kaum so gross, als in England nach den drei ersten Jahren. Es fehlten der Inoculation die fürstlichen Gönner,
1) L'inoculation justitiee, ou dissertation pratique et apologetique sur cette methode. Lausanne 1754.
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70nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; II- Die Inoculation der Menscheublattern. Variolation.
deren sie in Deutschland mehr als anderwärts bedurfte, sowie die freigebigen Hände der Privaten, welche in öffentlichen Anstalten den kostspieligen Schutz für den Unbegiiterten ermöglichten. Auch musste die grosso Menge, welche nur schlecht über die Bedeutung der Maass­regel unterrichtet war, misstrauisch werden, wenn die Reichen, wie es häufig geschah, ihre Kinder nach fremden Orten zur Inoculirung schickten. Zu alledem kam die Meinungsverschiedenheit der tonan­gebenden Aente. Van Swieteu widerrieth der Kaiserin Maria Theresia, ihrer Tochter, der Erzherzogin Elisabeth, die künstlichen Pocken geben zu lassen, obgleich deren ältere Schwester den natür­lichen so eben erlegen war, und de Ha en's wuchtige Opposition lichtete mehr und mehr die Reihen' derer, welche die Methode in Oesterreich und Deutschland gewonnen hatte. Viele redlich ge­sinnte Impfärzte wurden eingeschüchtert, impften mit viel Bedenk­lichkeiten, und übertrieben die Vorsicht; — die Inoculation aber rückte unter solchen Umständen, zum Leidwesen der wahren Men­schenfreunde, kaum von der Stelle. — Nicht viel besser stand es um dieselbe jenseits des Oceans, in den Colonien Englands.
So schleppte sich die Inoculation fast in allen Ländern bis zum Jahre 17(30 hin, und diese erste Periode ist nichts mehr als ein Existenzkampf, welchen sie führte. Das Haupt der Gegnerschaft war de Haen, der freilich bei dieser Gelegenheit seineu Ruhm nicht mehrte. Auch sein oberstes Argument gegen die Insition der Blat­tern lautete, dass dieselbe gegen den göttlichen Willen verstosse, welcher keinem Menschen gestatte, sein Leben vorsätzlich in Gefahr zu bringen. Er behauptete ferner, dass die Pockeuseuchen keines­wegs so verheerend seien, als gemeinhin angenommen würde, und dass sehr viele Menschen von denselben ganz verschont blieben, dass mithin kein Grund vorliege, die künstliche Blatternkrankheit allge­mein zu machen. Indem er andrerseits die Gefahren der letzteren weit übertrieb, kam er dahin, die Verluste an Menschenleben bei der Inoculation höher zu veranschlagen, als wenn man die natür­lichen Blattern walten lasse. Uebrigens könne die insitive Methode den gehofften Vortheil nicht gewähren, weil die Blattern (eine aber­malige Uebertreibung) häufig zweimal den Menschen befallen; es seien daher natürliche Blattern nach den künstlichen nicht selten beobachtet worden. Zu alledem komme die Gefahr, mit welcher die Inoculirten die Gesunden bedrohten, indem sie das Gift zer­streuten, und zu neuen Erkrankungen und Epidemien Veranlassung böten. Auch wurde frischweg gelehrt, dass mit der Variolation andere Krankheiten auf den Impfling übergingen.
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Erste Periode der Inoculation.nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; 71
Es ist wahr die erbitterten Gegner Hessen nicht ab, diese und andere Anklagen gegen die Inoculation fort und fort in das Publikum zu schleudern, und die starken Voruvthcile, sowie die Indifferenz der Menge standen als Verbündete auf ihrer Seite, und doch muss die wahre Ursache, warum das damalige Europa so zögernd einem Mittel entgegenkam, welches die Erlösung von der brennendsten Plage verhiess, und dieselbe Tausenden thatsächlich brachte, an einer anderen Stelle gesucht werden. Es waren die Aerzte selbst, welche die Schuld trugen — und wir müssen von einer Schuld der Aerzte sprechen, wenn auch die Unhaltbarkeit der Inoculation, ein Menschenalter später, klar vor Aller Augen treten sollte.
Die Inoculation der natürlichen Blattern war das erste, und ein grosses pathologisches Experiment, welches, ohne ihr Zuthun, in die Hände der Aerzte gelegt war. Aber Niemand verstand zu experi-meutiren, und die Mehrzahl ahnte nicht einmal die Aufgaben, welche darin enthalten waren. Die Inoculationspraxis war jeder Wissen­schaftlichkeit baar, und nirgends entdeckt man das Bestreben, der capitalen Thatsache näher zu treten. Im Gegentheil: der neue Fund ward sofort unter dem Hypothesenkram der Vergangenheit und Gegen­wart erstickt. Von der Einbildung ausgehend, dass Mercur, Spiessglanz und dergl. das Pockengift zu verändern oder abzuschwächen vermöch­ten, dass Purganzen und Brechmittel das Blut reinigten, unterwarf man die Impflinge langen und eingreifenden Vorbereitungscuren. Die zu inoculirende Materie wurde den, in voller Suppuration stehenden, oft den überreifen Pockenpusteln entnommen, und das Quantum des Giftes, welches dem Körper einzuverleiben sei, hielt man für gleich­gültig. Die Methode der Pockeninsertion hatte sich von der volks-thümlichen Einfachheit, dem Nadelstich, bald entfernt. Indem man ohne Grund annahm, dass der Pockenmaterie, welche durch die Einpfropfung im Körper erzeugt worden sei, auch wieder ein Ab-fluss verschafft werden müsse, waren die mehrfachen, zolllangen und tiefen Impfschnitte für nothwendig erachtet worden, in welche Fäden, mit Pockeneiter getränkt, hineingelegt wurden, und deren Eiterung man dann noch künstlich verlängerte. Und das war die schlimmste Methode nicht; manche Inoculatoren Hessen den Pockeneiter in vor­her angelegte Fontanellen eintropfen, oder befestigten Schwämme voll Pockeneiters auf grossen Vesicatorflächen. Andere rieben den Eiter auf wunden Hautstellen energisch ein; selbst mit der Scheere wurden Hautstücke abgetragen und Blatternschorfe in die Wunden gepresst. Keine Körperstelle blieb verschont, selbst die Schienbeine
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nicht, obgleich es hier gewöhnlich tiefe und lange eiternde Geschwüre gab. Die Impfwunden versehloss man sofort durch Compressen, oder Pflaster und Salben, und durch Rollbinden. Im Widerstreit mit der kühlen Behandlung, welche Sydenham und andere Meister für die natürlichen Pocken sanctionirt hatten, huldigte man bei den künst­lichen von Neuem dem verwerflichen Regimen calidum, und übte die weitere Nachbehandlung mit Purganzen u. dgl. ebenso schonungslos, wie die Vorbereitung: Es gab auch Aerzte, welche die Inoculation, auf die Wahrnehmung hin, dass schwächliche Personen zuweilen nach überstandenen natürlichen Blattern kräftiger wurden, als ein Heilmittel für debile Constitutionen, chronische Leiden aller Art, Schwindsucht nicht ausgenommen, anpriesen. Kurz, die „Kunstquot; überbot sich, das Geschenk des Volkes zu verunstalten, und die Blatternimpfung artete zu einem verwegenen Spiel aus, dessen Glück der Zufall beherrschte. Aber auch die gemeine Habsucht bemäch­tigte sich derselben. Die Charlatanerie der Impfarzte, ihre Markt­schreierei im wörtlichen Sinne, ihr Geheim- und Grosstbun mit beson­deren Kunstgriffen und specifischen Mitteln war in allen Ländern berüchtigt. Aus den einfachen Nadelstichen der hindostanschen und griechischen Weiber ward eine Operation des grössten Stils. Ein „Arztquot; leitete wochenlang die Vorbereitung, ein „Wundarztquot; inserirte die Pocken und besorgte quot;die Wunden, während später wiederum der erste Arzt die innere Nachbehandlung übernahm.
Keiner hat dieses erbärmliche Treiben, welches die Blatternangst des Publikums ausbeutete, mit beissenderem Spotte überschüttet, als Gatti. „Die Gewinnsucht der Aerzte befindet sich zu wohl bei der Präparation, bei der complicirten Art zu inseriren, und bei der üblichen Behandlung; die Aerzte werden sogar allezeit aus der Präparatioa einen wesentlichen Theil der Inoculation machen, und werden solchen den grossen Vortheil zuschreiben, welchen die inoculirten Blattern vor den natürlichen voraus haben; sie werden immer mehr oder weniger präpariren, oder wenigstens so thun, als ob sie präparirten, sie werden fortfahren, eiternde Wunden zu verlangen, weil dieselben noch zwei oder drei Wochen nach geendigter Krankheit, wie die Präparation zwei oder drei Wochen vor deren Eintritt, die Aufsicht und Hilfe des Impfarztes erfordern; denn ihnen ist es vortheilhaft, dass man glaube, es gehöre viel Fleiss und viele Wissenschaft dazu. — Der Eigennutz des Irapfarztes bringt es mit sich, dass die Krankheit, welche man durch die Inoculation bekommt, lieber ein wenig stark, als gar zu leicht sei. Je mehr man ausgestanden hat, desto lebhafter ist das Andenken der Gefahr, welcher man ent-
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Zweite. Periode der Inoculation. Gatti.nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; 73
gangen ist, und desto gewisser auch die Erkenntlichkeit gegen den Arzt.quot;
So blieb bald die Masse der Armen und Unbemittelten von der kostspieligen Schutzmethode ausgeschlossen; und wenn sie sich trotz­dem, ohne jedes Verständniss für dieselbe, ihre Vortheile zu Nutze machen wollte, dann kamen nicht selten die banalsten Verirrungen vor. Ein Bauer, im Magdeburgischen, welcher von der Inoculation gehört, und dem sie einleuchtete, kaufte in der Stadt Pockeneiter, und gab denselben seinem Sohne zu Hause mit Bier gemischt ein; das Kind starb an bösartiger Variola.
Mit den ersten 60er Jahren beginnt die zweite Periode der Inoculation, welche de Haen's anmaassendes Wort, es stehe von derselben nichts Neues mehr zu erwarten, zu Schanden machte.
Im Jahre 1760 kam Angelo Gatti, Professor in Pisa, welcher im Orient und in Griechenland die Blatternimpfung studirt, und in Constantinopel praktisch geübt hatte, nach Paris. Die ungewöhn­lichen Erfolge seiner Impfungen, und die durchweg neuen Regeln, welche er für dieselben aufstellte, gaben der hinsiechenden Inocu­lation in Frankreich, und bald auch auswärts, neues Leben, und ein Paar geistvolle Schriften, die er veröffentlichte, machten aus der rohesten Empirie eine wissenschaftlich durchleuchtete Methode.
Niemand ist im verflossenen Jahrhundert tiefer in das Wesen der Blatterninoculation eingedrungen, als Gatti, und Niemand ist sich dessen, was er mit der kleinen Operation erstrebte, klarer be-wusst gewesen; kein Anderer konnte demnach zuversichtlicher für dieselbe in die Schranken treten.
Gatti ist eine wunderbare Erscheinung in der Medicin des vorigen Säculums; fast jede Seite der, vor hundert Jahren geschrie­benen Büchelchen überrascht durch Anschauungen, welche weit aus dem Rahmen der medicinischen Bildung jener Tage heraus­treten, und welche wir für die Früchte unserer Arbeit und Einsicht zu halten geneigt sind. Ein durchaus unbefangener und sicherer Beobachter, scharfsinnig im Deuten und Folgern, mit vollem Ver­ständniss für das pathologische Experiment, welches auf eine richtig gestellte Frage die zweifellose Antwort geben muss, erscheint Gatti als der medicinische Naturforscher im besten Sinne der heutigen Zeit. Es ist nicht zu viel gesagt, dass die Vaccination zwar ihren Jenner, aber keinen Gatti aufzuweisen hat, und man trägt von der Blatterninoculation des vorigen Jahrhunderts oberflächliche Vor­stellungen davon, wenn man Gatti's Schriften nicht kennt, welche,
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neben dem Inhalte, durch eine überaus klare Darstellung, wie durch die Bescheidenheit und Humanität der Gesinnung ausgezeichnet sind ').
Nachdem Gatti 's. die zweite Schrift) zuerst den wissenschaft­lichen Stillstand dargelegt hat, in welchem die Inoculation, seit ihrem Eintritt in das westliche Europa, verharrt, und nachdem er als Ur­sache dieses Stillstandes die Trägheit der Schriftsteller getadelt, welche immer nur über den Nutzen oder den Schaden der Schutz­maassregel gestritten, und nicht auf ihre Vervollkommnung bedacht gewesen wären, trotzdem die mancherlei Misserfolge dringlich genug dahin gewiesen hätten, — will er auf Grund seiner zahlreichen, und mit allen Methoden geprüften Erfahrungen, nicht die Inoculation rechtfertigen (dessen hält er sie nicht bedürftig), sondern die beste Art ihrer Ausführung behandeln. Und zwar habe ich nur vorgesetzt zu beweisen, sagt er, dass man gerade das Gegentheil von dem denken und thun müsse, was bisher gedacht und gethan ist.
„Alle Aerzte haben gesagt, man mlisse die Person, welche man inoculiren wolle, 1) präpariren, man müsse 2) solche Impfwunden anlegen, welche der eingeimpften Materie später einen guten Aus-fluss verschaffen, und man müsse 3) sobald die inoculirten Pocken ausgebrochen seien, denselben alle Hilfe und Sorgfalt der Kunst zu­wenden. Ich dagegen sage, man muss nicht präpariren, man darf der Blatternmaterie keinen Ausfiuss verschaffen, und man soll die geimpfte Person der Natur überlassen.quot;
1. Von der Präparation. Ein Subject zur Inoculation präpa­riren heisst, sich bemühen, demselben gewisse Anlagen, oder eine bestimmte Disposition zu verschaffen, welche man für nöthig er­achtet, damit es mit dem geringstmöglichen Nachtheil der Gesund­heit die ihm beigebrachte Krankheit überstehen könne. Gibt es solche Disposition oder besonderen Anlagen für die Pockenkrank­heit? Wir kennen sie nicht, und es lässt sich demnach aus ihnen keine Methode der Präparation ableiten. Wenn wir aber keine der­artige besondere Disposition kennen, so kennt man doch sehr genau eine allgemeine, welche unumgänglich erfordert wird, um die Blattern mit dem geringsten Nachtheil für die Gesundheit zu überstehen, und das ist — die Gesundheit selbst. Das Gift, welches man beibringt.
1) Reflexions sur les prejuges, qui s'opposent aux progres et ä la perfection de l'inoculation. Bruxelles et Paris 1764. — Xouvelles reflexions sur la pratique de l'inoculation. Bruxelles 1766. Ins Deutsche übertragen von Bode. Ham­burg 1772.
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Gatti.
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und die Krankheit, welche die Folge davon ist, greifen die Gesund­heit an, und der Stoss, welchen dieselbe erleidet, muss, wenn sonst alle Umstände gleich sind, desto beftiger sein, je schwächer die Ge­sundheit ist, und umgekehrt. Uebrigens lehrt die Erfahrung, dass diese allgemeine Anlage beständig gute Blattern zur Folge hat, wenn . nicht fremdartige Ursachen, Irrthümer bei der Mittheilung des Giftes, oder bei der Behandlung verschlimmernd dazutreteu und die Natur in ihrem Geschäfte stören. Es ist also einzig und allein die Ge­sundheit, worauf man bei der zu inoculirenden Person zu sehen hat, und die Vorbereitung kann nur darin bestehen, dass man bei man­gelnder Gesundheit dieselbe wiederherstellt. Eine Person, welche sich nicht wohl befindet, muss geheilt, und nicht inoculirt, und hin­gegen diejenige, welche sich wohl befindet, muss inoculirt, und nicht präparirt werden.
Aber jede besondere Präparation ist auch gefährlich, weil man eine Veränderung in dem Gesundheitszustande Jemandes, der sich wohl fühlt, herbeizuführen wagt. Nur negativ kann die Vorbereitung geschehen, indem mau ihn auffordert, Dinge zu vermeiden, welche der Gesundheit nachtheilig sein können, und sich jedes Uebermaasses im Essen, Trinken wie im Arbeiten u. s. w. zu enthalten.
Alle jene Vorstellungen, welche über die Notwendigkeit der Präparation im Schwange sind, jene Bestrebungen, die Säfte zu mildern, das Blut zu reinigen und zu erfrischen, die Geneigtheit des Blutes zur Entzündung zu verringern, versteht in Wahrheit keine Seele, und die sog. speoifisehen, auf Schwächung des Blatterngiftes gerichteten Arzneimittel, das Quecksilber, der Spiessglanz, die Fieber­rinde, richten, in dieser Absicht verwandt, mehr oder weniger Un­heil an.
Zu alledem lehrt die Geschichte, dass in der ganzen Levante, wo die Inoculation am längsten und glücklichsten geübt wird, keine Vorbereitung stattfindet, sondern nur auf die Gesundheit des zu in­oculirenden Subjectes geachtet wird. Desgleichen sind in Europa die verständigen und glücklichen Inoculatoren immer mehr vom Prä­pariren zurückgekommen, und eine Kritik der günstig und unglück­lich abgelaufenen Inoculationen bestätigt die Eichtigkeit dieses Ver­haltens.
2. Von der Insertion. Die Materie, welche man dem Körper inoculiren will, muss, wenn mau die äussere Decke zur Eingangs­pforte wählt, auf die gefässreiche Schicht derselben gebracht werden. Das Blatterngift ist so intensiv, dass das kleinste Theilchen ebenso gut, als eine grosse Menge, die Blattern gibt. Es genügt demnach.
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die Epidermis mit einer in den Pockeneiter getauchten Nadel leicht zu durchstechen, und letztere ein bis drei Linien zwischen Oberhaut und Cutis fortzuschieben. So haben es die ersten Impfärzte des Volks, meist Weiber, in Griechenland, auf verschiedenen Inseln des Archipels und in Italien gethan, und sind gut dabei gefahren. Nur die Aerzte haben nach und nach immer künstlichere Methoden an die Stelle der einfachen gesetzt, und sogar complicirte Instrumente (Impfschuepper) ersonnen. — Gegen die damals verbreitetste Me­thode der Impf schnitte richtet nun Gatti seine Kritik. Da das Mehr oder Weniger der beigebrachten Pockenmaterie durchaus nicht gleichgültig ist, so erregen die Schnitte, in Verbindung mit den ein­gelegten Eiterfäden, eine heftigere örtliche Entzündung, als der Nadelstich, und bedingen einen stärkeren Blatternausbruch sowol an der Impfstelle, als später auf dem übrigen Körper, also eine grössere Krankheit.
Den Nadelstichen entspriessen eine oder etliche reguläre Blattern an der Impfstelle, die Einschnitte dagegen verändern diesen Normal­verlauf, und erzeugen, anstatt gewöhnlicher Pocken, Wunden und Geschwüre, welche unter günstigen Umständen in einigen Wochen heilen, oft jedoch zu einer langen Nachkrankheit, oder zum Roth­lauf Veranlassung geben. Die Lehre von dem nothwendigen Aus-fluss der Blatternmaterie aus den Impfwunden entstammt einem groben Irrthum (auch de Haen theilte ihn), welchen die bessere Kenntniss von der menschlichen Oekonomie, und etwas mehr Auf­merksamkeit auf den normalen Gang der Inoculation in der Geburt hätte ersticken müssen.
Auch der Erfolg, welchen die Operation hat, lässt sich bei der Schnittmethode häufig nicht richtig beurtheilen, weil sie, wie er­wähnt, das einzige Kriterium der gelungenen Operation, die Bildung guter Pocken und charakteristischer Narben an der Impfstelle ver­eitelt. Diese Unsicherheit des Urtheils über den Ausfall der Inocu­lation kommt aber ihren Feinden erwünscht, und die Fehler der Insertion werden zu einem Vorwurf gegen das ganze Verfahren.
Was die Materie betrifft, so darf niemals der Inhalt einer in voller Eiterung stehenden Blatternpustel benutzt werden, und der direct übertragene Stoif ist dem aufbewahrten vorzuziehen. Ferner hatte Gatti die Beobachtung gemacht, dass die Pockenlymphe im Allgemeinen gutartige Eigenschaften zeige, wenn sie bereits durch eine Reihe von Individuen gegangen sei, dass also die Abimpfung von inoculirten Blattern eine mildere Krankheit setze.
Als Impfstelle bevorzugte Gatti (dem orientalischen Gebrauche
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Gatti. Sutton. Dimsdale.nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; 77
so viel als möglicli sich anscliliessend) die breite Falte zwischen Daumen und Zeigefinger auf der Dorsalfläche der Hand; die Haut erleide daselbst bei der nachfolgenden Entzündung geringere Span­nung, sei der Luft beständig ausgesetzt, und gestatte eine bequemere Beobachtung. Uebrigens könne auch mancher andere schickliche Ort gewählt werden, nur die Beine nicht, wo schwer heilende Ge­schwüre zu folgen pflegen.
Jeder Verband der Impfstiche, jedes Pflaster auf denselben wirkt schädlich.
3. Eine Behandlung der geimpften Blattern erklärt Gatti für tiberflüssig, aber ein kühles Verhalten der Inoculirten im weitesten Umfange sei wesentliche Bedingung. Das Glück, welches die In­oculation seit einigen Jahren in mehreren Theilen Englands begleitet hatte, wird dem ausgiebigen kühlen Verfahren zugeschrieben. 1200 Personen in den nördlichsten Provinzen Schottlands, zur Winterszeit geimpft, gingen im Freien umher (A. Monro). Auch bei lebhaftem Eruptionsfieber ist die Kälte das trefflichste Gegenmittel, und schaltet hier Gatti über die Unmöglichkeit, die aeuten Exantheme durch Kälte zurückzutreiben, Bemerkungen ein, welche selbst heute keineswegs die Ueberzeugung aller Aerzte geworden sind. — Sehr richtig wird auch das psychische Verhalten der Inoculirten berück­sichtigt. Die eigenthümliche Erregtheit der Pockenkranken fordere ihre Beschäftigung und die Zerstreuung des Gemüthes. — Wo die Kälte nicht ausreicht, die Gehirnerscheinungen in der Fieberperiode zu dämpfen, wird Opium in grossen Dosen empfohlen. —
Um dieselbe Zeit, als Gatti in Frankreich die Reform der In­oculation unternahm, traten in England die Gebrüder Sutton mit einer „neuenquot; Impfmethode hervor, welche ihnen schnell den Ruf der glücklichsten Impfpraktiker in ihrem Vaterlande verschaffte, und die Inoculation einem ungeahnten Aufschwünge daselbst entgegen­führte, als der eine von ihnen, der Wundarzt war, aus der Provinz nach London tibersiedelte (1767). Von angeblich 17,000 Personen, welche er nach seiner Art bis dahin inoculirt hatte, sollten nur sechs oder sieben gestorben, und bei den Uebrigen immer nur wenige Pocken hervorgekommen sein.
Mit Gatti steht dieser betriebsame Routinier, dessen Name in der Geschichte der Inoculation so viel mehr genannt wird, nirgends auf einer Linie. Er machte anfangs aus seiner Kunst ein Geheim-niss, und nahm später Lehrlinge an, welchen er, unter dem Gelübde der Verschwiegenheit, ein Manuscript mit den „ Grundsätzen und Re-
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gelnquot; seiner Methode feierlich einhändigte. Dieses „geheime Manu­script-' gelangte 1774 in die Oeffentlichkeit'), aber das Neue, was man daraus erfuhr, waren nichts als Recepte zu abführenden Pillen, Pulvern und säuerlichen ätherischen Liqueuren, womit den Inoculirten abwechselnd zugesetzt wurde. Das wahre Geheimniss der vorzlig-licheu Resultate, welche Sutton, in Ansehung der massigen Zahl und der Gutartigkeit der ausbrechenden Blattern, aufzuweisen hatte, lag offen zu Tage in der geringen Quantität von Pockenmaterie, die er mittelst der Lancette seicht unter die Oberhaut einführte, in der Auswahl der Lymphe, welche nur den 4 bis 5 Tage alten Pocken­bläschen entnommen wurde, in dem Fortfall jedes Verbandes und der durchweg kühlen Behandlung, welche er mit äusserster Strenge bei den Inoculirten in Anwendung brachte, kurz: in lauter Gatti­schen Grundsätzen.
Trotzdem ergriff das übrige Europa die Inoculation erst dann wieder lebhafter, als Thomas Dims dale die Methode von Sut­ton aufnahm, und den Charlatanismus von ihr abstreifte. Auch Dimsdale wagte nicht, sich der reinigenden und alterirenden Vor-bereitungscureu ganz zu entschlagen, aber seine grossen praktischen Erfolge, seine vortrefflichen Schriften und der reine Charakter, wel­cher sein Wirken leitete, erhoben ihn schnell zu der ersten europäi­schen Autorität des Faches, und die berühmt gewordene Inoculation der Kaiserin Katharina von Russland und ihres Sohnes, des Gross-fürsten Paul, wozu er I76S nach Petersburg berufen wurde, verliehen seinem Namen weiten Glanz.
So blieb die Sutton-Dimsdale'sche Methode, wie sie fortan hiess, bis zum Schlüsse des Jahrhunderts, so lange als die Inoculation noch in Kraft stand, das Vorbild der Aerzte aller Länder; nur We­nige, vor allen Paul Camper in Holland, schlössen sich mit vollem Verständniss und durchweg an Gatti an, zugleich auch mit dem Bestreben, die Methode wissenschaftlich zu vervollkommnen.
Damit schliesst die innere Entwickelung der Inoculation, und es dürfte hier der Ort sein, die Pathologie der Schutzblattern ein­zuschalten, wobei, neben Gatti und Dimsdale, die Angaben der besten Inoculatoren jener Zeit, eines Tissot, Camper, Rosen­stein und, unter den späteren, die von Hufeland, Portal u. A., zur Richtschnur dienen werden.
1) Villiers, Kine geheime Handschrift des Hrn. Sutton.. Aus dem Fran­zösischen. Frankfurt u. Leipzig 1776.
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Pathologie der iuoculirten Blattern.nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; 79
Die Pathologie der inoculirtcn Blattern.
Das Kindesalter wurde für die geeignetste Zeit zur Vornahme der Inoculation gehalten, und zwar die ersten sechs Lebensmonate. Waren sie verpasst, dann sollte das Ende der Dentition, das 3.— G. Lebensjahr abgewartet werden. Dass auch Neugeborene, mit Erfolg und ohne besondere Gefahr, der Operation unterzogen werden könnten, hatte Dr. Locher in Wien gezeigt, welcher von 34 inocu-lirten Neugeborenen nur eines verlor l). Der abenteuerliche, in einem Gebärhause Deutschlands ausgeführte Vorschlag, den Fötus durch die Mutter hindurch zu inoculiren, hat nur wegen der Beobachtung, aus welcher er entsprungen, Interesse: dass nämlich geimpfte Schwangere zuweilen Kinder mit Pockennarben zur Welt brachten. — Auch die Zeit bis zum 2o. Lebensjahre erschien noch vortheilhaft, während in den späteren Altern starke Eruptionen, und damit schwere Erkrankungen nach der Inoculation gefürchtet wurden.
In der Auswahl der Impflinge verfuhr man seit Dims dale weniger ängstlich, als früher, und schloss eigentlich nur die Kranken und Kachektischen aus; beim weiblichen Geschlecht gab die Men­struation und die Schwangerschaft gewöhnlieh eine Contraindication.
Wenn keine Noth drängte, wurde die Impfung in die kühlere Jahreszeit, in den frühen Frühling oder späten Herbst verlegt.
Die Klugheit gebot, die zu Inoculirenden 12-14 Tage vorher den allgemeinen Verkehr, so viel als thunlich, meiden zu lassen, damit sie nicht, von den natürlichen Blattern zufällig angesteckt, zur Impfung kämen.
Ueber den Werth einer speeifischen Präparation der Impflinge dürfte Gatti's Urtheil maassgebend sein. Aber die meisten Praktiker dachten anders, selbst aufgeklärte Aerzte gaben wenigstens der „Ignoranz der Modequot; nach, und die Vorbereitung blieb, wenn auch schonender, als ehemals, ein wesentlicher Theil des Verfahrens.
In Betreff der Insertionsweise hat man sich niemals geeinigt; die Nadel und Lanzette waren vielleicht am wenigsten im Gebrauch. Hufe land und viele Andere hielten die Inoculation mit kleinen Blasenpflastern für die verlässlichere Methode.
Alle vorsichtigen Inoculatoren verwandten die dünne lymph­artige Materie der, 4 oder 5 Tage alten Pockenbläschen, und nahmen
1) Observ. pract. circa inoculationem in neonatis instit. Vienn. 1768.
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80nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp;II- Die Inoculation der Menschenblattern. Variolation.
sie gern von leicbt Erkrankten. Gatti führte die Lymphe der künstlichen Blattern ein, und die glücklichsten Impfärzte in Eng­land, sowie Camper in Holland, stimmten ihm darin hei, dass das Pockengift, von Arm zu Arm weiter geführt, eine Mitigation zu er­fahren scheine. Behufs der Aufbewahrung wurde der frische flüssige Stoff auf Fäden, Charpie, Leinwandstückchen, oder Schwämmen ge­trocknet, und in Fläschchen verschlossen, oder zwischen Glasplatten gesammelt. Erst später führte Struve hermetisch versiegelte Thermo­meterröhren zur Aufbewahrung der flüssigen Lymphe ein. Auch pulverisirte Pockenschorfe wurden benutzt.
Was endlich die Zahl der Impfstiche betrifft, so wagte man an­fangs nur einen oder wenige. Dims dale empfahl, des sicheren Erfolges wegen, jedem Arme 2—3 Stiche zu geben. —
Die inoculirten Blattern durchlaufen vier deutlich geschiedene Perioden.
Die erste Periode, die Incubation, reicht vom Acte der Insertion bis zur ersten sichtbaren Wirkung des Blatterngiftes an der Impfstelle. Sie beträgt durchschnittlich drei Tage, und ist sym-ptomenlos: die Stiche oder Schnitte scheinen, nachdem die trauma­tische Reaction sich verloren hat, zu vergehen, und das Allgemein­befinden bleibt ungetrübt.
Die zweite Periode begreift die Lokaleruption; es er­heben sich', unter massigem Jucken, am 3. oder 4. Tage (selten später) rothe Knötchen an den Einstichen, welche in den folgenden 4 bis 5 Tagen zu wirklichen Blattern sich ausbilden. Zugleich wird die Achselhöhle schmerzhaft, indem ihre Drüsen anlaufen, und der Schmerz theilt sich zuweilen der ganzen Schulter mit. Diese zweite Periode, von durchschnittlich viertägiger Dauer, geht bis zum 7. oder 8. Tage post inoculationem. Sie schliesst mit dem
Eintritt des Fiebers ab, welches die dritte Periode charak-terisirt. Dasselbe entwickelt sich allmählich, oder hebt plötzlich an, und ist in seiner Stärke sehr ungleich. Frost, mit Hitze abwechselnd, allgemeine Angegriffenheit, Schwere des Kopfes, Lendenweh und gastrische Störungen begleiten es. Bei jungen Kindern wurden Con-vulsionen so häufig beobachtet, dass sie fast zu dem Processe zu ge­hören schienen. Die Fieberperiode dauert 2- bis 3mal 24 Stunden (vom 8.—10. Tage post inoculation.); während derselben reifen die Lokalblattern, fangen an sich zu trüben, und die Hautentzündung ringsum, sowie die Armgeschwulst stehen auf ihrer Höhe. Zuweilen bricht in der zweiten Hälfte des febrilen Zeitraumes eine mehr oder
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Pathologie der inoculirten Blattern.nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; 81
weniger verbreitete Scharlachröthe (rasb) auf dem Körper aus, welche nach 24—36 Stunden verschwindet.
Die vierte Periode endlich begreift die Generaleruption: Das Fieber erlischt, die Entzündung am geimpften Arme geht zurück, die Kranken atlimen freier auf, aber der Körper bedeckt sich, in 2—3 Tagen, bald typisch vom Gesicht aus nach abwärts, bald un-regelmllssig hier und dort, mit Blatternknötchcn, welche allmählich in Pockenbläschen sich umwandeln. Der allgemeine Pockenaus-bruch Ülllt durchschnittlich auf den 10. oder 11. Tag, unterliegt jedoch Schwankungen bis zum 12. und 13. Tage, je nachdem sich nämlich das Fieber früher oder später an die Lokaleruption ange­schlossen hat. Zwischen dem Grade dieses Fiebers und der Stärke der allgemeinen Eruption besteht ein gewisser Parallelismus. Je weniger Pocken ausbrechen, um so besser tlir den Kranken. Ein massiger allgemeiner Ausschlag durchläuft, ohne erhebliche Belästi­gung desselben, seine Stadien in etwa 8 Tagen; bei zahlreichen Efflorescenzen tritt am 7. oder 8. Tage die Febris secundaria hinzu. Indem das Fieber und die Generaleruption die eigentliche Krank­heit der Inoculirten ausmachen, berechnet sich dieselbe im Durch­schnitt auf 14 Tage bis 3 Wochen, die ganze Inoculation auf 3—4 Wochen.
Es ist dies das Schema der inoculirten Blattern, wie sie, beab­sichtigt, wol auch in der überwiegenden Zahl der Fälle verliefen. Aber die Krankheit, welche der Einpfropfung folgte, konnte auch eine sehr ernste Gestalt annehmen; das Fieber trat dann in der Heftigkeit der natürlichen Ansteckung auf, und zog einen starken Ausschlag nach sich; Confluenz der Blattern, alle gefürchteten Nach­krankheiten und der Tod wurden beobachtet; kurz die künstliche Erkrankung unterschied sich in keinem Punkte von den berüchtigten Formen der zufälligen ').
Zum richtigen Verständniss der inoculirten Blattern sind noch einige Bemerkungen hinzuzufügen.
Zunächst fällt die ünregelmässigkeit in dem zeitlichen Verlaufe derselben auf, welche von dem typischen Gange der, auf gewöhn­lichem Wege erworbenen Variola abweicht; die Dauer der Lokal­eruption, der Eintritt des Fiebers, und die Zeit des allgemeinen
1) Darnach ist zu beurtheilen, was Heb ra in seinen ..Hautkrankheitenquot; (Handb. der spec. Path. u. Thef. von Virchow) behauptet, dass sich die Inoculatoren des verflossenen Jahrhunderts gewiss, zur Verhütung eines schlechten Ausganges, nie des Contentums der Efflorescenzen von Variola vera, sondern der Varicellen be­dienten (!).
Bohu, Handbuch der Vaccination.nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp;0
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Blatternausbruchs schwankten, nach den Schilderungen der Aerzte, nicht unbedeutend. Nach Rosenstein begann das Fieber zwischen dem 5. und 8. Tage, nach Tissot zwischen dem 6. und 8., oder noch später; bei Camper fiel es gewöhnlich auf den 8. und 9. Tag; Hu fei and verlegt dasselbe in den 6., 7. und 8., Portal in den 8., 9. und 10. Tag.
Die Fieberperiode war ferner im Allgemeinen durch die ge­ringere Heftigkeit der objectiven und subjectiven Beschwerden charak-terisirt; namentlicb wurden die starken Kreuz- und Lendenschmerzen, die grosse Aufgeregtheit der Variolösen fast immer bei den Inocu-lirten vermisst (Kirkpatrik).
Die Anzahl der später ausbrechenden Blattern variirte ungemein; nach Tissot betrug sie gewöhnlich 50—400, er sah aber einerseits zuweilen weit weniger als 50, und andere Male wiederum so viele, wie bei sehr zahlreichen discreten Pocken. Camper zählte in seinen Fällen 100—400 und 1000 Pocken, Huf eland bei vielen Kindern mehrere Tausende; die meisten hatten 4—500, und nur sehr wenige unter 50. Confluirende Blattern^ scheinen selten vorgekommen zu sein. Die Anzahl der Blattern bestimmte zwar die Leichtigkeit oder die Schwere der künstlichen Erkrankung, musste aber für den Zweck der Inoculation gleichgültig erscheinen, dem schon durch einige wenige genügt wurde. Gatti bemerkt, mit Rücksicht auf die Aerzte und Laien, welche zum Beweise der gelungenen Operation einen starken Pockenausbruch verlangten, class die Inoculation ein unsinniges Unter­nehmen wäre, wenn der Schutz vor den natürlichen Blattern, den sie beabsichtige, im geraden Verhältnisse stehen sollte mit der Anzahl der künstlich hervorgerufenen. Die Generaleruption konnte sogar nach dem Fieber ganz ausbleiben, ohne dass die Inoculation als misslungen zu betrachten gewesen wäre. Das waren die Fälle, wo dieselbe nur Lokal blättern, d. b. die Blattern an der Impfstelle, erzeugte. In dieser Ansicht stimmten die erfahrenen Impfärzte des verflossenen Jahrhunderts überein, während sie das Fieber als wesentliches und notwendiges Merkmal einer wirksamen Inoculation festhielten.
Auch die Entwickelung des variolösen Exanthems wich bei den Inoculirten vielfach von der echten Variola ab. Ein mehr oder weniger grosser Theil der Efflorescenzen pflegte die sämmtlichen Stadien der legitimen Ausbildung nicht durchzumaphen, sondern blieb auf einem niederen Stadium, um rasch sich zu involviren, zu ver-krusten und abzufallen. Deshalb und wegen der meist geringen Anzahl von Efflorescenzen gehörte das zweite Fieber nicht notbwendig
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Pathologie der inoculirten Blattern.nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; 83
zum- Bilde der künstlichen Variola, und pflegte, selbst bei dichterer Eruption, nicht entsprechend lebhaft zu sein. Nachkrankheiten kannte die Mehrzahl der Fälle nicht, und die Spuren der Uberstandenen Krankheit, die Narben, verschwanden meist schnell.
Es geht aus allem diesem hervor, dass die Inoculation bei einem grossen Procente der ihr Unterworfenen eine Va­riola modificata in Scene setzte, und das scheint denjenigen Inoculatoren besonders häufig geglückt zu sein, welche sich vor­wiegend des Impfstoffs von künstlichen Blattern bedienten.
Aus der Analyse der geschilderten vier Perioden kann der Gang, welchen der pathologische Process bei den inoculirten Blattern nimmt, wol erschlossen werden. Die Einsicht in denselben trägt zum späteren Verständnisse der Kuhpocken wesentlich bei.
Die Wirkung der in die Haut eingeimpften Variolalymphe ist anfangs eine örtliche, und die Efflorescenzen, welche aus den Ein­stichen hervorspriesseu, sind im strengsten Sinne Lokalblattern. Nachdem in denselben die Reproduction von flüssigem Giftstoffe ge­schehen ist, wird der letztere in das Blut des Impflings resorbirt, und damit die Infection des Organismus bewirkt, welche sich äusserlich durch die fieberhafte Erregung zu erkennen giht. Aus dieser allgemeinen Infection geht dann der universelle Ausschlag hervor. Das Fieber bedeutet daher ein wirkliches Infectionsfieber, welchem aus änsseren Gründen bisher der unpassende Name des Eruptions­fiebers beigelegt ist. Während der universelle Ausschlag, unbe­schadet des Erfolges der Operation, ausbleiben kann, erscheint das Fieber constant, und muss als die nothwendige Bedingung für die Variolation des Individuums angesehen werden.
Die Annahme, dass die Infection des Körpers nicht direct von dem inoculirten Gifte bewirkt wird, sondern erst aus den, von diesem gesetzten Lokalblattern des Impflings ertolgt, kann keinem Zweifel unterliegen. Das Infectionsfieber steht in einer zu deutlichen und consequeuten Abhängigkeit von der Eruption an der Impfstelle. Sein Beginn richtet sich strenge nach dieser; kommt sie nicht zu Stande, so entsteht kein Fieber, und zögert die Entwickelung der Impfblattern, so tritt das Fieber entsprechend später auf. Auch artet sich dasselbe in diesem Falle gelinder, fls wenn es frühzeitig erscheint. Da nun der Grad des Fiebers und die Stärke der nachfolgenden General­eruption ziemlich parallel gehen, so wird bei spät eintretendem und massigem Fieber die ganze Krankheit gutartiger verlauten.
Diese Beobachtung gehört Gatti an, welcher sich ganz klar
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84nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; . II. Die Inoculation der Menschenblattern. Variolation.
über die Verkettung der Vorgänge bei der Inoculation war, und darauf ein so einfaches, wie schlagendes Experiment gründete. Wenn der verzögerte Ausbruch des Infectionsfiebers günstig für den ganzen Verlauf der eingeimpften Krankheit ist, dann komme es darauf an, folgert Gatti, das vorausgehende Stadium der Lokal­eruption künstlich hinzuhalten. Wodurch lasse sich das erreichen? Durch die Kälte, antwortet er, weil sie die Ausbildung der Blattern erfahrungsgemäss verlangsamt. Damit ist das Experiment fertig: er lässt die Hand, an welcher inoculirt worden ist, von den ersten Spuren der Entzündung, so oft und so lange als möglich, in kaltes Wasser tauchen — und siehe da, das Fieber tritt sehr spät hinzu, ist unbedeutend und von einem schwachen allgemeinen Blattern­ausbruch gefolgt.
In der regelmässigen Betheiligung der zum Gebiete der Impf­stelle gehörigen Lymphdrüsen ist der Weg gezeigt, auf welchem der virulente Inhalt der Lokalblattern in die Blutbahn eindringt. Der Achselschmerz, von den angeschwollenen Lymphdrüsen bedingt, wurde daher bei den Inoculirten als ein frühes und sicheres An­zeichen der erfolgreichen Operation geschätzt.
Sobald das Fieber erloschen, und die Generaleruption vollendet ist, muss der eigentliche Blatternprocess als geschlossen betrachtet werden. Alle weiteren Zufälle, die etwa noch hinzutreten können, die Febris secundaria, die Nachkrankheiten sind die Folgen der Ent­zündung und Eiterung an der Haut und den Schleimhäuten, welche von den erschienenen Effloresceuzen abhängen. Die nämlichen Zu­fälle, behauptet Gatti, würden nicht ausbleiben, wenn man den Körper eines Menschen, durch irgend eine Ursache, mit ähnlichem Ausschlage bedecken könnte, wäre er gleich anderer Natur und anderen Ursprungs. Kommen gar keine Blattern auf dem Körper heraus, so fällt die letzte Periode bei der Inoculation fort, und die künstliche Krankheit ist in demselben Augenblicke, wo das Fieber aufhört, beendet. —
Es bleibt noch übrig, die P r o c e n t e der Haftung bei der In­oculation kennen zu lernen. Denn man würde weit fehlen, wollte man, durch die eminente Contagiosität der natürlichen Blattern verführt, meinen, dass es mit der Haftung der inoculirten Materie gar keine Noth gehabt hätte. Im Gegentheil, die JOagen über Fehlimpfungen waren häufig, und veranlassten eine Menge darauf hinzielender Sicherheitsmassregeln. Der Vorwurf traf allerdings mehr die an Fäden aufgetrocknete, überhaupt die aufbewahrte Materie, und die gekünstelten Insertionsmethoden, als die einfache Nadeloperation mit
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dem frischen Stoff — nichtsdestoweniger bleibt dieser Umstand be­fremdend.
Die schwedischen Aerzte zu Rosenstein's Zeiten, welche sehr sorgfältig inoculirten, fanden unter 100 Individuen 5, bei welchen die Inoculation absolut versagte; ungefähr zu dem gleichen Eesultat kam G a 11 i mit den verschiedensten Insertionsmethoden. Das stimmt auffällig mit der Procentzahl jener Personen übereiu, welche damals für immun gegen die natürlichen Blattern gehalten wurden. Denn man hat im vorigen Säculum berechnet, dass im Ganzen unter 100 Menschen des höheren Lebensalters 5 bis 6 angetroffen wurden, die niemals, trotz hinreichender Gelegenheit, geblättert hatten. —
Manchen anderen praktisch und theoretisch wichtigen Aufschluss über die Inoculation sind die Aerzte des vorigen Jahrhunderts schuldig geblieben. So wissen wir Nichts von der Kräftigkeit und Dauer des Schutzes, welche die inserirten Blattern in den einzelnen Lebens­altern, und bei den verschiedenen Methoden gewährten. Auch über die Anzahl der Impfpocken, welche zum wirksamen Schütze erforder­lich seien, ist, ohne Einigung, nur gestritten worden.
Allein es darf, wenn solche Ausstellungen erhoben werden, der schwierige Stand der Inoculation nicht übersehen, und namentlich nicht vergessen werden, dass ihr jenes Lebensalter versagt war, welches zur definitiven Entscheidung derartiger Fragen unumgäng­lich ist. Sind wir doch heutzutage in vielen wesentlichen Punkten der Vaccination nicht besser daran.
Die änsseren Schicksale der Inoculation im letzten Drittel des Will. Jahrhunderts.
Es war durch Gatti, Sutton und Dimsdale ein frischer Zug in die Inoculation gekommen; aber nur in wenigen Ländern Europas hat sich die Gesellschaft des vorigen Jabrhunderts innig mit ibr befreun­det, und die meisten Regierungen erwiesen ihr kaum mehr als Duldung, wenn sie nicht, wie häufig, die Gegenpartei unterstützten. Nur in England, Schweden und L i v I a n d drang die Schutzmethode tiefer in die Bevölkerungen ein, so dass diese Länder gewöhnlich als Muster hingestellt wurden. Man war mit der Einimpfung der Blattern in England so vertraut geworden, dass es vielleicht wenig Orte gab, wo sie nicht, und an vielen sogar von Laien ausgeübt wurde.
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II. Die Inoculation der Menschenblattem. Variolation.
In Schweden, wo sie von Anbeginn eine gute Stätte gefunden hatte, wuchs der Eifer unter der Sutton-Dimsdale'sehen Methode, und den Reformen Gatti's, welchem viele Aerzte in diesem Lande anhingen. Der Landmann kam dem vereinfachten Verfahren, das weniger Enthaltsamkeit auflegte, und geringere Wartung bei den Erkrankten forderte, willig entgegen. Der gefeierte Nils Rosen v. Rosenstein, durch Wort, That und Ansehen ihr vortrefflich­ster Sachwalter, versichert, dass die Inoculation in Schweden nie: mals offene Feinde gekannt hat. Die Regierung förderte sie nach Kräften auf jede Weise. Wir begreifen heute leicht warum gerade das menschenarme Schweden ein so geeignetes und dankbares Feld für die Inoculation abgab. — In Livland und Kurland gelang es vornehmlich den Bemühungen zweier Geistlichen, Eisen und Grot, die Inoculation zu dem zu machen, was sie in ihrer orienta­lischen Heimath gewesen war, zu einem Volksgebrauch, und sie hat sich daselbst in den Händen der Laien besser befunden, als ander­wärts bei den gelehrten Aerzten.
Das gilt besonders von Frankreich und Deutschland. Gatti's ungewöhnliche Impferfolge hatten in Paris ein abergläu­bisches Misstrauen unter dem Publikum erweckt, welches durch die früheren Impfstreitigkeiten im höchsten Maasse verwirrt worden war. Zudem ward man erschreckt durch die Frivolität mancher Mitglieder der vornehmen Gesellschaftskreise, welche, von Gatti inoculirt, öffentlich mit ihrer leichten Krankheit Parade machten. Die Ver­breitung der Blatternkrankheit durch die Inoculation bildete endlich den Grund oder Vorwand einer Anklage gegen Gatti beim Parla­ment, und das letztere verbot dieselbe im J. 1763, vorläufig in den Städten und Vorstädten du ressort de la cour. Zugleich wurde von der Pariser medicinischen Facultät ein Gutachten über die Inocula­tion erfordert, welchem später die theologische (!) ihre Ansicht bei­fügen sollte, damit der Generalprocurator seine EntSchliessungen fassen könne. Allein bis zu den beiden letzten Instanzen gelangte die Angelegenheit gar nicht. Der Zankapfel, welcher mit jenem Auftrage in die Mitte der medicinischen Körperschaft geworfen war, spaltete dieselbe sofort in zwei Lager, ein hitziger Streit -wogte resultatlos sechs Jahre hin und her, und das gelehrte und ungelehrte Publikum in und ausserhalb Paris ergriff leidenschaftlich Partei. Endlich legte sich der König Ludwig XV. durch einen Machtspruch ins Mittel; das Verbot der allgemeinen Inoculation wurde aufrecht erhalten, Gatti jedoch die Erlaubniss ertheilt, in der Militairschule wieder zu impfen. Manche der wohlhabenden Einwohner von Paris
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Aeussere Schicksale d. Inoculation im letzten Drittel d. XVIII. Jahrh. 87
hatten wälarend dieser Zwischenzeit auswärts die Inoculation auf­gesucht.
Am 10. Mai 1774 erlag Ludwig XV., von einem Landmädohen inficirt, 64 Jahre alt, den Blattern, wie 63 Jahre vorher sein Gross­vater, der damalige Dauphin von Frankreich. Der Schrecken hatte die Folge, dass Ludwig XVI. sich und einigen Prinzen, trotz des noch nicht aufgehohenen Verbots vom J. 1763, heimlich die Blattern inoculiren Hess, und dass viele Grosse des Hofes dem Beispiele folgten. Obgleich die Inoculation später weniger vom Staate behelligt und von den Gegnern bedrängt wurde, hat sie in Frankreich nicht entfernt den Umfang wie in England erreicht.
Ueber nicht geringere Hindernisse musste sie sich in Deutsch.-land den Weg bahnen, und die Vorgänge in Berlin liefern dazu einen vielfach charakteristischen Beitrag. Im J. 1775 berief Fried­rich der Grosse den englischen Impfarzt Baylies, der an verschie­denen Orten Deutschlands den Euf eines glücklichen Inoculisteu sich erworben hatte, nach Berlin, damit unter seiner Anleitung 14 Pro-vinzialärzte, welche daselbst versammelt worden waren, die Sutton-sche Impfmethode erlernten. Das grosse Friedrichs - Hospital und Waisenhaus mit seinen 400 Zöglingen wurde für den Unterricht zur Verfügung gestellt. Es ist das Tagebuch eines jener Provinzialärzte aufbewahrt, welcher die täglichen Ereignisse bei diesen Inoculationen registrirt hat: Keines der 24 inoculirten Kinder bekam, trotz des ein bis dreimal wiederholten Versuchs, wirkliche Blattern, und aus der schlichten, objectiven Darstellung des Tagebuches erhellt die ganze Unwissenheit und Charlatanerie des Engländers. Die Regierung nahm nach solch kläglicher Erfahrung von jeder weiteren Initiative Ab­stand. Auch mit mancherlei privatem Unglück hatte die Inoculation in Berlin zu kämpfen, indem ihr die Kinder aus mehreren ange­sehenen und allgemein bekannten Familien zum Opfer fielen ').
In Oestreieh'2) und in Mitteldeutschland hatte die Inocu­lation mehr Glück, und erfreute sich einer langsam zunehmenden An­erkennung. Nachdem Maria Theresia als hochbetagte Frau die Pocken überstanden hatte (1767), wurde die Blatternimpfung 1768 in Wien eingeführt, und scheint van S wie ten auf seiner ursprünglichen Ab-
1)nbsp; Baylies, Nachrichten über die Pockeninoculation in Berlin. Aus d. Engl. von Krünitz. Dresden 1776.
2)nbsp; A. J. Kechbauer, Vollständ. Gesch. derlnocul. in Wien, 1788, u. Hufe­land, Bemerk, über die natürlichen und inoculirten Blattern. 3. Aufl. 1798.
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88nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp;11. Die Inoculation der Menschenblattern. Variolation.
neigung nicht beharrt zu sein, während de Haen ihr unwandelbar feindselig blieb. — Die medicinische Facultät zu Leipzig hatte sich schon 1761 zu ihren Gunsten entschieden, und 1765 war die gründ­lichste Vertheidigung der Inoculation auf deutschem Boden, die Schrift von Phil. Gabr. Hensler, das würdige Seitenstück zu de la Condamine's Werk, erschienen1).
Von Holland klagt P. Camper noch 1771, dass die wahren Hindernisse des „ göttlichen Geschenkesquot; der verkehrte religiöse Eifer, die Unwissenheit und die blinden Vorurtheile des Publikums, ferner der Neid und die verdammte Habsucht der Aerzte seien. Camper ist der Verfasser einer der vorzüglichsten Inoculationsschriften des vorigen Jahrhunderts, in welcher u. A. die erst viel später durch Louis zu Ehren gekommene statistische Methode in der Medicin sehr glücklich benutzt wird2).
In der Schweiz und in Italien fand die Inoculation weniger Widerstand, zumal sich in dem letzteren Lande die Geistlichkeit für sie interessirte.
In Kussland, wo die Kaiserin mit dem eigenen Beispiel vor­angegangen war, um den Adel für das Schutzmittel zu gewinnen, und wo der gemeine Mann, welcher sein Kind der Inoculation zu­führte, einen Silberrubel erhielt, hatte diese Lockung anfangs Schaaren Impflustiger herbeigezogen, die wieder fortblieben, als die Belohnungen aufhörten. Sogar zu Irkutzk in Sibirien war 1772 ein Impf haus von der Regierung errichtet worden.
Aussei-halb Europas hat es die Inoculation nirgends, wo sie nicht autochthone Sitte war, zu einer nennenswerthen Bedeutung gebracht.
Wir stehen am Ende des Jahrhunderts, welches diese wun­derbare Erscheinung in Europa heraufführte, zugleich an deren Unter­gange. Achtzig Jahre hatte die Inoculation in den civilisirten Län­dern dieses Erdtheils gebraucht, um, unter beständigen Kämpfen, das kleine Gebiet zu erobern, dessen Grenzen vorhin gezogen sind; zu allgemeiner Herrschaft ist sie nie vorgedrungen, niemals das Ge­meingut aller Stände geworden. Und doch würde man irren, wenn die Ursache davon blos in den äusseren Schwierigkeiten und Hemm-
1)nbsp; Hensler, Briefe über das Blatternbeizen. Altona 1765 u. 66.
2)nbsp; Camper, Anmerkungen über die Einimpfung der Blattern. Aus d. Holland. Leipzig 1772.
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Kritik der Inoculation.nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; 89
nissen liegen sollte, welche sich allerdings zahlreich auf ihrem Wege aufthürmten, und vor welchen sie oft genug Halt zu machen ge­zwungen war. Die Aussichtslosigkeit der Inoculation lag nicht in den Zeitumständen und in den Menschen begründet, sondern entsprang aus ihrem eigensten Wesen selbst, und das nachfolgende glücklichere Jahrhundert kann leidenschaftslos eine gerechte Kritik an ihr üben. Trotz aller Vervollkommnung der Methode blieb sie stets ein gefährliches Schutzmittel, weil sie mit einem der verderb­lichsten Gifte operirte, und deshalb niemals den Ausgang sicher be­herrschen konnte. Sie war und blieb ein zweischneidiges Schwert. De la Condamine gibt, in der Mitte des Jahrhunderts, das Ver-hältniss der Todten bei der Inoculation wie 1 auf 376 an; Maty, sein englischer Uebersetzer, wie 1 : 100. Hensler rechnete (1765) einen Todesfall auf 400 Geimpfte, Nach Wilson kamen unter 5964, von 1797—99 im Blatternhospital zu London, Inoculirten 9 lethale Ausgänge vor, 1 : 662; Bremer in Berlin hat 1 auf 200 gefunden und Gregory glaubte, dass das sichere Verhältniss im Allgemeinen wie 1 : 300 gewesen sei.
Selbst wenn aber das Leben nicht zu Grunde ging, war die Krankheit, welche aus der Einverleibung des Pockeneiters sich entwickelte, häufig keine geringfügige, oft eine lästige, und nicht selten eine schwere. Nach Bremer wurde von 30 Inoculirten einer schwer krank, und, wo mit Schnitten oder mittelst Zugpflaster in-serirt wurde, gab es gewöhnlich Geschwüre von drei bis vier Wochen langer Eiterung. Anderemale standen edle Organe auf dem Spiele. Nur eine Blattemfurcht, uns unverständlich, weil wir mit ihr nicht geboren und aufgewachsen sind, konnte freiwillig ein solches Uebel auf sich nehmen. In dem ethischen Dilemma aber, vor welches man sich gestellt sah, hat selbst Kant keine sichere Entscheidung gewagt ')•
Und doch ist die bedenklichste Seite der Inoculation noch nicht
1) „Wer sich die Pocken einimpfen zu lassen beschliesstquot;, schreibt er in der „Tugendlehre'' 1797, ..wagt sein Leben aufs Ungewisse, ob er es zwar thut, um sein Leben zu erhalten, und ist sofern in einem weit bedenklicheren Falle des Pflichtgesetzes, als der Seefahrer, welcher doch wenigstens den Sturm nicht macht, dem er sich anvertraut, statt dessen jener die Krankheit, die ihn in Todesgefahr bringt, sich selbst zuzieht. Ist also die Pockeninoculation erlaubt?quot; Später schien er geneigt, dem Einzelnen die Entscheidung zu verweigern, und nur dem Staate das Recht zur Einführung der Inoculation als einer durchgängigen Maassregel zu vindiciren.
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90nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp;II. Die Inoculation der Menschenblattern. Variolation.
hervorgekehrt. Denn so nützlich dieselbe flir das einzelne Indivi­duum sein konnte, so gewiss sie Unzähligen die Gemiithsruhe ge­geben, und Tausende vor dem Blatternelend und vor dem Tode bewahrt hat, so unheilvoll wurde sie, zu immer häufigerer und aus-gebreiteterer Anwendung gelangt, für die Gesellschaft durch die künstliche Zerstreuung und Vermehrung des Ansteckuugsstoffes. Alle Inoculirteu konnten nicht abgesperrt werden, und zahlreiche wur­den, weil es ebenso unmöglich war, gleichzeitig ihre ganze Umge­bung imnjun zu machen, zu lufectionsherden, von denen neue zu­fällige Erkrankungen ausgingen. Die beste Behandlung, die kühle, trieb die Inoculirteu sogar ins Freie oder an ihre Arbeit. Die Quellen des Pockengiftes wurden auf diese Weise tausendfach vermehrt, und beständig offen erhalten, und zu den Blatternepidemien, welche die Menschheit, wie früher, von Zeit zu Zeit heimsuchten, fügte die In­oculation zahlreiche gelegentliche Erkrankungen, fachte neue Epi­demien an, und machte die Blattern dauernd, endemisch in Europa; ja trug dieselben in manche, mit ihnen unbekannte Gegenden erst hinein. Die Zahl der jährlichen Blatterntodten, welche ehemals, je nach der Wiederkehr und Verbreitung der Epidemien, erheblich ge­schwankt hatte, wurde nun eine mehr gleiehraässige. Es ist hier, absichtlich und aus Missverständniss, viel übertrieben worden, wenn die enorme Häufung der Blatternepidemien, und damit die Zunahme der Todten gegen den Schluss des vorigen Jahrhunderts kurzweg nur als das Werk der Inoculation verschrieen wurden, aber von einer, freilich schwer abmessbaren, Mitschuld kann dieselbe keineswegs freigesprochen werden.
Das ist der härteste Vorwurf gegen die Inoculation, welcher schon in den 50er Jahren deutlich erkannt wurde, auf welchen die Gegner hartnäckig, und mit gutem Grunde immer von Neuem zu­rückkamen, und welchem die Vertheidiger nur schwach zu begegnen vermochten. Vorsichtige Inoculatoren (Dimsdale) lehnten daher die Impfung in den Wohnungen der Armen ab, oder stimmten gegen die vollständige Freigabe der Inoculation. In Ocstreich durfte zu­letzt nur an solchen Orten inoculirt werden, wo bereits die Blattern ausgebrochen waren. Die Leistungen der isolirenden Impfinstitute aber konnten nur unzureichend sein; in dem Londoner z. B. hatten innerhalb 11 Jahren, von 1746—57, nur 1024 Personen Aufnahme finden können.
Mag indess die Variolation der Menschen vom hygieinischen Standpunkte aus verwerflich erscheinen, — sie hat der allgemeinen
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Die Inoculation im XIX. Jahrhundert.nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; 91
Wohlfahrt trotzdem in unberechenbarer Weise gedient. Denn sie war nicht allein die zeitliche Vorläuferin der Vaccination, sondern sie bildete die Pforte, durch welche der Weg zu der letzteren führte. Es war das unerhörte Beispiel durch sie gegeben, wie einer verderblichen Krankheit durch die künstliche Erzeugung einer schwächeren Abart zuvorzukommen sei, und diese Thatsache war es, welche dem späteren zufälligen Funde der vaccinalen Schutz­kraft die richtige Stelle anwies. Alle, welche den populären Glauben an die Vaccine schüchtern zu prüfen begannen, die Satton, Fewster, Jenner waren durch die Schule der Inoculation hindurch­gegangen, und hatten, experimentirend, die Volkstradition nur mit Hilfe der Variolation erhärten können. Meinte doch Jenner, dass selbst die Landleute in seiner Grafschaft erst durch die häufig unter ihnen geübten Inoculationeu für die Auffassung und Deutung der Vaccinewirkung, welche sich gelegentlich ihnen dargeboten hatte, vor­gebildet worden seien. Nachdem aber in Jenner die Ueberzeu-gung von dem Werthe der Kuhpocken sich befestigt hatte, war es wieder nur die Blatterninoculation, mit welcher der Beweis vor Aller Augen geführt werden konnte.
Die Inoculation der echten Menschenblattern nimmt keinen ge­ringen Platz unter der Fülle denkwürdiger Ereignisse ein, mit welchen das achtzehnte Jahrhundert dem unsern, wie kaum ein früheres seinem Nachfolger, vorgearbeitet hat.
Die Inoculation hat noch eine Nachperiode, welche bis in unsere Tage herabreicht.
Während der europäische Continent die Blatternimpfung nach dem Bekanntwerden der Vaccination sehr rasch aufgab, und ihre Ausübung in fast allen Staaten mit Freiheitsstrafe, in Schweden so­gar mit dem Verlust der ärztlichen Praxis geahndet wurde, blühte dieselbe gerade in England noch bis zum Jahre 1840 fort, der Vaccination eine kümmerliche Existenz neben,sich gestattend. Erst als im Jahre 1838 die Blattern das Königreich decimirten, und im Unterhause dargethan wurde, dass die jährliche Durchschnitts­zahl der Blatterntodten in England auf etwa 17,000 sich beziffere, und daran die, von vielen unberufenen Händen prakticirte Inoculation einen wesentlichen Antheil habe, ward dieselbe auch in Grossbri­tannien und Irland gesetzlich abgeschafft.
A u s s e r h a 1 b E u r o p a s dagegen, namentlich in Asien und Afrika, blüht die Inoculation, bei den verschiedensten Völkern als alte ein-
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92nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp;II. Die Inoculation der Menschenblattern. Variolation.
geborene Sitte noch heute fort. Nach Scherzer1) wird sie unter den Hottentotten ganz allgemein ausgeübt, und leiden dieselben weniger von den Pocken, als die Kaffern, welche die Inoculation wie die Vaccination scheuen, und dörferweise aussterben. Der Missionär Ende mann berichtet über die Inoculation unter den Sotho-Negern. (Zeitschr. für Ethnologie von Bastian und Hart­mann, VI. Berlin 1874.) Auch die Fatalistenstämme Afrikas und die Fetischanbeter sind ihr ergeben. Ebenso fand sie David Livingstone2) unter den Bakuana im Südwesten Afrikas, und datirt sie hier aus einer Zeit, wo noch kein director oder indirecter Verkehr mit den Missionären des Südens bestand. In Centralafrika, unter den Völkern um den Tsad-See, traf sie Heinrich Barth:!) im Jahr 1851, und zwar vornehmlich unter den in vieler Beziehung vorgeschrittenen Stämmen. Auch bei der arabischen Bevölkerung Algiers hat die Kuhpockenimpfung, trotz der Bemühungen des fran­zösischen Gouvernements, die allgemein übliche Inoculation nicht ver­drängt.
In Vorder- und Hinterindien, im indischen Archipel, auf den Nikobaren u. s. w. ist dieselbe, während der letzten Decennien so­gar zu grösserem Aufschwünge gelangt. Eine eigene Zunft, die Ticcadors beschäftigen sich damit, deren Zahl 1830 in Calkutta 15, 1834: 30, und im Jahre 1840 schon 67 betrug. In einigen Gegenden Nordwestindiens gehört die Inoculation zu den priesterlichen Func-tionen; die Orte, wo inoculirt ist, bleiben eine Zeit lang abgesperrt4). In China wird die Inoculation, wie vor einem Jahrtausend, allgemein geübt'1).
Zum Schlüsse sei daran erinnert, dass Situationen eintreten können, wo jeder Arzt sich berechtigt, oder sogar verpflichtet fühlen kann, zur Inoculation zuschreiten. Watson erzählt, dass auf einem Schiffe, welches mit Vaccinelymphe nicht versehen war, Pocken aus­brachen. Der Schiffschirurg inoculirte den Blatternstoff. Von 12 auf natürlichem Wege Erkrankten starben 9, von 363 Inoculirten keiner. Auf gleiche Weise wird man an entlegenen oder isolirten Orten der Erde verfahren müssen, wenn die Umstände drängen. Heiter macht die Mittheilung (Bayr. ärztl. Intell.-Bl. 1862. 124),
1)nbsp; Zeitschrift der Gesellschaft der Aerzte in Wien, 1858. li.
2)nbsp; Missionsreisen and Forschungen in Südafrika. Deutsche Uebers. I. S. 159. Leipzig 1858.
3)nbsp; Reisen u. s. w. in den Jahren 1849—55.
4)nbsp; Pringle, Lancet 1869. I. 2 u. 3.
5)nbsp; J. P. Smith, Small-pox in China. Med. Tim. and Gaz. Septbr. 1871.
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Anhang. Thiele's modificirte Inoculation.nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp;93
dass österreichische Aerzte an der türkischen Grenze im Jahre 1858, wegen Mangel an Kuhpockenlymphe, mit Variolastoff impften.
ANHANG.
Es ist noch das Verfahren zu erwähnen, durch welches im Jahre 1839 Dr. Thiele in Kasan eine durchaus gefahrlose Inocu­lation erzielt hahen wollte'). Seine später zu besprechenden Vario-lationen der Kühe hatten ihm die Ueberzeugung gegeben, dass die Menschenpocken, bei ihrem Durchgange durch die Kuh, zu wirk­lichen Kuhpocken depotenzirt werden. Auch ohne Dazwischenkunft des Thierkörpers, nur durch methodisches Modificiren des mensch­lichen Pockeneiters, glaubte er das Virus variolosum in das vaccinale auf folgende Weise verwandeln zu können.
Die Lymphe aus Menschenpocken wird 10 Tage zwischen ver­klebten Glasplatten aufbewahrt, und dann, mit warmer Kuhmilch verdünnt, eingeimpft. Es entstehen grosse Pocken mit starker lokaler Entzündung, von einem heftigen Infectionsfieber gefolgt, aber ohne allgemeine Pockeneruption, höchstens schiessen um die Impfstelle kleine Blattern auf2). Mit dem Inhalte der Impfpocken wird nun auf die eben beschriebene Weise verfahren, und so geht es durch zehn Generationen; die Lokalsymptome sind stetig geringer, und die Impfblattern zuletzt den Vacciuen ganz gleich geworden, so dass von da ab von Arm zu Arm weiter geimpft werden kann.
Thiele beruft sich aut mehrere hundert Fälle, und wir werden ihn später als einen guten Experimentator kennen lernen. In der Literatur herrscht über diese Methode vollkommenes Schweigen, was nicht befremden kann, weil die Inoculation der echten Menschen­blattern fast überall seit langer Zeit gesetzlich untersagt ist.
1)nbsp; Henke's Zeitschrift für die Staatsarzneikunde, IS39. Nr. 37.
2)nbsp; Schon Robert in Marseille hatte behauptet, dass der menschliche Pocken­eiter, mit Milch geimpft, nur Lokalpustelu hervorbringe.
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Dritter Abschnitt.
Die TMerpocken.
Unsere Kenntniss von den Pocken der TMere ist von dem Um-tang-e, nnd von der Sicherheit in den Einzelbeobachtungen weit entfernt, welche beide nothwendig sind, um das Verständniss der menschlichen quot;Vaccination znm Abschluss zu bringen. Trotzdem er­öffnet schon das Wenige, was als thatsächlich betrachtet werden kann, ebenso interessante, als überraschende Beziige zwischen Men­schen- und Thierblattern, und kommt der Wissenschaft, wie der Praxis gleichmässig zu statten.
I. Die Kuhpockcu. Yariola vaccina. Cow-pox. lt;)
Die Variola vaccina, in spontaner Entwickelung bisher nur bei Kühen, und zwar vornehmlich bei den jüngeren und frischmilchenden Thieren beobachtet, kann als Epizootie, oder wenigstens gehäuft, in einer Anzahl benachbarter Meiereien, auftreten; gewöhnlicher wird sie bei den meisten oder bei allen Thieren eines einzelnen Stalles, oder auch #9632; nur bei vereinzelten Exemplaren desselben angetroffen. Sie ist vorwiegend eine sehr milde Krankheit, wenngleich die Inten­sität zu verschiedenen Zeiten schwankt.
1) E. Hering, Ueber Kuhpocken. Stuttgart 1839. — R. Ceely, Observa­tions on the variolae vaccinae etc., 1840. Deutsche Ausgabe von Prof. F. Heim. Mit 33 Kupfertafeln des Originals. Stuttgart 1841. — Fürstenberg, Die Milch­drüsen der Kuh. Leipzig 1868.
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1. Kuhpocken. Variola vaccina. Cow-pox.nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp;95
Die ersten Erkrankungen im Stalle bleiben gewöhnlich unbe­achtet, weil jede auffällige Veränderung in dem Allgemeinzustande der ergriffeneu Thiere fehlt. Ist die Aufmerksamkeit erregt, und werden die Thiere überwacht, so bemerkt man leichtes Fieber, ge­ringere Fresslust, trägeres Wiederkäuen, verminderte Milchabson­derung dem Ausschlage vorangehen. Steht eine bedeutende Pocken­eruption bevor, so begiunt die Krankheit mit einem Schüttelfrost und Hitze, die Bindehaut der Augen röthet sich, Puls und Athem sind beschleunigt, die Thiere treten in dem Eaume unruhig hin und her, Harn und Koth werden sparsamer abgesetzt, die Secretion der Milchdrüsen sinkt erheblich, und hört manchmal ganz auf. Das Euter schwillt an, wird empfindlich; die Kuh verweigert dem Kalbe das Saugen, und wird reizbar beim Melken.
Nach einer 12—24 stündigen Daner dieser Vorboten (Andere geben 3—4 Tage an) bilden sich rothe Flecken an den Zitzen, aus welchen Knötchen hervorgehen, die rasch anwachsen, mit einem ent­zündeten Hofe sich umgeben, und auf ihrer Höhe blasig werden. Bei ungestörtem regelmässigem Fortgange hat die Pocke am S.—10. Tage ihre vollständige Ausbildung erreicht. Sie stellt mm ein rundliches abgeflachtes Bläschen mit klarem Inhalte dar, von 2, 3 und mehr Linien Durchmesser und entsprechender Höhe, welches in der Mitte nabeliormig eingedrückt ist, und von einem rothen Hofe umfasst wird. Dasselbe sitzt auf einer umschriebenen Härte der Haut und des Zellstoffs. Es ist zellig gebaut, und die beiden, ziemlich con-centrischen Reihen von Hohlräumen werden durch weissliche Scheide­wände, die radienartig vom Nabel zur Peripherie ziehen, getrennt.
Hinsichtlieh der Grosse und Form der echten Kuhpocken kommen nicht unerhebliche Verschiedenheiten vor; es gibt selbst ganz flache, ungedellte Vaccinen, die gleichwol sehr brauchbar sind.
Die Farbe des Euters, und das feinere oder derbere Gewebe seiner Haut modificiren die Farbe der Kuhpocken. Dieselben sind auf hellen und feinen Eutern weiss-bläulich, von Silber- oder Perl­mutterglanz, blei- oder glimmerfarbeu; auf einer weissen, dicken, runzligen Haut haben sie ein rahmartiges Ansehen. Schmutzig gelbe Euter lassen auch die Blattern gelblich erscheinen, und eine dunkele Haut macht sie kupferroth, braun oder lohfarbig. Der rothe Hof ist nur auf hellem Grunde deutlich ausgesprochen, sonst als ein linienbreiter kupferiger Saum angedeutet.
Die anfangs klare klebrige Lymphe wird später mehr serös, und trübt sich schnell, nachdem die Pocke ihre höchste Ausbildung erlangt hat. Am 11. oder 12. Tage beginnt die Vertrocknung der
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96nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; III. Die Thierpocken.
Pustel vom Centrum her; die Krusten, zuerst bernsteinfarben, dann braun und schwarz, sitzen fest und lange; nach ihrem Abfall bleibt eine rötbliche, später erblassende Narbe zurück.
Mit der Entwickelung der Pocken gebt eine harte schmerzhafte Anschwellung der Zitzen und des Euters einher; die Mündungen der Zitzenkanäle sind mehr oder weniger verlegt, und die entzündeten Theile des Euters sondern kein Secret ah.
Die Pocken entwickeln sich bei der Kuh nicht immer gleich­zeitig, häufig werden einzelne nachgetrieben, und man findet neben bereits abgetrockneten Pusteln noch solche, welche in Blüthe stehen. So wird der schnelle Verlauf der ganzen Erkrankung in die Länge gezogen.
Die Finger der Melker, sowie gelegentliche Reizungen des Euters beim Aufliegen und Belecken stören gewöhnlich den normalen Gang des Exanthems, die Pocken werden frühzeitig aufgerissen, und wandeln sich in unregelmässige, leicht blutende, oft tiefgreifende Geschwüre um, aus denen warzige oder schwammige Auswüchse hervortreiben. Der Process erstreckt sich nun über Wochen hin, und die endlichen Narben werden tief und unregelmässig. Die Heilung kann selbst mit der Einbusse von durchfressenen und abgefallenen Zitzen er­kauft werden, oder die Thätigkeit der Milchdrüsen ist für immer vernichtet. Die Lymphe wird in den mechanisch gereizten Bläschen sehr schnell trübe, zeigt selbst blutige Beimischung, was jedoch ihre Wirksamkeit nicht beeinträchtigen soll.
Die Kulipocken sitzen gewöhnlich am Grunde und am Halse der Zitzen, demnächst auf dem unteren, nackten Theile des Euters. Ihr Vorkommen au anderen Körperstellen (z. B. den Nasenlöchern und Augenlidern) scheint fraglich zu sein. Meistens handelt es sich nur um wenige Pocken, zuweilen aber sind Zitzen und Euter mit 20 bis 30 und darüber bedeckt. Das erstere kommt mehr bei kurzen, com-pacten Eutern vor, während die grossen hängenden schlaffen Euter mit dünner Haut gewöhnlich zahlreiche Pocken tragen. Nach der Anzahl der Pocken pflegt sich die Milde oder Heftigkeit der Erkran­kung zu richten.
Ausser den primären Kuhpocken gibt es secundäre, welche aus der gelegentlichen Uebertragung der ersteren entstehen. Die Thiere inficiren gesunde Stellen ihres Euters mit der Lymphp, welche die aufgedrückten Pusteln ergiessen, oder die Melker übernehmen die Vermittelung bei denselben und bei anderen Thieren. Manche irrige Folgerungen sind aus solchem Beisammensein der verschiedensten Stadien der Krankheit abgeleitet.
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Die Ursache der primären Kuhpocken liegt ganz ausserhalb unseres Gesichtskreises. Sie fallen vorwiegend in das Frühjahr, weniger häufig in den Herbst und die Wintermonate, während sie auf der Höhe des Sommers ausnahmsweise vorkommen. Eine feuchte Atmosphäre scheint sie zu begünstigen; Macpherson sah sie in Bengalen gewöhnlich um den Anfang der Regenzeit. Die übrigen äusseren Verhältnisse des Ortes, das Klima u. s. w., ebenso wie Stall­oder Weidefütterung erscheinen dagegen gleichgültig; auch lässt keine der verschiedenen Kuhracen eine Vorliebe für die Krankheit durchblicken. Selbst die autfällige Eigenthümlichkeit, dass die autochthone Krankheit bisher nur bei Kühen angetroffen ist, und dass fast ausschliesslich Milchkühe, in den ersten Monaten nach dem Kalben, und zwar meistens die jüngeren, erstmals milchgebenden hefallen werden, steht so räthselhaft da, als ihre Beschränkung auf das Milchabsonderungsorgan.
Die weitere Verbreitung der Kuhpocken findet durch An­steckung statt; fast regelmässig folgen einer Erkrankung im Stalle oder in der Heerde mehrere andere nach, und Reiter hat die Krankheit sogar künstlich in die Ställe gebracht, und die Infection von den Impfpocken eines Thieres ausgehen sehen. Die Ansteckung wird nicht durch ein flüchtiges Contagium vermittelt; schon Jenner erklärte die Infection ohne Berührung für eine völlig ungegründete Meinung, da es ausgemacht sei, dass Heerden auf aneinander gren­zenden, nur durch eine Hecke getrennten Wiesen sich niemals die Pocken mittheilen. Die Uebertragung des fixen, an die Lymphe gebundenen Giftes geschieht theils von den Thieren unter sich, theils #9632;wird sie durch die Menschenhände oder die Utensilien beim Melken vollzogen. Bei solcher unabsichtlicher Uebertragung bleibt dann auch das männliche Rindvieh, die Bullen u. s. w. nicht verschont. Hering fand eine Pocke auf der Nase eines Kalbes, das an einer pockenkranken Mutter sog. Und andererseits ist die Leichtigkeit bemerkenswerth, mit welcher die, allerdings eindringlichen Manipu­lationen der Melkerhände die Pocken überpflanzen. 10—12 Tage nach dem spontanen Ausbruch der Kuhpocken in einem Stalle sind sie schon an mehreren anderen Thieren zu finden, und in der dritten Woche ist gewöhnlich die ganze Meierei ergriffen (Ceely), Dieser Art von Uebertragung steht selbst die Einimpfung der Lymphe an Sicherheit des Erfolges nach.
Ueber die Häufigkeit der Kuhpocken und ihre geogra­phische Verbreitung fehlt uns jede Vorstellung. Fleissige
Bohn, Handbuch der Vaccination.nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp;7
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98nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; III. Die Thierpocken.
Nachforschungen würden sie zeitweise wol überall, wo es Kuhpocken gibt, zu entdecken vermögen; aber die Geringfügigkeit der allge­meinen und örtlichen Erscheinungen lässt sie der Beachtung ent­gehen, und von vielen Kuhbesitzem werden sie, aus Furcht vor übler Nachrede u. dgl. am liebsten verheimlicht.
Die ältesten Nachrichten über unabsichtliche Vaccinationen bei Menschen (s. den Anfang des IV. Abschnitts) deuten auf ein ziem­lich universelles Vorkommen der Variolae vaccinae hin.
Nachdem J e n n e r die Krankheit sehr häufig bei den Kühen in Glocestershire (wo sie übrigens den ältesten Landleuten sehr bekannt war) gefunden und das lebhafteste Interesse Europas für sie er­weckt hatte, wurden die Kuhpocken, am Ende des vorigen und im Anfange dieses Jahrhunderts, in den südlichen und westlichen Graf­schaften Englands und in Irland oft gesehen (Aitkin, Woodville u. A.); in Deutschland hauptsächlich in Meklenburg, Holstein, im Braunschweigschen und in Südpreussen, ferner in der Nähe von Giessen und Erlangen, endlich in der Schweiz l). S a c c o und andere italienische Aerzte fanden sie, wenngleich nicht häufig, an verschie­denen Punkten der Halbinsel. Sacco erwähnt zugleich mehrerer Beispiele aus den Staaten der nordamerikanischen Union. In Hol­land bemerkte man Kuhpocken zum ersten Male 1805, dann 1813 und 1824 (Numan). Im J. 1812 kamen sie an mehreren Orten Norddeutschlands vor, und wurden von Bremer in Berlin, Fischer in Lüneburg und Men de in Greifswald beschrieben und benutzt; 1816 von Giesker in Braunschweig.
Als das erste Feuer verraucht war, scheint man sich wenig um sie gekümmert zu haben. Erst 1824 theilt Lüders mit (Hufeland's Journ. Octbr. 1824), dass er während der letzten 11 Jahre 5 Epi-zootien in Holstein verfolgt habe, und 1830 wird von Pocken unter den Alpenkühen Piemonts, und 1832 von solchen aus Ostindien be­richtet. 1834 war in Rom eine mit Pocken bedeckte Kuh der Gegenstand allgemeinen Aufsehens, und die Kutfvon Passy, welche 1836 daran litt, lockte halb Paris heraus (Bousquet).
Diesen vereinzelten Funden steht die Mittheilung von Prof. Ritter in Kiel entgegen, welcher die Kuhpocken in einigen Ge­genden von Schleswig-Holstein fast alle Jahre vorkommen lässt; er sah oft grosse Heerden angesteckt, gemeinhin aber laquo;zu spät, um erfolgreiche Abimpfungen ausführen zu können.
1) F. G. Buchholz, Vollständige Abhandlung über die Kuhpocken u. s. w. Berlin 1802. — Hartwig 1. c.
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Die Pocken im Thale von Aylesbury und seiner Nachbarschaft, welchen in den 20er und 30er Jahren die Kühe vielfach unter­worfen waren, sind durch die schönen Untersuchungen, zu welchen sie Ceely Veranlassung gaben, epochemachend geworden. Er sah sie in unbestimmten Zwischenräumen, scheinbar ganz willkürlich und unabhängig von localen Einflüssen auftreten, und eine andere Quelle als die spontane Entstehung liess sich nicht auffinden.
Von 1832—1842 wurden dem jüngeren Dr. Bremer in Berlin zehnmal Kuhpocken angezeigt (mehrere in der Nähe der Hauptstadt). Sechsmal wurden neue Genituren mit dem frischen Impfstoffe im Centralimpfinstitut angelegt. Demselben sind dann in den folgenden Decennien alljährlich Zusendungen von originärer Kuhlymphe aus den verschiedensten Theilen des preussischen Staates gemacht worden. — Aus Oestreich und Russland sind dagegen die Fälle spärlicher zur Veröffentlichung gelangt.
Den reichsten, wenngleich auch nicht erschöpfenden Beitrag hat Würtemberg geliefert1). Nachdem eine Ministerial - Ver­fügung vom J. 1825 die Kuhbesitzer zur schärferen Ueberwachung ihres Viehes aufgefordert, und für die rechtzeitig zur Anzeige gebrachten Kuhpocken eine Geldbelohnung ausgesetzt hatte, sind in den 43 Jahren (1825 — 186S) im Ganzen 241 Fälle von ori­ginären, durch erfolgreiche Impfung auf Menschen erprobten Kuh­pocken zur amtlichen Kenntniss und Prämirung gekommen (viele zweifelhafte Fälle machen die Zahl der Anmeldungen bedeutend grosser). Jedes Jahr lieferte einige, die höchste Zahl von 15 fiel in das Jahr 1837,38, im Durchschnitt kamen jährlich 5—6 vor. Doch glaubt man den wirklichen Durchschnitt auf ein paar Dutzend ver­anschlagen zu dürfen, so dass in Würtemberg die Kuhpockenkrank­heit als geradezu häufig zu betrachten ist. Die Stärke des Vieh­standes in einem Bezirk begründete keineswegs das öftere Vorkommen der Kuhpocken, es fand gerade das umgekehrte Verhältniss statt, und der Schluss liegt, angesichts der in Würtemberg gesammelten Thatsachen, nahe, dass einzelne Gegenden von der Krankheit aus unbekannten Gründen besonders bevorzugt werden; wie auch die beiden Nachbarländer Baden und Bayern in diesem Punkte weit hinter Würtemberg zu stehen kommen.
Schon aus den spärlichen historischen Daten, welche uns über die Kuhpocken zur Verfügung stehen, muss die Ansicht, dass selbige sich aus dem Contagium der Menschenblattern entwickeln, als durch-
1) Hering u. Cless a. d. a. Orten.
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100nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; HI. Die Thierpocken.
aus anhaltslos erscheinen. Variolae vaccinae wurden gewöhnlicli be­obachtet, wo in weiter Runde keine Variolae humanae vorhanden waren, und wenn in Holstein mehrmals Epizootien von Vaccine und Variolaepidemien zusammentrafen, so ist andererseits gerade in dem hier besonders maassgebenden Würtemberg niemals ein solcher Parallelismus erkennbar gewesen ')•
Die culturgeschichtliche Bedeutung, welche dem kleinen Ausschlage der Kuh seit 70 Jahren zugefallen ist, verdankt derselbe seiner eigenthümlichen Beziehung zu den Menschenblattern. Allein der Mensch ist nicht das einzige, mit der Empfänglichkeit für das vaccinale Virus begabte Geschöpf. Jenner und Sacco haben den Vaccinestoff verschiedenen Thieren, den Pferden, Schafen, Schweinen eingeimpft, und Pusteln darnach entstehen sehen, deren Inhalt mit der Wirkung von echten Kuhpocken weiter verpflanzt
1) Neben der localisirten und gutartigen Form der Kuhpocken findet sich von einigen Schriftstellern eine andere aufgeführt, welche häufig, namentlich in früheren Zeiten, bösartige Epizootien verursacht, und das Rindvieh in derselben Aus­dehnung, als die Variola humana die Menschen, vertilgt haben soll. Dieselbe wird als ein allgemeiner Blatternausschlag dargestellt, welcher, von der Basis der Hörner bis zum Ende des Schwanzes und bis an die Hufe verbreitet, mit schwe­rem Fieber verbunden und in hohem Grade ansteckend ist. Die Pusteln an den Lippen, der Zunge und im Schlünde verhindern das Fressen, und die Thiere ver­enden häufig an Erschöpfung.
Epizootien dieser Art sind im verflossenen Jahrhundert von den Italienern Frascatorius, Lancisi, Lanzoni, Ramazzini u. A. in den Ebenen der Lombardei beobachtet und beschrieben worden, und ähnliche Berichte liegen aus Holland und Holstein vor. In England trat die Seuche 1745 und dann wieder 1770 auf, um, mit wechselnder Heftigkeit, bis zum Jahr 1780 anzuhalten, wo Dr. Layard sie beschrieb. Sie nahm damals so erschreckende Dimensionen an, dass die Regierung mit den Häusern der Lords und der Gemeinen in ernste Be-rathungen zu ihrer Abwehr trat. — Weitere Nachrichten über eine ähn­liche Pockenart sind 1832 und 183'J aus Bengalen gekommen, wo Dr. H. Mac-p hers on und andere Aerzte Impfungen an Menschen vornahmen. Solche Epi­zootien fielen gewöhnlich, laut den verschiedenen Beobachtern, mit gefährlichen Pockenseuchen unter den Menschen zusammen, und man glaubt annehmen zu können, dass auch viele Pockenseuchen früherer Jahrhunderte den Menschen und Thieren gemeinschaftlich waren. Gleichzeitig mit dieser malignen Form soll übri­gens bei den Kühen die gutartige vorkommen, mitunter ist die letztere der Aus­läufer jener, und ein solches Ueberbleibsel der grossen Epizootic von 1770—1780 sollen die Kuhpocken gewesen sein, welche Jenncr in Gloucestershire vor­fand, und an welche er seine Untersuchungen anknüpfte. — Es fehlen bisher alle sicheren Beweise, dass jener allgemeine Hautausschlag wirklich das war, was der Name besagt: nämlich Pocken. Hering hält die Krankheit für Maul- und Klauenseuche. Die Unterscheidung der gut- und bösartigen Form als Vaccina und Variola der Kühe ist daher vorläufig verfrüht.
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werden konnte. Diese Versuche sind bis in die jüngste Zeit oft wiederholt, und durch die Uebertragung des cowpox auf noch andere Thierarten erweitert worden; wie der Mensch erschienen auch sie durch solche Einimpfung gegen das Gift ihrer eigenen Pocken gesichert. Ob die Schlussfolgerung richtig ist, dass jede Thierart, welche die Vaccine aufzunehmen, und zu reproduciren fähig ist, auch ihre eigene Pockenart besitzt?
Bisher haben diese Versuche nur der Wissenschaft gedient, und selbst bei den Schafen hat man mit der Vaccination (siehe den Ab­schnitt über Schafpocken) den grossen Vortheil noch nicht geerntet, dessen sich die Menschheit von ihr erfreut.
Wir sind endlich im Stande, Pocken bei der Species bovina künstlich zu erzeugen, nicht blos durch die Ueber­tragung originärer oder humanisirter Vaccin-Lymphe, sondern durch die Inoculation der menschlichen Variola, der Schaf-pocke und der Pferdemauke, Erfahrungen, welche zu den gross­artigsten der Pathologie zählen. Jeder dieser Inoculationen folgt bei dem Rinde ein auf die Impfstellen beschränkter Ausschlag, welcher mit den Charakteren der genuinen Kuhpocken ausgestattet ist, und, indem er in wenig bemerkbarer Weise den Gesammtorganismus affi-cirt, die geimpften Thiere der Fähigkeit beraubt, ihrer eigenen Pocke später anheimzufallen. Der Organismus der Mitglieder der Species bovina vermag also sowol die verwandte milde und lokale Pferde-pocke zu reproduciren, als das bösartige Gift der universellen Men­schen- und Schafblattern auf den niederen Grad der eigenen Lokal­pocken herabzusetzen. Die Einzelheiten dieser Untersuchungen können erst in den nächstfolgenden Kapiteln, welche die Pocken­ausschläge der Pferde und Schafe behandeln, und in dem Abschnitt über die Variolation der Kühe zur Sprache kommen.
Aussei- den wirklichen Pocken sind die Euter und Zitzen der milchgebenden Kühe zu verschiedenartigen anderen Ausschlägen sehr geneigt, welche, in nichtssagender Gegenüberstellung, insgesammt als falsche Kuhpocken bezeichnet, und, je nach der Farbe, gelbe, blaue, schwarze, weisse Blattern, oder, nach der Form, Spitz-, Warzen­pocken u. s. w. genannt werden. So viel in diesem Chaos zu er­kennen ist, handelt es sich um eczematöse, impetiginöse und blasige Eruptionen, ferner um Follicularerkrankungen, vielleicht auch um geschwürige Processe an den erwähnten Orten. Der Arzt, welcher dieselben im unverletzten Zustande zu Gesichte bekommt, wird gut thun, bei ihrer Beurtheilung die Auffassung
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102nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; III- Die Thierpocken.
und die Definitionen der menschlichen Pathologie festzuhalten, und die Differentialdiagnose von den ecbten Vaccinen auf die früher gegebenen Kennzeichen der letzteren zu stützen. Sie stellen sämmt-lieh einfache Hohlräume, ohne zelligen Bau, dar, und hinterlassen, nach der Eintrocknung, entweder flache dünne Grinde, oder unregel-mässige schmutzig braune, schwarze Borken. Sind sie durch die Melker zerstört und verunstaltet, dann wird man sich jedes Uitheils enthalten müssen. Wenn aber fast allen diesen „falschen Kuhpocken•' infectiöse Eigenschaften nachgesagt werden, so ist das, gegenüber dem speeifischen Contagium der echten Vaccinen, ein Missbrauch des Wortes, da nichts weiter gemeint sein kann, als dass die eitrigen oder verjauchten Producte jener Euterausschläge, auf den verletzten Händen und Annen des Menschen, Geschwulst, Entzündung, Ver­eiterung mit den entsprechenden Fieberformen zur Folge haben können.
II. Die Pferdepockcu. Horse-pox. Mauke.
laquo; Ueber die Krankheit der Pferde, welche den Pocken der an­deren Thiere entspricht, und welche, in den verschiedenen Ländern, lange schon unter den Volksnamen the grease, giardo, giardoni, Mauke, Javart, eaux aux jambes gegangen ist, hat sich bisher weder die Wissenschaft, noch die Praxis fest einigen können. Während ältere und neuere Beobachter (u. A. Spinola) von einem Pustel­ausschlage sprechen, welcher nicht nur das Fesselgelenk, sondern auch die Lippen, und die Scham der Thiere bedeckt, lauten die meisten Beschreibungen dahin, dass die Pferdepocken nicht unter dieser Form und in dieser Verbreitung sich zeigen, sondern mit einer rosenartigen Entzündung und Anschwellung in der Beuge des Fessel­gelenks, vornehmlich an den Hinterfüssen, beginnen. Nach 2 bis 3 Tagen schiessen auf der entzündeten Stelle viele kleine, gedrängt stehende Bläschen auf, welche bersten, und aus einem hochrothen, schwammig gelockerten Grunde eine klare gelbliche, eigenthüm-lich brenzlich oder ammoniakalisch riechende Flüssigkeit (die Equine) aussickern lassen. Die entzündete Haut wulstet sich zu Quer­falten, zwischen welchen Risse mehr oder weniger tief eindringen, während an anderen Stellen Excoriationen entstehen, die'gleichfalls eine Feuchtigkeit absondern1). Im Ganzen wird man hierin die
1) Haubner, Die innern uud uussern Krankheiten der laiulwirthschaftlichen Haussaugethiere. 6. Aufl. 1873.
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2. Pferdepocken. Horse-pox. Mauke.nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; 103
kurze Schilderang dessen wiedererkennen, was Jenner als Pferde-pocke betrachtete, und womit er experimentirte: planta pedis in-flammata turnet, unde materia peculiaris indolis profluit. An an­deren Stellen nennt er die Pferdepocken ulcera, ulcuscula pedis. Auf einen vesiculösen Charakter der Eruption deutet auch die fran­zösische Bezeichnung herpes phlycteuoide hin.
Den örtlichen Erscheinungen geht ein kurzes Eruptionsfieber voraus; die Erkrankung nimmt gewöhnlich einen regelmässigen, in 2 bis 3 Wochen abgeschlossenen Verlauf, und verliert sich nur, von zufälligen Beschädigungen der kranken Stelle durchkreuzt, in einen unbegrenzt chronisch-entzündlichen Zustand.
Nach Haubner kommt diese „exanthematischequot; Mauke, wie er sie zum Unterschiede von der gewöhnlichen Mauke nennt, selten vor, meist im Frühjahre, bei jungen (Weide-)Pferden, aber dann bis­weilen bei vielen Thieren zugleich. Jenner und Sacco dagegen scheinen sie in Glocestershire und-in Oberitalien, um den Anfang des Jahrhunderts, oft gesehen zu haben; und von Bouley, sowie auf den, durch die Blatternepidemien von 1870 angeregten, medi-cinisclien Conferenzen in Paris wurde mehrfach behauptet, dass bei Paris der borsepox öfter, als die Kuhpocken anzutretfen seien. Zu­folge der genauen Ermittelungen der Tbierarzneischule zu Lyon, kommen sie in der Umgebung dieser Stadt höchst selten zur Beob­achtung, und scheint demnach ihr Auftreten, gleich dem aller an­deren Thierpocken, unter der Herrschaft lokaler Einflüsse zu stehen.
Die contagiöse Verbreitung der Mauke unter den Pfer­den stand immer ausser Frage, und soll die Ansteckung durch die gemeinschaftliche Streu und durch die Geschirre leicht erfolgen. Die Krankheit äussert sich bei diesen zufälligen Uebertragungen in der vorhin geschilderten Weise. Anders, wenn sie direct den Pferden eingeimpft wird; dann lässt die Equine lenticuläre und grössere Pusteln entstehen, welche in ihrem Bau und Verlaufe den Kuh­pocken gleichen, und ihrerseits weiter übertragbar sind1).
Während die Ursachen des natürlichen oder spontanen Horse-pox noch lange verborgen bleiben werden, stammt die Bekannt-
1) Es herrscht leider unter den Veterinären noch keine Einigkeit, da namhafte Forscher (u. A. Spinola) die oben bezeichneten Pockenpusteln auch spontan bei den Pferden, im Fesselgelenke, an den Lippen und der Scham, gesehen haben #9632;wollen. Sass der Ausschlag im Munde, dann war der Speichel giftig, -wie Impf­versuche gelehrt haben, und kann der Träger des Coutagiums bei gemeinschaft­lichem Futter werden.
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III. Die Thierpocken.
schaft mit den Wirkungen, welche derselbe auf andere Thiere, und auf den Menschen übt, aus sehr entlegener Zeit. Die englischen Pächter und Landleute, mit denen Jenner bei seinen Studien ver­kehrte, hielten für ausgemacht, dass der Cow-pox von dem grease der Pferde herkomme. Er finde sich nur in solchen Ställen ein, wo Knechte mit dem Melken beschäftigt würden, denen gleichzeitig die Besorgung von Pferden obliege; sobald die Mauke in den Pferde­ställen ausbreche, folge alsbald Cow-pox in den Kuhställen hinter­her. Wo nur Frauen melken, wie in Irland, seien Kuhpocken eine grosse Seltenheit. Jenner trat dieser Meinung bei. Allein viel­fältige spätere Beohachtungen, dass nämlich Kuhpocken auch an Orten, wo keine Pferde gehalten werden, sich zeigen, und unter Umständen, welche jede Ansteckung von maukekranken Pferden ausschliessen, sind jener einseitigen Herleitung ungünstig gewesen, und lassen die Behauptung von Woodville, Coleman, Viborg, Sacco zu­treffend erscheinen, nach welcher die Kuhpocken wol aus dem Con-tagium der Mauke entspringen können, aber nicht allein oder noth-wendig aus ihr hervorgehen müssen. Das Häufigere wird sogar die von der Mauke unabhängige Entwickelung sein.
Nicht viel jünger ist die Kenntniss von dem Einflüsse, welchen der zufällige Uehergang des Horse-pox auf den Menschen aus­übt. Jenner, Sacco und anderen Impfärzten waren nämlich die Schwierigkeiten nicht entgangen, auf welche die Blatterninoculation bei Hufschmieden und Stallknechten zu stossen pflegte, und sie er­kannten bald, dass die letzteren, aus dem Umgange mit mauke­kranken Pferden, nicht selten einen Ausschlag davontrugen, welcher, formell mit den Kuhpocken übereinstimmend, auch deren Eigen­schaft, die variolöse Empfänglichkeit zu vernichten, theilte.
Seit dieser Zeit sind nun so viele, genauer beobachtete Infec-tionen des Menschen mit Pferdemauke veröffentlicht, so zahlreiche absichtliche Einpfropfungen der Mauke bei Kühen und Färsen vor­genommen , und ist von diesen auf andere Kühe und auf Menschen so oft weitergeimpft, und die Mauke selbst direct dem Menschen inserirt worden, dass wir hier auf dem Boden von positiven That-sachen uns bewegen. Alle Beobachtungen und Versuche kommen darauf hinaus, dass die Mauke, abweichend von ihrer beim Pferde ursprünglichen Form, an den Kühen und beim Menschen Pusteln erzeugt, welche den Kuhpocken äusserlich gleichen, auch deren prä­ventive Kraft besitzen, und auf andere Kühe und [Menschen fort­gepflanzt werden können. Sacco hat dieser Schutzmetbode den Namen der Equination beigelegt.
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2. Pferdepocken. Horsc-pox. Mauke.nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; 105
Die Wichtigkeit des Gegenstandes rechtfertigt die speciellereu Mittheilungen.
Dem Chirurgen Loy in der Grafschaft York scheint, im J. 1801, die erste absichtliche Verimpfung sowol originärer, als humanisirter Mauke gelungen zu sein. Er brachte Kindern und Kühen den Inhalt der Pusteln von den Händen eines Hufschmiedes und eines Metzgers bei, welche durch maukekranke Pferde angesteckt waren, und über­trug später auch die frische Maukeflüssigkeit eines Pferdes auf fünf Kühe. Den Einstichen entsprossten Pusteln von der Art der Kuh­pocken, deren Lymphe mit schutzkräftigem Erfolge auf Kinder über­tragen wurde, wie nachträgliche Blatterninoculationen darthaten ')•
Im J. 1805 inoculirte der dänische Thierarzt Viborg den Kühen originäre Mauke, und sah am 5. und 6. Tage einen wohlcharakteri-sirten Kuhpockenausschlag folgen. Ebenso erzog Sacco (a. a. 0.), nach den ersten fruchtlosen Versuchen, später normale Schutzpocken mit der Maukeflüssigkeit.
1830 inflcirten sich mit derselben in der Thierarzneischule zu Berlin Her twig und eilf Schüler, und bekamen an den Fingern, auf dem Handrücken und dem Vorderarm kuhpockenähnliche Pusteln.
Die Equinationen Steinbeck's bei Kühen und bei einem :1/4 jährigen Knaben (1837) ergaben positive Resultate, welche in der äusseren Form und dem Verlaufe mit Kuhpocken vollständig über­einstimmten. Leider unterliess er die entsprechenden Controlversuche mit der Variola. Sowol die unabsichtliche, wie die künstliche Ueber-tragung der Equine auf den Menschen ist stets von einer heftigen fieberhaften Reaction gefolgt.
Im J. 1856 .berichtet Dr. Pichot2) von einem 28jährigen Hufschmiedegesellen, welcher, am 22. Tage etwa, nachdem er ein mit erwiesener Mauke behaftetes Pferd beschlagen hatte, neun Pu­steln auf den stark gerötheten und geschwollenen Händen trug, die acht- und neuntägigen Vaccinepusteln vollkommen glichen. An den zahlreichen Schrunden der Hohlhandflächen sassen kleine Krusten, jenen ähnlich, welche sich bereits im Centrum der Pusteln zu bilden angefangen hatten. Auch der weitere Verlauf und die Narben kamen auf die Vaccine hinaus. Der Mensch war niemals vaccinirt worden und hatte mit keiner kranken Kuh zu thun gehabt; eine nachträg-
1)nbsp; An account of some experiments of the origin of Cow-pox. Whitky 1801. Uebers. von de Carro. Wien 1802.
2)nbsp; Arch. gen. de Med. Avril 1857. — Prag. Vierteljahrsehr. 1857. 56. Ana-lect. S. 79.
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106nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp;HI. Die Thierpocken.
lieh vorgenommene Probeimpfung versagte. Mit dem Inhalte seiner Pusteln impfte Monoury, der Freund Pichot's, mehrere Genera­tionen von Kindern, welche sämmtlich die, der Vaccine charakteri­stische Eruption durchmachten. — Im J. 1860 inoculirte Delafosse aus Toulouse zweien Kühen Maukestoff, und leitete von ihnen fernere Schutzpockenimpfungen an Kindern ab. (Bullet, de l'Acad. de Med. 1861 — 1862. Tom. XXVII, p. 854 et 880.)
In den letzten Zeiten hat sich die Zahl der einschlägigen Be­richte gehäuft. Aus den bei einer Färse gezogenen Pusteln wurden Kinder und Eleven der Thierarzneischule St. Cyr geimpft (Journ. de Med. veter. de Lyon 1868. Virchow-Hirsch, Jahresber. f. 18(38). Bouley (La Revue med. 18 Juin 1870), welcher die spontanen Pocken bei Pferden für viel häufiger, als die originären Kuhpocken erklärt, glaubt in ihnen eine neue, leicht zugängliche Vaccinequelle für Frankreich gegeben zu sehen. Eine Anzahl von Aerzten aus Montauban berichtete in der medicinischeu Couferenz zu Paris (1870) über sehr wirksame Kinder-Impfungen mit dem zuvor auf die Kuh verpflanzten Horse-pox. (Jahresber. von Virchow-Hirsch pro 1870.)
So ist die Equination wissenschaftlich dicht neben die Vac­cination gestellt worden, und die Pferdemauke scheint bei ihrer Ueberführung auf das Rind und den Menschen kaum einem stärkeren Widerstände zu begegnen, als die genuine Kuhlymphe beim Menschen. Die öfteren Fehlimpfungen, welche erwähnt werden, erklären sich hin­länglich aus der unsicheren Diagnose der Mauke. Der Impfstoff soll, nach Sacco, in der entzündlichen Periode, oder ganz im Anfange der Eiterung von den Pferden genommen werden. Zu allgemeinerer praktischer Verwerthung ist die Equination freilich glicht gelangt, und würde auch bei dem Menschen, wegen des Rotzes der Pferde, den ernstesten Bedenken unterliegen.
Pferde-Pocken können endlich künstlich erzeugt werden; Nu-man gewann durch Uebertragung der gewöhnlichen menschlichen Schutzpockenlympbe auf Pferde und Esel Pusteln, welche er wieder auf andere Pferde, aber auch auf Kühe und auf den Menschen fort­pflanzen konnte. Diese künstliche Equine erwies sich namentlich an Menschen und Kühen sehr wirksam, indem grosse und lymph­reiche Pocken aufgingen 1).
Stein beck2) impfte zwei'alte Pferde im Fesselgeleuke der
1)nbsp; Magazin f. die gesammte Thierheilkunde von Gurlt u. Hertwig. Bd. V. 1839.
2)nbsp; Ebdas. 3G. Jahrg. 1870.
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3. Schafpocken. Variola ovina.
107
beiden Hinterftisse und am Bauche, das eine mit humanisirter Vac­cine, das andere mit ovinisirter Vaccine, d. h. mit der Lymphe, welche er durch Vaccinirung von Schafen gewonnen hatte. Schon am 2. Tage stellte sich eine rosenartige, mit Knötchen bedeckte Geschwulst der ganzen Haut der Fesselgelenke ein, die Knötchen wurden am 3. Tage zu Bläschen, welche eine wasserhelle, sehr strenge riechende Lymphe enthielten. Das Allgemeinbefinden der Thiere war getrübt. Die allmählich sich vergrössernden Bläschen gingen schliesslich in Ge­schwüre über, welche nach verschieden langer Zeit verheilten. Stein­beck erklärte die Form und den Verlauf dieser künstlichen Mauke für durchaus übereinstimmend mit der genuinen Mauke der Pferde. Er verimpfte darauf die von den beiden Pferden erlangte Equine auf 6 Schafe; bei 4 trat kein Erfolg ein, bei dem fünften entwickelten sich unter 10 Stichen 4, welche einen regelmässigen Verlauf machten, und ganz wie genuine Schafpocken aussahen. Bei dem sechsten Schafe wurden sämmtliche 10 Stiche zu Pusteln, von denen 7 gut und nor­mal verliefen und abheilten, während drei in länger eiternde Ge­schwüre übergingen. —
Schliesslich ist, in der Veterinärschule zu Lyon, auch die Va-riolation des Pferdes versucht worden. Der Einimpfung des menschlichen Pockeneiters entsprosste eine schöne Eruption koni­scher, rother schmerzhafter Papeln, deren Centrum anfangs durch Flüssigkeit erhoben war, und sich später mit einer sehr kleinen Kruste bedeckte. Keine Allgemeinerscheinungen; die Papeln ver­schwanden durch Resorption. Naohträgliche Vacciuationen fielen bei den so variolirten Pferden negativ aus. Von denselben wurde ein anderes Pferd geimpft, das geringer ausgebildete Papeln, als der Stammimpfliug, und ein alter Esel, welcher am 11. Tage kleine hübsche Pusteln, mit leicht vertieftem Centrum bekam. — Die Com­mission, welche diese Versuche leitete, erklärte jene papulose Eruption für eine wirkliche Variola des Pferdes. —
III. Die Schafpocken. Yariola ovina ').
Unter allen Thierpocken stehen die Pocken der Schafe den menschlichen am nächsten. Sie sind ein allgemeiner, febriler Pustel-Ausschlag, von acut typischem Verlauf, und entwickeln ein fixes an die Lymphe und das Blut (Fürstenberg) gebundenes, und ein flüchtiges Contagium. Dasselbe wird von rauhen Gegenständen, von
1) Fürsteuberg:, Die Schafpocken. Anualen der Lamhvirthschaft in den Kgl. Preuss. Staaten Bd. I. 1868. - Haubner 1 c.
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108nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; III. Die Thierpocken.
den Kleidern der Hirten, wie von den Hautschuppen und den Fellen der durchseuchten Schafe leicht und lange festgehalten und ver­schleppt. Im Allgemeinen besitzen die jungen Thiere eine lebhaftere Geneigtheit zu der Krankheit, als die im Alter vorgeschrittenen, und werden gewöhnlich zu allererst in den Heerden ergriffen.
10 bis 14 Tage nach geschehener Ansteckung fahren unter hef­tigen oder schwachen, oft übersehenen Fiebererscheinungen rothe Flecken an verschiedenen Körperstellen der Thiere auf, welche inner­halb 3 bis 4 Tagen zu etwa erbsengrossen rothen harten Knoten sich gestalten. In weiteren 3 bis 4 Tagen sammelt sich eine wasser­helle, etwas klebrige Lymphe unter der Oberhaut der Knoten an. Die Pocken haben um den 8. oder 9. Tag ihre Reife erlangt, und die weissgelblichen oder bläulich röthlichen Pusteln sind dann von einem Hofe umgeben; es besteht gleichzeitig ein fieberhaft katarrha­lisches Allgemeinleiden, das nachlässt, sobald die Lymphe sich trübt. Dieselbe wird später eitrig und vertrocknet vom 12. oder 13. Tage ab zu schwarzbraunen Schorfen, welche 8 bis 14 Tage später ab­fallen und Narben hinterlassen, auf denen niemals, oder nur spär­liche, Wollhaare wieder wachsen. Der ganze Verlauf der Krankheit nimmt durchschnittlich drei bis vier Wochen in Anspruch.
Die Schafpocken sind immer eine gefährliche Krankheit; die Gefahr steht im Einklänge mit der Menge der Effloresceuzen, und diese richtet sich nach der Stärke des einleitenden Fiebers. Im günstigsten Falle hat man 10 bis 20 pCt. Verlust zu befürchten, aber derselbe kann bis zu 50 pCt. steigen, die vielen anderen Ein-biissen, Verkrüppelungen, Verlammungen nicht eingerechnet. Nur 2 bis 3 pCt. pflegen beim Durchseuchen einer Heerde gänzlich von den Pocken verschont zu bleiben.
Arzneiliche Schutz- und Heilmittel gegen dieselben kennt die Veterinärkunde nicht, aber sie glaubt guten hygieinischen Vorkeh­rungen einen unverkennbaren Einfluss auf die Seuche zugestehen zu müssen; frische Luft in den Ställen, kräftige Nahrung und Schutz der Thiere vor Nässe werden für ebenso heilsam gehalten, wie dun­stige Stallungen, kärgliches Futter, Erkältungen und Durchnässungen verderblich wirken.
Ueber Schafpockenseuchen wird aus sehr früher Zeit be­richtet. Merkwürdig erscheint ihre Vorliebe für die östlichen Länder Europas (Russland, Ungarn); der Osten dieses Erdtheils jenseits der deutschen Grenzen galt daher stets für die Wiege der Schafpocken, während sie das westliche Europa nur periodisch auf dem Wege der
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3. Schafpocken. Variola ovina.nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp;109
Contagion empfangen sollte. Verbürgte Beobachtungen haben in Preussen und Oestreich wiederholt ihre Wanderung von Osten nach Westen, ganz in der Richtung, wie der Handel die Viehtransporte bewegen lässt, dargethan. Durch die, im Jahr 1806 von der preussi-schen Regierung empfohlene, Lamm- oder Schutzimpfung sind jedoch die ursprünglichen Verhältnisse verdunkelt worden. Diese alljährlich an vielen Orten der östlichen Provinzen Preussens betriebenen Im­pfungen der jungen Thiere haben die Schafpocken, nach dem Urtheile der Fachmänner, auch in Ost- und Westpreussen, Posen, Pommern und Brandenburg stationär gemacht (wie es die Menschenpocken durch die Inoculation im verflossenen Jahrhundert wurden), so dass die Ent­scheidung schwer fällt, ob ein neuer Seuchenzug auf die Einschlep­pung des Contagiums von auswärts, oder auf die im Lande befind­lichen Impfstationen zurückzuleiten ist. — In Spanien sollen Schaf­pocken nicht vorkommen; in Italien waren sie zu Sacco's Zeit (erste Decennien dieses Jahrhunderts) wenig bekannt. In Frankreich treten sie jetzt, von Deutschland, wie man annimmt, eingeführt, häu­figer hervor. In England, wo, wie in allen ebengenanuten Ländern, keine Schutzimpfung üblich ist, waren sie bis zum Jahre 1807 un­bekannt und sind auch später nicht häufig beobachtet, immer aber vom Auslande eingeschleppt worden. Wie in allen diesen Ländern, ist es auch in Deutschland bisher niemals gelungen, die selbstständige Entwickelung der Schafpocken zweifellos festzustellen (wenn sie auch von den besten Veterinären zugelassen wird), und die früher ange­nommene spontane Periodicität der Epizootien (von 6 zu Ü oder 8 zu 8 Jahren) hat jetzt alle Geltung verloren.
Die Bösartigkeit seiner Pocken hat auch beim Schafe die Pro­phylaxe der Impfung räthlich erscheinen lassen. Aber die Veteri­närkunde ist dabei über jenes erste Stadium, welches die Menschen-Schutzimpfung im verflossenen Jahrhundert durchmachte, noch nicht hinausgekommen, d.h. man impft die Schafe mit dem Inhalte (Ovine) ihrer eigenen Pocken (Ovination) und nimmt den unvermeid­lichen, und (wie man hofft) geringen Verlust in den Kauf. Die An­sicht, dass die Ovine durch fortgesetztes Verimpfen von Thier zu Thier milder werde, und zuletzt einen sogenannten eultivirten, durch seine Gutartigkeit verlässlichen Impfstoff abgebe, hat sich als Einbildung erwiesen. Haubner empfiehlt zur Lymphentnahme gut­gebildete Impfpocken vom 6. bis 8. Tage, und nur in Ermangelung derselben discrete, gutartige natürliche Blattern. Ein solcher Impfstoff bringe dann häufig blos die Eine, von massigem Fieber begleitete,
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110nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; III. Die Thierpocken.
Pocke an der Impfstelle hervor, wie der Variolation beim Menschen mitunter nur Lokalblattern folgten. Allein man hat für diese be­grenzte künstliche Erkrankung keine Bürgschaft in Händen, und die Ovination zieht oft genug, trotz aller Vorsicht, einen allgemeinen Pockenausbruch mit seinen vielen Gefahren nach sieh, so dass, anstatt der erwarteten 1—2 pCt., ein bedeutend schwererer Verlust heraus­kommt. l)
Die Praxis unterscheidet eine Schutz-, eine Präcautions- und eine NothImpfung. Die erste, das Seitenstück zur menschlichen Jugcndimpfung, alljährlich an den Lämmern, auch ohne äussere Nöthi-gung, vollzogen, wird heutzutage von vielen Autoritäten des Faches (u. A. Fürstenberg, Gerlach, C. Müller in Berlin, Roloff) durchaus verworfen, weil sie gemeingefährlich sei, das Contagium unterhalte und die Schafpockenseuchen stationär mache; überdies die Annahme, class jedes Schaf den Pocken verfallen müsse, will­kürlich und ganz irrig sei. Doch hat der Streit über diese Frage gerade während der letzteren Jahre wieder sehr hell in Preussen ge­lodert. Ebeuso findet die vorbauende Impfung, wenn Pocken in der Nachbarschaft ausgebrochen sind, nur bedingte Empfehlung, wäh­rend der Nothimpfung, bei bereits erfolgter Ansteckung der Heerde, mindestens der eine wesentliche Vortheil zur Seite steht, dass sie die Seuche, welche bei natürlicher Propagation oft monatelang sich hinschleppt, rasch beendigt, und geringere Verluste aufkommen lässt.
Die naheliegenden Versuche, auch die Schafe vermittelst der Kuhpocken, anstatt der 0 vine, zu schützen, haben sich der Jen-n e r 'sehen Entdeckung bald angeschlossen. S a c c o erzählt in seinem bekannten Trattato (1809), dass allgemeine Vaccinationen der Schafe in verschiedenen Ländern Europas bewirkt, und erprobt gefunden worden seien. So habe Holzmeister, Director der kaiserlichen Güter in Ungarn, dessen Scbafstand von 24,000 Häuptern Merinos, oft von den Pocken gelitten hatte, 8000 Lämmern und 2000 Widdern die Kuhpocken einimpfen lassen; nur Wenige hätten versagt, und 1000 von diesen Thieren, welche später einer Probeinoculation mit Ovine, und dem Verkehr mit pockenkranken Schafen überantwortet wurden, seien unversehrt geblieben. Aehnliche Impfungen in gross­artigem Umfange wurden, nach Sacco, in Frankreich, in der Lom­bardei, in Dalmatien, sowol von Anderen, als von ihm selbst mit dem beabsichtigten Erfolge ausgeführt (mit welcher Lymphsorte, ist
1) Nach Fürstenberg betragen die Todesfälle bei der Lammimpfung im grossen Durchschnitt 2—3 pCt, bei älteren Thieren dagegen 6—20 pCt.
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3. Schafpocken. 'Variola ovina.nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp;Ill
nicht gesagt). Diese Mittheiluagen scheinen völlig vergessen zu sein, und die Schwierigkeiten, sowie die zweifelhaften Resultate, auf welche man, wie ich selbst erfahren, bei der Schafvaccination leicht stösst, haben die späteren Veterinäre von dem Verfahren ganz ab­stehen lassen. Erst 1837 taucht dasselbe in der Literatur wieder auf; der schon genannte Kreisphysicus zu Brandenburg a. d. H., Dr. Stejnbeck, impfte drei Schafe mit humanisirter Vaccine, die mehrere Monate in Haarröhrchen aufbewahrt gelegen hatte. Das eine Thier versagte, leistete aber auch der nachträglichen Control-impfung mit Ovine Widerstand; bei den anderen beiden trat vom 2. Tage ab Fieber auf, am 3. erhoben sich Knötchen an den Impf­stellen, bei dem einen vier von acht Einstichen, bei dem anderen gingen alle acht Einstiche an. In rascher Ausbildung hatten die Imptpocken am 6. Tage ihre vollkommene Reife erlangt, und damit kehrte die Fresslust der Thiere zurück. Aus der Lymphe ihrer Pusteln impfte Dr. Steinbeck ein Mädchen, bei welchem, von sechs Einstichen, drei kuhpockengleiche Efflorescenzen den bekannten regelmässigen Verlauf durchmachten.
Eine grössere Reihe von Versuchen, welche in den letzten Jahren von verschiedenen Thierärzten angestellt wurden, haben die Ueber-tragbarkeit der Vaccine auf Schafe sicher gestellt. Was jedoch die, auf solche Weise erzengte ovinisirte Vaccine betrifft, welche, eben so leicht haftend, wie reine Ovine, nicht die Gefahren der letz­teren einschliessen sollte, so kamen Wolf, Koch und Fürsten­berg zu folgenden, den, von anderer Seite her gepiiesenen Stoff ver-urtheilenden Schlüssen: 1) Dieselbe haftet bei Schafen, und erzeugt eine Pustel, welche der durch die gewöhnliche Schutz- (Schaf­pocken-) Impfung erzeugten gleich ist. 2) Nach der Impfung mit ovi-nisirter Vaccine bildet sich, ebenso wie bei der gewöhnlichen Schutz­impfung, ein den natürlichen Pocken gleiches Exanthem. 3) Der Verlauf und Ausgang ist bei beiden Impfarten gleich, und ebenso die Gefahr. 4) Beide Impfarten sind mit einer Störung des Allgemeinbefindens verbunden, und gewähren nur den Vortheil eines rascheren Verlaufs der Krankheit. 5) Die ovinisirte Vaccine ist für die Zwecke der Präcautionsimpfung nicht empfehlenswerth (Vir-chow und Hirsch, Jahresber. f. 1873).
Nach Ger lach entwickelt die Schafpocke, aussei- unter den Schafen selbst, nur noch für Ziegen ein flüchtiges Contagium. Auf denMenschen direct übertragen erzeugt sie dagegen, nach den Erfahrungen von Sacco, Legni und anderen italienischen Aerzten,
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112nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; III. Die -Thierpocken.
kubpockengleiche Pusteln, welche den gewöhnlicben Verlauf der Vaccinen einhalten, und die antivariolöse Kraft derselben bewäbren. An mancben Orten Italiens geschab die Scbutzimpfung, im Anfange des Jabrbunderts, Jahre lang mit einer, ursprünglich Ovine gewesenen Materie, und betracbteten Sacco und seine ärztlichen Freunde die Schafpocken als ein vollkommenes Surrogat der Kuhpocken.
Dr. St ein beck impfte (1837) ein halbjähriges Mädchen aus primären Schafpocken, welche rascher, als die gleichzeitig einge­impften Vaccinen fortschritten, und, am 6. Tage bedeutend grosser und vollkommener waren. Eine derselben gab zu einer erheblichen Eiterung Veranlassung').
Nach den „Mittbeilungen aus der tbierärztlichen Praxisquot; von Müller und Koloff (17. Jahrgang 1868/69) inficirten sich zwei Thierärzte unabsichtlich mit Schafpockenlympbe. Der eine bekam nach fünf Tagen heftiges Fieber mit Schmerz in dem verletzten Arme und Achseldrüsenscbwellung. Am 7. Tage füllte er aus der reifen Pocke zwei Glasröhrchen mit schöner klarer Lymphe, welche er erfolgreich wieder bei gesunden Schafen verwandte s).
Kühe wurden ovinisirt von Sacco und Heiter3); aus den autgegangenen Pusteln, welche örtlich blieben, wurden andere Kühe und Kinder mit dem Ausfall einer gewöhnlichen Vaccination geimpft. Die ersten Ovinationen bei der Species bovina misslangen häufig, wie überhaupt, wenn ein Virus die Thiergattung wechselt, während die spätere Fortleitung desselben in der nämlichen Gattung keine Schwierigkeiten bereitet.
Gerlach 4) machte Impfversuche an Kaninchen, Giesker bei Ziegen; die Schafpocken gedeihen auf beiden Thierarten sehr gut, und lassen sich von diesen rückwärts auf die Schafe übertragen.
Es darf bei den vorliegenden, wie überhaupt bei allen wechsels­weisen Pockenimpfungen an Thieren nicht Wunder nehmen, wenn manche Forscher zu hartnäckig negativen oder Bastardresultaten ge­langten ; hier entscheidet schon Ein verbürgter und controlirter, posi­tiver Erfolg.
Impft man nun von ovinisirten Menschen und Kühen wieder auf Schafe zurück, so entsteht bei den letzteren kein allgemein erAus­schlag, sondern eine örtliche Eruption, welche gleichwol die vor-
1)nbsp; Caspar's Wochenschrift 1S39.
2)nbsp; Virchow-Hirsch, Jahreshericht für 1870.
3)nbsp; Beiträge zur richtigen Beurtheilung u. s. w. der Kuhpocken, 1846. S. 164.
4)nbsp; Jahreshericht der kgl. Thierarzneischule in Hannover 1869.
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4. Die übrigen Thierpocken.nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp;113
bauende Kraft der echten Ovine besitzt. Die Ovine würde sich demnach, behufs der gefahrlosen Schafimpfung, in gewünschter Weise mitigiren lassen, indem man sie vorher durch den Menschen, oder durch Kühe, Kaninchen, Ziegen hindurchschickte.
IV. Die übrigen Thierpocken
noch dürftiger erforscht, als die bisherigen, und in ihrer Bedeutung für den Menschen ganz unbekannt, haben trotzdem kein zu unter­schätzendes Interesse, als sie die Verbreitung der Krankheit im Thierreiche ahnen lassen.
Die Pocken der Schweine, am häufigsten bei den Ferkeln, stehen als allgemeiner Ausschlag den Schafpocken am nächsten. H a u b n e r und Hertwig halten für erwiesen, dass Schweine durch das Con-tagium der Menschenpocken (z. B. durch inficirtes Bettstroh) an­gesteckt werden, sowie dass umgekehrt aus Schweinepocken beim Menschen Varioloiden hervorgehen können. Gerlach übertrug Schweinepocken auf Ziegen und zurück. — Die Lyonneser Com­mission vaccinirte fünf Ferkel; jeder Einstich producirte eine grosse rothe hemisphärische Papel, welche schnell, ohne dass sich eine flüssige Secretion an ihr zeigte, durch wirkliche Resorption ver­schwand.
Die Pocken der Ziegen sind nur erst in wenigen Fällen beob­achtet worden, wo ihr Sitz (am Euter) und ihr Verlauf mit den Kuh­pocken tibereinstimmte. Bereits von J e n n e r, und später von H u s s o n wurden die Ziegen für fähig gehalten, die Vaccine auf dem Wege der Inoculation anzunehmen, was durch die Untersuchungen von Mathieu und Auzias-Turenne in bestimmtester Weise bestätigt wurde, und auch die Lyonneser Commission kam zu derselben Ueber-zeugung: aus dem Cow-pox (einer Stärke) gingen bei Ziegen zwar kleine, aber den Vaccinen sehr ähnliche, deutlich genabelte Efflo-rescenzen hervor.nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; V
Impfungen von Hunden mit Vaccine und Oviue gaben Jen­ner, Sacco und Steinbeck das gleiche Resultat einer fieberhaften, mehr oder weniger lebhaften Angina und Laryngo-Tracheitis, ver­bunden mit reichlicher zäher Speichelabsonderung und empfindlicher Drüsenanschwellung -unter den Kinnladen, welche Erscheinungen vom 2—8. Tage nach der Impfung anhielten, während an den Impfstichen
Bohn, Handbuch der Vaccination.nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp;deg;
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1nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; w
114nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; in. Die Thierpocken.
nichts zu bemerken war. Dem entgegen verzeichnet die Lyonneser Commission bei mehreren jungen Hunden an jedem Impfstiche eine sehr kleine rötbliche Nodosität, erwähnt aber keine anderen örtlichen oder allgemeinen Zufälle.
Zülzer inficirte Affen mit menschlicher Variola auf verschie­denen Wegen (durch Inoculation, durch die Atmosphäre), und sah eine pustulöse Eruption erfolgen.1) Auch nach M.Schmidt gehen durch unmittelbaren Verkehr die Menschenpocken auf Affen über, und scheinen die wildlebenden Affen zu erkranken, wenn Variola in der Nachbarschaft unter der menschlichen Bevölkerung herrscht.2)
V. Das Vcrhältniss der Thier)ieckeu zu den Menschenblattern.
Dieses Verhältniss erscheint nach den vorhergehenden Beob­achtungen, soweit, wie ich glaube, geklärt, als die nächsten Zwecke erheischen.
Alle Ausschläge an denThieren, welche in Parallele mit den Menschenblattern gestellt, und als Pockenkrank­heiten bezeichnet werden, sind letzteres auch in Wahr­heit. Der aus ihren gegenseitigen inneren Bezügen herzuholende Beweis ist ein zwiefacher.
Die variolösen Ausschläge des Menschen und einer Anzahl von Haussäugethieren lassen sich 1) wechselsweise, und in mannich-fachster Kreuzung übertragen, um immer wieder Ausschläge des nämlichen Charakters hervorzubringen. Und dieser Charakter besteht 2) darin, dass alle als Pocken bezeichneten Ausschläge sich gegenseitig stellvertreten können. Von einem Thiere auf das andere, oder auf den Menschen übertragen, oder umgekehrt, berauben sie den jedesmaligen Impfling der Fähigkeit, von seiner eigenen Pocke angesteckt zu werden; der Impfling hat in der frem­den Krankheit die eigene, ja noch mehr, er hat auch die analogen Ausschläge aller übrigen Thiere vorweggenommen.
Der erste Punkt, die wechselseitige Uebertragbarkeit, ist, seiner fundamentalen Bedeutung gemäss, ausführlich in .den früheren Abschnitten behandelt worden. Da aber die zahlreichen, hin- und her-
1)nbsp; Centralbl. f. d. med. Wlssensch. 1874. Nr. 6.
2)nbsp; M. Schmidt, Zoolog. Klinik. 1870.
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5. Das Verhältniss der Thierpocken zu den Menschenblattern.nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; 115
gehenden Experimente etwas Verwirrendes haben, so mögen ihre Ergebnisse hier kurz zusammengefasst werden.
Es lassen sich auf den Menschen überpflanzen: die Kuh­pocken, die Pferdemauke und die Schafblattern.
Die Kuh ist empfänglich für die menschliche Variola, für die Equine, und nimmt die Schafpocke leicht an.
Pferde und Esel sind erfolgreich mit Kuh und Menschen­blattern geimpft worden (mit Schafblattern scheint kein Versuch gemacht worden zu sein).
Schafe nehmen den Vaccinestoff und die Equine an (ob sie der Variolation unterzogen sind, ist mir nicht bekannt).
Ziegen sind fähig, die Lymphe von Schaf- und Schweinepocken aufzunehmen, und zu reproduciren.
Weitere Verimpfungen des, mit fremdem Pockenstoff an Thier und Mensch erzeugten Pustelinhaltes auf andere Thiere etc. lieferten in den mannichfaltigsten Kreuzungen die entsprechenden Resultate.
Die erstmalige Ueberleitung eines fremden Pockenstoffes miss-lingt häufig, oder bringt unreine und zweifelhafte Effecte zu Wege, so dass dem Virus, beim Wechseln der Thiergattung, natürliche Widerstände begegnen, und seine Acclimatisation auf dem fremden Boden erforderlich erscheint; die fernere Fortpflanzung desselben in der nämlichen Thiergattung geht meist leicht von statten.
Bemerkenswerth erscheint bei diesen wechselseitigen Impfun­gen, dass die generalisirten und schwereren Formen (die des Men­schen und der Schafe) bei anderen Thieren lokalisirt und gemildert werden, während eine, von Hause aus örtliche milde Pocke nie­mals, zu einer schweren generalisirt, ausartet. Selbst wenn die auf Menschen oder Kühe verimpfte Ovine wieder auf Schafe zurück­geführt wird, erzeugt sie hier nur örtliche Pocken, wie die mensch­liche Variola, nach ihrem Durchgange durch die Kuh, die Eigen­schaften der Vaccine erworben hat. Eine Ausnahme scheint hier nur die ovinisirte Vaccine zu machen (S. 111).
Zweitens: Die wechselseitige Stellvertretung der Men­schen- und Thierpocken.
Das mit Erfolg variolirte Rind weist seine eigene Vaccine ab, das vaccinirte Schaf nimmt nicht mehr die Ovine an, der ovinisirte Mensch ist sicher vor der Variola u. s. w. Und wie für die eigene Pockenkrankheit, ist das, mit fremdem Pockenstoff geimpfte Indivi­duum auch für die Pocken der übrigen Thiere unempfänglich ge­worden, und schlägt den Versuch, sie ihm beizubringen, ab. In
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116nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; m. Die Thierpocken.
jeder einzelnen Pocke sind die sämmtlichen Pocken einbegriffen.
Die Möglichkeit der gegenseitigen Uebertragung und Stellvertretung muss als das Band betrachtet werden, welches alle hier in Betracht kommenden Ausschlagskrankheiten zu­sammenhält, und als das Kriterium der Pockenkrankheit überhaupt.
Innerhalb dieser pathologischen Gruppe bestehen jedoch wesent­liche Verschiedenheiten der einzelnen Formen. Zunächst stehen, aus den bereits bekannten Gründen, die Menschen-, Schaf- und Schweinepocken der andern Kategorie, welche die Kuh- und Pferde­pocken umfasst, sehr scharf charakterisirt gegenüber.
Die Versuche, aus einer Urpocke die übrigen, oder überhaupt eine Pocke aus einer andern herzuleiten, sind gescheitert, und wir sind zu der Annahme berechtigt, dass sich die Blattern, bei den Thieren, wie beim Menschen, unabhängig von einander, und als ursprünglich selbstständige Krankheiten entwickeln. Ob aber verschiedene Ursachen, oder für sämmtliche Pockenformen die gleiche Infectionsquelle in der Natur vorauszusetzen sei, diese Frage muss, nach den vorliegenden Experimenten, ebenso sicher im Sinne des identischen Ursprungs beantwortet werden. Mögen die bisher an­gestellten Versuche, trotz ihrer Anzahl, noch lange nicht erschöpfend genug, vielfach lückenhaft, nicht selten widerspruchsvoll sein — das Eine ist handgreiflich, dass wir, indem wir die verschiedenen Blattern­formen wechselseitig zu übertragen vermögen, mit einem im Grunde identischen Virus operiren. Oder ist dem nicht so, wenn das Virus variolosum beim Menschen die echten universellen Blattern, bei der Kuh und beim Schaf lokale Pocken hervorbringt; wenn die Ovine hier Vaccinen und dort wieder Schafblattern erzeugt? Die verschie­denen Formen, in welche sich das Virus bei den einzelnen Thier-gattungen kleidet, erscheinen unter solchen Umständen als blosse, durch die ungleiche körperliche Organisation bedingte Abweichungen, welche sich, zum Theil, durch die wechselseitigen Uebertragungen künstlich nachahmen lassen. Wie sich indess die Form ändern mag, das Princip des Virus bleibt unangetastet, indem jede beliebige Pocke für jedes (thierische oder menschliche) Individuum dieselbe letzte Bedeutung besitzt, d. h. die Wirkungen der eigenen und aller übri­gen Formen aufzuheben im Stande ist.
Die gleiche Abstammung macht jedoch alle die verschiedenen Pockenkrankheiten selbst nicht identisch, und es bedeutet eine
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Wechselseitige Stellvertretung der Menschen- und Thierpocken. 117
Zusammenwürfelung von Ursache und Wirkung, wenn man sie sämmtlich für eine und dieselbe Krankheit erklärt hat. Folgerichtig müssten dann Vaccinen und Variolen beim Menschen identisch sein. Schon die enorme Differenz der infectiösen Eigenschaften der ein­zelnen Formen hätte vor ihrer Identificirung warnen müssen. Die Schwierigkeiten bei der wechselseitigen Uebertragung aber haben vollends immer und immer wieder gelehrt, dass dem gleichen Virus in den verschiedenen Pocken noch Eigenthümlichkeiten von der Or­ganisation ihres besondern Erzeugers beigegeben sind, welche mit den Eigenthümlichkeiten des fremdartigen Impflings zusammenstossen und erst in späten Impfgenerationen derselben Gattimg abgestreift oder ausgeglichen werden.
Die Pocken des Menschen und der Thiere sind nicht identische, sondern aus dem nämlichen Boden entsprossene, nahe verwandte Krankheiten.
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Vierler Abschnitt.
Die Impfung der Kuhpecken.
Vaccination.
Geschichte der Yaccination.
Die Kenntniss von dem eigenthümlichen Verhältnisse der Kuh-pocken zu den Menschenblattem hat unter dem Volke verschiedener Länder schon Jahrhunderte lang gelebt. Auch sie darf, wie eng­lische Forschungen glaubhaft machen, gleich der Variolation, bis in das alte Indien zurückgeführt werden. A. v. Humboldt fand die­selbe, im J. 1803, unter den Hirten der Berge Mexikos als eine geläufige Ueberlieferung vor. Und sicherlich noch in manchen an­deren Ländern, wo die bestimmten Hinweise fehlen, wird dem offenen Blicke des, mit seinen Hausthieren enge verkehrenden Volkes die wiederholte Wahrnehmung nicht entgangen sein, dass Personen, welche gelegentlich von einem pockenartigen Aus­schlage der Kühe angesteckt gewesen waren, in spä­teren Blattern-Epidemien frei ausgingen, und sich des­halb, nicht mit Unrecht, für geschützt hielten1).
Ungleich der Variolation indess, hat der gewöhnliche Mann nur
1) Der bekannte Berliner Arzt Heim erzählt, dass ihm sein Vater, ein Land­geistlicher in Sachseu-Meiningen, bereits 1763 mitgetheilt habe, wie die Melker­mädchen der dortigen Gegend den Werth der zufällig erworbenen Kuhppcken sehr wohl zu schätzen wussten (Bremer, Die Kuhpocken, 1804). — In den Göttinger „Allgem. Unterhaltungenquot; vom Mai 1769 ist gesagt, die Kuhpocken seien um Göt­tingen nicht selten, steckten die Melkenden an, und man halte diese für geschützt gegen Menschenblattern (Hering, Die Kuhpocken. Stuttgart 1839).
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Die ersten Vaccinationen in Europa.nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; 119
selten von dieser Erfahrung, so weit bekannt, bewussten Gebrauch gemacht, und erst die wunderbare Thatsache der Blatterninoculation im verflossenen Jahrhundert befruchtete, in dem Geiste denkender Männer, die schlichte Volksbeobachtung, von der sie Kunde erhalten hatten.
Die erste absichtliche Einimpfung der Kuhpocken scheint in England ausgeführt zu sein l). Ein Pächter in Gloucestershire, Benjamin Jesty, welcher, nebst mehreren seiner Bekannten, früher von Kuhpocken angesteckt worden, und seitdem im Verkehr mit Blatternkranken stets ungefährdet geblieben war, impfte 1774 den Cow-pox seiner Frau und zweien Söhnen ein. Er hatte dafür den Hohn, die Schmähungen, und selbst Steinwürfe von der Menge zu erdulden, welche ihn anklagte, die Seinen dem Schicksale, Ochsen und Kühe zu werden, pi-eisgegeben zu haben. Noch 31 Jahre später (1805) erwiesen sich die Söhne, wie eine Probeinoculation lehrte, gegen Variola ebenso geschützt, als der Vater in seinem 68. Lebens­jahre gegen Variola und Vaccine — Alle in ihrer kernigen Gesund­heit die Zeugen für die Unschädlichkeit der an ihnen vollzogenen Impfung.
Auch Deutschland nimmt an der frühesten Praxis der Kuh­pockenimpfung Antheil. Der Schullehrer Plett zu Starkendorf bei Kiel impfte 1791 mit Erfolg die Kinder seines Gutsherrn, von dem allgemeinen Glauben des holsteinschen Landvolkes an die Schutz­kraft der Kuhpocken geleitet. Plett's Verfahren soll nicht verein­zelt in jenem Lande gewesen sein, und seine Impfungen haben lange 'für die ersten verbürgten gegolten2).
Ebenso unbeachtet in weiteren Kreisen gingen auch die ersten ärztlichen Versuche vorüber. Die beiden englischen Inoculatoren, Sutton und Fewster nahmen (1768 oder 1778) eine sachkundige Prüfung jener vom Volke behaupteten Fähigkeit der Kuhpocken vor3). Sie impften einigen Personen, welche die Kuhpockenkrankheit durch­gemacht hatten, später die Menscheablattern ein, und sahen letztere nicht haften. Aber das Collegium der Londoner Aerzte legte keinen
1)nbsp; The Lancet London, 1862. Nr. XVII. — Trousseau, Clin. mamp;i. I.
2)nbsp; Dagegen steht die französische Priorität der Vaccination auf ganz un­sicheren Füssen. Im Jahr 178] machte der protestantische Geistliche Rabout in Montpellier einem gerade anwesenden englischen Chirurgen Pew den Vorsehlag. den Kindern die picotte des vaches einzuimpfen (la Revue med. 1870. p. 765). Der Bericht sagt aber weder, dass Rabout, noch dass Pew wirklich geimpft haben.
3)nbsp; Husson, Diet, des sciences med. Art. Jenner.
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120nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp;IV. Die Impfung der Kuhpocken.i
Werth auf ihre Mittheilungen, und sie selbst Hessen, was noch be­fremdender ist, die Sache fallen.
So blieb es Edward Jenner, dem Arzte zu Berkley in der Grafschaft Glocester1), vorbehalten, für den populären Glauben die sichere Grundlage zu schaffen, und aus dem Stückwerke gelegent­licher Volkswahrnehmung eine grosse weittragende Entdeckung zu formen. Unbekannt mit den Versuchen seiner Vorgänger, aber aus der gleichen Quelle, wie sie schöpfend, war er fast 30 Jahre lang, von 1768 ab, beschäftigt, die unter den Landleuten seiner Grafschaft verbreitete Meinung über den Werth der Kuhpocken experimentell zu prüfen, und folgerichtig weiter zu entwickeln, durchschritt er selbstständig, mit nicht geringen Mühen und Opfern, selbst unter Zweifeln, vorsichtig und wiederholt alle einzelnen Phasen, auf welchen seine Vorgänger stehen geblieben waren, um endlich die voll gereifte Ueberzeugung mit der muthvollen That zu krönen.
Der Jahrestag der Schutzpockenimpftmg fällt auf den 14. Mai 1796, wo Jenner an dem achtjährigen Knaben Phipps in Berkeley die erste öffentliche Vaccination vornahm. Zur Abimpfung dienten die Kuhpocken einer Sara Nilmes, welche sich, an den, durch Kornähren geritzten Händen, beim Melken kranker Kühe an­gesteckt hatte. Die Uebertragung glückte, die künstliche Erkran­kung des Knaben verlief gelinde, und das Fehlschlagen zweier Blat-terninoculationen, welchen er probeweise nach einigen Monaten und nach fünf Jahren unterworfen wurde, bestätigte seine Immunität.
Im Jahre 1798 ging Jenner nach London, und veröffentlichte seine bis dahin geführten Untersuchungen. Die denkwürdige, bald ins Lateinische und in fast alle europäischen Sprachen übersetzte Schrift führt den Titel:
An inquiry into the causes and effects of the variolae vaccinae, a Disease discovered in some of the western counties of England, particularly Gloucestershire, and known by the name of the Cow Pox. London 1798. 4 pag. 75 with Plates.
In den nächsten Jahren erschienen die beiden anderen Schriften: Further observations on the variolae vaccinae or Cow-Pox. Lon­don 1799. 4, und: A continuation of facts and observations rela­tive to the variolae vaccinae, or Cow-Pox. London 1800. 4, wo­mit die Grundlegung seiner Entdeckung vollendet war.-
Es ist merkwürdig, wie über der unausgesetzten praktischen
1) John Baron, The life of E. Jenner. London 1827.
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Edward Jenner.nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; 121
Verwerthung von J e n n e r 's Leistung ihr eigentlicher Kern fast voll­ständig verdunkelt, und aus dem allgemeinen Bewusstsein ver­schwunden ist.
Jenner theilte mit dem Landvolke seiner viehreichen Graf­schaft, und mit manchen benachbarten Collegen, die Ansicht, dass der Cow-pox keine selbstständige Erkrankung der Kühe sei, sondern seinen Ursprung in den Pferdepocken finde. Manche Beobachtungen und Umstände sprachen zu Gunsten dieser Ansicht. Die Lymphe der Pferdepocken besitzt, auf den Menschen übertragen, die Eigen­schaft, von ihm die Ansteckung mit Blattern fern zu halten. Das glaubt Jenner durch die Fälle bewiesen, wo er an Personen, welche vor Jahren von maukekranken Pferden inficirt gewesen waren, fruchtlose Blatterninoculationen angestellt hatte. Doch macht ihn die fernere Beobachtung,, wo ein, von einem Pferde Angesteckter nach zwanzig. Jahren leichte Menschenpocken bekam, zweifelhaft an der Kräftigkeit des Pferdepockenstoifes. Dies, sowie der Umstand, dass sich die Melker bei pockenkranken Kühen viel leichter an­steckten, als die Knechte von den maukekranken Pferden, führt Jenner zu dem Schlüsse, dass das Virus equinum erst auf die Kühe übergehen, und durch dieses Medium den Menschen inficiren müsse, um seine volle und sichere Wirksamkeit bei dem letzteren entfalten zu können.
Sodann wird der Glaube des Landvolkes in Gloucestershire an die schützende Kraft von zufällig erworbenen Kuhpocken der Prü­fung unterzogen, und als wohl begründet dargethan. Jenner in-serirte 16 Personen (Gas. I—V, VIII—X u. XII), welche vor kürzerer oder längerer Zeit zufällige Kuhpocken überstanden hatten, erfolglos die variolöse Materie. Es befanden sich darunter solche Personen, die vor 31—38 Jahren angesteckt gewesen waren.
Nach dieser Feststellung schreitet er am 14. Mai 1796 zur directen künstlichen Vaccination, aber nicht, wie allgemein geglaubt wird, mit originärer, von einem Thiere selbst entnom­mener, sondern mit bereits humanisirter Lymphe aus der ersten Generation, indem er die gelegentlich entstandenen Kuhpocken einer Melkerin, noch dazu einer erwachsenen Person, benutzt.
Nun ruhte die Sache, wegen mangelnden Materials, bis zum Frühjahre 1798; sie ward um eine neue bedeutsame Thatsache be­reichert mit der ersten directen Vaccination von der Kuh (Gas. XIX)', welche den 5'^jährigen Knaben Summers betraf (1. Generation). Aus den Pocken dieses Summers wird der Knabe
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Pead (2. Generation), von Pead werden mehrere Kinder und einige Erwachsene (3. Generation), von einem dieser Kinder abermals vier andere (4. Generation), und von einem der letzteren endlich ein Mädchen geimpft (5. Generation). Ueberall bestätigte der Verlauf der künstlichen Kuhpocken die bereits gewonnenen Erfahrungen, und zahlreiche spätere Probeinoculationen, welche mit echter Pocken­materie an den Geimpften verrichtet wurden, erhoben die Sicherheit der Methode über jede Anfechtung.
An diesen Experimenten habe ich mir genug sein lassen, schliesst Jenner, weil sie zeigten, dass das Kuhpockengift, durch fünf verschiedene menschliche Körper geführt. Nichts von seiner ursprünglichen Wirksamkeit verloren hatte.
Man begreift hiernach das Unrichtige der gangbaren Vorstel­lung, welche Jenner's hohes Verdienst in der Aufdeckung der, in den Kuhpocken verborgenen Schutzkraft erblickt. Das hat er so wenig, wie andere gelehrte Aerzte vermocht, denn diese Kenntniss, mit der sie nur wucherten, war lange vor ihnen das Eigenthum des Volkes. Auch dass Jenner jene Schutzkraft der originären Lymphe allseitig festgestellt hat, und dass er ihrer Verwerthung die Bahn eröffnet, würde immer nur einen Theil seiner Bedeutung ausdrücken — die grössere Hälfte derselben, der letzte Inhalt seiner wissenschaft­lichen Leistungen ist, wie die vorhin gegebene Analyse lehrt, in dem Nachweise zu suchen, dass der, von dem menschlichen Körper reproducirte Kuhpockenstoff dieselben Fähigkeiten besitzt, wie der an dem Thiere erzeugte. Mit anderen Worten: Jenner ist der Entdecker der humanisirten Lymphe, und hat erst dadurch die allgemeine Verwendung des Schutzmittels ermöglicht. Nur die Unkenntniss oder die absichtliche Fälschung kann noch heute behaupten: Jenner habe zuerst ausschliesslich die originäre Lymphe benutzt, und aus Mangel an diesem Stoffe, in der Noth habe er später von Arm zu Arm geimpft, gleichsam eine Be­mängelung oder ein Vorwurf da, wo sein wirkliches Verdienst sich aufbaut.
Jenner's Impfungen wurden in London sofort von Dr. Pear­son wiederholt, dann in grösserem Umfange von dem Arzt am Blattern-Inoculationshospital, Dr. Woodville, aufgenommen, und später von zahlreichen Aerzten in der Nähe und Ferne fortgesetzt, und in ihren Resultaten bestätigt. Die Begeisterung für die neue Entdeckung griff so um sich, dass bald mehr Nichtärzte, als Aerzte, vaccinirten, und Will an die Zahl der in den vereinigten König­reichen Impfenden während der Jahre 1799 und 1800 auf 10 —12,000
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Die ersten Jahre der Vaccination in England.nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; 123
schätzte ')• Am 2. December 1799 ward in London von Freunden der Kuhpockenimpfiing, unter dem Schütze des Herzogs von York und unter der Leitung von Pearson, ein öffentliches Vaccine-Institut gegründet, in welchem zweimal wöchentlich ohne Entgelt geimpft, und Lymphe zum Versenden vorräthig gehalten wurde. Von 1799— 1801 waren in dem Blattemhospitale Londons 7500 Personen durch Dr. Woodville vaccinirt, und die grössere Hälfte später auf ihre Empfänglichkeit für die Menschen blättern geprüft worden. Jenner selbst hatte bis 1801 über 6000 Individuen geimpft, und bei den Meisten das Probeexperiment nachfolgen lassen. Im März 1802 konnte er dem Hause der Gemeinen mittheilen, dass, bei der ge­ringsten Annahme, mehr als 100,000 Vaccinirte in den drei König­reichen sich befänden. Das Parlament sprach, auf eine eigene Prü­fung der Sache gestützt, seine höchste Anerkennung über Jenner's Entdeckung aus, und 1803 trat zu London das „Königliche Jenner'sche Institut zur Ausrottung der Pockenquot; ins Leben, dessen erster und langjähriger Präsident Edw. Jenner wurde. Dasselbe schuf 13 Impfstationen in der Hauptstadt, und hatte innerhalb 18 Monaten 12,288 Impfungen ausführen lassen, und 19,352 Portionen Lymphe in die Provinzen und nach dem Auslande versandt. Zahlreiche Schriften suchten über die wesentlichen Punkte der seltsamen Schutz­methode aufzuklären. Jenner war der Mann des Tages, sein Name, als der eines Wohlthäters der Menschheit, in aller Munde, die Stadt London verlieh ihm das Bürgerrecht, und das Parlament bewilligte ihm 20,000 Pfd. St. als Tribut der nationalen Dankbarkeit.
„Allein es wäre unvernünftig gewesen, bemerkt John Simon in dem Englischen Blaubuche über Vaccination (1857), zu erwarten, dass eine so wichtige Entdeckung, wie die Vaccination, ohne Wider­spruch ihren Weg weiter fortgesetzt hätte.quot; Während dieselbe aus­wärts an Vertrauen gewann, erhob sich aus dem Schoosse der Lon­doner Aerzte eine heftige Opposition, und das in den Streit hinein­gezogene, kritikunfähige Publikum, welches Autorität gegen Autorität gestellt sah, wurde irre an der Sache. Warum Jenner's Entdeckung nach kurzem Glänze zuerst in seinem Vaterlande zu scheitern drohte, muss dem Missbrauche derselben zugeschrieben werden. Es hatten ge­rade dort zu viel Unberufene, welche nie vorher das Kuhpockenbläs­chen gesehen, noch mit den verschiedenen Stadien und Erscheinungen dabei bekannt sein konnten, die Impflanzette gehandhabt. Die viele
1) Rob. Willan, On Vaccine-Inoculation. London 1807. Aus d. Engl. von Mühry übers. Göttingen 1808.
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124nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp;IV. Die Impfung der Kuhpocken.
Lymphe, welche unter solchen Umständen zur Verwendung gelangte, war häufig eine, aufs Gerathewohl genommene unwirksame Flüssig­keit, weshalb auch in England am frühesten Blattemfälle nach der Vaccination vorfielen und das Publikum stutzig machten, und die Lehre von den echten und falschen Kuhpocken nirgends anders so vielfach verhandelt worden ist. Es darf endlich nicht vergessen werden, dass die in allen Händen wuchernde Vaccination viele Aerzte empfindlich in ihrem Erwerbe schmälerte: keine Blattern, keine ernste und umständliche Inoculation mehr, und dafür die simpelste aller Operationen, welche von einem alten Weibe, und nicht schlechter verrichtet werden konnte, als vom Arzte! Die Vaccination war er­schüttert, der anfängliche Eifer erkaltete, und ein kläglicher Rück­gang der guten Sache stand bevor, als sich das Parlament, be­schworen durch Lord Landsdowne, derselben im J. 1806 annahm, und dem Kgl. Collegium der Aerzte den Auftrag gab, alle, für und wider die Vaccination erhobenen Gründe einer sorgfältigen Prüfung zu unterziehen. Das ansehnliche Collegium, darunter Astley Coo­per, Willan u. A., stattete, auf Grund eigener und fremder Er­fahrung, sein Urtheil dahin ab (1807), dass die Menschheit eine grosse und unberechenbare Wohlthat durch die Entdeckung der Vac­cination empfangen habe, und dass der volle Glaube des Collegiums sei, es würden die sanguinischen Erwartungen von dem Vortheile und von der Sicherheit der Kuhpockenimpfnng vollständig in Er­füllung gehen. — Die öffentliche Meinung war beruhig't, das Ver­trauen kehrte zurück, und von dieser Zeit datirte eine beinahe all­gemeine Vaccination der Kinder aus den gebildeten und wohlhaben­den Klassen Englands.
Nicht-weniger energisch, als die Heimath Jenner's, bemäch­tigte sich Deutschland der neuen Schutzmethode ^ Voran schritt das Kurfürstenthum Hannover mit den, um die Impfsache verdienten Aerzten Ballhorn und Stromeier. Die Bösartigkeit einer gerade herrschenden Pockenepidemie (1799—1800), von der anfänglich das fünfte, dann das vierte Kind weggerafft wurde, sowie der Anblick der vaccinirten Kinder, welche verschont blieben, verfehlten nicht, bedenkliche und furchtsame Eltern zu bekehren. Auch Nichtärzte, Männer wie Frauen, griffen zur Lanzette. In Göttingen erstand 1804 eine Privatanstalt zur kostenfreien Vaccination, und die zahlreichen Mediciner, welche die berühmte Universität alljährlich entliess, in-
1) Fr. A. Buchholz, Vollstand. Abhandlung über die Kuhpocken u. s. w. Berlin 1802.
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Die Vaccination in Deutschland (Oestreich).nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; 125
angurirten ihre Praxis sofort mit dem neuen Schutzverfahren, und verbreiteten dasselbe über ganz Deutschland.
In Frankfurt a. M. trat Th. Sömmering für die Jenner'sche Entdeckung ein. Er und Dr. Lehr inoculirten, unter Controle von fast sämmtlichen Frankfurter Aerzten, 14 Kindern, welche einige Mo­nate vorher mit normalem Erfolge vaccinirt worden waren, die echten Menschenblattem, und Hessen das Fehlschlagen der Inocula­tion durch ihre Collegen feststellen. Die von Sömmering und Lehr gemeinschaftlich verfasste Schrift: Prüfung der Schutz- oder Kuhhlattern durch Gegenimpfung mit Kinderblattern (1801), gibt hievon Nachricht1).
Oestreich2). Schon im April 1799 waren in quot;Wien an den Kindern des Dr. Ferro die beiden ersten Impfungen, mit dem auf Fäden getrockneten (humanisirten) Kuhpockenstoffe, welcher von Pearson aus London bezogen war, vorgenommen worden. 1801 wurde die Kaiserl. Findelanstalt in quot;Wien zum Schutzpocken-Impfungs-Hauptinstitut designirt — das erste Staats-Vaccine-Institut des Con­tinents. — De Carro, welchem die Vaccination im Kaiserreiche viel verdankt, wurde sein erster Impfarzt, seine beiden Söhne die Stammimpflinge der Monarchie. Der staatlichen Anerkennung ging auch hier die Prüfung des Verfahrens durch eine Commission voraus, deren Vorsitzender und Referent Peter Frank war. De Carro vaccinirte am 31. August 1801 26 Kinder aus dem allgemeinen Krankenhause, und impfte sechs Wochen später 15 derselben, bei welchen die Kuhpocken vollkommen regelmässig verlaufen waren, die echten Menschenblattem ein; bei Keinem entwickelten sich die letzteren 3).
Aus der Hauptstadt des Reiches ging die Vaccination schnell in die verschiedenen Kronländer über, unter denen Mähren sich be­sonders hervorthat. Fast überall traten Mitglieder des hohen Landes­adels, nicht blos mit ihrem Beispiel an die Spitze, sondern gaben auch die Mittel her, um die Armen an der Wohlthat der neuen Ent­deckung Theil nehmen zu lassen.
Wegen der Neuheit der Sache, und bei der grossen Unwissen­heit des Volkes im Allgemeinen, sah die östreicliische Regierung von dem direeten Impfzwange ab, und begnügte sich mit dem in-directen, indem sie den Genuss von Staatswohlthaten, die Auf-
1)nbsp; Dr. W. Stricker, Sam. Th. Sömmering, 1862.
2)nbsp; Friedinger, Die Kuhpockenimpfung. Wien 1S57.
3)nbsp; Archiv f. Dermat. u. Syphilis, 1573. V. Bd.
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HH
126nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp;IV. Die Impfung der Kuhpocken.
nähme in kaiserliche Bildungsanstalten u. dgl., an den Nachweis der Impfung knüpfte (1801). Die Inoculation der Menschenblattern ward im J. 1803 verboten. Oestreich ist bis heute, trotz der wiederholten Anträge auf obligatorische Impfung, welche die medicinischen Körper­schaften Wiens stellten, von dem Princip des indirecten Zwanges nicht abgewichen. Aber die Vorschriften über die Kuhpockenimpfung haben vielfach, und fast zu oft gewechselt, und bei ihrer Durch­führung hat ein bedauerliches Schwanken zwischen Milde und Härte gewaltet. Nach dem noch jetzt zum grossen Theile gültigen Impf-decret vom 9. Juli 1836 sind die Landes- und Kreisbehörden mit der Oberleitung der Impfung, der Eintheilung der Imptdistricte be­traut, und haben die Impfärzte mit Lymphe zu versehen. Ein Be­amter oder der Gemeindevorstand muss bei den öffentlichen Impfungen zugegen sein.
Preussen ')• Die preussische Prinzessin Friederike, die Ge­mahlin des Herzogs von York, sandte im December 1799 den ersten mit Schutzpockenlymphe getränkten Faden, den sie von Pearson erbeten hatte, nach Berlin. Dr. Heim, der Leibarzt ihrer Schwester, impfte damit, Februar 1800, drei Kinder aus einer guten Familie. Nur bei dem einen Mädchen haftete die Lymphe. Mittelst eines zweiten, von Jenner herstammenden Fadens ward das andere Mädchen erfolgreich vaccinirt, und nur bei dem Bruder versagte die Lymphe auch diesmal. Um Gewissheit zu erlangen, ob derselbe für das Pockengift überhaupt unzugänglich sei, wurden ihm Menschen­blattern inoculirt, welche eine reichliche Variola zur Folge hatten, während die Probeinoculation bei einem der Mädchen misslang, und das andere, in der unmittelbaren Nähe des pockenkranken Bruders, nicht gefährdet wurde. So ward Heim für Jen n er's Entdeckung günstig gestimmt; aber in der Aufregung, welche diese ersten Ver­suche begleitete, hatte man vergessen, von den beiden Mädchen Impfstoff zu sammeln, und die Sache stand ein halbes Jahr, bis zur Ankunft neuer Lymphe, stille.
Die Impfung des jüngstgeborenen Sohnes von Friedrich Wil­helm III. gab endlich den Anstoss zu allgemeinen Massregeln. In der Kesidenz, und in den Hauptstädten einiger Provinzen gründete man öffentliche Impf institute, wo jede Woche einmal alle zu dem Zwecke vorgeführten Kinder unentgeltlich vaccinirt, für die unab­lässige Beschaffung guten Impfstoffs gesorgt, und Lymphe zum Ver­senden nach auswärts bereit gehalten werden sollte. Das in Berlin,
li Bremer, Die Kuhpocken. Mit Abbild. 3. Aufl. 1810.
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Die Vaccination in Preussen.nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp;127
am 5. December 1802, im grössen Friedrichs-Waisenbause eröffnete Institut erhielt zum Dirigenten den so eifrigen als humanen Beför­derer der Impfsacbe in Preussen, den Dr. Bremer. Derselbe hatte u. A. schon früher Kinderarme in Gyps und Porzellan modelliren, und an denselben die Kubpocken, treu in Gestelt und Farben, dar­stellen lassen; später verbreitete er Abbildungen der Schutzblattem vom 3.—15. Tage. Um auf die Eitelkeit und den Eigennutz zu wirken, wurde eine Impfmedaille für die Mütter, welche ihre Kinder den Impf Instituten zuführten, geprägt, und im ersten halben Jahre 311 solcher Medaillen vertheilt. In dem damaligen Südpreussen und in Schlesien erhielt die Familie für jeden Impfling einen Thaler.
Das Berliner Publikum setzte der Vaccination anfangs grosse Lauheit entgegen. Ihr gewichtigster Gegner, der in der Hauptstadt hoch angesehene Dr. Marcus Herz bat in diesem Streite keine neuen Lorbeeren gesammelt.1) Bessern Fortgang nahm die Vacci­nation in Breslau und in ganz Schlesien, dort impfte man schon im Jahre 1800 und sein Impfinstitut datirt vom Jahre 1804. Das meiste Verdienst fiel auch hier, wie in Preussen überhaupt, auf die Aerzte und manche wackeren Bürger, während das unsichere und unconse-quente Verhalten der Kegierung die Gemüther verwirrte.
Die unglücklichen Kriegsereignisse von 1806 und die nachfolgen­den Jahre waren in Preussen, wie fast überall, der Ausbreitung und staatlichen Pflege der Vaccination ungünstig. Im Jahr 1810 erschien eine Impfordnung für das Land, welche sich, nach dem österreichi­schen Beispiele, nur zu indirectem Zwange verstand. Aber erst seit dem Jahre 1816 ist die Impfung in regelmässigen Gang gekommen.
Die Vaccination bat sich in Preussen während der folgenden Jahrzehnte nicht viel über ein mittleres Maass erhoben. Trotzdem die Kegierung die Ueberzeugung proclamirte, dass sie dieselbe er-fahrungsgemäss fltr das sicherste und ein durchaus unschädliches Schutzmittel gegen die natürlichen Blattern halte, hat sie sich mit dringenden Empfehlungen begnügt, und seine Verbreitung den mit der Medicinalpolizei betrauten Aerzten zur Gewissenssacbe ge­macht. 2) Sehr wunderlich nimmt sich daneben der Paragraph aus, dass, wenn ein ungeimpftes Kind im ersten Lebensjahre an den
1)nbsp; Er folgte hier seinem philosophischen Meister Kant, in dessen letzte schwache Lebensjahre die Bekanntschaft mit der Jenner'schen Entdeckung fiel, und der aus leicht verständlichen, theoretischen Befürchtungen sich gegen dieselbe auflehnte, da ihm nicht mehr beschieden war, die zweifellose Erfahrung ihrer nützlichen Wirkungen zu erleben.
2)nbsp; v. Horn, Das preuss. Medicinalwesen. Berlin 1S5T—58.
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128nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; IV. Die Impfung der Kuhpocken.
Blattern sterbe, die Eltern resp. Vormünder strafbar seien. Nur in dem Falle, dass in einem Hause oder in einer Gemeinde die Pocken epidemisiren, verlieb das Impfgesetz von 1835 der Polizei das Recht, Notb-Zwangsimpfungen an den ungeimpften Kindern vornehmen zu lassen, und die renitenten Eltern zu bestrafen. So hat die Vaccina­tion, bis in die jüngste Zeit herab, mehr von dem Eifer und dem guten Willen eines Theiles der Aerzte, hier und dort auch durch strengere lokale Regierungsverordnungen begünstigt, vegetirt, und nur die Unbekanntschaft mit den thatsächlichen Verhältnissen konnte Freude an den stattlichen Zahlen haben, welche in den jährlichen Berichten der Medicinalbeamten die Erfolge der Vaccination in Preussen repräsentirten. — Das Einimpfen der Menschenblattem war schon frühe, bei dreimonatlicher Freiheitsstrafe, untersagt. —
Unter den übrigen deutschen Staaten müssen Bayern, Wür-temberg und Baden ausgezeichnet werden, wo die Vaccination schnellen Eingang, wirksame staatliche Unterstützung, und bis auf den heutigen Tag eine sorgsame Pflege gefunden hat. Die tüch­tigsten Impfärzte Deutschlands, Heim und Frölich in Stuttgart, Reiter in München, haben sich daselbst mit den Regierungen ver­einigt, die Vaccination zur wirklichen Volkssache zu machen, und zugleich wichtige Aufschlüsse über den, in wissenschaftlicher Be­ziehung auffallend vernachlässigten Gegenstand geliefert.
In Bayern1) wurde die Schutzpockenimpfnng durch die Ver­ordnung vom 27. August 1807 obligatorisch, und dieses erste Impf­gesetz, im J. 1830 vervollständigt, ist in seinen wesentlichen Be­stimmungen unverändert bis jetzt in Kraft geblieben.
Alle Kinder sind darnach in ihrem ersten Lebensjahre impf-pflichtig, und keines darf, ohne legales ärztliches Zeugniss seiner Behinderung, von den alljährlich stattfindenden öffentlichen Im­pfungen ferngehalten werden. Privatimpfungen sind gestattet, müssen aber dem Gerichtsarzte, welcher die öffentlichen Impfungen leitet, angezeigt werden. Genaue Bestimmungen regeln die gänzliche oder zeitliche Befreiung von der Impfpflichtigkeit; Kinder unter 3 Mo­naten dürfen nur bei drohender Pockengefahr geimpft werden. Die öffentlichen Impfungen geschehen im Beisein eines Beamten. Acht Tage später findet die Untersuchung der Geimpften, und die Fest­stellung des Impferfolges statt; erst hiermit ist die Verbindlichkeit der Eltern, dem Impfgesetze gegenüber, abgeschlossen. Ausseror-
1) Giel, Die Schutzpockenimpfnng in Bayern. München 1S30. — v. Bul-merincq. Das Gesetz der Schutzpockenimpfung in Bayern. Leipzig 1802.
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Die Vaccination in Bayern, Würtemberg und Baden.nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp;129
deutliche allgemeine Impfungen werden vorgenommen, wenn die Blattern an einem Orte ausbrechen.
Die Buchführung und Controle über alle im Lande Geimpften ist lediglich Sache der Gerichtsärzte und des Central-Impfarztes in München, und nur die von diesen ausgestellten, oder beglaubigten Impfscheine besitzen legale Gültigkeit.
Die Vaccination ist möglichst wenigen tüchtigen Aerzten, fast ansschliesslich den Gerichtsärzten anvertraut, und steht denselben ein zuverlässiger guter Impfstoff jeder Zeit zur Verfügung, welcher von dem Central-Impfarzt in München alljährlich durch Retrovacci-nation erneut, und stets in flüssiger Form versandt wird.
Die Eltern, welche ihre Kinder den öffentlichen Impfungen ohne triftigen Grund entziehen, verfallen sofort in eine Polizeistrafe von 1—8 fl., und werden an die Impftermine des nächsten Jahres ver­wiesen. Lassen sie auch diese unbeachtet, so wird die Geldstrafe gesteigert, und so fort bis zum 15. Lebensjahr der Kinder, wo sie eine Höhe von 4—32 fl. erreichen kann. Von da ab bleibt sie jähr­lich die gleiche bis zum Nachweise der Impfung. Die Annahme von Kindern in Schulen jeder Art ist ohne den gesetzlichen Impf­schein verboten.
Wie wohl sich Bayern bei diesem Impfgesetze befunden, lehrt seine Blatternstatistik, welche die günstigste in der ganzen Welt istl).
Die badischen Aerzte hatten gleich nach dem Bekanntwerden der Jenner'sehen Entdeckung, ohne den Anstoss von oben her ab­zuwarten, fleissig geimpft. Im J. 1808 verfügte die Regierung, dass kein Eingeborener des Landes in die Schulen, in öffentliche Anstal­ten, oder zur Erlernung eines Gewerbes aufgenommen werden dürfe, oder aus öffentlichen Mitteln Unterstützung beziehen solle, welcher nicht seine Impfung nachweisen könne. 1815 ward die Schutz­pockenimpfung für Jedermann gesetzlich nothwendig erklärt, und bei allen gesunden Kindern im ersten Lebensjahre angeordnet. Ver­schiedene spätere Verfügungen bestimmen noch, dass, ohne vor­liegenden Impfschein, kein Dienstbote in einen Dienst aufgenommen, und keine Heirathserlaubniss ertheilt werden dürfe. Baden ist das einzige Land, wo seit dem J. 1865 jährlich eine zweimalige öffent­liche Vaccination in jeder Gemeinde (im Frühjahr und Spätsommer) stattfindet, so dass kein Kind länger als 6 — 8 Monate schutzlos bleibt.
1) v. Bulmerincq, Ergebnisse des BajT.Impfgesetzes. München 1867.
Bohn, Handbuch der Vaccination.nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp;9
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130nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; IV- Die Impfung der Kuhpocken.
In Wlir tern berg') wurde die Kuhpockenimpfung durch das Gesetz vom 25. Juni 1818 eingeführt, und bestand insoweit als Zwang, als für jedes Kind, welches nach zurückgelegtem dritten Lebensjahre, ohne genügenden Grund, ungeimpft geblieben war, eine Strafe von 30 Kr. erhoben, und letztere bei fortgesetzter Unterlas­sung, bis zu vollendetem 14. Lebensjahre, alljährlich wiederholt, und mit jedem Jahre um 30 Kr. erhöht wurde. Der Zwang, durch die Uebemahme der Geldbussen zu umgehen, erlosch mit einer gewissen Altersstufe, dem 14. Lebensjahre. Trotzdem hatte Würtemberg viele Jahrzehnte hindurch Ursache, mit seinem Impfgesetz zufrieden zu sein, bis die, gerade hier, immer schamloser auftretende Anti-Impf-Agitation dasselbe unterwühlte.
Hannover folgte 1821 mit einem Impfgesetze, das Königreich Sachsen 1826 mit einer höchst unzulänglichen Impfverordnung, welche eigentlich nur eindringliche Aufforderungen und Ermahnungen kannte. Auch die vorgeschriebene, durch die Lehrer zu contro-lirende Präsentirung des Impfscheins beim Eintritt in die Schule hatte, wenigstens für die Volksschulen, keinen zwingenden Effect, weil den Impfrenitenten, wegen des bestehenden Schulzwanges, die Aufnahme ihrer Kinder in die Schule nicht verweigert werden durfte; der Schulzwang untergrub diese Art von Impfzwang. So lange da­her die auf anderem Wege gewonnene Ueberzeugung von der Nütz­lichkeit der Impfung in Sachsen unangefochten vorwaltete, und die Kinderimpfung eine ziemlich allgemeine, nur ausnahmsweise um­gangene Gewohnheit blieb, so lange die Notwendigkeit des Impf­scheins beim Antritt der Schule ein frommer Glaube war, ging es in Sachsen auch mit dieser Impfverordnung. Dagegen konnten die schlaffen Bestimmungen derselben gegen eine kräftige und geschickt geleitete Anti-Impfagitation keinen Halt bieten, die ihre Fahne über den zu allen Excentricitäten neigenden Arbeitereiassen aufpflanzte.
Unter den kleinen Staaten besass das ehemalige Kurflirsten-thum Hessen eine wahrhaft drakonische Impf Verordnung. Die zwischen 1 — 5 Thaler schwankende Geldstrafe für die versäumte erstmalige Aufforderung zur Impfung wurde nach Verlauf eines Jahres verdoppelt, und zugleich die Gestellung des Kindes und dessen Im­pfung zwangsweise bewirkt. Geringer waren die Strafen beim Fort­bleiben der Geimpften von der Revision nach acht Tagen.
Nach Italien kamen die ersten Nachrichten von der Kuh-
1) Cless, Impfung und Pocken in Würtemberg. Stuttgart 1871.
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Die Vaccination in Italien.nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; 131
pocken-Impfung zu Ende des J. 1799, und in keinem anderen Lande fand dieselbe eine so freudige Aufnahme und gliickliche Stättel). Beides verdankt sie Luigi Sacco in Mailand, welchen die allge-gemeine Stimme den Jenner Italiens genannt hat, und welchen seine Mitbürger mit ähnlichen Auszeichnungen ehrten, wie England den Schöpfer der Vaccination. Neben ihm wirkten rühmlich Mo-reschi in Venedig und Onofris Scassi in Genua. Sacco, bis zu jener Zeit von den Blattern verschont, begann mit seiner eigenen Impfung und liess derselben die Probeinoculation folgen. Die schnelle Unterdrückung von Pockenepidemien in den Provinzen Guissano und Sexto, vermittelst der sofortigen Vaccination ihrer Bewohner, bewog das Gouvernement zu thätiger Unterstützung. Sacco wurde das Findel- und Waisenhaus in Mailand zu weiteren Versuchen einge­räumt; und eine ärztliche Gesellschaft constituirte sich daselbst, um die neue Entdeckung quot;wissenschaftlich zu verfolgen. Auch an die Regierungen der meisten übrigen Staaten Europas richtete Sacco ein Memoire mit der Aufforderung, nicht länger gleichgültige Zu­schauer zu bleiben, sondern dem italienischen Beispiele sich anzu-schliessen. Die Vaccination war fast in allen Theilen der dama­ligen Republik eingeführt, als letztere durch Napoleon um neue Landschaften vergrössert wurde; auch diese bereiste Sacco, überall impfend, und auftauchenden Pockenepidemien einen Damm setzend. So wurde die Vaccination, in einem Zeitraum von acht Jahren, in den schönsten und cultivirtesten Theilen der Halbinsel einheimisch. Zahlreiche Gegenversuche mit der Blatterninoculation waren, nament­lich in den grösseren Städten, nicht versäumt worden. Die Blattern, wo sie sich zeigten, durch Quarantainen sofort isolirt, und durch die schnelle Vaccination der Schutzlosen unterdrückt, waren so selten in Italien geworden, dass die Laien und, wie Sacco meint, auch viele Aerzte die Symptome derselben nicht mehr genau kannten.
Mit nicht geringerem Eifer war dieser unermüdliche Arzt um die wissenschaftliche Ergründung der Vaccination bemüht. Kein Anderer hat zu diesem Zwecke so ausgedehnte und vielseitige Ex­perimente angestellt, und namentlich laufen die Kenntnisse, welche wir über die Thierpocken und ihr gegenseitiges Verhältniss besitzen, in fast allen Punkten auf Sacco zurück.
Die vielen inneren Umwälzungen, deren Schauplatz Italien im
1) LuigiSaceo, Trattato di Vaccinatione. Milano 1809. — Ludwig Sacco's neue Entdeckungen über die Kuhpocken u. s. w., übersetzt von W. Sprengel. Leipzig 1812.
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132nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; IY. Die Impfung der Kuhpocken.
Laufe unseres Jahrhunderts geworden ist, haben, wie manche an­deren Feinde1) die gute Aussaat der ersten Jahrzehnte nicht zu verkümmern vermocht. Die Bevölkerung Italiens ist, mit Ausnahme weniger, auch sonst vernachlässigter Landstriche, bis zur Stunde der Vaccination zugethan geblieben, und die verschiedenen Regierungen, welche sich bis vor wenigen Jahren in die Halbinsel theilten, sind bestrebt gewesen, ihrer Praxis Förderung angedeihen zu lassen. Und schon hier soll nicht vergessen werden, dass die sogenannte animale Vaccination, welche in dem übrigen Europa kaum ein Decennium zählt, in Italien erwachsen, und seit beinahe zwei Menschenaltern ununterbrochen geübt ist2).
Eine ebenso gute Stätte, wie Italien, bereitete die Schweiz der Vaccination, wohin sie 1800 durch 0 d i e r verpflanzt wurde. Die Genfer Aerzte hatten u. A. eine Aufforderung zum Impfen verfasst, welche nach der Taufceremonie den Eltern und Taufzeugen von dem Prediger übergeben wurde. Schon im April 1801 zählte man nur wenige ungeimpfte Personen. In mehreren Cantonen (z. B. Zürich) besteht für jedes Kind die Impfpflichtigkeit, mit einer allmählich gesteigerten Geldstrafe bei ihrer Umgehung.
In Dänemark, das in allen seinen Theilen Jahrhunderte lang ungewöhnlich hart von den Blattern gelitten, aber den Widerwillen gegen die Inoculation niemals bezwungen hatte, ward Jenner's Entdeckung mit ungetheilter Freude begrüsst.3) Die gesetzliche Ein­führung der Schutzpockenimpfung stammt aus dem Jahre 1810. In der Hauptstadt ward ein öffentliches Vaccine-Institut von der Regie­rung unterhalten, welches zugleich den Vorrath an Lymphe für die Provinzen zu sammeln verpflichtet war, den Gemeindeärzten wurde die unentgeltliche Besorgung der Vaccination übertragen. Zugleich lernen wir hier ein vorzügliches Institut, das der Reise-Impfärzte, kennen. Seit 1820 ist die Schutzimpfung den Händen der Hebammen und aller nicht ärztlichen Personen entzogen, und nur in Grönland und Island steht sie den Geistlichen frei. Die Inoculation der Blattern ist verboten. Auch Dänemark kennt nur den indirecten Impfzwang, übt denselben aber ungleich strenger als andere Staaten. Nur für die Neger auf den dänischen Inseln Westindiens hat man, seit 1819, den directen Zwang für nothwendig erachtet.
1)nbsp; Papst Leo X. erklärte die Impfungs-Commissionen für revolutionäre In­stitute, und schaffte sie, in den zwanziger Jahren, im Kirchenstaate ab.
2)nbsp; Maragliano, II Vaccino umano ed ü Vaccine animale. Geneva 1870.
3)nbsp; Wendt, Beiträge zur Geschichte der Menschen- u. Kuhpocken u. s. w. im dänischen Staate. Kopenhagen 1824.
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Die Vaccination in Dänemark, Schweden und Russland.nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp;133
Die scandinavischen Königreiche waren flir die Kuhpocken­impfung durch die verheerenden Blatternepidemien der Jahre 1800 und 1801 empfänglich gemacht, wie die um den Anfang des Jahr­hunderts fast pandemische Seuche überhaupt als mächtiger Hehel zur raschen und weiten Verbreitung der Vaccination wirkte. Durch das Gesetz von 1810 erlangte Schweden die Impfpflichtigkeit, mit allmählich gesteigerten Geldstrafen für die Säumigen. Auch bei den Lappen wird die Vaccination schon lange geübt, und fordert man dort vor der Confirmation und vor der Trauung einen Impfschein.
In Russland war die Vaccination ein Geschenk der Kaiserin Maria Feodorowna, welche, mit Jenner in Briefwechsel, wahr­scheinlich von ihm selbst die erste Lymphe erhalten hatte1). Die erste Impfung geschah den 1. October 1801 im Moskauer Findel­hause an einem Mädchen, welches die Kaiserin zu diesem Zwecke hingebracht hatte. Es folgte sodann der Befehl an die Findelhäuser, kein Kind ungeimpft aus denselben in die ländliche Pflege abzugeben.
Im Jahre 1802 ward die allgemeine Einführung der Kuhpocken­impfung in dem Kaiserreiche beschlossen, und im Jahre 1810, auf Befehl Alexander's I., eine Impfstation im St. Petersburger Findel-hause gegründet, damit hier die Kinder aus allen Ständen, welche es begehrten, unentgeltlich geimpft würden, und die Aerzte des Reiches jederzeit mit Lymphe versehen werden könnten. Aber von 1810—17 waren nur 1258 Kinder armer Leute daselbst vaccinirt worden, während die Stadt in demselben Zeitraum 63520 eheliche Geburten aufzuweisen hatte. Seit dieser Zeit sind in dem St. Petersburger Findelhause die Impfungen von Arm zu Arm, und zwar mit dem alten Jenner'sehen Stoffe ununterbrochen bis zum Jahre 1867 fort­geführt worden, wo die animale Lymphe an dessen Stelle getreten ist.
Trotzdem also die Schutzpockenimpfung schon früher und unter günstigen Aussichten nach Russland gelangte, ist sie doch nur in den Findelhäusem mit Consequenz und Sorgfalt gepflegt, ausserhalb der­selben aber höchst mangelhaft betrieben worden. Es hat in Russ­land an papiemen Impf-Verordnungen und an Impf-Institutionen nicht gefehlt, aber die Durchsetzung der Massregeln lag niemals in der ernsten Absicht der Regierung und würde in dem gewaltigen und an verwendbaren Menschen Noth leidenden Reiche noch heute unge­wöhnlicher Anstrengungen bedürfen. Vor 1865 hatten die Gutsherren die Verpflichtung, für die Impfung ihrer Untergeben durch die Guts-
1) Froebelius, Eine geschichtliche Notiz über die Vacc. im St. Petersb. Findelhause. Petersb. med. Zeitschr. Bd. XVI.
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134nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; IV. Die Impfung der Kubpocken.
ärzte zu sorgen. Seitdem die Gemeinden selbstständig geworden sind, zeigt sich unter den Bauern wenig Neigung zum Gebrauche der Schutzmassregel, und auch abergläubische Vorurtheile stemmen sich vielfach dagegen. So sind denn die allgemeinen Kesultate der Vacci­nation in ßussland die kläglichsten, und Variolaepidemien durch­ziehen alljährlich die einzelnen Theile des Reiches und wüthen, ähnlich ihren Vorgängern in früheren Jahrhunderten, zuweilen nur unter den Kindern bis zum 7. Lebensjahre.1) Aus den jährlichen officiellen Berichten des Medicinaldepartements an das Ministerium geht hervor, dass die Zahl der jährlich in Russland ungeimpft blei­benden Kinder, gering gerechnet, 200,000 beträgt (Froebelius). Erst spät gelangte die Vaccination nach Sibirien und Kamschatka.
Die Republik Frankreich ergriff die Vaccination, welche der öffentlichen Wohlfahrt so grosse Dienste versprach, mit Begeisterung. Ein Neuner-Ausschuss, Comite central de Vaccine, organisirte die Impfung für Paris, und entzündete durch seine Delegirten die Pro­vinzen für dieselbe. Regierung, Aerzte und Private wetteiferten, und bald gab man sich an vielen Orten der sicheren Hoffnung hin, in einigen Jahren nichts mehr von den natürlichen Blattern zu wissen. Die Aerzte Aubert und Husson sind aus dieser Periode besonders zu nennen. Auch das Kaiserthum vernachlässigte die Vaccination keineswegs; im März 1809 erliess Napoleon ein Schutzpocken-Impfungsdecret, welches bis zum Jahre 1843, sogar noch in der Rhein­provinz, Geltung besass.
Von Frankreich aus war die Vaccination 1800 nach Spanien gelangt, während Portugal dieselbe von England empfangen hatte.
Um so tiefer verfiel die Impfung in Frankreich nach der Restauration des Königthums. Das Impfwesen wurde unter die Lei­tung der Academic de Medicine in Paris gestellt, welche es noch gegenwärtig in Händen, und einer permanenten Commission de Vac­cine übergeben hat. Dieselbe besorgt die unentgeltlichen Impfungen in den Pariser Spitälern und Arrondissements, und ernennt in den Provinzen Vaccinateure, welche von ihr mit Impfstoff versehen werden. Einen gesetzlichen Rückhalt hat die Commission nicht; der Minister empfängt nur ihre jährlichen Rapporte.
Die Resultate solcher Schein-Einrichtungen lassen sich voraus­sehen. Die zum Theil mörderischen Pockenepidemien gegen das Ende der -20er Jahre, welche fast überall verbreitet waren, hatten
1) Bericht über den Volksgesundbeitszustand im Kussischen Kaiserreich für die Jahre 1S56 u. 1857.
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Die Vaccination in Frankreich.nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp;135
sich viele Städte und Provinzen durch eine lange Versäumniss der Impfung selbst zugezogen; der grosse Haufe mit seiner Grleichgültig-keit und seinen Vorurtheilen siegte über die wenigen Impfärzte, welche ohne jegliche Unterstützung dagegen ankämpften. In den 30er Jahren berechnete Bousquet, der Oberimpfarzt der Com­mission de Vaccine, dass von 100 in den Provinzen geborenen Kin­dern etwa 25 vaccinirt würden. Es gab noch im 6. Decennium Gegenden, welche von den bestellten Vaccinateuren viele Jahre lang ganz vergessen waren. Trousseau berichtete der Academic, dass sämmtliche Aerzte, welche im Jahre 1857 Blatternepidemien in Frank­reich beobachtet, erklärt hätten, es seien fast alle Gestorbenen un-geimpft gewesen.1) In erschütternder Weise sind diese Zustände bei den grossen Epidemien Frankreichs, in den Jahren 1870 und 1871, zu Tage getreten, und Deutschland hat an den 300,000 gefangenen Soldaten, welche die Nothwendigkeit, sofort zu impfen, gebot, die Erfahrung gemacht, dass dieselben fast die nämlichen Impferfolge lieferten, wie 3- bis 6monatliche Kinder.
Eine wesentliche Schuld des Misstrauens, mit welchem das französische Publikum die Vaccination betrachtete, fällt auf den un­sicheren Impfstoff, der lange Zeit, vorzugsweise in trockener Form, an die Provinzen abgegeben, wurde. Die Fehlimpfungen betrugen im Jahre 1856 50 Proc., Trousseau meint sogar 80 Proc. Auch ist die Impfpraxis in Frankreich, was in Deutschland, Dänemark u. s. w. längst beseitigt worden ist, den Hebammen und alten Weibern nicht blos gestattet, sondern diese machen in den meisten Departements die grosse Mehrzahl der Impfer aus, in manchen sind sie die einzigen, und die Regierung hat in allen Hebammenscbulen den Unterricht in der Theorie und Praxis der Impfung zum obligatorischen Gegenstande gemacht. In Paris steht es um die Impfung besser, als in den Pro­vinzen. Wie leichtsinnig aber selbst in den Sälen der Academic geimpft wurde, erfahren wir durch die herbe Kritik, welche Blot bei Gelegenheit der Discussion über die Vaccinal-Syphilis (Sitzung der Academic vom 17. Januar 1765) fällte, ohne Widerspruch in der Versammlung zu finden. Der Conseil d'Hygiene publique et de Salnbritö du döpartemcnt de la Seine fasst 1870 sein Urtheil über die Impfzustände Frankreichs in folgendem Ausspruche zusammen: ., il est neccssaire de le dire de la maniere la plus formelle, 1' e t a t actuel de la vaccination ä Paris et en France est dou-loureusement insufficantquot; (Bullet, gen. de Therap. 1870).
1) Memoire de l'Acad. Imp. de M6d. Tome 23. Paris 1859.
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136nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp;lY. Die Impfung der Kuhpocken.
In den fernen Südosten Europas, nach Constantinopel, war die Vaccination durch de Carro von Wien aus bereits 1800 ge­kommen, und hatte in der Türkei weniger Abneigung vorgefunden, als ehemals die Inoculation. Doch ist sie, namentlich im Innern des Landes und ebenso in den übrigen Donauflirstenthümern, stets nur schwach verbreitet geblieben. Das türkische Militair erfreut sich seit 1844 einer geordneten Vaccination, und sind aus ihm die Blattern ähnlich verdrängt, wie aus den meisten übrigen Armeen Europas.1)
Nicht minder schnell, als ihre Mutterlande und meist durch die­selben, kamen viele aussereuropäische Länder in den Be­sitz der Vaccination, Ostindien bereits 1802, und konnte Jenner im Jahre 1806 rühmen, dass kein Theil der Erdkugel so viel Thatsachen über diesen Gegenstand aufzuweisen habe,- als Asien, wo die Zahl der Vaccinirten mindestens auf 880000 anzuschlagen sei (Willan). Allein dem Anfange hat die Folgezeit nicht entsprochen, und, im Streite mit mancherlei Vorurtheilen und mit der Blatterninoculation, hat die Impfung gerade in den letzten Zeiten eher Rück- als Fort­schritte gemacht. Die aufbewahrte Lymphe soll in den heissen Ländern einer schnellen Verderbniss anheimfallen, die hohe Temperatur das Gedeihen guter Impfpusteln vereiteln, die Eegenzeit dagegen zu heftigen Entzündungen und fauligen Verschwärungen der Impfstiche Veranlassung geben. Allein die wirkliche Schuld an dem geschwun­denen öffentlichen Vertrauen zur Impfung scheint mehr in der Träg­heit und Unzuverlässigkeit des Impfpersonals zu liegen.
In Vorder-Asien ist die Vaccination zwar in die verschiedenen Länder eingeführt worden' hat aber durchaus nicht den Boden ge­winnen können, dass von einem deutlichen Einflüsse die Rede sein könnte. Nach Persien kam sie ziemlich spät durch englische Aerzte, und fand hier geringeren Widerstand, als von diesem neuerungsfeindlichen Lande zu vermuthen war; in den fünfziger Jahren traf sie Dr. P o 1 a c k im Verfall2). — In China, wohin die Vaccination schon 1805 durch einen Arzt der ostindischen Compagnie gebracht wurde, hat sie bis zur heutigen Stunde gegen die Inoculation nicht aufkommen können.
Aus der Inselgruppe des indischen Archipels bebt sich Java mit seinen geordneten Impfzuständen in erfreulicher Weise hervor3).
1)nbsp; Riegler, Die Türkei u. s. w. Wien 1852. — Baraseh, Wiener med. Wochenschr. 1854 u. 1855.
2)nbsp; Wochenbl. der Wiener Aerzte 1857. 44.
3)nbsp; Ueber das Impfwesen in Niederlandisch-Indien von Dr. Schott, Militär­arzt in Java. Allgem. med. Central-Zeit. Berlin 1861. 24. Stück.
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Die Vaccination in Asien und Amerika.nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; 137
Schon 1822 wurde hier die Vaccination für die Europäer, wie für die Eingeborenen obligatorisch, und werden die angestellten Vacci-nateure wie die Aufsichtsbeamten besoldet. Durch Java sind mehrere benachbarte Inseln für die Impfung gewonnen.
Das im Anfange des Jahrhunderts spanische Amerika verdankt die Vaccination dem Eifer des spanischen Arztes Bai mis; derselbe reiste (Novbr. 1803) mit 22 Kindern und mehreren Aerzten von Spanien ab, impfte unterwegs ein Kind nach dem andern, und kam mit frischer Lymphe glücklich in Amerika an. 1807 war die Vaccination dort im besten Zuge. Die europäische Lymphe wurde später durch originäre ersetzt, welche Bai mis auf Cuba entdeckte.
In Nord-Amerika war die Vaccination 1800 von England aus bekannt geworden, und im Jahre 1802 fand man sie allge­meiner ausgeübt in Cincinnati und anderen Städten im Thale des Ohio, ferner im westlichen Theile Pensylvaniens, in Virginien, Kentuky und Tenessee, 1806 in Californien. Allein ihrer entsprechen­den Verbreitung haben sich mehrfache Hindernisse entgegengestellt. Von Seiten der Staats- und Ortsbehörden ist sie niemals in Schutz genommen worden, während die oft entfernte Lage der neugegrün­deten Gemeinden, die geringe Bekanntschaft mit dem Gegenstande, und die gemeinhin sehr schwierige Herbeischaffung guten Impfstoffs das Aufkommen der Schutzmethode behinderten. In den zwanziger Jahren endlich, als Vaccinirte sich öfter von Varioloiden befallen zeigten, trat unter den Aerzten ein starkes Misstrauen gegen die Impfung hinzu; noch in den 50er Jahren nahmen, wie Drako ver­sichert, viele geimpfte Aerzte Anstand, einen Pockenkranken zu besuchen, und kein klinischer Lehrer durfte wagen, seinen Schülern Blatternkranke vorzustellen. So blieb das Vertrauen des Publikums auf die Vaccination gering, und ein grosser Theil der Bevölkerung von Nord-Amerika ist ungeimpft.
1804 wurde die Vaccination nach Brasilien gebracht, doch liegt dieselbe, nach Tschudi, auch unter den Weissen Süd-Amerikas ganz darnieder (Wien. med. Wochenschr. 1858. Nr. 31).
Vielleicht den geringsten Antheil an der Jenner'schen Entdeckung hat Afrika bisher genommen. Bei der arabischen Bevölkerung Algiers ist die Inoculation der Blattern durch die Vaccination nicht verdrängt worden. In Egypten fand sie Griesinger (1850—52) namentlich auf dem platten Lande, sehr lässig betrieben, obwol sie schon längere Zeit eingeführt war. Durch Absendung von zwölf Aerzten in den Sudan, deren hauptsächlichste Mission die Vaccination
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138nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; IV. Die Impfung der Kuhpocken.
bildete, trug Griesinger zur Verbreitung derselben unter den fernen Negervölkern von Fasoki, Kordofan u. s. w. bei.
Kehren wir nach dieser Umschau wieder auf England zurück, wo die Vaccination seit dem Anfange des Jahrhunderts mannichfache Schicksale durchgemacht hatte, und wo schliesslich ein allgemein bedeutsamer Vorgang zur Gegenwart der Schutzpockenimpfung hin­überfuhrt.
Trotz der Nationalbelohnungen, welche das Parlament wieder­holt (1802, 1807) für Jenner votirt hatte, trotz der zahlreichen Auszeichnungen, die von seinen Mitbürgern ihm geworden, und un-erachtet der gewichtigen ärztlichen Stimmen, welche schon frühe für die Vaccination eintraten, hat dieselbe in ihrem Heimathlande, über ein Menschenalter, nur eine höchst bescheidene Existenz gefristet'). Alles, was dem Staate für sie abgenöthigt war, bestand in einer, allmählich auf 2000 Pfd. Sterl. gebrachten Summe, womit das National-Vaccine - Institut unterstützt wurde, im üebrigen war die Impfung der armen Bevölkerung des Landes an die Privatwohlthätigkeit ver­wiesen. In den bessern Ständen hatte die Vaccination viel von dem ursprünglichen Vertrauen, das sie genossen, eingebüsst, und die Blattern-inoculation war fortdauernd ihre siegreiche Rivalin geblieben. Erst die mörderische Pockenepidemie der Metropole von 1838, und die Sterbelisten, welche für die Jahre 1837 — 40 beinahe 36,000 Blattern-todte in London ergaben, schreckten die Bevölkerung auf. Durch ein Gesetz vom Jahre 1840 ward die Inoculation, welche in den Händen unfähiger und gewissenloser Menschen zu lange die all­gemeine Gesundheit geschädigt hatte, abgeschaift, und flir die Vac­cination der Armen aus öffentlichen Mitteln in jedem Kirchspiel von England und Wales gesorgt. Die Benutzung dieses Anerbietens hing freilich von dem Willen jedes Einzelnen ab. Das Ungenügende der Massregel wurde erst nach dreizehn Jahren begriffen, die Zahl der jährlichen Blatterntode, welche von 1838—40 auf die Million Be­wohner 770 betragen hatte, war bis zu 304 herabgesunken, trotzdem starben jährlich mehr als 5221 Personen an den Blattern, darunter 4500 Kinder im frühesten Alter. Kaum l/3 der jährlich in England geborenen Kinder wurde geimpft. Nicht böser Wille oder absicht­licher Widerstand Hessen sich anklagen, sondern die Gleichgültigkeit des Publikums, welche der Lässigkeit der Regierung entsprach.
1) In der Landarmee und in der Flotte Grossbritanniens ist die Impfung, seit dem Anfange des Jahrhunderts, mit grosser Regelmässigkeit und entsprechender Wirkung geübt worden.
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Schicksale der Yaccination in England.nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; 139
Im Jahre 1853 sprang die Letztere zum Gegentheil über, und der Impfzwang wurde für England zum Gesetz erhoben. Eltern und Vormünder sollten gehalten sein, die gesunden Kinder innerhalb der ersten vier Lebensmonate zur Impfung zu stellen. In der That waren im nächsten Jahre (1854) 408824 Vaccinationen notirt, 75000 mehr, als Geburten in demselben vorgekommen, weil auch ältere Indivi­duen nachträglich die Impfung gesucht hatten. Aber schon 1855 und 56 fiel die Zahl der Vaccinirten beträchtlich herunter; ein Theil des Publikums, durch den Zwang beleidigt, kam bald dahinter, dass dem Gesetze der Arm fehlte, die Widerstrebenden zu erreichen, weil der Gesetzgeber vergessen hatte, die Behörde zu bestimmen, welcher die Controle und die angedrohte Bestrafung der Renitenten oblag. Auch waren noch viel dringendere Pflichten verabsäumt worden, in­dem man die Impfpraxis, wenige erfahrene Aerzte abgerechnet, fast ausschliesslich unvorbereiteten Subjecten übergeben hatte.
Solche Uebelstände und die grosse Meinungsverschiedenheit über die Vaccination und über die Berechtigung des Staates zum Impf­zwange, welche im Parlamente laut geworden, veranlassten im Jahre 1855 den General board of health von London, die ganze Vac-cinationsfrage vor das Forum der dafür competenten ärztlichen Welt zu bringen.
Der Gesundheitsrath stellte vier, den Nutzen und die Gefahren der Schutzpockenimpfung erschöpfende Fragen auf, welche, durch Vermittelung des englischen Gouvernements, 542 ärztlichen Autori­täten, Fachmännern und medicinischen Körperschaften in Europa, Amerika und Asien zur Beantwortung vorgelegt wurden. Zugleich erging an sämmtliche Regierungen, in deren Ländern die Kuhpocken­impfung längere Zeit amtlich controlirt worden war, die Aufforderung, durch umfassende statistische Erhebungen die wissenschaftliche Unter­suchung zu vervollständigen. Indem nur Wenige der Aufgeforderten sich ausser Stande erklärten, in dieser Angelegenheit mitzuwirken, alle Uebrigen aber, mit einem der Sache würdigen Eifer den Wünschen der englischen Regierung nachkamen, floss ein gewaltiges Material aus der ganzen Welt zusammen, welches, gründlich durchforscht und gesichtet, der gelehrte und scharfsinnige Referent des General board of health. Dr. John Simon, dem Parlamente als Unterlage für seine Entscheidung in der Vaccinationsfrage vorlegte (Mai 1857). Das in der Geschichte der Vaccination denkwürdige Blaubuch führt den Titel: Papers relating to the history and practise of Vaccination, und stellt einen grossen Concurs aller bis dahin gemachten wissenschaftlichen Beobachtungen und praktischen Er-
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140nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; IV. Die Impfung der Kuhpocken.
fahrungen dar. Nicht alle, aber viele Fragen, welche die Schutz-pockenimpfiing im Laufe ihres fünfzigjährigen Bestehens immer von Neuem angeregt, aber niemals erledigt hatte, sind hier endgültig beantwortet, theils durch die einmüthigen Urtheile der berufensten Forscher, theils durch das Gewicht ungeheurer, zwingender Zahlen. Mögen die letzteren im Einzelnen zu bemängeln sein, und die strengeren Ansprüche der Statistik häufig nicht befriedigen — in der compacten Masse liegt ihre Bedeutung. Mag immerhin das von dem Blaubuche vertretene Urtheil der Wissenschaft über die einzelnen Punkte der Vaccination späteren Wandlungen unterliegen, dieselben werden nur Läuterungen und Verbesserungen einer Lehre bilden, an welcher die Gestalt der Wahrheit nicht mehr zu verkennen ist.
Die vier Fragen des General board of health lauteten:
1)nbsp; Ist irgend ein Zweifel vorhanden, dass eine erfolgreiche Vac­cination den Personen, welche ihr unterworfen wurden, in den meisten Fällen Schutz gegen die natürlichen Blattern gewährt, und eine bei­nahe absolute Sicherheit vor dem Tode durch diese Krankheit?
2)nbsp; Liegt ein Grund vor, zu glauben oder zu vermuthen, dass vaccinirte Personen dadurch, dass sie weniger empfänglich für die Blattern sind, empfänglicher werden für andere Infectionskrankheiten, oder für Scropheln und Phthisis, oder dass auf ihre Gesundheit in einer anderen Art durch die Impfung nachtheilig eingewirkt wird?
3)nbsp; Hat die Erfahrung Veranlassung gegeben, zu glauben oder zu vermuthen, dass durch die Lymphe eines echten Jenner'schen Bläschens auch syphilitische, scrophulöse oder andere constitutionelle Krankheiten übertragen werden können, und dass ein gebildeter Arzt den Missgriff begehen könne, statt Vaccinelymphe irgend ein an­deres Krankheitsproduct dem vaccinirten Arme zu entnehmen?
4)nbsp; Ist die allgemeine Vaccination der Kinder zu empfehlen, mit Ausnahme der Fälle, wo besondere Gründe sie verbieten?
Die erste Frage, betreffend den grossen Schutz der Vaccine gegen die Blattern, und die fast vollständige Sicherheit, welche sie vor dem Blatterntode gewährt, wurde von 540 der Eeferenten bejaht — eine in den Annalen der praktischen Medicin unerhörte Einstimmigkeit. Nur zwei Referenten urtheilten abweichend; der Wundarzt am Taun-ton- und Sommerset-Hospital, Welch, welcher, die Schutzkraft der Vaccine stark bezweifelnd, ihr die Inoculation der Blattern vorzzog, und der deutsche Professor Harnernik in Prag, welcher, die Vac­cination wie die Blatternimpfung mit gleicher Ungunst betrachtend, beide, im besten Falle, für harmlose Spielereien erklärte.
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Das Blaubuch über die Vaccination.nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; 141
Die Beantwortung der zweiten Frage führte zu nicht geringerer Uebereinstimmung, wie die erste, und nur bei der dritten trat, hin­sichtlich der vaccinirten Syphilis, die allerstärkste Divergenz der An­sichten hervor, welche durch die (später aufzudeckenden) Schwierig­keiten des Gegenstandes hinreichend begründet war. — Die vierte Frage behandelt nur einige formale Ausführungen der Vaccination, welche sich, wenn man das Schutzverfahren billigt, von selbst verstehen.
So endete die grossartigste Untersuchung, welche je über ein Thema der praktischen Medicin geführt worden ist und ihr Ausfall war, wie John Simon sagt, das schönste Monument Jenner's.
Seit dieser Zeit hat England den Impfzwang zum allgemeinen Grundsatz erhoben; doch erst durch die Vaccinations-Acte vom Jahre 1867 wurden die bis dahin sehr ungleichen und zersplitterten Be­stimmungen geordnet. Die unmittelbare Leitung der Impfangelegen­heiten in jedem Pfarrsprengel haben die Vorsteher dieser Sprengel, während dem Armenamte (Poor Law Board) die Oberleitung anver­traut ist; doch soll die Benutzung der öffentlichen Impfungen durch­aus nicht als Almosen betrachtet werden. — Jedes in England geborene Kind muss innerhalb seiner drei ersten Lebensmonate ge­impft, und acht Tage später zur Revision, bezw. Abnahme der Lymphe gestellt werden; die gewöhnlichen Ausnahmen sind im Gesetze vor­gesehen. Säumige Eltern und Vormünder erhalten zunächst vom Friedensrichter den Befehl, das von der Impfung ferngebliebene Kind innerhalb einer bestimmten Zeit derselben zuzuführen. Die Nichtachtung dieses Befehls zieht sofortige Geldstrafen nach sich, welche 20 Schillinge nicht übersteigen dürfen. Jede Impfung wird amtlich beglaubigt. Alle Kosten, welche aus der Impfung, der Führung der Listen, aus der gerichtlichen Verfolgung der Renitenten u. s. w. erwachsen, werden von den Fonds der Armenverwaltung gedeckt. Der contractlich geworbene Impfarzt empfängt neben dem Gehalt eine besondere Vergütung für jede vollzogene Impfung, und hat Theil an den ausserordentlichen Belohnungen, welche das Par­lament zu diesem Zwecke jährlich bewilligt.
Wie weit trotzdem die Vaccination in England während der folgenden Jahre hinter dem Wortlaut des Gesetzes zurückblieb, er­sieht man aus dem 12. Jahresberichte über die öffentliche Gesund­heitspflege von Dr. J. Simon (1869). Durch häufige Inspectionen seitens der höchsten Behörden mussten vielfach selbst die Gemeinde­behörden und Armenräthe angehalten werden, den ihnen in Be­treff der Impfung auferlegten Pflichten nachzukommen. In einigen Districten Londons handelten die Aufsichtsbehörden unter dem Ein-
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142nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; IV. Die Impfung der Kuhpocken.
flusse der daselbst bestehenden Anti-Vaccinationsliga. Durch Prämien musste der Eifer der angestellten Impfärzte oft angespornt werden, und die Beschaffung von hinlänglicher und guter Lymphe, sowie der mangelhafte Unterricht der angehenden Vaccinateure gefährdeten vielfach die Sanitätsmassregel.
Eine wesentliche Vervollständigung erfuhr die Impfordnung vom Jahre 1867 durch die zweite Vaccinations-Acte vom Jahre 1871, durch welche jeder Armendistrictsbehörde, neben der Anstellung von Impfärzten, diejenige eines oder mehrerer besoldeter Impfinspectoren, behufs Führung der Listen und verantwortlicher Controle über die wirksame Ausführung des Gesetzes, anbefohlen wird. Dieser nicht­ärztliche Impfinspector steht einerseits mit der örtlichen Civilstands-behörde, andrerseits mit der centralen Ministerialbehörde für das Armenwesen in directer Verbindung, und empfängt von letzterer un­mittelbar seine Instructionen. Es liegt hierin für den Impfarzt (ab­gesehen von seiner Befreiung von der Listenführung) eine grosse Erleichterung, weil die Besiegung der noch immer sehr lebhaften Widerstände gegen die Ausführung des Impfzwanges fortan nicht mehr dem ausführenden Arzte, als sehr odiöse und lästige Arbeit, zufällt. — Bemerkenswerth für die englischen Verhältnisse ist die Absonderung des Vaccinationswesens von der allgemeinen Sanitäts-Organisation, indem die ganze Angelegenheit ausschliesslich dem Ressort der lokalen und centralen Armenverwaltung zugetheilt ist.J)
Es ist in dieser historischen Skizze bisher nur die Vaccina­tion aufgetreten, und bis in die zwanziger Jahre des Jahrhunderts hatte man sich in dem Besitze der einmaligen und für unfehlbar gehaltenen Impfung durchaus sicher gefühlt. Aber die wiederer­wachenden Pockenepidemien, und die immer häufigeren Pockener-kranknngen bei Geimpften brachten unbarmherzig die Enttäuschung. Aus dieser zerrissenen Illusion erwuchs der erste grosse Fortschritt, welchen die Geschichte der Vaccination zu verzeichnen hat; man erkannte das Unzureichende der erstmaligen und einzigen Impfung, die, wenn sie eine Jugendimpfung gewesen war, für die ganze übrige Lebenszeit nicht vorhalte, man fand bei ehemals Vaccinirten die Em­pfänglichkeit nicht blos für die Blattern, sondern auch für die Vaccine
1) Prof. Dr. Finkelnburg, Die öffentliche Gesundheitspflege Englands. Bonn 1874.
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Die letzten Jahrzehnte der Vaccination.nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp;143
wieder erwacht, und musste logischerweise versuchen, dieselbe aber­mals zu vernichten, oder die stumpf gewordene Schutzkraft der ersten Impfung aufzufrischen. Die Vaccination hatte, in der Mitte der dreissiger Jahre, ein Menschenalter zurückgelegt, als die Noth-wendigkeit der Re vaccination begriften wurde.
Das zunächst praktische Resultat nöthigte aber auch, dem wissen­schaftlichen Inhalt der Vaccination, mehr als dies bisher geschehen war, näher zu treten.
Es ist erstaunlich, wie brach dieses Studium gelegen hatte, und wie wenig Neues demjenigen hinzugefügt worden war, womit Jenner seine Entdeckung ausgestattet, und Sacco und einige Andere sie bereichert hatten. Auch in seinen Irrthümern folgte man blindlings dem Entdecker. Jene Behauptung von Nicolai, im Jahre 1833, die Kuhpocken schützten nicht gegen die Kuhpocken, und es könne ein Mensch, selbst wenn er gegen Menschenblattern immun sei, zwei und dreimal die Kuhpocken bekommen; ferner die Meinung des Directors des Vaccine - Institutes in London, Gregory: die Macht der Vaccination reiche bis zur Pubertät; nach derselben werde sie hinfällig und dann sei nur wieder von der Inoculation der Blattern selbst auf Schutz zu hoffen — dergleichen An­schauungen genügen, um das absolute Missverständniss der Vacci­nation aufzudecken. Selbst in so einfachen Dingen, wie in der Zahl der nothwendigen Impfpocken, mangelte jede Sicherheit, man war bei den, von Jenner aus Vorsicht bestimmten 1—2 Einstichen stehen geblieben, und hielt mehr für überflüssig und gefährlich.
Die Zeit, von der wir sprechen, ist die Epoche eines raschen Aufschwunges in der Medicin, und als schöne Frucht der wissen­schaftlichen Arbeit, welche denselben herbeiführten, fielen der Vacci­nation, am Ende der dreissiger Jahre, die Untersuchungen von Basil Thiele und Robert Ceely zu, der ersten, welche wieder die ex-perimentirende Methode J e n n e r 's und S a c c o 's aufsuchten. Die Vacci­nation ist nun einmal, ihrem ganzen Wesen nach, Experiinentalpa-thologie, und nur vom Experiment steht die Lösung ihrer vielen, praktischen, wie wissenschaftlichen Fragen zu erhoffen. Manche der­selben durch den exacten Versuch sicher beantwortet zu haben, das ist vornehmlich Ceely's, wieder eines Engländers, Verdienst.
Die letzten Zeiten, von der Mitte der 50er Jahre ab, gehören zu den bewegtesten, welche die Vaccination durchlebt hat. Es wird diese Periode durch den fast unaufhörlich wogenden Streit über die vaccinale Syphilis (Abschnitt XI) gekennzeichnet, und durch
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144nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; IV. Die Impfung der Knhpockcn.
jene Versuche, die animale Lymphe auf den Platz der humani-sirten zu setzen. Der innere Zusammenhang beider Dinge liegt auf der Hand: die, über Gebühr gesteigerte, Furcht vor der Syphilis vaccinata drängte einer Lymphquelle zu, von der solche unglück­liche Mitgift nicht zu befürchten stand.
Das Kapitel von der Uebertragung der Syphilis durch die Vaccine war ein Vermächtniss, welches die grosse Untersuchung der Impffrage in England den Aerzten hinterlassen hatte. Die schroffen Gegensätze, hinsichtlich der Möglichkeit, Syphilis zu vacciniren, welche damals unter den Autoritäten auf einander stiessen, die ver­wirrenden Widersprüche in den Beobachtungen selbst, die zum Be­weise der wirklich stattgehabten Uebertragung gesammelt waren, die Fruchtlosigkeit aller Anläufe, hinter das unheimliche Dunkel, dem nicht mehr auszuweichen war, zu dringen, und daneben die immer häufiger publicirten Fälle von älterer und neuer Impfsyphilis machten die Discussion über die dritte Frage des General board- of health permanent. Während sich jedoch die Fachmänner noch abmühten, wurde die Vaccinalsyphilis, als eine alltägliche und gar nicht zu vermeidende Gefahr, oft mit schadenfrohem Behagen, von den Impf­gegnern ins Publikum getragen, und die Händler mit animaler Lymphe schrieben dieselbe mit fetten Lettern auf ihr Firmaschild.
Das zweite.Ereigniss dieser letzten Periode ist die animale Vaccination, welche seit der Mitte der 60er Jahre immer ent­schiedener mit dem Ansprüche hervortrat, die von Arm zu Arm fort­geführte Uebertragung zu verdrängen, und, wie man zu sagen be­liebte, eine Reform der Schutzmethode einzuleiten. Ueber diesen Gegenstand sind die Verhandlungen, trotz der kurzen Zeit, wie ich glaube, zur Spruchreife gediehen, aber nicht zu Gunsten der Refor­matoren ausgefallen.
Es versteht sich von selbst, dass von diesen endlosen und, wie es bei unserm Gegenstande Sitte ist, mit Leidenschaft und fanatischer Verbitterung geführten Streitigkeiten auch das grosse Publikum durchwühlt, und, geflissentlich vor die dunkelsten Punkte der Vaccination gestellt, in eine misstrauische oder ihr feindselige Bewegung versetzt wurde. Das PubUkum aber, von dessen Gut­dünken damals noch die Unterwerfung unter die Vaccination ab­hing, stellte eine Macht dar. Während man sich in England dem Impfgesetze von 1867 widerwillig fügte, wurde Deutschland der Schauplatz einer überaus glücklichen Anti-Impfagitation, welche, vornehmlich in den Homöopathen und den, überall aus dem N Boden schiessenden Naturheilkundigen ihre Leiter fand. Dazu kam
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Die letzten Jahrzehnte der Vaccination.nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp;145
1869 das Norddeutsche Gewerbegesetz, welches diesen Einflüssen den breitesten Spielraum gewährte. Presse und Volksversammlungen bearbeiteten planmässig die ungebildeten Klassen der Bevölkerungen, und der Kampf gegen die Schutzimpfung erhielt Organisation. Hatten Würtemberg und Baden bisher den Ruhm genossen, die Hauptherde der Anti-Impfagitation zu umschliessen, so wurde jetzt ihre Fahne fast über allen volksreiclien Arbeiterdistricten siegreich aufgepflanzt. Die jährlichen Impfungen waren in schneller Abnahme begriffen, und die Schwierigkeiten, die Schutzmassregel aufrecht zu halten, wuchsen allenthalben. Und wie in Deutschland, so in Italien, wo die Klagen liber Vernachlässigung der Impfung kein Ende nahmen. Zweifel­hafter hatte die Impfsache kaum jemals gestanden, und sie schien wieder von vom anfangen zu sollen.
Soll man sagen, dass der verheerendste Umzug, welchen die Blattern in unserm Jahrhundert gehalten haben, glücklicherweise in diese Zeit fiel? Gewisraquo; nicht. Aber die Pandemic kam, unheilvoll für Tausende, nützliek für die Uebrigen, und aus der scheinbar kriti­schen und gefährlichen Epoche, welche sie der Vaccination bereitete, ging dieselbe gesicherter, denn je, hervor. Indem die Calamität hier den tiefen Verfall der Scliutzimpfung, dort die Unzulänglichkeit aller Institutionen, die für sie geschaffen waren, schonungslos entschleierte, wurde sie für diejenigen, in deren Ueberzeugung die Nützlichkeit der Vaccine fest wurzelte, der Antrieb, ihr zu dem gebührenden Rechte zu verhelfen. Aber der Umkreis war inzwischen ein weiterer geworden. Bei dem gegenwärtigen Staude der Einsicht konnte nicht mehr die einmalige Jugendimpfung allein in Frage kommen, auch die Re vaccination musste, als integrirender und ergänzen­der Bestandtheil in das Schutzverfahren aufgenommen werden. Und ebenso war die Zeit der Impfverordnungen, der provinciellen Impf­vorschriften und polizeilichen Lokalverfügungen vorüber, und die des Gesetzes gekommen. Der dringenden, wiederholten Forderung seitens zahlreicher ärztlicher Körperschaften nachgebend, ergriff die Deutsche Bundesregierung die Initiative für die einheitliche gesetzliche Regelung des Impfwesens für das Deutsche Reich, auf der Grundlage des Vaccinations- und Revaccinations-Zwanges, und der zweite Deutsche Reichstag beschloss am 8. April 1874 das Impfgesetz, welches vom 1. April 1875 in Kraft getreten ist.
Die Debatten im Schoosse des Reichstages konnten selbstver­ständlich nichts Neues für oder gegen die Sache bringen. Geredet und geschrieben war über die Vaccination von jeher mehr als zuviel;
Bohn, Handbuch der Vaccination.nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp;10
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IV. Die Impfung der Kuhpocken.
es galt schon lange zu handeln. Aber in hohem Grade bemerkens-werth, und die Gegnerschaft der Impfung kennzeichnend, war das Lager derselben zusammengesetzt, welches die seltsame Vereinigung von Ultramontanen, Socialdemokraten, Anhängern der naturgemässen Lebensweise, Hydrodiätetikern, schwedischen Heilgymnasten, Natur­heilkundigen und Aehnlichen aufwies.
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Fünfter Abschnitt,
Die Symptomatologie der geimpften Kuli-
pocken.
Der gesetzmässige Verlauf.
Die Schutzpocken sind das regelmassigste Exanthem, und ihre stereotype Localisation auf dem Oberarm macht sie noch einförmiger.
In den drei ersten Tagen, nachdem die Impfling vollzogen ist (Tag stets gleich 24 Stunden gerechnet), bietet die Impfstelle nichts weiter als die Wirkungen des Traumas dar. Je nach der Stärke der Verwundung, welche bei der Operation gesetzt ist (wofür die Beschaffenheit des Instrumentes, die Tiefe und Länge des Einstichs oder Schnittes massgebend sind), je nach der Structur der Haut und ihrer individuellen Keizbarkeit entzündet sich die Umgebung des Stichpunktes geringer oder lehhafter. Diese traumatische Ke-action pflegt in 24 Stunden ihre Höhe zu erreichen, geht dann im Verlaufe des 2. Tages zurück, und ist am 3. Tage gemeinhin ganz oder bis auf die schwächsten Spuren (hirsekorngrosse, blassrothe oder bräunliche, nur mehr fühlbare Knötchen) verschwunden. Es hat an diesem Tage häufig den Anschein, als wäre die Impfstelle todt, die Impfung missglückt.
Gegen den Schluss des 3. Tages aher, oder im Beginn des 4. kommt neues Leben in die Impfstellen, und von nun an verhält sich die kleine Wunde wie eine specifisch vergiftete. Die Stichpunkte schwellen zu rothen Knötchen an, welche meist, doch nicht immer, genau dem Einstiche entsprechen, der deshalb auf ihrer Kuppe oder nehen ihnen zu liegen kommt.1)
1) Die papulose Erhebung befindet sich stets über der Stelle, wo die Lymphe abgesetzt ist: Ist die letztere nicht an den Wundrändern oder in deren unmittel-
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148nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; V. Die Symptomatologie der geimpften Kuhpocken. '
Die platte rothe Papel vergrössert sich im Laufe des 4. Tages.
Am 5. Tage ist ihre Kuppe in ein transparentes Bläschen mit centraler Vertiefung umgewandelt, und ein linienbreiter, dunkler Hof hält die Efflorescenz umschlossen.
Stetig zunehmend hat das Bläschen, auf Kosten der ganzen Papel, am 6. Tage den Umfang einer Linse gewonnen, und sein Ho ist auf mehrere Linien angewachsen.
Mit dem Schlüsse des 7. Tages steht die Efflorescenz in ihrer Bltithe. Die Impfpocke stellt nun ein rundes oder ovales Bläschen dar, oben abgeplattet, mit steil aufsteigenden Wänden, mehr breit als hoch; ein wulstiger, oft prall gespannter Rand läuft um die ver­tiefte Mitte (Nabel, Delle). Diese Centraldepression ist mit einem gelblichen Schorfe bedeckt, welcher von der Verschwärung des Ein­stichs herrührt. Die Kuhpocke ist perlfarbig, alabasterartig oder bläulich-weiss, von mattem Schimmer, seltener bleigrau, alles nur Modificationen, von der Dicke und Transparenz der Epidermis ab­hängig. Jedes Bläschen wird von einem dunkelrothen, ziemlich scharfen Saum eingefasst, an welchen sich ein zweiter, lichterer und allseitig diffus ausstrahlender Hof anschliesst. Stehen die Impfpocken nicht zu weit von einander, so pflegen diese äusseren Höfe schon am 7. Tage bis zur gegenseitigen Berübrung oder Verschmelzung vorgedrungen zu sein. Die so beschaffene Efflorescenz heisst das echte Jenner'sche Bläschen.
Sein Inhalt ist vom 5. bis 7. Tage flüssig, völlig wasserklar, etwas klebrig, und tritt in einzelnen Tropfen langsam hervor, wenn die Epidermis-Decke des Bläschens an verschiedenen Punkten ge­spalten wird; das Bläschen umschliesst demnach keinen einfachen Hohlraum, sondern ein System von Hohlräumen.
Hat das Jenner'sche Bläschen den Höhepunkt seiner Entwicke-lung erreicht, so flammt die bisher bescheidene Areola, welche es umgab, auf dem Uebergange vom 7. bis 8. Tage, rasch zu der inten­sivsten Entzündung auf. Die Haut schwillt im Umkreise der Kuh­pocke zwei, drei und mehr Centimeter breit an, wird gleichmässig tiefroth, glänzend, und erscheint härtlich wegen der Infiltration des unterliegenden Zellgewebes. Stehen, wie gewöhnlich, mehrere Pocken in nicht zu weiter Entfernung von einander, so fliessen die breiten
barer Nähe haften geblieben, sondern bis an das Ende eines schräge abwärts verlaufenden Stichkanales geleitet worden, so entwickelt sich das Knötchen über diesem letzteren Punkte, also in kurzer Entfernung von der Hautwunde, welche nun seitwärts, am Eande der Papel, zu liegen kommt.
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Der gesetzmässige Verlauf.nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; 149
Höfe zusammen, und die ganze Impfstelle bildet auf dem Ober­arm ein einziges feurig- oder düsterrothes Plateau, welches die Bläschen trägt, dieselben nach allen Richtungen um mehrere Centi­meter überragt und mit gewelltem Rande scharf abfällt. Seine Ober­fläche ist glatt und glänzend oder uneben, grützig oder warzig, was wohl auf eine Ungleichmässigkeit der serösen Infiltration im Corium-gewebe, besonders in den Papillen, zu beziehen ist. Nicht zu selten tauchen um diese Zeit, näher oder entfernter von dem Hauptherde der Entzündung, und durch normal gefärbte Haut von ihm geschieden, isolirte entzündete Flecken von Pfenuiggrösse und darüber auf, welche dem ersteren in jeder Beziehung gleichen, und denen eigentlich nur eine Pocke im Centrum abgeht. Ueber diese ent­zündlichen Stellen hinaus ist der geimpfte Arm verschieden weit angelaufen, ödematös infiltrirt, und die axillaren Lymphdrüsen sind empfindlich, wenn auch nicht immer deutlich fühlbar.
Mit diesen Vorgängen an der Impfstelle hat sich zugleich die Physiognomie der künstlichen Krankheit geändert; denn während das Allgemeinbefinden bis dahin ungestört erschien, erhebt sich am Ende des 7. oder in der ersten Hälfte des 8. Tages, parallel mit der vollen Entwickelung der Areola, ein Fieber; die febrilen, sowie die beglei­tenden Allgemeinerscheinungen variiren sehr, halten sich jedoch durch­schnittlich auf massiger Höhe. Die Kinder sind heiss, unruhig, am Tage verdrüsslich und ohne Appetit, Nachts schlaflos, Andere liegen schlummersüchtig dahin; die Stühle werden zuweilen vermehrt, wässrig und von grüner Farbe. Das Fieber dauert 24 bis 36 Stun­den an, um gegen Ende des 9. Tages, zugleich mit der sich invol-virenden Areola, zu erlöschen. Damit ist die Höhe der ganzen Er­krankung überschritten und der eigentliche Process beschlossen. Alles Uebrige, was noch folgt, ist die einfache Abwickelung der örtlichen Vorgänge.
Das Wohlgefühl kehrt wieder, indem die Röthe und Geschwulst der Areola vom 9. Tage ab rasch abfällt; nur ihr äusserster Rand pflegt als rothe Leiste noch etwas länger zu bestehen. Später nimmt die entzündet gewesene Hautstelle eine bräunliche Pigmentirung an. Der Inhalt der Pocken hat sich, durch die schnelle Vermehrung seiner zelligen Elemente, vom 8. Tage ab zu trüben begonnen und wird endlich eitrig. Das Bläschen ist zur Pustel geworden, die sich, in Folge jener Zellenwucherung, noch bis zum 10. Tage allseitig vergrössert und ihren schmalen Entzündungshof behält. Am 11. oder 12. Tage beginnt die Austrocknung der Pusteln, indem ihr flüssi-
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150nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; V. Die Symptomatologie der geimpften Kuhpocken.
ger Bestandtheil, theils durch die Epidermisdecke, theils, wenn diese geborsten ist, an der Luft verdunstet, und die festen Residuen zu bern­steingelben Massen erstarren und später verkrusten. Die Krusten, stets ein treuer Abguss der ehemaligen Pusteln, erhärten und dunkeln nun mehr und mehr bis zum 18. Tage, werden mahagonibraun und endlich schwarz. Innerhalb des 20.—28. Tages geht ihre allmähliche Abhebung vor sich, welche, von der ^Peripherie nach dem Mittelpunkt erfolgend, durchschnittlich am Ende der 4. Woche mit dem Abfall der Krusten endet. Die Epidermis rings umher hat sich während dieser Zeit durch Abschuppung erneuert. Die Narben, welche zum Vorschein kommen, sind anfangs seicht und geröthet; später, zu ihrer bleibenden Form und Farbe gelangt, sind sie rundlich oder oval, linsen- bis groschengross, vertieft und von einem scharfen oder gezahnten Rande begrenzt; sie erscheinen stets heller als die um­gebende Haut, nicht selten glänzend weiss, und sind ganz oder theil-weise haarlos. Ihr Boden erhält durcb die zarten Bindegewebs-leisten, welche ihn durchkreuzen, ein geripptes Ansehn und trägt dazwischen eine Anzahl Grübchen mit dunklen Punkten, welche schmutzigen Talgdrüsenpfröpfen angehören. Der Verein dieser Eigen­schaften begründet das Charakteristische der Impfnarben.
Ueber die subjectiven Empfindungen, welche den vaccinalen Process begleiten, bleiben die Kinder jede Auskunft schuldig. Darf man von Erwachsenen, die eine reguläre erste oder zweite Impfung durchmachen, zurückschliessen, so wäre der Ausbruch des Exanthems am 3. oder 4. Tage stets ml! Jucken au der Impfstelle gepaart; später, besonders vom 8. bis 10. Tage, schmerzen der entzündete Arm und die Achselhöhle, bis, bei der Abheilung, wieder Jucken eintritt.
Die regulären Impfpocken durchlaufen demnach vier, deutlich von einander abgegrenzte Perioden. Es sind
1)nbsp; nbsp;Die Incubation, welche, bei ungefähr dreitägiger Dauer, von der Einimpfung bis zum Hervorbrechen der Efflorescenzen reicht.
2)nbsp; Die Lokaleruption, welche die Entwickelung und voll­ständige Ausbildung der letzteren umfasst, und 4 Tage in Anspruch nimmt.
Es folgt 3) die Fieberperiode von 24—36 Stunden, wo, neben der intensiven Hautentzündung im Umkreise der Pocken,, die krank­hafte Theilnahme des ganzen Organismus in den Vordergrund tritt.
Der vierte Zeitraum, fast dreimal so lang als alle früheren zu­sammen, begreift die Abheilung und die Fortschaffung der ört­lichen Krankheitsproducte. In ihren Verlauf stimmen die geimpften
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Analyse einzelner Symptome des Vaccineprocesses.nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp;151
Kuhpocken vollständig mit den inoculirten Menschenblattern iiberein, bis auf den Schlüss, wo bei den letzteren noch ein allgemeiner Pockenausbruch dem Fieberstadium nachfolgt, während derselbe dort ausbleibt, — allerdings dasjenige wesentliche Moment, welches die Vaccination weit über die Inoculation stellt.
Die Analyse einzelner Symptome des Vaccineprocesses.
Zwischen Menschenblattern und geimpften Kuh­pocken sind, in der äusseren Form, keine Unterschei­dungsmerkmale vorhanden, und ihre entsprechenden Stadien gleichen einander vollkommen. — Die unwesentlichen Gestalts-Abweichungen der Vaccinen rühren von der Impfmethode her. Kreisrunde Impfpocken, wie die Menschenblattern, gibt es nur bei ein­fachem Lanzett- oder Nadelstich; der Schnitt bringt längliche, häufig sehr unregelmässig geformte Efflorescenzen hervor, welche bald als blosse Ausziehung eines runden Bläschens, bald als die Verschmelzung von mehreren Vesikeln anzusehen sind.
Zum wesentlichen Kriterium einer guten Impfpocke ge­hört, dass sie mit allen, oben geschilderten, Charakteren aus­gestattet ist. Der Durchmesser dagegen, welcher zwischen 5 und 8 Mm. betragen kann, ferner das Maass ihrer Erhebung über die Haut, haben untergeordnete Bedeutung. Der Umfang einer Impf­pocke wird in erster Linie durch den schmalen oder breiten, ober­flächlichen oder tieferen Impfstich bestimmt, und ist ferner nicht zum kleinsten Theile von der Hautbeschaifenheit und der augenblicklichen Disposition des Impflings abhängig. Selbst die äussere Temperatur, Kälte oder Hitze, übt auf die matte, oder volle und kräftige Ausbil­dung der Vaccinen einen sichtlichen Einfluss. Ein solcher kommt endlich der unmittelbar vom Thier übertragenen Lymphe zu, welcher die häufig kleinen Efflorescenzen zugeschrieben werden müssen, während bei der vollständig humanisirten Lymphe niemals der Stammimpfling, sondern nur der Impfling selbst über die äussere Gestaltung seiner Pocken entscheidet.
Die Areola. An jeder Impfpocke sind zwei Höfe wahrzu­nehmen: der innere schmale und dunkelrothe Saum, welcher die Efflorescenz vom ersten Momente ihrer Entstehung, nach Art eines Entzündungshofes, umgibt, und ein lichterer äusserer Hof, der um den ersteren sich zu verbreiten beginnt, sobald das Vaccineknötchen
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V. Die Symptomatologie der geimpften Kuhpocken.
in die Vesikel übergegangen ist. Je mehr das Jenner'sche Bläschen in den nächsten Tagen sich entwickelt, um so weiter dringt diese, oft zackig unregelmässige Röthe nach allen Richtungen vor, gleich­zeitig an Intensität zunehmend. Doch bleibt sie noch bis zum 7. Tage von dem inneren, bedeutend gesättigteren Saume zu unterscheiden. Erst zu dieser Zeit, oder zielmehr um die Zeit, wo das Vaccinefieber auftritt, verschmelzen beide Höfe in Eins, indem sich die Haut in der Umgebung der Pocke zu einer gleichmässig dunkelrothen und glänzenden Geschwulst erhebt, welche mit ziemlich scharfem Rande abfällt. Später, vom 9. Tage ab, wo die Entzündung anfängt, zurück­zugehen, differenziren sich wieder die beiden Höfe; der äussere blasst ab und hinterlässt eine bräunliche Pigmentirung der Haut, während der innere, um die inzwischen mit Eiter sich füllende und verschwärende Pockenpustel, dunkel bleibt, und erst mit der Aus­trocknung der letzteren allmählich verschwindet. Ich werde bei der Aetiologie des Impferysipels, für welche ich diese Trennung der Höfe als wichtig ansehe, auf dieselbe zurückkommen.
Das Vaccinefieber. Die fieberhafte Reaction des Organismus kündigt sich in deutlicher AVeise gewöhnlich im Laufe des 7. Tages nach der Impfung an, manchmal schon am 6., andere Male erst später. Dem Grade nach wechseln die Erscheinungen des gestörten Alige­meinbefindens ausserordentlich, halten sich jedoch durchschnittlich auf der früher bezeichneten massigen Höhe. Niemals sah ich jene schreckhaften Hirnsymptome, von denen berichtet wird, Erbrechen mit Delirien und Krämpfen, wie sie bei der Inoculation der natür­lichen Blattern häufig vorkamen. Die Zahl der Impfpocken (das übliche Maximum vorausgesetzt), sowie die geringere oder stärkere Ausbildung derselben erscheinen für die allgemeine Reaction nicht massgebend, wie auch die benutzte Lymphsorte, ob humanisirte oder originäre, in dieser Hinsicht keinen constanten Unterschied be­dingt. Am wenigsten darf man einen strengen Parallelismus zwischen dem Grade des Fiebers und der Menge der Efflorescenzen erwarten. Einpockige Impflinge fiebern vom 7.—10. Tage zuweilen recht leb­haft, während zwölf Impfpocken unter gelinden, mitunter fast fehlen­den Allgemeinerscheinungen ablaufen können. Selbst die In- und Extensität der Hautentzündung um die Vaccinen (die Areola) be­herrscht in nur untergeordneter quot;Weise das Fieber. Dasselbe muss demnach anderwärts seine eigentliche Quelle haben, und wenn man auf die Fieberzeichen, vornehmlich auf die Temperaturverhältnisse der Geimpften eingeht, so wird man nicht umhin können, jenem
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Analyse einzelner Symptome des Vaccineprocesses.
153
Fieber, welches einen wesentlichen Factor des Vaccineprocesses aus­macht, die Bedeutung und den Namen eines Infectionsfiebers beizulegen.
Der Kinderpuls ist freilich schlecht geeignet, Licht auf den inne­ren Gang des Vaccineprocesses zu werfen. Seine Untersuchung ergibt gewöhnlich in den Tagen, wo das Jenner'sche Bläschen all­mählich reift, eine massige Beschleunigung, und dieselbe wird vom 7. bis 9. Tage selbst in solchen Fällen nicht vermisst, wo die son­stigen äusseren Merkmale des Fiebers zu fehlen scheinen. — Aus der einzigen (für einen anderen Zweck berechneten) Beobachtung von Wertheim, an einem 32jährigen Vaccinirten, ging hervor, dass die Pulsgeschwindigkeit, innerhalb der ersten 24 Stunden nach voll­zogener Impfung, im Mittel um drei Schläge für die Minute zuge­nommen hatte, dass sie am 2. Tage etwas unter das Normale dieses Menschen sank, am 3. Tage hoch mehr, von da ab jedoch bis zum 6. Tage eine successive Beschleunigung erfuhr, dass sie dann auf der erreichten Höhe einige Zeit verblieb, um zuletzt, bis zum 14. Tage, allmählich zu fallen.
Unter solchen Umständen kann nur die Körperwärme auf­klären. Obgleich dieselbe bisher von Wenigen studirt wurde, steht die Thatsache aussei- Frage, dass die Steigerung der Eigenwärme im Vaccinationsprocesse keine sehr erhebliche, mitunter sogar gering­fügig ist. Nach meinen Beobachtungen überschreitet sie (im Rectum) 39,9deg; C. nicht; viele Impflinge gelangen kaum bis 39deg; C.
Wie bereits Hennig1) fand, habe auch ich am i. und 2. Tage der Impfung eine leichte Temperatursteigerung mehrfach feststellen können, was der vermehrten Pulsfrequenz in dieser Zeit entsprechen würde; sie betrug höchstens 0,3deg; C. (nach Hennig 0,4deg; R.) und währte längstens bis in den Anfang des 3. Tages. Eine blosse Zu­fälligkeit kann sie nicht sein, um so schwieriger wird ihre richtige Deutung. Am ehesten lässt sich jene schwache Erhebung der Eigen­wärme, welche mit der traumatischen Reaction der Impfvvunden gleichen Schritt hält, von der örtlichen Verwundung herleiten, und auf Rechnung der reizbaren Constitution der Kinder setzen.
Gewöhnlich am 5. Tage, mit der deutlichen Vesikelbildung an der Impfpocke zusammenfallend, erhebt sich die Quecksilbersäule um mehrere Zehntel, steigt während des 6. und 7. Tages langsam an, und erreicht am 8. Tage, wo die Pocke in der Reife und die
1) Ueber das den Verlauf der Schutzpocken begleitende Fieber. Jahrb. f. Kinderheilk. I. Bd. Wien 1858.
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154nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; V. Die Symptomatologie der geimpften Euhpocken.
Areola in der höchsten Entfaltung sich befindet, ihr Maximum von 38,9—39,9deg; C, auf welcher Höhe sie 12—24 Stunden verharrt. Im Laufe des 9, oder im Beginne des 10. Tages fällt das Queck­silber rasch, aber nur vorübergehend, auf die Norm und selbst unter dieselbe, um nach einigen abermaligen Exacerbationen, etwa am 12. Tage, dieselbe definitiv zu erreichen und festzuhalten.
Diese eigenen Messungen stimmen mit denen von Hennig im Allgemeinen überein. Allein es muss ausdrücklich bemerkt werden, dass jenes Schema zwar nach der bedeutenden Mehrzabl der Beob­achtungen entworfen ist, dass aber Abweichungen nicht zu selten sich darbieten. So wurden zuweilen normale Temperaturen ver­zeichnet, nachdem bereits, am Ende des 6. Tages, die Höfe um die Pocken zur vollständigen Confluenz gediehen waren. Constant für alle Fälle wurde nur die merkliche Steigerung der Körperwärme notirt, welche mit der vollen Entwickelung der dunkelrothen, das Hautniveau überragenden Entzündungsgeschwulst (der Areola), d. h. mit der vollen Ausbildung der Impfpocken zusammentraf. Wo diese, bei mageren Subjecten, bei dazwischentretendem Unwohlsein der Impflinge, oder in der kalten Jahreszeit, um mehrere Tage sich ver­spätete, da trat jene Steigerung der Eigenwärme gleichfalls an einem späteren Tage, am 10., 11. Tage oder noch später, ein. Beachtens-werth ist, dass auch hier die Anzahl der Schutzpocken gleichgültig erschien für den Grad der Temperatursteigerung, dass z. B. ein Kind mit 5 Pocken nicht die Temperaturhöhe eines anderen mit einer Pocke erreichte.
Indem sich so die Temperatur im Vaccineprocess unabhängig erweist von den lokalen Vorgängen, und andererseits dem allmäh­lichen Fortschreiten der vaccinalen Infection angeschlossen erscheint, muss sie als von dieser herrührend betrachtet werden.
Die Anatomie der Impfpocken und ihre histologische Genese ist, meines Wissens, noch nicht der Gegenstand besonderer Untersuchungen gewesen. Aber es muss wohl als sicher angenommen werden, dass, wie in allem Uebrigen, die Vaccinen auch die innere Entwickelung und den Bau mit den echten Variolen gemein haben. Darnach würden auch sie ihre Entwickelung in den unteren Schiebten des Eete Malpighii antreten.
Die erste Veränderung bei den Pocken1) beste'ht in einer eigen-thümlichen Entartung der untersten Schicht des Pete Malpighii; die
1) Weigert, Anatom. Beiträge zur Lehre von den Pocken. I. Heft: Die Pockenefflorescenz der äussern Haut. Breslau 1874.
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Analyse einzelner Symptome des Vaccineprocesses.nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp;155
regelmässig gestalteten Zellen werden zu unregelmässig geformten, scholligen undurchscheinenden Massen. Alle Kerne fehlen in dieser Partie. Die Herde dieser Massen finden sich meist in der Nähe eines Schweissdrüsenganges oder Haarhalges.
Die Pockenknötchen sind eine Eeizwirkung der todten Massen. Sie werden durch Ansammlung von Flüssigkeit (Pockenlymphe) zwischen den mittleren Lagen des Rete Malpighii, und durch Quellung der darüber lagernden Epidermiszellen gebildet. Indem die Flüssig­keitsmenge zunimmt, entsteht das Bläschen. Dasselbe umschliesst eine Anzahl neben und übereinanderliegender, unregelmässiger Hohl­räume, welche, wenn auch mehr oder weniger frei, sämmtlich unter sich in Verbindung stehen. Das Material zu dem Netz- oder Balken­werk, das sie herstellt und die Lymphe zwischen sich fasst, liefern die Zellenzüge der Malpighi'schen Schicht. Die Eröffnung einer Höhle genügt, um die Lymphe auch aus den meisten übrigen her­vortreten zu lassen.
Rings um die Flüssigkeitsanhäufiing findet nun eine wallartige Wucherung der Zellen des Rete Malpighii statt; da der todten Masse im Centrum die lebensfähigen Elemente fehlen, bleibt diese Stelle vertieft und bildet den Nabel.
Die Eiterung beginnt in der Umgebung der Gefässe, dann im Bindegewebe der Papillen und geht endlich auf die Hohlräume der Pocke über. Dabei schmilzt ein Theil der Scheidewände und das Stratum papillare ein. Doch gieiit die Zerstörung gewöhnlich nicht tief, und die Haarbälge und Talgdrüsen bleiben erhalten, um später mit ihren dunkeln Pfropfen die hellen Narben zu punktiren.
Mit der Erfüllung der Pocke durch Eiterkörperchen ist das Höhestadium erreicht. Die Eiterkörperchen sterben ab, ebenso die Epithelien, und der ganze Pockeninhalt wird zu einer Schorfmasse, während die lebensfähigen Elemente am Boden an der Abstossung derselben, und dem Ersatz des Substanzdefectes arbeiten. Von den Seiten her schiebt sich dann neue grobe Epidermis unter den Schorf.
Welcher Art ist nun dieurspriinglicheanatomische Störung, welche den ganzen Process einleitet? Weigert bezeichnet die eigen-thümliche Degeneration in den Zellen des Rete Malpighii als diphthe-roide Entartung, indem sie am meisten der von Wagner beschrie­benen, bei der Diphtherie vorkommenden Epithelentartung gleicht. Diese Ertödtung der Zellen ist als eine directe, erste und constante Wirkung des Pockengiftes auf die Epidermis anzusehen, denn sie findet sich stets im Centrum und bei den aller-jüngsteu Efflorescenzen.
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V. Die Symptomatologie der geimpften Kuhpocken.
Sie wird sieh also bei der Vaccination da bilden, wo die Lymphe deponirt ist, und dieser Stelle wird auch der nachherige Nabel ent­sprechen, denn dass für den letzteren der Stichpunkt veranlassend und hestimmend- ist, muss als fraglos betrachtet werden. — Für eine eher ertödteude als reizende Erstwirkung der Lymphe spricht der Umstand sehr bezeichnend, dass sich, in seltenen Fällen, die Vaccinen erst nach Ablauf einer oder selbst mehrerer Wochen zu entwickeln beginnen.
Morphologie und Chemie der Lymphe. Die wasser­helle, durchsichtige, etwas klebrige Flüssigkeit der humanisirten Lymphe enthält nachstehende Formelemente, welche jedoch eine allmähliche, mehr oder weniger vollständige Umänderung eingehen, so dass sie nicht zu allen Zeiten dieselben bleiben, oder von der gleichen Beschaffenheit sind.
Feinkörnige Fibrin gerinnsei findet man schon frühzeitig (am Ende des 5. Tages) und in frisch unter das Mikroskop gebrachter Lymphe. In der aufbewahrten nimmt man sie mit freiem Auge wahr als weisse Flocken oder zusammenhängende weisse Fäden, welche die Axe der Phiole bilden. Essigsäure zieht sie streifig zusammen und macht sie einschrumpfen. Mit der Zeit, in Wochen oder Monaten, werden die Fibringerinnsel weicher, lockerer und lichter, zerfallen zu einzelnen Bruchstücken und verschwinden endlich ganz (1 Jahr alte Lymphe). Die Termine, wo diese einzelnen Umwandlungen ein­treten, scheinen für die verschiedenen Lymphen nicht die nämlichen zu sein.
Weisse Blutkörperchen sind in frischer und ebenso in nicht zu lange aufbewahrter Lymphe gewöhnlich sehr zahlreich vertreten, theils vereinzelt, theils in Haufen vereinigt, oder eingebettet in den Fibringerinnseln.') In frischer Lymphe zeigten sie amöboide Be­wegung. Sie erscheinen durch kleine, sehr scharf contourirte glänzende Körperchen, welche an ihnen haften, oder von ihrem Protoplasma umschlossen werden, granulirt. Die Anzahl der farblosen Blutzellen nimmt vom 5. Tage ab bis zur völligen Reife der Impfpocken stetig und beträchtlich zu. In der aufbewahrten Lymphe vermindern sie
1) Nach Weigert (1. c. S. 24) sind vereinzelte weisse Blutkörperchen schon in der Flüssigkeit zu erkennen, welche die Hohlräume der Pockenknötchen in der Epidermis ausfüllt. Durchaus irrig ist, die „Eiterkörperchenquot; nur als einen Bestandtheil der unreinen und unklaren Lymphe zu hetrachten.
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Morphologie und Chemie der Lymphe.nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp;157
sich wieder, so dass, je ferner vom Tage der Abnahme die Lymphe untersucht wird, um so geringer ihr Gehalt an weisseu Blutzellen ist. Schon nach einem Monat tritt dies sehr merklich hervor, nach mehreren Monaten trifft man nur vereinzelte, meist schon zerfallene, und in einer einjährigen Lymphe fast gar keine weissen Blut­körperchen mehr an.
Schneller scheint dieser Zerfall die rot hen Blutzellen zu erreichen, deren Anwesenheit in der Impfflüssigkeit schon lange und von allen Untersuchern bestätigt ist. Ihre Menge wechselt un­gemein, und wird gewöhnlich von der oberflächlicheren oder tieferen Verletzung des Coriums beim Anstechen der Pocke bedingt. Allein auch bei sorgfältigster Vermeidung einer derartigen Verletzung kom­men sie vor, und sind dann wohl durch selbstständige Auswanderung in die Lymphe gelangt. Am zahlreichsten sah ich sie, die bekannten Geldrollen bildend, in der frischen Lymphe eines Revaccinirten, wo auch die Lupe keine Spur von Blutung an den eröffneten Pocken zu erkennen vermochte. Nicht selten findet man die einzelnen Scheiben gezähnelt, mit zackigen Rändern versehen, in der Aus­trocknung begriffen.
Aussei- diesen Formelementen enthält die Lymphe regelmässig und in grosser Menge hellglänzende, sehr scharf umran­dete, grünlich schimmernde Körperchen, die erheblich Meiner als rothe Blutzellen sind, und theils frei in der Flüssigkeit zittern, theils auf den weissen Blutkörperchen haften, oder von ihrer Substanz umschlossen werden. Sie verleihen den letzteren, wie be­merkt, das körnige Ansehen. Essigsäure bleibt auf sie ohne Ein­wirkung, ebenso widerstehen sie der nachdrücklichen Behandlung mit Alkohol und Aether, und Osmiunisäure lässt sie ungefärbt. Eine mit dem Alter der Lymphe zunehmende Vermehrung oder vor sich gehende Formveränderung derselben findet nicht statt; ihr Schicksal scheint lediglich an dasjenige der Fibringerinusel und der weissen Blutzellen gebunden zu sein; je mehr diese zurücktreten, um so weniger der beschriebenen Körperchen. Aber was sie bedeuten, wird vorläufig nicht festzustellen sein. Pilzorganismen, speciell die Kugel-baktericn F. Colin's, sind sie keineswegs; denn während die von mir und Grünhagen1) beschriebenen Körperchen grünlich schim­mern, ein sehr starkes Lichtbrechungsverinögeu besitzen und sich sichtlich nicht vermehren, bilden die entgegengesetzten Eigenschaften ihre Charakteristik bei F. Colin.
t) Archiv f. Dermat. u. Syphilis, 1872. IV. Jahrg., S. 153.
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158nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; V. Die Symptomatologie der geimpften Kuhpocken.
Während Fibringerinnsel, weisse und rothe Blutzellen und die eben bezeichneten räthselhaften Körperchen die regelmässigen Be-standtheile der Lymphe ausmachen, können die wirklichen Pilz-formen nicht dahin gezählt werden. Sie erscheinen, wo sie vor­kommen, in ihren Anfängen, als kleine runde matte Körnchen oder Zellen, in molekularer Bewegung begriffen, welche sich hier und dort zu mehr oder weniger langen Kettchen anordnen. In Lymphen vom 5.-7. Tage habe ich sie niemals gefunden; dagegen beobach­tete ich ihre Anfänge in -einer 3—5 Tage in Phiolen aufbewahrten Lymphe; in einer noch älteren fehlten auch die Kettchen nicht, und waren mitunter sehr reichlich vorhanden.
Fetttropfen, in wechselnder Zahl, ferner Hautepithel aus den untern Schichten der Epidermis traten nicht selten im mikro­skopischen Bilde der Lymphe auf.l)
In lange aufbewahrten (und unbrauchbaren) Lymphen gehen Fermentationsprocesse vor sich, in deren Folge sich makroskopische Gasbläschen, inmitten des Lymphefadens, entwickeln und ver­schiedene Krystallformen aus dem Eiweiss der Flüssigkeit abscheiden, Leucinkugeln, Margarinnadeln und Drusen. Wenige Male, aber zuweilen in enormer Zahl, traf ich jene eigenthümlichen Kry-stalle an, welche, in ihrer sogen. Naviculaform, vollkommen den von Max Schnitze beschriebenen Eiweisskrystallen gleichen. Ob sie eine genetische Beziehung zu den weissen Blutkörperchen haben, Hess sich nicht bestimmen, aber auffallend war es, sie so häufig mit weissen Blutzellen, welche in der Auflösung begriffen waren, enge verbunden zu sehen.
Die humanisirte Lymphe ist also, in den wesentlichsten Punkten, eine mit dem Blutserum übereinstimmende Flüssigkeit. Sie enthält, aus der Gruppe der Eiweisskörper, fibrinogene und fibrino-plastische Substanz, weisse und rothe Blutzellen, Fett. — üeber ihre chemische Constitution weiss man sehr wenig. Tremoliere fand, neben Wasser, salzsaures Natron, schwefelsaures Kali und phosphor­sauren Kalk, abermals die Basen und Säuren des Blutes. In den gangränösen Blattern soll blausaures Natron vorkommen. —
Ausser der Lymphe enthält das Blut der Vaccinirten am
1) Müller'sche Glycerinlymphe aus Berlin, sowie'Pissin's animale Lymphe, etwa zwei Monate nach ihrer Hersendung untersucht, erwiesen sich äusserst arm an Formhestandtheilen, enthielten nur zerfallene Faserstoffgerinnsel, mit den glänzenden Körperchen besetzt, zerstreute weisse und rothe Blutzellen, Margarinkrystalle, spärlich Fett und Epithel.
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Morphologie und Chemie der Lymphe.nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; 159
8. Tage nach der Impfung Vaccinestoff, in allerdings so geringem procentlichen Verhältniss, dass Blutimpfungen mit der gewöhnlichen Impfhadel und dem blossen Einstich erfolglos bleiben, und nur dann Resultate geben, wenn blutgetränkte Charpie auf Vesicatorwunden des Impflings gebracht, oder wenn tiefere Impfschnitte reichlich mit Blut gefüllt werden. Reiter l) stellt das Blut, in dieser Hinsicht, einer auf Vi 2 pCt. verdünnten Lymphe gleich. Wie zum erfolgreichen Syphilisiren sind also auch hier bedeutende Blutquantitäten und grössere Resorptionsflächen nöthig.
Die Impfnarben von originärer Kuhlymphe sind meist aus­geprägter, als die von humanisirter, während die mit künstlicher Färsenlymphe erzeugten sich von den letzteren nicht unterscheiden. Impfschnitte hinterlassen langgezogene und, dem kräftigeren Ver-schwärungsprocesse entsprechend, in jeder Beziehung markirtere und vorhältigere Narben. — Die Impfaarben aus der Jugend können zeitlebens bestehen, häufiger werden sie, gleich den, von echten Blattern herstammenden, durch die Umbildung der Hautgewebe im Laufe der Jahre umgestaltet, und können ausnahmsweise schon nach 4—8 Jahren spurlos verschwunden sein. Der Umfang und die Tiefe der Verschwärung im Corium entscheiden über ihr Schicksal. Sie werden allmählich flacher und, indem die streifigen Leisten verschwinden, glatter, der Rand verliert seine scharfe Contour und grenzt sich immer undeutlicher von der normalen Um­gebung ab, die todte weisse Farbe beginnt wieder dem normalen Hautcolorit sich zu nähern. Am längsten pflegen die grubigen Ver­tiefungen des Narbenfeldes der Ausgleichung Widerstand zu leisten. Die Entscheidung, ob Narben vorhanden sind, kann mitunter recht schwierig werden; zuweilen vermag nur eine gewisse symmetrische Anordnung von lichteren Flecken auf dem Oberarm zu ihren Spuren hinzuleiten. Burchard erklärt das Fehlen der Haare auf den Narben, bei sonst vorhandener Behaarung des Arms, für ein fast pathognostisches Kennzeichen der Vaccinenarben. Allein es gehen bei der Verschwärung nicht sämmtliche Haarbälge zu Grunde, und Verbrennungen der Haut vernichten gleichfalls das Corium bis zu den Haarbälgen herab, üebrigens involviren sich bei demselben Individuum die einzelnen Narben oftmals ungleich, und gut erhaltene stehen neben verwaschenen, kaum kenntlichen oder wirklich schon untergegangenen.
1) Studien über die Ansteckungsfähigkeit des Kuhpocken-Impfstoffes. Aerztl. Intelligenzbl. bayr. Aerzte. 1872. Nr. 15.
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160nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp;V. Die Symptomatologie der geimpften Eubpocken.
Ausgedehnte und lange dauernde Verschwärungen der Impfpusteln hinterlassen tiefe, arg zerrissene Narhen mit hohen und callösen Höckern und Leisten.
Die postvaccinalen Hautausschläge.
Eine allgemeine Vaccine, welche als Seitenstück zu der Generaleruption bei den inoculirten Blattern anzusehen wäre, gibt es nicht, doch wird die allgemeine Decke, durch den Vaccineprocess, zwar nicht zu oft, doch in mannichfaltiger Weise erregt, bald nur fleckweise, bald in weiter Ausdehnung. Diese Ausschläge erscheinen gewöhnlich in der Abnahme des Processes, und in der Vertrock-nungsperiode der Pusteln, zwischen dem 8. und 14. Tage nach der Vaccination. Die häufigste Form sind, mehr oder weniger zahlreich über den Körper zerstreute Stippchen oder Koseolaflecken, sodann kleinknötige oder frieselartige Eruptionen, welche in zwei bis drei Tagen wieder erbleichen, oder vertrocknen und kleienartig abschuppen. Andremale gleichen die isolirten Bläschen dem Ekzem. Auch Urticaria kommt vor. Während der Ab­heilung der Impfpocken entstehen zuweilen Impetigopusteln, näher oder ferner von der Impfstelle, auf der Schulter, dem Ge­sichte, am Stamme, welche pockenäbnlich, gedellt, aber stets nur einfache Hohlräume sind.
Allen diesen Eruptionen geht jedweder Einfluss auf den vacci-nalen Process ab, und ihre Bedeutung liegt ausserhalb jener An­schauung, welche darin eine Krise, eine Entscheidung des Imptpro-cesses auf der Haut erblicken wollte [), oder sie gewissermassen als das Supplement desselben betrachtete. Der Revaccination sind sie fast ganz fremd. Da sie gewöhnlich auf die Tage fallen, wo die Eiterang am Corium und in den Pusteln stattfindet, und sich am liebsten bei zahlreichen Impfpocken einstellen, so haben sie ihren Grund wol in einer, durch den vaccinalen Process bedingten Irri­tation der Haut, wie solche in ähnlicher Weise sich nach allen acuten Exanthemen äussert.
Umfangreichere wiederholte Abscedirungen des Unterhautge­webes sind nach abgelaufener Vaccine selten. Ein dreimonatliches
1) Zöhrer, Der Vaccineprocess und seine Krisen. 2. Aufl. Wien 1846. Andremale sollen der Darm oder die Lymphdrüsen jene unklare Entscheidung bewerkstelligen.
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Unwesentliche Abweichungen des Vaccineverlaufes.nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp;161
Kind meiner Beobachtung bekam, während zwei gute Impfpocken in Blüthe standen, drei pockenähnliche Gebilde auf der Stirne. Bald darauf entstanden an verschiedenen Körperstellen (Nacken, Beinen, Bauch) umschriebene Phlegmonen, welche vereiterten und langsam heilten, um neuen Platz zu machen, bis die Recidive unter Jodkali aufhörten.
llimesentliehe Abwcichiiii
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u des Vaccineverlaufes.
Der vorhin geschilderte Vaccineverlauf lässt mannichfache, aber für den Haupteffect gleichgültige Abweichungen zu.
Die zu starke und schwache traumatische Reaction. Bei breitem und tiefem Einstich, stumpfer und rostiger Lanzette, oder wenn die Haut eine ungewöhnliche Reizbarkeit besitzt, pflegt die traumatische Entzündung um die Stichpunkte so stark auszu­fallen, dass sie, wenig gemindert, bis in den 3. Tag hineinreicht, und mit der, um diese Zeit einsetzenden speeifischen Entzündung in Eins verschmilzt. Der lokale Process verläuft dann, anstatt unter­brochen zu sein, vom 1. Tage ab gleichsam continuirlich, und die örtlichen Erscheinungen sind durchweg über das gewöhnliche Maass gesteigert.
Gegentheils kann die traumatische Entzündung am 1. Tage ganz unerheblich sein, und können die Impfstellen während des 2. und 3. Tages todt erscheinen. Trotzdem hat die Lymphe gefasst, wie der weitere normale Decurs lehrt.
Der verfrühte nnd der verspätete Ausbruch der Kuhpocken. Die Vaccinen eilen um 24 bis 36 Stunden ihrer ge-setzmässigen Zeit voran; man findet dann schon am 2. Tage Vac-cineknötchen, und am 3. Tage bereits gedellte Bläschen. Der fernere Verlauf entspricht dem Anfange. Die gewöhnlichste Veranlassung zu solcher Verfrühung gibt der hohe Thermometerstand im Sommer, auch überhitzte Stuben im Winter; andere Male scheinen individuelle Be­dingungen im Spiele zu sein. Die Abnahme der Lymphe muss einen Tag früher geschehen, weil die strotzenden Pocken am 7. Tage meist sämmtlich geplatzt sind.
Auf der andern Seite kann sich der Ausbruch der Kuhpocken verzögern, nach eigenen Beobachtungen bis zum 12. und 14. Tage. Sacco gibt als Regel gleichfalls 8, 10—15 Tage an, hat aber Bei­spiele, wo der Ausbruch erst nach 20, ja 30 Tagen erfolgte. Un-
Bohn, Handbuch tier Vacciuation,nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp;1 1
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162nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; V. Die Symptomatologie der geimpften Kuhpocken.
verkennbar wirkt die kühle und kalte Jahreszeit retardirend; nach Meyer-Ähre ns geht die Lymphe bei einigen nordsibirischen Völkerschaften stets erst nach 10, 12, 15—17 Tagen auf). Ferner schieben heftige acute Erkrankungen der Impflinge die Entwickelung der Kuhpocken hinaus, wenn sie dieselben nicht ganz vereiteln. — Eine häufige Verspätung der Vaccine gehört zu den Eigenthümlich-keiten mancher Arten von Lymphe, der originären Lymphe, und der künstlich erzeugten Kuh- oder Färsenlymphe (überhaupt aller ge­künstelten Impfstoffe), während die humanisirte eine grosse Gleich-mässigkeit in dieser Kichtung offenbart. — Endlich hat man guten Grund, für die in Eede stehende Abweichung eine schlaffe und energie­lose Haut des Impflings verantwortlich zu machen.
Etwas Anderes als das verspätete Aufgehen bedeutet die zögernde und sich verspätende Ausbildung von solchen Kuhpocken, welche ihre Entwickelung regulär begonnen haben. Das Stadium papulosum zieht sich in die Länge, die Pockenbläschen bleiben tagelang bei demselben Umfange, stehen kahl da, ohne mit dem rothen Hofe sich zu umsäumen, und kommen erst im Verlaufe der 2. Woche zur Keife. Die Schutzkraft leidet nicht darunter, wie auch die Lymphe aus ihnen mit tadellosem Erfolge weiter fort­gepflanzt werden kann. Es ist meist eine interrcurente Erkrankung, welche die Vaccine in dieser Weise aufhält.
Dagegen müssen örtliche Hindernisse bestehen, wenn nur die eine oder andere Impfpocke, sei es im Ausbruch, sei es in der ferneren Entwickelung sich verspätet, während die übrigen legitim vorwärts schreiten. Solche Nachzügler bleiben es aber nicht bis zum Ende, sondern werden, in höchst bemerkenswerther Weise, von den übrigen regulären Nachbarn zuletzt gleichsam mitgerissen, und kommen, obgleich kleiner bleibend, gleich- und rechtzeitig mit den­selben ans Ziel. Ein Vorgang, den wir künstlich zur Anschauung bringen können, wenn wir dasselbe Individuum fünf oder sechs Tage hintereinander impfen; die nachgeimpften Pocken überstürzen ihre Entwickelung, und holen die früheren in der Abtrocknungsperiode ein. Dieser Einfluss der normalen Pocken kann bis zur Belebung scheinbar todter Impfstiche steigen: „Da es meine Methode ist, schreibt Sacco, eine anscheinend fruchtlose Impfung nach 8 bis 10 Tagen zu wiederholen, so habe ich oft bemerkt, dass sich mit den neuen Stichen auch die alten entwickelten, und so die Zahl der Pusteln wuchs. Ein Knabe von fünf Jahren war schon zweimal ver-
1) .Meyer-Ahrens, Prag. Vierteljahrschr. Bd. 5-1, S. 143.
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Unwesentliche Abweichungen des Vaccineverläufes.nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; 163
gebens geimpft worden; nach der dritten Operation gingen beinahe alle Impfstiche von der ersten, zweiten und dritten Impfung auf, so dass das Kind 16 Pocken hatte.quot;
Anfangs zögernde Impfpocken beschleunigen plötzlich am 6. oder 7. Tage ihre Vollendung, als ob sie den bestimmten Termin wahr­zunehmen hätten, und Bläschen, von verschiedener Grosse in den ersten Tagen, können am Ende der Woche sämmtlich den gleichen Umfang darbieten.
Die Grosse, das mehr oder minder kräftige Aussehen der Kuh­pocken, ihr Lymphgehalt, die Intensität und Verbreitung der peripheren Hautentzündung wechseln mannichfach. Auch hier sind einige früher berührte Momente massgebend:. Herbst- und Winterpocken sind häufig mager und lympharm,- die Bläschen von originärer Lymphe nicht selten unschön und kümmerlich; den stärksten Ausschlag gibt jedoch die Individualität des Impflings, und im Besonderen die Be­schaffenheit seines Hautorgans, ob dasselbe energielos, oder gewohnt ist, die Reize lebhaft zu beantworten. Auf die Qualität der Säfte kommt es bei den Impflingen nicht an, wenn sie zur Impfzeit nur nicht geschwächt oder elend sind. — Das Lebensalter begründet keinen Unterschied in der äussern Gestaltung der Kuhpocken.
Nebenpocken, überzählige Pocken. Aus einem Einstich gehen zuweilen mehrere, 2-—3, gleich gut entwickelte Pocken her­vor ; dicht um denselben gedrängt, verschmelzen sie am 5. oder 6. Tage, und bilden eine grosse unregelmässig conturirte Pocke. Ein ander Mal sprossen in einiger Entfernung von den Stichpunkten (bis zu 4 Zoll nach Ceely) Bläschen hervor, welche mit denjenigen an der Impfstelle völlig übereinstimmen. Diese Neben- oder überzähligen Pocken lassen mehrfache Erklärungen zu. Entweder haben sich von verschiedenen Punkten des einen Stichkanals aus Pocken ent­wickelt, oder die Lanzette hat, bei unruhigen Kindern, andere Stellen, als die beabsichtigten, gestreift. Es kann aber die Haut auch durch die blosse längere Berührung mit der Lymphe inficirt worden sein, indem z. B. das, von den Einstichen abtropfende Blut, mit Lymphe gemengt, näher oder ferner von der Impfstelle ver­trocknete. Die Möglichkeit einer solchen Infection bei unverletzter Haut ist von Ceely erwiesen. Er erzielte Kuhpocken ohne Einstiche, vorzüglich bei Kindern und jungen Personen, wenn er die Lymphe blos auf die Haut brachte und durch eine Umhüllung mit Blut gegen die Luft schützte (1. c. S. 133). Die Haut muss zart und die Lymphe kräftig sein. Es war übrigens den Beobachtern
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164nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp;V. Die Symptomatologie der geimpften Kuhpocken.
schon früher durch manche der unabsichtlichen Ansteckungen bei Melkern und Melkerinnen wahrscheinlich geworden, dass die Lymphe von einer unverwundeten Hautstelle aufgesogen werden könne.
Secundäre und tertiäre Borken. Werden die Pocken­schorfe früher abgerissen, als die Eiterung im Corium autgehört hat, so bilden sich abermalige, nur kleinere und dünnere Schorfe. Das kann sich vielfach wiederholen, und die definitive Verheilung sebr in die Länge gezogen werden. Die schwache Infectionskraft, welche den primären Borken noch innewohnt, geht den secundären u. s. w. ab.
Auoiualien der 'Vaccine.
Die nachfolgenden Anomalien leisten für den vaccinalen Schutz entweder gar keine, oder eine höchst zweifelhafte Bürgschaft. Sie können aus dem Individuum, der Lymphe oder der Opera­tion entspringen, aber nicht immer glückt es, aus diesen Momenten das wahre zu isoliren. Bei der erstmaligen Impftmg ist zunächst immer der Lymphe zu misstrauen, und die Empfängnisslosigkeit des Impflings an letzter Stelle anzunehmen.
Der negative Erfolg. Die von dem Einstich erweckte Ent­zündung läuft in den nächsten 2—3 mal 24 Stunden einfach ab, ohne dass irgend welche weiteren Folgen an der Impfstelle bemerkbar werden. Es muss in solchem Falle — eine verlässliche Lymphe und eine geübte Hand vorausgesetzt — jegliche Empfänglichkeit für die Vaccine fehlen. Gewöhnlich aber ist, wenn die Vaccination voll­ständig fehlschlägt, eine ihrer speeifischen Kraft verlustig gegangene Lymphe, also eine gleichgültige Flüssigkeit, der Haut einverleibt worden. Hin und wieder mag es geschehen, dass die Lymphe von dem hervorquellenden Blute ausgespült wurde. ')
Die modificirten Kuhpocken sind uns bei den Revaccinirten sehr geläufig, kommen aber ausnahmsweise auch schon bei der
1) Auf den, sonst feuchten, capverdischen Inseln bleibt, während der Dauer des sehr trockenen, die Verdunstung stark befördei^iden Harmattan, die Impfung der Vaccine erfolglos, wie auch alte Geschwüre aufhören zu secer-nirnn (Braun, Balneotherapie, 2. Aufl., S. 60-1). Anderwärts liest man, dass die Blattern durch Austrocknen der Pusteln alsbald unterdrückt werden sollen, wenn sich Blatternkranke in die trockene Saharaluft begeben, und dass iuoculirte Blat­tern unter der Herrschaft des Harmattan nicht zum Ausbruch kommen.
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Anomalien der Vaccine.nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; 165
ersten Impfling vor. Sie umfassen diejenigen Impfefflorescenzen, welche durch einen überstürzten Verlauf, durch unvollstän­dige Ausbildung wesentlich von dem Normalbilde der Vaccine abweichen.
Die Stichpunkte schwellen manchmal sofort nach der Impfung zu Knötchen an und werden innerhalb der nächsten 24—48 Stunden zu Bläschen, mit oder ohne Delle, welche nun ihre weiteren Stadien bis zur Vertrocknung in 0—8 Tagen durcheilen. Fieber tritt ge­wöhnlich nicht hinzu. Sacco nannte diese Form Vaccinetta, Thompson: Vaccinella.
In einem noch schwächeren Grade kommt es zu keiner Bläschen­bildung, sondern die entstandenen Knötchen vertrocknen alsbald (Vaceinae atrophicae, Warzenpocken), oder es bilden sich vor­schnell Papeln und Vesikeln, welche dem Ekzem gleichen, lebhaft jucken und • rasch verschorfen (Ekzem-, Kratz- oder herpetische Pocken).
Wie sind diese Formen zu beurtheilen?
Sie stimmen mit den modificirten Kuhpocken der Revaccinirten vollständig überein, ebenso mit einem Theile der Varioloiden, und werden sich demnach zur echten Vaccine verhalten, wie das Varioloid zur Variola Vera, d. h. sie müssen als der Ausdruck einer fragmen-tären Empfänglichkeit des Individuums für das Virus vaccinale betrachtet werden, und sind deshalb keine „falschen Kuhpockenquot;, wie man sie genannt hat, so wenig falsch, wie die Varioloiden falsche Blattern sind. Die modificirten Kuhpocken werden bei der Jugend-Impfung selten beobachtet, weil die Vaccine hier fast immer auf die volle Empfänglichkeit stösst.
Schwieriger sind jene Fälle zu deuten, wo neben gut ausgebil­deten und normal reifenden Impfpocken einzelne modificirte zum Vorschein kommen.
Als eine wirklicke Entartung der Vaccine müssen die Blasen­pocken gelten (Vacc. bullosae, pemphigoides). „Am 2., selten am 3. Tage entstehen Blasen an den Impfstellen, welche zerplatzen und in oberflächliche nässende Geschwüre übergehen, die sich mit dünnen gelben Porken bedecken und keine Narbe hinterlassen. Der Blasen­inhalt ist nicht verimpfbar. Zuweilen entarten in dieser Weise nur einzelne Stichpunkte, während die übrigen sich normal ausbilden. Die Blasenpocken kommen vereinzelt, aber in manchen Jahren ge­häuft vor (im Wiener Findelhause im Jahre 183G endemisch) und können die ganzen Impfungen verderbenquot; (Zöhr.er).
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106nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp;- V. Die Symptomatologie der geimpften Kuhpocken.
Auch knotige Eutzünduugen (Vaccinefurunkel) an Stelle der Impfpocken, mit dem Ausgange in Vereiterung und Ulceration sind beschrieben worden.')
Die Pathologie der Vaccine.
Die pathologischen Folgezustände der Vaccination knüpfen fast sämmtlich an die normalen Symptome an, und sind als ein Aus­schreiten derselben anzusehen.
Das Vaceineg'esclnvür.
Durch mechanische Misshandlung, durch Aufkratzen und Ab­scheuern der geschlossenen, und durch Verunreinigung der geborstenen Pockenpusteln verwandeln sich dieselben, anstatt einzutrocknen, in offene Geschwüre. Die eitrige Zerstörung des Coriums geht in die Breite und Tiefe, es entstehen meist Krater mit harter Basis und harten Rändern, welche durch ihre syphilitische Aehnlichkeit beim ersten Anblick erschrecken können. Das Vaccinegeschwür hat einen torpiden Charakter und besitzt wenig Neigung, von selbst sich zu schliessen. Oft treibt sein Boden schwammige Wucherungen hervor, und man trifft nässende Ulcera elevata, die noch weniger Trieb zur spontanen Verheilung zeigen. Gewöhnlich sind es nur eine oder wenige Pusteln, welche geschwürig entarten, während die übrigen gesetzmässig vertrocknen und abfallen. Irrthümlich hat man die Ursache der Verschwärung in einer besonderen Schärfe des Vaccine-giftes, oder in der übermässigen vaccinalen Empfänglichkeit des Impflings vermuthet. Die Geschwüre verdanken ihre Entstehung allemal und nur einer von aussen kommenden Schädlichkeit. Leichter bilden sie sich, wenn eine lebhafte Entzündung an den Impfpocken schon besteht; so beobachtet man die Geschwüre zu­meist in den heissen Sommermonaten, ferner wenn die Impfpocken zu dicht gesetzt sind und confluiren, oder wenn lange und tiefe Impfschnitte gemacht wurden. Sie waren im St. Petersburger Findel-
1) Eine sehr merkwürdige, aber ganz unaufgeklärte Pustelkrankheit nach der Impfung beschreiben Bernouilli u. Schneider, Corresp.-Bl. für Schweizer Aerzte, 1S72. 12 u. 13.
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Pathologie der Vaccine. Vaccinegeschwür. Adenitis axillaris.nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp;167
hause so lange eine ungemein häufige Plage, als man es liehte, die eiternden Pusteln mit Zinkblumen und Bärlapsamen zu bestreuen, und so dicke Schwarten zu erzeugen, unter welchen der Eiter stand und faulte. Da sich die Vaccinegeschwüre fast immer während des Stadium pustulosum zu bilden anfangen, nachdem die allgemeine Infection des Körpers vollendet ist, so vernichten sie keineswegs die Schutzkraft der betroffenen Pusteln, hinterlassen auch meist charakteristische Narben, welche nimmer vergehen, und durch ihre Grosse, wie durch den schwielig höckrigen Boden auf ihre Genese zurückweisen. Schonung, Reinlichkeit und eine reizende Salbe (aus weissem Präcipitat), oder eine Höllensteinlösung bringen die Geschwüre zum schnellen Ver-schluss. Dass dieselben zu jeder Destruction (Phagedaena, Diphthe-ritis, Brand) Veranlassung geben können, hat mit ihrem vaccinalen Ursprünge nichts zu schaffen.
Adenitis axillaris.
Selten überschreitet die entzündliche Anschwellung der Achsel­drüsen das übliche Maass, noch seltener vereitern dieselben. Unter 20135 Fällen (s. die Geschichte der Vaccination in Böhmen) kam 297 mal eine erhebliche Achseldrüsengeschwulst und 14 mal Ver­eiterung vor. Bemerkenswerth ist, dass die Achseldrüsen weit deut­licher und empfindlicher bei den revaccinirten Erwachsenen sich be-theiligen, als bei der ersten Jugendimpfung.
Die Gangräneseenz der ulcerirteu Pusteln,
ihre Umwandlung in einen schwarzen, übelriechenden Brandschorf wurde bisher nur an sehr jungen, elenden Findelhauskindern beob­achtet, welche besser ungeimpft geblieben wären.
Das Impferysipell).
Der Rothlauf, die wichtigste Erkrankung in Folge der Vaccina­tion, kann, nach den ziemlich umfangreichen Uebersichteu2), an jedem
1
1)nbsp; Die ZaUen für die in diesem Abschnitte enthaltenen Thatsachen finden sich in meiner Arbeit: Das Impferysipel und seine Bedeutung für die Erysipelas-lehre. Jahrb. f. Kinderheilk. N. F. 1875. VIII.
2)nbsp; Rauchfuss in Compto-rendu med. sur la maison impör. des enfants trouves de St. Pütersbom-g pour 1S()4. St. Pctersb. 1867. — Vergl. auch Doepp. Vermischte Abhandlungen Petersburger Aerzte, Bd. V. S. 325, und Geschichte der Vaccination in Böhmen. Schmidt's Jahrbücher, 1849. Bd. 04.
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der ersten 21 Tage nach der Impfung, vereinzelt auch noch in einer späteren Zeit, hinzutreten. Doch beginnt seine eigentliche Periode mit dem 8. Tage, und die zweite Impfwoche liefert die unverhält-mässig häufigsten Erkrankungen.
Die Privat- und die öffentlichen Gesammt-Impfungen werden im Ganzen selten durch den Rothlauf gefährdet'), obgleich sogar Bei­spiele von kleinen Epidemien unter der freilebenden Bevölkerung nicht fehlen 2), dagegen sind die Findelhäuser die eigentliche Heimath des Impferysipels, und die Vaccination bildet hier, wo bekanntlich auch die nicht vaccinirten Insassen dem Rothlauf häufig anheim­fallen, die fruchtbarste Gelegenheitsursache. Es darf freilich nicht übersehen werden, wie das Vorkommen des Impferysipels in diesen Anstalten, zum grossen Theile, von deren hygieinischen und administrativen Einrichtungen und Missständen bestimmt wird.8)
Was den Einfluss der verschiedenen Lympharten auf das Ent­stehen der Rose anbetrifft, so überzeugte sich Froebelius, dass es ziemlich gleichgültig war, ob man den alten Jenner'schen Stoff, oder die Retrovaccine, oder endlich die animale Lymphe benutzt hatte. Dagegen scheint die originäre Lymphe viel häufiger von Rothlauf gefolgt zu sein, als die humanisirte, und die längere Zeit aulbewahrte humanisirte Lymphe öfter Gelegenheit dazu zu geben, als die Impfimg von Arm zu Arm.
Die Vaccine kann auf jeder Stufe ihres Verlaufs zu einem Herde des Rothlaufs werden, welcher demnach von den Impfstichen, den Knötclien, den Bläschen, oder den Pusteln, oder endlich von der normalen Eiterungsflächc unter den Krusten, und von den etwa zurückbleibenden pathologischen Impfgeschwüren sich entwickelt. Doch flammt derselbe wol niemals an allen vor­handenen Impfstellen auf, sondern immer an einigen wenigen, die bald benachbart, bald getrennt in der Reihe sich befinden. Sind beide Arme geimpft, so wird überwiegend nur einer vom Erysipel befallen. In 141 Beobachtungen erkrankte 111 mal ein Arm, 30 mal beide (Rauchfuss).
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1)nbsp; Unter 48,712 Impflingen in Würtemberg im J. IS70 kam 1 Erysip.migrans vor. Reuss, Jahresber. für 1872 von Hirsch und Virchow.
2)nbsp; Joseph, Berlin, klin. Wochenschr. 1804. Nr. 6. — Eulenberg, Viertel-jahrsehr. f. ger. Med. u. off. Sanitätswesen, 1872. S. 129.
3)nbsp; Dr. Fürth, Beobachtungen über das Erysip. der Neugeb. Jahrb. f. Kinder-heilk. VII. Wien 1865. — Blumenthal u. Golitzinski, Jahresbericht. ibidemV. Wien 18G2. S. 227. — Froebelius, Eine geschichtliche Notiz über die Vaccin. im St. Petersb. Findelhause. St. Tetersb. mod. Zeitschr. VIII. 1508.
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Pathologie der Vaccine. Das Impferysipel.nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp;169
Als vaccinale Rothläufe müssen aber ^uch diejenigen bezeielmet werden, welche nicht hart an den Impfstellen entspringen, sondern welche, die letzteren freilassend, an einer beliebigen anderen, näheren oder ferneren, Körperstelle auftauchen, am Kopfe, Stamm, dem Hypogastrium, den Genitalien n. s. w. Irrthümlicherweise sind die­selben als zufällige „Erysipele in vaccinatisquot; von dem sog. echten „E. vaccinatoriumquot; unterschieden worden. Was das Vcrhältniss dieser beiden Formen betrifft, so ging, unter 192 Impflingen, welche von 1854—1863 im Wiener Findelhause an Eose erkrankten, dieselbe 164 mal von den Impfstellen und 28 mal von anderen Körper-theileu aus.')
Der Rothlauf bleibt auf den geimpften Arm beschränkt, und hält dann, wie die meisten Gesichtserysipele, einen gewissen, durch die Lokalität gegebenen Typus ein (E. local is at um) — oder er verlässt alsbald die Extremität, und nimmt, über den Kopf, den Stamm u. s. w. fortwandernd, den regellosen Charakter des E. migrans an; selten wird die ganze Körperoberfläche in den Process hineingezogen. Unter den 256 Fällen von Rauchfuss waren 59 lokalisirte und 97 wandernde Erysipele. Nach demselben Arzte haben die Erysipele, welche gleichzeitig von beiden geimpften Armen ausgehen, eine viel stärkere Neigung zumMigriren; unter 30 Fällen dieser Kategorie waren 22 wandernde und 8 begrenzte Rothläufe, während unter den 111 einseitigen Rothläufen 67 migrirende und 44 lokalisirte sich befanden.
Erysipelas localisatum. Unter den Erscheinungen eines sehr lebhaft einsetzenden Fiebers strahlt von der Impfstelle eine feurige Röthe nach allen Richtungen hin aus. Den ersten Tag ver­breitet sich dieselbe bis gegen den Ellenbogen, am zweiten Tage überzieht sie diesen, sowie das obere Drittel des Vorderarms, den dritten Tag wandert der Eothlauf bis auf den Handrücken herab und die Finger werden ödematös; am vierten Tage ist die ganze Hand roth und geschwollen. Während dieser Zeit sind die vorher ergriffenen Stellen erbleicht, aber die Röthe und das Oedem der Hand erhalten sich relativ länger, zuweilen drei Tage und mehr, obgleich die Röthe livid wird und die Körpertemperatur abgefallen ist. Nach erloschenem Process schuppt die Haut mehr oder weniger deutlieh, namentlich an den Fingern, ab, und es bleiben mitunter zerstreute Verhärtungen im subcutanen Gewebe des Armes noch einige Zeit zurück. Die Lymphdrüsen in der benachbarten Axilla sind immer angelaufen, zuweilen sehr beträchtlich, und können in Ver-
1) Auspitz, Wiener medic. quot;Wochenschr., 1873. Nr. 5.
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170nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; V. Die Symptomatologie der geimpften Kuhpocken.
eiterung tibergehen; auch Abscesse an anderen Stellen des Armes (vornehmlich am Ellenbogen) werden beobachtet. In der Mehrzahl der Fälle trifft die höchste Temperatur (39,3deg;—40,1deg; C.) auf die ersten drei Tage, am vierten beginnt sie zu fallen, und gelangt am fünften aufs Normale, bisweilen selbst ein wenig darunter (36,4—5deg; C). Die Dauer dieses Erysipels betrug, in 57 Fällen, 39 mal 4 Tage, und IS mal 5—7 Tage.
Das Erysipelas migrans verbreitet sich, gleichfalls meist direct von der Impfstelle aus, sowol abwärts den Arm entlang, als aufwärts über Hals und Kopf nach der Brust und dem Rücken. Mit dem Stamm werden gewöhnlich die Genitalien ergriffen, welche von einem acuten Oedem zu enormer Dicke aufschwellen, und deren Haut häufig auf grösseren Strecken sphacelös abstirbt. Vom Stamm aus kann das Erysipel zu den unteren Extremitäten gelangen, und so allmählich die ganze Körperoberfläche beziehen, und denselben Weg auf- und abwärts wiederholen. Zuweilen ruht es mehrere Tage an einer Stelle, ehe es seine Wanderung fortsetzt. Während der­selben werden die früher befallenen Stellen frei, oder bleiben ge­schwollen, hart und bläulich. Andremale erscheint das Erysipel, in­dem es gleichzeitig fortschreitet, plötzlich wieder an einem früher bereits ergriffenen Punkte, bald in diffuser Ausbildung, bald in zerstreuten Flecken. Bei rascher Wanderung kann auf einmal s/4 und mehr der ganzen Körperfläehe befallen sein. Die Dauer des E. migrans schwankt erheblich, und man sah es sechs Wochen lang herumziehen.
Ob das Impferysipel beschränkt bleibt oder wandert, die Ent­zündung ist im Allgemeinen heftiger, als beim gewöhnlichen Roth­lauf, und dringt tiefer in die Haut ein; es bleibt häufig nicht beim entzündlichen Oedem des subcutanen Gewebes, sondern die Geschwulst * ist hart und dunkelroth, und der Ausgang in herdweise Vereiterung nicht selten. Selbst wo es nicht dazu kommt, deutet der bläuliche Schimmer der Haut, die Resistenz der Hautgeschwulst und ihr langes Bestehen auf eine mehr plastische Infiltration. Zöhrer erklärte daher den Vaccine-Rothlauf kurzweg für phlegmonöser Natur, aber es ist kein Grund vorhanden, eine besondere Kategorie des Impf-erysipels als E. phlegmonosum (Rauchfuss) aufzustellen. — Ab-scedirung der Achseldrüsen und fleckweisser Brand sind in besonders schweren Fällen beobachtet worden.nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp;
Die Allgemeinerscheinungen drücken beim Impferysipel fast allemal ein schweres Leiden aus. Dem deutlichen initialen Frost, oder einem blos allgemeinen Erkalten folgt anhaltende
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brennende Fieberhitze; die Kinder sind anfangs gewaltig aufgeregt, voller Durst und erbrechen wiederholt; später liegen sie abgespannt, meist unbeweglich platt auf dem Rücken, um das erkrankte Glied zu schonen; Recidive werden von erneutem Erbrechen angekündigt oder eingeleitet.
Die Temperaturcurve hat im vaccinalen Erysipelas gar nichts Typisches, dasselbe mag auf dem Arme seine Begrenzung finden, oder über den Körper fortwandern. In deutlicher Uebereiustimmung (um nicht Abhängigkeit zu sagen) schliesst sich die Temperatur dem Gange der Hautentzündung an: der Eintritt des Erysipels, sowie jeder rapide Fortschritt, oder das Wiederauftauchen desselben an früher befallenen und bereits frei gewordenen Stellen ist durch eine schnelle und starke Erhebung der Quecksilbersäule bezeichnet, wäh­rend dieselbe bei langsamer Wanderung des Rothlaufs in niedrigem febrilen Graden schwankt, und rasch oder allmählich sinkt, wenn derselbe innehält. Bei stetigem Fortschreiten des Erysipels bildet demnach die Curve ein ununterbrochenes Zickzack täglicher Er­hebungen und Senkungen; das stossweisse Fortrücken, die plötz­lichen Recidive spiegeln sich in den unregelmässigeu, ruckweisen hohen Steigerungen, nach tieferen und längeren Abfällen, wieder. Erhebung und Abfall treffen bald auf den Morgen, bald auf den Abend, während beim traumatischen Erysipel (siehe die Temperatur-curven bei R. Volk mann ')) die Exacerbation stets auf den Abend und die Remission in den Morgen fiel.
Die thermometrischen Maxima liegen beim vaccinalen Erysipelas zwischen 40 und 41deg; C, und werden, wie bei der Gesichtsrose (Wunderlich) und beim Wundrothlauf (Volkmann), fast aus-schliesslich in den ersten Tagen erreicht. In den schweren Fällen sind die Remissionen schwach; von günstiger Prognose sind die starken, durch ein paar Grade bis zum Normalen, oder unter dasselbe gehenden. Allein auch ein solch tiefer Abfall bedeutet keineswegs immer die definitive Beendigung des Processes, der in jedem Augen­blicke wieder aufflammen und das Quecksilber, innerhalb 12 Stun­den, von 37deg; bis zu 40deg; hinauftreiben kann. Der definitive Abfall erfolgt entweder jäh in 24 Stunden, oder allmäblich während mehrerer Tage; letzteres in der Mehrzahl der genesenden Fälle.
Bei sehr jungen schwächlichen Kindern fand Rauchfuss wahre Collapsustemperatureu, und sank die Temperatur zuweilen gleich an­fangs unter die Norm.
1) Pitha u. Billroth. Handb. der allg. u. spec. Chirurgie, 3. Bd. 1872.
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172nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp;• V. Die Symptomatologie der geimpften Kuhpocken.
Die Schwere der Erkrankung hängt von der Ausdehnung und Dauer der Hautentzündung, und von der Höhe der Temperatur ah. Wie in manchen anderen Krankheiten sind weniger die äussersten Grade, als die anhaltend hohe Temperatur mit schwachen Remis­sionen zu fürchten.
Die Mortalität ist ausser- und innerhalb der Impfanstalten eine sehr verschiedene; dort ist der günstige Ausgang die glückliche Regel, hier fast das Gegentheil, namentlich beim wandernden Erysipel. Nach Bauehfus s betrug die Sterblichkeit bei dem lokalisirten Roth­lauf 17,5 Proc, bei dem E. ambulans 67,3 Proc. Erschöpfung und eine Reihe von Entzündungen,.namentlich der Brustorgaue, tödteten die Kinder. Von 183 Impferysipeleu, welche 1854^—64 im Wiener Findelhause vorkamen, starben 57 = 31,47 Proc, oder der 176ste Impfling überhaupt (Fürth). Nebenher sei bemerkt, dass der von der Impfstelle ausgehende Rothlauf eine erheblich geringere Gefähr­lichkeit besitzt, als jener, welcher sich an einer andern Körperstelle entspinnt; das Verhältniss hat Au spitz wie 28,5:47,5 berechnet. Viel weniger ungünstig verläuft der Rothlauf in der freilebenden Be­völkerung; so fielen ihm in Wiirtemberg, innerhalb 14 Jahren (1854 bis 68), unter mehr als einer halben Million von Impflingen nur 4 zum Opfer (Cless1)).
Wenn die Vaccination um und in Boston im Jahre 1850 so häufig Rothlanf zur Folge hatte, dass man vielfach vom Impfen ganz abstand, und selbst revaccinirte Erwachsene an Rose starben, so hat es sich da um andere Dinge gehandelt, worüber später.
Die Forschung nach den Ursachen des Impferysipels führt zu einigen Thatsachen, welche auch für die Aetiologie des gewöhn­lichen Erysipels nicht gleichgültig sein dürften. Ein Blick auf die sehr verschiedenen Stadien der Vaccine, in welchen der Rothlauf sich ihr zugesellt, lässt von vornherein eine Ungleichheit der ätio­logischen Bedingungen vermuthen. Und zwar sind es drei wol unterschiedene Kategorien, in welche, von diesem Gesichtspunkte aus, das Impferysipelas zerfällt. Dasselbe tritt
1) innerhalb der drei ersten 24 Stunden nach der Impfung auf, gemeinhin am ersten oder zweiten Tage. Es geht hier von den Einstichen zu einer Zeit aus, wo dieselben noch keinerlei speeifische Efflorescenzen gebildet haben, und eine derartige Bildung unter-
1) Impfung und Pocken in Wiirtemberg. Stuttgart 1S71. Nach amtlichen Quellen bearbeitet.
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bleibt in diesen Fällen überliaupt, weil die Stichkanäle gewöhnlich vereitern.
2)nbsp; Der Rothlauf nimmt seinen Ausgang von den normal ent­wickelten Jenner'schen Bläschen, selten zwischen dem fünften und siebenten Tage, überwiegend innerhalb des achten und zehnten Tages.
3)nbsp; Der specifische Vaccineprocess ist abgelaufen, und das Erysipel geht in der dritten oder vierten Woche von der allmählich verhei­lenden Geschwürsfiäche des Pustelgrundes, oder von den patho­logischen Entartungen derselben aus.
Diese dritte Kategorie fesselt uns hier nicht, weil sie sich von dem gewöhnlichen Rothlaufe, welchem jede Wunde bis zur Ver-heilung anheimfallen kann, in nichts unterscheidet, während es übereilt wäre, auch die beiden andern Kategorien kurzweg zu den Wund-eiysipelen zu stellen. Die erste dieser Kategorien kann als vacci-nales Früherysipel, die zweite als vaccinales Späterysipel bezeichnet werden.
Betrachten wir zunächst die häufigere Form '), das Spät-erysipelas, welches, der zweiten Impfwoche angehörend, an eine gesetzmässige Erscheinung im Vaccineprocess anknüpft, auf die wir zurückgreifen müssen, weil ihre Beziehung zum Erysipel nicht ge­nügend gewürdigt ist.
Nachdem die Impfstiche am dritten oder vierten Tage ange­schwollen sind, wird jedes Knötchen sehr bald von einem sehmalen rothen Saum eingefasst, welcher einem gewöhnlichen Entzündungs­hofe gleicht. Allein bald nach der Zeit, wo das Knötchen eine lympherfüllte Spitze erhalten hat, am fünften Tage, deutlicher noch am sechsten und siebenten, lässt der inzwischen breiter gewordene Hof eine doppelte Zone erkennen, jenen Innern, dunkelrothen Ring, welcher das Jenner'sche Bläschen dicht umschliesst, und einen äussern lichtem Kreis, der nach allen Seiten hin diffus aus­strahlt. Kami zu dieser Zeit noch ein Zweifel über die Bedeutung dieses äusseren Hofes bestehen, so geben die nächsten Tage die be­stimmteste Aufklärung. Denn die breite, mit einem wallartigen Rande abschliessende, feurig glänzende und geschwollene Areola, zu welcher er sich am achten oder neunten Tage entwickelt, und welche jede einzelne Pocke umgibt, noch mehr das entzündliehe, scharf abgesetzte Hautplateau, das aus dem Zusammenfluss mehrerer solcher
1) Sie wurde, am frühesten in der Literatur bekannt, schon von W. Walla­ston, J. Griffith, J. Pearson, Will an u. A. in den ersten Jahren des lau­fenden Säculums beschrieben.
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benachbarter Areolen liervorgegangen ist, bietet das vollendete Bild des Erysipelas m arginatmn dar — eines Erysipelas demnach, welches am fünften Tage schwach begonnen, und nach mehrtägiger Wanderung und Ausbildung am neunten Tage spontan sich begrenzt hat. Es fehlen häufig sogar die von dem Hauptherde getrennten erysipelatösen Flecken oder Inseln in der Nachbarschaft nicht, wie sie beim gewöhnlichen Rothlauf vorkommen.
Das Erysipel hat einen kurzen Bestand von etwa 2-1—36 Stunden; geht es vom zehnten Tage ab zurück, dann löst sich die gleieli-mässige Röthe desselben wieder in jene ursprünglichen zwei Zonen auf; die äussere erblasst, und macht einer gelbbräunlichen Pigmen-tirung Platz, während sich der innere Entziindungshof, um die in­zwischen verschwärende Pustel, noch mehrere Tage lebhaft erhält.
Wie seine Dauer, hat auch der Umfang des eben bezeichneten Erysipels eine gewisse Grosse, welche mehrere Centimeter nicht zu überschreiten pflegt.
Nur Jenner und Sacco haben der Areola der Impfpocken den Charakter des Rothlaufs entschieden zuerkannt, während die späteren Schriftsteller jene Entzündung blos als eine rosenartige be­zeichneten.
Wir werden daher nicht umhin können, diesen Rothlauf, wie er jede legitim verlaufende Impfung begleitet, als zum Wesen des Vaccineprocesses gehörig zu betrachten; weil derselbe stets von den Pockenblüschen (und zwar von allen vorhandenen) ausgeht, muss seine Ursache in diesen eingeschlossen sein, und da er zu einer Zeit sich entwickelt, wo der Bläscheninhalt in seiner specifischen Integrität sich befindet, kann es nur die normale Vaccinelymphe sein, welche diesen Rothlauf anfacht. Die reine klare Lymphe eines echten Jenner'schen Bläschens besitzt demnach eine Erysipelas erzeugende Kraft. Sie gleicht auch hierin der Variolalymphe.
Gleichzeitig und parallel mit der vom fünften bis achten Tage erfolgenden Entwickelung des Rothlaufs auf der Haut geht nun ein zweiter, innerer Process, die Infection des Organismus, ein­her, welcher durch das allmähliche Ansteigen der Eigenwärme gekenn­zeichnet wird. So müssen wir denn sagen, dass dasselbe Agens, welches die Blutmasse inficirt, zu gleicher Zeit vergiftend auf die Haut in der Umgebung der Impfpocke einwirkt, dass sich, mit andern Worten, die Infection des Körpers unter dem Bilde eines Erysipelas vollzieht; wo Eins ausbleibt, erfolgt das Andere nicht.
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Pathologie der Vaccine. Das Impferysipel.nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp;175
Die erysipelatöse Hautentzündung weicht, normaler Weise, am neunten und zehnten Tage rasch zurück, also gerade dann, wenn der klare Inhalt der Bläsehen trübe wird, und mit der reichlichen Zellenbildung in ihrem Innern der Umfang der Pocken sogar zu­nimmt. Diese eitrige Metamorphose der Vaccinen kann folglich nicht die Ursache jenes Erysipels sein, wie gemeinhin angegeben wird — im Gegentheile, jene Umwandlung der klaren Lymphe, welche erfahrungsgemäss ihre specifische Wirksamkeit vermindert, hebt zu­gleich ihre Fähigkeit auf, den Rothlauf, welchen sie vorfindet, zu unterhalten.
Muss, nach dieser Darstellung, die von den Impfpocken aus­gehende gesetzmässige Hautentzündung als eine echt erysipe­latöse, und dieses, in Dauer und Umfang beschränkte, Ery-sipel als ein nothwendiges Attribut des Vaccineprocesses angesehen werden, dann ist das, stets an die „Areolaquot; anknüpfende Impferysipel der P athologen kein neuer Process, der hinzutritt, sondern nur die Ausschreitung oder ein Recidiv des bestehenden gesetzmässigen. Um Eins oder das Andere zu bewirken, darf aber kein neuer, besonderer Giftstoff herangezogen werden, sondern es sind, wie die Beobachtung lehrt, örtliche Reize der allgemeinsten Art hinreichend, um die von der Vaccine eingeleitete erysipelatöse Hautentzündung zu unterhalten und fortzuführen. Es geht hier ähnlieh wie im Darmtyphus: der Diätfehler des heisshungerigen Recon-valescenten als solcher macht keinen Rückfall, sondern gibt nur den Reiz ab, welcher den noch nicht erloschenen Process auf der Darm­schleimhaut zu frischer Thätigkeit steigert.
Dass es enge lokalisirte Schädlichkeiten sind, welche das Ausschreiten des Impferysipels veranlassen, erhellt aus dem be­reits erwähnten Umstände, wonach dasselbe niemals von allen, son­dern immer nur von einzelnen Impfpocken entspringt.
Lehrreich sind hier die Mittheilungen aus dem St. Petersburger Findelhause, wo der Rothlauf in früheren Zeiten eine unerhörte Fre­quenz erreicht hatte. Doepp hatte, als eine höchst wahrscheinliche Ursache die zu frühe Impfung der Säuglinge ansehend, minder traurige Resultate erlangt, als die Vaccination vom 7. und 8. auf den 14. Lebenstag der Findlinge hinausgeschoben war. Trotzdem fielen noch 3,6 pCt. aller Geimpften dem Rothlaut anheim, und erst sein Nachfolger Froebelius vermochte diese Ziffer, im Laufe von fünf Jahren, allmählich auf 1,1 pCt. herabzudrttcken, und zwar durch folgende einfache Massnahmen.
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176nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; V. Die Symptomatologie der geimpften Kuhpocken.
Er ordnete eine dem zarten Kindesalter angemessene Hautpflege durch tägliches Baden der Neugeborenen au, was früher strenge rer-pönt gewesen war. Die schwächlichen und frühgeborenen Kinder, welche ehemals vornehmlich die Beute des Erysipels geworden waren, blieben fortan von der Vaccination ausgeschlossen, bis sie hinreichend gekräftigt erschienen. Die Zahl der Impfstiche wurde für jeden Arm von sechs auf drei herabgesetzt. Es hatte femer ein Ende die rück­sichtslose Ausnutzung der Impfpusteln seitens des Feldscheers, welcher die unzart geötfneten Pocken so lange mit der Lanzette abschabte, als nur ein Tropfen Lymphe herauskam, und ward das Amt, die Lymphe abzunehmen und zu sammeln, den Aerzten des Hauses an­vertraut. Ebenso hörte die früher übliche Misshandlung der ge­öffneten Pusteln auf, welche mit einem Pulver aus Zinkblumen und Bärlapsamen dick bestreut wurden, wodurch eine Schwarte sich bildete, unter der beim Fingerdruck gewöhnlich stinkender Eiter hervorquoll.
Man erkennt hieraus, dass es sehr verschiedenartige Ein­flüsse gewesen waren, welche den Excess des normalen Impferysipels so häufig zur Folge gehabt hatten, und wie deren blosse successive Abstellung genügte, um eine allmählige Verminderung der Compli­cation zu bewirken. Und alle genannten Momente (die vernach­lässigte Hautpflege, ein zu zartes Lebensalter, die schwächliche Constitution der Impflinge, die zu grosse Zahl der Impfstiche, die Misshandlung der Impfpocken) — sie haben an sich nichts beson­deres, was sie auszeichnete, und keinen gemeinsamen oder gar speciiischen Punkt, welcher sie zu Schädlichkeiten Einer Klasse ver­bände, sondern mau kann nur sagen, dass das eigenthümlich empfind­liche Hautorgan, und die starken mechanischen und chemischen Reizungen derCutis sich geeignet erwiesen, dem gesetzmässigen, beschränkten Vorgange eine krankhafte Steigerung zu geben.
Ganz anders als bei diesen erst später hinzukommenden Ery-sipelen liegt die Sache bei denjenigen, welche dem Acte der Impfung auf dem Fusse nachfolgen. Der Hergang ist hier der, dass sich die Stichpunkte, nach geschehener Operation, sofort und weit über das gewöhnliche Maass entzünden, und dass von den Entzündungshöfen aus, innerhalb der ersten 12 — 30 Stunden, ein Eothlauf, unter Erbrechen und stürmischen Fiebererscheinungen, seinen Anfang nimmt. Die Stichwunden gehen geraden Weges, oder durch Vermittelung von eitrigen Bläschen, in rundliche, grubige Ge­schwüre über, während sich der Rothlauf mehr oder weniger weit über den Arm, oder über den ganzen Körper ausdehnt. Die Impf-
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Pathologie der Vaccine. Das Impferysipel.nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp;177
geschwüre eitern gewöhnlich lange, ehe sie zu punktförmigen Narhen sich zusammenziehen.
Die Dauer dieser Früherysipele ist eine sehr verschiedene. In den sieben Fällen, welche ich beobachtete, schritt der Rothlauf nur einmal, fünf Tage lang, allmählich bis zu den Fingern vor, bei den übrigen Impflingen griff er mit erstaunlicher Schnelligkeit auf dem Arme um sich, erreichte aber nach 36 — 48 Stunden, unter nach­lassendem Fieber, seine Grenze. Fast immer begleitete hier eine bedeutende, stellenweise bläuliche Armgeschwulst die Hautentzün­dung, und mehrmals kam es zu zerstreuter herdweiser Eiterbildung, und Aufbruch der Abscesse, theils durch die Impfstiche, theils mehr oder weniger von denselben entfernt. Ein paar Mal dauerte es wochenlang, ehe die Abscesse verheilt waren. In der Literatur sind andrerseits Fälle veröffentlicht, wo der Rothlauf bis 40 Tage lang auf dem Körper umherzog, in denen es gleichfalls zu zerstreuten Eiterungen kam, und wo einzelne Kinder in der zweiten quot;Woche der Krankheit starben.
Es treten uns nun in den Beobachtungen dieses vaccinalen Früh-erysipels (siehe im Anhange) mehrere höchst beachtenswerthe Umstände entgegen. Zunächst wurden aus einer grösseren oder geringeren An­zahl von Kindern, welche gleichzeitig geimpft, und bei welchen dieselbe Lymphe und dieselben Instrumente verwandt worden waren, niemals alle, sondern immer nur einige, manchmal nur ein einziges, die Beute des Rothlaufs, wobei ihr Platz in der Reihe der Geimpften sehr wechselte ')• Sodann ging der Rothlauf stets nur von einem, oder wenigen, bald benachbarten, bald getrennten, Stichpunkteu aus, während die übrigen Einstiche entweder normale Impfpocken trieben, oder, falls sie vereitert waren, rasch verheilten, ohne erysipelatös zu werden. Als das Erstaunlichste musste es wol aber gelten, dass manche von diesen, anscheinend ganz verunglückten Impfungen, trotz der sofortigen Verschwärung sämmtlicher Einstiche, trotz ihrer längereu Eiterung, und trotz des stürmisch fieberhaften Erysipels, das hinzugetreten war, doch Schutz kraft entfaltet hatten, der innere Vaccineprocess also, in der Begleitung und unter dem Drucke scheinbar vernichtender Umstände, seine Bahn verfolgt hatte. (Siehe die Krankengeschichte von W e i s s e in Petersburg und
1) Ein fünfmonatliches Kind z. B. wurde mit 25 anderen von demselben Stamraimpflinge geimpft und erkrankte folgenden Tages an Erysipel, während die übrigen verschont blieben (Garland, Boston med. and surgic. Journ. 1872. Jahresber. von Hirsch u. Virchow pro 1872. II. S. 285).
Bohn, Handbucli der Vaccination.nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; 12
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178nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; V. Die Symptomatologie der geimpften Kuhpocken.
meine beiden Beobachtungen.) In der Mehrzahl der Fälle freilich war der vaccinale Process in der erysipelatösen Erkrankung zu Grunde gegangen.
Wodurch nun kommen diese Friiherysipele zu Stande? Jedenfalls auf eine andere Weise als die späten, und was bei den letzteren keinen Sinn haben kann, nämlich die Anklage gegen den, acht und mehr Tage früher, benutzten Impfstoff, diese Beschul­digung scheint dort vollkommen gerechtfertigt, gleichsam handgreiflich zu sein. So ist denn auch stets eine, von Hause aus schlechte, oder eine verdorbene Lymphe, die Lymphe von scrophulösen, ekzematösen Kindern, oder wie sie sonst charakterisirt sein mag, als die Ursache der vaccinalen Friiherysipele betrachtet worden. Allein eine solche Annahme verfällt unentwirrbaren Widersprüchen. Denn nimmermehr lässt sich mit derselben in Einklang setzen, warum bei den betreffenden Impfungen, wie es fast regelmässig vorge­kommen ist, nur ein Theil der, mit der nämlichen Lymphe und zu derselben Zeit geimpften Kinder, manchmal nur ein einziges, ery-sipelatös erkrankte, warum an den Impfstichen des einen Arms die Kose aufflackerte, und auf dem andern nicht, warum von den Ein­stichen eines Armes nur dieser und jener zum Ausgangspunkte des Rothlaufs wurde, während seine Nachbarn normale Impfpocken trieben, warum endlich selbst da, wo keine legitimen Vaccinen entstanden, und die Stichpunkte sämmtlich vereiterten, trotzdem ein Vaccine-schutz eintreten konnte. Unter solchen Umständen wäre es aben­teuerlich, die Schuld auf die qualitative Beschaffenheit der Lymphe zu wälzen.
Und doch wird man zur Lymphe immer wieder hingedrängt werden, weil der Gang der Dinge bei den Früherysipelen den un­widerstehlichen Eindruck einer directen, örtlichen und allgemeinen Infection macht; der Eothlauf erscheint eingeimpft, und gelangt geraden Weges zum lokalen und constitutio-nellen Ausdruck. Halten wir mm damit zusammen, dass mehr­mals mit derselben Lymphe, welche das Erysipelas einimpfte, auch die speeifische Vaccinewirkung erzielt wurde, so ist die Annahme unabweisbar, dass in solchen Fällen zweierlei unter die Haut ge­bracht worden sei, schutzkräftige Vaccinelymphe und Roth­lauf erzeugender Stoff — und, indem wir den Beobachtungen weiter folgen, wird nicht weniger klar, dass wir einmal nur den einen oder den andern jener beiden Stoffe, und das anderemal beide zusammen auf der Lancette gehabt haben müssen. Wo das möglich
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Pathologie der Vaccine. Das Impferysipel.nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; 179
ist, da müssen der, im Wesentlichen gut beschaffenen, Lymphe die rothlauferzeugenden Stoffe mechanisch beigemengt sein, die wir dann zufällig mit der Lancettspitze auffangen oder nicht.
Eothlauf erzeugende Stoffe sind hier reizende Stoffe, fähig, in der Impfwunde die ruhige Arbeit der Lymphe zu stören, und die traumatische Entzündung um den Einstich zu einer erysipelatösen zu steigern.
Ich bin überzeugt, dass solche mechanische Verunreini­gungen der Lymphe, welche zu Erysipel Veranlassung geben, sehr mannichfaltig sein können. In dreien meiner eigenen Beobachtungen von vaccinalem Früherysipel bleibt kaum etwas Anderes übrig, als eine ungeheure Pilzwucherung in der Lymphe zu beschuldigen. Als ich nämlich kurze Zeit nachher den Inhalt der einzigen, übrig geblie­benen Phiole untersuchte, fand ich in deren Mitte ein weisses, fadiges Gerinnsel, und die Innenwände mit ähnlichen weissen Flocken dicht beschlagen. Das Gerinnsel (welches sich von den gewöhnlich in der Lymphe schwebenden weissen Faserstoffgerinnungen äusserlich nicht unterschied) und die Flocken lösten sich unter dem Mikroskop in zahllose, das ganze Gesichtsfeld ausfüllende Pilze auf. Niemals habe ich, und in viel älteren Lymphen, eine ähnliche Ueberfüllung mit Pilzen gefunden.
Es wird bei künftigen Gelegenheiten auf etwaige andere Ver­unreinigungen der Lymphe, welche zu Früherysipel Veranlassung gegeben hat, zu achten sein.
Auch kann nicht in Abrede gestellt werden, dass mitunter grobe schmutzige Instrumente den Impfwunden eine solche Heizung zufügen können, welche dieselben erysipelatös werden lässt, wie denn be­kanntlich die Impfrose von vielen Aerzten kurzweg den stumpfen, rostigen Lancetten beigemessen wird.
Es ist noch das Schutzvermögen der mit Erysipelas verbundenen Impfungen zu erwägen. Dasselbe fällt verschie­den aus. Gesellt sich der Rothlauf am 7., oder an einem der fol­genden Tage, zu den normal entwickelten Vaccinen, so berührt er nicht im Mindesten deren präservative Kraft, weil der Körper zu dieser Zeit bereits angesteckt ist; das Gleiche gilt von denjenigen Früherysipelen, welche sich nur von den Stichpunkten eines Armes, oder blos von einigen Einstichen entspinnen, während die übrigen zu legitimer Entwickelung kommen. Wo dagegen alle Stichpunkte sofort nach der Impfung verschwären, gleichviel, ob das Früherysipel von sämmtlichen oder nur von einigen ausgeht, da bleibt der Vaccine-
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180nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; V. Die Symptomatologie der geimpften Kuhpocken.
schütz zweifelhaft. In den eigenen Beobachtungen (der dritten und vierten, bei C und D, und in dem Falle von Harder, siehe den Anhang) war das schutzkräftige Princip der Lymphe in dem ge-schwürig-erysipeiatösen Processe völlig untergegangen, so dass die nach 1—3 Monaten erneute Vaccination der Kinder vollständige Re­sultate lieferte, während bei A (zweite Beobachtung) und in der Mittheihmg von We i s s e (im Anhange), trotz der Verschwärung aller Einstiche, und ungeachtet des Eothlaufs, ein gewisser Grad von Schutz gewonnen war. Die Schutzfrage bei den Früherysipelen erle­digt sich folglich dahin, dass solche Impfungen gleich Null zu erachten sind, wenn nicht gleichzeitig eine oder mehrere legitime Impfpocken sich entwickelt haben.
Die Prophylaxe des Impferysipels geht vor Allem die Findel­anstalten an; was hier mit gewissenhafter Umsicht geleistet werden kann, ersieht man aus dem oben vorgeführten Beispiele des St. Peters­burger Instituts. quot;Wenn die Findelhäuser ihre Bewohner vor der Rose überhaupt mehr geschützt haben werden, wird auch das Impf-erysipel aufhören ein Vorwurf derselben zu sein. — Um, bei unseren gewöhnlichen Impfungen, dem Späterysipel zu entgehen, dafür bieten die dort erörterten ätiologischen Momente die nöthigeu Fingerzeige. Misslicher steht es um das Früherysipel, und der Impfarzt wird sich, bei etwaigem Unglücke, mit dem Bewusstsein beruhigen müssen, dass er bei der Auswahl der Lymphe und bei der Operation mit peinlicher Vorsicht verfahren sei. Die Impfung von Arm zu Arm, oder mit sehr frisch gesammelter Lymphe wird in dieser Rücksicht immer zu erstreben sein.
Ist das Erysipel ausgebrochen, so sind die Pusteln, von denen es entsprang, wie eine Wunde, welche sich mit Rothlauf verbindet, zu behandeln; man bedeckt dieselben mit lauem Bleiwasser oder Kataplasmen, und versucht sie zur schnellen Heilung zu bringen. Gegen das Wandern der Rose stehen keine anderen Mittel, als die sonst bekannten, zu Gebote.
Beobachtungen aber vaccinale Fruherysipele.
Erste Beobachtung. Am 28. Aug. 1869 wird die einjährige Meta D., ein fettes Brustkind, direct aus den achttägigen Vaccinen eines gesunden (mir bis heute wohlbekannten) Knaben mit sechs Stichen
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Beobachtungen über vacciuale Früherysipele.nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; 181
geimpft. Am nächsten Tage (29. Aug.) sind die Stichpunkte 2 und 3 entzündlicher geröthet, als die übrigen, Abends tritt lebhaftes Fieber auf. Am 30. August (im Laufe des 2. Tages) findet man von jenen beiden Stichpunkten ein Erysipel ausgegangen, das während des 3. Ta­ges (31. Aug.) bis zur Schulter aufgestiegen, und abwärts den Anfang des Unterarms erreicht hat. Während No. 2 und 3 eitern, sind an den übrigen Einstichen kleine rothe Knötchen entstanden. Hitze und Unruhe haben sich ermässigt. 1. Septbr. (4. Tag). Aufwärts ist das Erysipel nicht weiter gezogen, abwärts aber bis ans Handgelenk ge­drungen. 2. Septbr. (5. Tag). Es hat die Hand beschritten. Immer sehr unruhige Nächte. 3. Septbr. (6. Tag). Unterarm und Handrücken noch beträchtlich geschwollen, doch blässer. Der Rothlauf ist vor den Fingern stehen geblieben. Erst heute (um mindestens 24 Stunden später, als gewöhnlich) haben sich die Knötchen bei No. 1, 4 und 5 in Bläs­chen umgewandelt. Am 4. und 5. September (7. und 8. Tag) sind die Hautröthe und Geschwulst fast ganz von dem kranken Arme gewichen; das Kind, das überhaupt nicht zu schwer gelitten hatte, ziemlich wohl. No. 1, 4 und 5 bleiben in ihrer ferneren regelmässigen Entwickelung immer um einen Tag zurück. Auch Einstich No. 6, der anfangs fehl­zuschlagen schien, treibt nachträglich eine Focke. Die Stichpunkte 2 und 3, von denen das Erysipel ausging, sind am 8. Tage verheilt. Der weitere Verlauf bot nichts Erwähnenswerthes.
Zweite, dritte und vierte Beobachtung. Im Mai 1870 impfte ich von einem mehrmonatlichen gesunden Mädchen direct einen einjährigen Knaben (A), und 20 Stunden später mit der in Glasröhr­chen aufgenommenen Lymphe desselben Mädchens vier andere Kinder, einen fünfmonatl. Knaben und drei Mädchen von 12, 9 und 21/2 Mo­naten, die nach der Reihenfolge, in welcher ihre Impfung geschah, mit B, C, D und E bezeichnet werden mögen. Bei allen fünf Kindern entzündeten sich die Einstiche, im Laufe des ersten Tages, weit über das gewöhnliche Maass, und gingen rasch theils in eitrige Bläschen, theils in offene grubige Geschwürchen mit dunkelrothen diffusen Höfen über. Bei B und E verheilten dieselben allmählich im Laufe der ersten und zweiten Woche, ohne von irgend erheblichen Nebenerscheinungen begleitet zu werden, während bei A, C und D sehr stürmische Allge­meinsymptome und widerwärtige Nachwehen hinzukamen. Denn bei diesen drei Kindern erhob sich, ziemlich übereinstimmend zwölf Stunden nach der Impfung, ein ausserordentlich heftiges Fieber mit Frost, wiederholtem Erbrechen, Schwerathmigkeit und gewaltiger Aufregung, und in den nächsten Stunden ging von den breiten, hier und da lividen Höfen, welche die vereiterten Impfstiche umgaben, ein Rothlauf aus, welcher sich mit grosser Schnelligkeit den Arm herab und aufwärts bis zur Schulter ausdehnte. Das Fieber verminderte sich langsam im Verlaufe der folgenden zweimal 24 Stunden, und mit ihm begann auch die Rose zurückzutreten. Aber bei C und D, zwei dicken Säuglingen, kam es nachträglich zu mehrfachen, näher oder ferner von der Impf­stelle gelegenen Abscessen, welche durch die geschwürigen Impfstiche aufbrachen oder eröffnet werden mussten. Die drei Kinder litten sehr
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182nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp;V. Die Symptomatologie der geimpften Kuhpocken.
schwer, und waren erst nach Wochen von den fatalen Polgen der Impfung erlöst. Ueberall blieben rundliche eingezogene Narben an den Impfstellen zurück.
Um das Ungewöhnliche in dieser Impfgeschichte zu vermehren, bildete sich bei dem Kinde E der sechste, anfangs gleichfalls ver­eiterte Stichpunkt, vom 8. Tage post vaccinationem ab, zu einer regu­lären Kuhpocke aus, welche eine normale Narbe hinterliess, und das Kind schützte, wie die nach drei Monaten erneute, aber fruchtlose Impfung erwies, während die abermalige Vaccination bei dem Knaben A, welcher anfangs dem Kothlauf anheimgefallen war und später noch lange an seinen eiternden Impfwunden zu leiden hatte, einen modifi-cirten Erfolg zeigte, mithin eine, trotz der anscheinend verunglückten ersten Impfung, doch abgestumpfte Empfänglichkeit darlegte. Bei den drei letzten Kindern schlug die zweite Vaccination nach zwei Monaten vortrefflich an, zum Beweise, dass hier die bei der ersten Impfung eingeführte Lymphe vollständig in der Verschwärung der Stichpunkte untergegangen war.
Die Impfung verlief'in allen fünf Fällen abnorm, und doch nicht gleichartig; es war vielmehr eine Art von Stufenleiter in der Schwere der Erkrankungen, der örtlichen und allgemeinen Erscheinungen, vor­handen, und man musste den Eindruck gewinnen, dass es das Weniger und Mehr des giftigen, unter die Haut gebrachten Agens wäre, wovon der Grad der nachfolgenden Störung abhängig war.
Ich habe mich vergeblich bemüht, die Quelle des Unheils auf­zufinden. Der Stammimpfling war ein gesundes Kind, welches Tags zuvor, mit den Pusteln seines anderen Armes, einem Wundarzte zu mehreren, angeblich legitim ablaufenden Impfungen gedient hatte. Einmal, bei A, war die achttägige Lymphe von Arm zu Arm über­tragen, in den vier übrigen Fällen nach etwa 20 stündiger gewöhn­licher Aufbewahrung. Das Kind A war mit einer, und die vier übrigen mit einer anderen sauberen, scharfen Lancette geimpft worden. In dem Inhalte der einzigen übrig behaltenen Phiole fand ich einige Zeit nachher, wie oben schon mitgetheilt ist, die enorme Pilzwucherung.
Aehnlich, wie die vorhergehenden, verlief eine fünfte, sechste und siebente Beobachtung von Früherysipel, welche ich im Juni 1872 machte. Der Impfstoff mochte ein paar Monate alt sein, und war mir von einem Collegen, der sich dem Impfen und Lymphe­sammeln seit vielen Jahren widmet, tibergeben worden. Bei allen drei Kindem folgte die Rose dem Impfacte in den ersten 24 Stunden nach, war aber von massigen Allgemeinerscheinungen begleitet, und begrenzte sich bald; es trat nirgends Abscedirung auf, wenn auch
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Beobachtungen über vaccinale Früherysipele.nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp;183
die Einstiche lange Zeit zur Verheilung beanspruchten. Bei dem einen Kinde brachte die wiederholte Impfung modificirte Pocken zu Wege, und bestätigte, was ich bereits erfahren hatte, dass die, allem Anscheine nach verfehlte Erstimpfung, nicht eindrucklos an dem Kinde vorübergegangen war.
Harder (Vermischte Abhandlungen Petersburger Aerzte. 1823.). Ein zweimonatliches Kind wird mit klarer, nur eine Stunde vorher (am 7. Tage) abgenommener Lymphe eines gesunden Kindes mit drei sehr flachen Stichen am Oberarm geimpft. In der Nacht vom 2.—3. Tage (im Laufe der zweiten 24 Stunden) Unruhe, heftiges Fieber, krampfhaftes Aufschrecken, schneller Athem, Durst. Wenige Stunden später eine hart an den Impfstellen entspringende Rose. Die Impf­stiche waren am 3. Tage kleine Pustelchen, welche am 4. vertrock­neten und dann verschorften.
Der Rothlauf ging schnell bis über das Schultergelenk hinaus, eilte am 4. Tage den Oberarm herunter, am 5. auf den Vorderarm, und am C. bis zu den Pingerspitzen herab. Das Allgemeinleiden war schwer. Gegen den 1 2. Tag minderte sich die Entzündung, und auch die Geschwulst hatte bis zum 14. Tage nachgelassen. Am 25. Tage brach ein Abscess am vordem Rande des Oberarms auf, von dem am 26. Tage eine neue Rose ihren Ausgang nahm, welche bis zum Nacken, auf die Wange, und abwärts über die Brust bis zum Unterleibe, und gleichzeitig auch wieder den Arm entlang bis zu den Fingerspitzen wanderte (35. Tag). Erst am 42. Tage war Alles vorüber, und das Kind erholte sich rasch. Einen Monat später ward auf demselben Arme die Vaccination mit gutem Erfolge wiederholt.
Weisse in Petersburg (ibid.): Sechsmonatliches Kind — drei Stiche an jedem Oberarm — gute Lymphe. Schon in der folgenden Nacht fieberhafte Unruhe und Erbrechen. Am 2. Tage fand man sehr starke Reaction an den Impfstichen, und am linken Arm einen Rothlauf von mehreren Zollen im Umfange. Das Fieber und Erbrechen dauerte fort. Am 3. Tage schreitet die Rose nach oben und unten weiter, um am 4. abzunehmen und bis zum 7. ziemlich spurlos zu verschwinden. Fünf Einstiche waren in nässende Geschwürchen verwandelt, welche erst am 14. Tage ohne charakteristische Krusten und Narben ver­heilten.
Am 9. Tage abermals Fieber und Erbrechen, und ein Recidiv des Erysipels, etwa an den Stellen, wo dasselbe vorhin stehen geblieben war; es bildete sich in 2 Tagen zurück.
Am 14. Tage kam ein dritter Rückfall, aber jetzt auf dem rechten Arm in der Nähe der Pockenpusteln, er dauerte dreimal 24 Stunden.
Dr. E. Ballard (Med. Times and Gaz. 1869) impfte aus den achttägigen normalen Pusteln eines gesunden Mädchens hintereinander 11 Kinder. Bei dem Stammimpflinge brach zwei Tage später (am 10. Tage post vaccinationem) ein Rothlauf aus, welcher über den Arm
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und den Stamm bis zum Nabel ging. Zwei der Impflinge, das dritte und siebente Kind in der Eeihe, erkrankten gleichfalls an Erysipelas, das eine am Impftage selbst, das andere am nächstfolgenden, beide früher, als der Stammimpfling. Das erste starb am 11. Tage an weit umherwanderndem Erysipel. Bei den übrigen 9 Kindern schlug die Impfung einen vollkommen normalen Verlauf ein.
Correspondenzbl. des würtemb. ärztl. Vereins. 1S71. No. 27. Sieben Kinder erkrankten in der Nacht nach der Impfung an Fieber u. s. w. und Erysipel, das sich bei den meisten über Brust, Arme und Rücken verbreitete. Eines starb.
Die Pyllmie und Septicümie
nach der Impfung kennen wir fast nur aus den Findelhäusern. Die erstere folgte, wie Bednar berichtet, mehrmals unmittelbar auf die Vaccination der Neugeborenen, ebenso wie sie der Variola sich an-schliessen kann1). Kauchfuss2) erwähnt sechs Fälle von Septi-cämie bei Kindern von 3 bis 6 Wochen, wo die Krankheit 1 bis 12 Tage nach der Impfung sich manifestirte, und in 1 Va bis 9 Tagen tödtlich schloss. Dreimal kam im Anfange ein Erysipel dabei vor. Die Veränderungen in den Leichen bestanden vornehmlich in Ent­zündung der serösen Häute, der Meningen und Pleura. „ Es ist sehr schwer, fügt er hinzu, die Fälle von Erysipelas post vaccin., welche einen septicämischen Charakter tragen, exact von den Fällen reiner Septicämie zu trennen.quot;
Aehnliche Erkrankungen bei der Revaccination Erwachsener sind neuerdings von dem Ostreich. Militärarzt Kr ügkula mitgetheilt worden. Im März 1874 wurden in Ossiach mit einer aus einem Findelhaus bezogenen Lymphe 8 Dragoner geimpft. Davon blieben bei zwei Mann die Impfungen ohne jeden Erfolg. Die übrigen sechs, bei denen sehr rasch Knötchen und Pusteln an den Impf­stellen auftraten, erkrankten schon nach 24 Stunden mit Schüttelfrost, heftigem Fieber, Erbrechen, grosser Hinfälligkeit und Delirien, und es erschien am 2.—4. Tage nach der Impfung eine erysipelatös-phleg-monöse Entzündung an den Oberarmen, bei einigen, einseitig, bei
1)nbsp; Bednar, Krankheiten der Neugeborenen und Säuglinge. Wien 1S53. IV. Theil.
2)nbsp; Rauchfuss in Compte-rendu med. sur la maison impdir. des enf. trouv. de St. Petersbourg pour 1S64. St. Petersh. 1867.
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Complicationen der Vaccine.nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp;185
anderen beiderseits, die nach einigen Tagen in Gangrän überging. Vier von den Kranken starben, zwei genasen. — Aus derselben Quelle waren gleichzeitig 9 Phiolen mit Lymphe bezogen, deren Verwendung keinerlei krankhafte Erscheinungen bei den Vaccinirten und Kevaccinirten zur Folge gehabt hatte ').
Complicationen der Vaccine.
Chronische uud acute Krankheiten, und ihr Einfluss auf die Vaccine.
Nur wenn die constitutionellen Störungen, mit welchen die Impflinge behaftet sind, zu einem erheblichen Grade allgemeiner Schwäche geführt haben, lähmen sie die Entwickelung der Vaccine; sonst tritt die Dyskrasie des Impflings in seinen Kuhpocken nicht zu Tage. Zur Aufklärung anderweiter Fragen sind Syphilitische vaccinirt worden, und ihre Pocken verriethen nicht im Entferntesten den Boden, auf welchem sie gewachsen waren. Man trifft ferner gar nicht selten sehr schöne Impfpocken bei entschieden scrophulösen Constitutionen, und andrerseits mit derb-rachitischen Symptomen ge­paart. Auch chronische Hautausschläge beeinflussen nicht die Vac­cine. (Siehe u. A. die Würtembergischen Beobachtungen in Heim's bekanntem Werke.)
Im Wesentlichen gilt das Nämliche von dazwischen tretenden a c u t e n Erkrankungen, und von der Dentition. Das Fieber an sieb, welches dieselben begleitet, stört die Kuhpocken ebenso wenig, als das vaccinale Fieber es thut, und so gehen einfache Katarrhfieber, fieberhafte Gastricismen und Erkältungszustände, Organentzündungen mittleren Grades, spurlos an ihnen vorüber. Die febrile Turgescenz der Haut kann höchstens die Entwickelung der Bläschen und Pusteln beschleunigen. Lebhafte Diarrhöen dagegen, Brechdurch­fälle, starkes Nasenbluten und andere Hämorrhagien, drücken da­gegen die Efflorescenzen herab, nnd verzögern den Impfverlauf; jede acute Totalerschöpfung des Impflings unterbricht den Hautprocess der Vaccine, wie den aller Exantheme, und macht ihn rückgängig. Ein solcher Vorgang an den Schutzpocken kann als prognostischer Fingerzeig für die Schwere eines beginnenden Brechdurchfalls, einer Bronchitis u. s. w. dienen. Nach den Erfahrungen der Würtember-
1) quot;Wiener med. Wochenschr. 1874. No. 47.
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186nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; V. Die Symptomatologie der geimpften Euhpocken.
gischen Aerzte (Heim) sollen gastrisch-nervöse Fieber den Vaccine-erfolg vereiteln, nach andern Beobachtern nur retardiren. Sehr merkwürdig war die Unterbrechung bei einem Kinde, welches bald nach der Impfung von Pleuritis ergriffen wurde, und bei welchem erst nach 5 Wocben die Impfpocken zum Vorschein kamen — eine Beobachtung, die nur einem Gewährsmann wie Heim (1. c. S. 535) nacherzählt werden darf.
Die Masern und der Scharlach verhalten sich durchaus un­gleich der Vaccine gegenüber; bald stören sie ihren Decurs gar nicht, bald beschleunigen sie ihn. Anderemale gerieth die Vaccine während der Masernblüthe auf mehrere Tage ins Stocken, so dass ihr Ausbruch erst am 11. oder 12. Tage erfolgte, oder die bereits gut entwickelten Impfbläschen, bis nach dem Abblühen des Masernexanthems, stille standen.
Varicellen und Vaccinen sind an jedem Tage nach der Impfong, ohne irgend welche gegenseitige Beeinträchtigung, zu­sammen beobachtet worden (siehe u. A. Hesse über Varicellen).
Unstreitig die interessantesteCom^jlication sind die natürlichen Blattern. Die variolöse Ansteckung, mit ihrer 13 bis 14tägigen Incubationsdauer, muss dann begreiflich vor dem Impftage geschehen sein, und die Variola tritt, nach den vorliegenden Beobachtungen, fast immer innerhalb der ersten 7 Tage post vaccinationem hervor, selten um einige Tage später.
Bei der Beurtheilung des gegenseitigen Einflusses, welchen die Gleichzeitigkeit der beiden Exantheme bedingt, muss festgehalten werden, dass sie nicht Antagonisten, sondern im Grunde gleich-werthig sind, beziehentlich einander stellvertreten können. Es wird deshalb Alles davon abhängen, wie die Entwickelungsstufen der beiden Ausschläge zeitlich auf einander treffen. Je gleichzeitiger beide Eruptionen erfolgen, desto unabhängiger erscheinen sie von einander; die Variola setzt dann ihren Weg, unbeirrt durch die Vaccine, fort, welche ihrerseits den Gang nicht verlässt, den sie ohne die Concurrenz einzuschlagen pflegt; wie auch die Lymphe von jeder dieser beiden, an dem Individuum vereinigten Pockenlormen nur ihre eigene Art fortpflanzt. Findet demnach der Blattemausjbruch zwischen dem 2. bis 5. Tage nach einer erfolgreichen Impfung statt, dann erlebt man das interessante Schauspiel, inmitten legitimer Variolen die schönsten Kuhpocken auf dem Oberarme zu erblicken, kann aber auch den Tod, in Folge der ersteren, eintreten sehen.
Anders, wenn die beiden Eruptionen durch einen engeren oder
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Die Complication der Vaccine mit Blattern.nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp;187
weiteren Zwischenraum von einander getrennt sind; dann entscheidet die Grosse dieser zeitlichen Differenz über das Schicksal der zweiten Eruption. Das zuerst erschienene Exanthem hat allemal das Ueber-gewicht über das nachfolgende, beeinflusst und modificirt dasselbe. Dieses Uebergewicht wächst mit jedem Tage Vorsprung, und wird zu­letzt erdrückend, d. h. das zweite Exanthem kommt gar nicht mehr auf, wenn das Zeitintervall zwischen den beiden Ausschlägen die mög­liche Grenze erreicht hat. In der Beobachtung gestaltet sich die Sache tblgendermassen: Der Ausschlag, welcher den Vorsprung hat, durchläuft gesetzmässig seine Phasen, während der Nachzügler die legitime Ent-wickeluug zwar beginnt, aber in seiner Ausbildung mit dem Momente stockt, wo der erstere eine coustitutionelle Einwirkung auf das Indi­viduum gewonnen hat, und dessen Empfänglichkeit für jedes andere Pockencontagium zu vernichten im Begriffe steht. Von diesem Zeit­punkte an beschleunigt der Nachzügler plötzlich seine Entwickelung, um das dominirende Exanthem gewissermassen einzuholen; freilich auf Kosten seiner regelmässigen und vollständigen Ausbildung. Diese Beschleunigung kann zum Abort des Nachzüglers führen, wenn das andere Exanthem einen sehr weiten Vorsprung hatte.
Brechen also die Blattern kurz vor der Impfung, oder in den ersten drei Tagen nach derselben aus, so behalten sie die Oberhand; die Kuhpocken verkümmern, und ihr Einfluss auf das Individuum geht verloren; je weiter aber die Kuhpocken in ihrer Entwickelung vorgeschritten sind, wenn die Variola hervortritt, um so mehr nimmt die letztere, da sie einen Theil der vario-lösen Empfänglichkeit schon absorbirt findet, die Charaktere der modificirten Blattern an. Hier sieht das Auge den Einfluss, welchen die Kuhpocke auf die Blattern ausübt. „Ich habequot;, sagt John Carter, „niemals Blattern ausbrechen sehen, wenn die Impfpustel ganz ungestört und gut entwickelt den achten Tag erreicht hatte. Von diesem Tage an halte ich ein Kind für voll­kommen geschützt. Es trat wol am 9. Tage, entsprechend der vor­ausgegangenen Ansteckung mit Variola, das Prodromalfieber der letzteren ein, und hielt drei Tage an, war aber von keinem Aus­schlage gefolgtquot;.')
Doch werden von zuverlässiger Seite (Sacco, Heim) einzelne Fälle mitgetheilt, wo die Blattern, freilich in der abgeschwächtesten Form, noch am 10. bis 12., selbst, am 14. und 16. Tage nach einer erfolgreichen Impfung erschienen.
1) John Carter, Practical observations on Vaccination. The Lancet 1871. — Deutsche Vierteljahrschr. für öffentliche Gesundheitspflege, 1871. I.
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188nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp;V. Die Symptomatologie der geimpften Kuhpocken.
Alle diese eigenthümlichen Vorgänge, welche eben durch die Beobachtung analysirt sind, enthalten nichts Anderes, als was Sa'cco fand, als er den Impflingen in den ersten Tagen post vaccinationem echte Variolen inoculirte, und was das Experiment mit der Nach­impfung der Kuhpocken gelehrt hat (siehe Abschnitt IX).
quot;Was ist das Ergebniss der einzelnen Erfahrungen über die Coincidenz acuter und chronischer Krankheiten mit der Vaccina­tion? Dieses, dass, mit Ausnahme der Blattern, keine von ihnen einen allemal feststehenden, sondern im Gegentheile einen höchst wechselnden Einfluss auf die Impfpocken ausübt. Ob dieselben alterirt werden, hängt nicht von der Qualität des complicirenden pathischen Processes, sondern lediglich von seiner quantitativen Schwere ab. Leidet der Organismus des Impflings unter der zweiten Erkrankung nicht besonders stark Noth, so verfolgt die Vaccine unangefochten ihren Weg, und bekundet auch darin ihre aussei­ordentliche Selbstständigkeit.
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Sechster Abschnitt.
Hygieine und Teclmik der Impfung.
Die Vaccination ist an den Kindern, und weil die ersten Lebens­jahre durch die Blattern vornehmlich gefährdet sind, im frühen Kindes­alter zu vollziehen. Die Findelhäuser, wo eine Anhäufung Ungeimpfter, namentlich bei drohender Pockengefahr, nicht lange geduldet werden kann, haben im Grossen den Beweis geliefert, dass gesunde Neu­geborene, zwei- und dreiwöchentliche Säuglinge, ohne Nachtheil und mit entsprechendem Erfolge, zur Impfung herangezogen werden können. Die Neugeborenen müssen auf der Stelle, wenn auch meist ohne Aussicht auf Kettung vaccinirt werden, sobald die Mütter pocken­krank sind, oder die Blattern in unmittelbarer Nähe epidemisiren. Drängen solche Umstände nicht, so wird die Vaccination bis zum 5. oder 6. Lebensmonat verschoben, und erscheint dieser Termin aus Rücksichten, welche bei der Syphilis vaccinata zur Sprache kommen, sogar wissenschaftlich wohl begründet. Die Mitte des ersten Jahres ist femer dasjenige Alter, wo die Impfung am seltensten mit den verbreitetsten constitutionellen Leiden der Kinder, mit der Rachitis und Scrophulose, in Collision gerathen wird, wo sie also dem Vor­wurf, die häufige Erzeugerin derselben zu sein, am ehesten entgeht.
Die Einwendungen gegen diese Früh-Vaccination stützen sich theils auf unrichtige Beobachtungen, theils gehen sie von unerwiesenen Theorien aus. So soll bei früher Impfung ein Theil der Impfstiche nicht aufgehen; das könnte aber nur vom ersten Lebensmonate gel­ten, wo Fehlimpfungen allerdings leicht vorkommen; vom dritten Monat ab sind dieselben bei den Kindern nicht häufiger, als in späteren Jahren. Alle Impfgesetze lassen daher mit diesem Alter die Impfpflichtigkeit beginnen.
Dass eine grössere Nachhaltigkeit der Vaccine-Wirkung zu er-
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190nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; Tl. Hygieine und Technik der Impfung.
warten stitode, wenn der Impftermin nicht unter das erste Lebens­jahr verlegt würde, ist ein Scheingrand für die Spät-Vaccination. Ohne Frage würde der vaccinale Schutz in spätere Lehensjahre hineinreichen, wenn die Personen erst im vorgerückteren Alter zur Impfung kämen. Allein das Wesentliche bei der Vaccination ist nicht die Dauer des Schutzes, sondern der Schutz selbst, und diesen soll der Mensch frühe empfangen, weil Niemand weiss, wann die Blatterngefahr an ihn herantreten wird, und weil die Krankbeit einstens, mit guter Berechtigung, den Namen der Kinderblattern führte.
Die volle Gesundheit scheint die natürlichste Vorbedingung für die Vaccination eines Kindes zu sein, ihr Mangel die erste Gegenanzeige, und doch bedarf es hier gewisser Einschränkungen. Ausgeschlossen von der Impfung sind alle fieberhaft Erkrankten. Unter den acuten Infectionen macht die Tussis convulsiva eine Aus­nahme, auf welche die Vaccination sogar günstig einwirken soll. Man wird darauf nicht bauen, aber den Keuchhusten auch nicht fürchten. Ein mit deutlichen Zahnbeschwerden sich quälendes Kind bleibt verschont; im Uebrigen hat es mit dieser gefürchteten Collision nicht viel auf sich, oft genug brechen Zähne im Verlaufe der Kuh­pocken, zur Ueberraschung der vorsichtigen Eltern und Aerzte, her­vor, und man gewinnt gar nicht selten den Eindruck, als ob die Vaccination ihren Durchtritt gefördert habe. Ein einfacher, massiger Darm- oder Bronchialkatarrh aus gewöhnlichen Ursachen verbietet nicht durchaus die Vornahme der kleinen Operation, ebensowenig als die letztere der gleichzeitigen Behandlung des Darmkatarrhs Verlegenheiten bereitet. Die gewöhnlichen Grade der Scrophulose und Rachitis, ferner die Syphilis geben keine Gegenanzeigen ab. Hydrocephalische Kinder sollen deshalb dispensirt werden, weil man tödtliche Convulsionen, mehrere Tage post vaceinationem, bei ihnen beobachtet hat; auch ohne diese Mahnung wird Niemand Lust ver­spüren, sie, ohne die dringendste Noth, zu impfen. Was die chro­nischen Hautausschläge betrifft, vor Allem das Ekzem, so untersagen die mehr oder weniger .universellen Formen desselben selbstredend die neue Irritation der Haut. Bei den lokalisirten Ekzemen gibt der Ursprung und die Dignität der Hauterkrankung die Entschei­dung ab. Begrenzte Ekzemflecken, aus örtlichen Ursachen oder durch äussere Schädlichkeiten entstanden, sind gleichgiltig; und am allerwenigsten darf man vor einigen Schorfen des Capillitiums zurück­schrecken, oder vor den wunden Ohrfalten, welche, rein lokale Uebel,
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Jahreszeit. Herrschende Blattern.nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp;191
mit irgendwelcher Dyskrasie gewöhnlich nichts gemein haben. Die Abscesse, welche sich bei ekzematösen Kindern gerne nach der Impfung bilden sollen, habe ich niemals beobachtet. Es steht der umsichtigen Individualisirung auf diesem Felde ein weiter Spiel­raum offen, und vollends die Noth wird manche gangbaren Contra-indicationen über den Haufen werfen.
Eine bestimmte Jahreszeit, wann geimpft werden soll, gibt es nicht. Die Schutzpocken reifen gemeinhin wol in der Sommer­wärme schneller und üppiger, und erleiden in den kühlen und kalten Monaten eher eine Verzögerung, ohne dass den Winter-Impfungen, falls sie gelungen sind, geringere Wirksamkeit zukäme. Da indess jede Abweichung vom Normalgange unerwünscht ist, so wird sich eine gleichmässig warme Witterung als die geeignetste Zeit empfehlen, in den gemässigten Breiten der Frühling und Spätsommer. Die öffent­lichen Gesammt-Impfungen erfordern diese Jahreszeit, weil der Trans­port der Säuglinge über die Strasse oder über Land zu berücksich­tigen ist. Die Nothimpfungen können nach der Jahreszeit nicht fragen.
Ob während einer herrschenden Blatternepidemie, oder in einem Hause, wo Pocken ausgebrochen sind, vaccinirt werden darf? In der nebelhaften Vorstellung, dass die Neigung zu den Blattern durch die Impfung geweckt oder gesteigert werde, gilt die Zeit einer Epidemie Vielen als gefahrvoll. Und doch ist man, so lange Jenner's Entdeckung besteht, zahlreicher ver­heerender Blattern-Epidemien nur durch die schleunige Impfung der Ungeschützten Herr geworden. Das Gegentheil erfuhr u. A. Mar­seille in seiner furchtbaren Sommerepidemie 1828, wo das Vorurtheil des grossen Haufens, es dürfe während der Hitze und inmitten der bösartigen Blattern nicht geimpft werden, ihren Verwüstungen den mächtigsten Vorschub leistete. Aus dem zufälligen oder künstlieh bewirkten Zusammenfallen von Variola und Vaccine hat man ferner gelernt, dass eine, rechtzeitig in die variolöse Infection eingreifende Impfung die unvermeidlichen späteren Blattern in günstiger Weise beeinflusst. In einer schweren Epidemie in der Nähe von Mont­pellier (1870), wo anfangs der siebente Erkrankte starb, wurde energisch vaccinirt und revaccinirt. Beim vierten Theil der 733 Ge­impften fiel die Impfung in das Incubationsstadium der Blattern. Aber keiner der Geimpften starb, und es kamen nicht einmal schwere Variolaformen bei ihnen vor, eine Person ausgenommen, welche am Tage nach ihrer Eevaccination an malignen Blattern erkrankte und
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192nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp;YI. Hygieine und Technik der Impfung.
starb (Coste, Jabresber. von Vircbow und Hirscb pro 1871). Die Äuzabl der zwaugsweisen Nothimptüngen, welche die Berliner Polizei in den Jahren 1849—53 in den Häusern, aus denen Pockenkranke gemeldet waren, vornehmen Hess, betrug 1555. Mit Ausnahme weniger Erwachsener waren es Kinder von einigen Monaten bis zu sechs Jah­ren, die geimpft wurden. Während dieser fünf Jahre sind nun in Berlin überhaupt von Kindern unter fünf Jahren nur 14 vaccinirte an Va­riola vera und 39 an V. modificata erkrankt, mithin haben die Noth-impfungen die Neigung der Kinder zum Erkranken nicht vermehrt.l)
Die äussere Seite des Oberarms, über dem Deltoideus, ist die zweckmässigste und deshalb allgemein benutzte Impfstelle. Bei Mädchen mögen die Stiche so hoch angelegt werden, dass die späteren Narben auch von einem kurzen Aerinel gedeckt bleiben. Zehn bis zwölf Impfstiche müssen auf beide Arme vertheilt werden; impft man mit weniger Stichen, so empfiehlt sich der Arm, welchen die Kinder, wenn sie noch getragen werden, der Wärterin gewöhn­lich nicht zuzukehren pflegen.
Zu einem Abweichen von diesem Gebrauch fordern Telangi-ektasien auf, welche im Gesicht, am Halse, auf den Schultern, den Händen u. s. w. sitzen. Diese Gefässgeschwülste lassen sich durch die auf ihnen verschwärenden Kuhpocken leicht zur Verödung brin­gen, und in unscheinbare seichte Narben umwandeln. Ich habe viele Gefässmale auf der Nasenspitze, auf der Glabella, an den Lippen, dem Ohre u. s. w., ohne jeden unangenehmen Zufall, beseitigt. Man bedarf stets zahlreicher Einstiche, weil darauf gerechnet werden muss, dass die Lymphe aus vielen derselben, durch das reichlich her­vorquellende Blut, hin weggespült wird. Es schien mir deshalb den Erfolg noch mehr zu sichern, wenn ich, nachdem die Blutung gestillt war, eine mit Lymphe befeuchtete Charpie über die Einstiche drückte. Sodann achte man darauf, besonders den Band der Telangiektasie mit Impfstichen zu bedenken, damit nicht, wie ich sah, ein rother linearer Band um die centrale Narbe zurückbleibt.
Auch wo das Gefässmal nicht Schönheitsfehler ist, an bedeckten Körperstellen, dürfte sein schnelles Wachsthum durch eine frühzeitige Vaccination am wenigsten eingreifend gehemmt werden.
Die Vaccination geschieht mit einer kleinen, schmalen Lancette,
1) Quincke, Ueber Menschenpocken, besonders über die Ausbreitung und das Verhalten derselben in Berlin während der 20 Jahre 1834—1853. Annalen des Charite-Kraukeuhauses. Bd. VI.
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Impfstiche und Impfsclmitte.nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp;193
oder einer einfachen Nadel und vermittelst des Stichs. Man um-fasst den vollständig entkleideten Oberarm des Impflings mit der linken Hand, fixirt ihn, und spannt die Haut über dem Deltoideus massig an.') Alsdann dringt die mit Lymphe hinreichend bedeckte Lancettspitze schräg durch die Epidermis bis zum Corium, und bleibt in dieser Stellung ein paar Secunden, während deren man das Einfliessen der Lymphe sehr deutlich beobachten kann. Man ent­fernt nun das Instrument, wobei jedes Andrücken oder Drehen desselben, wie von Einigen gelehrt wird, als unnütze Reizung der Wunde zu vermeiden ist. Eine oberflächliche Verletzung des Corium kann kaum verhütet werden, aber tiefer hinein darf die Lancette niemals dringen. Es genügt, weil die Anfänge der Pockenbildung in der untersten Schicht des Rete Malpighii vor sich gehen, die Lymphe in dieser abgesetzt zu haben.
Das eben beschriebene Verfahren dürfte Jedem anzurathen sein, welcher keine Geläufigkeit im Impfen besitzt und sicher gehen will. Geübte Hände können die Haut mit der Lancette senkrecht punkthen, wodurch der ganze Act noch schneller erledigt wird.
Die Impf schnitte, um Nichts verlässlicher als die Stiche, aber mehr irritirend und hässlichere Narben erzeugend, sind, als durch­gängige Methode, verwerflich, und nur dann erlaubt, wenn der Impf­arzt grosse Pocken mit reichem Lymphgehalt braucht.
Der Stichpunkt darf nicht bluten, sondern sich nur färben, und höchstens mit einem kleinen Tröpfchen Blut bedecken. Die kleine Operation soll unter den Händen des Impfarztes ebenso unbedeutend aussehen, als sie es in der That ist. Doch hängt das Mehr oder Weniger von Blut, welches austritt, neben der Geschicklichkeit des Einstichs, auch von der Blutfulle der Haut ab. Der erste Einstich mag darüber belehren, und die nachfolgenden leiten. Eine stärkere, wol gar fliesseude Blutung, wenngleich sie die Lymphe gewöhnlich nicht fortschwemmt, muss und kann verhütet werden.
Die Zahl der Imp fs tic he, welche in den ersten Decennien der Vaccination ohne Frage zu gering war (einer oder zwei), wurde später verschiedentlich vermehrt; Eichhorn und Gregory forderten schliesslich 20 im Maximum. Dass man mitunter, ohne jeden örtlichen und allgemeinen Schaden für die Kinder, noch mehr, bis über 30, an­bringen kann, wurde von Einigen gezeigt. Allein es ist bei anderen
1) Eine magere welke Haut muss fester gespannt -werden, weil sie vor dem Instrumente sich herschiebt und dasselbe unvollständig eindringen lässt. Sie gibt zu Fehlimpfungen gern Veranlassung.
Bohn, Handbuch der Vaccination,nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp;13
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194nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; VI. Hygieine und Technik der Impfung.
derartigen Impfungen mehrmals eine heftige lokale Entzündung ge­folgt, welche in Brand überging, und gefahrdrohende Fieberaufregung, Convulsionen und sogar den Tod (Vogel, Legner u. A.) nach sich zog. Selbst wenn die Annahme, es wüchsen Kraft und Vorhältigkeit des Schutzes proportional mit der Zahl der Impfpocken, erwiesen wäre, so würde jede Uebertreibung der letzteren gegen die humane Absicht der Vaccination sündigen.
Die Erfahrung geht dahin, dass man unter einer gewissen Zahl von Einstichen nicht bleiben darf, ohne die Dauer des vaccinalen Schutzes bedenklich zu verkürzen, und wir haben vorläufig Grund anzunehmen, dass im Allgemeinen zwölf Impfstiche geniigen. (Das bayerische Impfgesetz schreibt vier auf jedem Arme vor.) Man wird nicht ängstlich an der Zahl kleben. Dem vollen Arm eines kräftigen Kindes kann mehr zngemuthet werden, als einem dünnen mageren Gliede. Beim Gebrauche einer nicht ganz verlässlicheu aufbewahrten Lymphe können, auf Rechnung des Versagens, einige Stiche zuge­geben werden. Jeder Stich stehe vom andern 1 '/i Centimeter ent­fernt. — Das Handwerk liebt es, 4, 6 und mehr Stiche mit nur ein­mal benässter Lancette zu machen. Wie oft man dieselbe frisch armirt, hängt natürlich davon ab, ob man noch genügende Lymphe auf ihr bemerkt, doch halte ich für gerathen, sie nach je zwei bis drei Einstichen aufs Neue mit Impfstoff zu verseheu, um Fehl­stiche zu vermeiden, welche, an sich ein Verlust, das höchst ver-drüssliche Zeugniss dafür abgeben, dass wir selbst diese unbedeu­tende Operation nicht beherrscht haben.
Die Lymphe wird mit unglaublicher Schnelligkeit aufgesogen. Bousquet (a. a. 0. S. 276) wusch die noch blutenden Impfwunden sofort mit reinem Wasser oder Salzwasser aus, setzte augenblicklich einen Schröpfkopf auf und Hess ihn 10—30 Minuten ziehen, umsonst, das Aufgehen der Vaccinen war nicht hintertrieben. Auch in solchen abnormen Fällen, wo die Stichpunkte sofort nach dem Impfen in Verschwäruug und in wochenlange Geschwüre übergingen (siehe beim Impferysipel), entwickelten sich entweder daneben ordentliche Pöcken-bläschen, oder der örtliche Vaccineprocess war innerhalb der Wunde abgelaufen, und hatte, wie nachträgliche Kevaccinationen lehrten, die constitutionelle Vaccinewirkung zu Wege gebracht. ,
Die Empfänglichkeit für das vaccinale Virus stellt sich als eine sehr allgemein und gleichmässig verbreitete dar. In den 12 Jahren 1855—1866 wurden in München 31066 Kinder mit Erfolg, und nur 4 ohne Erfolg geimpft, von 1848 bis 1860 in ganz Bayern
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Empfänglichkeit für die Vaccine.nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; 195
1,374,734 mit, und 7595 ohne Erfolg (181 :1). ') Mars on, der nam­hafte englische Impfarzt, hat, unter Anwendung aller Cautelen und mit gutem Impfstoffe, das Verhältniss von 150 : 12). In Würtemberg (Heim, Tab. IX) kamen in dem Zeitraum von 1851—1856 208,322 Vaecinationen vor, davon mit echtem Erfolge 197,697, mit unechtem 227, mit gar keinem 2098; von etwa 100 Kindern war 1 der Vae­eine unzugänglich.
Das früheste Lebensalter, die ersten Wochen, scheinen im Allge­meinen eine geringere Empfänglichkeit zu besitzen, als die folgende Kinderzeit. Unter 28,950 in der Moskauer Findelanstalt vom Jahre 1862—1864 geimpften Findlingen wurden 709 gezählt, bei welchen die Schutzpocken, selbst nach viermal wiederholter Impfung, nicht hafteten (2,44 pCt.). Die Procentzahl der einzelnen Jahre schwankte zwischen: über 1 bis über 4.:J)
Die mangelnde Eeceptivität ist manchmal nur eine zeitliche. In Bayern besteht das Gesetz, nach welchem erst eine dreimalige, in drei auf einander folgenden Jahren erfolglos vollzogene Impfung von der Imptpflichtigkeit entbindet. Unter den 31,066, während 12 Jahre in München erfolgreich geimpften Kindern befanden sich 30, bei wel­chen die Impfung erst beim dritten Male anschlug. Heim erwähnt ein Kind, welches 12 mal der Impfung unterworfen wurde; 7 mal kamen modificirte Kuhpocken zum Vorsehein, und 4 mal haftete die Impfung gar nicht, die erst beim 12. Mal fasste. Aehnliche Fälle bringen die Jahresberichte des Pariser Vaccinecomites. Bei den natürlichen Blattern spielt manchmal die zeitweilige Unempfänglich-keit gleichfalls eine wunderliche Kolle. — Die absolute Immunität gegen wiederholte, in verschiedenen Lebensaltern versuchte Vaeci­nationen schliesst ein gelegentliches Varioloid, von dem die Individuen überrascht werden, nicht aus.
Von einer Behandlung der gesetzmässig verlaufenden Vacci­nation kann kaum die Hede sein. Bis zum Eintritt des Fiebers werden die Kinder, wie immer sonst, gehalten, also die ersten 6 Tage auch gebadet. Um auf der Höhe des Processes die Spannung in der entzündlichen Hautgeschwulst zu mindern, reichen indifferente Cerate, Oei, Milchrahm u. dgl. hin. Man warte mit der Wieder­aufnahme des Bades bis zur völligen Erhärtung der Pockenschorfe, um letztere nicht zu erweichen, und zum vorzeitigen Abgang zu bringen.
1)nbsp; v. Bulmerincq, Ergebnisse des Bayr. Impfgesetzes.
2)nbsp; Reiter, Bayr. iirztl. Intell.-Bl. 1S62. 24.
3)nbsp; Blumenthal, St. Petersb. med. Zeitschr. Bd. VIII. S. 226.
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196nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp;VI. Hygieine und Technik der Impfung.
Vaccinegeschwüre heilen, wie oben angegeben.
Phlegmouen und Abscesse am geimpften Arme, sowie die son­stigen Störungen und Zufälle, welche sich während des Vaccinations-processes ereignen können, werden so behandelt, als wenn derselbe nicht vorhanden wäre.
Vom Impfeiysipel ist bereits gesprochen worden.
Die Gcwinuiiiig, Aui'benaliriiiiquot; und Vervielfältigung der
Lymphe.
Welche Lymphe man benutzen mag, sie haftet am sichersten, wenn sie frisch den Vaccinebläschen entnommen ist. Es muss dem­nach die Impfung von Arm zu Arm, oder geraden Weges vom Thier auf den Menschen jeder andern Uebertragung vorgezogen werden. In dieser Möglichkeit liegt der unschätzbare Vortheil guter Impf­institute.
Das Jenner'sche Bläschen wird mit der Spitze einer scharfen Impflancette in der Weise eröffnet, dass man seinen ringförmigen Wulst, welcher die Delle umgibt, mehrfach ansticht oder radien­artig spaltet. Die einzeln hervortretenden Tröpfchen vereinigen sich, und rinnen in dem Napfe zusammen. Schneller gelangt man dazu, wenn das aus Eiter und Epidermis gebildete Plättchen von dem Grunde der Delle abgelöst wird; es werden damit eine Anzahl Fächer zugleich aufgerissen, und in die Delle entleert. Das Verfahren ist aber roh, empfindlich und geeignet, die Lymphe mit Epidermisfetzen, Eiterpartikeln, wol auch mit Blut zu verunreinigen. Strotzende Pocken kann man an ihrer Basis mehrfach durchstechen, und die Lymphe seitlich abfliessen lassen. Aber gewagt ist die Sitte alter Impfpraktiker, die Pustel mit einer Aderlasslancette zu eröffnen, welche, parallel .der Haut, durch das untere Drittel der Efflorescenz gestossen wird, und die letztere von ihrem Boden fast abschneidet. Die Lymphe quillt aus der breiten Spalte schnell und reichlich her­vor, aber das Corium läuft wohl stets Gefahr, verletzt zu werden.1)
Der Inhalt des Impf bläschens soll nicht bis auf die letzte Neige ausgebeutet, und die Lancette darf, um Lymphe aufzufassen, niemals in den Boden der Pocke eingedrückt werden. Die Lymphe steigt
I) Alle complicirten Instrumente, um die Vaccinen zu eröffnen (Impf-schnapper), oder ihren Inhalt auszupumpen (Lymphsauger) sind mindestens überflüssige Spielereien.
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Gewinnung, Aufbewahrung und Vervielfältigung der Lymphe.nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; 197
aus den tmteren Fächern langsam herauf, und es muss zuweilen pausirt werden, bis sie sich wieder gesammelt hat; ein sanfter Druck darf es beschleunigen. Wenn man beim Beginn des Impfens mehrere Schutzblattern zugleich eröffnet, oder bei den öffentlichen Impfungen mehrere Kinder zur Lymphabnahme vorbereitet, so kann man ab­wechselnd aus ihren Pocken schöpfen, und ohne Aufenthalt das Ge­schäft fortsetzen.
Für eine spätere Benutzung, oder behufs der Versendung, muss die Lymphe gesammelt und aufbewahrt werden. Dies geschah ur­sprünglich in trockener Form. J e n n e r und seine englischen Col-legen zogen, wie die Inoculatoren der natürlichen Blattern, seidene oder baumwollene Fäden wiederholt durch die Kulipocken, und Hessen an ihnen die Lymphe auftrocknen. So kam die erste Lymphe nach dem Continent Europas und nach den übrigen Welttheilen. Die Fäden wurden dann in die Schnittwunden der Impflinge gelegt. Ein unsicheres Verfahren. — Später fixirte man die Lymphe auf Stahl- oder Beinlancetten, an Holz- oder Glasstäbchen, welche zu öfteren Malen benässt und getrocknet worden waren. Beim Impfen wurden dieselben in die vorher angelegten Hautwunden gesteckt. — Ein anderes, noch jetzt gebräuchliches Verfahren besteht darin, 'die Lymphe zwischen zwei Glasplatten eintrocknen zu lassen, und deren Ränder sorgfältig zu verkleben. Mit destillirtem Wasser, verdünntem Glycerin wird die Lymphe, vor dem Gebrauche, wieder verflüssigt. Diese Art der Aufbewahrung, lange Zeit die allgemein übliche, und auch jetzt noch vielfach bevorzugte, muss als eine sehr zuverlässige bezeichnet werden. Das St. Petersburger Findelhaus hat solche Glas­platten sechs Monate lang aufbewahrt, und die gelöste Lymphe so­dann mit dem schönsten Erfolge übertragen. Als Moskau im Jahre 1812, bei der Annäherung des Feindes geräumt wurde, vergrub das dortige Findelhaus einige Plattenpaare mit Lymphe in der Erde. Nach langer Zeit hervorgeholt, erwies sich dieselbe unversehrt, und ist die Stammlymphe verschiedener Gouvernements geworden. Der frühere Director der Berliner Impfanstalt, E. Müller, hat im Jahre 1869 genuine, zwischen Glasplatten getrocknete Kuhlymphe, welche von der holländischen Regierung, zehn Jahre vorher, zu Versuchen nach Berlin geschickt war, mit Glycerin erweicht und von vortreff­licher Wirksamkeit befunden (Viertelj.-Schrift f. gerichtl. Med. N. F. Bd. XL).
In den letzten Zeiten hat man sich vorwiegend für die flüssige Form der Aufbewahrung entschieden. Es dienen dazu die Bre-
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198nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp;VI Hygieine und Technik der Impfung.
tonne au'scb en Phiolen, capillärartige Glasröhrchen von cylin-drischer oder spindelförmiger Gestalt, mit bauchig erweiterter Mitte; das eine Eude wird in die, aus der Pustel tretende Lymphe gesenkt, die Lymphe steigt spontan auf, und füllt das Röhrchen mehr oder weniger vollständig an. Beide Enden werden nun mit erweichtem Wachs oder Siegellack luftdicht verschlossen; Senf ft empfiehlt neuerdings das Eintaueheu der Enden in Gypsbrei. Will man die Lymphe benutzen, so bläst man sie, nach Entfernung des Ver­schlusses, auf eine Glasplatte aus. Die feinsten Röhrchen füllen sich natürlich am leichtesten. Fliesst die Lymphe recht ergiebig, so geht es auch mit mittleren Kalibern gut, während die Lymphe in die weiten Röhrchen schwer und unvollständig eindringt. Die in der Mitte kugeligen Phiolen stehen den spindelförmigen nach. Horizontal oder schräg abfallend gehalten saugt das Röhrchen be­
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ieriger die Lymphe ein, als wenn es senkrecht zur Pustel gestellt
wird. — Grössere Mengen von Lymphe können in kleinen FJäschcheu aufbewahrt werden, die aber mit Glasstöpseln, zu verschliessen sind, weil die Lymphe bei Korkverschluss mit der Zeit gelblich wird und verdirbt.
Die gefüllten Phiolen werden an einem gleichmässig kühlen Orte, etwa bei Kellertemperatur, am besten in feinem Sande oder in Watte aulgehoben. Hohe Kältegrade scheint die Lymphe, nach einigen Untersuchungen, gut zu vertragen. Höhere Wärmegrade trocknen sie aus, oder vernichten ihre Wirksamkeit. Es er­scheint daher auch nicht räthlich, die offenen Spitzen der Glas­phiolen über einer Flamme zu verschmelzen, oder mit brennendem Siegellack zu verschliessen. Die Anwesenheit von Luft in den Röhrchen, zu beiden Seiten der Lymphe, schadet nicht; ist der Lympbfadeu aber wiederholt von Luftbläschen unterbrochen, so büsst die Flüssigkeit gewöhnlich bald ihr wirksames Princip ein. Die Art dieser Verderbniss ist ganz unklar. Oft genug geht sie ohne jede sinnfällige Veränderung der Lymphe vor sich; zuweilen wird faulige Zersetzung beobachtet und es haben sich Gasbläschen ge­bildet, die Senfft einmal nach Schwefel Wasserstoff riechend fand.
Da Niemand die Phiolen ungeschützt liegen lassen wird, so ent­behrt die Einwirkung des Lichts auf die Lymphe der praktischen Bedeutsamkeit. Wissenschaftlich steht diese subtile Frage ganz offen, und es muss für eine theoretische Construction (wenn nicht für etwas sehr Geringeres) gelten, wenn auf das gelbliche Glas der Phiolen von einer Seite her Gewicht gelegt wird.
Eine gut aufgehobene, flüssige humanisirte Lymphe kann sich
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Vervielfältigung der Lymphe. quot;Wasser- und Glycerinlymphe.nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp;199
jahrelang tüchtig erhalten, ist aber gewöhnlich schon nach Monaten ein sehr zweifelhafter Stoff geworden; das Aufspeichern derartiger Lymphe für lange Zeit hat einen eingebildeten Werth. Reinheit und Klarheit sind die ersten Bedingungen der zu verwendenden Lymphe, weisse Flocken oder fadige Gerinnsel (Faserstoffcoagula) inmitten der klaren Flüssigkeit gehören fast zur Regel, und beeinträchtigen die­selbe nicht. Blut erscheint in rothen oder rostfarbenen Flecken und Klümpchen, welche sich nach dem Ausblasen zwar leicht von der Lymphe sondern lassen, immerhin aber, bei nicht durchaus unver­dächtiger Quelle des Impfstoffs, zur Verwerfung desselben nöthigen. Die Wände des CapillaiTöhrchens fand ich einmal mit einem weiss-lichen Beschläge bedeckt, welcher aus massenhaften Pilzanhäufungen bestand. Der Befund verdient Beachtung (siehe Impferysipel), aber ich vermag nicht anzugeben, wie sich diese weissen Massen von den kurz vorher bezeichneten faserstoffigen Flocken und Gerinnseln, ohne Mikroskop, unterscheiden lassen.
Das Verlangen nach grossen Massen von Impfstoff, welches zur Zeit von Blatternepidcmien regelmässig laut zu werden pflegt, ferner die Weigerung mancher Eltern, ihre geimpften Kinder zur Lymph­abnahme herzugeben, und andere, zu einem peinlichen Lymphmangel führenden Uebelstäude haben auf eine künstliche Vermehrung des reinen Impfstoffes sinnen lassen.
Dahin gehört die jetzt nur historische Wasserlymphe: man fing die aus den Impfpocken tretende Lymphe mit einem Haarpinsel auf, und spülte denselben in destillirtem Wasser ab.
In der Berl. klin. Wochenschrift vom J. 1860quot; (Nr. 13) wurde von dem Director der Kgl. Scliutzblattern-Impfungs-Anstalt zu Berlin, Dr. E. Müller das verdünnte Glycerin zu dem gewünschten Zwecke empfohlen. Er nimmt die aus den angestochenen Bläschen quellende Lymphe mittelst eines weichen Haarpinsels, oder einer breiten Lancette auf, bringt sie in ein Uhrglas oder eine Porzellan­schale, tröpfelt reines, zur Hälfte mit destillirtem Wasser verdünntes Glycerin hinzu, und mischt das Ganze sorgfältig durcheinander. Anfangs gestattete Müller eine zehnfache, später eine geringere Verdünnung der Lymphe. Es soll dadurch nicht blos die Quantität derselben, ohne irgend welche Schädigung ihrer Wirksamkeit, an-' sehnlich vermehrt, sondern auch die Haltbarkeit der Lymphe, unter verschiedenen Lufttemperaturen, erhöht werden. Müller impfte
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200nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp;VI. Hygieine und Technik der Impfung.
zweijährige Glycerinlymplie mit bestem Erfolge, und verschickte den Impfstoff im heissen Sommer nach Rio grande, wo er, zwei Monate später, völlig wirksam anlangte. Die aufbewahrte, wie die frisch bereitete, Glycerinlymphe soll vor dem Gebrauche gut verrührt werden, weil die Lymphe mit dem Glycerin keine vollständige Ver­mischung einzugehen scheint.
Von vornherein muss das Glycerin als eine glückliche Wahl zur Conservirung der Lymphe bezeichnet werden, weil es die Eigenschaft besitzt, von Eiweisslösungen jede Zersetzung und Fäulniss jahre­lang fern zu halten.
Die Glycerinlymphe hat anfangs durchaus widersprechende, lind mehr abweisende als günstige, Urtheile in der Presse hervor­gerufen (siehe besonders die Jahrgänge 1867 und 186S der Berl. klin. Wochenschr.), was bei der zuerst vorgeschlagenen, viel zu mächtigen Verdünnung, bei der Ungenauigkeit in der Dosiruug, wol auch wegen der häufig unreinen Beschaffenheit des verwendeten Glycerins, erklärlich war. Endlich ist sie in Deutschland durch­gedrungen , hat sich bei der Vaccination, wie bei der Eevacci-nation gleich gut bewährt, und für die schleunige Massenimpfung (z. B. der französischen Kriegsgefangenen in den J.' 18701 und 1871) von unschätzbarem, wenn nicht geradezu unersetzlichem Werthe gezeigt. Die Preussische Regierung hat daher, auf Grund der vielen vorliegenden Erfahrungen, nicht Anstand genommen, ihre Herstellung und Benutzung allen officiellen Impfärzten während der grossen Blatternepidemien der ersten 70er Jahre dringend anzuratben, resp. zu befehlen (Minister. Verfügung vom 10. Mai 1871. Viertelj.-Schr. f. gericht. Med. N. F. Bd. XV). r
Als ein sicheres Verhältniss, in welchem das Glyceringemisch der reinen Lymphe nicht nachsteht, kann 1 Theil Lymphe auf 3 Theile verdünnten Glycerins betrachtet werden. (Die eben er­wähnte Minister.-Verfügung empfiehlt 1 : 4.) Dieses Verhältniss darf nicht nach dem Augenmaasse bestimmt werden, sondern man bediene sich einer Bretonueau'schen Phiole als Maasseinheit, und gebe auf drei Röhrchen verdünnten Glycerins ein Röhrchen Lymphe; mit einem Glasstäbchen werden beide innig durcheinander gemengt. Senf ft fand es vortheilhafter, das reine Glycerin (2 Theile) mit der Lymphe (1 Theil) zu mischen, und den entsprechenden Wasserzusatz unmittel­bar vor dem Gebrauche zu machen.
Müll er's Glycerinlymphe erinnerte an ein Glycerinlymphpräparat, welches, mehrere Jahre vorher, Dr. Andrews in Chikago vor-
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Glycerinlymphe.nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp;201
geschlagen hatte ')• Derselbe hatte einen Impfstoff hergestellt, indem er zerbröckelte Kuhpockenschorfe mit Glycerin behan­delte. In sieben Fällen leistete derselbe die gleichen Dienste, wie frische flüssige Lymphe und behielt zwei bis drei Monate, bei warmem Wetter, die volle Kriiftigkeit. In Amerika und England fand dieser Impfstoff vorübergehend Liebhaber, und J. Simpson erklärte ihn, in der geburtshilflichen Gesellschaft in Edinburg, für ein vortreff­liches Substitut der frischen Vaccinlymphe2).
Ich habe im J. 1859 und 18G0 einige Versuche damit angestellt. Zerkleinerte primäre Pockenschorfe wurden in eine gerade hin­reichende Menge Glycerin gelegt, und in einem verschlossenen Gläschen vier Wochen bis 4 Monate lang aufbewahrt. Es entstand, nach wiederholtem Umrühren, eine trübe, fast schmutzige zähe Masse. In acht Fällen sah ich fünfmal den Erfolg, dass von 6 bis 8 Ein­stichen 1, 2 oder 3 gut entwickelte Impfpocken, mehrmals verspätet, auftraten, welche einen ziemlich regelmässigen Verlauf durchmachten. Weniger der unsichere Erfolg, als sein Ursprung und seine Beschaffen­heit verurtheilen diesen Impfstoff.
1)nbsp; American Journ. of med. Sc. Octbr. 1S57. — Journ. f. Kmclerkrankh. 185S. S. 150.
2)nbsp; Journ. f, Kinclerkrankh. 1862.
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#9632;
Siebenter Abschnitt.
Die verscMedeneii Lymphen.
Die Kuhlymphe, originäre Lymphe.1)
Als originäre oder genuine Lymphe wird der flüssige Inhalt der Kulipoekenbläschen bezeichnet, gleichviel ob der Ausschlag bei den Thieren spontan entstanden, oder, secundär, durch zufällige Ansteckung zum Vorscbein gekommen ist.
Dem rascheren Verlaufe der Kuhpocken entsprechend, besitzt ihr Inhalt nur kurze Zeit die impftaugliche Beschaffenheit; dieselbe fällt auf den 5. oder 6. Tag nach dem Ausbruche des Exanthems, und scheint die Dauer von 24 Stunden nicht zu überschreiten; die originären Kuhpocken müssen deshalb, wenn sie entdeckt sind, unter strenger Aufsicht bleiben; ein dem Anscheine nach unentwickeltes Bläschen kann in 12 bis höchstens 24 Stunden zur völligen Keife gediehen sein, und die Benutzung einer reifen Pocke um einen halben oder ganzen Tag aufschieben, heisst gewöhnlich die gute Infections-kraft der Lymphe aufs Spiel setzen.
Zur richtigen Zeit entnommen ist die originäre Lymphe eine klare, von reichlichem Faserstoffgehalt zähe, klebrige, mitunter dickliche Flüssigkeit, von Wasserfarbe, oder mit einem Stich ins Gelbliche. Auf eine reichliche, seröse und missfarbige Lymphe, wie
1) Hering u. Ceely a. a. 0. — Bousctuet, Traite de la Vaccine 1833. — Heim, Historisch-kritisdie Darstellung der Pockenseuchen u. s. w. in Würtem-berg. Stuttg. 1838. — Reiter, Beiträge zur richtigen Beurtheilung u. s. w. der Kulipocken. München 1846. — Friedinger, Wochenbl. der Wiener Aerzte. 1S56. Nr. 46.
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Die Kuhlymphe, originäre Lymphe.nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; 203
sie der Pustel zuweilen an späteren Tagen entquillt, kann man sich wenig verlassen.
Um die Lymplie zu gewinnen, muss der Einstich mit sehr scharfer Lancette, dem Mittelpunkte der Pocke so nahe als möglich, geschehen, und die Epidermis muss rund um den tiefsten Punkt der­selben auf eine kleine Strecke losgetrennt werden; ein massiger Druck lässt die Lymphe langsam hervortreten; bei zäherer Beschaffen­heit darf sie abgeschabt werden.
Der Einstich an dem erhabenen und harten Rande der Pocke ist völlig nutzlos, und zieht nur Blut nach sich.
Wo bereits kleine Centralborkeu die Mitte der Pocke bedecken, löst man dieselben ab, worauf die Lymphe entweder sofort von selbst kommt, oder nachdem die unterliegende Epidermis eröffnet ist.
Jene unförmlichen Massen vertrockneter Lymphe, auf oder in der nächsten Umgebung von geborstenen Pusteln, welche, farblos, weissem krystallisirtem Kandelzucker ähnlich, oder bernsteinartig sind, geben, mit wenigen Tropfen kalten Wassers verflüssigt, einen mit Wahrscheinlichkeit haftenden Stoff (Ceely). Ebenso die ein­getrockneten Pusteln, und die unebenen und unregelmässigen, oft mehr oder weniger konischen Centralborkeu; je durchsichtiger sie sind, und je mehr sie der dunkelbraunen Farbe sich nähern, für um so besser sind sie zu halten. Borken seeuudärer und tertiärer Abkunft haben kaum einen Werth.
Zur Sicherstellung des Erfolges trägt die unmittelbare Ueber-tührung der originären Lymphe von der Kuh auf den Menschen wesentlich bei; der aufbewahrte Stoff wirkt ganz unzuverlässig, ob-wol er an Fischbeinstäbchen aufgetrocknet, hin und wieder (Jenner, Hering), 3—4 Monate lang sich kräftig erhielt.
Die zahlreichen I m p f u ngenmitguter origin ä r er Ly m p h e, welche in den verschiedensten Ländern seither unternommen sind, haben die Eigenschaften derselben in sehr übereinstimmender Weise festgestellt.
Der Impfstoff haftet bei dem Menschen nicht ohne eine gewisse Schwierigkeit, was sich sowol durch die vielen Fehlimpfungen, wie durch das ebenso häufige Versagen ein­zelner Einstiche, neben gut aufgehenden Pocken, verräth. Ceely sah mehr als die Hälfte seiner Impfungen gänzlich missglücken (unmittelbar darauf haftete die humauisirte Lymphe bei den näm­lichen Individuen), und bei den gelungenen Impfungen erreichte die Zahl der aufgehenden Pocken selten die Hälfte der gemachten Einstiche.
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204nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp;VII. Die verschiedeneE Lymphen.
Wo die Uebertragung mit Erfolg geschehen ist, da entwickeln sich oftmals die Impfpocken zur höchsten Güte und Voll­endung. Sie zeichnen sich vor den Vaccineu aus humanisirter Lymphe durch ihre beträchtliche (bis zu 6 Linien Diameter gehende) Grosse, bedeutendere Fülle und Kräftigkeit aus; mitunter haben sie ein bläuliches, ekchymosirtes Ansehen. Die Entzündung dringt tiefer in die Cutis und das Zellgewebe ein, und die Umgebung der Pocke ist in weiterem Umfange verhärtet. Dem entspricht ein stärkeres Fieber. Der Desiccationsprocess zieht sich in die Länge, und es bleiben ausgeprägtere Narben zurück. Wenn gewöhnlich auch keine Gefahr für den Impfling vorhanden ist, so sind Erysipele hier öfter beobachtet worden, und werden die Pusteln aufgerissen, so entstehen leicht secundäre Entzündungen von grösserer Ausbreitung und Tiefe, die später abscediren, was man früher irrthümlich der directen Ab-impfung von dem Thier zur Last zu legen pflegte.
Ein anderer Theil der Impfpocken aus originärer Lymphe zeigt keine Besonderheiten, und in einer Minderzahl der Fälle setzt dieselbe sogar kleinere Pocken, als der gewöhnliche Stoff.
Eine fernere Eigenthümlichkeit des genuinen Stoffes besteht in der häufigen Verlangsamung, welche der Process erfährt. Die Eruption sowol, als die Ausbildung der Pocken verspäten sich, und der Process erreicht erst am 10. bis 12 Tage seine Höhe. Das Gegentheil, eine Verfrühung oder Beschleunigung, kommt höchst selten vor.
Die eben aufgezählten Abweichungen von dem legitimen Bilde der Vaccination hat C e e 1 y nicht selten auf ein und demselben Arme beobachtet.
Gern entstehen nachträglich an anderen Körperstellen, in ge­ringerer oder grösserer Ausbreitung, frieselähnliche Ausschläge, Lichenes und Roseolen.
Wenn, nach dem Gesagten, die entwickelteren Pusteln, die stär­keren Allgemeinerscheinungen, und, davon abhängig, eine gross ere Totalaffection zwar zur allgemeinen Charakteristik der directen üeberpflanzung der Kuhlymphe gehören, vielleicht auch die Majorität der Fälle kennzeichnen, so sind sie keineswegs weder sausschliessliche noch pathognostische Eigenschaften des originären Stoffes. Ganz dasselbe kann beim Gebrauche der übrigen Lymphen vorkommen, und andererseits tiberragen die Pusteln aus originärer Lymphe häufig diejenigen aus humanisirtem Stoffe nach keiner Richtung hin, und bleiben sogar unter den letzteren. Mehrere wtirtembergische Aerzte
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Die Kuhlymphe, originäre Lymphe.nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp;205
(He im, 1. c.) erzielten mit dem echten Stoffe ungewöhnlich kleine, wenngleich regelmässige Pocken; Impfungen auf dem einen Arme mit originärer, auf dem andern mit humanisirter Lymphe brachten so vollständig gleiche Gebilde hervor (Fehleisen, Bousquet), dass Niemand irgend einen Unterschied zu entdecken im Stande war. Dasselbe gilt von der febrilen Keaction und den allgemeinen Zu­fällen bei der Verimpfung der originären Lymphe; sie schwanken ausserordentlich, und manchmal ist nur ein beschleunigter Puls, ohne jegliche sonstige Erscheinungen, zu bemerken.
Kurz, soll der genuinen Lymphe ein bestimmter Charakter zu­erkannt werden, so wäre als solcher nur die absolute Unberechen­barkeit des Erfolges, die langsamere Einwirkung und die stärkere Irritation zu bezeichnen, welche sich an den Impfstellen bemerkbar macht, und selbst dann, wenn keine Pocken nachfolgen, die Stich­punkte in den ersten Tagen unverhältnissmässig stark entzündet er­scheinen lässt.
Die originäre Lymphe erweist sich hiernach als kein dankbarer Stoff in der Hand des Impfarztes.
Doch ist sie einer Mitigation fähig; wo sie spontan durch eine Reihe von Kühen gegangen war, erschien sie (Ceely) in der Regel immer milder bei den zuletzt, als bei den zuerst ergriffenen Exem­plaren, und ebenso verlor sie bei der künstlichen Leitung durch eine Anzahl von Thieren viel von ihrer Schärfe, und rief beim Menschen eine mildere, aber ausreichend kräftige und charakteristische Krankheit hervor. Die sogenannte animale Lymphe, welche seit einem Decennium bei uns aufgekommen ist, und in grossem Umfange eultivirt wird, repräsentirt eine solch künstlich gemilderte genuine Lymphe, und erinnert durch manche Eigenschaften an ihre Quelle.
Bei der ferneren Propagation der Kuhlymphe beim Menschen ver­schwinden allmählich die ihr bei der erstmaligen Uebertragung anhaf­tenden Mängel, undsindinder dritten oder vierten Generation vollständig überwunden: die örtliche Irritation hat dann ihre Heftigkeit verloren, die Pocken zeigen eine gleichmässigere Grosse und Ausbildung, und die Haftung der Lymphe erfolgt mit jener Sicher­heit, welche wir von dem guten humanisirten Stoffe gewohnt sind.
Ob dem Cow-pox, im Vergleich mit der humanisirten Lymphe, eine erhöhtere, und auf längere Zeit wirksame Schutzkraft gegen die natürlichen Blattern eigen ist, diese Frage lässt sich mit Bestimmt­heit nicht beantworten, und wird von Vielen, nur in theoretischer Vorliebe, zu Gunsten des ersteren entschieden.
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206nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp;YII. Die verschiedenen Lymphen.
Die Imuianisirte Lymphe.
So heisst der Inhalt der Pockenbläschen, wie er nach der Ein­impfung von originärer Kuhlymplie beim Menschen sich bildet, und bei der -weitem Ueberführung von Person zu Person unaufhörlich wieder erzeugt wird.
Es ist ein ziemlieh allgemeiner, und von der modernen Lymph­industrie absichtlich genährter Irrthum, class E. J e n n e r seine grund­legenden Experimente mit originärer Lymphe begonnen, und dann, durch den Mangel derselben gezwungen, seine Zuflucht schnell zur humanisirten genommen habe. Wie bereits an einer frühereu Stelle bewiesen, war Jenner jedoch keiner der schnellfertigen Ent­deckungsjäger neuesten Schlages, kein Mann der ängstlich besorgten „ vorläufigen Mittheilungenquot;, sondern der logisch fortschreitende Unter­sucher, dessen Entdeckungen Zeit hatten. Nachdem er die, im Volks­glauben lebende, Schutzkraft der originären Lymphe über jeden wissenschaftlichen Zweifel erhoben hatte, führte ihn die Consequenz seiner Forschungen zu der Frage, ob die vom Menschen repro-ducirte Lymphe jene Eigenschaft mit der originären tbeile, und erst, als auch dieses, an einzelnen Personen und in vier aufeinander folgenden Generationen festgestellt war, schritt er, 30 Jahre nach dem Beginne der Arbeit, zu ihrer Veröffentlichung. Die erste öffentlicheVacci-nation am 14. Mai 179G geschah mit humanisirtem Stoffe.
Die humanisirte Lymphe hat, gegenüber der originären, den Vor­zug der gleichmässigeren Wirkung. Sie haftet, unmittelbar von Arm zu Arm fortgepflanzt, und bei vorhandener Empfänglichkeit, mit absoluter Sicherheit, und, in sorgfältiger Aufbewahrung, nach ver­schieden langer Zeit noch ziemlich zuverlässig. Der Ausbrucb und die Entwickelung des Exanthems befolgt eine fast einförmige Regelmässig-keit, im Umfange und in der Ausbildung zeigen die einzelnen Impf­pocken eine grosse Uebereinstimmung, und die übrigen Lokal-, sowie die Allgemein-Erscheinungen bewegen sieh innerhalb beschränkter, und nicht erheblich wechselnder Grenzen.
Die Humanisirung des thierischen Virus geschieht allmählich, wenn anch in kurzer Frist; die ersten Generationen im Menschen lassen noch, mehr oder wenig deutlich, die Eigenthümlichkeiten, Vorzüge wie Uebelstände, erkennen, welche an der directen Ab-impfung von der Kuh haften, aber dieselben erscheinen bereits in der dritten menschlichen Generation stark abgeschwächt, um, in der vierten, höchstens fünften, einem Stoffe Platz zu macheu, welcher
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Die humanisirte Lymphe.nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp;207
durch seine vorhin geschilderten Eigenschaften für die allgemeine Verwendung tauglicher ist, und jenen milden Charakter angenommen hat, welcher das ungewöhnliche Schutzmittel erträglich macht.
Der Inhalt der Jenner'sehen Bläschen ist der hauptsächlichste Träger des vaccinalen Ansteckungsstoffes. Die Lymphe besitzt vom ersten Momente, wo sie in deutlich flüssiger Form auftritt, vom 4. oder 5. Tage ab, die vollste Infectionskraft, und haftet in der ge­ringsten Menge. Sie bewahrt diese Fähigkeit bis zum Schlüsse des 8. Tages (Tag gleich 24 stündige Periode). Weniger klebrig als genuine Kuhlymphe, muss sie, zum Zwecke der Uebertragung, wasserhell und nicht sichtbar durch Blut, Epidermisfetzen u. dgl. verunreinigt sein. Mit ihrer Trübung am 9. Tage beginnt eine Abnahme der Haftangsfähigkeit, welche, parallel dem Fortschreiten der eitrigen Umwandlung, immer mehr sich vermindert, obgleich selbst den Krusten nicht jede Virulenz abgeht. Aus diesen späteren Tagen darf der Inhalt der Pusteln niemals benutzt werden, da man nicht blos den Erfolg der Vaccination preisgibt, sondern Gefahr läuft die mannigfachen Folgen einer Eiterimpfling herauszufordern.
Die concentrirte Form der Vaccinelymphe verträgt verschiedene Verdiinnungsgrade ohne Schädigung ihrer Virulenz. Mischungen von gleichen Theilen Lymphe und destillirten Wassers beeinträchtigen dieselbe gar nicht; bei dem Verhältnisse von 1:2—3 fängt die Haftung bereits an unsicher zu werden. Bei noch stärkeren Ver­dünnungen muss dann durch die Menge der aufgewandten Lymphe und die Grosse der Impfwunden (Vesicatorflächen) ersetzt werden, was der Lymphe an intensiver Kraft geraubt ist. Die sorgfältigen Untersuchungen von Reiter geben darüber sehr interessante Auf­schlüsse ')• Er erzielte auf Vesicatorflächen, welche mit lymphege­tränkter Charpie bedeckt wurden, noch Wirkung bei Vie pCt. Ver­dünnung (d. h. bei einer Lösung von 1 Theil Lymphe in fast 1600 Theilen Wasser).
Einzelne Impfärzte haben der Lymphe von gewissen Tagen besonderen Werth beigelegt, und sie derjenigen von andern Tagen vorgezogen. Jenner, welcher anfänglich die Lymphe vom 8. Tage nahm, hielt sich später vorzugsweise an die ötägige; Delaroque, sein französischer Uebersetzer, Bousquet und andere bekannte französische Praktiker sind ihm gefolgt, zuletzt Trousseau, welcher die Lymphe des 5. Tages für die kräftigste erklärt; und zwar soll das
1) Studien über die Ansteckungsfahigkeit des Kuhpockenstoffes. Bayr. ärztl. Intelligenzbl. 1872. Nr. 15.
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208nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp;VII. Die verschiedenen Lymphen.
Exanthem bei derselben rascher und kräftiger sich entwickeln, und länger in Blütbe stehen. C e e 1 y bediente sich gleichfalls der Lymphe des 5. und 6. Tages, und findet sie besonders vortheilhaft. Ihnen gegenüber hat sich überall die Sitte und die Gesetzgebung fur den 8. Tag (das Ende der 7 mal 24 stündigen Periode) entschieden, und nicht blos, wie ich glaube, aus den äusserlichen Gründen, weil die Pocke an diesem Tage lymphreicher ist, und weil der achttägige Turnus, bei den öffentlichen Gesammtimpfungen, die Ordnuug im Impfgeschäft bequem aufrecht erhält — sondern weil die gerühmten Merkmale einer jüngeren Lymphe keine durchgreifenden sind. Meine eigenen Versuche mit der Lymphe vom 5., 6. und 7. Tage berech­tigen mich nicht, einem derselben den Vorzug zuzusprechen. Ich fand bei der Lymphe des 5. und 6. Tages dieselbe Regelmässigkeit, oder dieselbe Beschleunigung, oder endlich die gleiche Verzögerung des ganzen Verlaufes, wie wir alles dies von der achttägigen Lymphe her kennen. Auch in den übrigen Effecten trat nichts Eigenthüm-liches oder Constantes hervor, was allein auf den Impfstoff zu be­ziehen gewesen wäre, und die Individualität des Impflings und seine Haut, die Impfmethode, die Jahreszeit gaben hier, wie überall sonst, den Ausschlag.
Die Rcvacciiilymplie.
Mit derselben Berechtigung, wie die Vaccinallymphe der Kinder, kann die Lymphe vom Arme revaccinirter Er­wachsener benutzt werden, sowol zur erstmaligen (Jugend-) Impfung, als zu den späteren Wiederholungen derselben. Die Be­dingung versteht sich dabei von selbst, dass eine solche Lymphe aus wirklich echten, vollkommen legitimen Revaccinen geschöpft werde. Von mehr oder weniger modificirten weiter zu impfen, verbietet gegenwärtig die Vorsicht, weil wir den Werth einer solchen Lymphe nicht zu beurtheilen vermögen.
Gegen die Lymphe Kevaccinirter zu ferneramp;n Revaccinationen, geschweige zu Kinderimpfungen, ist vielfacher, und meist sehr feier­licher Protest eingelegt worden, da man sie als veritable Lymphe garnicht gelten lassen will. Man bezeichnet die, von der Revaccination erzeugte Lymphe als eine unechte, wie die Schutzpocken Revacci­nirter keine echten, sondern kurzweg modificirte sein sollen,
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Die Kevaccinlymphe.nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; 209
Eine solch' allgemeine Aburtlieilung der Revaccinen und ilires Inhaltes beweist soviel Willkür, als Missverständniss. So wahr, wie der Schutz der ersten Impfung erlöschen, und das Individuum, hin­sichtlich seiner variolösen Empfänglichkeit, auf die Stufe vor der Vaccination zurücksinken kann, ebenso sicher kann dieses Individuum, abermals geimpft, auch wieder Lymphe reproduciren, wie ein Kind; der, vom Vaccineschutz verlassene Erwachsene ist kein anderer, als ein üngeimpfter. Nichts lässt eine Abhängigkeit der Lymphqualität von den Lebensjahren, welche der Impfling zählt, erkennen oder vor­aussetzen. Die erste öffentliche Impfung Jenner's mit humanisirter Lymphe geschah von einem erwachsenen Mädchen. Was die Kevaccinations-Efflorescenzen betrifft, so gibt es zwar eine lange Reihe von mehr oder weniger unvollkommenen oder modificirten, die nur für das geimpfte Individuum selbst Bedeutung haben, und deren Lymphproducte hier nicht in Frage kommen können — auf der letzten und höchsten Stufe aber, welche den legitimen Erfolg reprä-sentirt, stehen Revaccinen so echt in jeder Beziehung, wie Vac-cinen nur sein können, und deshalb auch von der Brauchbarkeit der letzteren. Ich habe mit solcher Revaccinlymphe von Erwachsenen, und von Greisen über 70 Jahre, vielfach Kinder geimpft, und Er­wachsene rcvaccinirt, und die erzielten Impfpocken in Form und Verlauf, d. i. in ihren entscheidenden Charakteren, klassisch be­funden. Reiter revaccinirte im Jahre 1840 118 Sträflinge in dem Zuchthause zu München, auf je einem Arme mit Vaccine, auf dem andern mit Revaccinestoff, und beide Lymphen bewiesen ein durchweg gleiches Verhalten; wo die eine normale oder modifichte Pocken hervorbrachte, that es in derselben Weise die andere, wo die erste ganz versagte, brachte auch die zweite nichts zu Wege. Die Schutzkraft der Revaccinlymphe aber ist nun bereits hin­länglich beim preussischen und bayrischen Militair erprobt, wo, seit 30 bis 40 Jahren, fast ausschliesslich von den revaccinirten Rekruten weiter revaccinirt wird. Die Geringschätzung der Revac­cinlymphe, und die Bedenken gegen ihre Verwendung seheinen mehr dem Zufalle entsprungen zu sein, welcher vielen Praktikern kaum je wirklich legitime Revaccinen unter die Hände spielte.
Die Unechtheit der Revaccinlymphe soll freilich, nach E. Mül­ler, erst in den späteren Descendenzen deutlich werden, wo die Impfpocken mehr und mehr verkümmern. Der Beweis dafür fehlt, während im Gegentheil die preussischen Militair - Revaccinationeu mit ihren zahlreichen jährlichen Descendenzen derselben Revaccin-
Bohn, Handbuch der Vaccination.nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; 1-4
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210nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp;VII- Die verschiedenen Lymphen.
lymphe, eine derartige Verkümmerung bisher niemals angemerkt haben.
Die Gefahr der Uehertragung von ansteckenden Krankheiten durch die Lymphe Erwachsener, und das scheint die im Hintergrunde stellende Hauptbeftirehtung zu sein, droht keineswegs mehr, als hei Kindern und lässt sich vielleicht, die überall nothwendige Umsicht vorausgesetzt, noch eher bei erwachsenen Stammimpt'lingen ver­meiden.
Das bayrische Ministerium des Innern hat durch Erlass vom Jahre 1868 die Benutzung des Eevaccinestoffes gestattet'). In dem officiellen Gutachten, welches dem Erlass zu Grunde liegt, geht Dr. Keiter noch weiter, als ich im Augenblicke für erlaubt halte. „Von welcher Form des Impfausschlages bei einem Revaccinirten man auf einen Ungeschützten impfen mag, so entsteht immer eine vollkommene Vaccine, oder es entsteht gar nichts. Der Erfolg der Impfung wird um so sicherer sein, je entwickelter die Form des Ausschlages bei dem Revaccinirten war.quot; Das heisst also, auch eine modificirte Revaccinepustel kann eine legitime Vaccine erzeugen, und es würde dadurch die Parallele mit der echten Variola vollständig hergestellt sein, wo alle modificirten Formen (Varioloiden) die Quelle echter Blattern werden können. Die Gefahr bei der Verwendung unvollkommen entwickelter Revaccinen liegt, nach Reiter, nur darin, dass, wenn eine Revaceination mit ihnen fehlgeschlagen, man nie auf eine Unempfänglichkeit des Revaccinirten schliessen dürfe. Es wäre höchst wünschenswerth, diese Angaben Reiter's durch neue Untersuchungen zu prüfen.
Es hat auch an Ueberschätzung der Revaccinallymphe nicht ge­fehlt, welche Heim bei der Revaceination für sicherer, als die Vac-cinlymphe erklärt, und zwar im Verhältniss von 633/j : 53. Er sah jene oftmals da anschlagen, wo die letztere. versagt hatte, wobei er ausser Acht zu lassen scheint, dass die erste Revaceination nicht selten fehlschlägt, und erst die zweite oder dritte, sofort wiederholte, haftet.
1) Intelligenzbl. bayr. Aerzte. 1568. Nr. 30.
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Degeneration der humanisirten Lymphe.nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; 211
Die Degeneration der liuiuanisirten Lymphe.
Wie S. 205 angegeben ist, weichen bei der erstmaligen Ver­pflanzung der Variola vaccina von der Kuh auf den Menschen, so­wie in den drei bis vier nächstfolgenden Generationen, die örtlichen und allgemeinen Wirkungen des Contagiums, mehr oder weniger stark von denjenigen ab, welche in der spätem Propagation der humanisirten Lymphe zu Tage treten.
Es folgt hieraus, dass die originäre Kuhlymphe anfangs Veränderungen im menschlichen Organismus erfährt, welche, unbekannter Natur, dem fremden, modificirenden Boden zu­gesehrieben werden müssen, und einer Acclimatisation vergleichbar sind. Eine solche Veränderung im Virus kann weder ausbleiben, noch befremden, weil die Säfte einer andern Thiergattung die Ke-production desselben bewerkstelligen, und nur die Schnelligkeit, mit der jene Umänderung vor sich geht, erscheint bemerkenswerth.
Erhält sich die, nun in quot;Wahrheit vermenschlichte Lymphe, auf solchem Punkte angelangt, in gleicher Eigenschaft und Kraft durch alle ferneren Xachkommenschaften, welche mau ihr gibt, oder geht sie in den folgenden Körpern noch immer weitere Veränderungen ein? Von vornherein ist das letztere unwahrscheinlich, sobald einmal die Vermenschlichung der Lymphe vollendet ist, und fernerhin der Boden generell derselbe bleibt.
Jenner, welcher die ungeschmälerte Wirksamkeit der humani­sirten Lymphe für die ersten vier Generationen experimentell er­probt hatte, verwies jene Frage, was die späteren Descendenzen betreife, an die Zukunft, wenngleich er der Ueberzeugung war, dass man nicht genöthigt sein werde, dereinst frischen Ersatz von der Kuh herzuholen. Doch wurde diese Meinung schon frühe bean­standet, und der Zweifel in die Unversehrtheit der, von Arm zu Arm fortwandernden Lymphe hat sich im Laufe der nächsten Jahr­zehnte so verstärkt und eingebürgert, dass augenblicklich ein grosser Theil der Aerzte, und das Laienpublikum durchgängig, der ent­gegengesetzten üeherzcugung, welche Jenner ausgesprochen, huldigt. Die Bekenner derselben behaupten demnach, auf Theorie und That-sachen sich berufend, eine stetig fortschreitende Verände­rung, und damit eine allmähliche Schwächung und Ent­artung, welcher die Lymphe bei, und wegen ihrer unausgesetzten Wanderung durch die zahllosen menschlichen Körper anheim gefallen sei, und glauben sich berechtigt, unserem heutigen Stoffe eine sehr ein-
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212nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp;VII. Die verschiedenen Lymphen.
geengte Schutzkraft zuerkennen zu dürfen, da sie ihm dieselbe un-möglicli ganz absprechen können.
Den ersten Stoss hatte die humanisirte Lymphe von den, anfangs vereinzelten, dann immer häufigeren Fällen erlitten, wo Menschen-blattern nach einer regelmässig verlaufenen Vaccine aufgetreten waren. Beobachtungen der Art wurden in England bereits in den J. 1S00 und 1S01 gemacht; einige Jahre später schätzte Will an1) die Häufigkeit der Blattern an Geimpften wie 1 auf S00, Pearson (1806) wie 1 auf 1000, das königliche Collegium der Aerzte in London wie 1 auf 3000. In den, durch ganz England verbreiteten Epidemien von 1816—18 hatten sich die Blattern bei Geimpften auffällig gemehrt, um dann, vom Anfange des dritten Jahrzehnts ab, steigend eine erschreckende Zunahme in allen Ländern Europas zu gewinnen. Gegen Ende der 20er Jahre berechnete man schon 1 Blatternfidl auf 2 bis 300, ja auf 60 Vaccinirte. Die Pocken waren wieder so häufig geworden, dass „der Ungeimpften unmöglich so viele vorhanden sein mochten, als Blattern vorkamenquot;.
Selbst die Form der Erkrankungen bei Geimpften, die Vario-loiden dienten denjenigen, welche auf die absolute Schutz­kraft der originären Lymphe pochten, zum offenbaren Beweise, dass die humanisirte wesentlich an Leistungsfähigkeit eiugebiisst habe2).
Verglich man nun die örtlichen und allgemeinen Erscheinungen, welche die Vaccination im Anfange des Jahrhunderts und später her­vorgerufen hatte, so glaubte man wahrzunehmen, dass die Schutz­pocken der 20er und 30er Jahre nicht mehr die Zufälle erregten, welche einstmals den frischeren Stoff ausgezeichnet hatten. Den späteren Impfpocken fehlte die „bläuliche, bleiartige Farbequot;; die sonst am 6. Tage eintretende eigenthümliche Schwere und Mattigkeit im ganzen Körper, der lebhafte Achselschmerz, die Steifigkeit im Arm, das heftige Fieber vom 6. bis 8. Tage — alles dies kam jetzt viel seltener vor: das Gift schien ehemals fremdartiger und deshalb eingreifender gewesen zu sein, und hatte schneller auf die Constitution eingewirkt.
Steinbrenner und Trousseau haben diese, sehr allgemein gehaltene Anklage gegen die humanisirte Lymphe genauer zu
1)nbsp; On Vaccine-Inoculation. Lond. 1S07. Deutsch von Mühry. Götting. 1S0S.
2)nbsp; Nicolai, Erforschung der alleinigen Ursache des immer häufigeren Er­scheinens der Menschenblattem bei Geimpften. Berlin 1833.
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Degeneration der humanisirten Lymphe.nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp;213
fassen versucht ')• Nach ihnen kommt die Degeneration dadurch zu Stande, dass man fast immer eine zu späte (die achttägige) Lymphe verimpft, und dieselbe häufig von schwächlichen oder dys-krasischen Geschöpfen hernimmt. Trousseau fordert deshalb zur Erhaltung eines guten Impfstoffes die Auswahl gesunder und kräftiger Stammimpflinge, und schöne breite Pusteln des 5. oder 6. Tages, welche die wirksamste Lymphe liefern.
Die eben angeführten Gründe für die Degeneration der bumani-sirten Lymphe sind bis auf den heutigen Tag, unverändert und unver-mehrt, die einzigen geblieben, welche geltend gemacht werden konnten 2). Namentlich waren und sind es die Deutschen, welche die Verschlechterung des alten Impfstoffes, im Widerspruch mit den meisten englischen und französischen Aerzten, festhielten, und durchaus natür­lich fanden. Und doch wird sich unschwer erkennen lassen, dass, wenn die behauptete Entartung des vaccinalen Virus auf keinen festeren Stützen ruht, sie nicht den Ausweis einer glaubwürdigen, geschweige einer wissenschaftlichen Thatsache besitzt.
Die unklare Vorstellung, welche die zunehmende Erschöpfung des gewöhnlichen Impfstoffes aus der unaufhörlichen Abgabe von Schutzkraft entstanden denkt, welche also die Naturkräfte mit den, im Gebrauche sich abnutzenden menschlichen Schöpfungen paralle-lisirt, muss als indisputabel bei Seite bleiben. , Die Syphilis wandert nun schon Jahrhunderte, wenn nicht länger, von einem Körper zum andern, ohne im XIX. siech und fadenscheinig geworden zu sein.
Was bedeutet jedoch die „sichtbar verkümmertequot; äussere Ge­staltung unserer heutigen Impfpocken, im Vergleich zu ihren Vor­gängern um den Anfang des Jahrhunderts? Grosse, zusammen­hängende Beobachtungsreihen, ein Abbild des allmählichen Verfalls der Lymphe liegen nicht vor. Da die Verschlechterung schon im
1)nbsp; Steinbrenner, Traite sur la Vaccine. Paris 1846. — Trousseau, Ciiniq. med. Tom. I. 1860.
2)nbsp; Die Möglichkeit einer Entartung der Vaccine im menschlichen Körper hatte man früher noch durch das quot;Wuthgift der Hunde anschaulich zu machen ge­sucht, „das, auf Menschen und Wiederkäuer übertragen, zwar die Kabies hervor­rufe, aber, unfähig von denselben reproducirt zu werden, schon in der ersten Generation zu Grunde gehequot;. — Die späteren Impfversuche von Magen die und Brechet, Hering und Gurlt haben die Inoculabilität des Blutes undSpeichels wuthkranker Menschen und Rinder dargethan, und jener vermeintlichen Thatsache den Boden entzogen.
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214nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp;VII. Die verschiedenen Lymphen.
dritten Decenuium sehr deutlich erkennbar gewesen sein soll, so niüsste man sich wundern, wie heut, nach ferneren 50 Jahren, noch etwas Pockenähnliches aus der verblassten humanisirten Lymphe herauskommt.
Der angestellte Vergleich ist aber auch ungenau und will­kürlich. Denn wenn Trousseau, und Andere mit ihm, die eng­lischen Abbildungen von Vaccinebläschen aus dem Jahre 1798, und die französischen vom Jahre 1802 mit Vaccinen vom Jahre 1857 gegen einander halten, und daraus ungünstige Schlüsse für die letz­teren ziehen, so stellen sie Bläschen, welche zum grössten Theile aus originärer Lymphe hervorgegangen waren, mit solchen aus humanisirtem Stoffe zusammen, und vergessen, dass zu jenen Kupfer­tafeln natürlich die auserlesenen Exemplare gesessen haben, während uns, in der Fluth der heutigen Impfungen, auch viel Mittelgut zu Gesichte kommt.
Solchen nachtheiligen Vergleichen widersprechen nun aber die Zeugnisse anderer ebenbürtiger Beobachter geradezu. Jenner sagt 1800: die von mir gegenwärtig, seit 8 Monaten gebrauchte Lymphe hat in ihrer lokalen wie allgemeinen Wirkung nicht die mindeste wahrnehmbare Veränderung erlitten. — Bremer's Lymphe hatte vom Jahre 1800—1804: 169 Generationen durchlaufen, und er fand 1804 die Güte der Impf bläschen, sowie alle übrigen Symptome, denen von 1800 vollständig gleich. — Zöhrer, der Arzt des östreichischen Schutzpocken-Hauptinstitutes zu Wien schreibt 184(3'): laquo;die Einzel­gestaltungen und die Färbung des Pockengebildes sind von de Carro bis jetzt dieselben geblieben, wie die von ihm in seinem Werke 1799 eingeschalteten Abbildungen augenscheinlich beweisen. Ja wenn wir die Vaccinepusteln, wie sie in den letzten Jahren, durch ein aufmerksames Fortimpfen aus der alten Jenner'schen Geuitur, ge­wonnen wurden, mit dem Bilde von de Carro vergleichen, so müssen wir gesteheu, dass sich nicht allein keine Abnahme herausstellt, sondern dass die Neuzeit Vaccineformen mit dem alten Stoffe zu Tage gefördert hat, die in Betreff der kräftigen Keaction den ersten Anbau sogar übertreffen.quot;
Auch in den folgenden Decennien hat das Wiener Institut, wel­ches, neben der alten Jenner'schen Lymphe, stets' eine Anzahl mit originärem Stoffe, in verschiedenen Zeiten, angelegter Genituren führt, wiederholt bekennen müssen, dass ein äusserer Unterschied zwischen
1} Der Vaccineprocess und seine Krisen. 2. Aufl. 1S4C. S. 95.
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Degeneration der humanisirten Lymphe.nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp;215
den Effecten dieser verschiedenen Lymphen nicht wahrzunehmen ge­wesen sei.
Ich halte diesen Punkt für viel zu wichtig, um nicht noch weitere, befugte Zeugen herbeizuziehen. So urtheilt Doej)]), ein früherer Oberarzt des St. Petersburger Findelhauses, im Jahre 1835, zu welcher Zeit die alte Jenner'sche Lymphe im Hause noch nicht erneuert war, dass die Impfpocken, welche er erziehe, mit seltenen Ausnahmen vollkommen das Aussehen der zu Jenner's Zeiten so vielfach abgebildeten, und auch genau denselben Verlauf hatten'). Der Italiener G r i v a und andere namhafte Impfärzte Italiens konnten 1S29, wie sie ausdrücklich erklären, einen Unterschied im Effecte der gewöhnlichen humanisirten Lymphe von dem der originären, mit weicher sie experimentirten, nicht bemerken2). In Dänemark wurde die Lymphe, welche 1800 von Jenner geschickt worden war, bis zum Jahre 1S35 ohne Unterbrechung fortgeleitet. Man weiss Nichts, sagt Dr. Otto in Kopenhagen, was auf eine Ver­schlechterung derselben hindeute. Ein gleiches Urtheil enthält der Bericht des National-Vaccine-Etablissements zu London über die 38 Jahre alte, von Jenner herstammende Lymphe des Institutes3).
Wenn demnach also die Lymphe in 8 Monaten, in 4, in 30, 40 und mehr Jahren keine Veränderung in ihren sichtbaren Wir­kungen erlitten hatte, in welcher Impfgeneration beginnt dann ihre Verschlechterung, und woran soll man dieselbe erkennen? Denn die heutige Form und der Verlauf der Vaccinen müssten sich nothwcndig in der auffälligsten Abweichung von der Jenner'schen Zeit befinden, wenn ihr Inhalt so bedeutend verändert wäre, als man glaubt.
Der Schluss aus den vorstehenden Urtheilen, welche alle Tage bestätigt und vermehrt werden können, ergibt sich von selbst. Wenn indessen nun die humanisirte Lymphe unserer Tage zwischen­durch auch mittelmässige und kümmerliche Pocken zu Wege bringt, so weiss jeder Sachkundige, dass die lokale und allgemeine Reaction auf die Impfung von den verschiedenartigsten Umständen beeinflusst werden, von der Individualität des Impflings, von der Beschaffenheit seiner Haut, ja selbst von der äussereu Temperatur, dass der Umfang sowie die übrige Entwickelung der Impfpocke
1)nbsp; Vermischte Abhandlungen aus dem Gebiete der Heilkunde, von einer Ge­sellschaft prakt. Aerzte in Petersburg. 1S25.
2)nbsp; Geely 1. c. S. 100.
3)nbsp; John Baron, Der gegenwärtige Zustand der Vaccination, übersetzt von Gmelin. 1840.
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216nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp;VII. Die verschiedenen Lymphen.
wesentlich von der Impfmetbode abhängt, von der Lancette oder Nadel, von der Tiefe uud Breite des Einstichs, d. b. von der Stärke der Verwundung u. s. w. So entrollen sich selbst bei den, zur gleichen Stunde und mit der nämlichen Lymphe Vaccinirten die mannichfachsten Impfbilder.
Und solche Differenzen in der äusseren Gestaltung der Vaccinen kleben so wenig an dem humanisirteu Stoffe, class sie gerade den Charakter der genuinen Lymphe ausmachen. Die Bläschen aus der­selben sind, wie oben gezeigt ist, garnicht selten weniger schön, oder in ihrer Entwickelung um Vieles gegen andere Pocken zurück, und bei gelingenden Weiterimpfungen findet sich bei den verschie­densten Constitutionen eine endlose Verschiedenheit in den Charak­teren der Pockenbläschen (Ceely)1)-
In gleicher Weise begegnet die Behauptung, es entscheide der Tag der Lymphabnahme und die Constitution des Stammimpflings über das fernere Schicksal der Lymphe (S t e i n b r e n n e r und T r o u s -seau), thatsächlichem Widerspruche. Meine stets gleichen Ergeb­nisse mit der Lymphe der verschiedensten Tage habe ich schon erwähnt, und was die Constitution des Stammimpflings betrifft, so kann man sich jederzeit die Ueberzeugung verschaffen, dass ge­sunde, blühende Kinder, welche von Schwächlingen geimpft worden sind, die schönsten Pocken produciren, wie umgekehrt elende Impf­linge auch dem tadellosesten Stoffe keine Ehre machen.
Das zweite Argument gegen die Integrität der unaufhörlich fortgepflanzten humanisirteu Lymphe, nach welchem geimpfte Per­sonen um so häufiger und zahlreicher den Blattern anheimgefallen seien, je weiter man sich von der Einführung der Vaccination ent­fernt habe, — dieses Argument ruht freilich auf einer unerschütter­lichen Grundlage. Allein die Folgerung, daraus springe mit fast arithmetischer Sicherheit die hinsinkende Kraft der späteren Lymphe hervor, durfte in der That nur das zweite und dritte Decennium unseres Jahrhunderts sich gestatten, wo die Kenntnisse von dem Wesen der Vaccine, selbst im grossen ärztlichen Kreise, dürftige
1) Dieselbe Erfahrung hat man bei der animalen Lymphe gemacht. Die Pocken fielen in einer ganzen Reihe von Kälbern schlecht aus, um sich bei den folgenden Descendenten wieder in ausgezeichneter Güte zu entwickeln, d. h. Lymphe aus schlechten Pocken erzeugte plötzlich wieder gute, und umgekehrt (s. Cle-mento wski).
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Degeneration der humanisirten Lymphe.nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp;217
waren, weil man, von ihrer sanitären Leistung entzückt, vergessen hatte, die Kuhpocken zu studiren.
In den späteren Abschnitten dieses Buches, wo die Kritik der Vaccination zur Sprache kommt, werden die wirklichen Ursachen der stetigen Pockenzunahme in unserem Jahrhundert eine passendere Stelle finden, und wird deutlich werden, dass die Anklage an ganz andere Adressen, als gegen den gebrauchten Impfstoff, zu richten ist.
Bleibt uns, nach Alledem, die Entartung des humanisirten Stoffes ein unverständlicher Begriff, so hat die Lymphe, durch die viel­fache Propagation in der menschlichen Art, schon frühe einen ge­wissen Grad der Mildheit erworben. Sie wiederholt damit nur das, für die verschiedenen Pockenformen des Menschen und der Thiere gültige Gesetz, nach welchem das variolöse Virus, bei der absichtlichen Fortpflanzung in derselben Thiergattung, regelmässig eine Mitigation erfährt. Ist jene Mildheit, welche oft mit Degenera­tion verwechselt wird, ein Vorwurf unserer heutigen Lymphe? Son­derbar, dass wir den Kindern zu einem flüchtigen Scharlach, zu leichten Masern und Variolen Glück wünschen, und von der Vaccine nicht genug bekommen können! Wenn die milde Kuhpockenkrank­heit zugleich eine ausgesprochen charakteristische ist, dann erfüllt sie ihren Zweck hinreichend.
Indess — die Degeneration der Lymphe ist nun einmal für Viele, wenn nicht für die Meisten, zum Lehrsatz geworden, und es sind maunichfache Verfahren, den Impfstoff zu verbessern, die Folge davon gewesen, Verfahren, nicht ohne allen praktischen Werth, aber von weit überragendem wissenschaftlichem Inhalt.
Die Methoden zur Eegeneration der Lymphe sind folgende:
1)nbsp; Die Kückkehr zur originären Lymphe, d. h. die möglichst häufige Einschaltung dieses Impfstoffs.
2)nbsp; Die Variolation der Kühe.
3)nbsp; Die Retrovaccination der Kühe, oder die Auf­frischung der humanisirten Lymphe durch ihre Rückimpfung auf die Kuh.
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218nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp;VII. Die verschiedenen Lymphen.
4) Die Zucht der animalen Lymphe, oder die un­unterbrochene, künstliche Fortleitung von origi­närer Lymphe in Kühen oder Färsen.
1. Die ^yiederaufiiahme der origiuären Lymphe.
Es lag am nächsten, auf den ürstoff der gewöhnlichen Lymphe zurückzugreifen, und das ist von zahlreichen Privatärzten und von den grossen Impfinstituten geschehen, welche wiederholt neue Geni-turen damit angelegt haben. Die günstige Gelegenheit zur Einführung originären Stoffes soll niemals versäumt werden, schon um das all­gemeine Vertrauen zur Vaccination zu stärken. Verschiedene Eegie-rnngen (die von Würtemberg, Baden, Preussen u. s. w.) haben Be­lohnungen für die rechtzeitige Anmeldung von Kuhpocken, und für die gewährte Benutzung derselben ausgesetzt. Leider sind die Prämien viel zu niedrig, und ihr Vorhandensein gerade dem Land­volke fast ganz verborgen, das in der Eegel nur die Kuhpocken, welche der Kreisimpfarzt den Kindern einsetzt, kennt. Geistliche und Schullehrer auf dem Lande könnten sich hier Verdienste er­werben.
Allein es wird stets aussei- unserer Macht bleiben, für die Verwen­dung der originären Lymphe in dem ausgedehnten Umfange, welcher hier gedacht wird, das Material zu beschaffen. Der Fund einer impf­tauglichen Poeke an der Kuh bleibt vorläufig eine Glückssache. Verspätete Anzeigen, bereits aufgerissene Pocken u. dgl. vereiteln wol immer die Hoffnung des Arztes, auch wenn ihm die Vorurtheile der Thierbesitzer nicht entgegenarbeiten. Die mancherlei Uebelstände, welche die ersten Uebertragungen des originären Stoffs auf den Menschen zu begleiten pflegen, schränken seine Benutzung ein, und verweisen ihn mehr an die Impfanstalteu.
'i. Die Yariolation der Kühe und die Variolo-vaccinhuiplu'.
Zwei verschiedene Ansichten über das Verhältniss von Kuh-und Menschenpocken führten dahin, den Eiter der Variola humana auf Kühe zu verimpfen, um eine, allezeit zugängige und vorzügliche Quelle von echter Kuhlymphe zu ersehliessen.
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Variolation der Kühe und Variolo-vaccinlymphe.nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp;219
Die ältere Ansieht nimmt einen gemeinschaftlichen Ursprung von Mensehen- und Kuhpocken an; das Eine Virus, von dem sie her­stammen, werde, je nachdem es in den menschlichen oder Kuh­organismus eintrete, abgeändert, und in ein bösartiges und in ein mildes gespalten. Das erstere, das Virus variolosum hominis müsse sich demnach, so folgerte man, künstlich zu dem letztern, dem Virus vaccinale, mildem lassen, wenn man es durch die Kuh hindurch­schicke.
Dr. Basil Thiele in Kasan dagegen ging von der Annahme aus, dass die Urpocke dem Menschengeschlecht eigen sei, und die Variola vaccina nur eine, vermittelst des Thierkörpers reducirte oder depotenzirte Mcnschenpocke darstelle; es könne mithin die Kuhpocke aus der Mcnschenpocke erzogen werden.
Fast alle hier einschlägigen, hochinteressanten Versuche sind unabhängig von einander unternommen worden. Sacco, dem sonst sehr glücklichen Experimentator, wollten die seinigen auf keine Weise gelingen, so dass er an der Möglichkeit, die Kühe zu varioliren, zweifelte. Es gehört demnach der friiheste erfolgreiche Versuch, wie es scheint, dem Stadtphysikus und Landgerichtsarzt Dr. G- a s s n e r in Gitnzburg (Königreich Bayern) an. Derselbe impfte, 1807, mehrere Kühe mit Kinderblattern, und sah, bei elf Stück derselben, Kuhpocken aufgehen; mit dem Inhalte der letzteren wurden vier Kinder vaccinirt, welche sehr schöne Impfpocken bekamen. Diese kurze Nachricht, welche sich in der Salzburger med.-chirurgischen Zeitung, Aug. 1807. No. 67 vorfindet, ist erst sehr viel später entdeckt worden, aber die Methode, mit welcher Gassner so glücklich war, hat Niemand er­fahren können. Auch die erfolgreichen Verimpfungen von Menschen­pocken auf Kühe, welche Brown in England und Macphail in Baltimore zugeschrieben werden, sind nur dem Namen nach be­kannt.
Grosses Aufsehen erregten die Mittheilungen des Dr. Sunder-land in Barmen (Hufeland's Journal 1830), welcher Kühe dadurch pockenkrank gemacht haben wollte, dass er dieselben mit Laken, auf denen Pockenkranke gelegen hatten, bedeckte und die Laken dann noch später über den Krippen der Thiere ausbreitete. Aber diese Versuche, welche die unter Menschen gewöhnliche Art der Ansteckung nachahmten, haben, obgleich an vielen Orten wiederholt, nirgends die von Sunder land behaupteten Resultate ergeben.
' So müssen Thiele in Kasan, lS3fi, und Ceely, 1838, als die ersten betrachtet werden, welchen dieser Gegenstand sehr schöne
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220nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp;VII. Die verschiedenen Lymphen.
Aufscliliisse verdankt.') Beide, ohne Kenntniss von einander arbeitend, impften den Thiereu mcnsclilichen Pockenstoff am Euter und an der Vulva ein, und erzielten damit eckte Kukpocken. Die Inoculation der Variola hatte bei der Kuh niemals einen allgemeinen Ausschlag zur Folge, sondern blieb auf die Impfstellen beschränkt.
Die Symptomatologie und der Ve r 1 a u f der Variola -Vaccine an der Kuh kommt, nach den beiden Experimentatoren, wesentlich mit den Erscheinungen überein, welche die Verimpfung originärer Kuh­lymphe bei den Thieren hervorbringt. Das Allgemeinbefinden und die Fresslust werden nicht besonders gestört, obgleich, zwischen dem 4. und 7. Tage, ein schnellerer Puls, und vermehrte Wärme an den geimpften Orten wahrzunehmen sind. Die Zeit, wann die wasser­helle Lymphe zum Weiterimpfen abgenommen werden kann, hängt von der Entwickelung der Pustel ab, und da letztere manchen Schwankungen unterliegt, fällt auch jene Zeit zwischen den 6. und 10. Tag (Thiele).
Die bei den Kinder n von dieser Variola-Vaccine-Lymphe gebil­deten Pocken nehmen eine, der gewöhnlichen Vaccine sehr ähnliche, und nur in den ersten Generationen intensivere Entwickelung. Als Thiele seine Abhandlung schloss, hatte er den neuen Impfstoff durch 75 menschliche Generationen geleitet, und auf mehr denn 3000 Personen übertragen. Die Schutzkraft der Variola-Vaccine wurde durch nachträgliche Probeinoculationen mit echter Blattem-materie in 21 Fällen sicher gestellt, während andere mit dem Stoffe Geimpfte den Verkehr mit Pockenkranken ungeschädigt unter­hielten.
Grössere Schwierigkeiten fand Ceely bei der Verpflanzung dieser Lymphe auf den Menschen. An dem gänzlichen Versagen vieler Stiche, dem Auftauchen vieler lymphlosen Knötchen, und an der geringen Zahl vollkommener Pocken erkannte er die nämlichen Uebelstände, welche bei Verimpfung von originärer Kuhlymphe beobachtet werden; und dieselben waren in noch späteren Gene-rationeu, als bei dem genuinen Stoffe, nicht völlig überwunden. Sodann verzeichnet Ceely ein doppeltes Fieber bei den Versuchs­personen, primäre Zufälle vom 5. bis 7. Tage (Unruhe, Verdrüsslich-keit, Appetitmangel), und seeundäre am 9. und 10. Tage, welche in
1) Thiele, Die Menschen- und Kuhpocken in ihrer Identität, und Kück-bilduug ersterer zur Vaccine. Henke's Zeitschr. für die Staatsarzneikunde, 1S39. Bd. 37. — Ceely, Beobachtungen über die Kuhpocken u. s. w., übersetzt von Heim. 1S41.
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Variolation der Kühe uud Variolo-vaccmlymplie.nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; 221
fieberliafter Aufregung, Delirien, Erbrechen und Diarrhöe bestehen, und worüber namentlich Erwachsene sich sehr beklagen. Nur selten fehlt jedes Unwohlsein. Die Zahl der aufgegangenen Pocken stand mit allen diesen Zufällen in keinem bestimmten Verhältnisse.
Nachträgliche allgemeine Hauteruptionen (Roseola, Strophulus uud ein pemphigusartiger Ausschlag) erschienen nach diesen Impfungen in keiner auffallenden Häufigkeit, uud ohne jede Annäherung zum variolösen Charakter.
Ueber 2000 Individuen wurden theils von Ceely, theils von anderen Aerzteu mit der Variola-Vaccinlj-mphe geimpft. Der Stoff hatte in den mehr als 60 Generationen, welche er unter Ceely's Augen durchwanderte, die oben erwähnten allgemeinen Charaktere bewahrt; 5 Monate bis 2' 2 Jahre später wurde 112 von diesen Personen fruchtlos der Eiter echter Variola inoculirt.
Die Variola-Vaccinlymphe, so schliesst Ceely, in Ueber-einstimmung mit seinen englischen Collegen, ist nichts, als eine kräftigere gewöhnliche Lymphe, und steht dem genuinen Kuhpockenstoffe sehr nahe; wie dieser, schützt ihre Einimpfung, gegen Menschcnblattern.
Reiter hat sehr viele Kühe mit Menschenblatternstoff, jedoch immer ohne Erfolg, geimpft, bis auf ein einziges Mal, wo er bei einer Kuh eine Blatter aufgehen sah. Aus dieser impfte er ein Kind mit Stich und Schnitt auf jedem Arme: es bekam nur auf dem rechten Arme zwei Blattern, war bis zum 10. Tage wohl, zeigte dann aber, über den ganzen Körper zerstreut, 15 Bläschen, wie leichte Varicellen, und erkrankte nicht unerheblich ')•
Dr. Senf ft-) impfte vier Kälber am Bauche mit dem (in Röhr­chen aufgefangenen) Eiter von schweren Variolen. Sämmtliche Stiche hafteten, und es entwickelten sich liusengrosse Pusteln, etwas flacher und stärker genabelt, als Vaccinepusteln zu sein pflegen, ohne jede Reaction in der Umgebung. Die mit Spannung erwartete allgemeine Eruption blieb aus, und die Thiere behielten, wie bei der Impfung mit Vaccinlymphe, die Fresslust. Am 6. Tage hatten die Pusteln ihre höchste Entwickelung erreicht. Mit der, aus denselben entnommenen Lymphe impfte Senf ft direct ein zweites Kalb mit bestem Erfolge. Eine spätere Vaccination der vier Versuchsthiere mit animaler Lymphe, 14—21 Tage nach der Abheilung der Pusteln, versagte. — Bei zwei
1)nbsp; Henke's Zeitschr. für Staatsarzueikimde, 1S40. — Jahrbücher des ärztl. Vereins zu München. 1841. III. Bd.
2)nbsp; Berliner klin. Wochenschr. 1Squot;'2. Nr. 17.
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222nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp;YII. Die verschiedenen Lymphen.
anderen Kälbern, welche mehrere Wochen vorher erfolgreich mit Kuhlymphe geimpft waren, schlugen die wiederholt angestellten Inoculatiouen von Menscheublatternlymphe durchaus fehl, so dass sich auch heim Kalbe Variolen und Vaccinen gegenseitig aus-schliessen.
Die Variolo-vaccinlymphe auf Kinder zu übertragen, wagte Senfft nicht.
Zu wesentlich abweichenden Resultaten, als ihre Vorgänger, gelangte die Lyonneser Commission, welche demselben Gegen­stände ihre Untersuchungen widmete'). Dieselbe erhielt bei der Variolation der Thiere, anstatt einer pustulösen, eine papulose Eruption, welche am zweiten Tage begann, am 6. auf ihrer Höhe stand, um am 12. vollständig verschwunden zu sein. Die Mittheilung jedoch, dass sich auf der Mitte der wenig erhobenen Knötchen später eine äusserst kleine schwärzliche Kruste gebildet habe, und die Möglichkeit, durch Abschaben der Knötchen eine sehr geringe Menge Serum zu gewinnen, spricht gegen die blosse Papelnatur der Eruption. Dieses Serum auf Kinder weiter geimpft, lieferte der Commission „noch undeutlichere Effecte, so dass sich die Activität des Virus schon in der zweiten Generation fast bis auf Null verminderequot;.
Mit demselben Serum wurde nun ein dreimonatliches, noch nicht vaccinirtes Kind geimpft. Der einzige, am 4. Tage aufgehende Ein­stich hatte am 9. Tage eine breite, gedeihe Pustel mit rothem Hofe erzeugt; inzwischen dreitägiges Fieber, und am 10. Tage der Aus­bruch einer sehr grossen Zahl von kleinen Knötchen auf dem Ge­sichte und auf dem Stamme, welche schon am 11. Tage sehr schöne, gedellte, zum Theil conflueute variolöse Pusteln darstellten. Wenig Fieber, volle Desiccation am IS. Tage.
Aus der Impfpocke dieses Kindes wird ein zweites geimpft. Am S. Tage sind alle sechs Einstiche zu Pusteln geworden, welche den vaccinalen gleichen, und von mehreren competentcu Personen dafür genommen wurden. Am 13. Tage erschienen dann etwa 14 Variola-pusteln auf dem Gesichte und anderen Körpertheilen, welche sehr schnell, ohne Narben zu lassen, verschwanden. Das Kind war dabei nicht krank.
Die Schlüsse, welche die Lyonneser Commission aus ihren Studien zog, lauten: dass der Kuhorganismus unfähig sei, die menschliche Variola in Vaccine zu transformiren, vielmehr nur wieder eine Variola
li Vaccine et Variole, etude faite au nom de la Societe des Sciences med. de Lyon. Rapport par Chauveau, Vienuois, P. Meyuet. Paris 1SG5.
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Variolation der Kühe und Variolo-vaccinlymphe.nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; 223
hervorbringe, und class diese bovine Variola durch eine bloss papu­lose Eruption vertreten werde.
Es seheint, wenn man diese Versuche tiberblickt, eine gewisse Schwierigkeit, Menschenblattern auf Kühe zu tiberpflanzen, vor­handen zu sein; Ceely und Thiele impften mancbes Thier ver­geblich, und auch bei den empfänglichen ging niemals die Hälfte der Impfstiche auf. Reiter erfreute sich einer einzigen Blatter bei seinen vielen Experimenten. Einer Anzahl englischer Aerzte, femer Frölieh (Stuttgart) und Barte 1 s (Kiel) missglückten alle Versuche. Möglicherweise hatten die meisten Versuchsthiere bereits in der Jugend spontan gepockt, denn Senf ft sah bei seinen vier Kälbern sämmtliche Stiche haften und sich gut entwickeln. Auch die Insertions-methode pflegt bei derartigen Uebertragungen den Erfolg zu beherr­schen. In Amerika soll die Mittheilung der Variola an Kühe dadurch leichter gelungen sein, dass Blatterakranke die Thiere melkten, durch welch eindringliche Manipulation auch die Kuhpocken am sichersten auf die Melker übergehen. Darnach müssen die Unternehmungen der Commission zu Lyon beurtheilt werden. Der entschieden mangel­hafte Ausfall ihrer anscheinend glücklichen Variolationen aber ist nicht entfernt im Stande, die Thatsache zu erschüttern, class Thiele, Ceely, Reiter und Senf ft, als Effecte der Variolation des Rindes, vortrefflich ausgebildete, und den Vaccinen vollkommen gleiche Pusteln erhielten. Die Commission hat ohne Frage sehr modificirte Pocken an den Versuchsthieren beobachtet. Doch fragt sich, was jene Pusteln bedeuten? Da Vaccinen und Variolen äusserlich zum Verwechseln einander gleichen, so kann nur die Verimpfung ihre innere Differenz ans Licht bringen. Hier stehen nun die drei Fälle, von Reiter und den Lyonner Aerzten, welche bei der Verimpfung jener an der Kuh erzeugten Efflorescenzen einen „variolösen Aus­schlagquot; (in der Form stark modificirter Pocken) bei Kindern er­hielten, die bedeutend zahlreicheren Beobachtungen von Thiele und Ceely gegenüber; von Thiele war der, auf die angegebene Art erhaltene Impfstoff durch 75 Generationen, mit mehr denn 3000 In­dividuen, geleitet worden, ohne dass jemals eine Variola zum Vor­schein gekommen wäre. Ceely hatte 20 Kinder geimpft, von welchen der Stoff durch sehr viele Generationen weiter ging. Die Experimente wurden von Ceely und seinen Collegen mit der ge­spanntesten Aufmerksamkeit, und nicht ohne ein gewisses ängstliches Gefühl überwacht, brachten aber nur eine „ charakteristische Vaccinequot;, niemals eine Variola zum Vorschein.
So stark man sich hiernach geneigt fühlen wird, auf die Seite
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224nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; VII. Die verschiedenen Lymphen.
der beiden letzten Experimentatoren zu treten, halte ich die ünter-suchungeu nicht für ganz abgeschlossen.
Was an dieser Stelle allein in Frage steht, der Werth nämlich, welchen die Variolation der Kühe, behnfs Verbesserung des gewöhn­lichen humanisirten Impfstoffes, beanspruchen darf, so dürfte der­selbe nicht schwer abzuschätzen sein. Selbst bei absoluter Unge-iährlichkeit der Variolo-vaccinlymphe würde die bisher erfahrene Schwierigkeit, sowol die Thiere zu varioliren, als von ihnen wieder auf Menschen zu impfen, der Methode wenig Aussicht auf Ver­breitung gewähren künneu, und die Unbequemlichkeiten und Gefahren bei der Herstellung dieser Lymphe dienen vollends nicht zu ihrer Empfehlung.
3. Die Rctrovaccination der Kühe mul die Retrovaccinlyiuplie.
Kühe werden mit humanisirter Lymphe am Euter, an der Vulva, oder am Bauche und den Ohren, Stiere am Scrotum geimpft, und der Stoff aus den hierbei gewonnenen Pusteln wieder auf den Menschen zurückgeführt.
Die Versuche, Kühe und andere Hausthiere mit menschlichen Schutzpocken anzustecken, begannen bald nach dem Bekanntwerden der Vaccination, wurden aber zunächst nur in wissenschaftlicher Ab­sicht unternommen, und ihr meist glücklicher Ausfall trug nicht wenig dazu bei, die merkwürdige Thatsache der Vaccination des Menschen dem Verständnisse näher zu bringen1)- Nur Sacco übte schon da­mals die Ketrovaccination sehr häufig, um jeder Zeit frischen Impf­stoff bei der Hand zu haben2).
Als im zweiten und dritten Decennium die Annahme einer Degeneration der gebräuchlichen Lymphe mehr und mehr um sich griff, änderten jene Versuche ihr Ziel, und man schickte nun die „ im Menschen abgeschwächte Lymphe durch ihre ursprüngliche Bil-
ll Woodville, Beschreibung einer Reihe von Kuhpockeriimpfungen. Aus d. Engl. von Friese. Breslau ISOO. — E. Viborg. Beiträge zur Geschichte der Kuhpocken. IS04. — Husson. Recherches historiques et medicales sur la vaccine. Paris 1S01.
2) Sacco, Osservationi pra Bull' uso del Vajuolo vaccine etc. anno IX. rei-public. — A. Miglietta, Vajuolo vaccino uativo nel regno diKapoli. Napoli 1812.
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Betrovaccination der Kühe und Retrovaccinlymphe.nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp;225
dungsstätte bindurcli, um sie wieder aufzufrisclien, zu verjüngen, oder, wie es Mess, sie von Neuem zu brutalisiren ?').
Würtemberg hatte scbon bei der allgemeinen Einflibrung der Vaccination (1818) auf das Bedürtniss zeitweiser Erneuerung des Impfstoffs Rücksiebt genommen, und die alljährlicbe Impfung einer Kub mit bumanisirter Lympbe in den vier Landeskreisen und in Stuttgart anbefoblen. Die Bestimmung fiel 1825 fort, weil die Im­pfungen der Kübe, trotz aller Sorgfalt, meist feblscblugen, und mittler­weile originäre Lympbe bäufiger im Lande gefunden worden war.
Dagegen besteht in Bayern die gedachte Eegeneratiousmetbode seit langen Jahren als ein integrirender Bestandtbeil des Impfwesens. Dr. Michael Reiter hatte die Rückimpfungen vom Menschen auf die Kub seit dem J. 1830 privatim geübt2); nach seiner Ernennung zum Vorstande der bayrischen Central-Impfanstalt in München, und nachdem die- Retrovaccinlymphe der Prüfung einer Commission vor­gelegen hatte, erging (1834) das Gesetz, nach welchem alle öffent­lichen Impfungen fortan nur mit regenerirter Lymphe zu vollziehen seien. Es werden seit jener Zeit alljährlich, vor Beginn der allge­meinen Vaccinationen, von dem Director der Central-Impfanstalt, auf dem Lande bei München, Kühe retrovaccinirt, und die gewonnene Lympbe an die Gericbtsärzte des Landes, zur Einleitung der öffent­lichen Impfungen, vertbeilt. Nur in der Milcbsecretion stehende Kübe dürfen hierbei benutzt werden, und die Retrovaccinlymphe des betreffenden Jahres wird in den einzelnen Kreisen jedesmal blos durch eine kleine Zahl von menschlichen Generationen (15 —16) fort­gepflanzt, und dann fallen gelassen3).
Von Bayern aus hat sich die- Vorliebe für den regenerirten Stoff in die nachbarlichen Staaten verbreitet. Würtemberg hat denselben mit mehr Glück, als früher, im Jahre 1863 wieder aufge­nommen, und wenn auch nicht jede neue Jabresimpfung dureb Retrovaccinlymphe eröffnet wird, wie in Bayern, so eultivirt die
1)nbsp; A. Numan, Proeven omtrent de Wirkning van de Smetstoffe der Koe-pokken op onderscheidene Huisdieren etc. Utrecht 1S25. u. Vorhandeling over de Koepokken. Utrecht 1S31. Im Auszuge in Gurlt u. Hertwig, Magazin für die gesammte Thierbeilkunde. Berlin 1839. V. Jahrg. 1. Heft.
2)nbsp; Beiträge zur richtigen Beurtheilung und erfolgreichen Impfung der Kuh­pocken. München 1846.
3)nbsp; Von anderen rein privaten Unternehmungen sei erwähnt, dass ein ost-preussischer Arzt, Dr. Carganico in Darkehmen (Reg.-Bez. Gumbiunen), in den Jahren 1830—34 seinen Kreis nur mit Retrovaccine impfte, die er sich jährlich selbst erzog. (Med. Zeitung des Vereins f. Heilk. in Preussen. 1834. Nr. 41.)
Bohn, Handbuch der Vnccination.nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp;15
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226nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; #9632;nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; VII. Die verschiedenen Lymphen.
Central-Impfanstalt zu Stuttgart dieselbe doch so häufig, dass das Land reichlicli davon erlangen kann. In Hessen ist der Impfstoff gleichfalls sehr beliebt, und die Aerzte finden bei den Kuhbesitzern das bereitwilligste Entgegenkommen, die Thiere zur Impfung her­zugeben.
Längere Zeit befleissigte sich der (jetzt verstorbene) Dr. Unger zu St. Florian in Steiermark der Eetrovaccination, um die 120 Be­zirksärzte der Provinz mit erfrischter Lymphe zu versorgen. Der Staat unterstützte seine Bemühungen. Die Retrovaccinlymphe wurde jedesmal nur durch 6—8 Generationen geführt, und die geimpften Thiere durften etwa drei Wochen lang, vom Tage der Impfung ab, nicht gemplkt werden. Einen Concurrenten fand Unger 1858 in dem Wundarzt Lowy zu Wien, welcher gleichfalls einer öffentlichen Subvention sich erfreut.
Im J. 1869 endlich wurden im Königreich Sachsen 4 Impf-regenerationsanstalten errichtet, welche die Aufgabe haben, sämmt-lichen Impfärzten des Landes die Lymphe zu schaffen, damit die regelmässigen Jahresimpfungen mit solcher erfrischten Lymphe be­gonnen werden können (Jahresber. des Landes-Med.-Colleg. in Sachsen f. d. J. 1869).
Die Kühe besitzen im Allgemeinen eine gute Empfäng­lichkeit für die humanisirte Lymphe; doch kommt bei der Impfung viel auf die, von der Erfahrung gewonnene Uebung des Impfen­den, und auf das Glück bei der Auswahl der Thiere an. Hochträchtige oder frischmelkende Kühe eignen sich am besten. Die schönsten Kuh­pocken gehen an den Zitzen auf, aber auch das Euter, der rasirte Bauch, die Schamlippen und das Ohr können vortheilhaft benutzt werden. — Als die sicherste Impfmethode haben sich die Einstiche bewährt, obgleich man auch bei ihnen auf Ausfälle gefasst sein muss. Einfache Schnitte (—) hafteten nie, oder nur selten, während ein­fache oder doppelte Kreuzschnitte ( #) besser, doch nicht so zu­verlässig, wie die Stiche waren (Frölich1)). Die Entwickelung und Rückbildung der Kuhpocken geht an den Thieren gewöhnlich viel schneller, als beim Menschen, von statten (Reiter, Förster in Dresden); nach 3mal 24 Stunden fühlt man sehr deutliche Knötchen, und 5mal 24 Stunden nach der Impfung ist die beste Zeit zum Ab­nehmen der Lymphe. Die Pocken, je nach der Hautfarbe des Thieres von verschiedenem Aussehen, enthalten dann eine ganz
1) Versuche über Retrovaccination. Medic. Correspondenzbl. des Würtemb. ärztl. Vereins. 1866. Nr. 16. u. 1867. Nr. 20.
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Eetrovaccination der Kühe und Retrovaccinlymphe.nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; 227
wasserhelle, zähe und stark coagulirende Lymphe. Ueber die Menge derselben lauten die Berichte meist ungünstig. Frölich gewann immer sehr kleine stoffarme Pusteln, so dass es selten möglich war, eine nennenswerthe Menge in Haarröhrchen aufzulassen, und man die Lymphe auf Fischbeinstäbchen eintrocknen lassen musste. Zur Vermehrung des Impfstoffes ist die Retrovaccination deshalb nicht einladend, weil eine grössere Menge Lymphe zur Impfung der Kühe benöthigt wird, als man später von ihnen zurückerhält. Auch Förster hatte wenig befriedigende Erfolge von seinen Retrovac-cinationen, welche vornehmlich an dem Scrotum junger Bullen, seltener an Kuhkälbern und Kühen vorgenommen wurden. Die Pocken kamen zu geringer Entwickelung, waren, nach 5 Tagen, meist vollständig vertrocknet, und die gewonnene Lymphmenge war unerheblich. — Darin stimmen die drei Experimentatoren, Reiter, Frölich und Ceely, welchen hier das massgebende Urtheil zusteht, unbedingt überein, dass die Impfung mit humani-sirtem Stoffe eine viel mildere Krankheit bei den Kühen setzt, als die mit originärer Lymphe; Erscheinungen eines allgemeinen Uebel-befindens sind kaum bemerkbar, und der örtliche Process verläuft wenig intensiv, weshalb kleine, weisse, leicht sich verwischende Narben zurückbleiben.
Was nun die Retrovaccinlymphe als menschlichen Impf­stoff anbetrifft, so erfreut sie sich keiner gleichmässigen Beur-theilung. Unmittelbar auf den Menschen übertragen haftet sie nicht mit ganz derselben Leichtigkeit, wie die humanisirte, und eine lang­samere Entwickelung und verzögerte Reife der Pocken gehören zur Regel. Auch in den nächsten Generationen beim Menschen zeigt sie noch manche Irregularitäten, so dass das bayrische Central-Impfinstitut (wie früher auch Dr. Unger) nach auswärts nur die regenerirte Lymphe der dritten Generation versendet. — Die Impf­pocken, welche sie hervorbringt, sind, nach Numan und Ceely, sehr ungleich; neben guten Exemplaren kommen kleine und unvoll­kommene vor, und gewöhnlich erst in der drittfolgenden Generation hatte der Stoff die Kräftigkeit, wie vor seinem Durchgange durch die Kuh, wiedergewonnen, und erzeugte Pusteln von der früheren Güte und Schönheit. Im Uebrigen unterschieden sich die örtlichen und allgemeinen Zufälle nicht wesentlich von denen, welche man bei der humanisirten Lymphe kennt. Förster schliesst sich in diesem Punkte Ceely an (1. und 2. Jahresber. des Landes-Med.-Colleg in Sachsen für 1867 und 1868), während die Angaben von Reiter
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22Snbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp;VII. Die verschiedenen Lymphen.
und Frölich entgegengesetzt lauten. Der erstere erzielte schönere Pusteln mit dem Retrovaccinestoff, welche den Organismus heftiger angriffen, und deutlichere Narben hinterliessen, als die gewöhnlichen Schutzpocken. Diese, ihn auszeichnende Wirkung behielt der Impf­stoff in beiläufig 20 Generationen bei. Frölich stellt die Retro-vaocinlymphe in ihren sichtbaren Effecten der originären vollkommen gleich.
So ist denn auch ihr Schutzwerth für den Menschen in widersprechender Weise aufgefasst worden. Reiter, seine bayrischen Impfcollegen und Frölich folgern aus den „sichtlich kräftigerenquot; Wirkungen eine virtuell höhere Leistungsfähigkeit, erblicken in der Retrovaccinlymphe ein Aequivalent der originären, und glauben dem­nach, durch die Rückimpfung auf die Kuh, eine thatsächliche Rege­neration des abgeschwächten humanisirten Stoffes bewirken zu kön­nen ; „ derselbe gewinne bei seinem Durchgänge durch die Kuh wieder an Kräften.quot;
In dem letzten Jahrzehnt ist Dr. v. B u 1 m e r i n c q, ein Verehrer des gesammten bayrischen Impfwesens, der unermüdliche Anwalt dieser Lymphe geworden, deren Vorzüge er in folgenden Punkten zusammenfasst'):
1)nbsp; Es zeichnet den regenerirten Stoff eine grosse Sicherheit der Wirkung aus, indem er weniger Fehlimpfungen gibt. Nach amt­lichen Quellen kam in Bayern vor seiner allgemeinen Einführung auf je 52 Impfungen 1 verfehlte; nachher, von 1835 — 1847, auf 136 Impfungen, und von 1847—1860 auf 180 Impfungen 1 Fehl­impfung, während in Würtemberg, wo seit vielen Jahren sorgfältig vaccinirt wird, und wo oftmals originäre Lymphe in die allgemeinen Impfungen eingeführt ist, das Verhältniss der erfolglosen zu den erfolgreichen Impfungen zwar ein gleichmässiges, aber minder gutes ist, nämlich 1 : 150.
2)nbsp; Die Retrovaccine verleiht einen grösseren Schutz vor dem Blatterntode. In den Jahren 1857—62 kam in Bayern auf 1 Million Einwohner je 1,13 Blatterntodter, welcher ehemals geimpft war.
3)nbsp; Die Impfungen mit regenerirtem Stoffe fallen im Allgemeinen gleichmässiger aus, als mit der alten Lymphe, so dass seine Wirkung weit weniger von der Constitution des Impflings beeinflusst erscheint.
Hören wir nun die andere Seite, wobei indess Bousquet, St ein brenn er, Serres u. A. nicht gemeint sind, welche ohne
1) Gesetz der Schutzpocken-Impfung in Bayern. Leipzig 1S62. — Ergebnisse des k. bayr. Impfgesetzes. Leipzig 1S6T.
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Retrovaccination der Kühe und Retrovaccinlymphe.nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; 229
hinlängliche eigene Erfahrung die, durch die Kuh gegangene, Lymphe für ganz dasselbe halten, was sie früher.war, oder welche sie gar für schwächer, als vor dem Durchgange erklären (Eimer)- Aber auch Ceely, der sein ürtheil lediglich auf eigene Versuche, und auf eine lange Reihe von Impflingen gründete, durch welche Gregory und Mar sou seine Retrovaccinlymphe im Londoner Pocken- und Impfspital geführt hatten, äussert sich, gleich den besten und mit der Retrovaccine glücklichsten Praktikern Englands, nicht zu Gunsten derselben. Er war aussei- Stande, die Vorzüge der Retrovaccinlymphe aufzufinden, oder ihr, nach dem einmaligen Durchgange durch die Kuh, mehr als eine zweifelhafte Brauchbarkeit einzuräumen. „ Wenn der Vaccinestoff seine wesentlichen Eigenschaften wirklich verloren hat, so wird er zuverlässig bei der Rückimpfung auf die Kuh nur sehr wenig Veränderungen, geschweige denn vortheilhafte, erfahren. Die ihrer wesentlichen Eigenschaften beraubte Lymphe hat sich als kein sehr lenksames Agens erwiesen.quot;
Nicht weniger schwer fallen die im St. Petersburger Findelhause von Dr. Bock mit grösster Gewissenhaftigkeit und Sachkenntniss angestellten Versuche ins Gewicht (s. Froebelius a. a. 0.). Man hatte die im Wiener Fiudelhause gebrauchte Retrovaccinlymphe der zweiten Generation, und eine ebensolche von Reiter in Gang ge­setzt, und nach mehr als 2000 vergleichenden Impfungen (von 1865 bis 1867) lagen folgende Ergebnisse vor:
Hatte die alte Jenner'sehe Lymphe des Hauses, von Arm zu Arm fortgepflanzt, 2,6 Proc. Fehlimpfungen ergeben, so beliefen sich dieselben bei der Retrovaccinlymphe auf 5,5 Proc. — In der Grosse und Farbe der Pusteln und in der örtlichen Reaction waren Unter­schiede kaum zu bemerken, wenn man von der, bei der Retrovaccine oft weniger entwickelten Reactionsröthe, und von der, im Anfange der Impfungen häufigen Retardation in der Entwickelung der Pusteln um einen Tag absah. — In den Folgekrankheiten der Vaccination trat keine Differenz zwischen altem und regenerirtem Stoffe hervor, und ebenso wurden die allgemeinen Reactionssymptome bei der Retrovaccinlymphe durch sorgfältige Temperaturbestimmungen denen vollkommen gleich befunden, welche beim Gebrauch der alten Lymphe ermittelt waren.
Indem so die Retrovaccine, nach 2', 2 jähriger Prüfung nicht nur keinen Vorzug vor dem Jenner'sehen Stoffe, welcher in der An­stalt 70 Jahre fortgeleitet war, erkennen Hess, und sogar den Nach­theil der häufigeren Fehlimpfungen offenbarte, wurde der nicht be­friedigende Versuch abgebrochen.
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230nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp;VII. Die verschiedenen Lymphen.
Solche Hospitals-Beobachtungen müssen für massgehender er­achtet werden, als die bayerische Impfstatistik, und im Punkte der Fehlimpfungen, wo beide Parteien einander schroff gegenüberstehen, sind sie ohne Frage verlässlicher, als die öffentlichen Impfungen.
Die yerhältnissmässig guten Impfresultate unter der Bevölkerung Bayerns aber ausschliesslich oder vornehmlich für den regenerirten Stoff in Anspruch nehmen zu wollen, heisst die langjährige Impfpfiichtig-keit in dem Lande, und die durchschnittliche Sorgfalt unterschätzen, mit welcher dort, gleichviel mit welcher Lymphe, geimpft wird.
Zuletzt ist noch ein abfälliges Urtheil über die Retrovaccine aus Thüringen gekommen, wo sie, in dem Impfinstitut zu Weimar, vielfach angewandt wurde. Es stehen ihr, nach diesen Mittheilungen, die grosse Zahl der Fehlimpfungen, ihre leichtere Zersetzbarkeit (im Sommer schon nach 1 bis 2 Tagen), und die unliebsamen starken Lokalsymptome, welche sie begleiten, entgegen. (Pfeifer, Zeitschr. f. Epidem. und Gesundheitspflege. N. F. 1871.)
4. Die gänzliche Verwerfung des humanisirten Stoffes, und sein Ersatz durch eine künstliche Kuhlymphe, die sogenannte
animale Lymphe.
Indem man originäre Lymphe ununterbrochen von Kuh zu Kuh, oder von Färse zu Färse fortleitet, erzieht man an den Thieren einen Impfstoff, welcher niemals mit menschlichen Säften in Berührung getreten ist. Seine Verwendung begründet die heutzutage vielfach verhandelte animale Vaccination.
Dieselbe führt auch den Namen der neapolitanischen Me­thode, weil sie von einigen italienischen Aerzten, Galbiati,Feola u. s. w., und zuletzt von dem Nichtarzt Negri, nun bereits länger als 60 Jahre in Neapel geübt sein soll. In Wahrheit aber scheinen sich die Ersteren nur auf die Retrovaccine gelegt zu haben'), und erst Negri hat mit echtem Cow-pox, den er 1849 und später aus England erhielt, Genituren von wirklicher animaler Lymphe bei Kühen und bei drei- bis viermonatlichen Kälbern eröffnet und unter­halten. Ob ohne jede Einschaltung anderen Stoßes, ist allerdings wieder fraglich, wie denn über dieser neapolitanischen Methode,
1) E. Müller, Bcrl. klin. Wochenschr. 1865. 32. Die Nachrichten wurden durch Vcrmittelung der preussischen Gesandtschaft an Ort und Stelle eingezogen.
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Die animale Vaccination.nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp;231
welche lange Zeit auf ihre Heimath beschränkt geblieben ist, man­ches Dunkel schwebt. Allgemein sind daselbst die Impfungen mit animaler Lymphe nie geworden; die öffentlichen geschehen auch in Neapel von Arm zu Arm, und nur die wohlhabendere Bevölkerung liebt es, sich an Negri zu wenden. Ausserdem hat seine Lymphe beim Militair zu Revaccinationen gedient.
Im Jahre 1864 führte der französische Arzt, Dr. Lanoix ein, von Negri geimpftes Kalb nach Frankreich hinüber, und gründete in Paris ein Privatinstitut zur Cultur von animaler Lymphe. Es ist ihm später die Vaccination in den Pariser Spitälern übertragen worden.
Von nun an nahm die Methode einen raschen Aufschwung; 1865 wurde sie von Dr. Warlomont in Brüssel eingeführt, wo seit 1868 ein Institut vaccinal de l'etat besteht, welches sie aufrecht zu erhalten, und unentgeldliche Lymphe abzugeben verpflichtet ist. Dr. Warlomont besorgt mit ihr die städtischen Impfungen. Gleich­falls im Jahre 1865 gründete Dr. Pis sin in Berlin eine Privatan­stalt, wo Färsenlymphe gezogen und verkauft wird. Durch unabläs­sige Reclame wurde sie vorübergehend ein begehrter Modeartikel in Deutschland. 1868 wurde in Rotterdam von der Gesellschaft für die Verbreitung der Kuhpockenimpfung ein pare vaccinogene und eine Station für die animale Vaccinlymphe, und 1869 eine gleiche in Amsterdam eingerichtet, welche beide in voller Thätigkeit stehen.
Erst um diese Zeit fand die animale Vaccination in Ober­italien Eingang, wo in verschiedenen Städten, 1869 in Mailand, dann in Genua, Bergamo, Turin u. s. w. Comites zusammen traten, welche sich ihre Pflege angelegen sein Hessen.
Im April 1867 begann der Oberarzt am St. Petersburger Findel­hause, Dr. Froebelius, die ausgedehntesten Versuche mit der Färsenlymphe, welche ihm so ermunternd zu sein schienen, dass im December 1868 eine Impfanstalt, nach neapolitanischem Muster, in den Räumen des Findelhauses ins Leben trat'). Im Erdgeschosse liegt der elegante Stall, welcher mit einer vortrefflichen Ventilation und Wasserleitung versehen ist, zur Winterszeit erwärmt wird, und durch warme Gänge und Treppen mit den Schlafzimmern der Find­linge in Verbindung steht.
Die Versuche wurden mit Färsenlymphe aus der Berliner Privat­anstalt eingeleitet. Jeden vierten Tag wird ein neues Kalb geimpft. Zur Lagerung dient ein Tisch, auf welchem das Thier mit breiten Riemen befestigt wird. Der Leib, die Vorderfüsse und ein Hinter-
1) Kurze Zeit darauf führte das gleichnamige Moskauer Haus die künstliche Färsenlymphe bei sich ein.
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232nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; VII. Die verscMedenen Lymphen.
fuss werden unbeweglich gemacht, während der andere Hinterfuss, um die Bauchhaut zu spannen und dem Operateur Platz zu schaffen, von einem Gehilfen stark vom Leibe abgezogen, und durch einen Riemen in dieser Stellung befestigt wird. Gewöhnlich ist eine 1 '/s—2 Decimeter grosse Fläche um das Euter des Kalbes, und weiter nach vorn hin, am Tage vorher rasirt worden, damit die blossgelegte zarte Haut Zeit gewinne, ihre Empfindlichkeit zu verlieren. Man impft auf die gewöhnliche Weise, wie bei Kindern, und legt 6—8 Eeiheu Stiche an, je 10—15 in einer Reihe, die Stiche 1 Zoll von einander entfernt, wonach ein Kalb, dem jeweiligen Bedarf entspre­chend, 60—120 Impfstiche erhält; eine um den Leib geschlagene Binde schützt die aufgehenden Pocken. Bei der Abnahme der Lymphe wird die Basis der Pusteln mittelst einer Schieberpincette zusammen­gedrückt, damit auch die tieferen Zellen ihren Inhalt entleeren.
Besondere Krankheitserscheinungen hat Froebelius an den Kälbern bis zum S. oder 14. Tage, wo sie zum Fleischer wandern, niemals wahrgenommen, selbst dann nicht, wenn gleichzeitig 120 Pusteln in der schönsten Entwickelung standen. Nach Negri soll das Euter durch eine zu grosse Menge von Pocken leiden, so dass die Kühe, zur weiteren Züchtung untauglich, gewöhnlich geschlachtet werden. E. Müller in Berlin sah die Milchabsonderung geringer w7erden und Abmagerung folgen.
Die Kinder werden im St. Petersburger Findelhause direct von den Thieren geimpft, und die Impfung von Arm zu Arm hat ganz aufgehört, so dass auch nach auswärts nur Färsenlymphe abgegeben, und humanisirte Lymphe gar nicht mehr (oder nur in Zeiten der Noth, wie 1871—72) gezogen wird.
Am geeignetsten zur Impfung erscheinen die Thiere vom 2. bis 8. und 10. Monat.
Was nun die Uebertragbarkeit der Kuh- oder Färsen­lymphe von einem Thiere auf das andere betrifft, so weichen die Erfahrungen der verschiedenen Untersucher erheblich von einander ab. Lanoix will niemals ein vollständiges Fehlschlagen erlebt haben, wenngleich die Pocken bald besser, bald geringer ausgebildet waren; auch Froebelius und Senf ft1) sahen die Lymphe gut haften, während Warlomont im ersten Jahre sehr unglücklich war, und häufig frischen Impfstoff, zur Erneuerung der Thierimpfungen, aus Paris beziehen musste. Ebenso musste der Impfstoff in Rotterdam fünf- bis sechsmal, in wenig mehr als einem Jahre, aus Brüssel er-
1) Berl. klin. Woclienschnft. 1ST2. Nr. 17.
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Die animate Vaccination.nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp;233
neuert werden, weil die, anfangs an den Thieren erzielten, vortreff­lichen Pocken regelmässig nach einigen Wochen sich so verschlech­terten, dass man, sie weiter fortzupflanzen. Bedenken trug. Bei den Versuchen von E. Müller in Berlin gingen nie so viele Pocken auf, als Negri erhalten zu haben vorgibt, und ihr Inhalt war, abermals im Gegensatz zu dem letzteren, ein überaus dürftiger, wo­durch die Methode weder leicht, noch wenig kostspielig zu stehen kam. In dem Moskauer Findelhause schlugen im Jahre
1869nbsp; bei 121 geimpften Kälbern 5 mal die Pocken gar nicht an,
1870nbsp; nbsp; „nbsp; nbsp; ioonbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp;nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; „ 2o „ „nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp;nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; „ „ „
1871nbsp; nbsp; „nbsp; nbsp; 306nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; „ 36 „ „ „nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp;„ „ „ Unter dennbsp; nbsp;ersten 121 Thieren war der Erfolg bei 93 ein vollstän­diger, undnbsp; bei 23 entsprach die Zahl der aufgegangenen Pocken lange nichtnbsp; der Anzahl der Einschnitte.
Es unterliegt keinem Zweifel, dass der Erfolg hier, wie bei allen Thierimpfungeu, wesentlich in der mehr oder weniger geübten Hand des Operateurs ruht, wenn auch die Schönheit und Vollkom­menheit der gewonnenen Pusteln mannichfach, nach der Constitution der Thiere, wechseln.
Die Vaccinen am Kalbe unterscheiden sich von denen des Kin­des weniger durch die Form, als durch ihren schnelleren Verlauf. Am Ende des 3. Tages sind bereits Bläschen vorhanden, am 4. Tage haben sich dieselben, obwol noch sehr klein und ohne sicht­baren Hof, vollkommen charakteristisch ausgebildet, und man kann ihnen hinreichende und gut fassende Lymphe entnehmen. Am 5. Tage sind die Bläschen bedeutend vergrössert, und nähern sich denen des Kindes vom 6. oder 7. Tage, nur dass auch dann eine periphere Röthe kaum sichtbar ist. Am 7. Tage, dem letzten, wo brauchbare Lymphe aus ihnen geschöpft werden kann, gleichen die Pocken genau den kindlichen des 9. Tages. Am 8. Tage beginnt die Lymphe trübe zu werden, und die Mitte der Pusteln zu ver­trocknen; dieselben vergrössern sich noch bis zum 11. Tage, wo sie durchschnittlich die Breite eines Centimeters erreicht haben. Am 14. Tage ist die Eintrocknung fast vollendet. Die Areola der Kälber­pocken zeigt niemals eine solch' lebhafte Entwickelung, wie bei den Kindern, doch scheint dieselbe nur weniger zur Erscheinung zu ge­langen, weil die capillare Injection von der dunkleren Epidermis und der gefärbten Cutis gedeckt wird.
Die Krankheiten der Kälber haben grossen Einfluss auf den Erfolg .der Impfung, und es soll deshalb sowol das zu impfende Thier, wie sein Stammimpfling, durchaus gesund sein. Bei Durchfällen ver-
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234nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; VII. Die verschiedenen Lymphen.
schlechtem sich die Impfpocken, sind weniger reichhaltig, oder schlagen ganz fehl. In der Moskauer Findelanstalt erkrankten im Jahre 1871 alle Kälber an Diarrhöe oder Lungenentzündung, und die Impfung hörte damit zeitweise auf. Während einer Epizootic des Hornviehs (z. B. der Maulseuche) haftet die Lymphe selbst bei den nicht sichtbar erkrankten Thieren schlecht, oder es atrophiren die Pockenbläscheu leicht, und selbst aus anscheinend guten Pocken gibt die auf Kinder übergeleitete Lymphe viele Fehlimpfungen (Clemen-towsky).
Es kommen ferner zeitweilige Veränderungen im Ausfalle der Impfung vor, deren Ursachen sich nicht enträthseln lassen. So bringt die Lymphe, ein paar Generationen hindurch, weniger schöne Pocken bei den Kälbern hervor, während die nächstfolgenden Gene­rationen wieder vollkommen normale liefern. In der Regel sind die Imptpocken während der Wintermonate kräftiger entwickelt, als in der warmen Jahreszeit (Amsterdam, pare vaccinogene, s. Jahresber. pro 1872 von Hirsch und Virchow).
Es wird übrigens Kälber geben, welche, gleich manchen Kindern, durchaus oder temporär unempfänglich sind, wie die Impfpocken auch bei einem Thiere schneller, als beim andern verlaufen.
Die animale Lymphe muss, darin herrscht ausnahmslose Ein­stimmigkeit unter den Beobachtern, vomBeginn des 4. bis zum Schluss des 6. Tages verimpft werden; am 7. Tage wird sie bereits unsicher in der Haftung; 5—6tägige Pocken gaben Froe-belius die wenigsten Fehlimpfungen (2 pCt.).
Die Privatindustrie, welche sich bisher fast ausschliesslich auf die Herstellung dieser Lymphe geworfen hat, hat ihr eiligst alle denkbaren Vorzüge, selbstverständliche wie unbeweisbare, nachge­rühmt, und sie auf Kosten des alten Stoffes verherrlicht; zu nichts weniger, als zur Reform der Schutzpockenimpfung sollte dieselbe berufen sein.
Es könnte wol, wenn man in eine Kritik der animalen Lymphe eintritt, die Frage aufgeworfen werden, ob die Lymphe von Färsen als gleichwerthig zu erachten sei der Lymphe von Milchkühen, an welchen die autochthonen Kuhpocken bisher allein gefunden sind. Doch wird man annehmen dürfen, dass der Unterschied des Alters und mancher anderen Verhältnisse hier ebensowenig austrägt, als eine Verschiedenheit zwischen der Vaccinlymphe von Kindern und der Revaccinlymphe Erwachsener entdeckt werden kann. Zudem haben vergleichende Versuche in Frankreich keinerlei Vorzüge der spon­tanen Kuhlymphe vor der bei Färsen gezogenen erkennen lassen.
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Kritik der animalen Vaccination.nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp;235
Eins aber unterscheidet die künstliche Lymphe wesentlich von dem originären Kuhpockenstoffe. Denn wie die Färsenlymphe zum gewöhnlichen Gebrauche kommt, ist sie bereits durch eine verschieden lange Reihe von Thieren gewandert, und auf einen gewissen Grad von Mildheit gesunken. Das hat man bei ihrer Verwendung überall, und mit besonderer Befriedigung an dem Ausbleiben der heftigeren lokalen und allgemeinen Symptome, welche die originäre Lymphe noch bis zur dritten Generation nicht ganz zu verläugnen pflegt, wahrgenommen.
Wichtiger ist der Vergleich der Färsenlymphe mit der humanisirten, welche sie verdrängen soll. Die Commission der Pariser Akademie, mit der Prüfung beider Lympharten beauftragt, kommt, nach dem Berichte Depaul's 1), zu dem Schlüsse, dass beide gleich sicher haften, und eine gleiche Anzahl von Bläschen zu liefern pflegen: nur ziehe sich die animale Vaccination gern in die Länge (bis zum 9. und 12. Tage), und die Entwickelung der einzelneu Pocken sei mitunter ungleichzeitig; dagegen seien die Bläschen von der Färsenlymphe in der Regel umfangreicher, und die allgemeine Reaction stärker. Von den beiden letzten Eigenschaften haben Froebelius, ein ebenso aufmerksamer als unbefangener Beobachter, sowie Clementowsky in Moskau2) weder das Eine, noch das Andere, in einer sehr ansehnlichen Versuchsreihe, bemerkt, und er­klären sie die sinnfälligen Wirkungen beider Lympharten für identisch. Zu derselben Ueberzeugung gelangte der bekannte englische Impf­arzt Dr. Sea ton, welcher im Herbste 1869 die bezüglichen conti-nentalen Institute von Paris, Brüssel, Rotterdam und Amsterdam, im Auftrage des Sanitäts-Departements des königl. englischen Geheim-rathes, bereiste3). Er fand, dass die von animaler Lymphe stam­menden Pocken, an sich gut und charakteristisch entwickelt, das näm­liche äussere Gepräge, denselben Verlauf und ebensolche Varietäten darboten, wie sie täglich bei der humanisirten Lymphe vorkommen. Es ergab sich kein bemerkenswerther Unterschied in der Grosse der Bläschen, der Stärke der örtlichen Erscheinungen oder in der Ver-
1)nbsp; Memoire de l'Academie imperiale de Medicine. 1S67. Tome 28. Experiences avec le Cow-pox ou Vaccin animal, par M. Depaul.
2)nbsp; Oesterr. Jahresber. für Pädiatrik von Ritter u. Herz. II. Bd. 1872.
3)nbsp; Report on so called ..animal Vaccinationquot; as practised in France, Bel­gium and Holland. Twelfth Rapport. — Oesterr. Jahresber. für Pädiatrik. Jahr­gang 1871.
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236nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp;VII. Die verschiedenen Lymphen.
laufsdauer. Die späteren Narben waren etwas kleiner, als von der gewöhnliclien Impfung, doch in keiner quot;Weise stärker ausgeprägt — kurz, man konnte niemals von vornherein bestimmen, mit welchem Stoffe im gegebenen Falle geimpft worden war.
Dagegen bleibt die animale Lymphe, was ihre Haftbarkeit anbetrifft, ziemlich weit hinter den Erfolgen der von Arm zu Arm vollzogenen Impfung zurück. Eine Uebersicht sämmtlicher, in den Pariser Hospitälern vom 1. October 1S67 bis 31. October 1869 ge­impften Kinder lässt darüber keinen Zweifel (Mittheilung von Hu ss on, directeur de l'assistence publique des hopitaux de Paris, au Seat on).
Es waren geimpft
im Ganzen mit Erfolg ohne Erfolg ohne Revision gebliehen vom Kalbe auf Kinder 7000 476Snbsp; nbsp; nbsp; nbsp; 1317nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp;915
von Arm zu Arm 3110 2578nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp;213nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp;328
die animale Lymphe hatte demnach 21 pCt. Nichterfolge die humanisirtenbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp;7 „nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp;
ein Verhältniss von 3:1, das sich gleichbleibt, ob man die Unrevi-dirten von der Totalsumme abzieht oder nicht. Und dabei waren die animalen Impfungen fast durchgehends von den geübten Händen der DDr, Lanoix und Chambon, die anderen zumeist von den Internes gemacht worden.
Eine noch grellere Differenz weisen die von der Rotterdamer Gesellschaft zur Verbreitung der Vaccination im Jahre 1869 voll­zogenen Impfungen auf, wo sieh, bei 1152 Kindern, das Verhältniss der Nichterfolge bei animaler und humanisirter Lymphe wie 12,3 pCt. : 0,65 pCt. gestaltete. — Das Vorjahr 1868 hatte unter 113 animalen Impfungen sogar 25 pCt. erfolglose gehabt.
In Amsterdam schlug die animale Lymphe bei 120 Vaccinationen (April bis December 1869) 57 mal fehl; bei 51 dieser Kinder wurde die Impfung wiederholt, und zwar bei 45 mit Erfolg. Von den im Jahre 1869 mit humanisirter Lymphe geimpften 1291 Kindern be­zifferten sich die Fehlimpfungen mit etwas weniger als 1 pCt.
Die Güte eines Impfstoffes offenbart sich zweitens in der An­zahl der Pocken, welche mit ihm durchschnittlich erzielt werden. In England hat Seat on, bei der gewöhnlichen Impfung von Arm zu Arm kaum 1 pCt. berechnet, wo von sämmtlichen Einstichen blos einer aufging; bei mehr denn 90 pCt. aller Fälle, in den verschie­denen Impfdistricten, hatte jeder Stich gefasst. In den erfolgreichen Fällen von animaler Vaccination dagegen hatten die aufgegangenen Impfpocken nur bei etwa 75 pCt. die Zahl der gemachten Einstiche erreicht.
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Kritik der animalen Vaccination.nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; 237
Um Vieles unglinstiger lauten endlich die Tabellen, welche Dr. van Vollenhoven in Rotterdam veröffentlicht hat (s. Seaton's Bericht), und auch aus dem Moskauer Findelhause bestätigt Dr. Cle­rnen tows ky1) die viel geringere Haftungsfäliigkeit der Färsen-lymphe.
Es gilt das bisher Gesagte von der unmittelbaren Ueber-tragung der animalen Lymphe, und wenn sie da bereits zu Aus­stellungen reichlichen Anlass gibt, so lautet das einstimmige Urtheil über den aufbewahrten Stoff geradezu verwertend. Die in Glas-pbiolen gesammelte, oder zwischen Glasplatten getrocknete Färsen­lymphe ist schon nach einigen Stunden (Warlomont meint nach einigen Minuten) durchaus unzuverlässig, meist sogar ein gleichgül­tiger Stoff geworden, welcher mit der humanisirten, in dieser Be­ziehung, gar nicht verglichen werden kann. Die Ursache der schnellen Verderbniss ist unklar, und hat sich bisher kein empirisches Mittel finden lassen, sie aufzuhalten. Der üebelstaud haftet an der Lymphe selbst, weil er aller Orten in gleicher Weise empfunden ist. Eine An­zahl deutscher Aerzte, welche sich der aus dem Berliner Institut verschickten Lymphe bediente, hat nur Misselfolge, oder wenig be­friedigende Resultate erfahren. In der Hälfte meiner eigenen Ver­suche versagte dieselbe Lymphe, nach 2 mal 24 Stunden, nach 5 Tagen und nach 3 Monaten verimpft, gänzlich; wenn Erfolg eintrat, gingen niemals alle Stiche auf, nicht selten verspätete sich der Ausbruch, und die gleichzeitig entstandenen Pocken waren gewöhnlich von auf­fallend verschiedener Grosse, kurz, es zeigte sich, neben der Unsicher­heit, eine Launenhaftigkeit der Wirkung, welche bei der humanisirten Lymphe unbekannt ist. Wie schlecht die Pariser animale Lymphe ausserhalb des Instituts sich bewährte, davon geben die Französischen Aerzte unumwunden Zeugniss2), welche in der grossen Blattern-Epidemie von 1870 häufig zu ihr griffen, und sie fast einstimmig ver-urtheilten. Der Conseil de salubrite, kurz vor dem Ausbruch des Krieges beschäftigt, die Ursachen der Epidemie zu studiren, klagt unter Anderm geradezu die Benutzung der animalen Lynche an (Delpech). Auch in Oberitalien erntete dieselbe nichts weniger als Beifall, und löste sich das zu ihrer Pflege gebildete Comite in Turin nach kurzem Bestände auf3). Seuift, welcher bei der
1)nbsp; Oesterr. Jahresber. für Pädiatrik. Jahrgang 1872.
2)nbsp; La Kevue mödic. Jahrgang 1S70.
3)nbsp; Martorelli, Bapporto geuer. statist, sulla Vaccinatione. Torino 1873. — B. Carenzi, der Vaccin-Commissarius der Provinz Turin und Mitglied einer Commission, welche zum Studium der künstlichen Thierlymphe von dem Präfecten
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238nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; VII. Die verschiedenen Lymphen.
directen Fortleitung der Lymphe von Kalb zu Kalb, oder von den Thieren auf ungeimpfte Kinder, nichts an ihr auszusetzen fand, hatte mit der, umsichtig aufgefangenen und sorgsam verwahrten Lymphe, wenn sie nach wenigen Stunden bis spätestens nach 8—10 Tagen verwandt wurde, 27 pCt. Fehlimpfungen; mehrmals war sämmtliche, von einem Kalbe gewonnene und in Gläschen aufgefasste Lymphe un­brauchbar geworden. Noch kläglicher fielen seine Versuche mit dem, von fast allen bekannten Instituten i'iir animale Lymphe bezogenen Stoffe aus, indem mehr als 40 Röhrchen nur zweimal einige ganz rudimentäre Pusteln am Kalbe lieferten. Selbst die mit Glycerin vermischte Färsenlymphe gab, obgleich sie in dieser Verbindung sich besser, als im reinen Zustande erhielt, immer noch recht un­genügende Resultate.')
Noch weniger, als die ersten Impfungen, haben die Revacci-nationen mit direct übertragener animaler Lymphe befriedigt. Auch Froebelius räumt hier der humanisirten Lymphe eine grössere Sicherheit ein -), und will nur den Vorwurf der bedeutenden Unzu-verlässigkeit seitens der animalen Vaccine nicht gelten lassen. Die Amsterdamer Gesellschaft für Verbreitung der Kuhpocken-Impfung beschloss 1871, nach vielfachen Versuchen, fortan nur mit humani-sirter Lymphe, wegen der besseren Erfolge, zu revacciniren, und der oben genannte Conseil de salubrite urtheilt über die Benutzung der animalen Lymphe zu den Revaccinationen: „ la fausse securite donnee par cette pratique, a exerce sur la propagation de l'epidemie actuelle une sensible influence.quot;
Mehr bewährte sich die Färsenlymphe, nach Froebelius, bei ihrer Humanisirung; wurde sie fernerhin nur von Kind zu Kind verimpft, so sah man eine auffallende Gleichmässigkeit der Pusteln, wie bei keinem andern Stoffe, bekam gar keine üblen Ausgänge zu Gesicht, und erfreute sich der geringsten Fehlimpfungen: 0,8 pCt, ein Resultat, was von anderen Seiten Bestätigung erfahren hat. —
Ueber die Stärke und die Vorhältigkeit des Schutzes, welche von der animalen Lymphe zu gewärtigen sind, muss heute
ernannt war, erklärt, am Schlüsse einer nur tadelnden Kritik, moralisch gegen sich selbst, gegen die Regierung und gegen die ihm anvertraute* Bevölkerung ver­pflichtet zu sein, von jenem ImpfstofTe keinen Gebrauch zu machen. (LaVaccina dinanzi alle Famiglie. Torino 1S72.)
1)nbsp; Senfft, Berliner klin. Wochenschr. 1S72. 17.
2)nbsp; Bericht über die Revaccinationen mit animaler und humanisirter Lymphe im Jahre IS71. St. Petersb. med. Zeitschr. 1^71. 11. Bd.
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Kritik der animalen Vaccination.nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; 239
jede Meinung selbstverständlich zurückgehalten werden. Höchstens lässt sich vermuthen, dass der Stoff wol ebensoviel Aussicht auf Schutzkraft haben dürfte, wie die alte Lymphe, welche nun bereits über 70 Jahre zählt, und Nichts an derselben eingebüsst hat.
Aber die animale Lymphe ist von allen besonnenen Aerzten nicht wegen des etwaigen kräftigeren Schutzes, welchen man nöthig hatte und erhoffte, oder sonstiger Vorzüge halber, mit Beifall begrüsst worden, sondern weil bei ihrem Gebrauch jede Uebertragung von menschlichen Krankheitskeimen ausgeschlossen bleibt. Und unter diesen war es eigentlich nur das Schreckbild der Syphilis vaccinata, das, seit Jahrzehnten über der Impfung von Arm zu Arm schwebend, mit der animalen Lymphe ein für allemal gebannt werden sollte. Denn nach den Experimenten der früher erwähnten Pariser Com­mission ist die Syphilis nicht mittheilbar den Individuen der Kind­viehgattung. Ob dafür andere verderbliche Keime mit der Rinder­lymphe auf den Menschen überwandern können, hat man freilich kurzweg abgeleugnet.
Soll mm ein Schlussurtheil über die animale Lymphe ge­fällt werden, so überragt sie die humanisirte, bei directer Anwendung, nach keiner Richtung hin, weder in der Vorzüglichkeit des Exan-thems, noch durch ihre kräftigeren febrilen Wirkungen, — und steht dem alten Stoffe nach, was die Sicherheit der Haftung anbetrifft. Aufbewahrt und verschickt hat sie, wegen der schnellen Zersetzbar-keit, einen höchst untergeordneten Werth. Sie zeigt sich, nach mehreren dieser Eigenschaften, mit den Mängeln, wenn auch in ge­ringerem Grade, behaftet, welche dem Uebergange jedweder Lymphe von einem Thier auf den Menschen ankleben. In dieser Unbeständig­keit, welche sie charakterisirt, lösen sich die mancherlei Wider­sprüche auf, welche den einzelnen Beobachtern bei ihrer Anwendung begegneten. — Die Herstellung der animalen Lymphe erfordert ausser-dem eine besondere Erfahrung und Uebung, welche sich anzueignen immer nur Einzelne in der Lage sein werden.
So wäre denn, wenn die animale Vaccination ganz au die Stelle der bisherigen träte, im günstigsten Falle Nichts gewonnen. Da die Färsenlymphe indess, laut den Zeugnissen ihrer wärmsten Freunde, eine geringere Haftbarkeit, als die humanisirte, besitzt, so würde die Prophylaxe der Blattern eher verringert, als gesteigert werden. Ver­werflich würde zumal die allgemeine Revaccination mit einer solch zweifelhaften Lymphe sein, und es sind verbürgte Beispiele von
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240nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp;VII. Die verschiedenen Lymphen.
Variola nach der Revaccination von der Färse mehrfach mitge-theilt ')•
Der absolute Schutz vor der Syphilis, welchen die animale Vaccination sichert, muss als ein hoher Vorzug derselben gerühmt werden, welcher jedoch nicht übertrieben werden darf, denn er kann beim Gebrauche der humanisirten Lymphe gleichfalls erreicht werden, und die Syphilis vaccinata darf uns der animalen keineswegs in die Arme treiben.
Die Kostspieligkeit der Thierlymphe, immerhin ein Nachtheil, dürfte, wenn ihr wesentliche Vorzüge zur Seite ständen, kaum von Belaug sein, und würde in der schnellen und reichlichen Beschaffung des Impfstoffs, welchen die neapolitanische Methode ermöglicht, wol ein Gegengewicht finden.
Ganz unbestreitbar steht nur der Conventionelle Werthder künstlichen Thierlymphe da; sie schont das tiefe Widerstreben vieler Laien gegen den humanisirten Stoff, welches die Aerzte vergeblich mit Gründen niederzukämpfen trachten, und erscheint so eher ge­eignet, mit dem ungewöhnlichen Schutzmittel der Vaccination aus­zusöhnen.
Die letzte Entscheidung über die animale Vaccination darf nicht mehr der Zukunft überantwortet werden, und das Urtheil scheint sich im ärztlichen Publikum bereits festgestellt zu haben, indem der anfängliche Rausch für dieselbe Verflogen, und der Begehr nach ihr sehr geschwunden ist.
I) Bulletin gener. de Therapeutique. 1ST0.
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Achter Abschnitt.
Die ßevaccination.
Der Glaube an die unbedingte Schutzkraft der Vaccine, welchem die Menschheit seit dem Anfange des Jahrhunderts anhing, war im zweiten Decennium, durch die wiederkehrenden Blatternepidemien, an welchen die Geimpften hervorragenden Antheil nahmen, und durch die Erfahrung, dass in der Jugend vaccinirte Personen für eine zweite Impfung sich wieder empfänglich gezeigt hatten, stark er­schüttert worden. Im dritten Jahrzehnt konnte jener Glaube als vernichtet gelten.
Man sollte meinen, unter solchen Umständen wäre der Schluss, durch eine erneute Vaccination die erloschene Schutzkraft der ersten zu ersetzen, von logischer Notwendigkeit gewesen, so daslaquo; es nur das unbequeme Zugeständniss, in einer ausschweifenden Hoffnung betrogen zu sein, gekostet hätte, um der Revaccination die allge­meine Zustimmung zu erobernd Allein in dem Kampfe gegen die so ekle, wie mörderische Blatternkrankheit ist jeder Schritt dem zähesten Widerstände abgerungen worden. Gegen die Revaccination stemmten sich diesmal nicht die Feinde der Kuhpockenimpfung allein, sondern viele Freunde derselben, und J e n n e r selbst standen in den Reihen der Gegner.
Jenner starb (1823) mit dem Glauben an die Unfehlbarkeit des einmal empfangenen Vaccineschutzes. Wo derselbe hinfällig befunden worden, da seien das erste Mal die falschen anstatt der echten Kuhpocken eingepflanzt. Als die Thatsachen ihn später von dieser Erklärung abdrängten, suchte und fand er immer neue morsche Stützen für die, mit seinem Leben verwachsene Ueberzeugung, bis
Bohn, Handbuch der Vaccination.nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; 16
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242nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; Vin. Die Kevaccination.
er endlich bei der „besondern variolösen Diatbesequot; stehen blieb, welche die Vaccine bei manchen Individuen mit der Zeit zu über-wuchera vermöge. Andere wälzten schon damals die Schuld des unzulänglichen Schutzes auf die entartete Lymphe, deren Veredelung jede zweite Impfung überflüssig machen werde .(Nicolai), und der Veteran der Vaccination Gregory, welcher die Wirksamkeit der JugendimpluDg nur bis zur Pubertät gelten Hess, erklärte eine Re-vaccination nach diesem Zeitpunkte fur unnütz, weil dann nur wieder die Inoculation der Blattern hilfreich eintreten könne.
Warum die Revaccination so schwer begriffen wurde? Revac-cinirt hatte man seit dem Anfange des Jahrhunderts genug, doch immer nur mit der Absicht, die kurz vorhergegangene Vaccination auf die Probe zu stellen. Solche, zu frühe wiederholten Impfungen mussten nun entweder ganz erfolglos bleiben, oder wenn sich Resul­tate zeigten, fielen dieselben in die Klasse der uns jetzt geläufigen unvollständigen oder modificirten Vaccinen. Von diesen aber wusste man damals nichts, und betrachtete sie als keine, oder als falsche Vaccinen.
Sodann vertrat die Blatternform selbst, von welcher die vacci-nirten Bevölkerungen in jener Zeit zumeist heimgesucht wurden, jeder richtigen Auffassung den Weg. So lange die Varioloiden von den Blattern getrennt und für eine andere Krankheit erklärt wurden, vermochten sie die Unfehlkarkeit der Vaccine nimmermehr anzutasten. Die Aerzte verstanden die Varioloiden ebenso wenig, wie die modifi­cirten Revaccinen.
Das grosse Publikum aber, welchem die Aerzte und die Regie­rungen den untrüglichen Schutz der Kuhpocken einstmals zuge­sichert hatten, konnte unmöglich, nach der eben erlebten, bittern Enttäuschung, die Idee der Revaccination mit Jubel begrüssen. So verging fast ein Menschenalter, ehe der kurze, klar vorgezeichnete Schritt gethan wurde.
Das Verdienst, Klarheit über diese Dinge in ihre Zeit gebracht zu haben, gebührt einigen deutschen Aerzten, vornehmlich W o 1 f e r s, Dornblüth, und dem russischen Arzte Harder in St. Petersburg, und die Pandemie der Variola in den zwanziger Jahren unterstützte dieselben auf's Wirksamste. Durch sorgfältige Krankehbeobachtungen und zahlreiche Revaccinationen kamen diese Aerzte zu der Einsicht, dass die zeitweilige Schutzkraft eine Eigenschaft des vaccinalenVirus, und bei der Vaccine nur hervorstechender sei, als bei der Variola, welche gleichfalls, ob natürlich oder künstlich
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Der Reyaccinationszwang in den Armeen.nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; 243
erworben, keine absolute Sicherheit gegen ihre eigene Wiederkehr biete. Sie erkannten ferner, dass zwischen den Varioloiden und gewissen Efflorescenzen im Gefolge der Revaccination eine offenbare Analogie herrsche, sowol in dem schnelleren Ablaufe, wie in der fragmentären Ausbildung des beiderseitigen Exanthems, und dass in beiden Fällen die Ursache der, von ihrem Normalbilde abwei­chenden Formen in der vorausgegangenen Vaccination enthalten sei. Sie sagten sich, dass, wenn ein geimpftes Individuum wieder flir die Blattern empfänglich werden könne, es auch einer zweiten Impfung zugänglich sein müsse, und dass man in der zeitigen Ertödtung dieser aufgelebten vaccinalen Disposition jene für die Blattern abermals zu vernichten vermöge.
Die Revaccination hat in Deutschland zuerst Eingang gefunden, und auch die. staatliche Anerkennung erworben. Die Regierung von Würtemberg führte, durch eine Verordnung vom Jahre 1829, und durch das Gesetz von 1833, die Zwangsimpfung sämmtlicher Rekruten des Militairs ein. (Seit 1866 wurden auch die, in die Strafanstalten des Landes eintretenden Verbrecher revaccinirt.) Das Gesetz machte, im Verlass auf die damals noch gültige Narbentheorie Gregory's, die Wiederimpfting von der Beschaffenheit der vor­handenen Vaccinationsspuren abhängig, und befreite von derselben diejenigen Rekruten, deren Narben die vorschriftsmässige Signatur aufwiesen. Die nachfolgenden Blattemepidemien, und die weitere Revaccinationspraxis stürzten diese Narbentheorie, und gleichzeitig stellte sich heraus, dass ebensowenig, wie die Beschaffenheit, die Zahl der vorhandenen Impfnarben von vornherein den Ausfall oder die Nothwendigkeit einer Revaccination zu bestimmen vermöge. Bei jeder Anzahl kann die Schutzkraft nach einer Reihe von Jahren untergegangen sein, wenngleich die Dauer des Schutzes mit einer grösseren Anzahl im Allgemeinen zu wachsen pflegt. Die späteren Erfahrungen haben hieran nichts Wesentliches geändert.
Dem Vorbilde Würtembergs schlössen sich bald, was das Militair betrifft, die übrigen deutschen Staaten an. Nachdem in der preussi-schen Armee im Jahre 1833 ein beschränkter Anfang gemacht war, wurde, seit 1834, derRevaccinationszwang gesetzlich und all­gemein im Heere. Hannoverfolgte 1837, Baden 1840, Bayern 1844, das letztere dehnte ihn noch auf die, in den Casernen wohn­haften, Soldatenfrauen aus. Schweden nahm die Zwangsrevacci-nation für Heer und Flotte 1849 an, früher oder später endlich die meisten übrigen Staaten Europas, wobei die preussischen Vorschriften
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244nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; VHI. Die Kevaccination.
meistens zum Muster gedient haben. Es müssen, nach denselben, sämmtliche Rekruten, ja selbst die Reservisten und Landwehrmänner, sobald und so oft sie zu den Fahnen einberufen sind, gleichviel, ob sie bereits revaccinirt waren oder nicht, innerhalb der sechs ersten Wochen geimpft, und diejenigen, bei welchen das erste Mal keine Haftung erfolgt ist, nochmals der Operation unterworfen werden.
Der Civilbevölkerung gegenüber hat man sich dagegen, bis zum Erlass des 1875 in Kraft getretenen Deutschen Reichs-Impfge­setzes, nirgends zu bestimmten Normen und deren Consequenzen cntschliessen mögen, dieselben sogar ängstlich vermieden oder ge­radezu abgelehnt. Regierungen, welche sorgsam über die obliga­torische Vaccination wachten, Hessen es, hinsichtlich der zweiten Impfung, bei einer wiederholten, mehr oder weniger eindringlichen Empfehlung, „der höchst zweckmässigen Gesundheitsmassregelquot; bewenden, und rechneten auf die Tbätigkeit und den Eifer der Lokalbehörden, der Gerichts- und Privat - Aerzte, der Seelsorger, durch welche sie allein zu realisiren sei (Kgl. bayr., die Revac-cination betreffende Verordnung vom Jahre 1836 und 1844). Selbst eine Zwangs-Wiederimpfung bei herrschenden Pockenepidemien, entsprechend der zwangsweisen Vaccination bei solcher Veranlas­sung, hat man nicht für räthlicb erachtet, und sich auch in solchen Nothständen auf Vorstellungen und Ermahnungen beschränkt. Man glaubte die zweite Impfung nicht gebieten zu dürfen, weil es sich hier nicht um unmündige Individuen, sondern um Erwach­sene handele, denen die Sorge für ihr eigenes Wohl füglich über­lassen werden könne, und weil polizeiliche Mittel vorhanden seien, durch Sperrmassregeln diejenigen zu strafen, welche selbstverschuldet in die Blatternkrankheit gerathen wären. Wobei die gewöhnliche Logik fragt, warum dem Erwachsenen die Sorge für sein Wohl ab­genommen wird, wenn er Soldat ist, wo seine Isolirung nöthigenfalls viel leichter geschehen kann. Es soll nicht behauptet werden, dass das rathlose Schwanken der Regierungen die Gleichgültigkeit des Publikums -gegen die Revaccination veranlasst habe, aber bestärkt wurde dasselbe dadurch in seiner ursprünglichen Abneigung gegen die Wiederholung der infantilen Procedur, in der Unsicherheit seines Urtheils und in seinem Indifferentismus. Trotz aller gemeinver­ständlichen Darstellungen, welche diesem Gegenstande gewidmet sind, herrscht noch heute die tiefste Unkenntniss oder Verworrenheit über den Sinn der Revaccination in nichtärztlichen Kreisen, und von ihrer Nothwendigkeit fühlen sich Wenige durchdrungen.
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Die Revacciuationspraxis.nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; 245
Die Wissenschaft hat, unhekümmert um getäuschte Erwartungen, den trausitorischen Schutz der Vaccination, und seine nothwendige Ergänzung in einer zweiten Impfung anerkannt. Staatlicherseits sind die Jugendimpfung und Revaccination zuerst und allein in Deutsch­land, durch das Reichsgesetz vom 8. April 1874, für Jedermann verhindlich geworden.
Die Revaccination muss im späteren Lebensalter eine ebenso durchgängige sein, wie die erste Impfung in der frühesten Jugend. Die Narben von der letzteren enthalten kein Kriterium, ob das Indi­viduum revaccinationsbedürftig sei oder nicht. Dagegen können (wie fast alle militairischen Gesetze, und das Deutsche Reichs-Impfgesetz vorschreiben) diejenigen von der Erneuerung der Vaccination aus­geschlossen bleiben, welche vor nicht zu langer Zeit geblättert haben, und hinreichende charakteristische Variola-Narben an sich tragen.
Welcher Lymphsorte soll man sich zum Revacciniren be­dienen? Jedenfalls einer durchaus verlässlichen, damit beim Fehlschlagen kein Zweifel aufkommen kann, ob der Impfling ohne Empfänglichkeit, oder der Impfstoff untauglich gewesen sei. Auf­bewahrter , flüssiger oder trockener Stoff soll bei der Revaccination gemieden werden, und nur die Uebertragung von Arm zu Arm statt­finden. In dem noch immer nicht geschlichteten Streite über die Ver­wendbarkeit der Revaccinlymphe Erwachsener muss das theo­retische Vorurtheil gegen dieselbe entschieden zurückgewiesen werden. Ein wissenschaftlicher Nachweis, oder vollgültige Erfahrungen, welche ihre geringere Wirksamkeit, oder die behaupteten Nachtheile klar gelegt hätten, werden bis heute vermisst, während Heim, bereits in den dreissiger Jahren, die Grundlosigkeit jener Scheu vor der Revaccin­lymphe thatsächlich dargethan hat. Impfungen mit derselben lieferten Pocken von tadelloser Güte und normalem Verlauf; sie schlug bei den Revaccinationen Erwachsener oftmals da an, wo Kinderlymphe kurz zuvor versagt hatte. Bei ungeimpften Kindern erwies sie sich dem besten, direct vom Kinderarm genommenen Stoffe gleich, einige Male selbst wirksamer, indem sie Erfolge gab, nachdem wiederholt und fruchtlos vom Arm eines Kindes abgeimptt worden war. So gelangte Heim zu der Behauptung, welche von seinen würtem-berger Collegen geprüft und bestätigt wurde, dass die Lymphe aus vollkommen echten Revaccinen, zum Zwecke weiterer Revacci­nationen, bei Jung und Alt, der Lymphe aus guten Kinderpocken nicht nur um Nichts nachsteht, sondern erfahrungsgemäss geeigneter erscheint. — Vergleichende Impfungen, auf dem einen Arm mit
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246nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; VIII. Die Revaccination.
Vaccine, auf dem anderen mit Revacciulymphe, Hessen auch St ein-brenn er (a. a. 0. S. 731) nicht die geringste Differenz zwischen den Eruptionen während ihres ganzen Verlaufes erkennen, und ich kann aus eigener Beobachtung diesen Angaben vollständig beitreten. In Folge des von Heim gefällten Urtheils ist die Kevaccinlymphe seit dem Jahre 1832 der gesetzliche Eevaccinationsstoff beim würtem-bergischen Militair geworden, und bald darauf auch beim preussischen eingeführt, und bis jetzt beibehalten.
In jüngster Zeit ist die animale Lymphe für Revaccinations-zwecke in Anwendung gezogen, aber, wie ich bereits oben mitge-theilt habe, aus triftigen Gründen alsbald verlassen worden.
Man gibt den Erwachsenen bei der Revaccination durchschnitt­lich mehr Einstiche, als den jungen Kindern; unzweifelhaft wegen der grösseren Fläche, welche der ausgewachsene Arm zur Verfügung stellt, denn auf andere Art ist diese Sitte bisher nicht motivirt worden. Heim hält zwölf Stiche für genügend, aber auch noth-wendig, die militairische Vorschrift in Preussen bestimmt achtzehn. Dass man die Zahl nicht beliebig hinaufschrauben kann, scheint aus den preussischen Revaccinations-Listen (Prager) zu folgen, wo zwanzig bis dreissig Einstiche nur selten angingen.
Die Symptomatologie der Uevaccineu.
Die überaus mannichfaltigen Lokalerscheinungen, welche bei den Revaccinirten vorkommen können, unterscheiden die zweite Impfung wesentlich von der Einförmigkeit der ersten, und setzen eine grosse Stufenleiter von Erfolgen zusammen.
1) Der volle oder ideale Erfolg stimmt durchweg mit dem Aus­fall der gesetzmässigen Vaccination überein. Nach einer 60—70 stün­digen Latenzperiode, wo nur die von der Verletzung hervorgerufene Entzündung an den Impfstellen sichtbar geworden ist, brechen die Re-vaccinen als rothe Knötchen aus, welche Tags darauf vesiculös wer­den, mit einem Hofe sich umgeben, und bis zum Schlüsse des 7. Tages ihrer allseitigen Ausbildung entgegengehen. In den drei ersten Tagen wird keine fremde Empfindung an dem geimpften Arme verspürt, den Knötchenausbruch dagegen, und die früheste Bläschenzeit, am 3.—5. Tage, begleitet ein verschieden lästiges Jucken. Am 6. Tage wird die benachbarte Achselhöhle spontan, und später auch auf
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Symptomatologie der Kevaccinen.nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; 247
Druck empfindlich, und die Achseldrüsen schwellen, durchschnittlich mehr als bei Kindern, an. Am 7. und während des 8. Tages ist der Hof um die Impfbläschen, welcher sich mittlerweile stetig ver-grössert hat, zu einer breiten Entzündungsgeschwulst angewachsen, und dieser Rothlauf erreicht gewöhnlich viel weitere Dimensionen, als bei vaccinirten Kindern, und ist mit einer starken Infiltration des Zellgewebes verbunden. Dem entspricht das durchgehends schwerere fieberhafte Ergriffensein des Gesammtorganismus, welches zuweilen Bettlägerigkeit erzwingt. Die Kranken empfinden ein schmerzhaftes Ziehen und Reissen im Arm, derselbe ist aufgeschwollen, schwer, die Muskeln sind kraftlos. Die Temperatur, welche denselben Gang, wie bei der Vaccination einschlägt, erhebt sich höher, bis über 40deg; C. Die spätem Krusten sitzen fest und lange, aber die Narben sind klein, und verschwinden schneller, als nach einer guten ersten Impfung.
Dicht an dieses vollendete Bild schliesst sich 2) j ener Ausfall der Revaccination, wo der Process bereits mit dem 6. Tage seine Höhe erreicht hat. Alle Stadien sind etwas beschleunigt, aber auch die Verschwärung des Coriums hält sich oberflächlicher, denn die Austrocknung der Pusteln und der Krustenabfall geht bei weitem schneller von statten, als bei No. 1 , und die Narben sind weniger ausgeprägt. Die Lymphe, aus den Vesikeln des 0. Tages entnommen, gibt vortreffliche Impf-Resultate.
Während in diesen beiden Fällen ein, nach Form und Verlauf, deutlicher Vaccineprocess, zur Anschauung kommt, folgt nun abwärts eine Reihe von allmählichen Abstufungen, wo derselbe immer unvoll­kommener, immer bruchstückartiger, unkenntlicher wird, und hastiger abläuft: es sind die sog. modificirten Revaccinationserfolge. Bei der Beurtheilung ihrer, leicht verwirrenden Mannichfaltigkeit müssen die Eigenthümlichkeiten der modificirten Revaccinen, und gewisse Momente bei ihrer Entwickelung gekannt sein, wozu eine einmalige Revision der Revaccinirten, am 6. oder S. Tage, freilich nicht aus­reicht. Dieselbe muss vielmehr schon in den ersten Tagen wieder­holt vorgenommen werden, will man nicht einen ungefähren oder falschen Einblick in die möglichen Formen gewinnen.
Im Gegensatz zu der Kinderimpfung fällt die traumatische Reaction bei den Revaccinirten intensiver aus. Schon einige Stunden nach der Operation hat sich ein ziemlich umfangreicher rother Hügel oder Knoten gebildet. Dem entspricht die stärkere Ver­schwärung der kleinen Wunde, welche bald mit einem flachen Eiter-
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248nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; VIII. Die Revaccination.
schorfe bedeckt ist. Man hat nun vor Allem darauf sein Augen­merk zu richten, an welchem Tage diese traumatische Entzündung in die specifische übergeht, weil beide nicht so strenge, wie bei der Vaccination, getrennt sind, und äusserlich um somehr verschmelzen, je modificirter die Revaccinen werden. Jener Eintritt der specifischen Entzündung kündigt sich dadurch an, dass die Kuppe des gleichmässig gewölbten Knotens, um den Einstich herum, sich leicht erhebt.
Wenn es an dieser Stelle zur Vesiculation kommt, so erwarte man keine regulären Jenner'schen Bläschen, häufig sind nur flache blasige Erhebungen der Epidermis vorhanden, und wo deutliche Bläschen auftreten, sind sie durchscbnittlich kleiner, als die Vaccinen und von durchaus abweichender Gestalt. Ihr Rand steigt nicht, wie bei diesen, steil auf, sondern fällt flach ab, sie sind nicht gleich­mässig rund oder oval, sondern von unregelmässiger, oft buchtiger Begrenzung, im Ganzen uneben, höckerig. Die Delle fehlt, oder ist wegen des breiteren Schorfes über 'dem Stichpunkt gross und un­förmlich, kurz, die modificirte Revaccine-Efflorescenz sticht auffallend von der schönen und säubern Bildung der Vaccinen ab. Die modi-ficirten Revaccinen sind einfächerige Hohlräume.
Beachtung verdient ferner die diffuse Areola, welche von keiner Efflorescenz ausstrahlt, die blos traumatischen Ursprungs ist.
Nachdem die Höhe des Processes überschritten, und der Inhalt der Bläschen eitrig geworden, gehen die modificirten Revaccinen sehr rasch zurück.
Die Untersuchung der Pockenschorfe sollte nicht verabsäumt werden. Die erhärteten dunkeln Krusten sind bekanntlich bei allen vaccinalen Bildungen der getreue Abguss der vorangegangenen Bläschen. Da es nicht selten während des revaccinalen Processes schwer hält, den Grad der Vesiculation und Serumabsonderung zu beurtheilen, so kann darüber nur die spätere Verkrustung der Efflo-rescenzen sicheren Aufschluss geben.
Der Tag, auf welchen der Höhepunkt des Processes trifft, bestimmt den Werth der Revaccination. Die Akme kann auf jeden der sieben ersten Tage, ja man kann sagen, auf jede Stunde innerhalb dieses Zeitraums fallen, je ferner vom Impftage dies geschieht, um so vollendeter ist der Effect, je näher sie ah diesen her­anrückt, um so unvollständiger oder modificirter wird die Revaccine.
Ein sicheres und frühes Anzeichen des Verlaufes, welchen die Revaccination nehmen wird, liefert das Jucken der Impfstellen, weil dasselbe regelmässig mit dem Beginn der specifischen Haut-
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Symptomatologie der Revaccinen.nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; 249
entzündung sich einstellt, und wiederum von dem Anfange dieser die Akme des ganzen Processes abhängt. Jucken die Stichpunkte so­fort nach der Impfung, dann ist der Erfolg gleich Null. Tritt die Empfindung in der zweiten Hälfte des 1., oder am Anfange des 2. Tages auf, so kündigt sie stark modificirte Pocken an7 so dass frühzeitiges Jucken kein besonderes Impfresultat in Aussicht stellt. Gesetzmässige Revaccinen, die mit dem 3. Tage ihre Bildung be­ginnen, jucken auch erst zu dieser Zeit.
Nicht minder bezeichnend ist der spontane Schmerz in den angelaufenen Achseldrüsen, welcher nur da geklagt wird, wo die Eruption zur Bläschenbildung gedeiht. Er beginnt mit den ersten Spuren der Vesiculation, ist am empfindlichsten auf der Höhe des Processes, und überdauert dieselbe. Stets das Symptom der constitutionellen Einwirkung der Eevaccine, ist er der klinische Beweis einer, wenn auch nur fragmentär, erfolgreichen Operation.
Die grosse Mannichfaltigkeit der Bilder bei den modificirten Formen wird endlich noch gesteigert, indem nicht an allen Stich­punkten die gleichen Veränderungen vor sich gehen. Einzelne Impf­stiche pflegen fast regelmässig auszufallen; bei anderen bleiben die Efflorescenzen auf dem papulösen Stadium stehen, und wo an den übrigen die Bläschenbildung erfolgt, sind die Vesikeln oft sehr ver­schieden ausgebildet, so dass auch die nachträglichen Krusten un­gleich in Grosse und Form erscheinen. Vergleicht man damit die grosse Uebereinstimmung unter den Vaccinen der Kinder, wo jene Ungleichmässigkeit zu den Ausnahmen zählt, so kann letztere als charakteristisch für die modificirten Revaccinen gelten.
Es muss schliesslich festgestellt werden, was von den rudimen­tärsten Efflorescenzen überhaupt noch, wissenschaftlich, als Revac-cinationseifect, und was blos als einfache örtliche Entzündung, in Folge der Verwundung, zu gelten hat. Die Grenze ist nicht leicht zuziehen. Burchardt1) folgert aus seinen Beobachtungen, dass der negative Erfolg der Revaccination durch die völlige Reactions-losigkeit der Impfwunden bezeichnet wird, während ein an der Impf­stelle sich entwickelnder Entzündungsherd wissenschaftlich ein ebenso sicheres Zeichen des Erfolges der Schutzimpfung sei, wie die Pustel. — In solcher Schärfe ist die Behauptung eine irrige, weil sie die traumatische Reaction der Wunden, und die wechselnde Reizbarkeit der Haut unberücksichtigt lässt. Bei der Jugendimpfung, wo Erfolg und Nichterfolg sehr leicht von einander zu trennen sind.
1) Deutsche militärärztl. Zeitschr. 1873. Heft 11 u. 12.
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250nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; VIII. Die Eevaccination.
bildet sich, auch bei gänzlicbem Fehlschlagen, fast ausnahmslos eine mehr oder weniger lebbafte, einfache Entzündung um den Stich­punkt, die in 1—2inal 24 Stunden abläuft. Der blosse Entzündungs­herd lässt an sich keine bestimmte Deutung seines pathologischen Werthes zu, und ich möchte, bei dem Mangel objectiver Kriterien, auf die subjective Empfindung des Juckens zurückkommen, und sie, auch in den rudimentärsten Formen, als das Zeichen einer speci-fischen Action in dem Entzündungsherde betrachten.
Unternehmen wir nun, mit Berücksichtigung der eben gegebenen Momente, eine Classification der modificirten Revaccinen, so lassen sich folgende Typen aufstellen, welche sich an die echten, oder fast vollkommenen Revaccinen (Nr. 1 u. 2) anreihen.
3)nbsp; nbsp;Der mittelmässige Erfolg. Die Incubation beträgt 24—30 Stunden, innerhalb des zweiten Tages beginnt das Jucken der Impfknoten. Im Laufe des 3. Tages hebt sich die Kuppe der­selben und es entstellt, um den Einstich, eine blasige Erhebung der Epidermis. Am 4. Tage bedeckt eine mehr weniger ausgebildete Vesikel, mit oder ohne Nabel, die Höhe des Knotens. — Achsel­schmerz spontan und auf Druck. Auf den 5. Tag fällt die Akme des Processes; die Areola um das Bläschen greift weit aus, der Achselschmerz ist lebhafter und bei den Bewegungen des Arms vor­handen. Aber die Armgeschwulst ist unerheblich, die febrile Reaction des Körpers gewinnt wenig Bedeutung, leichtes Unwohlsein, etwas Frösteln. Am 6. Tage sind die entzündlichen Lokalerscheinungen auf dem Rückgange, der Inhalt der Bläschen trübt sich, und am 7. und 8. Tage vertrocknen die Bläschen. Die Krusten haften mehrere Tage, und nach ihrer Ablösung kommt eine kleine charakterlose Narbe zum Vorschein. Der Inhalt dieser Bläschen versagt bei der In­oculation.
4)nbsp; Der ungenügende Erfolg. Die Knoten, welche nach ge­schehener Operation entstanden sind, fangen am Ende des 1. Tages au zu jucken. Am 2. und 3. Tage ist die Epidermis auf ihrer Spitze zu einem flachen, oft kaum deutlichen Bläschen erhoben, dessen Inhalt schnell trübe wird. Die Impfstellen brennen, und am 3. und 4. Tage wird vorübergehend ein massiger Achselschmerz geklagt; die Areola ist gering. Vom 4. Tage, dem Höhepunkte, gehen die Erscheinungen schnell bergab, und der spärliche Inhalt der Bläschen vertrocknet zu kleinen schwarzen Borken. Mitunter kann man nur aus den letzteren zurückschliessen, dass eine flüssige Exsudation stattgefunden hat.
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Symptomatologie der Revaccinen.nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp;251
In weiteren Fällen, die einen noch ungenügenderen Erfolg reprä-sentiren, bezeichnet der 3. oder das Ende des 2. Tages den Höhe­punkt des Processes. Es sind, wenn es überhaupt so weit kommt, meist nur blosse Andeutungen von Bläschen vorhanden, was man aus den späteren flachen Schorfen ersieht. Unbedeutende periphere Entzündungs-Erscheinungen, kein Achselschmerz. Das Ganze ent­fernt sich von jedem Typus, und gewährt mehr den Eindruck, als wäre dem Impflinge eine Wunde mit einem reizenden Stoffe beige­bracht worden.
Endlich 5) der niederste Erfolg. Hier läuft die Umgebung der Einstiche, in den ersten Stunden post revaccinationem, unter lebhaftem Jucken mehr quaddelförmig, als papulös auf. Die licht-rothen Anschwellungen beginnen schon nach 24 Stunden ihre In­volution.
Bei absolutem Fehlschlagen der Revaccination entstehen flache oder knotige Entzündungsherde an den Einstichen, welche ohne Jucken und Brennen sich involviren; oder die Stichwunden verheilen gerades Weges ohne nennenswerthe Reaction. —
Es lassen sich demnach zwei Gruppen von Revaccinen bilden. Die erste Gruppe umfasst diejenigen, welche am 7. und 6. Tage gipfeln, insofern nur sie ein verimpfbares Fluidijm in ihren Bläschen reproduciren. Alle übrigen, welche ihre Akme am 5. Tage erreichen, oder darunter bleiben, sind, als die wirklich modificirten, nicht fortpflanzungsfähig, und besitzen nur für das geimpfte Individuum Werth.
Wie aber die Revaccination ausfallen mag, ob voll legitim oder unbedeutend, die örtlichen und allgemeinen Symptome gestalten sich intensiver, als bei der ersten Jugendimpfung. Das zeigt sich bereits bei den Fehlimpfungen, deutlicher an den mehr oder weniger modi­ficirten Revaccinen, und vollends bei den echten, wo die lokale Ent­zündung und die allgemeine febrile Ergriffenheit das vaccinale Maass erheblich überschreiten. Die Lymphe scheint hier infectiöser zu wirken, oder der vaccinale Giftstoff scheint dem kindlichen Organis­mus weniger feindlich zu sein was daran erinnert, dass die acuten Exantlieme von Erwachsenen im Allgemeinen schwerer überstanden werden.
Wie sind die modificirten Revaccinationserfolge aufzufassen?
Wenn der legitime Verlauf der Revaccination einer Erkrankung an echter Variola gleichwerthig ist, so gehen alle, unter demselben
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252nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; VIII. Die Revaccination.
bleibenden Revaccinen mit den zahlreichen Formen der Variola modi-ficata parallel. Wie sich in diesen mannichfach gemilderten Blattern die Jugendimpfung abspiegelt, so tritt auch in den modificirten Ee-vaccinen der Eindruck zu Tage, welchen die erste Lnpiung auf den Körper noch behauptet. Sie zeigen, im umgekehrten Verhältniss, das äusserst wechselnde Maass von Schutzkraft an, welches von jener her zurückgeblieben ist. Es war eine treffende Wahl Har-der's, ihnen, nach dem Vorbilde der Varioloiden, den Namen der modificirten Erfolge beizulegen. An vorhältigem Werthe stehen sie tief unter einer legitim verlaufenden Revaccination, und leisten nur dem betreffenden Individuum den Dienst, seine gerade vorhandene variolöse Empfänglichkeit zu erschöpfen. Auf wie T.ange oder kurze Zeit es die einzelnen Formen than, wissen wir nicht, und darin liegt das Missliche und Gefahrvolle dieser unlieb­samen Erscheinungen.
Die pathologischen Zufälle nach der Revaccination können die nämlichen sein, wie nach der Vaccination, ereignen sich aber viel seltener. Das gilt von den Impfgeschwüren, wie vom Eothlauf und den übrigen Zufällen. Unaufgeklärt, aber ersichtlich aus lokalen Uebelständen entsprungen, stehen die 18 Fälle von Erysipelas da, welche im Frühjahr 1859 bei der Revaccination bayrischer Soldaten in München vorkamen (wovon 14 auf dasselbe Bataillon trafen und 4 tödtlich endeten), und aus einem ähnlichen östreichischen Kreise stammen die oben mitgetheilten Fälle von Septicämie post revacci-nationem.
Das Rcvaccinationsaltert
Mit der Frage, wann die allgemeine Wiederholung der Impfung stattfinden soll, treten wir auf sehr unsicheren Boden. Dieselbe würde einfach gelöst werden können, wenn wir wtissten, auf wie lange durchschnittlich eine bestimmte Anzahl von Impfpocken, welche im ersten Lebensjahr erworben sind, absolut und relativ schützt. Da dieser gerade Weg vorläufig verschlossen ist, stehen nur zwei Umwege offen: die Blatternstatistik und die Revaccinations-statistik.
Die erstere suchte zu ermitteln, in welchem Lebensjahre oder Lustrum die, aus den Kinderjahren gebannten, Pockenerkrankungen wieder häufiger zu werden beginnen, und in welche Zeit das Maximum der Erkrankungen und Todesfälle trifft. Darnach wurde das Lebens-
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Das Revaccinationsalter.nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp;253
jähr bestimmt, wo die abermalige Vorbeugung der Blatterngefahr an­zuordnen sei. Es wäre sehr nutzlos, die zahlreichen, für diesen Zweck berechneten Zusammenstellungen hier zu mustern. Sie kommen zu verschiedenen Forderungen, und fast jedes Lebensjahr vom 12. bis 20. und etwas darüber, hat eine Tabelle für sich, welche es zum richtigen Eevaccinationsalter stempeln soll. Das stand von vornherein zu erwarten, da unsere Blatternstatistik, höchstens für die allgemeinsten Verhältnisse brauchbar, Zahlenspiel wird, wo sie die Klärung von Detailfragen versucht. Was die vorliegende Bestim­mung angeht, so kann mit der blossen Zählung der Pockenkranken und Todten in gewissen Lebensjahren nichts Sicheres erreicht werden, wenn nicht gleichzeitig alle übrigen Momente, die hier in wesent­lichen Betracht kommen, die Bevölkerungsprocente dieser Lebens­jahre, die Vaccinationsverhältnisse der Erkrankten, die verschiedenen Variolaformen,' welche sie aufweisen, in Rechnung gestellt werden; wie entscheidend wirken ferner auf die Erkrankungszahl die Dauer der Epidemien, und der Turnus ihrer Wiederkehr, und endlich die Vor­sichtsmassregeln, durch welche die Mitglieder gewisser Gesellschafts­kreise der Ansteckung entgehen. Denn nicht alle Erkrankungsfähigen erkranken, und die wohlhabenden Stände ziehen bekanntlich auch bei dieser allgemeinen Noth das bessere Loos.
Der zweite Weg, um die Endschaft des vaccinalen Schutzes, und den Termin seiner Erneuerung zu erfahren, geht durch dieRevac-cinationsstatistik. Die einzelnen Jahre eines gewissen Zeitraums nach der Jugendimpfung werden auf die Revaccinationsprobe ge­stellt, und das erste dieser Jahre, welches sie schlecht besteht, muss dasjenige sein, in welchem die Impfung zu wiederholen ist.
Planmässig durchgeführte Reihen dieser Art gibt es nicht, und nur das Material, was besondere Umstände den einzelnen Beobachtern in die Hand spielten, ist benutzt worden. Dabei wurde allemal die variable Jugendimpfung der Personen, welche zur Berechnung dienten, als constante Grosse angenommen.
Froebelius ') ordnete 3737 Revaccinirte nach dem Lebensalter, legte aber viel zu weite und willkürliche Lebensabschnitte als Ein­heiten zu Grunde (das 7.—12., das 13.—IS., 19.—25. Lebensjahr), so dass es kaum überraschen kann, wenn das 7.—12. Lebensjahr ebenso viele vollkommene Revaccinationserfolge aufweist, wie das
1) St. Petersburger med. Zeitschr. 1871.
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254nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; VIII. Die Eevaccination.
13. —18. Trotzdem meint er, dass die Zeit vom 13.—18. Jahre diejenige sei, wo die Eevaccination unstreitig vorgenommen werden müsse.
Cless (a. a. O.) hat die stattliche Summe von 202,671 Revac-cinationen, aus dem Zeiträume von 1854—68, benutzt. Es kam ihm der glückliche Umstand zu statten, dass in einem grossen Kreise und mehreren Nachbarämtem Würtembergs seit 40 Jahren soge­nannte Schulrevaccinationen bestehen, indem die 14—15jährigen Kinder, bevor sie mit der Confirmation die Schule verlassen, her­kömmlicher Weise revaccinirt werden. Als zweite Kategorie standen ihm die militärischen Revaccinationen, sämmtlich der Altersklasse von 21 Jahren angehörend, zu Gebot, und drittens eine Zahl von Revaccinationen, welche verschiedenen, aber überwiegend den höheren Altersklassen angehörten. Cless fand nun die „Erfolgequot; bei den Schulkindern im 14. Lebensjahr am bedeutendsten (75—82 = 79pCt.), dann folgten die 21jährigen Rekruten (mit 65—85 = 76 pCt.), und dahinter die späteren Altersklassen (mit 52—78 •= 65 pCt.). Dieses Ergebnlss müsste ohne Widerrede für die Schulrevaccinationen sprechen, wenn auf das Wörtchen „Erfolgequot; einiger Verlass wäre. Allein der sonst sehr umsichtige Verfasser unterscheidet nur „Er­folgquot; und „Fehlerfolgquot; und wirft einen Theil der modificirten Revac-cinen, mit den vollkommenen zusammen, in die erste Klasse. Damit wird die wesentliche Schlussfolgerung aus seinen Zahlen in die Luft verlegt. Denn all die Unsicherheit, woran die Revaccinationslehre krankt (und ich werde alsbald eingehender davon sprechen), geht von den zahlreichen, kaum zu classificirenden, und unberechenbaren modificirten Erfolgen aus.
Einseitig, aber von unschätzbarem vergleichendem Werth sind die Revaccinationslisten einiger europäischer Armeen. Sie betreffen allerdings nur junge Männer in den ersten Zwanzigern, umfassen aber einen so bedeutenden Zeitraum, und verfügen über so grosse Zahlen, dass ihre unvermeidlichen Fehler das Schluss­resultat nicht erschüttern können.
Die Summe aller, vom J. 1833—1867 in der preussischen Annee Geimpften beläuft sich auf 1,787,824 Mann l), (bei einem geringen Bruchtheil mag es die erste Impfung gewesen sein). Von diesen wurden mit Erfolg geimpft 1,130,134 = 63,21 pCt, wobei die Pro-
1) Prager, Berl. klin. Wochenschr. 1867. Nr. 49. 1S6S. Nr. 25.
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Das Revaccinationsalter.
255
centzahl der Haftungen vom J. 1833 bis 1867 in einer fast stetigen Progression begriffen erscheint.
Es sind mit Erfolg revaccinirt:
incl. der nach
Im Jahre
bei der ersten
also von 100
erfolgloser Impfung
also von 100
Impfung
Geimpften
wiederholt Revacci-
Geimpften
uirten
1833
15,269
31,5
16,053
33,1
1834
16,679
37,5
17,545
39,5
1835
15,315
39,1
16,780
42,8
1836
18,136
43,1
19,705
46,8
1837
21,308
45,1
23,551
49,9
1838
• 19,117
45,5
21,423
50,9
1839
19,249
46,4
21,354
51,5
1840
20,952
48,1
23,783 -
54,6
1841
23,383
52,03
25,637
57,07
1842
21,865
51,3
24,894
58,5
1843
22,002
51,3
24,501
56,98
1844
21,038
51,7
23,316
57,3
1845
22,214
52,1
24,963
58,5
1846
24,138
54,8
26,672
60,6
1847
25,544
58,6
28,262
64,8
1848
16,882
58,5
18,461
63,97
1849
30,457
58,98
33,319
64,5
1850
25,030
56,2
27,385
61,5
1851
33,444
58,6
36,782
64,5
1852
17,782
64,02
19,248
69,3
1853
28,329
63,4
31,058
69,6
1854
42,137
63,5
46,033
69,4
1855
28,190
63,2
31,080
69,7
1856
28,785
65,1
31,316
70,9
1857
28,937
63,6
32,054
70,4
1858
29,390
63,2
32,479
69,8
1859
41,711
61,7
46,724
69,1
1860
44,193
63,9
49,770
72,03
1861
41,494
63,9
47,152
72,6
1862
12,273
62,8
13,597
69,6
1863
71,602
65,1
79,860
72,6
1864
43,596
62,7
48,493
69,7
1865
41,334
62,8
46,803
71,2
1866
25,263
59,77
28,636
67,75
1867
79,670
62,59
91,445
71,84
1833—67 incl.
1,016,768
56,87
1,130,134
63,21
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256nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; VIII. Die Revaccination.
Die fortschreitende Zunahme der Eevaccinationserfolge kann ver­schiedene Ursachen haben; entweder sind die Jugend-Impfungen im preussischen Staate mit den Jahren immer mangelhafter betrieben, oder die Rekruten sind immer sorgfältiger geimpft worden. Beides wird — das Erstere wol etwas mehr — zusammengewirkt haben. Keinesfalls aber dürfte aus jener Zunahme ohne Weiteres eine Ab­nahme in der Schutzkraft der Jugendimpfung gefolgert werden.
Die glänzenden Resultate bedürfen indess einer Einschränkung. Auch die preussischen Tabellen machen keinen Unterschied zwischen dem vollen und modificirten Erfolge, und vereiteln so den Einblick in die wahre Sachlage: wie häufig nämlich, im Durchschnitte grosser Zahlen, die erste Vaccinewirkung in einem bestimmten Lebensalter völlig erschöpft ist. Immerhin muss ich, nach eigener Anschauung, die mir gestattet war, bekennen, dass die Zahl der vollständig legi­timen Revaccinationen bei den Rekruten eine auffallend grosse ist.
Die Beiträge zur Revaccinations - Statistik, welche W ü r t e m -berg geliefert hat, begreifen, neben dem Militair, auch Theile der Civilbevölkerung, und kommen gleichfalls zu ziemlich constanten Werthen.
In den Jahren 1831—36 (Heim, 1. c. S. 593) wurden etwas mehr als 44,000 Personen revaccinirt, davon fast die Hälfte, 20,000 mit gutem, gegen 9,000 mit modificirtem Erfolge, und der Rest von 15,000 fruchtlos. In den einzelnen Kreisen des Landes schwankten die Erfolge unter der Civilbevölkerung beträchtlich, das Militair aber bot 34 pCt. gute und 20 pCt. modificirte Erfolge, und hatte 41 pCt. Nichthaftungen. — Stellen wir daneben die Berechnungen einer späteren Periode, der fünf Jahre 1861—66, so tritt uns auch hier, wie in Preussen, eine Steigerung der Erfolge deutlich entgegen l). Leider unterscheiden die späteren General-Impfberichte in Würtem-berg nicht mehr zwischen legitimen und modificirten Revaccinen, und kennen nur den Erfolg und Nichterfolg. Der erstere betrug, bei 92,933 Revaccinirten, 75 pCt., in den einzelnen Jahren unerheb­lich zwischen 74 und 77 schwankend. Das Militair hatte in dem bezeichneten Zeitraum von fünf Jahren 80,6 pCt. Erfolge, in zwei auf einander folgenden Jahren sogar 85 pCt.
Im Grossherzogthum Baden2) sind in 29 Jahren, von 1840—1868,
1)nbsp; Correspondenzbl. des Wurtemb. ärztl. Vereins. 1863—67 u. die folgenden Jahrgänge.
2)nbsp; Kussmaul, Zwanzig Briefe über Menschenpocken undKuhpockenimpfung. Freiburg 1870.
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Das Kevaccinationsalter.nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp;257
100,546 Revaccinationen in der Armee ausgeführt. Vollständige Er­folge wurden beim dritten Theile, bei 40,040 erzielt, was 39,8 pCt. macht. — Sehr ähnlich lauten die Resultate aus mehreren anderen Staaten, Bayern, Schweden, Dänemark.
So wenig wissenschaftlich das richtige Lebensjahr für die Er­neuerung der Vaccination bis jetzt hat begründet werden können, so stimmen doch die Meisten für das Ende des schulpflichtigen Alters, für das 12 — 14. Lebensjahr, weil sie um diese Zeit den wirksamen Schutz der Jugendimpfung für erloschen oder bedenklich geschwächt halten. Nach ihrer Meinung lehren die Statistiken, dass die Zahl der tödtlichen Blattemfalle, welche (das erste Lebensjahr abgerechnet) unter dem 15. Jahre verschwindend klein sei, von da ab bis zum 20., und noch mehr vom 20—25. Lebensjahre in rascher Steigerung sich befinde. Daneben betonen die Anhänger der frühen Revacci-nation besonders die hohe Zweckmässigkeit derselben, ihre bequeme und vollständigere Durchführbarkeit zu einer Zeit, wo man die Jugend beisammen, und unter Aufsicht habe. Das Deutsche Reichs-Imptgesetz hat dieser Auffassung die legale Bekräftigung ertheilt, indem es die obligatorische Revaccination in das 12. Lebensjahr verlegte.
Ohne das Princip der Zweckmässigkeit zu unterschätzen, welche über das Schicksal gemeinnütziger Angelegenheiten oft mehr ent­scheidet, als deren innerer Werth, kann ich der so frühen Revacci­nation nimmermehr das Wort reden.
Hält man sich an die einzigen verlässlichen Daten, an die mili-tairischen Listen, so haben diese, in bemerkenswerther Ueberein-stimmung, und mit einer stets wiederkehrenden Constanz klar ge­legt, dass die Revaccination um das 20. Lebensjahr Resultate liefert, welche denen der Jugendimpfung am nächsten kommen, und selbst dann noch 40—50 pCt. betragen, wenn nur die vollkommenen Er­folge berücksichtigt werden. Das heisst nichts Anderes, als dass in diesem Lebensalter die allergrösste Zahl der, in der Jugend ge­impften Individuen auf dem Punkte steht, den vollen Vaccineschutz abermals aufzunehmen, um so von Neuem für lange Jahre der Blattem-gefahr Widerstand leisten zu können.
Wie kommt nun in dieser Beziehung das 12—15. Lebensjahr zu stehen? Revaccinationstabellen aus dieser Periode, von ähn­lichem Umfange, wie die militairisehen, fehlen, und werden in Deutschland erst zu beschaffen sein, nachdem die vorschriftsmässigen Revaccinationen im 12. Lebensjahr überall, mehrere Jahre hindurch,
B o h n , Handbucli der Vaccination.nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp;1 1
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258nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; VIII. Die Revaccination.
zur Ausführung gekommen sind. Allein meine eigene, nicht unbe­deutende Revaccinations-Praxis, und die Beobachtung der Schul-Revaccinationen, welche in den letzten Jahren, zu Folge der Pocken-Epidemie von 1870,71, bei uns stattfanden, haben mich zur Genüge belehrt, dass vollkommene Revaccinen unter dem 15. Lebensjahr zu den vereinzelten Ausnahmen zählen, hingegen die mehr oder weniger stark modificirten das Alter vom 12—15. Jahre ganz be­herrschen, und noch mehrere fernere Jahre das bedeutende Ueber-gewicht über die vollkommenen behaupten. Werden beide freilich zusammengeworfen, dann wird sich Niemand wundem, wenn, wie z. B. bei den Schulrevaccinationen in Würtemberg, das Facit her­auskommt: die Zeit um das 14. Lebensjahr werfe die höchsten Pro-cente für die Revaccination ab.
Was der modificirte Erfolg bedeutet, wissen wir; er zeigt den theilweisen Verlust der vaccinalen Schutzkraft an — wieviel er aber dem revaccinirten Individuum leistet, verstehen wir nur zum kleinsten Theile: er erschöpft den temporären Bruchtheil von Empfänglichkeit, welchen dasselbe für Vaccine und Variola wieder erworben — auf wie lange oder kurze Zeit jedoch, darüber fehlt jegliche Kenntniss und Vorhersage, welche gerade den Kernpunkt der Revaccination bilden. Der Revaccinationsschein über modificirte Schutzpocken kann für den Sachverständigen nur ein werthloses Stück Papier sein, und in den Händen des Laien, welcher auf diesen Schein baut, wird er verhängnissvoll. Revacciniren wir durchgängig die vom Gesetze bezeichnete Altersklasse von 12 Jahren, dann über­schwemmen wir die Revaccinationslisten mit modificirten Erfolgen, und bereiten der Mehrzahl der Geimpften eine ganz Ungewisse Im­munität gegen die Blattern. Die Erkrankungen und Todesfälle an Variola werden dann nur in ein etwas späteres Lustrum hineingedrängt werden, als dasjenige ist, in welches sie jetzt von der Vaccination geschoben sind, und die Revaccination wird nach Jahren, bei dem abermals getäuschten Publikum in denselben Misscredit verfallen, von welchem sich die Jugendimpfung, die ihn im dritten und vierten Deeennium des Jahrhunderts erfuhr, noch heute kaum erholt hat. Es ist eine arge Täuschung, durch die bequeme und vollständige Durchführung der Massregel bei den Schulkindern gewinnen, gar vielfach gewinnen zu wollen, was an Intensität und Vorhältigkeit der Wirkung dabei geopfert wird. Der sect; 2. des Deutschen Imptgesetzes ist ein Experiment, und ein sehr gefährliches. Nur mit legitimen Revaccinations-Erfolgen stellen wir uns auf einen, derzeit erreichbaren, sicheren Grund; auch diese Erfahrung schulden wir den militairischen
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Das Revaccinationsalter.nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp;259
Revaccinationen, deren Nutzen nicht auf die Dienstperiode der Sol­daten beschränkt ist, sondern unverkennbar auch in den späteren Lebensdecennien derselben zu Tage tritt.
Aber der Ausfall der Revaccination hängt sicherlich, und in erster Linie von der Güte der infantilen Impfung ab, und ohne diese Voraussetzung kann über den Termin der zweiten Im­pfung gar nicht discutirt werden. Auf eine durchweg vorzligliche und ausreichende Jugendimpfung stütze ich mich deshalb, wenn ich diesen Termin bis gegen das zwanzigste Lebensjahr hinausgeschoben wissen will. Impfen wir die Kinder im ersten Lebensjabre sorg­fältig, und im Durchschnitt mit 12 Impfstichen, dann wird, so weit die vorhandenen Anhaltspunkte ein Urtheil gestatten, ein ausreichen­der vaccinaler Schutz bei der Mehrzahl der Menschen bis an das zwanzigste Lebensjahr heranreichen. Das Princip schliesst nicht aus, dass bei intercurrenten Blattern - Epidemien, der Vorsicht halber, früher revaccinirt wird.
IT'
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Neunter Abschnitt.
Die Schutzkraft der Yaccine.
In dem leidenschaftlidien Streite über den Nutzen, welchen die Vaccine dem Einzelnen oder der Gesellschaft gewährt, ist häufig die Schutz kraft derselben, wie das Kind mit dem Badewasser, ausgeschüttet worden. Und doch können beide Dinge nicht scharf genug auseinander gehalten werden, lieber die praktische Verwer-thung der Vaccination, und ihre Erhebung zu einer allgemeinen sanitären Massregel mögen immerbin die Ansichten auseinander gehen — dagegen kann die Befähigung des vaccinalen Virus, die Wirkungen der Variola vera aufzuheben, keinen Streitpunkt mehr abgeben. Denn dieses Vermögen ist durch das Experiment gefunden und erhärtet — ein naturwissenschaftlicher Satz.
Edward Jenner und seine ersten Nachfolger, in England wie auswärts, haben denselben im grossartigsten Umfange direct be­wiesen, und zwar sowol für die originäre, als für die humanisirte Lymphe: Jenner variolirte eine namhafte Zahl von Individuen, welche in verschißdenen früheren Zeiten die Kuh- oder Pferdepocken zufällig überstanden hatten, und sah dieselben ungefährdet aus den Inoculationsversuchen hervorgeben. Er übertrug dann auf andere Personen die originäre Kuhlymphe, und nachdem sich legitime Impf­pocken gebildet hatten, fruchtlos die variolöse Materie aus frischen Menschenblattern. Er vaccinirte endlich eine Reihe von Kindern mit humanisirter Lymphe, indem er durch mehrere Generationen den Stoff von Arm zu Arm leitete, und fand die Kinder, als er Probe-Inoculationen mit Variola vera nach mehreren Monaten vornahm, unzugänglich für die letztere. Pearson, welcher innerhalb eines
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Der Beweis der Schutzkraft.nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; 261
Jahres (1800) 19,000 Personen in dem Vaccinationsinstitut zu London geimpft hatte, glaubte mit Eecht, für den Beweis der vaccinalen Schutzkraft genug gethan zu haben, nachdem er später 5000 der Geimpften erfolglos die echten Blattern inserirt hatte. Und auf dem europäischen Continent, wie jenseits des Oceans, wo man die neue Entdeckung freudig ergriff, wurde nicht auf die Worte des Meisters gläubig geschworen, sondern überall wurde dieselbe Prüfung, womit er zur Gewissheit gelangt war, hundertfach wiederholt; überall, nach dem Vorbilde des englischen Experimentators, zuerst der Versuch, und hinterher die umsichtige, ausgiebige Controle desselben.
Die Vaccination ist also kein blosser glücklicher Fund gewesen, wie Viele sich einbilden, den man schleunigst an den Mann ge­bracht habe; und es handelt sich bei ihr um kein Meinen oder Glau­ben, nicht um eine Wahrscheinlichkeit, oder Hypothese, sondern man fühlt den Boden einer echten Thatsache unter sich, um dessen Festigkeit manch' andere medicinische Lehre die Vaccination be­neiden kann. Wir ziehen deshalb unaufhörlich und mit fast untrüg­licher Bestimmtheit die praktischen Consequenzen aus jener That­sache, wenn wir, wo Menschenblattem sich zeigen, die, durch ihre Impfung, gesicherten Personen von denjenigen scheiden, welche bedroht, und der variolösen Ansteckung zu entreissen sind.
Die Vaccine schafft aber auch Immunität gegen die Wirkungen ihres eigenenVirus; das ist der zweite Cardinal­satz, ohne welchen die Stellvertretung der menschlichen Pockenform durch die thierische, wie sie in der Vaccination erstrebt wird, keinen Sinn hätte.
Jeder Impfling kann zum Beweise dieses Satzes dienen; acht bis neun Tage nach erfolgreicher Einimpfung der Vaccine ist es für eine gewisse Zeit (deren Dauer hier nicht in Betracht kommt) gleichgültig, welches Virus von Neuem auf denselben eindringt, ob die echte Variola oder die Kuhpocke, — keines von beiden haftet, weil die Vaccine nach beiden Kichtungen hin die gleiche Wirkung entfaltet hat und unterhält. Und umgekehrt, wenn der Vaccine-schutz, nach kurzen oder langen Jahren, seine Endschaft erreicht hat, dann droht die Gefahr, unter geeigneten Umständen von Men­schenblattern angesteckt zu werden, ebenso sicher, als eine aber­malige Vaccination der Haftung nicht entbehrt. Das heisst vom praktischen Standpunkte aus: die wiedererwachte Empfänglichkeit für das vaccinale Virus deckt die Schutzlosigkeit des Individuums gegen die Variola vera auf. So fiel historisch die befremdende Er-
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262nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp;IX. Die Schutzkraft der Vaccine.
scheinung von „Pocken an Geimpftenquot; mit der überraschenden Er­fahrung zusammen, dass manche, vor längerer Zeit Vaccinirte, welche dem erneuten Versuch einer Impfung unterzogen wurden, ihre ehe­malige Receptivität für die Kuhpocken wieder erlangt hatten.
Jenner war jeuer zweite Fundamentalsatz in der Vaccinelehre nicht klar. Er wusste zwar, dass die Menschen blättern durch ihr eigenes Gift Sicherheit gegen eine künftige variolöse Infection ge­währen, dass auch die Kuhpocken vor den Blattern, und diese wieder vor deu Kuhpocken Schutz verleihen, aber dass der vaccinale Gift­stoff auch gegen sich selbst präservirt, diesen, eigentlich selbstver­ständlichen, Schluss aus den Vordersätzen zu ziehen, hinderte ihn die falsch gedeutete Erfahrung, nach der sich einzelne Personen zwei-, ja dreimal die Kuhpockenkrankheit beim Melken zugezogen hatten. Jenner hielt demnach für eine Eigenthümlichkeit des vac-cinaleu Virus, dass selbiges den menschlichen Körper zwar gegen Blattern schütze, aber nicht vor einer späteren Action seiner selbst sicher zu stellen vermöge. Für uns haben mehrmalige Kuhpocken bei demselben Individuum nichts Auffallendes mehr, da wir, im Gegensatz zu Jenner, die Verjährung der Vaccinewirkung aner­kennen. Die Vaccine bleibt hier hinter der echten Menschenpocke weit zurück, deren öfteres Vorkommen an dem nämlichen Individuum immer nur ausnahmsweise beobachtet wird. In dieser verschiedenen Vorhältigkeit der Einwirkung auf den Organismus offenbart sich der graduelle Unterschied der beiden Pockenformen, welcher neben ihrer
virtuellen Gleichheit besteht.
Nicht minder irrig, als Jenner's eben besprochene Ansicht^ ist die Behauptung neuerer Schriftsteller, dass die schützende Kraft der Vaccine gegen Variola vera länger, als gegen die Vaccine selbst, im Menschen andauert. Es wird dabei übersehen, dass wir der Vaccine gegenüber anders gestellt sind, als den natürlichen Blattern. Die abermalige Empfänglichkeit für die Kuhpocken pflegt allgemein früher sichtbar zu werden, weil sie durch die zeitig angestellte Revacci-nation direct geprüft oder herausgefordert wird; dieselbe künstliche Probe mit der Inoculation der echten Blattern würde das Nämliche darthun. Wo aber die zufällige Probe der Individuen durch die natürlichen Blattern stattfindet, da bringen die vielfachen Abstu­fungen der Variolois, welche den mannichfaltigen modificirten Er­folgen der Revaccination durchaus parallel gehen, die virtuelle Gleichheit der Vaccine und Variola zum deutlichsten Ausdruck.
Die Anzahl der Impfpocken hat für die reine Schutzfrage
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Der Beginn des Schutzes und seine Vollendung.nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; 263
keine Bedeutung, weil eine einzige Pocke ganz dieselbe Leistung, wie mehrere oder viele, vollbringt. Jenner und seine nächsten Nachfolger erreichten deshalb mit 1 oder 2 Schutzblattern temporär das, was wir mit 6 bis 12 vollbringen. —
Wann beginnt der Schutz der Vaccine und wann ist er
vollendetl
Die zweite Frage ist leichter zu beantworten. Der Schutz wird an demjenigen Tage nach der Impfung eingetreten sein, wo weder die Inoculation von echtem Blatternstoffe, noch die Wiederholung der Vaccination eine entsprechende Wirkung hervorzubringen ver­mögen.
Sacco benutzte die Variola vera zur Ermittelung jenes Tages. Variolirte er die Geimpften an einem der ersten 5 Tage post vacci-nationem, so brachen innerhalb des 7—11. Tages natürliche Blattern aus, freilich immer nur wenige, gutartige, selbst wenn der Stoff von confluenten Variolen herstammte. Fand die Inoculation am 6. und 7. Tage statt, so kam niemals mehr eine allgemeine Variola zum Vorschein, sondern es entstanden rasch verlaufende Lokalblättern an der Insertionsstelle. Noch unbedeutender fiel diese örtliche Eruption aus, wenn am 8—11. Tage inoculirt worden war, und die vom 11—13. Tage unternommene Inoculation brachte gewöhnlich gar nichts mehr zu Wege.
Vaccinirte Zöhrer (a. a. 0. S. 121) dasselbe Kind täglich mit einem neuen Einstich, so hafteten die Stiche durchschnittlich bis zum 6. Tage; jedes Weiterimpfen über diesen Zeitpunkt hinaus blieb erfolglos.
Kuhn fand1), dass Nachimpfungen, welche bei den Kindern am 2., 3. und 4. Tage vorgenommen wurden, stets Erfolge aufwiesen. Die vom 5. Tage hafteten nur in der Hälfte der Fälle; wurden sie jedoch am 7., 8., 9. oder 10. Tage versucht, so schlugen sie fehl.
Die Eesultate, von denen Vetter berichtet2), weichen nur scheinbar von den vorstehenden ab. Sonst mit ihnen übereinstim­mend, will er, 13mal unter 20 Fällen, auch bei der am 8. und
1)nbsp; Gaz. med. de Strassbourg. 1S55. — Prag. Vierteljahrschr. Bd. 49. Anal. S. 129.
2)nbsp; Archiv f. Heilkunde. 1860.
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IX. Die Schutzkraft der Vaccine.
9.nbsp; Tage wiederholten Einimpfung der Kuhpocken eine deutliche, und blos in 7 Fällen keine Reaction erhalten haben. Allein was er deutliche Eeaction nennt (Eiterbläschen oder dicke Eiterkrusten, oder ein hyperämischer Hof um die Impfstellen), geht kaum über eine mehr oder weniger lebhafte traumatische Reaction hinaus, und liegt weitab von dem, was als Impferfolg anzusprechen ist, und was er selbst durch Nachimpfungen in den ersten 6 Tagen erzielte. Am
10.nbsp; und 11. Tage sah auch Vetter niemals eine Reaction.
Es ist nun hochinteressant, die Charaktere der nachgeimpften Vaccinen oder Variolen zu betrachten. Was ihren Verlauf betrifft, so wird derselbe um so schneller, je später die Nachimpfung ge­schehen ist, und lassen sie gewissermassen das Bestreben wahr­nehmen, ihre Vorgänger einzuholen, um gleichzeitig am Ziel der Reife oder Abtrocknung mit ihnen anzukommen. Die am 2. und 3. Tage nachgeimpften Kuhpocken binden sich im Ganzen an den bekannten regulären Vaccine verlauf; bei denen vom 4. und 5. Tage aber schrumpft die gesetzliche Latenzperiode von 3 mal 24 Stunden auf ein Minimum ein, und es erheben sich sofort Papeln und Bläschen über den Einstichen. Bei den noch später nachgeimpften wird der Verlauf ein wahrhaft überstürzter, indem die vom 6. Tage bereits Tags darauf als Pockeubläschen dastehen. Die Ausbildung der Efflorescenzen muss natürlich unter dieser Beschleunigung leiden, sie werden mit jedem späteren Tage, an dem sie ausgebrochen sind, immer weniger umfangreich und voll, treffen jedoch in dem Höhen­punkte ihrer Entwickelung mit allen ihren Vorläufern am 8. Tage zusammen, und legen die noch folgenden Stadien der Eiterung und Abtrocknung u. s. w. mit denselben gemeinsam zurück.
Diese nachgeimpften Kubpocken, in der That wirkliche Revac-cinen, sind es auch ihrer pathologischen Bedeutung, und ihrem prak­tischen Werthe nach. Aeusserlich gleichen sie, in der Schnelligkeit des Verlaufs und der geringern Ausbildung der einzelnen Efflores­cenzen, den modificirten Erfolgen, wie solche von den gewöhnlichen Revaccinationen her bekannt sind. Aber, wie hier, spiegelt sich in ihnen auch der Grad der vaccinalen Empfänglichkeit des Individuums wieder. Je mehr Tage seit der ersten Impfung verflossen sind, d. h. ie mehr Zeit die erstgeimpften Vaccinen gewonnen haben, um jene Empfänglichkeit zu absorbiren, desto weniger gelingt es den nach­geimpften, Wurzel zu schlagen, und sich auszubilden; die Empfäng­lichkeit verringert sich mit jedem Tage, um welchen die erstge­impften vorschreiten, weshalb die Nachimpfungen mit jedem Tage
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Die Resultate der Nachimpfungen.nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; 265
abortiver ausfallen; ist jene erschöpft, dann haftet keine Nach­impfung mehr.
Dieselben Erscheinungen traten natürlich bei Saceo's Nach­impfungen mit echtem Variolenstoffe zu Tage.
Es folgt zweierlei aus diesen Nachimpfungen, 1) dass am 8. bis 9. Tage nach der Vaccination die volle Vaccine-wirkung eingetreten ist, und dass 2) der Eintritt des Impf­schutzes kein plötzlicher ist, sondern allmählich, von Tage zu Tage anwächst, so dass der volle Schutz aus den sich häufenden Wirkungen der vorhergehenden Tage resultirt. Es stehen hiermit die klinischen Beobachtungen im Einklänge, wo Vaccine und Variola sich zuiällig complicirten, aus denen gleichfalls hervorgeht, dass sich ein Geimpfter nach dem 8. oder 9. Tage nicht mehr mit Blattern inficiren kann.
Nicht ganz so zuversichtlich kann der Beginn dieser Wirkung bestimmt werden. Fällt er schon in die ersten Tage der Impfung, also noch in die Incubation? oder beginnt die Vaccinewirkung erst mit der Bildung der specifischen Efflorescenz am 4. Tage? Nach dem, was ich früher von der Temperatur und dem Erysipel im Vaccineprocess gesagt habe (S. 153, 154 u. 174), scheint der 4. Tag, an welchem die Temperatur zu steigen beginnt,quot; und der Rothlauf seinen Anfang nimmt, derjenige Zeitpunkt zu sein, mit welchem die allgemeine Vaccinewirkung, d. h. der Schutz anhebt. Seine Vollendung vollzieht sich dann am 8. und 9. Tage, wo das Vaccine-fieber und das Erysipel ihre Höhe erreicht haben, und der eigent­liche Vaccineprocess abgelaufen ist.
Die praktischen Folgerungen fliessen aus dem Vorstehendem von selbst. Der Act der Impfung bedeutet nichts weniger, als Schutz, wie andrerseits die irregulär ablaufende Impfung keine Gewähr für den vollendeten Schutz leistet.
Etwas ganz Anderes, als die Schutzkraft der Kuhpocken, ist die so häufig mit ihr verwecbselte Dauer des Schutzes, und es hat eine grenzenlose Verwirrung in der Lehre und in dem Streit über die Vaccine erzeugt, weil man zu oft vergessen, die beiden, durch­aus verschiedenen Werthe auseinander zu halten.
Was die Vorhältigkeit des Vaccineschutzes anlangt, so hat man schon lange die Verjährung der ersten Impfung, die gewöhn­lich eine Jugendimpfung ist, einräumen müssen. Doch dürfte hierin
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266nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp;IX. Die Schutzkraft der Yaccine.
weniger ein Grund zur Klage, als die Aufforderung liegen, den Be­dingungen und Einschränkungen der Scbutzdauer eifriger nachzu­forschen. Denn dass die letztere von verschiedenen Umständen ab­hängt, lehrt die oberflächliche Beobachtung.
Leider stehen wir auch hier auf den untersten Stufen des Wissens. So allgemein, wie gewöhnlich, hingestellt, muss die Frage: wie lange die erstmalige Impfung schütze, geradezu gedankenlos er­scheinen. Denn vor der Hand sind wir ausser Stande, den Einfluss des Lebensalters, in welchem die erste Impfung an den Men­schen herantritt, auf die Dauer der Vaccinewirkung zu beurtheilen, und zweitens denkt jene Frage nicht an die Zahl der Impf-pocken, welche massgebend für die Vorhältigkeit des Schutzes ist. Es muss demnach heissen: wie lange gewährt eine Impfpocke, wie lange zwei, drei u. s. w. Sicherheit gegen die Variolaansteckung, wenn sie in der frlihesten Jugend, dicht vor oder nach der Pubertät inserirt werden?
Die exacte Antwort wird noch lange auf sich warten lassen. Folgendes enthält das Wenige, was über diesen Punkt ausgesagt werden kann.
Eine nicht ganz unerhebliche Zahl von Menschen verliert durch die Impfling im ersten Lebensjahre und mit den üblichen 6—8 oder 12 Schutzpocken zeitlebens die Empfänglichkeit für das variolöse Gift. Das muss nachdrücklich betont werden, weil heutzutage die Neigung vorherrscht, in das Gegentheil der überschwenglichen Er­wartungen Jenner's umzuschlagen, und der Vaccine eine blos zeitweilige Wirksamkeit einzuräumen. Man stösst durchaus nicht gar zu selten auf geimpfte Personen, bei welchen die, in verschie­denen Lebensaltern wiederholten Kevaccinationen jedesmal fehl­schlagen, und welche von den Pockenepidemien niemals eine An­fechtung erfahren.
In der Eegel aber erlischt die Schutzkraft der Vaccine, indem sie, nach einer mehrjährigen Periode des ungeschmälerten Bestandes, im Laufe der nächstfolgenden Jahre stufenweise bis auf den Null­punkt heruntersinkt. Sicher kennt man die Länge jener ersten Periode nicht, und wenn Bur char dt dieselbe, bei der landläufigen Impf­praxis, auf vier Jahre festsetzt1), so erinnere ich mich nicht, irgendwo die Beweise gefunden zu haben.
In dem Stadium decrementi, welches auf die, jedenfalls nicht sehr lange, erste Periode folgt, verläugnet sich die vaccinale Schutz-
1) Deutsche militairärztl. Zeitschr. 1872. S. 538.
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Die Dauer des Schutzes.nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; 267
kraft an dem Menschen keineswegs, aber die vorher absolute Lei­stungsfähigkeit der Vaccine nimmt nun die Eigenschaft an, auf etwaige Kevaccinen oder Variolen, welche den Körper heimsuchen, modificirend zu wirken, d. h. dieselben abzuschwächen und zu mildern. Und diese Modification steht, weil der Schutz allmählig nachlässt, im umgekehrten Verhältniss zu der Zeit, welche seit der Impfung verstrichen ist. So wird aus der echten Variola die, in den zahlreichsten Formen sich darstellende Variola modificata, und anstatt legitimer Revaccinen (die nichts anderes sind als legitime Vaccinen) bringt eine zweite Impfung die mannichfachen unvollstän­digen Bilder der modificirten Erfolge. Das geht so lange, bis das Individuum bei dem oben bezeichneten Nullpunkte des Schutzes angelangt ist, wo das Virus variolosum und vaccinale wieder die volle Herrschaft über das Individuum ergreifen.
Wenn es auf die Menge der Impfpocken nicht ankommt, wo nur die Schutzfrage erörtert wird, so fällt die Zahl derselben bei der Dauer dieses Schutzes schwer in die Wage. Eine oder zwei Impfpocken sichern ihn nur für sehr wenige Jahre. Ich pflege die Kinder, bei welchen das erste Mal eine Pocke, mit Hinterlassung einer richtigen Narbe geschworen hat, ein Jahr später zu revacci-niren, und habe dann meistens alle Einstiche aufgehen, und legitim verlaufen sehen. Trotzdem mancherlei individuelle Abweichungen hiervon beobachtet worden sind (Heim a. a. 0. S. 503), darf die Praxis den hinreichenden Schutz Einer Impfpocke nicht viel weiter, als auf ein Jahr bemessen. Nach dem alten bayrischen Impfgesetz musste ein Kind nach fünf Jahren wieder geimpft werden, wenn beim ersten Male nur eine Kuhpocke aufgegangen war. Blattern-kranke Kinder sind in unsern Epidemien zur Seltenheit geworden; regelmässig aber hatten die wenigen, welche mir, mit einer massigen Variolois, zu Gesichte kamen, 1 oder 2 Narben auf dem Arme, und ebenso viele Schutzpocken im Impfscheine beglaubigt.
In den ersten Decennien des Jahrhunderts pflanzte man zu wenig Schutzpocken ein, theils aus Furcht vor einer zu heftigen Erkrankung, theils weil Jenner eine Pocke für genügend erklärt hatte. Die Pandemic von Menschenblattem unter Geimpften im zweiten und dritten Jahrzehnte lieferte sofort den unerfreulichsten Commentar zu dieser Praxis. Später wurden dann 6 Impfpocken als Maass beliebt, und zuletzt ist man ziemlich allgemein auf 8 und mehr gestiegen, ohne jeden rationellen Anhaltspunkt, mau glaubt eben, mit dieser Anzahl bis zum 10. oder 15. Lebensjahre auszukommen. Es wird
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26Snbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp;IX. Die Schutzkraft der Vaccine.
die Aufgabe zweckmüssig eingerichteter Impfinstitute sein, die durchschnittliche Proportion zwischen der Zahl der Impfpocken und der Dauer des Schutzes, des vollen uud des relativen, festzustelleu. Solche Institute allein können uns ferner belehren, wie hoch wir in der Zahl steigen dürfen. Denn die Frage steht noch ganz offen, ob es ein Maximum gibt, das nicht zu überschreiten ist, weil es ent­weder den Impfling gefährdet, oder weil es nutzlos ist, da es nichts mehr leistet, als eine viel geringere Zahl'). Sie sollen uns endlich aufklären, ob es eine Zahl von Implpocken gibt, welche den jetzt vorübergehenden Schutz in voller Lebendigkeit zeitlebens zu er­halten vermag.2)
Die Lymphsorte, welche zur Anwendung kommt, berührt die Dauer der vaccinalen Schutzkraft in keiner Weise. Weder wirkt, so viel wir wissen, die originäre und die regenerirte vorhältiger, als die humanisirte, noch hat die letztere am Anfange des Jahrhunderts mehr als jetzt geleistet. — Dass endlich die geringere oder grössere
1)nbsp; Mehrmonatliche Kälber vertragen 120 Impfpocken ohne jeden Nachtheil.
2)nbsp; Die wichtige Frage nach der Anzahl der zu inserirenden Schutzpocken ist von zwei Seiten her methodisch in Angrifl'genommen. Oppert (Pockenbericht für 1871 aus dem Hilfskrankenhause zu Hamburg. Deutsche Klinik. 1872. 8) zählte bei 2231 Blatternkranken die alten Impfnarben, gruppirte die Kranken in drei Klassen nach leichten, mittleren und schweren Fällen, und bestimmte für jede Klasse die Durchschnittszahl der Narben. Aus dem Vergleiche zwischen dem Grade der Erkrankung und der Narbenzahl folgerte er, dass der Impfschutz vor lethalem Ausgange mit der Zahl und der Deutlichkeit der vorhandenen Impfnarben im geraden Verhältniss stehe. Leider beeinträchtigt das ungleiche Material, das Oppert zu Grunde legte, seinen Schluss, da er auf das Lebensalter der Er­krankten keine Rücksicht genommen und die Ungeimpften nicht ausgesondert hat.
Burchardt, einen andern Weg einschlagend, zählte bei einer namhaften Anzahl von Rekruten die Impfnarben, welche sie von der Jugendimpfung her trugen, und stellte dieselben in Parallele mit dem Ausfalle der Revaccination, wobei die dem Oppert'schen Schlüsse entgegengesetzte Folgerung unabwendbar schien. Denn die Immunität der Rekruten gegen das ihnen von Neuem beige­brachte Vaccinecontagium war durchaus unabhängig von der Menge ihrer alten Impfnarben, indem das positive Resultat der Revaccination einen fast gleichen Procentsatz bei den verschiedenen Kategorien der 1, 2, ... bis laquo;-Narbigen er­gab. Burchardt glaubt sich darnach berechtigt, die Anzahl der Impfpocken, welche man in der Jugend einpfropft, für gleichgültig zu erklären; ..die Zahl der Impfstiche müsse eingeschränkt werden, ein oder zwei Stiche dürften vollkommen ausreichend seinquot;.
Dieses Resultat, auf welches Burchardt hinauskommt, muss ein irriges sein, weil jeder Detailschluss aus den Narben allein trügt, und weil der Verf., in nicht statthafter Weise, alte Impfnarben und Impfpocken identificirt, welche nimmermehr einander decken, und als gleichwerthig in Rechnung gestellt werden können.
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Die Kriterien des Schutzes.nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp;269
Menge von Lymphe, welche beigebracht wird, die Stärke der Vaccinewirkung bestimme, ist eben so irrthümlich, wie jene verbrei­tete Meinung, nach welcher das Oeffnen der Implpocken und die Lymphabnahme die Kraft der Vaccination schädigen soll. Die nach dem 8. Tage in den Impfpusteln zurückbleibende Lymphe kommt ihrem Erzeuger nicht mehr zu Gute, sondern verdunstet und verkrustet.
Die Kriterien des Schutzes.
Bryce in Edinburg war der erste, welcher die Nachimpfung als Probe auf die vorangegangene Vaccination empfahl (Edinb. med. and surgic. journ. 1805 übers, von Friese, Breslau 1808). Mit der Lymphe aus den bereits entwickelten Bläschen soll, gegen das Ende des 5., oder am Anfange des 6. Tages, eine zweite Impfung des Individuums unternommen werden; holen dann die Pusteln der zweiten Impfung die der ersten ein, und treffen Vor- und Nach­impfung gleichzeitig am Ende zusammen, so ist die Vaccination als
Wenn man ferner bedenkt, dass der erste Vaccineschutz bei den meisten Menschen mit 21 Jahren (dem Rekrutenalter) bereits erloschen ist, gleichviel wie stark derselbe einstmals gewesen und wieviel Schutzpocken bei ihrer Jugendimpfung aufgegangen sind, so erscheint dat Material des Verfassers,' für unsere Frage, un­brauchbar, wo nur Personen mit noch vorhandenem Impfschutze, also unter 15 Jahren, mitsprechen können.
Während diejenigen Rekruten, welche eine bis viele Narben trugen, 70,5 pCt. positive Resultate bei der Revaccination lieferten, weisen die narbenlosen 76,7 pCt. auf. Im Sinne des Verfassers müsste diese geringfügige Differenz von 6 pCt. zwischen Narbenträgern und Narbenlosen eigentlich zu keinem Impfstiche, d. h. zu keiner Jugendimpfung bestimmen.
Burchardt hat endlich seine Revaccinirten nur nach dem positiven und dem negativen Resultate, das sie zeigten, beurtheilt, und da er unter positivem Erfolg schon den blossen Entzündungsherd um den Einstich versteht, so sieht man den weiten Spielraum dieser Bezeichnung, welche alles und sehr wenig umfasst. So ist sein „positiver Erfolgquot; ein ganz ungenauer Ausdruck für den Grad der Im­munität, welchen die Rekruten von der Kinderimpfung her noch besassen. Und doch kommt es, wenn man Aufschluss über die Tragweite der Impfpocken zu gewinnen sucht, nur auf den Grad der Immunität an, weil sich darnach der Grad des positiven Erfolges richtet. Es dürfen daher nur mit den einzelnen Gra­den der Revaccinationserfolge die Narben verglichen werden, und es ist, ohne eine bestimmte Gliederung der ,.positivenquot; Resultate, nichts mit dem allgemeinen Ausspruche gesagt, dass die 1, 2 bis M-Narbigen einen fast gleichen Procentsatz derselben ergeben. Beiläufig bemerkt, machten die Zehn-Narbigen eine den Verf. selbst überraschende Ausnahme, iudem sie alle anderen Kate­gorien, selbst die Mehr-Narbigen, durch einen verhältnissmässig hohen Grad von Immunität überragten.
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270nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp;IX. Die Schutzkraft der Vaccine.
gelungen zu betrachten. Machen dagegen die Efflorescenzen der Nachimpfung den normalen Verlauf durch, so sei das ein Zeichen vom Gegentheil.
Die Praxis kann diese rationell gedachte Probe nicht verwer-then, und bedarf ihrer auch nicht, weil sie verlässliche klinische Kriterien in Händen hat, um ihr Urtheil über den Werth einer Im­pfung zu begründen. Entscheidend ist der gesetzmässige Ver­lauf des vaccinalen Processes, welcher schon frühzeitig be-urtheilt werden kann; er darf kein, vom ersten Tage ab, continuir-licher sein, sondern die Impfstellen müssen eine deutliche Trennung der traumatischen Reaction, welche der Einstich gesetzt hat, von der späteren specifischen Entzündung, welche die Lymphe erregt, aufweisen, und die Entwickelung dieser Efflorescenzen muss, vom 3. oder 4. Tage ab, dem bekannten, fast stereotypen Bilde entspre­chen. Man hat immer Grund zum Misstrauen gegen eine Impfung, welche in der zeitlichen Aufeinanderfolge der lokalen Vorgänge, oder in der Entwickelung des Exanthems beträchtlich aus dem engen Rahmen heraustritt.
In dieser Beziehung unterscheidet sich die Vaccine von den acuten typischen Exanthemen. Während eine flüchtige Scarlatina oder sehr leichte Masern denselben pathologischen Werth für das betroffene Individuum einschliessen, wie die voll entwickelten Krank­heiten, kommt es bei der Vaccine durchaus auf die legitime Strenge an, welche der Process einhält.
Unter den einzelnen Symptomen steht als werthvollstes, mit wirklich pathognostischer Bedeutung, die Areola des 8. und 9. Tages obenan. Auf sie haben deshalb von jeher die erfahrensten Vaccinatoren einen cardinalen Werth in dem Processe gelegt. Eine Impfefflorescenz, welche sich zu keiner Zeit ihres Bestehens mit einem breiten erysipelatösen Hofe umgibt, darf nimmermehr als rich­tige Schutzpocke anerkannt werden. Wo der gesetzmässige Roth-lanf zögernd, sehr spät und matt sich entwickelt, hat man, selbst bei einer hinreichenden Anzahl von Impfpocken, Ursache, die durch­greifende constitutionelle Wirkung zu beargwöhnen. Die Gründe sind früher, bei Gelegenheit des Impferysipels, angegeben, und wer­den in der Theorie der Vaccination ihre Ergänzung finden.
Dagegen darf auf die Stärke der fieberhaften Reaction des 7. bis 9. Tages kein zu grosser Nachdruck gelegt werden; ein deutlich ausgeprägtes, lebhaftes Fieber ist weder das nothwendige Erfordemiss des vollkommenen Kuhpockenprocesses, noch die Bürg­schaft für eine nachhaltige Wirkung. Denn das Vaccinefieber hängt.
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Die Kriterien des Schutzes.nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp;271
wie jede febrile Reaction, zu sehr von dem Individuum ab, um einen allgemeinen Massstab zu vertragen; und selbst zwischen der Anzahl der Impfpocken und seiner Intensität besteht keine regelmässige Parallele. Viele floride Impfpocken geben nicht selten, bei wenig reizbaren Naturen, einen massigen Fieberausschlag, und eine be­schränkte Zahl kann, im umgekehrten Falle, recht unliebsame allge­meine Zufälle erwecken. Jenner hebt ausdrücklich den nur uner­heblichen Grad der allgemeinen Zufälle hervor, die er bei seinen Impfungen erlebte; nach Ceely schwankt die constitutionelle Reac­tion, selbst bei Anwendung von originärer Lymphe, sehr: das Thermo­meter gibt hier unanfechtbare sichere Stützpunkte, und lässt den Grad des Fiebers und seine Aeusserung als unmassgebend erscheinen für die Stärke, mit welcher sich die Vaccine des Organismus be­mächtigt hat.
Die Grosse und der Umfang der Impfbläschen sind in Hinsicht ihrer Bedeutungslosigkeit für den ganzen Process schon früher ge­würdigt worden.
Es war bisher von den Kriterien die Rede, welche der Arzt aus der, unter seinen Augen verlaufenden Impfung schöpfen kann. Mitunter aber soll nachträglich eine Vaccination beurtheilt werden, und dann ist man auf die Narben, als das einzige körperliche Zeugniss derselben, angewiesen.
Für pathognostisch können die Impfnarben nicht erklärt wer­den, weil ihnen, namentlich in der Erbleichungsperiode, die Narben von manchen Syphiliden (z. B. ulcerirten Psoriasisflecken) täuschend gleichen. Man darf daher nur sagen, dass, wenn Narben an der üblichen Impfstelle, und in gewisser absichtlicher An­ordnung vorgefunden werden, dieselben auf eine stattgehabte Vacci­nation zurückweisen, und dass der letzteren Vertrauen zu schenken ist, sobald ihre Spuren die deutlich ausgesprochenen Pockencharak­tere tragen.
Anders, wenn erst nach vielen Jahren aus der Anwesenheit, Zahl und Beschaffenheit der Narben der etwaige Schutz beurtheilt werden soll, welchen sie noch repräsentiren. Die Aufstellung Gregory's, nach der eine gute Irapfnarbe allezeit als sicheres Kennzeichen des bestehenden Schutzes gelten sollte, und umgekehrt, hat in dieser apodictischen Form längst die Giltigkeit verloren.
Es kommt bei der Abschätzung der Narben zunächst das Lebens­alter in Betracht. In den bisherigen Untersuchungen hat ein sehr begrenztes, das Rekrutenalter, zur Grundlage gedient, und für dieses.
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272nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp;IX. Die Schutzkraft der Vaccine.
für die Zeit des zwanzigsten Lebensjahres, muss die Werthlosig-keit der Jugendnarben, als Beweis des floriden Schutzes, unbedingt anerkannt werden.1) Das Vorhandensein von alten Impfnarben lässt einen gewissen Schutz zwar vermuthen, aber weder ihre Zahl noch Beschaffenheit vermag den Grad desselben zu specificiren. Es wurde sogar öfter die Beobachtung gemacht, dass Personen mit vielen und tiefgehenden Narben die schönsten Revaccinationserfolge ergaben.
Gegentheils darf, laut der Erfahrung, den geimpften, aber narben losen Individuen dieser Altersperiode keineswegs jeder Schütz von vornherein abgesprochen werden, weil viele Impfnarben mit der Zeit spurlos verblassen, ohne die präservative Kraft hinwegzunehmen.
Unsere nächste Aufgabe besteht nun darin, die Erhebungen, welche für das Rekrutenalter stattgefunden haben, auf bestimmte vor­hergehende Lebensjahre oder Abschnitte auszudehnen. Das Deutsche Impfgesetz, mit der Re vaccination der 12 jährigen Schulkinder, wird in den nächsten Jahren hinreichende Gelegenheit bieten, den Werth der Narben dieses Termins zu prüfen.
Eine erneute legitime Impfung vermag die untergegangene Schutzkraft der ersten vollständig wieder aufzurichten. Ihre Vor-hältigkeit aber lässt sich noch schwieriger, als bei der Vaccination, berechnen, weil die variolöse resp. vaccinale Anlage des Menschen mit zunehmendem Alter eine (unbekannte) Veränderung zu erfahren scheint. Es werden Fälle berichtet, wo 15 Jahre nach einer wir­kungsvollen Eevaccination eine dritte Impfung wieder reguläre Schutz­pocken hervorrief.
Aber die zweite Impfung ist auch im Stande, den fragmentären Schutz, welcher von der ersten übriggeblieben war, vorüber­gehend in den vollen umzuwandeln. Leider sind diese Revacci­nationserfolge, hinsichtlich ihrer Bedeutung, noch ein sehr dunkles Kapitel.
1) Vergl. besonders Burchardt a. a. 0. 1S73. Heft 7,
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Zehnter Abschnitt.
Die Theorie der Yaccination.
Die Blattern sind eine Krankheit, welche dem Menschenge-schlechte nicht ausscbliesslich augehört, sondern bei sehr verschie­denen Thiergattungen angetroffen wird. Nach der Weise zu urtheilen, wie die Krankheit sich entwickelt, darstellt und fortpflanzt, macht sie einen Giftstoff in der Natur nothwendig, das Virus variolosum, welches, ins Blut aufgenommen, die eigenartige Ausschlagskrankheit hervorruft. Die Infectionskraft des frischen Blutes ist für die mensch­liche Variola (Zülz er), für die Vaccine (Reiter) und für die Schaf­blattern (Fürstenber g) durch Inoculation bewiesen. In der Pustel­lymphe des Ausschlags erscheint das Virus reproducirt, um, unter theils bekannten, theils verborgenen Bedingungen, innerhalb der Art, weiter verbreitet zu werden. Ob der ursprüngliche Giftstoff nur so fortlebt, oder auch sich erzeugen kann, muss unentschieden bleiben.
Obgleich wir über die Häufigkeit der einzelnen Thierpocken mangelhaft unterrichtet sind, lässt sich doch erkennen, dass den verschiedeneu Organismen eine sehr ungleiche Empfänglich­keit für das variolöse Gift zukommt. Die lebhafteste und allge­meinste bekunden der Mensch und das Schaf. Ueberall aber sind es die jugendlichen Körper, in welchen das Virus der ausgespro­chensten Geneigtheit zu seiner Aufnahme und Wiedererzeugung be­gegnet.
Einige sehr bemerkenswerthe Eigenschaften charakterisiren das Virus variolosum. Im Allgemeinen zeigt sich der menschliche und thierische Körper nur einmal befähigt, dasselbe aufzunehmen und zu reproduciren, und durch die überstandene Erkrankung wird die
Bohn, Handbuch der Vaccination.nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp;18
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274nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp;X. Die Theorie der Vaccination.
Anlage zu deii Blattern gewöhnlicli ertödtet. Es müssen demnach bei den meisten Individuen bleibende stoffliebe Veränderungen durch das variolöse Gift geschaffen werden, welche dessen späteren er­neuten Angriffen Widerstand leisten.nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; ,
Das Virus variolosum ist ferner ein einheitliches, kein mehr­faches für die verschiedenen, menschlichen und thierischeu, Empfänger. Allein dieselben reagiren dagegen nicht auf die nämliche Weise. Während seiner Einverleibung beim Menschen, beim Schaf und Schwein eine allgemeine Pusteleruption nachfolgt, setzt es beim Rinde, beim Pferde u. s. w. örtlich beschränkte Krankheiten. Diese ungleiche, nach der Beschaffenheit des Organismus wechselnde, Ein­wirkung zeigt selbst das zweifellos identische Contagium der Meu-sehenblattern, welches hier die volle und schwere Variola, dort die unscheinbarste zerstreute Variolois, und an den Thieren nur Lokal­blättern erzeugt.
An diese äusserlich ahweichenden Bilder der Krankheit sind zugleich veränderte infectiöse Eigenschaften geknüpft. Die Variola humana und ovina entwickeln ein, auf die Entfernung wirkendes, flüchtiges Contagium, während die Vaccine und die Pferdemauke nur direct verimpfbar sind. Dementsprechend erscheint die Gift­stärke abgestuft. Das milde Gift haftet an der Kuh- und Pferde-pocke, das vorherrschend bösartige an den Menschen- und Schaf­blattern.
Die Identität des Virus in allen uns bekannten Pockenarten ist durch die Möglichkeit ihrer wechselseitigen Uebertragung erwiesen (S. 114). Dieselbe Lymphe, welche dem Menschen die echte Variola bringt, erzeugt am Rinde die Vaccine; die Vaeeine kann dem Menschen, dem Pferde und dem Schafe über­mittelt werden. Stoff aus Menscheublattern ruft beim Schaf zwar keine wirkliche Ovine, aber einen vaccineartigen Ausschlag, mit ent­sprechenden Wirkungen, hervor, und ein gleicher Ausschlag wird umgekehrt aus der Ovine erzielt, wenn sie dem Menschen inoculirt ist. Es ist endlich gelungen, Schafblattern auf Kühe zu übertragen (Reiter), und aus den so gewonnenen Pusteln echte Kuhpocken beim Kinde herzustellen.
Vollendet wird der Beweis der inneren Gleichwerthigkeit von Menschen- und Thierpocken durch das Gesetz, nach welchem jede Pocke das Individuum, welches mit ihr inficirt ist, gleichviel welcher Gattung es angehört, in die Lage versetzt, für die eigene Pocke und für alle übrigen fernerhin unzugänglich zu sein (S. 115).
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Die Einheit des Vir. variol. in allen Blatternformen.nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; 275
So tritt uns liier, auf pathologischem Gebiete, eine Zusammen­gehörigkeit entgegen, wie solche zwischen dem Menschen und dem Thiere bisher nur noch im Parasitismus sich offenbart hat, wo der menschliche Körper, von manchen thierischcn Schmarotzern zur Er­reichung einer bestimmten Entwickelungsstufe gesetzlich beansprucht, in einem Zirkel von Thieren, welche demselben Zwecke dienen, fest eingefugt ist.
Und auf dieser Solidarität aller Pockenformen beruht eben das anscheinend wunderbare Phänomen des Schutzes, welcher dem Menschen gegen seine eigenen Blattern aus der künstlichen Einimpfung der fremden Kuhpocken erwächst. Der Schutz wird nicht erworben durch die freiwillige Uebernahme einer, den natür­lichen Blattern identischen Krankheit, sondern das Virus, aus wel­chem beide entspringen, ist das gleiche, und indem wir die eine Abstammung desselben, den vaccinalen Stoff, dem Körper einver­leiben, kommen wir einer späteren Einwirkung des andern Derivats, des variolösen, zuvor.
Die Art, wie die verschiedenen Gifte auf den thierischen Orga­nismus einwirken, ist eine zwiefache. Die mineralischen und die vegetabilischen greifen gerades Weges an, indem sie sofort oder binnen kurzer Zeit ihre verderbliche Thätigkcit äussern. Auch be­stimmt die Menge des einverleibten Giftes den Grad seiner Wirkung. Dagegen gelangt der grösste Theil der vom thierischen Körper erzeugten Gifte (die Syphilis, die acuten Exantlieme u. s. w.) auf eigenthümlichen Umwegen zu seinem Endziel. Die verschieden lange Zeit, welche bis zu den ersten Anzeichen ihrer Thätigkeit ver­streicht, wird als Incubationsstadium bezeichnet, was die Vorstellung treffend versinnlicht, dass sie nicht so einfach und nackt, wie sie anlangen, zur allgemeinen Einwirkung übergehen, sondern dass sie eine Art von Entwickelung auf dem neuen Hoden durchmachen müssen, wozu das vergiftete Individuum selbst die Mittel darzureichen hat. Fehlen die letzteren, dann ist dem Gifte vorweg die Lebens­bedingung abgeschnitten, das Individuum erscheint immun und bleibt unangetastet. Die mineralischen und pflanzlichen Gifte wissen nichts von dieser individuellen Empfänglichkeit.
Die eingeimpften Kuhpocken (gleichwie die inoculirten Menschen­blattern) veranschaulichen diese verwickeiteren Vorgänge in beson­ders klarer Weise. Die Lymphe wird auf oder in dem Corium ab­gesetzt, und ihr, wol indifferentes, Serum aufgesogen und entfernt; was mit den übrigen festen Bestandtheilen an Ort und Stelle vor-
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276nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp;X. Die Theorie der quot;Vaccination.
gellt, kann ungefragt bleiben. Jedenfalls ruht naeli aussen hin die Thätigkeit derselben für die ersten zwei- bis dreimal 24 Stunden, während die Hautverwundung, welche die Operation erheischte, abläuft. Mit dem Ende des 3. Tages wird die Arbeit der speci-fiscbeu Lymphelemente offenkundig, und es bildet sich von da ab bis zum 8. Tage eine charakteristische Efflorescenz über ihrer Ab­lagerungsstätte aus, welche kein blosses Symptom oder ein Aus­druck der bereits erfolgten Allgemein - Infection, im Gegentheil die nothwendige Bedingung zum Zustandekommen der letzteren ent­hält. Denn nur aus dem Vaccinebläschen des Impflings selbst geht die vaccinale Vergiftung seines Organismus vor sich.
Es gibt mehrere Momente, welche diese Autfassung erzwingen:
Ohne die Entwickelung von Jeuner'schen Bläschen au dem Impf­linge kein Impferfolg.
Die Infection des Organismus steigt, wie früher dargethan, all­mählich und parallel der Entwickelung der Impfbläsehen au, und ihre Vollendung fällt mit der Reife der letzteren zusammen.
Auf der andern Seite lehrt die Möglichkeit der Nachimpfungen, dass mit der blossen Einbringung der Vaccine die specifische Ver­giftung des Körpers nicht bewirkt ist. Denn der sichere Anzeiger der allgemeinen Intection ist die absolute Weigerung des Körpers, von Neuem das vaccinale Gift anzunehmen.
Aber auch das Experiment unterstützt die Behauptung, dass der Körper zu einer directen Infection mit Vaccinelymphe von aussei! her unfähig ist. Zwar will Chauveau in Lyon, nach Einspritzung derselben in das Lymphgefässsystem von Pferden jedesmal einen gauz charakteristischen Pockenausschlag an den Fesselgelenken und an der Mund- und Nasenschleimhaut erhalten haben, doch steht diese vereinzelte Angabe in unlösbarem Widerspruch zu den Ver­suchen von Frölich und Senf ft, welche die subcutane Injection von Vaccinelymphe, sowie die Infusion einer grössern Menge der­selben in die Venen von Kühen ganz erfolglos vornahmen. Senf ft spritzte sechs Kälbern ins Unterhautzcllgewebe des Bauches reine, oder höchstens mit destillirtem Wasser zur Hälfte verdünnte, frische Kuhlymphe, deren Güte erprobt war, ein. Kein Piesultat: die Thiere behielten ihre Fresslust, man nahm weder eine örtliche, noch allgemeiue Reaction wahr, und die injicirte Lymphe wurde ein­fach aufgesogen. (Nur bei zwei Thieren entwickelte sich an der Einstichsstelle, in Folge der Berührung der Lymphe mit der Hautwunde, eine schöne Vacciuepustel.) Eine spätere gewöhnliche
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Der Modus der- vaccinalen Infection.nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp;277
Vaccination zeigte jene Thiere durchaus ansteckungsfähig. — Gleich­falls ohne Resultat verlief die Injection von Kuhlymphe und Wasser ana, welche in die Bauchvene, und in das am Oberschenkel eines Kalbes blossgelegte Lymphgefass von demselben Forscher gemacht wurde 1),
Es erhellt aus diesen Versuchen die Gleichgültigkeit des Organis­mus gegen die directe Vermischung des Blutes und der Lymphe mit dem vaccinalen Virus. Dasselbe geht daher bei der gewöhn­lichen Art der Schutzpocken - Impfung nicht sofort in die Blutbahn über, um die Säfte zu inficiren, sondern die Lymphe hat zunächst eine örtliche Wirkung, deren Ziel die eigene Eeproduction ist, und erst wenn diese aus den Säften des Impflings vor sich gegangen, beginnt, etwa vom 4. Tage ab, der allmählige Uebergang der spe-cifischen Lymphelemente aus den Impf bläschen in das Blut, welcher mit der schliesslichen Totalinfection endet.
Die Anwesenheit von vaccinalem Virus im Blute der Geimpften ist durch Reiter — wenigstens für den 8. Tag post vaccinationem — sicher gestellt.
Aeusserlich spiegelt sich die Infection des Organismus, den früheren Erörterungen zufolge, in der Körpertemperatur und dem gesetzmässigen Eiysipel ab, welche beide gleichfalls vom 4. Tage beginnend und anwachsend, am 8.-9. ihren Höhepunkt erreicht haben. Die Reife der Impfbläschen fällt also zusammen mit der höchsten Temperatur des Vaccineprocesses, mit der stärksten Ent-wickelung der Areola, und mit der vollendeten Infection. Es kann nicht zweifelhaft sein, dass der Ausgangspunkt und die Quelle der drei letzten Vorgänge in den Jenner'schen Bläschen enthalten ist, und stehen jene Vorgänge, nach allen Richtungen hin, in steter Abhängigkeit von der Entwickelung der Impf bläschen; es muss demnach aus diesen die constitution eile Infection des Geimpften her­vorgehen und von ihrem Inhalte bedingt sein.
Bei solcher Sachlage ist es erklärlich, warum das Quantum der, in den Impfling eingeführten Lymphe gleichgültig erscheint für den Endzweck der Vaccination, da von ihrer Menge der letztere nicht abhängt. Und ebenso lehrt die Beobachtung, dass die Anzahl der aufgegangenen Impfpocken bedeutungslos ist für die Erwerbung
1) Mit den obigen Versuchen steht jener Versuch in voller Uebereinstimmung, wo Senff t eine ganze Pravaz'sche Spritze voll menschlichen Pockeneiters in das Unterhautzellgewebe des Bauches einspritzte und nichts damit erzielte, während dasselbe Thier, acht Tage darauf, auf eine Vaccination entsprechend reagirte.
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278nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; X. Die Theorie der Vaccination.
des vaccinalen Schutzes, indem aus einem ImpfblUschen eine ge­nügende Resorption, wie aus mehreren oder vielen, stattfindet. Nur für die entfernte Wirkung, die Vorliältigkeit des Schutzes ist die Anzahl der Impfpocken massgebend. Es folgt endlich aus dem eben erörterten Modus der Infection, dass die Lymphabnahme am 8. Tage das Eesultat der Vaccination bei dem Lymphträger nicht schwächen kann.
Die Vaccination muss nach alledem in ihrem erstenAbschnitte als ein örtlicher, auf die Impfstelle begrenzter Process, und erst in der zweiten grössern Hälfte, als der constitutionelle aufgefasst werden. Als solcher scbliesst er mit dem S. oder 9. Tage ab, wo die beabsichtigte Immunität zur Thatsache geworden. Was fernerhin auf der Haut vorgeht, sind die Schlacken des Processes, lokale Metamorphosen der gesetzten Producte.
Von der Inoculation der echten Menschenblattern, mit welcher die Vaccination in allem Uebrigen gleich verläuft, unterscheidet sie sich durch das Ausbleiben der Generaleruption. Wir erkennen darin die mildere Abart der Krankheitsform, den abgeschwächten Gift­stoff der Kuhpocken, welcher, temporär dein menschlichen Pocken­eiter an Kraft nicht nachstehend, im Allgemeinen weniger vor­hältig wirkt.
Das Wiederaufleben der vaccinalen Empfänglichkeit erfolgt, wie ihre Vernichtung, allmählig, wenn auch in einem viel längeren Zeit­räume. Die zunehmende Verminderung des Vaccineschutzes muss demnach im Laufe der Jahre iu den mannichfachsten Abstufungen vorhanden sein, was die Fülle der revaccinatoriscben Erfolge an­zeigt. Jeder dieser Erfolge, er mag bedeutend oder gering sein, steht im umgekehrten Verhältnisse zu der augenblicklichen Schutz­kraft, und im geraden Verhältnisse zu der wiedererwachten vacci­nalen Empfänglichkeit des Individuums. Aber er erschöpft dieselbe auch, und frischt den Schutz vorübergehend wieder auf. So kann es geschehen, dass ein vielfach revaccinirtes Individuum immer nur geringe modificirte Erfolge, und niemals den vollen legitimen erringt, weil jede neue Impfung auf die noch nicht vollständig aus­gelöschte Wirkung der vorhergehenden stösst.
Was von der Revacciuation, gilt selbstverständlich von den natürlichen Blattern. Denn was sind diese, wenn ein, in der Jugend geimpftes Individuum von ihnen befallen wird, anders, als die zu­fällige, und mitunter sehr harte Probe auf dieselbe Empfänglichkeit, welche von der milden Revaceine künstlich geprüft wird.
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Die Vaccin. als örtlicher u. constit. Process.nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp;279
Es kann heutzutage nicht die Rede davon sein, wie man sich die Infection des Organismus vorzustellen habe. Man wird froh sein müssen, wenn es gelingt, in dem vaccinirten Körper, früher oder später, thatsächlicbe, auf die vorgängige Infection beziehbare Ver­änderungen festzustellen, denn bisher kennen wir nur die virtuelle Veränderung der Immunität gegen die Blattern, welche die Vacci­nation hervorbringt.
G. Wertheim hat, schon vor vielen Jahren1), die Aufmerk­samkeit auf eine länger anhaltende Veränderung im Pulse Vaccinirter gelenkt. Es wurde an einem erwachsenen Individuum, vom Impfungs­tage ab, 40 Tage hindurch allstündlich, auch bei Nacht, die Puls­frequenz bestimmt, und Folgendes ermittelt: Am 1. Tage nahm die Pulsgeschwindigkeit um 3 Schläge im Mittel zu, sank am 2. etwas unter die Norm, und am 3. noch tiefer. Von da ab bis zum 6. Tage trat wieder eine Beschleunigung ein, worauf, unter mehrfachen Schwankungen, bis zum 14. Tage hin, ein allmähliges Sinken statt hatte, das jedoch nie wieder auf den ursprünglichen Normalstand des Individuums kam, sondern immer noch um nahezu 3 Schläge in der Minute höher, als dieser, blieb. Vom 14. Tage ab stieg wieder die Frequenz, unter mehrfachen und mitunter bedeutenden Schwan­kungen. — Die am 40. Tage abgebrochene Beobachtung wurde nach 2 Monaten von Neuem aufgenommen, und während 6 Tage fortge­setzt, wo sich dann herausstellte, dass die von der Vaccination be-wirktePulsbeschleunigung keine vorübergehende Erscheinung gewesen war, da sie den Zeitraum von 2 Monaten überdauert hatte. Die mittlere Pulsgeschwindigkeit des Individuums hatte vor der Impfung 66, für den 21stiindigen Zeitraum, betragen, und betrug jetzt, nach Ablauf von mehr als 3 Monaten, 78,5.
Eine zweite, ebenfalls erwachsene Versuchsperson, die nur hin und wieder nach der Vaccination auf ihre Pulsfrequenz geprüft wurde, bestätigte die vorhin gewonnene Erfahrung von der längere Zeit andauernden Zunahme der Pulsgeschwindigkeit.
Das ansteckende Princip der Vaccine liegt in der Lymphe der Impfbläschen eingeschlossen, und muss darin gesucht werden. Allein die Bemühungen, dasselbe zu isoliren, und die mor­phologischen oder gar chemischen Bestandtheile, an welchen es gebunden ist, auszumitteln, sind bisher gescheitert. Die grösste Wahrscheinlichkeit spricht dafür, dass der Ansteckungsstoff nicht an
l) Lieber ueu üung der Pulsfrequenz u. s. w. während des Vaccinations-processes. Sitzungsber. der mathem.-naturwissensch. Klasse der kais. Academic der quot;Wissensch. zu Wien. Novbr. 1S5,'!.
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X. Die Theorie der Vaccination.
dem Serum der Lymplie, sondern an gewissen festen Bestandtheilen derselben haftet. (Cheveau's Düfusionsversuche mit Schafpocken­lymphe. '))
Ich meinestheils bin geneigt, die weissen Blutzellen für die Träger oder Vermittler des Contagiums zu halten. Wie Weigert gezeigt hat, treten dieselben vereinzelt schon sehr frühe in der Lymphe jener Hohlräume auf, welche innerhalb der Epidermis die sich bildende Pockenpapel charakterisiren. Je weiter die Entwicke-lung des Impfbläschens vorschreitet, um so zahlreicher werden jene Blutzellen. Mit dieser allmähligen Zunahme geht aber Hand in Hand einmal die lokale Infection der Haut, das legitime Impferysipel, sodann die allgemeine Infection des Organismus. In den aufbe­wahrten älteren, meist unwirksamen Lymphen werden die weissen Blutkörperchen immer sparsamer, um endlich vollständig zu ver­schwinden.
Diese Vermuthung verstösst allerdings arg gegen die augenblick­liche Strömung, welche die Aetiologie der Infectionskrankheiten mit den Schwärmen niederster Organismen überfluthet.
Das Contagium animatum ist, speciell für die Blattern, eine Schöpfung sehr alten Datums, und zählte im vorigen Jahr­hundert viele Verehrer, welche sogar Curpläne darauf hin entwarfen. Das letzte Jahrzehnt aber hat die Parasitentheorie mit einer, der kühlen Wissenschaft nicht zuträglichen Erregtheit aufgenommen, und mit solcher vertrauensvollen Beharrlichkeit verfolgt, dass es fast schon gewagt erscheint, sich, in irgend einer Form, ihr nicht zu unterwerfen.
Die sogenannten factischen Grundlagen der Theorie sind folgende: K e b e r beschrieb eigenthümliche Zellbildungen in der Lymphe2), Körnchenzellen, freie Körnchen und Moleküle, welche vom 4. oder 5. Tage ab vorkommen, und zu grössern oder kleineren Klümpchen und Körnerhaufen sich zusammenballen. Ob sie lebendige orga­nische Gebilde seien, Hess er dahingestellt, aber er betrachtete die­selben als die eigentlichen Träger des Pockengiftes.
H a 11 i e r ^ bezeichnet Aspergillus als den Variola- und Vaccine-pilz, welchen er aus dem schwärmenden geschwänzten, kegelför-
1)nbsp; Nature de virus vaccinal. Journ. de Med. veter. de Lyon. 186S. — Jahres-ber. von Hirsch u. Virchow für 1868.
2)nbsp; Virch. Archiv. 1868. Bd. 42.
3)nbsp; Virch. Archiv. 1S67 u. 1868. Bd. 41 u. 42 und in mehrfachen späteren Mittheilungen.
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Das ansteckende Princip der Vaccine.nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; 281
migen Mikrokokkus, der in jeder Schaf-, Kuh- und Meuschenlymphe anzutreffen sei, „ cultivirtequot;.
L is sau er in Dauzig, welcher unter Bail's Beirath diese Cul-turen wiederholte, erhielt hei 19 Versuchen 14 mal keinen Pilz, 2 mal Penicillium und einmal eine Mucorform. Andrerseits sah er von Impfungen an Kälbereutern mit Penicillium-, Mucor- und Isaria-Samen nichts herauskommen. ')
F. Colin bediente sich bei seinen Untersuchungen einer beson­dern Methode2), mittelst welcher er im Stande war, jedes äussere Eindringen von Fremdstoffen zur Lymphe zu verhüten. Er beob­achtete sehr kleine, einzellige farblose Organismen, von Kugel- oder Spbäroidenform, welche Molekularbewegung zeigten und ein sehr schwaches Lichtbrechungsvermögen hatten. Die Körperchen sind in ausserordentlich rascher und ununterbrochener Vermehrung begriffen, und es entstehen daraus mannichfache Gruppirungen, unregelmässige Colonien oder Zellhäufchen. In einer Glascapillare scheint die Ver­mehrung in den Zellcolonien noch lange Zeit fortzudauern, daher die Häufchen bedeutendere Grosse annehmen und als makroskopische Gerinnsel oder Flöckchen erscheinen. Einen entwickelungsgeschicht-lichen Zusammenhang der Körperchen mit irgend einem andern Pilze, wie Hallier, hat Cohn nicht auffinden können. Indem er die­selben als lebende und selbständige Organismen der Pockenlymphe betrachtet, stellt er sie zu den kleinsten und einfachsten aller Wesen, zu den Schizomyceten, und in die Gruppe der Kugelbakterien. Den Hallier'schen Mikrokokkus acceptirt er nicht wegen seiner proble­matischen Natur. F. Cohn hält indess, durch gewisse Betrachtungen veranlasst, die Mikrospären nicht für die Träger des Contagiums, sondern für dessen Erzeuger, insofern sie fermentartig die Lymphe spalten und hieraus das ansteckende Princip hervorgehen lassen.
Dagegen ist Chauveau 3) durch zahlreiche Untersuchungen bei Infectionskrankheiten zu der Ueberzeugung gelangt, dass in reinen und uncomplicirten Fällen derartiger Krankheiten kleine Organis­men (Bakterien, Vibrionen) weder im Blute, noch in den patho­logischen Producten vorkommen. So wurden frische Kuhpocken­lymphe, das Blut und der Eiter von Variola humana, von Schafpocken untersucht, und in vielen Fällen durchaus nichts gefunden; in anderen Fällen freilich kamen kleine Organismen zur Beobachtung, aber ihr
1)nbsp; Berl. klin. Wochenschr. 1S6S.
2)nbsp; Vircli. Archiv. 1S72. Bd. 55.
3)nbsp; Physiologie gen. des virus. Gaz. hebdom. 1871.
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282nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp;V. Die Theorie der Vaccination.
Fehlen in den ersteren spricht dagegen, dass sie die Träger des specifischen Giftes sein können und für die Entwickelung und Ver­breitung der Krankheit erforderlich sind. Man wird nur zugestehen können, dass die bezeichneten Krankheiten zur Aufnahme und Ent­wickelung der kleinen Organismen disponiren und vielleicht auch von ihnen Modificationen empfangen können.
Nach Chauveau haftet die specifisch giftige Substanz einer infectiösen Flüssigkeit an ihren zelligen Elementen; diese besitzen ein kömiges Protoplasma, welches zu zahlreichen Molekülen zerfallen kann, und dann gehen die infectiösen Eigenschaften auf diese Mo­leküle über.
Sehr merkwürdige Befunde und Folgerungen theilte sodann Luginbühl mit1)- Er fand die Bakterien nicht nur in der Lymphe des Pockeninhaltes auf getrübten Epithelien u. s. w., sondern Massen derselben bei ganz jungen Pocken auf der Oberfläche der Epidermis angehäuft, und er behauptet, dass die Epithelverändcrungen bei den Pocken durch eigenthümliche Anhäufungen von Mikrokokken („ Rie­senzellenquot;) eingeleitet werden. Die Infection erfolgt deshalb, nacli ihm, nicht vom Blute oder von der Lymphe aus, sondern von der äussern Oberfläche der Haut her.
Weigert beobachtete Bakterienmassen im Corium, selten in den untersten Schichten der Epidermis junger, meist wohl ausge­bildeter Pocken, gewöhnlich in Schlauchform angehäuft. Doch ka­men sie nur in Leichen aus einem frühem Stadium der Krankheit vor, wo noch keine Eiterung eingetreten war, aber auch hier nicht in allen Leichen. Ihre directe Beziehung zu dem Pockenprocess scheint ihm besonders durch den Umstand nahegelegt zu sein, dass sie sich nur an den Orten vorfinden, wo die Wirkungen des Pocken­giftes, die von dem Verfasser geschilderten diphtheritischen Herde im Retc Malpighii, auftreten.2)
Meine eigenen Untersuchungen der Vaccinelymphe, wobei ich der freundlichen Unterstützung und Controle Grün hag en's mich erfreute, habe ich oben mitgethcilt (S. 156 u. folg.). Wiederholt und sehr zahlreich vorgenommen, lieferten sie stets dieselben Befunde, aber nicht solche, welche mich bestimmen mussten, auf Organismen irgend welcher Art ein besonderes Gewicht zu legen.
!) Der Mikrokoccus der Variola (Arbeiten aus dem Berner Physiol. Institut. Würzburs; 1873). Der Herausgeber, Klebs, erklärt sich in wesentlichen Punkten gegen Luginbühl, der übrigens nur eine einzige Leiche seinen Untersuchungen zu Grunde legte.
2) Weigert, Anat. Beiträge zur Lehre von den Pocken. l.Theil. Breslau 1S74.
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Der Vaccinepilz.nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; 283
Betrachtet man das bunte Gemisch von Beobachtungen und die Widersprüche in den Vorstellungen, zu welchen sie führten, so wird man jeder Vermuthung oder Hypothese über die parasitäre Natur der Vaccine sich derzeit entschlagen. Möglich, dass die autfallende In-constanz der fraglichen Gebilde, wegen der mangelhaften Unter­suchungsmethoden, wirklich nur scheinbar ist, aber wenn die letz­teren zur Sicherung des Thatbestandes nicht ausreichen, reichen sie dann besser aus zur Begründung einer Theorie?
Es ist hier nicht der Ort, die Gründe zu wiederholen, welche für und gegen die Ableitung der Intectionskrankheiten von niederen Organismen sprechen. Eines aber kann und muss von den An­hängern der Parasiten-Theorie gefordert werden: eine künstliche Pockenlymphe oder ein künstlicher Impfstoff, mittelst dessen sie die Erzeugung .der Krankheit in der Hand haben. Einen solchen herzustellen ist bisher Niemandem gelungen.
Vorläufig erscheint es daher sehr kühn, von der „fast zur Evi­denz erwiesenen Theorie des Pocken-Contagiumsquot; zu sprechen, und die Sicherheit, wie diese Lehre heute vielfach vorgetragen und entwickelt wird, erinnert an die Zeiten der naturphilosophischen Medicin, wo die Pathologie gern aus einem Satze, welcher nicht fester als die Pockentheorie stand, coustruirt wurde.
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Elfter Abschnitt,
WüTdigung und Kritik der Yaccination als allgemeiner Sanitäts-Massregel.
Nachdem, im neunten Abschnitte, die Eigenschaft der Vaccine, den menschlichen Körper vor dem Blatterngifte zu sichern oder da­gegen abzustumpfen, als eine experimentelle Thatsache begründet worden ist, und die wesentlichen Bedingungen jenes Vermögens, soweit sie ermittelt worden, untersucht sind, erwächst nun die Auf­gabe, den sanitären Werth der Vaccination an der Ge­sellschaft der letzten 70 Jahre zu prüfen.
Kaum hat ein anderer Gegenstand, neben den politischen und religiösen Erschütterungen dieser Periode, alle Schichten der Gesell­schaft so tief durchdrungen und die Gemüther immer und immer wieder erhitzt, als die Kuhpocken-Impfung, und der Kampf um die­selbe hat unter unsern Augen fast erbitterter getobt, als je zu einer früheren Zeit. Die schweren Anklagen, welche ein Jahrhundert zu­vor die Inoculation der natürlichen Blattern verfolgt hatten, sind mit J e n n e r 's Entdeckung neu aufgelebt, und in verschärfterer Fassung wider die Vaccination geschleudert worden, weil sie ein thierisches Contagium mit den menschlichen Säften zu verschmelzen sich unter­fangen hatte.l)
1) Immer, wo der Homo sapiens mehr als den materiellsten Nutzen vom Thiere gewinnen sollte, hat derselbe spiritualistische und kirchliche Hochmuth sein Verdammungsurtheil gesprochen. Auch die Thierbluttransfusion wurde, Ende des XVII. Jahrhunderts, als ein kannibalisches, aus der Schule des Teufels stammendes Unternehmen gebrandmarkt, und in Kom und Paris richterUch ver­boten. Die mit Transfusion Behandelten sollten nach Jahr und Tag an „Schafs­melancholiequot; leiden u. s. w.
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Die Lobredner und die Gegner. Unfug der Statistik.nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; 285
Und doch könnte man zweifelhaft sein, ob ihr die feurigen Lob­redner und die blinden Schwärmer, oder die masslosesten Wider­sacher mehr geschadet haben. Hätte die verständige Mässigung des Urtheils, womit Jenner, Willan u. A. die wunderbare Erschei­nung einführten und begrüssten, stets die leitende Stimme behalten, dann wäre der Vaccination ein besserer Dienst geleistet worden, als da nun übereifrige Advokaten die Aussichten, welche man von ihr hegen durfte, weit über die Grenzen der Wahrscheinlichkeit und Analogie ausdehnten.
Ich habe hierbei nicht so sehr die ausschweifende Verherrlichung der Kulipockenimpfung im Sinne, nicht die gedankenlose Prophe-zeihung von dem Untergange der ganzen Blatternkrankheit in Folge der Vaccination, noch viel weniger die Absurdität des heilenden Ein­flusses , welcher, ihr auf viele körperliche und geistige Leiden nach­gerühmt worden ist — Auswüchse einer Vergangenheit, deren Jubel über die greifbaren Wirkungen der Vaccine höher ging, als ihr Ver-ständniss für dieselbe find als ihr Wille, die Eigenschaften der Kuh­pocken zu erforschen. Ritterliche Gegner der Impfung sollten heute die Aufwärmuug solcher Thorheiten ihrem Tross überlassen.
Sondern ich denke vornehmlich an den mit der Statistik ge­triebenen Unfug, welcher geeignet war und ist, der Vaccination allen Credit zu rauben. Um durch unwiderstehliche Ziffern ihren Nutzen zu erweisen, dünkte es vielen Impffreunden zweckmässig, grosse Zahlen­haufen zusammenzutragen, und an den einzelnen Eeihen die Kunst der vier Species zu üben. Woher die ganzen Summen gewonnen waren, und was die einzelnen Zahlen, mit denen man operirte, in Wahrheit vertraten, wurde nicht ängstlich abgewogen, wenn davor oder da­hinter die Worte: geimpft oder ungeimpft, Pockenerkrankung oder Pockentod, standen. So machte jedes klinische Ambulatorium, jedes Krankenhaus, mit bescheidenem oder auch ansehnlichem Material, Statistik. Andere Hessen aus den trüben Quellen der polizeilichen Anmeldungen und Todtenscheine stattliche Tabellen über die Pocken­verhältnisse einer Stadt oder einer Epidemie erstehen, und aus der Zahl der Gestorbenen, welche unsicher war, aus der Summe der Erkrankten, welche nicht annähernd richtig sein konnte, aus den Ziffern der Geimpften, Ungeimpften und Revaccinirten, welche nur willkürlich geschätzt und vertheilt werden konnten, wurden die Pro-cente dieser, und noch ganz anderer Kategorien bis auf die Genauig­keit von Decimalstellen berechnet — eine geistlos subalterne Be­schäftigung, welche in gleicher Weise jetzt bei der Cholera Mode geworden ist, wo diese statistischen Berichte hinter jeder Invasion
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286nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; XI. Würdigung und Kritik der Vaccination.
des asiatisclien Gastes, gleielisam als Nachepidemien zu grassireu pflegen. Nicht ans ernstem Studium hervorgegangen, oder für das­selbe verfasst, und des bedruckten Papiers unwerth, sollen solche Berichte in ihren Endzahlen nur abgeschrieben werden. Es konnte daher nicht überraschen, dass, als einige Skeptiker1) über diese Zahlen kamen, fast die gesammte Pocken- und Impfstatistik, nicht blos nicht für die Vaccination sprechend erkannt, sondern dass aus ihr das Gegentheil, die Nutzlosigkeit, ja der directe Schaden der Impfung unschwer herausgerechnet wurde, worauf die erschreckten Statistiker ihre „unsicheren Zahlen und die falsche Statistikquot; sofort verleugneten.
Ist die Vaccination, wie sie unvergleichbar in der Pathologie dasteht, eine der glänzendsten Entdeckungen aller Zeiten, und der grosse Sieg menschlicher Einsicht über eine dem Leben verderbliche Naturkraft? oder muss sie den räthselhaftesten Irrgängen unseres Geistes und der civilisirten Gesellschaft beigezählt werden ? Ist sie ein Segen der nachfolgenden Geschlechter geworden, oder ihr Fluch ? — Beide Auffassungen stellen ihre Vertreter.
Es können bei einer wissenschaftlichen Behandlung der Frage die moralischen und religiösen Scrupel, welche die Kuhpocken-Impfung in vielen Gemüthern wachgerufen hat, kein Gehör bean­spruchen, noch weniger das Toben kirchlicher und medicinischer Zeloten, welche glaubten, in dieser Angelegenheit die menschliche Urtheilskraft und die gesunden Sinne missachten zu dürfen.
Um so strengere Prüfung fordern die sachlichen Einwürfe, und es soll nimmermehr verschwiegen werden, dass manche feindlichen Thatsachen, vor Allem die Blatternepidemien unseres Jahrhunderts stärker, als das Gezanke der Partheien, an der Vaccination gerüttelt, und unter ihre leidenschaftslosen Freunde wiederholt mächtige Zweifel geworfen haben.
Lässt sich erweisen, dass die natürlichen Blattern, durch das Zwischentreten Jenner's, in günstiger Weise verändert, und ihres verheerenden Charakters entkleidet worden sind, die allgemeine Blattemsterblichkeit deshalb erheblich gesunken ist, — dass ferner Ungeimpfte, den Vaccinirten gegenüber, sowol häufiger von der vario-lösen Erkrankung betroffen werden, als unter ihren ungünstigen Aus­gängen stärker leiden, und dass hierfür keine anderen Gefahren für
1) Loriuser, Wien. med. Wochenschr. 1S73. Nr. 13 u. 14. — Eeitz, Ver­such einer Kritik der Schutzpockenimpfung. St. Petersburg 1873.
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Die natürl. Blattern sind seltener geworden durch die Vaccination. 287
die Gesellschaft eiDgetausclit worden sind — dann wird die Vacci­nation unseres Vertrauens werth sein.
Von ihr die absolute Unfehlbarkeit oder die vollendete Sicher­heit verlangen, welche allen unseren Leistungen versagt ist, wäre eine grobe Unbilligkeit „Die Sicherheit, welche sie gewährt, ist in dem Grade vorhanden, wie sie von irgend einer menschlichen Er­findung nur erwartet werden kann,quot; — diese, im J. 1807 von dein Kgl. Collegium der Londoner Aerzte an das Parlament abgegebene Erklärung kann auch heute unterschrieben werden.
Desgleichen bedeutet es eine Verschiebung des Gesichtsjnmktes, aus welchem die Vaccination beurtheilt werden muss, wenn sie n u r mit dem Maasse des privaten Nutzens oder Schadens gemessen wird. Denn wie die Blattern keine Angelegenheit des Einzelnen sind, sondern, als Volkskrankhcit und Völkerseuche eine gesell­schaftliche Noth, ebenso muss, wenn die Gesellschaft sich ihrer durch die Impfung zu erwehren sucht, in erster Linie [nach dem Werthe der Vaccination für die Allgemeinheit gefragt werden. Wer verdammt heute Guttenberg's Erfindung, trotz des verderblichen Giftes, welches durch dieselbe gepflegt, von vielen Einzelnen aufgesogen wirdquot;? Wer verwünschte den riesigen Aufschwung unserer Verkehrs­mittel, trotzdem ihnen jährlich Tausende zum Opfer fallen? Aber die Vaccination scheint auserkoren, das Ziel der ausschweifendsten Erwartungen, der unsinnigsten Ansprüche, und der verkehrtesten Folgerungen zu bilden.
Sind die natürlichen Blattern seit der Einführung der Vaccination
seltener geworden?
Auf die einfache Antwort mit einer Morbilitätsstatistik der früheren Jahrhunderte und des jetzigen muss verziehtet werden. Suchen wir der Frage anders beizukommen!
Es ist bereits mitgetheilt worden, dass die Inoculatoren des ver­flossenen Jahrhunderts etwa 5 Procent der Inoculirten berechneten, bei welchen die Blatternimpfung durchaus versagte, und dass dieses Proeent auffällig die Zahl jener Personen deckt, welche damals, der allgemeinen Annahme nach, die vollständige Immunität gegen die Variola, als eine natürliche Mitgift, bis zum hohen Alter genossen. 95 pCt. der Geborenen galten, meist in der ersten Hälfte ihres Lebens, den Blattern verschrieben. Wer an diesen bestimmten
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288nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp;XI. Würdigung und Kritik der Vaccination.
Zahlen sicli stösst, blicke in die zahllosen Schriften jener Zeit, welche den einen Satz, das ausnahmsweise Verschonthleiben des Menschen von der gefürchtetsten aller Krankheiten, in den mannich-fachsten Wendungen wiederholen, und durch Beispiele und Zahlen erläutern. Die entsprechende Yermehrung des Menschengeschlechts wurde, seit den Kreuzzügen bis ans Ende des vorigen Jahrhunderts wesentlich durch die eine Seuche aufgehalten. Mustern wir nun die Gesellschaft unseres Jahrhunderts, so könnte uns leicht das entgegen­gesetzte Resultat überraschen, dass nämlich in den, der Vaccination eröffneten Staaten unter je hundert Menschen immer nur fünf während ihres Lebens von den Blattern ereilt werden. Für die ersten Decen-nien des laufenden Süculums hat das unbestritten seine Richtigkeit; die Blatternfurcht lebte in dem älteren Theile der Bevölkerung nur in der Erinnerung, und war mit den nachkommenden Generationen nicht mehr aufgewachsen; die charakteristisch entstellten Gesichter verschwanden mehr und mehr, und ein Blatterntodesfall erregte Auf­sehen. Selbst heute, nach den furchtbaren, und verbreiteten Epide­mien der letzten Jahre befinden sich diejenigen unter den Leben­den, welche Blattern überstanden haben, in der kleinen Minderheit. Während der Epidemie von 1870—72 sind im preussischen Staate, in runder Zahl, (J0,0i)0 Menschen an Pocken verstorben, was, die durchschnittliche Mortalität dieser Krankheit mit IG pCt. zu Grunde gelegt, eine Morbilität von etwa 500,000 Personen voraussetzen Hesse, also eine halbe Million auf 24 Vs Millionen Einwohner, oder 2,04 pCt. der Lebenden. Man kann getrost noch einige hunderttausend Er­krankungen darauf geben, und immer wird diese stärkste Epidemie des Jahrhunderts keinen Vergleich mit der Erkrankungsziffer der früheren aushalten, trotz der viel günstigeren Bedingungen, welche der Ausbreitung der Seuche geboten waren.
Doch sind wir auch in der Lage, die Erkrankungsprocente für einige geimpfte Bevölkerungen bestimmt anzugeben (s. die sorgfäl­tigen epidemiologischen Berichte über Chemnitz und Waldheim aus der Epidemie 1S70 —1873. S. 38), und da stellt sich eine merk­würdige Uebereinstimmung mit unserer vorhin geäusserten Schätzung heraus: die Morbilität an Blattern ergab für Chemnitz (64,255 Ein­wohner) 5,6 pCt. — für Waldheim (über 5000 Einwohner) nahezu 5 pCt., oder wie oben gesagt wurde, dass etwa 95 pCt. dieser Be­völkerungen in den Epidemien frei ausgingen. — In Danzig be­rechnete Lievin (bei offenbar nicht vollständiger Krankenzahl) 3,85 pCt, was den obigen Zahlen nahe kommt.
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Die verminderte filatternsterblichkeit.nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp;289
Der allgemeine Nutzen der Vaccination wird unwiderlegbar sein, wenn
mit Hilfe langer Zeiträume und grosser Zahlen bewiesen werden kann,
dass die Pockensterblichkeit nach Einführung der Kuhpockeiiimpfung,
relativ und absolut, imrerhältnissmässig gesunken ist.
Es stehen hier in jeder Beziehung obenan die Schwedischen Mortalitäts-Tabellen, ein sehr sicheres Fundament, dessen Beweiskraft durch keine Bemängelungen und Ausstellungen erschüt­tert werden kann.
Sie umfassen den bedeutenden Zeitraum von 1749—1855, und sind, nach amtlichen Mittheilungen zusammengestellt, in dem engli­schen Blaubuch über die Vaccination veröffentlicht worden.x) Von 1749—1773 wurden die Blattern- und Masern-Todten, wie es damals üblich war, nicht geschieden, und mag dieser Abschnitt unberück­sichtigt bleiben, so dass der Zeitraum von 1774 bis 1855 für unsere Zwecke zur Verwendung kommt. — Im Jahre 1801 wurde in Schwe­den die erste Impfung vollzogen, im Jahre 1810 war ein Viertel der geborenen Kinder vaccinirt, und seit 1816 besteht daselbst die. all­gemeine Impfpflichtigkeit der Kinder. Wir betrachten deshalb den Zeitraum nach drei Perioden.
In der ersten prävaccinatorischen Periode von 1774 bis 1801 wurde das Königreich alle 5—6 Jahre von Blatternseuchen durch­zogen, welche innerhalb der ersten 2—3 Jahre ihr Maximum zu erreichen, und in ebenso langer Zeit wieder abzunehmen pflegten. In 18 von diesen 28 Jahren verlor Schweden jährlich auf die Million Einwohner mehr als 1000 Menschen an Blattern, und zwar in 10 Jahren über 2000 „ 5 „nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; „ 3000
„ 2 „nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; 5000
„ 1 Jahre 7000. Die niedrigste Todtenzahl in jenen 28 Jahren betrug (1786) etwas über 300.
In den 9 Jahren der zweiten Periode (1802—1810), wo die Impfung zwar mehr und mehr Boden gewonnen, aber schliesslich doch nur ein Viertel der Geborenen erreicht hatte, starben an Blattern auf eine Million Einwohner
in 2 Jahren nicht volle 500 „ 4 „nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; „ „ 600
1) Papers relating to the history and practice of Vaccination. London 1S57.
6 o h n, Handbuch der Vaccination.nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp;19
#9632;
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290nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; XL Würdigung und Kritik der Vaccination.
in 1 Jahre nicht volle 800
„ 1 „nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; „ „ • 900
„ 1 „nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; „ „ 1000.
Endlich in den 45 Jahren der dritten Periode (1810—1855), welche unter der Einwirkung der Vaccination standen, stieg die Pockensterblichkeit nur in dem Jahre 1851 auf ein Maximum von 700, zweimal (1838 und 1839) erreichte dieselbe etwa 600, einmal ging sie über 400, viermal über 300, zehnmal über 200, sechszehn-mal kam sie nicht auf 100, und in sechs Jahren war sie gleich Null. In summarischer Berechnung verlor Schweden an den Blattern, auf eine Million Bewohner, jährlich:
in den 28 Jahren vor der Vaccinationnbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; 2050
in den 9 Jahren mangelhafter Impfungnbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp;686
in den ersten 40 Jahren der bestehenden Impfpflichtigkeit 158
in den letzten 5 Jahren „nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp;nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; 259
Menschen. Dabei war die Seelenzahl des Landes von 2,020,847 im
Jahre 1775 bis auf beinahe S1,^ Millionen im J. 1850 angewachsen.
Während es im vergangenen Jahrhundert einzelne Jahre gab
(1779, 1784 und 1800), wo die Blatternsterblichkeit zwischen 12—
18,000 schwankte, weisen die beiden Decennien 1810—1830 nur
8257, und die von 1836—1855: 11553 Todte auf.
Die nebenstehende graphische Darstellung, welche dem engli­schen Blaubuch entlehnt ist, lässt auf einen Blick und in wahrhaft überraschender Weise den mächtigen Einfluss der Vaccination auf die Mortalität hervortreten:
.
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Die schwedischen Mortalitätstabellen.
291
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'
292
XL Würdigung und Kritik der Vaccination.
Für den ganzen Staat Preussen liegen weit zurückreichende statistische Zusammenstellungen nicht vor. Nur die Churmark und Neumark Brandenburg liefert aus dem vorigen Jahrhundert eine zehn­jährige Reihe der jährlichen Todesfälle, und darunter der Todes­fälle an Pocken. Erst vom J. 1816 beginnen regelmässig bis 1871 fortgesetzte Uebersichten für den ganzen Staat.
Churmark und Neumark Brandenburgr-
Unter 100
Jahr
Gesammt-Todesfälle
Pockentodte
Todtea an Pocken ge-
storben
17S9
27,543
2272
8,21
1790
28,659
3483
9,16
1791
26,595
3714
13,97
1792
24,621
2288
10,49
1793
24,309
1431
5,45
1794
27,881
1933
6,43
1795
33,838
3613
11,44
1796
31,909
5028
17,79
1797
27,145
1365
4,92
1798
25,829
1047 20,159 .
3,31
1789—1798
278,092
9,11
Die jährlichen Todesfälle an Pocken im Vergleich zur Ein­wohnerzahl und den Gesammttodesf allen in Preussen vom Jahr 1816 bis 1871:
Unter 100
Jahr
Zahl der
Gesammt-
Pockentodte
Todten an
Bewohner
Todesfälle
Pocken ge­storben
1816
10,349,031
287,101
4690
1,63
1817
10,572,795
307,035
2940
0,96
1818
10,790,874
313,983
3186
•#9632; 1,01
1819
10,981,934
334,483
2279
0,68
1820
11,272,482
296,809
1190
0,40
1821
11,480,815
287,573
1953
0,68
1S22
11,664,133
314,524
2388
0,76
1823
11,843,870
318,898
2354
0,74
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quot;
Blatternsterblichkeit in Preussen.
293
Unter 100
Jahr
Zahl der Bewohner
Gesammt-Todesfälle
Pockentodte
Todten an Pocken ge­storben
1 1824
12,031,694
318,520
1750
0,55
1825
12,256,725
327.354
1893
0,59
1826
12,427,216
355,132
1793
0,50
1827
12,556,502
365,585
3194
0,87
1828
12,728,110
372,880
2419
0,65
1829
12,857,438
388,255
2475
0,61
1830
12,988,178
390,702
3134
0,80
1831
13,03S,960
462,665
1546
0,33
1832
13,138,083
421,128
3985
0,96
1833
13,303,160
413,894
7996
1,93
1834
13,507,999
424,013
6625
1,56
1835
13,708,195
380,943
3716
0,98
1836
13,931,103
375,588
2618
0,70
1837
14,098,125
438,603
2195
0,50
1838
14,3^5,679
392,990
2419
0,62
1839
14,645,599
430,098
2128
0,49
1840
14,928,501
418,624
2410
0,58
1841
15,110,721
415,256
2195
0,53
1842
15,305,213
435,182
3425
0,57
1843
15,571,084
445,573
4408
0,99
1844
15,708,742
403,842
4241
1,05
1845
15,941,155
433,065
2527
0,58
1846
16,112,938
473,149
2462
0,52
1847
16,157,121
512,236
1539
0,30
1848
16,165,387
541,742
2213
0,41
1849
16,331,187
498,862
1760
0,35
1850
16,608,039
455,835
2606
0.57
1851
16,828,440
443,838
2179
0,49
1852
16,935,420
557,360
3208
0,58
1853
17,044,070
521,496
6734
1,29
1854
17,164,145
500,737
7490
1,50
1855
17,202,831
550,460
1664
0,30
1856
17,349,645
478,085
1270
0,27
1857
17,530,353
521,929
2330
0,45
1858
17,739,913
519,728
4691
0,90
1859
17,993,188
493,757
3530
0,72
1860
18,202,023
460,808
3461
0,75
1861
18,491,220
497,611
5578
1,12
1862
487,871
3894
0,80
1863
524,482
6250
1,19
1864
19,252,139
503,279
8904
1,77
-ocr page 310-
294
_ XI. Würdigung und Kritik der Vaccination.
Unter 100
Jahr
Zahl der Beivolmer
Gesammt-Todesfälle
Pockentodte
Todten an Pocken ge­storben
1865
563,065
8430
1,49
1866
698,146
11,937
1,71
1867
19,690,582
651,538
8500
1,30
186S
23,971,337
691,930
4510
0,65
1869
674,943
4655
0,69
1870
681,051
4200
0,61
1871
24,603,761
735,593
59,839
8,13
Die Zahlen bedürfen in der That keiner Erläuterung.
Ich schliesse noch Berlin an.
Eine Zusammenstellung aller jährlichen Todesfälle vom Jahr 1758 bis 1S72 ergibt (s. Guttstadt a. a. 0.), dass Todesfälle an Blattern in jedem Jahre dieses Zeitraums (mit Ausnahme von 1831 u. 1855) in Berlin vorgekommen sind. Der gewöhnliche Procentsatz der Blattern-Todesfälle von der Gesammtzahl aller Gestorbenen eines Jahres betrug bis zum J. 1802: 8 pCt., er wurde häufig überschritten, in manchen Jahren verdoppelt und verdreifacht, so in den Jahren 1766, 1770, 1786, 1801, wo die Blattern 23,19, 21,2, 21,16 pCt. der Ge-sammttodesf alle ausmachten. Im ersten Decennium des Jahrhunderts, wo die Vaccination in Berlin gegen die Lauheit der Bewohner und die allgemeine politische Calamität nicht aufkommen konnte, erscheint ihr Einfluss auf die Blattern gleich null, welcher vom Jahr 1810 ab in der überraschendsten Weise hervortritt. Auf der nachfol­genden Tabelle sind für alle, hier in Betracht kommenden Zahlen die fünfjährigen Mittel berechnet. Während der Procentsatz der Pocken- zu den Gesammt-Todesfallen vor 1809 zwischen 6,36 und 11,00 schwankte, beläuft er sich für die folgenden 60 Jahre, von 1810 bis 1870, auf 0,06 bis 1,34 — und wenn man die einzelnen Jahre verfolgt, so trifft man nur in 1864 und 1872 dort 3,45, hier 3,82 pCt. (gegen 8 pCt. im vorigen Jahrhundert) und im schlimmsten Blatternjahre 1872 15,70 pCt. (gegen 23,19 pCt. im entsprechenden J. 1766). Die Bedeutung der Zahlen wächst, wenn man (in der vierten Columne der.Tabelle) sieht, wie gering die allgemeine Mor­talität während der letzten hundert Jahre in Berlin gewechselt hat.
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Blatternsterblichkeit in Berlin.
295
Berlin 1758—1871.
Fünfjähriger
Durchschnitt
für
Einwohner
Gesammt-Todtesfälle
Procente d.
Todesfälle
zu den Ein-
Pockentodte
Unter 100 Todten an Pocken ge-
wohnern
storben
1758-1762
95,671
4726
4,93
389
8,23
1763—1767
122,008
4033
3,31
444
11,00
1768—1772
130,186
5591
4,29
383
6,85
1773,74 u.
1782/83/84
133,392
4865
3,65
443
9,11
1785—1789
135,400
5214
3,85
487
9,34
1790—1794
145,000
5263
3,63
449
8,53
1795-1799
165,612
5984
3,61
396
6,52
1800—1804
- 177,225
6192
3,49
463.
7,48
1805—1809
152,014
7323
4,82
466
6,36
Einfluss der Schutzpocken-Impfung.
1810-
-1814
165,000
5525
1815-
-1819
198,093
5974
1820-
-1824
210,000
5930
1825-
-1829
230,000
6686
1830-
-1834
255,000
8662
1835-
-1S39
285,000
8566
1840-
-1844
325,000
9062
1845-
-1849
390,000
11,070
1850-
-1854
408,000
11,270
1855-
-1859
450,000
12,736
1860-
-1864
590,000
16,276
1S65-
-1869
690,000
23,303
18
70
26,594
3,35 3,02 2,82 2,91 3,40 3,01 2,79 2,84 2,76 2,83 2,76 3,38 3,02
51
80
9
31
4S
52
44
7
19
S3
176
182
171
0,74 1,34 0,15 0,46 0,55 0,60 0,49 0,06 0,14 0,65 1,08 0,78 0,64
Jahre mit Pocken-Epidemien.
1759
94,433 (Garnison f.)
#9632; 4469
5,20
1766
125,878
4653
3,60
1770
133,520
5123
3,83
1786
147,338
5077
3,44
1789
119,717 (Garnison f.)
5990
5,00
1801
176,709
7681
4,34
1864
632,749
17,848
2,81
1871
826,341
32,362
3,92
1872
28,763
3,48
600
1060 987
1077 911
1626
617
5084
1100
13,20
22,07 19,26 21,21 15,25
21,17 3,45
15,70 3,82
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296nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp;XI. Würdigung und Kritik der Vaccination.
Ungeimpjte Personen sind den Angriffen der Blattern, sowol der Erkrankung, als dem Tode mehr, als die Geimpften, preisgegeben.
Es liegt dies eigentlich in der Blatternstatistik vor und nach der Vaccination einbegriffen, und folgt von selbst aus dem Satze, dass die Vaccine im Stande ist, die variolöse Empfänglichkeit zu vernichten und abzuschwächen. Aber die vielen Epidemien dieses Jahrhunderts haben auch den thatsächlichen Beweis geliefert, und jede neue Epidemie, die wir erleben, übernimmt es, denselben weiter zu führen, indem mittelst der schleunigen Vaccination der unge-impften Kinder, und der, von ihrer Jugendimpfung schwach oder gar nicht mehr geschützten Erwachsenen jederzeit der Seuche Ein­halt gethan werden kann. Die Kinderwelt ferner, welche unter dem frischesten und ausgedehntesten Einflüsse der Impfung steht, wird inmitten der heftigsten Epidemien kaum angetastet, und da, wo das Gegentheil wahrgenommen wurde, sind stets die mangelhaften Zu­stände der Jugendimpfung ans Licht getreten1). Wir vermögen endlich, in einem gegebenen Kreise von Individuen, deren Impfver­hältnisse bekannt sind, mit fast untrüglicher Bestimmtheit diejenigen, welche von der herrschenden Seuche gefährdet sind, von den Un­anfechtbaren zu scheiden, ja den Grad zu bezeichnen, in welchem jene erkranken werden.
Die Gegner der Impfung erwidern darauf: wie dem sein möge, so werde Niemand fortleugnen, dass Geimpfte wie Ungeimpfte an Blattern erkranken und sterben, und dass die Einen, wie die Andern, auch verschont bleiben können, und da lasse sich im grossen Ganzen keine ungünstigere Stellung der Ungeimpften zu der Pockengefahr erkennen. Sie fordern den tadellosen Zahlennachweis für die be­vorzugte Lage, in welcher sich die Vaccinirten befinden sollen, wol wissend, wie misslich ein solcher gerade hier durchzuführen ist. Denn für eine derartige Statistik muss die Kenntniss aller Ge­impften und Ungeimpften in einer gegebenen Bevölkerung verlangt werden, und nicht minder die Kenntniss aller Pockenerkrankungen
1) Im Anfange der Epidemie ISTO sah ich, um eins der gewöhnlichen Bei­spiele anzuführen, ein 8jähriges Proletarierkind mit confluenter .Variola, welches die Mutter in sehr bestimmter Weise als geimpft bezeichnete. Auf die Frage: wie viel Impfpocken aufgegangen seien? lautete die Antwort: keine, und der Impfarzt habe am Revisionstage den Impfschein verweigert, aber auch nichts weiter veranlasst. Ebenso verhielt es sich mit zwei jüngeren Knaben dieser Frau, welche, narbenlos, auf der Stelle geimpft, normale Kuhpocken entwickelten, und iu der beständigen Nähe der Schwester unangesteckt blieben.
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1
Blatternepidemie in Chemnitz.nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; 297
und Todesfälle, welche in einem bestimmten Zeitraum, oder in einer Epidemie, unter jener Bevölkerung vorgekommen sind — zwei, für grössere Menschencomplexe kaum erschwingliche Forderungen. Mit Kecht weisen die Impfgegner alle aus der Hospitalpraxis gezogenen Schlüsse zurück, weil das Hospital nur ein falsches Spiegelbild der variolösen Vorgänge in einer Bevölkerung entwerfen kann, und weil die Impfverhältnisse seiner Kranken die unsichersten seien. Man weist triumphirend auf die grossen Mengen Geimpfter hin, welche das Hauptcontigent zu den Epidemien stellen, und der Scharfsinn einiger impffreundlicher Statistiker hat den Gegnern sogar gestattet, aus ihren Zahlen zu berechnen, dass die Sterblichkeitsprocente der Ungeimpften garnicht ungünstig, fast noch günstiger, als bei den Geimpften, zu stehen kommen.
So überzeugend nun eine nicht geringe Zahl statistischer Mit­theilungen, welche von groben Verstössen frei sind, auf jeden Unbe­fangenen wirken muss '), und so sehr die stets gleiche und aller Orten gemachte Erfahrung, im Kleinen wie im Grossen, gegen die Ungeimpften spricht, müssen jene rigorosen Anforderungen der Impf­gegner geachtet werden, und bleibt so lange eine Lücke in unsem Beweisen, bis ihnen eine zwingende Statistik entgegentritt.
Die Lücke ist in der letzten grossen Epidemie von zwei Seiten her ausgefüllt. Zuerst hat Flinzer die Blatternepidemie, welche in Chemnitz und Umgebung während der Jahre 1870 und 71 herrschte, nach allen den gewünschten Eichtungen hin sorgsam studirt, und eine, für unsere Frage, epochemachende Arbeit geschaffen2).
Chemnitz trat mit 64,255 Einwohnern in die Epidemie ein, da­von waren
53891 Geimpftenbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp;= 83,87 pCt.
5712 Ungeimpftenbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp;= 8,89 pCt.
4652 früher Geblätterte = 7,29 pCt.
Es wurden 3596 Personen von Blattern befallen: 5,60 pCt. der Bevölkerung; und zwar 953 Geimpfte: 1,61 pCt. der geimpften Be­wohner, und 2643 Ungeimpfte: 57,23 pCt. der ungeimpften Einwohner.
Von den sämmtlichen 13,881 Haushaltungen, welche die Stadt zählte, kamen Blattern in 2103 vor; an diesen 15 pCt. befallener Haushaltungen nahmen solche, wo nur geimpfte Personen sich auf-
1)nbsp; Siehe das eng). Blaubuch über Vaccination 1857 und Kussmaul, Zwanzig Briefe. 1870.
2)nbsp; nbsp;Mittheilungea des statistischen Bureaus der Stadt Chemnitz. 1. Heft. Chemnitz 1873.
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298nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; XI. Würdigung und Kritik der Vaccination.
hielten, mit 2,67 pCt. theil, während die übrigen 12,48 pCt. auf solche Haushaltungen mit Ungeimpften fallen. Unter der Gesammt-zahl der Haushaltungen waren überhaupt 68,18 pCt., welche nur Geimpfte enthielten, bei diesen ereigneten sich in 3,92 pCt. Blattern­erkrankungen, dagegen in 31,82 pCt. Haushaltungen mit Ungeimpften 39,11 pCt. vorkamen. Während demnach auf 26 Haushaltungen, welche Ungeimpfte aufzuweisen hatten, 1 Erkrankung fiel, traf eine solche erst auf 255 Haushaltungen, wo nur Geimpfte lebten.
Unter den 3596 Erkrankten starben 249 (6,32 pCt.), und zwar 221 Kinder unter 14 Jahren und 28 Erwachsene. Die gestorbenen Kinder waren sämmtlich ungeimpft, von den Erwachsenen waren 21 (3/4) nicht geimpft. Die 7 geimpften Personen unter den Ge­storbenen trugen folglich zur Mortalität 2,81 pCt. bei, die 242 Un­geimpften 97,19 pCt., oder umgekehrt, die 953 geimpften Blattern­kranken in der Stadt gaben 0,73 pCt., die 2643 ungeimpften Kranken 9,16 pCt. Sterbefälle.
Nach dem Vorbilde von Chemnitz ist die Epidemie des Städtchens Waldheim in Sachsen von Dr. A. Müller bearbeitet worden1). Waldheim hatte, bei über 5000 Einwohnern 4713 Geimpfte oder früher Geblätterte (93,2 pCt.) und 342 nicht oder erfolglos Geimpfte (6,8 pCt). Vom Januar 1872 bis April 1873 kamen 250 Pocken­erkrankungen (die leichtesten eingerechnet) vor, nahezu 5 pCt. der Bevölkerung. Darunter befanden sich
Geimpfte (einschliesslich def Gepochten) 124 = 2,6 pCt.
Ungeimpfte oder erfolglos Geimpftenbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; 126 = 36,6 pCt.
Es starben 66 Personen, und betrug die Mortalität für Nichtgeimpfte 43,6 pCt. für Geimpftenbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; 8,8 pCt.
Es darf bei diesem Punkte aber auch die zweite Impfung nicht unberücksichtigt bleiben, deren Resultate eine mächtige Stütze für die erste Vaccination geworden sind. Wir sehen uns hier allein auf die militärischen Kevaccinationslisten verschiedener europäischer Staaten verwiesen, welche ein höchst ansehnliches und verlässliches Material bieten. Während ehemals die Blattern in den Heeren eine kaum ausgebende Plage waren, und dieselben oft zur Actionsunfähigkeit verurtheilten, erregen sie jetzt unter den Soldaten Aufsehen durch ihre Seltenheit, und werden vorwiegend bei den eintretenden Rekruten getroffen, welche sie aus ihren Civilkreisen in die Garnisonen ein­schleppen.
1) Archiv f. Heilkunde. 1874. XV. Bd.
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Erfolge der Revaccination.
299
Die nachfolgenden Zahlen sind dem preussischen Militär ent­lehnt, das, in seiner beträchtlichen Stärke, bereits 40 Jahre unter dem Einflüsse der Revaccination steht').
In den zehn, der allgemeinen Revaccination vorausgehenden Jahren 1825 — 1834, waren in dem damals erheblich schwächeren Heere 458 Soldaten an Blattern gestorben.
Vom J. 1834—1867 sind 1,787,824 Mann geimpft, davon mit Erfolg 1,130,134. Die Erkrankungen und Todesfälle an Variola in der Armee stellen sich während dieser Zeit, wie folgt:
In der preussischen Armee sind an Menschenpocken erkrankt und gestorben
von 100 Er-
im Jahre
erkrankt
gestorben
krankten
gestorben
1833
9
108
?
1834
619
38
6,1
1835
259
5
1,93
1836
130
9
6,9
1837
94
3
3,2
1S3S
111
7
6,3
1839
89
2
2,25
1840
71
2
2,1
1841
59
3
5,1
1842
99
2
2,02
1843
167
3
1,8
1844
69
3
4,4
1845
30
3,33
1846
30
3,33
1847
5
1848
22
4,5
1849
62
1,6
1850
176
0,6
1851
246
1.2
1852
87
1,15
1853
138
0,7
1854
121
3
2,48
1855
12
1856
21
1) Prager, Die Revaccination u. s. w. Aus den Acten des preussischen Medicinalstabes. Berl. Min. Wochenschr. 1S67 u. 1868.
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300
XI. quot;Würdigung und Kritik der Vaccination.
von 100 Er-
im Jahre
erkrankt
gestorben
krankten gestorben
1857
35
1
2,9
1858
64
1859
58
2
3,45
1860
44
3
6,8
1861
56
4
7,14
1862
25
1
4,00
1863
90
1864
120
1
0,83
1865
69
1
1,4
1866
156
8
5,13
1867
164
2
1,22
Es sind von 1835—1865
erkrankt 2662; gestorben 65, von 100 Erkrankten 2,4 In dem Kriegsjahr 1866 ')
erkrankt 156 nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; 8 „ „nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp;nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp;5,13
Im Jahre 1867 „nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp;164 „nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; 2 „___„_ „nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp;1,22
In Sa. erkrankt 2982 gestorben 75 von 100 Erkrankten 2,15
Es starben also in der zehnjährigen Periode vor Einführung der Revaccination, und während ihrer anfangs nur probeweisen An­wendung jährlich im Durchschnitt 45 Mann an den Blattern — nach ihrer allgemeinen Einführung, während eines Zeitraums von 33 Jahren (1835—1867) alljährlich noch nicht volle 3 Mann (2,27). Oder, wie die Tabelle bei Prag er zeigt, im ersten Jahrzehnt dieser Periode durchschnittlich im Jahre 3,6 Mann, im zweiten und dritten Jahr­zehnt je 1,3 und 1,2 Mann; und in den 5 Jahren 1847, 1855, 1856, 1858 und 1863 erlag Niemand im Heere der Krankheit, während ihr gleichzeitig die Civilbevölkerung des Landes keinen unerheb­lichen Tribut zollte. Kussmaul berechnet für die beiden Jahre 1853 und 1854, dass in der unvollkommen geimpften Civilbevölkerung, wo 6734 und 7490 Blatterntodte vorkamen, 1 Mensch auf 2300 bis 2500 Einwohner an den Pocken starb, während in dem gut revac-cinirten Militär 1 auf 45,000 und 124,000 entfiel. •
Ein glänzenderes Zeugniss für die Eevaccination scheint kaum möglich zu sein, und doch werden die Erfahrungen in der preussischen
1) Sowol in diesem Kriegsjahre, sowie in dem nächsten Jahre konnte die Impfung der Rekruten nicht rasch genug bewältigt werden.
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Erfolge der Revaccination.nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; 301
Armee von Bayern, Baden und Würtemberg überboten. Nach dem Bericht des bayrischen Kriegsministeriums (im englischen Blau­buche) verlor die bayrische Armee vom J. 1844, wo die Revacci­nation bei ihr obligatorisch wurde, bis 1855 keinen Mann durch die Blattern. — In der Armee des Grossherzogthums Baden sind von 1840—1868, in 29 Jahren, 100,546 Revaccinationen ausgeführt; 34 erfolgreich und 325 nicht oder erfolglos Revaccinirte wurden von Blattern befallen; Sterbefälle kamen während dieser Zeit 2 vor (1840 und 1859). In den 13 Jahren vor Einführung des Revacci-nationszwanges waren 11 Mann an Blattern gestorben. Dabei hatte sich die Stärke des badischen Militärs von etwa 4500 Mann in den dreissiger Jahren auf 7—8000 in dem sechsten und siebenten Jahr­zehnt vermehrt, im J. 1868 auf 10,900').
Von den 7—9000 Mann, welche das würtembergische Truppen­corps zählte, erkrankten in den 22 Jahren, 1848—1870, 51 Mann, die meisten leicht, und kein Todesfall erfolgte, während in demselben Zeitraum das Land und die Residenz Stuttgart seine drei heftigsten Pockenepidemien in der Neuzeit durchmachte (Cless).
Was die Revaccination dem Heere unter den ungünstigsten Um­ständen zu leisten vermag, hat endlich der letzte deutsch-französische Krieg gelehrt, wo überall in Frankreich Blattern herrschten, und die deutschen Soldaten mit denselben, vornehmlich in den Quartieren, in die engste und andauernde Berührung traten. Es fehlt noch der officielle Gesammtbericht über die Pocken des deutschen Heeres während des Feldzuges. In die Lazarethe eines Theiles desselben, des Werder'schen Corps, dessen Stärke zwischen 24—50,000 M. schwankte, wurden während der Dauer des Krieges 17,000 Patienten mit inneren Krankheiten aufgenommen, unter denen sich nur 266 Vario-löse, ältere Mannschaften, mit 15 Todesfällen befanden, während die französischen Soldaten schwer von der Seuche litten. Lorinser meint nun zwar, dass sich im Kriege die Verhältnisse der sieg­reichen Armee mit denen der besiegten nicht in Parallele stellen lassen, aber Lievin weist im Gegentheile, an den sehr ungünstig situirten französischen Gefangenen in Danzig, schlagend nach, wie die kurze Dauer der Pockenepidemie unter denselben, ihr geringer Umfang und die sehr massige Lethalität der schnell und energisch durchgeführten Revaccination zu danken war, indess die besser ge­stellte Civilbevölkerung, in welcher die Impfungen langsam und
1) Kussmaul, Zwanzig Briefe überMenscheupocken und Kuhpockeuimpfung. Freiburg 1870.
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302nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; XI. Würdigung und Kritik der Vaccination.
ungenügend von statten gingen, lange und heftig mit der Seuche zu ringen hatte.
Wo die Vaccinewirkung nicht mehr krüftiy genug ist, die variolöse
Infection ganz abzuschlagen, da reicht ihr Einjluss noch so weit, um
die echte Variola auf die niedrigere und gefahrlosere Stufe der
jnodißcirten Pocke herahzudrücken.
In dem unbestimmten Zeiträume, welcher zwischen der vollen Immunität des geimpften Individuums, und der abermaligen gänz­lichen Entblössung von dem vaccinalen Schütze liegt, entfaltet die Vaccine ihre modificirenden Eigenschaften auf die variolöse Empfäng­lichkeit, vermöge deren nicht die legitime Krankheit, sondern ein Bruchstück derselben, zuweilen ein, kaum kenntliches Rudiment zum Ausbruch gelangt. Die ganz überwiegende Mehrzahl der Geimpften erkrankt, in späteren Jahren von Pocken angesteckt, an der durch die Vaccine gemilderten Variola.
Die Vaccine bewirkt diese Einschränkung der variolösen Anlage nicht allein; die Inoculation der Blattern thut das Nämliche, und ausserdem gibt es eine angeborene Eigenthümlichkeit der Organi­sation, welche, bei einer kleinen Zahl weder geimpfter noch inocu-lirter Individuen niemals schwere, echte Pocken, sondern nur modi-ficirte aufkommen lässt, so oft und so intensiv die Gelegenheit zur Ansteckung geboten wird. Es sind daher Varioloiden lange vor der Inoculation und Vaccination vorgekommen und bei Ungeimpften auch heute keine zu grosse Seltenheit, so dass die Variola modificata keineswegs (wie Manche geglaubt haben) erst ein Erzeugniss jener beiden Schutzverfahren geworden sei. Allein die steigende Ver­breitung, welche die Varioloiden in unserm Jahrhundert, parallel der stetigen Verallgemeinerung der Vaccination, gewonnen haben, muss als ein Werk der letzteren angesehen werden, wie an der Hand der Geschichte klar zu verfolgen ist. Die Varioloiden traten im ersten Decennium vereinzelt auf, begannen im zweiten von Jahr zu Jahr sich zu häufen, und erreichten dann unter den geimpften Bevöl­kerungen eine solche Extensität, dass sie sogar als neue Krankheit imponirten. Seitdem hat die modificirte Variola einen festen und hervorragenden Platz in der MorbilLtat aller der Länder eingenommen, welche der Vaccination zugethan sind, während in den übrigen die echte Variola ungeschwächt die Oberhand behalten hat.
Das englische Blaubuch über Vaccination und die nachfolgende Literatur bergen einen Ueberfluss an Beobachtungen, welche diesen
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Die Vaccine und die Variola modificata.nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp;303
grossen historischen Beweis im Einzelnen durchführen, und hier hat auch die Hospitalsstatistik ihre Berechtigung.
Innerhalb der 20 Jahre 1837—56 wurden 6213 Blattemkranke im allgemeinen Krankenhause zu Wien behandelt, von denen 1323 an Variola vera, und 4880 an Var. modificata litten. Auf die 5217 Ge­impften kommen
732 Fälle von echter Variola = 14,0 pCt. und 4485 von modificirternbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp;= 85,9 pCt.
Auf die 996 Ungeimpften dagegen fallen
591 Kranke mit echter Variolanbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp;= 59,3 pCt.
und 405 „nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; „ modificirternbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; = 40,6 pCt.
Nach Quincke (Charite-Annalen 1855) waren in den fünf Jahren 1849—1853 in Berlin angemeldet 1949 Blatternkranke. Da­von hatten Variola vera 175 Ungeimpfte und 188 Geimpfte, Variola modificata 57 Ungeimpfte und 1529 Geimpfte.
Auf die 1717 Geimpften entfallen 55 Todte = 3,2 pCt. „ „ 232 Ungeimpften „ 86 „ = 37 pCt.
In der Prager Epidemie 1858.59 behandelte das Franz-Joseph Kinderspital intern und ambulatorisch 168 Blatternkinder. Unter den 48 Geimpften war bei 39 der Ausbruch der Pocken meist spärlich, und der Verlauf gelinde; bei fast allen 120 Nichtgeimpften war die Eruption stark, die Blattern confluirten häufig und wurden mitunter hämorrhagisch. Von den letztern starben 24 = 20 pCt, dort von 48 nur 1 = 2,08 pCt. (Lösebner 1. c.).
In allen späteren Epidemien hat sich endlich die Erfahrung wiederholt, welche Robert zu Marseille im J. 1828 bestimmt aus­sprechen konnte, dass von den, in die Epidemie hineingezogenen Vac-cinirten die vor längerer Zeit Geimpften erheblich schwerer er­krankten, als diejenigen, bei welchen die Vaccination jüngeren Datums war.
Ich greife auch hier auf die militärischen Revaccinationen zurück. Unter den im Jahre 1866 an Blattern erkrankten 156 preussischen Soldaten (s. Prager a. a. 0.) wurden 142mal Varioloiden und 14 mal Variola vera beobachtet.
Auf Nicht-Revaccinirtenbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; kamen 91 Erkrankungen = 58,33 pCt.
Auf Erfolglos-Revaccinirtenbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp;„39nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp;nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; =25 pCt.
Auf Erfolgreich-Revaccinirte „26nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp;,nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; = 16,66 pCt.
Die 14 Fälle von echten Variolen betrafen 13 mal Nicht-Revac­cinirte, und 1 Erfolglos-Revaccinirten. Von den 8 Todesfällen kamen 7 auf Variola vera, 1 auf Variola modificata.
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304nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; XI. Würdigung und Kritik der Vaccination.
Dass in diesen Zahlen kein Zufall spielt, lehrt das Jahr 1867: 164 Erkrankungen mit 153 Varioloiden und 11 echten Blattern.
Nicht revaccinirtnbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp;waren 94 = 57,32 pCt.
Erfolglos revaccinirt „ 34 = 20,73 pCt.
Mit Erfolg revaccinirt „ 36. = 21,95 pCt. Die 11 Fälle von Variola vera und die beiden Todten gehören den Nicht-Kevaccinirten an.
Ein Blick auf die Geschichte der Blattern von 1800 bis heute muss dem Vorurtheilslosen die Ueberzeugung aufzwingen, dass die Seuche, welche einstmals, in naturwüchsiger Wildheit, ohne Unter­schied die civilisirten Nationen, wie die Völker der niedersten Cultur-stufen lichtete, in den letzten 70 Jahren unter die Gewalt eines ihr feindlichen Ereignisses gebeugt worden ist.
Mag immerhin ein verschleiertes Naturgesetz mitgewirkt haben, als die, um den Anfang des Jahrhunderts überall hausenden Blattern­seuchen in den ersten fünfzehn Jahren desselben ziemlich jäh ab­brachen — mögen um diese Zeit, wie freilich von gegnerischer Seite viel zu stark betont wird, zahlreiche Quellen des Blatterngiftes mit dem Aufgeben der Blatterninoculation versiecht sein — mag dem­nach der Vaccination ein nur massiger Antheil au dem plötzlichen Umschwünge der variolösen Constitution beigemessen werden, so tritt die Wirkung der Impfung auf die Blattern um desto klarer mit jedem folgenden Jahrzehnt ans Lieht.
Es erscheint zunächst beachtcnswerth, dass die Blatternpause, welche im ersten Decennium beginnt, etwa so viel Jahre ausfüllt, als wir die Schutzdauer der ersten Impfung zu veranschlagen pflegen.
Aber bricht nun, da dieser Schutz seinem Ende sich zuneigt, die gleichsam entfesselte Seuche wieder in alter Wuth hervor? Mit nichten; nur an den Ungeimpften erprobt sie ihre gewohnte Macht, bei den Geimpften dagegen ändert sie die Form, und biisst zu­gleich an Bösartigkeit ein. Die Zahl solcher gemilderten Erkran­kungen wächst nun jährlich mit der Zunahme der Geimpften. Fortan herrschen über zwei Decennien die Varioloiden, und legen der be­stürzten Menschheit immer dringender die Aufforderung nahe, die versiechende Kraft der ersten Impfung durch eine zweite wieder her­zustellen. Nur zögernd schenkt man der Mahnung Gehör, und immer häufiger folgen einander lokale und weitverbreitete Blatternepidemien; in manchen Ländern gehen dieselben kaum mehr aus. Endlich greift
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Rückblick auf die Blattern von 1800 bis heute.nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; 305
auch wieder die echte Variola dreister, neben der modificirten, Platz; zwar in den Ländern, wo der Vaccination nothdürftig Genüge geschieht, selten in dem Alter bis zu 15 Jahren, um so öfter im dritten und vierten Lebensdecennium, wo der Schutz der Jugend­impfung meist gänzlich erstorben ist, und die Erwachsenen, wie ungeimptte Kinder, den Blattern gegenüberzustehen kommen.
Es ist Thatsache, dass die Blattern, lange Zeit eine unheim­liche Tradition, in den drei letzten Jahrzehnten immer mehr in den Vordergrund getreten sind, und namentlich in den letzten Jahren fast die ganze Erde mit dem alten Schrecken erfüllt haben, für den grossen Haufen der Gebildeten und Ungebildeten eine will­kommene Gelegenheit, die Vaccination zu schmähen, deren man sich mit Lauheit bedient hat, und der Eevaccination zu misstrauen, welcher man. das Bürgerrecht verweigert. Und doch zeigt die Ge­schichte der verflossenen dreissig bis vierzig Jahre in allen Ländern, welche darüber berichtet haben, den Parallelismus, in welchem sich die verschiedenen Formen der Blattern mit dem zeitweiligen Betriebe der Vaccination und der Revaccination bewegen. Frankreichs unge­ordnete Impfzustände haben sich, seit den zwanziger Jahren, in unaufhörlich wiederkehrenden, oft über das ganze Land verbreiteten und meist furchtbaren Epidemien abgespiegelt. Russland ist gleich­falls einer ganz anderen, als der bestehenden Impfpraxis dringend benöthigt. In Oestreich und Preussen, wo die Vaccination bisher eine bessere, wenngleich lange nicht die richtige Pflege gefunden hatte, hat sich die Vernachlässigung der Revaccination gerächt durch eine fast periodische Wiederkehr von Blatternepidemien, in welchen dann zu spät die Pflicht nachgeholt wurde, deren Versäumniss bereits Vielen das Leben gekostet. Bayern, Würtemberg und Baden sind mit ihrer obligatorischen und strenge gehandhabten Jugend­impfung, und durch den verbreiteten Gebrauch der Revaccination lange Zeit in der glücklichen Lage gewesen, keine schweren und anhaltenden Epidemien zu kennen, bis die, gerade hier üppig auf-wuchemde Anti - Impfagitation die Bevölkerungen um die schönen Früchte ihrer alten Impfgesetze brachte.
Nachdem das englische Blaubuch über die Vaccination erschienen ist, und viele ergänzende Daten den Wcrth der ersten und der zweiten Impfung seither bestätigt haben, müssen die Acten über die Fragen, welche uns bisher beschäftigt haben, als geschlossen be­trachtet werden. Alle ferneren, mit grösserer Sorgfalt und Umsicht, nach dieser Richtung hin gesammelten Beiträge werd:n im Interesse
Bahn, Handbuch der Vaccination.nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp;20
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306nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; XI. Würdigung und Kritik der Vaccination.
der Wissenschaft stets willkommen, und nothwendig sein, um uns be­ständig über die Scbutzkraft der Vaccine im Klaren zu erbalten, aber sie können für solcbe Gegner als überflüssig eracbtet werden, welche sieb nicht entschliessen mögen, ihren Sinnen und ihrem Verstände mehr zu trauen, als Vorurtheilen und willkürlichen An­schauungen.
Wie mächtig indess eine wohl und vollständig ausgenutzte Vacci­nation befunden werden mag, die thörichte Anmassung der früheren Zeit, die Blatternkrankheit, durch wiederholte Impfungen aller Indi­viduen, ausrotten zu wollen, hegen wir nicht. Das kann niemals geschehen, weil sich stets eine grosse Zahl von Individuen in jenem intermediären Zustande der zwar abgeschwächten, aber in einem gewissen Grade bestehenden Empfänglichkeit für die Variola befinden muss, und die besonders intensive Pockenanlage eines kleineu Theils der Gesellschaft ausser aller Berechnung liegt. Aber den verheeren­den Zügen der Seuche, und den vielen schweren Einzeler­krankungen kann durch Jenner's Entdeckung eine Schranke ge­zogen werden. Gross ist schon beute der Gewinn, welchen ihr die Völker schulden, und die Annahme wohl berechtigt, dass die allge­meine und volle Ausnutzung des Schutzmittels im Stande sein wird, die Blattern dauernd zu einer seltenen und, für das Ganze, unschäd­lichen Krankheit zu machen.
Die Gefahren der Iinpfnng.
Wird der Gewinn an Menschenleben, Gesundheit und Sicber-heitsgefühl, welchen die Vaccine gebracht hat, durch Schädigungen und Verluste, die untrennbar von ihr sind, nicht ausgeglichen, oder gar überwogen? Die Gegner der Impfsache bejahen das. Seit der Verallgemeinerung der Vaccination, so lautet ihre Behauptung, mithin in Folge derselben, hätten einige acute Constitutions-Krank-heiten (z. B. der Typbus), und, was schlimmer, gewisse chronische Leiden überband genommen; an diesen sieche jetzt die Menschheit in ausgesprochener Weise, und es fielen ihnen ununterbrochen mehr Opfer an Gesundheit und Leben, als je von den mörderischen Blattern-Epidemien verschlungen worden seien. Heruntergekommene Generationen, ein schwächliches und kränkelndes Geschlecht seien der Preis, womit die Eindämmung der Blatternseuche bezahlt worden.
Dieser verderbliche Einfluss der Vaccination kann, durch ver­gleichende Morbilitäts-Zahlen aus den Perioden vorher und
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Die Gefahren der Impfung. Rachitis.nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp;307
nachher, natürlich nicht helegt werden, sondern beruht auf Schätzung und auf dem vagen Eindruck, welchen der Einzelne von den Krank­heiten seiner Zeit empfängt. Allein diejenigen, welche den körper­lichen und geistigen Verfall der Menschen seit 1800 betrauern, sollten eingedenk sein, dass ihre Klage keineswegs neu, und vor diesem Jahre ebenso oft gehört und nicht geglaubt ist, als heute. Und was den Sinn der Klage betrifft, so lässt sich mit solchen trostlosen An­schauungen von der heutigen Gesellscliaft schwer in Einklang bringen, wie ein, durch die Vaccine heruntergekommenes Zeitalter geistig zu den riesenhaften Leistungen befähigt gewesen ist, welche das XIX. Jahrhundert stets auszeiclmen werden. Auch erscheint es selbst­verständlich, dass, seit die Blatternsterblichkeit erheblich beschränkt ist, in den stark angewachsenen Bevölkerungen mehr Individuen an anderen Krankheiten leiden und sterben können, als früher.
Die Ankläger der Vaccination vereinigen sich zunächst darin, dass Rachitis, Scrophulose und Tuberkulose erst durch die Kiihpockenimpiüug so allgemein geworden seien, als sie gegenwärtig fast überall vorgefunden werden. Die Art dieser Verbindung wird freilich sehr verschieden und unklar gedacht. Nach den Einen soll die Amalgamirung der thierischen Lymphe mit den menschlichen Säften zu nachtheiligen Veränderungen der letzteren disponiren. Andere lassen die substantiellen Keime der genannten Krankheiten mit der Kuhpockenlymphe übertragen werden.
Die Rachitis, eine sehr alte Krankheit, wurde seit dem XVII. Jahrhundert der Gegenstand der allgemeinen Aufmerksamkeit, als sie in England in förmlich epidemischer Weise um sich zu greifen begann. Glisson's berühmte erste Schrift (1658) rief, bis zum Schlüsse des XVIII. Jahrhunderts zahlreiche Mittheilungen in allen Ländern hervor. War die Krankheit überall plötzlich entstanden? oder wurde sie nur öfter gesehen, weil man sie besser kannte, und von anderen Krankheiten unterscheiden gelernt hatte?
Sogenannte Keime der Rachitis werden nicht von aussen her in das Kind hineingelegt, sondern die allgemeine Ernährungs-Stöfung des wachsenden Körpers, welche eben diese Krankheit bezeichnet, bildet sich langsam aus einer, dem frühen Lebensalter durchaus unan­gemessenen Nahrung, und aus den übrigen hygieinisehen Schädlich­keiten, von denen hier namentlich die verdorbene Athmungsluft ge­nannt werden muss, hervor. Es steht daher in unserer Gewalt, die Kinder im ersten und zweiten Lebensjahre, wie Guerin seine
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jungen Thiere, rachitisch zu machen, und zahlreiche Mütter ahmen dieses Experiment, unbewusst, aber in durchaus gelingender Weise nach. Mit voller Sicherheit lässt sich die Ernährung solcher Kinder später von ihren Gliedern ablesen.
Dass eine derartige, in der Nahrung und der gesammten Hygi-eine wurzelnde Krankheit sich aufs Innigste mit den Erwerbs- und den übrigen socialen Verhältnissen der Zeiten und Bevölkerungen verwebt, liegt ebenso auf der Hand, als dass derjenige die Krank­heit nur dem Namen und den Symptomen nach kennt, welcher diesen Zusammenhang und jene Bedingungen derselben übersieht oder läugnet.
Aehnlich verhält es sich mit der Scrophulose, nur dass die fehlerhafte Ernährung, in den meisten Fällen wenigstens, noch durch eine ungünstige erbliche Anlage der Gewebe in ihren krankhaften Folgen unterstützt, und in eine bestimmte Richtung geleitet wird, und dass diese verderblichen Einflüsse einer weiter vorgeschrittenen Phase der kindlichen Entwickelung, als die Rachitis, zu ihrer Mani­festation bedürfen.
In den einzelnen Symptomen von Alters her hinlänglich be­kannt, datirt die Scrophulose als grosse Krankheitseinheit aus dem vorigen Jahrhundert, wo ihre Häufigkeit die ärztliche Welt nöthigte, eine feste Stellung zu ihr zu nehmen. Die wiederholten Preisausschreiben der kgl. Akademie zu Paris (1750), der medici-nischen Akademie (1781), und der kaiserl. Akademie der Natur­forscher in Deutschland riefen eine Anzahl schöner Arbeiten über die Krankheit ins Leben. Ich weiss zwar sehr wohl, dass ihre da­malige Verbreitung der Blatterninoculation, mit welcher sie das Jahrhundert theilt, in die Schuhe geschoben ist — ein Hauptvor­wurf ihres heftigen Gegners de Haen —, aber wer beides zeitlich verfolgt, erkennt leicht, dass die lebhaftere wissenschaftliche Be­mühung um die Scrophulose zu einer Zeit beginnt, wo von einem nennenswerthen Einfluss der Inoculation auf die Bevölkerungen keine Rede sein konnte.
Was die Klage über ihre bedeutende Steigerung in den beiden Generationen dieses Jahrhunderts bedeutet, kann man aus den Schriften von Baudelo que, Baumes, Kortum, Hufeland u. A. entnehmen. Thomas White beginnt seine Abhandlung über die Scropheln und Kröpfe ^ vor 100 Jahren mit dem Satze, dass schwer­lich eine Krankheit, Blattern und Masern ausgenommen, allgemeiner
1) Aus dem Englischen. Offenbacli 17S8.
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Die Gefahren der Impfung. Scrophulose und Tuberkulose.nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp;309
in England sei, als eben die Seropbeln, und dass es Vermmdeniug errege, warum dieses Uebel nicht längst weit grössere Beachtung seitens der Aerzte erlangt habe.
So dominirte die Krankheit, als das Wort Vaccination noch nicht erfunden war, und so ist es heute in manchen fernen Ländern. „Die Scropheln, sagt Po lack1), sind nirgends so häufig, als in Persien, wo die Kuhpockenimpfung so gut, wie garnicht geübt wird.quot;
Darf man den, seit dem vorigen Jahrhundert stetig wieder­holten Behauptungen der Schriftsteller trauen, so besteht allerdings zwischen der Inoculation und Vaccination und der Scrophulose ein Verhältniss. Der im Kinde schlummernde Keim der letzteren soll durch den vaccinalen Entzündungs- und Verschwärungsprocess auf der Haut, sowie von dem begleitenden Fieber geweckt, und gering­fügige Symptome des Leidens selbst zu deutlicherer Aeusserung ge­steigert werden können. Leb er t bemerkt hierzu, es habe ihm öfters geschienen, dass, selbst bei der vorsichtigsten Wahl des Impf­stoffes, das Impfen eine bestehende scrophulose Disposition zur Ent-wickelung bringe. Die Vaccine soll das natürlich nicht allein ver­mögen, sondern diese Fähigkeit mit den Blattern, den natürlichen und inoculirten, mit den Masern, dem Scharlach u. s. w. gemein haben.
Die Tuberkulose gar, welche, nach dem neuerdings gewon­nenen, experimental - pathologischen Standpunkte, für die überwie­gende Mehrzahl der Erkrankungen den destruetiven Ausgang chro­nisch-entzündlicher Processe darstellt, verliert in dieser Eigenschaft jeden Zusammenhang mit der Vaccine. Leicht hingeworfen sei die Notiz, dass auf den Bergen Mexikos, dem bekannten Eldorado der Schwindsüchtigen, wo kein einheimischer Leidensgenosse ihnen be­gegnet, die Vaccination ein erheblich höheres Alter hat, als in Europa.
Eine Contagiosität irgend welcher Art kann bei der Rachitis und Scrophulose nicht existiren, und die Einimpfung der Tuberkulose, welche seit Villemin durch zahlreiche Experimente herbeigeführt ist, beruht auf mechanischen Bedingungen, und nicht auf speeifischen Elementen.
Das vaccinale Virus aber besitzt, wie an verschiedenen Stellen dieses Buches bemerkt werden musste, eine derartige Selbstständig­keit und Abgeschlossenheit, dass, selbst in den Complicationsfallen der Vaccine mit den echten Blattern, die Impfung aus den Kuhpocken
1) Wochenblatt der Zeitschr. der Wiener Aerzte. 1857. S. 44.
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nie die Mensclienblattern überpflanzt, sondern ungeschmälert nur die Vaccine weiter fortsetzt.
Eachitis, Scropluüose und Tuberkulose sind sociale Krankheiten, abhängig zum grössteu Tb eile von dem jedesmaligen Zustande der Gesellschaft, und ziemlich gleichen Schritt mit ihm haltend. Die weitverzweigten Wurzeln, welche diese Uebcl durch die moderne Gesellschaft getrieben haben, saugen die Nahrung nicht aus den Jenner'schen Bläschen, sondern aus den zahllosen, mit der fort­schreitenden Culturcntwickelung und der veränderten Lebensweise des Zeitalters enge verknüpften Missständen. Die immer häufigere, gemeinhin fehlerhafte, künstliche Ernährung der Säuglinge, das rapide Anwachsen und die gedrängte Bevölkerung der grossen Städte, das üppig treibende Fabrikwesen, die verwickeiteren Lebensverhältnisse mit der wachsenden Schwierigkeit des Erwerbes — das sind die ergiebigen Quellen jener körperlichen Leiden, denen wir heutzutage, leider zu oft, begegnen.
Es soll endlich auch die Frequenz des Typhus unter den vac-cinirten Bevölkerungen bedeutend gewachsen sein. Die Geschichte der epidemischen Krankheiten weiss nichts davon. Sie hat nach­gewiesen, dass der Typhus vom Ende des XV. Jahrhunderts bis auf unsere Zeit vielfache Wandlungen in seiner Erscheinungsweise und in seinen anatomischen Localisationen durchgemacht, oft auch nur den Namen gewechselt hat.l) Wir fassen daher jetzt eine Anzahl von Erkrankungen unter derselben Bezeichnung Typhus zusammen, welche in den symptomatischen Bildern der früheren Zeiten getrennt erscheinen. Die epidemischen Petechialfieber des XVI., XVII. und des halben XVIII. Jahrhunderts, die ungarische Krankheit, die fau­ligen Gallenfieber der Niederlande und Belgiens, die Faulfieber mit ihrem pandemischen Culminationspunkte in den Jahren 17G9—1772, die späteren Schleim- und Nervenfieber u. s. w. — sie alle variiren die heutige Typhus-Einheit, und geben unseren Tagen keine Ver­anlassung, sich, in diesem Punkte, nach einen Tausch mit vergan­genen Zeiten zu sehnen.
Läge in der vermeintlichen Begünstigung des Typhus durch die Vaccination ein Sinn, so müsste sich derselbe im jug.endlichen Alter, welches den frischesten Einfluss der Vaccine empfindet, am stärksten verbreitet zeigen; und doch hat es langer Anstrengungen bedurft um den Typhus infantilis nicht als die Seltenheit, wofür er galt,
1) Hecker, Geschichte der neueren Heilkunde. Berlin 1S39. S. ISO. — A. Hirsch, Histor.-geogr. Pathologie.
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Die Gefahren der Impfung. Typhus.nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp;311
erscheinen zu lassen. Umgekehrt werden die Jahre, wo die Schutz­kraft der Jugendimpfung auf die Neige zu gehen pflegt, durch den Typhus hauptsächlich gefährdet. Auch sind Typhusländer keines­wegs immer die Pflegestätten der Vaccination. In keinem Lande gedeiht Typhus so häufig als in Persien, wo die Impfung ganz dar­nieder liegt. Oft erkrankten, wie Po lack (am eben angeführten Orte) berichtet, in einem neu angekommenen Eegiment mehr als die Hälfte der Soldaten, während kaum der hundertste Mann vaccinirt war. Auf Java hingegen, wo die Vaccination seit den zwanziger Jahren blüht, fehlt der Typhus unter den Eingeborenen, und wird nur bei Europäern beobachtet, welche vor Kurzem aus ihrem Heimath-lande gekommen sind.
Der gedachte Vorwurf gegen die Vaccination wurde neuerdings mit Emphase wieder aufgewärmt, als in den Franke'schen Stiftungen zu Halle a. S. jene merkwürdig begrenzte Typhusepidemie, imquot; Juli und August 1871, fast die Hälfte der Bewohner ergriff, nachdem, Ende Juni und Anfang Juli, vielleicht zwei Drittel derselben, wegen bösartiger Pocken in der Stadt, vaccinirt war. Leider lieferte sehr bald die verunreinigte Wasserleitung der Stiftungen den allein passen­den Schlüssel zu dieser Endemie. Französische Schriftsteller, beson­ders Car not, hatten gelehrt, dass die (von der Vaccine) unterdrückte Variola durch den Abdominal-Typhus ersetzt sei, welcher nichts anderes, als eine Variola, mit intestinaler Eruption, wäre. In dem Hallenser Waisenhaus schloss eine Krankheit die andere nicht aus, so dass von 19 Pockenkranken 12 später typhös erkrankten, und der Patient, welcher die schwersten Blattern überstanden hatte, dem Typhus erlag').
Das sind die eingebildeten Gefahren der Vaccination.
Die wirklichen erwachsen anderwärts, und können ohne will­kürliche Auslegung der Pathologie begriffen werden. Sie gehen vom Erysipel und von der Syphilis aus. Mit leuchtender Schaden­freude weiden sich die Impfgegner, und neuerdings auch einige Be­sitzer von Instituten für auimale Lymphe, au den veröffentlichten Beispielen dieser Folgekrankheiten der Vaccine, dieselben, bei der Syphilis, weit übertreibend, und die wahre Sachlage des Impferysipels verdunkelnd. Im sechsten Abschnitte habe ich gezeigt, dass die Impfrose, im Verhältniss zu der Anzahl der öffentlichen und Privat-
]) Zuckschwerdt, Die Typhus-Epidemie im Waisenhaus zu Halle a. S. Halle tS72.
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312nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; XI. Würdigung und Kritik der Vaccination.
Impfungen, ein ausnalimsweiser Unglücksfall genannt werden muss, class dieselbe vielmehr zu den traurigen Vorrechten der Findelhäuser gehört, und deren hygieinische und administrative Missstände be­gleitet. Anstatt die AYafifeu gegen die letzteren zu richten, wird die Vacciuation untergeschoben. Die Berichte über das Impferysipel der Findelhäuser bilden vielleicht den schwärzesten Punkt in der Jenner'scheu Entdeckung, berechtigen aber nimmermehr zu einem verdammenden ürtheil, weil sie am wenigsten geeignet sind, die gute Sache selbst blosszustellen.
Die Syphilis im Gefolge der Vacciuation. Iiu|raquo;fsy|raquo;hilis. Syphilis vaccinata.')
Schon die Inoculation der Menschenblattern hatte den Vorwurf hören müssen, dass mit dem Variolaeiter zugleich Syphilis über­tragen werden könne. Allein man ist im vorigen Jahrhundert nie lebhaft dadurch beunruhigt worden, weil die natürlichen Blattern, in unmittelbarster Nähe, viel schwerer bedrohten, und weil die nur mögliche, aber noch bestrittene Nebengefahr bei der Inoculation vor den oifenkundigen Gefahren derselben ganz in den Hintergrund weichen musste.
Derselbe Engländer, welcher die Inoculation bei dieser Gelegen­heit in Schutz genommen hatte, Moseley, war es, welcher die nämliche Beschuldigung nun zuerst auf die Vaccination wälzte (1807). Ob freilich die abnormen Zufälle nach der Impfung, welche er bei einer Anzahl Personen sah und beschrieb, als Syphilis, oder als Syphilis aus der angegebenen Quelle, zu deuten sind, kann heute nicht mehr entschieden werden.
Im Jahre 1814 versuchte Prof. Monteggia in einem der Mai­länder Akademie vorgelegten Memoire zu beweisen, dass wenn man einen Syphilitischen impft, unmittelbar eine Pustel entsteht, welche die beiden Virus, das vaccinale und das syphilitische, birgt, und dass, wenn aus derselben weiter geimpft wird, beide Virus dem Impflinge mitgetheilt werden. Er lehrte also die Existenz eines doppel­ten Virus in dem flüssigen Inhalte derselben Vaccine-
1) Der Gegenstand kann heute auf eine kritische Ausführlichkeit noch nicht verzichten, und alle summarischen, obenhin fahrenden Darstellungen, wie z. B. die von Reitz (a. a. O.) sind werthlos.
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Die ersten Fälle von Syphilis im Gefolge der Vaccination.nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp;313
pustel. Das Memoire und die thatsächlichen Unterlagen, welche seinem Schlüsse zur Stütze dienten, sind unbekannt geblieben.
Die erste Bestätigung schien die Lehre Monteggia's durch Marcolini zu finden, welcher die Syphilis nach der öffentlichen Impfung zu Udino, im Jahre 1814, epidemisch unter den Vaccinirten auftreten sah. Von 10 geimpften Kindern ward eine erhebliche Zahl angesteckt, welche die Krankheit ihren erwachsenen Angehörigen mittheilten; mehrere Todesfälle kamen vor. — Von einer gleichen epidemischen Verbreitung der Syphilis durch die Vaccination berichtet IS21 ein dritter Italiener, Cerioli zu Cremona; es zeigten sich 40 Kinder, raitsammt den Müttern und den Ammen, inficirt, und 19 Kinder und eine Frau, welche abortirte, starben. Eine zweite Beobachtung desselben Autors umfasst 64 Angesteckte mit 10 Ge­storbenen (8 Kindern und 2 Frauen).
In Frankreich wurde der Gegenstand 1831 aufgenommen, jedoch sofort im entgegengesetzten Sinne erledigt. Bid art hatte von stark syphilitischen Kindern, die er geimpft, theils unbewusst, theils ab-sichtlicli, sechs andere gesunde Kinder vaccinirt, ohne denselben die Krankheit der Stammimpflinge mitzutheilen. Er hielt sich demnach zu dem Ausspruche ermächtigt, dass durch die Vaccine eines con-stitutionell Syphilitischen nur die Kuhpocke, nicht aber Syphilis übermittelt werden könne; und die Pariser medicinische Gesellschaft trat ihm, auf Grund eigener Untersuchungen, 1839 bei.
Nach langer Unterbrechung folgen nun mehrere Fälle, wo angeb­lich durch die Impfung Syphilis verbreitet sein sollte, von Ewertzen in Frederiksborg (1830), Tassani (1843), Pittou (1844), Ceccaldi (1845), Viani(1849), welche, an sich von gar keinem oder zweifel­haftem Werthe, nicht dadurch gewonnen haben, dass sie meist aus einer mehrjährigen Erinnerung hervorgezogen wurden. ')
Um so bemerkenswerther ist der, von Wegeler veröffentlichte Vorgang zu Coblenz (1849)2). Der Wundarzt B. hatte von einem viermonatlichen, gut entwickelten, und anscheinend gesunden Knaben (der sich später als unehelich erwies) nach der amtlichen Annahme
1)nbsp; Nur die von Tassani (Gaz. medic, di Milano 1843) sei erwähnt: Von einem zu Grumello (Provinz Cremona) geborenen, gut entwickelten Kinde, dessen Vater im Jahre 1810 einen Schanker gehabt hatte, wurden 64 (!) Kinder abgeimpft. Bei einem Theile (4fi) derselben traten an den Impfstichen, zur Zeit des Abfalles der Vaccineborken, indurirte Geschwüre und später allgemeine Syphilis auf. Auch die Mütter und Ammen blieben nicht verschont, während bei den andern 18, mit derselben Vaccinlymphe geimpften Kindern die Vaccination normal verlief.
2)nbsp; Wegeier, Preuss. Vereins-Zeitung. 1850. Nr. 14.
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314nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; XI. Würdigung und Kritik der Vaccination.
26, nach des Wundarztes eigenen Angaben 42—44 Personen revacci-nirt. Die Lymphe war, weil die Kuhpocken in der kalten Jahres­zeit (Februar) am 7. und 8. Tage noch geringe Entwickelung zeigten, am 11. und 12. Tage von dem Kinde abgenommen worden. Sie haftete bei fast allen, und die Vaccinen nahmen den regelmässigen Verlauf. Bei 19 Personen, die im Alter von 11—40 Jahren standen, brachen jedoch die Impfnarben nach 3—4 Wochen wieder aut^ und verwandelten sich in syphilitische Geschwüre, und bald traten bei den meisten Erkrankten auch andere Zeichen der Syphilis, Hals­leiden, Ausschläge, Kopfschmerzen u. s. w. ein. Zur Beseitigung derselben waren mitunter sehr durchgreifende Mercurialkuren er­forderlich.
Der Stammimpfling selbst — über den Verlaut seiner Kuhpocken ist nichts gesagt — bekam zu einer nicht näher festzustellenden Zeit nach der Abimpfung einen Ausschlag an der Innenseite der Oberschenkel, an den Nates und im Gesichte, welcher für S3'phi-litisch genommen wurde. Am 18. Tage nach seiner Impfung er­krankte er an „Hirnwasserquot;, und starb am 20.; secirt wurde er nicht.
Die Verurtheilung des angeklagten Wundarztes (zu 2 Monaten Gefängniss und in eine Geldbusse) gründete sich nur darauf, dass derselbe, anstatt am 7. und 8., am 11. und 12. Tage die Lymphe benutzt habe; von den bestimmt am 11. Tage revaccinirten 7 Indivi­duen erkrankten nur 2, während die am 12. Tage Geimpften sämmt-lich inficirt wurden. Als Beweis der vaccinirten Syphilis wurde die grosse Zahl der gleichzeitig und gleichmässig zuerst von den Impfstellen aus Erkrankenden, welche verschiedenen Ständen ange­hörten, betrachtet.
So viel aus der Literatur ersichtlich, hat dieser Fall, trotz der juridischen Sanction, welche dem Urtheile der Wissenschaft Vorgriff, Aerzte und Publikum nicht in dem verdienten Maasse erregt. Und noch weniger vermochte er das Dogma von der Nichtcontagiosität der secundären Syphilis zu erschlittern, womit damals Ricord die ganze Frage eigentlich abschnitt.
Beides blieb dem Processe Hübner vorbehalten, welcher die Syphilis vaccinata zur brennenden Tagesfrage erhob, und ihr fortan das andauernde Interesse der Aerzte, und die ängstliche Be-sorgniss des Publikums, in das sie breit hineingetragen wurde, zuwandte.
Am 16. Juni 1852 impfte der bayrische Gerichtsarzt Dr. Hüb­ner 13 Kinder der Gemeinde Freienfels in Oberfranken, welche.
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Die Syphilis im Gefolge der Vaccination. Der Process Hübner. 315
bis dabin gesund, auch von gesunden Eltern abstammten. Den Impf­stoff lieferte das dreimonatliche Kind der unverehelichten Keller, über dessen Aussehen und Gesundheit die späteren Angaben sehr abweichend lauten.
Vom Impftage bis zum Februar 1853 sieht kein Arzt weder die Geimpften, noch deren Angehörige, unter welchen sich, während dieser acht Monate, mancherlei Krankheitszustände entwickelt hatten.
Auf die vor Gericht gebrachte Beschwerde der geschädigten Eltern fand der von der Regierung entsendete Arzt am 21. Februar 1853: 8 von den (13) geimpften Kindern, und 9 Mütter, oder Pfle­gerinnen, an allgemeiner Lues leidend, was ein zweiter Arzt, einen Monat später, bestätigte. Der Stammimpfling Keller war bereits, 2 Monate nach der Abimpfung, an Atrophie verstorben.
Nach den Aussagen der Angehörigen der erkrankten Kinder soll der Verlauf der Vaccine bei diesen ein anomaler ge­wesen sein: die Impfstiche seien erst spät aufgegangen (nach 14 Tagen und darüber) und hätten sich dann in Geschwüre verwandelt, welche erst nach Monaten verheilten. 3 Monate nach der Impfung wären eiternde Feigwarzen an den Geschlechtstheilen und deren Umgebung, später auch an den Armen entstanden, und gleichzeitig hätten die Mütter und Pflegerinnen einzelner Säuglinge Condylome am After und den Genitalien bekommen. Im Februar 1853 fanden die Aerzte ausserdem Haut- und Rachensyphilis bei Einigen vor.
Fünf von den gleichzeitig geimpften Kindern waren gesund ge­blieben.
Zur Vervollständigung muss bemerkt werden, dass von einem der 8 syphilitisch gewordenen Kinder 25—30 Kinder einer anderen Gemeinde abgeimpft wurden, von denen sich später 1 inficirt zeigte, — dass ferner von einem der 5 gesund Gebliebenen 25 andere Kin­der vaccinirt wurden, von welchen wiederum 1 syphilitisch erkrankte.
Die gerichtliche Untersuchung wider den, der „fahrlässigen Kör­perverletzungquot; angeklagten Dr. Hübner durchschritt drei Instanzen; die Gutachten der ärztlichen Sachverständigen (Dr. Heyfeider und Heine) gingen in den wesentlichen Punkten weit auseinander, und der eclatanten Unsicherheit, worin die Wissencchaft sich blossstellte, hatte der Angeklagte zu verdanken, dass die anfangs auf 1—2 Jahre bemessene Gefängnissstrafe zuletzt in eine sechswöchentliche gemil­dert wurde.
Der Process Hübner brachte eine ungeheure Aufregung in die ärztliche Welt, ein leidenschaftlicher Streit für und wider entbrannte, (siehe den Jahrgang 1854 des Intelligenzblattes bayr. Aerzte), ohne
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316nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; XI. quot;Würdigung und Kritik der Vaccination.
dass die Sache selbst dabei gewonnen hätte. Die Impfsyphilis blieb zweifelhaft.
Nützlicher waren die Untersuchungen, welche von der Gesell­schaft der Wiener Aerzte ausgingen. Dieselbe stellte experimentell fest, dass die an Kindern mit latenter oder offenbarer Syphilis auf­gehenden Kuhpockeu nichts Ungewöhnliches an sich tragen, woraus diese Krankheit erkannt oder vermuthet werden könne, dass mithin die Vaccinen bei Gesunden und bei Syphilitischen in allen sicht­baren Charakteren glcicbbeschaffen seien — eine Thatsache, welche seit jener Zeit hundertfache Bestätigung erhalten hat.
Von anderen Seiten (M on tain in Lyon 184b, Schreier in Regensburg 1850) waren mittlerweile aufs Neue absichtliche Im­pfungen mit der klaren Kuhpockenlymphe von constitutionell-Syphi-litischen vorgenommen, und das Nämliche gefunden worden, was Bid art behauptet hatte, dass eine solche Lymphe nur Vaccine fortpflanze.
Das Chaos der Ansichten über die Transmission der Syphilis durch die Vaccine enthüllte sich vollständig, als England die grosse Untersuchung über die Impffrage angeregt hatte, und John Simon, der Referent des General board of health, die eingelaufenen Ant­worten auf die dritte Frage classificirte (1857).
Die dritte Frage des englischen Gesundheitsrathes lautete: Hat man irgend einen Grund zu glauben oder zu vermuthen, dass die aus einer echten Jenner'sehen Pocke genommene Lymphe jemals zum Vehikel syphilitischer Ansteckung für eine vacciuirte Person wird? Die vorsichtige Frage lässt die Möglichkeit zu, dass bei der Vaccination Syphilis übertragen werden kann, wenn der Impfarzt z. B. eine speeifische Efflorescenz für eine echte Kuhpocke genom­men hat.
. Die Antworten der 539 Correspondenten sind in folgenden vier Kategorien zusammenzufassen.
Ein Theil verneint kurzweg die Frage, theils aus theoretischen Gründen — wegen der Eigenartigkeit der Ansteckungsstoffe, die keine Vermischung eingehen — theils aus einer langen und reichen Erfahrung. (Chomel, Rostan, Rayer, Velpeau, Ricord, die grosse Mehrzahl der englischen Aerzte.)
Die zweite Kategorie, die ganze östreichische Schule mit 0 p p o 1 -zer, Sigmund, Hebra an der Spitze, bestreitet die Möglichkeit der vaccino-syphilitischen Inoculation auf Grund der vorhandenen direc-ten Gegenbeweise (s. oben). Ihnen schliesst sich Sir John Simon,
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Die Impfsyphilis vor d. Gen. board of health. — Viennois.nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp;317
an. Beide Kategorien erklären ausserdem, dass, in den gegen-theiligen Beobachtungen der Praxis, die fragliche Transmission der Syphilis unerwiesen sei.
Die dritte Klasse umfasst diejenigen Aerzte, welche die bis da­hin veröffentlichten Beobachtungen von Syphilis vacc. zwar nicht für absolut beweiskräftig erachten, jedoch keinen physiologischen Grund entdecken können, warum der Inhalt einer Impfpustel, als Sekret der Säftemasse, nicht ebenso gut, wie das Blut von Syphilitischen, das specifische Contagium führen solle — während die vierte Kate­gorie (tu A. Bamberger, Rinecker, Whitehead) nicht blos diese Möglichkeit begreift, sondern die wirklich stattgefuudene Ueber-tragung von Vaccine und Syphilis als thatsächüch festgestellt be­trachtet.
Das war der Ausgang jener grossartigen Untersuchung: auf beiden Seiten Behauptungen und vermeintliche Thatsachen, durch die achtungswerthesten Namen vertreten, — und dennoch für den­jenigen, welcher weder der Majorität, noch der Autorität folgen mochte, keine Entscheidung. Viel werthvolles Material war aufge­häuft, und doch stand der streitige Punkt unverrückt da; nach wie vor blieb es Jedem überlassen, sich auf die Seite der grösseren Wahrscheinlichkeit zu schlagen.
Da schien, im Jahre I860, ein Hospitalarzt zu Lyon, Dr. Vien­nois den Faden in dem Labyrinthe aufgefunden zu haben, und es gebührt ihm unbestreitbar das Verdienst der neuen Auffassung, ob­gleich die Vermuthungen Anderer vor ihm (eines 0mod ei 1823, Levret 1848, Rollet 1859) schon in gleicher Richtung sich be­wegt hatten.
Viennois1) hat alle, damals publicirten Fälle von constitutio-neller Syphilis im Gefolge der Impfung 2) aus den Quellen zusammen­gestellt, und gefunden, dass sie in zwei Gruppen sich scheiden. Die erste begreift die Fälle, wo die Personen, zur Zeit der Vaccination oder Revaccination, bereits mit latenter Syphilis behaftet waren, welche nach der Impfung hervortrat, oder, wie Viennois annimmt, durch die Impfung zu schnellerem Ausbruche gebracht wurde (die Fälle von Pittou, Ceccaldi, mehrere von Whitehead). Die
1)nbsp; Arcli. gen. de Mamp;i. 1S60.
2)nbsp; Es waren inzwischen noch mehrere Beobachtungen von Monnel in New-York (1857), Whitehead (1S59) und Lecocq (1860) dazugekommen, welche zu kurz oder voller Lücken sind, um irgend welche Beweiskraft beanspruchen zu können.
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318nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; XI. quot;Würdigung und Kritik der Vaccination.
Individuen der zweiten Gruppe dagegen waren gesund, und wurden syphilitisch durch den Act der Vaccination.
Ist es die Vaccinlymphe selbst, fragt Viennois, welche in diesen Fällen mit Syphilis geschwängert war? Nein! denn alsdann würden nicht blos einige Impflinge (wie z. B. hei Hübner und Wegeier von 39 Geimpften 26) inficirt worden sein, sondern das gleiche Virus hätte allen, die davon empfingen, gefährlich werden müssen. Zudem sei von verschiedenen Seiten der directe Beweis gegeben, dass die reine klare Kuhpockenlymphe eines Sypliilitischen nur Vaccine überträgt.
Kann aus dem Vaccinebläsclien, neben der reinen Lymphe, noch etwas Anderes, als Träger der Syphilis, mitverimpft werden? Vien-nois ist Überzeugt, dass dem so sei, und dass dieses Andere nur Blut sein könne, welches sich der Lymphe aus dem verletzten Co-rium unter der, Vacciueefflorescenz beigemischt habe; und indem er die, im Jahre ISCO bereits allseitig anerkannte, Contagiosität des Blutes seeundär Syphilitischer erwägt, gelangt er zu dem Ausspruche, dass der Vacciuator allerdings Kuhpocke u n d Syphilis zugleich ver­impfen kann, aber nicht durch dasselbe Mittel, sondern Vaccine durch die Lymphe, und Syphilis durch das Blut. — Dieser Umstand löst ihm die vielen Widersprüche bei den unglücklichen Impfungen, welche das Urtheil bisher erschwert hatten: je nachdem die Lan-cette mit Blut verunreinigt war oder nicht, brachte sie Kuhpocke und Syphilis, oder nur erstere allein. In einigen Fällen, wo die später Inficirten die letzten in der Reihe der Geimpften gewesen sein sollen, vermuthet Viennois, dass die zuletzt wol spärlicher gewordene Lymphe den Impfarzt veranlagst habe, seine Nadel tiefer in die Pustel zu senken, und ihren Boden zu verletzen.
Die Vaccine hat ein kürzeres Incubationsstadium, als die con-stitutionelle Syphilis, sie entwickelt sich deshalb zuerst, und hat Zeit beinahe abzulaufen, ehe die Syphilis ihre Localisation beginnt.
Da Viennois einen zweifachen Ursprung der, nach der Vacci­nation hervortretenden Syphilis annimmt, so untersucht er folge­richtig vor Allem die Initial-Symptome, mit welchen jede der beiden Arten sich äussert. Es leuchtet die Wichtigkeit ein, im gegebenen Falle vermittelst der Symptome die. wirklich vacci-nirte Syphilis von einer bereits vorhandenen, latenten, die nur nach der Impfung deutlich wurde, zu unterscheiden.
Mit der Hypothese Viennois' war ein neuer fruchtbarer Stand­punkt gewonnen. Seit IS14, wo Monteggia die Cocxistenz der beiden Virus in der Lymphe gelehrt, hatte sich die Controverse
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Die Syphilis im Gefolge der Vaccination. Die Tragödie in Rivaita. 319
nutzlos um den einen Punkt gedreht, ob die auf syphilitischem Boden sitzende Efflorescenz ein Virus erzeuge oder zwei. Viennois, von den Thatsachen überführt, welche in der Pustel die Quelle der Syphilis unmöglich machen, war der erste, welcher sie ausser-halb derselben suchte.
Die Bluttheorie des Lyoner Arztes erntete grossen Beifall, und die Anschauungen der meisten Aerzte über Vaccinalsyphilis, sowie die ferneren Mittheilungen von derartigen Fällen bewegten sich, seit 1860, fast ausschliesslich unter diesem Gesichtspunkte. —
Im Jahre 1861 kam auf Trousseau's Klinik im Hotel Dicu folgender Fall vor:
Eiuc ISjiihrige, kurze Zeit verheirathete, Person wurde während ihres Spitalaufenthaltes (den ein Uteruskatarrh nöthig machte) von einem anscheinend gesunden Kinde revaccinirt (anfangs October 1S61). Am Tage darauf promenirten die Impfstellen und juckten lebhaft; 4 — 5 Tage später zeigte sich keine Spur mehr von der vorgenom­menen Operation, was nicht verwunderte, weil die Person früher mit Erfolg vaccinirt war. Sie verliess am 9. November das Kranken­haus ohne jede Klage. Anfangs December (zwei Monate nach der Revaccination) erschien sie wieder, und zwar mit zwei von dicken Krusten bedeckten Geschwüren an den früheren Impfstellen, welche man für abnorm entwickelte Vaccinepusteln nach einer un­gewöhnlich langen Incubationsperiode hielt. Allein einen Monat später waren die Geschwüre noch immer offen, in der benachbarten Achselhöhle hatte sich ein multipler indolenter Bubo entwickelt, und seit Mitte December am Kinne, an den Armen und am Stamme eine Roseola syph. Später Kopfschmerz, Schwellung der Cervical-(nicht der Inguinal-)drüsen. Ricord, welcher die Kranke sah, diagnosti-cirte auf dem Arme zwei indurirte Schanker, und in den übrigen Erscheinungen die typische Form der constitutionellen Syphilis, deren Ursprung hier in den beiden Geschwüren am Arme zu suchen sei.
Der Stammimpfling hatte, ohne krank zu sein, vier Wochen nach jener Impfung das Spital verlassen. Vier Kinder, welche vor jener Frau von ihm geimpft worden waren (mit welchem Erfolge, ist un­bekannt), blieben gesund.
Die folgende Beobachtung bildet den Inhalt der italienischen Schrift: Sifilide transmissa per mezzo della Vaccinatione in Rivaita presso Acqui, dal Pacchiotti. Torino 1862.
In Rivaita, einem Orte von 2000 Einw., wurde am 24. Mai 1861 ein Kind, Chiabrera, mit flüssiger Lymphe geimpft, welche in einem
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Haarröhrchen aus Acqui geschickt war. Die Vaccinen nahmen ihren regelmässigen Verlauf, und dienten am 2. Juni (dem 10. Tage) zur Impfung von 46 Kindern, aus welchen ein Mädchen, Mauzone, zur Weiterimpfung für 17 andere Kinder, wieder am 10. Tage (12. Juni), heuutzt wurde. Binnen zwei Monaten waren von den ersten 46 : 39, von den letztern 17:7 von einer Krankheit ergriffen, welche mit Ver­eiterung der Impfstiche begonnen hatte, und sich später als Syphilis er­wies. Der erste Stammimpfling hatte dieselbe ausserdem der Brust­warze seiner Mutter, der zweite seiner Amme mitgetheilt. Im weiteren Verlaufe wurden 20 andere Mütter und Ammen, in zwei Fällen auch die Männer von ihren Frauen angesteckt, und schliesslich erkrankten drei ältere Kinder, welche mit ihren syphilitischen Geschwistern in nahe Berührung gekommen waren — zusammen 78 Personen.
Erst vier Monate nach der Impfung kommt das Unglück zur ärztlichen Kenntniss; eine von Turin entsendete Commission findet die aufgeführten Individuen mit den mannichfachsten Erscheinungen der seeundären Syphilis behaftet, und 7 Kinder, von keinem Arzte gesehen, bereits todt.
Die krankhaften Symptome sollten erst nach dem 10. Tage post vaccinationem bei den Kindern aufgetreten sein. An den Impf­stellen constatirte die Commission Greschwüre, oder Papeln, oder kupferfarbige, nur in wenigen Fällen weisse Narben. Vier der stärkst ergriffenen Kinder revacemirte Pacchiotti, sieben Monate nach der Imjffung, mit einer verlässlichen Lymphe, aber ohne Erfolg.
Der erste Stammimpfling, Chiabrera, litt (am 8. October) an Marasmus, Alopecie, und hatte auf der Vorhaut einen exeoriirten Tuberkel; im Januar befand er sich vortrefflich, nur dass ein „ Plaque quot; auf der Bindehaut des linken untern Augenlids bemerkt wurde. Die Mutter hatte im October ein Geschwür auf einer Brustwarze, eine junge Narbe an der andern, später, im Januar, breite Condylome an den Labien. Der Vater war gesund und zeigte keine Spuren über-standener Syphilis. Nach längerem Forschen glaubte Pacchiotti die Syphilisquelle dieses Kindes entdeckt zuhaben: ein junges Weib in Kivalta, das seit l1/? Jahren an der Krankheit litt, hatte ihm, etwa zwei bis drei Monate vor der Impfung, die Brust gereicht, da ihr eigenes Kind gestorben war. Wie lauge, ist nicht gesagt, und soll sie auch andere Kinder angelegt haben. Bei der Abimpfung von Chiabrera soll Blut auf der Lancette wahrgenommen worden sein, wie spätere Nachforschungen ermittelten.
Vom zweiten Stammimpflinge Manzone steht nur fest, dass er am 10. September, drei Monate nach der Impfung, und bevor die
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ärztliche Commission die Vorgänge untersuchte, marastisch gestorben war. Die anfänglichen Geschwüre an seinen'. Impfstellen, ein späterer Hautausschlag und Condylome um Mund und Genitalien sind Ueber-lieferung.
Die Commission glaubte nicht zweifeln zu dürfen, dass die Tra­gödie zu Eivalta herbeigeführt sei durch die gleichzeitig mit der Vaccination erfolgte Inoculation der secundären Syphilis seitens der Kinder Chiabrera und Manzone. Die missglückten späteren Probe-revaccinationen Pacchiotti's galten ihr als Beweis, dass hier in der That eine doppelte Inoculation stattgefunden hatte.
Trotzdem — und das wirft ein eigenthümliches Licht auf den Vorgang — sprachen die Piemontesischen Aerzte einstimmig den Impfarzt von jeder Schuld frei — und die Regierung bestätigte das Nichtschuldig;
Pacchiotti schliesst sich in der Erklärung des Falles Vien-nois an, und bezeichnet das'mitverimpfte Blut der Stammimpflinge als den Träger des Giftes.
Seine Schrift bringt noch einen ähnlichen Fall zur Kenntniss, welcher sich bereits 1856 in den beiden Ortschaften Lupara und Moliso zugetragen hatte, aber von dem Impfarzte Marone unter­drückt war, angeblich um die Vaccination nicht in Misscredit zu bringen. Aussei- den hohen Zahlen der Inficirteu bietet dieser Fall nichts Neues dar, vielleicht nur noch erheblichere Mängel, als sein Vorgänger. Auch er spielt wieder in Italien, wie denn kein anderes Land eine solch' grosse Zahl von Massen-Infectionen nach der Impfung aufzuweisen hat, die von Marcolini, Cerioli, Tassani, Pac­chiotti, Marone, Adelasio (siehe den nächsten Fall). In allen diesen Fällen war die Lymphe, was beachtenswerth ist, nicht am 7. oder 8. Tage, sondern am 10. und selbst erst am 11. Tage verimpft worden.
Es folgen zwei Beobachtungen von Adelasio 1). 1) Am 15. Mai 1862 wurden in der Nähe von Bergamo 6 Kinder vom Arme eines kleinen Mädchejis geimpft, das am Impftage einen Hautausschlag gehabt haben soll. Fünf von den 6 Kindern bekamen an den Impf­stellen indurirte Geschwüre mit nachfolgenden Allgemeinsymptomen, und pflanzten das Contagium in ihren Familien auf die Mütter und Ammen weiter fort; im Ganzen erkrankten 23 Personen, wovon vier starben. — Am 23. Mai diente das fünfte, später syphilitisch gewor­dene, Kind zur Vaccination von 9 anderen Kindern, welche gesund
1) 1864 der Akademie von Viennois mitgetheilt. L'impartiale vom 16. No­vember 1S64.
B ohn, Handbuch der Vaccination.nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp;21
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blieben. Eine fernere Abimpfnng von einem der letzteren (am 31. Mai) verlief gleichfalls ohne nachtheilige Folgen.
2) Am 21. September 186;-! wurde das Töchterchen eines Land­arztes, das regelmässige Impfbläschen, jedoch einige Tage später eine syphilitische Hauteruption zeigte, zur Impfung von zwei Kindern benutzt, welche beide syphilitisch erkrankten, und von denen eines seine Mutter ansteckte.
Dr. Glatter in Dipson (Oestr. Zeitschr. f. prakt. Heilk. 1S62) beobachtete in den Jahren 1855 - 57 Folgendes:
In Czomäd, einem slovakischen Dorfe, drei Meilen oberhalb Pest, hatte sich die Hebamme während der Entbindung eines syphilitischen Weibes angesteckt und ein bösartiges Geschwür am Vorderarme zu­gezogen: Sie wartete ihr kleines Enkelchen, das im Januar 1855 durch den Bezirksarzt vaccinirt wurde. Da es blühend und gesund aussah, diente es zum Stammimpfling für den grössten Theil der Impflinge im Orte. In allen Fällen gingen die durch die Vaccination erzeugten Schutzpocken in fressende Geschwüre über, worauf sich bei den Kindern meist Condylome am After und Affectionen der Mundhöhle entwickelten. Die Krankheit wurde auf die Mütter und deren Männer übertragen, so dass Verf., als er eine amtliche Revision vornahm, unter den etwa 650 Einwohnern des Ortes 34 Individuen des verschiedensten Alters und Geschlechts mit syphilitischen Affec­tionen der Mund- und Nasenhöhle behaftet fand. Das Uebel schleppte sich bis ins Jahr 1857 hinein, wo bereits 72 Erkrankungen notirt waren. Mit Ausnahme eines Mannes, dessen harter Gaumen bedroht war, traten keine bösartigen Affectionen auf. Von dem Stamm­impflinge wird nichts berichtet.
Haydon ') wurde im Jahre 1843 zu zwei Kindern von 9 und 10 Monaten gerufen, deren Körper mit Pusteln bedeckt waren, die am Kopfe und an den Geschlechtstheilen durch Reiben und Kratzen geschwürig geworden; er hielt dieselben für syphilitisch. Nach einigen Tagen starben die Kinder. Sie gehörten zwei verschiedenen, durchaus syphilisfreien Familien an. Beide Kinder waren, drei Wochen vorher, gleichzeitig von einem dreijährigen Kinde geimpft worden, dessen Mutter, bei näherer Nachforschung, syphilitisch war, und das selbst an einem reichlichen pustulösen Syphilid über den ganzen Körper litt.
Sebastien-) vaccinirte zwei Kinder. Als er bei dem zweiten
1)nbsp; Med. Times and Gaz. 1862.
2)nbsp; üaz. des hopitaux. 1863.
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den letzten Stich machen wollte, mischte sich, durch eine starke Bewegung des Impfträgers veranlasst, Blut desselben zur Lymphe und wurde mit dieser übertragen. Nach 22 Tagen bot diese letzte Stelle (alle übrigen Impfpusteln waren normal verlaufen) den Anblick eines „Pseudoschankersquot;, welcher von einer dunkeln, konischen Kruste bedeckt war. Später entwickelte sich daraus eine beträcht­liche Induration, es traten Roseola und Knoten, endlich Drüsen­schwellungen auf. Die Untersuchung des Stammimpflings ergab an demselben ein ausgebreitetes papulöses Syphilid, geschwellte Cervical-drüsen, und an den Genitalien verdächtige Knötchen. Der Vater desselben trug Spuren früherer Syphilis an sich — der zweite Impf­ling blieb gesund.
Devergie1): Ein 15jähriger Tischlerlehrling (angeblich von gesunden Eltern), war, nach Ablauf einer leichten Pleuritis, im Hospital St. Eugenie mit zwei Einstichen am rechten Arme vaccinirt worden. Die Lymphe, welche ein Säugling hergab, diente gleich­zeitig zur Impfung mehrerer Kinder. Drei Tage darauf hatten sich bei dem jungen Menschen kleine bräunliche Krusten an den Impf­stellen gezeigt, und der Arzt hatte die Impfung für nicht gelungen erklärt. Allmählich vergrösserten sich die Krusten. 5—6 Wochen nach der Vaccination kamen auf Armen und Beinen verschiedene „Blüthenquot; heraus, deren Ausbrüche sich zu verschiedenen Zeiten wiederholten, und den ganzen Körper sammt dem Gesichte bedeckten. Die Stimme wurde im dritten Monate heiser, und traten zu dieser Zeit in verschiedenen Gelenken Schmerzen auf, die namentlich Nachts exacerbirten.
Etwa 7 Monate nach der Vaccination wurde Patient mit einem tuberkulösen Syphilid ins Hospital St. Louis aufgenommen. Am rechten Arm waren die zwei Impfstiche noch mit braunen Krusten bedeckt, in unmittelbarer Nachbarschaft fand man eine harte ver­dickte Stelle der Haut von 4 Ctm. Umfang; indurirte Achseldrüsen. Eine sechswöchentliche antisyphilitische Behandlung brachte fast vollständige Heilung.
Millard2). Mit der, von einem 6monatlichen schwächlichen Kinde entnommenen Lymphe wurde (in der Academic de med. zu Paris) ein 27jähriger Mann, 9 Kinder und mehrere Soldaten ge­impft. Bei dem Manne und 6 Kindern gingen die Kuhpocken in
1)nbsp; Bullet, de l'Acad. Mai 1S63.
2)nbsp; Union med. 1805.
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syphilitische Geschwüre über; zwei Kinder starben. — lieber den Verlauf der Vaccine bei den übrigen ist Nichts bekannt.
Bis zu dieser Zeit (Mitte der 60er Jahre) hatte die grosse Mehr­zahl der Aerzte die Existenz der Vaccinal-Syphilis bestritten, von da ab begann diese Verneinung dem Glauben an ihre Realität mehr und mehr zu weichen. Im Schoosse der französischen Akademie der Medizin vollzog sich diese Wandlung während der Jahre 18(54 1866, wo die Discussion über die Impfsyphilis zahlreiche Sitzungen aus­füllte. Für dieselbe kämpften der Impfdirector Depaul, Trous­seau, Devergie, Bouvier u. A., dagegen Ricord, Bousquet (der Vorgänger Depaul's), Briquet, Blot u. s. w., und in der ersten Abstimmung (1864) erklärte sich die grosse Majorität der gelehrten Körperschaft gegen jene Form der Syphilis. Nach zähem Widerstände, wie es scheint, mehr überredet, als überzeugt, schlug sie völlig um, und in der letzten Sitzung (1866) votirte man ein­stimmig das Gegentheil dessen, was zwei Jahre früher anerkannt war. Der Werth dieser endlosen, phrasenreichen, und von Persön­lichkeiten strotzenden Verhandlungen1) ist weit überschätzt worden; sie führten keinen einzigen neuen Gedanken, keinen frischen und fruchtbaren Gesichtspunkt in die Frage, und haben nur die natio­nale Bedeutung gehabt, dass fortan alle französischen Aerzte zu der Ueberzeugung der Akademie bekehrt waren.
Depaul2). Eine, im Impfen geschickte Hebamme aus dem Flecken Graucliamp (Depart. Morbihan) hatte am 21. Mai 1866 zwei gesunde Kinder mit einer Lymphe geimpft, welche sie von der Prä-fectur in Vannes erhalten (vaccine sur plaques). Das eine der Kin­der soll, nach Angabe seiner gesunden Eltern, 5 Wochen lang nach der Impfung krank gewesen sein, die Impfstiche sollen sechs Wochen geeitert haben. Nach mehreren Monaten fanden Depaul und H. Roger an denselben indolente Achseldrüsenschwellungen, sonst nichts der Syphilis Verdächtiges. Von ihm war nicht abgeimpft worden, das zweite Kind hatte gleichfalls 6 Wochen nach der Im­pfung gekränkelt, seine Impfstiche eiterten und ein für Masern aus­gegebener Ausschlag war in der 4. Woche hinzugekommen. Nach mehreren Monaten wurden leichte Achseldrüsenschwellungen bei ihm gefunden. Von ihm war ein drittes Kind geimpft worden, dessen Gesundheit nachträglich in keiner Weise gefährdet worden ist, und
1)nbsp; Heyd, Zur Frage der üebertragung der Syphilis u. s. w. Stuttgart und Leipzig 1867.
2)nbsp; Gaz. mdd. 1866. — Bullet, de l'Acad. de med. XXXII. 201.
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das seine Lymphe für etwa 80 andere Kinder hergab. 42 derselben wurden von Depaul und H. Roger mit deutlichen Spuren consti-tutioneller Syphilis behaftet gefunden, namentlich mit indurirten Impf­narben, die übrigen waren fast sämmtlich schon vorher einer anti-syphilitischen Behandlung unterzogen worden. — Zwei Kinder, aus der Zahl jener 80, bei denen die genannten Akademiker später deutlich indurirte bläulichrothe Impfnarben, indolente Drüsenschwel-lungeu und allgemeine Roseola constatirten, waren wieder die Stamm­impflinge für andere Kinder geworden, von welchen die meisten syphilitisch erkrankten.
Depaul schliesst, dass nur die Vaccination diese verbreitete Syphilis zu erklären vermag, und dass wahrscheinlich die Lymphe aus Vannes das syphilitische Virus barg.
Der Schauplatz der jüngsten Epidemie von Impfsyphilis ist Steiermark 1).
Mit einem Impfstoife, welcher aus Wien von einem Privatarzt bezogen war, wurden am 6. Juli 1869 in der Pfarrei Schleinitz 3laquo;, und in St. Veit 4 Kinder geimpft, welche insgesammt früher ge­sund waren. In Schleinitz haftete die Lymphe an 3, in St. Veit an 2 Kindern nicht, und diese 5 Kinder blieben von der Syphilis frei, welcher alle anderen anheimfielen.
Bei einem Kinde entwickelte sich nur an einer Impfstelle ein rother Knoten, welcher in eine braune Schuppe überging, und einen grauen Fleck hinterliess. Nach vier Monaten anscheinender Gesund­heit entstanden am linken Oberarm 1, und am Gesässe 3 hanfkorn-grosse, rothe Papeln, mit infiltrirter Basis, deren Heilung 3 Wochen beanspruchte. Ein weiteres Symptom kam nicht vor.
Bei allen anderen Kindern entstanden nach 3 bis 6 Tagen an zwei, drei, oder an allen vier Impfstellen rothe Knoten, welche in Blasen, mit schmutzigem Serum gefüllt, übergingen. Leider hat kein Arzt diesen Vorgang gesehen, welcher nur von den Müttern berichtet wurde. Indess scheint eine anomale Entwickelung der Vaecinen jedenfalls stattgefunden zu haben.
Die Blasen an den Impfstellen platzten, und es bildeten sich braune Krusten, welche Geschwüre mit schmutzig-weissem Grunde bedeckten. Es folgten Pustelausschläge auf dem Körper, und gegen Ende September, Condylome an den Schamlippen und in der Um­gebung des Alters, begleitet von Drüsenanschwellungen in der Ach-
1) Kocevar, Zur Impfgeschichte von Schleinitz und St. Veit in Steiermark. Allgem. Wiener med. Z. 1S70. 21, 24. u. Archiv f. Dermat. u. Syph. 1870.
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selhötle und am Halse. — Wo, wie in mehreren Fällen, die Impf­stellen nach 3 Wochen verheilt waren, hinterliessen sie graue oder braune, flache ziemlich grosse Narben, mitunter aber auch solche, welche den normalen Narben ähnlich waren. Darnach waren die Kinder 4, 8 bis 12 Wochen scheinbar gesund, und erst dann kamen Condylome, oder erhabene, scharf abgegrenzte Geschwüre mit schmut-zigweissem Grunde an den Genitalien und circa anum. Zugleich entstanden Psoriasis und andere Syphiliden, weissliche Geschwüre in den Mundwinkeln und im Halse. Die meisten Kranken magerten ab, wurden heiser, hörten schwer, und die Kopfhaare gingen ihnen bis zur Kahlheit aus. Die Chronologie dieser Seuche ist im Anfange sehr unbestimmt. — Bis zum 17. November waren 3 Kinder ge­storben, ob lediglich durch die Syphilis, weiss man nicht. Später starben noch 6, 3 an Schwäche, 1 an Halsentzündung und 2 an häutiger Bräune, nachdem die syphilitischen Hautsymptome zurück­getreten waren. Das Uebel blieb nicht auf die geimpften Kinder beschränkt, sondern ergriff die stillenden Mütter. Solcher Fälle zählte Kocevar am 17. November 9, am 30. December 16, später 19. Die Syphilis nahm ihren Ausgang stets von den Brustwarzen oder der Drüse, und ging dann auf die verschiedensten Gewebe und Organe über. Aussei' den Müttern erkrankten in mannichfacher Weise 2 Pflegerinnen der kranken Kinder, 1 Vater, 9 ältere Kinder und 2 Grossmütter.
Bis Mitte April 1870 war die Seuche an die Häuser gefesselt, wo sich die geimpften Kinder befanden. Um diese Zeit aber wurde sie in die Pfarrei St. Veit verschleppt, indem ein zweijähriger kranker Impfling hier seine Besuche machte, und, mit Lippengeschwüren behaftet, ein dreimonatliches Kind liebkoste. Im Ganzen zählte man zuletzt, mit Abrechnung der 3, vor dem 17. November gestor­benen Impflinge, 63 Kranke; 28 geimpfte Kinder; die übrigen waren Anverwandte oder Pflegerinnen derselben, 14 davon wurden im allgemeinen Krankenhause in Graz behandelt.
Die Syphilis aller dieser Erkrankten steht ausser Frage; ihre Quelle aber in dem, aus Wien bezogenen humanisirten Impfstoff zu suchen, wird man Bedenken tragen, wenn berichtet wird, dass der Impfarzt auch in anderen Pfarreien mit derselben Vaccine impfte, ohne dass hier die gleiche Krankheit hervortrat, und dass nirgend­wo sonst die von demselben Wiener Impfarzt bezogene Lymphe An-lass zur Klage geboten hat.
Von dem Befinden des Stammimpflings, welcher mit dem ge­dachten Stoffe für die Kinder in Schleinitz vorgeimpft worden war,
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weiss man zur Zeit der Abimpfung Nichts. Er soll zwischen den Schenkeln wund gewesen sein, ein Geschwür oder Condylom aber nicht gehabt haben. Am 30. November fand ihn Kocevar gut genährt, für sein Alter stark entwickelt, und von gesunder Gesichts­farbe, jedoch auf der rechten Schamlippe und in der rechten Schen­kelbeuge je ein, dem erhabenen Schanker ähnliches breites Condy­lom, mit schleimig-eitriger Oberfläche, und in der Umgebung des Afters mehrere kleinere Schanker. Das üebel war demjenigen gleich beschatfen, welches Kocevar an den Kindern von Schleinitz, für welche der Arm dieses Kindes den Impfstoff geliefert hatte, vor­fand. Sehr bedauerlich ist, dass über die Beschaffenheit der Impf­stellen und Impfnarben des Stammimpflings kein Wort gesagt wird, und dass keine Nachimpfungen an den, durch die Impfung beschä­digten Impflingen stattfanden, um sicher festzustellen, ob nur Syphilis, oder nebenbei auch Vaccine geimpft worden sei. Aus dem Berichte, welcher bei mehreren Geimpften, kleine weisse ur i vertiefte Narben erwähnt, welche den natürlichen Impfnarben ähnelten, scheint eine vacciuo-syphilitische, und keine blos syphilitische Inoculation in Schleinitz stattgefunden zu haben.
Köbner l). Ein junger Militairarzt, bis zum 14. Januar 1870 gesund, insbesondere niemals syphilitisch, niemals mit irgend einer Genitalaffection behaftet (was übrigens auch die spätere Untersuchung vollständig bestätigte), Hess sich an diesem Tage, nebst einer Anzahl von Soldaten revacciniren, und zwar war er der erste, welcher vom Arme eines Soldaten mittelst einer Impf lancette an mehreren Stellen des linken Oberarmes geimpft wurde. Es entwickelten sich keine Vaccine- sondern Eiterpusteln, die nach 8 Tagen eingetrocknet waren, bis auf eine, welche sich unmittelbar in ein indurirtes Geschwür umwandelte. Mitte März, also ungefähr 8 Wochen nach der Im­pfung, trat ein, über den ganzen Körper sich verbreitendes papu-löses Syphilid hervor. Köbner sah den Kranken am 14. April 1870 (also etwa 12 Wochen nach der Impfung) und fand am linken Oberarm, dem einen Impfstiche entsprechend, eine dreipfenniggrosse, dunkelrothe, pergamentharte Erhabenheit u. s. w., sehr namp;,he der­selben eine linsengrosse dunkelrothe Papel. Keine frischen Vaccine-narben, drei seichte aus der Kindheit. Harte, schmerzlose, sehr be­deutend vergrösserte Lymphdrüsen der linken Achselhöhle, einige linksseitige Cervical- und rechtsseitige Axillardrüsen ebenso, aber
1) Die TJebertraguug der Syphilis durch die Vaccine. Archiv f. Dermat. u. Syph. 1871.
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von viel geringerem Umfange. Am ganzen Stamm, minder am Ge­sicht und den Extremitäten, ein erblassendes papulöses Syphilid (seit 3 Wochen hatte eine sehr schwache Schmierkur eingegriffen). Breites Condylom des weichen Gaumens und der Gaumenbögen, links eine submaxillare Lymphdrüse von etwa Pflaumenkemgrösse.
Die Untersuchung des Stammimpflings, welche der inficirte Arzt etwa 10 Wochen nach der Impfung unternahm, ergab Nichts. Wie viele Leute hinter ihm von demselben Stammimpfliug geimpft wur­den, ist nicht zu ermitteln gewesen, aber die Untersuchung aller an jenem Tage geimpften Leute soll bei Keinem etwas Verdächtiges haben erkennen lassen.
Dieser Fall scheint wegen der ärztlichen Qualität des Beschä­digten ganz besonders geeignet, uns aus dem Labyrinth der „Impf­syphilisquot; zu helfen. Das Unglück war auch viel früher, als in den meisten bekannten Fällen bemerkt worden. Und doch, wie viel Ungewisses, fährt Köbner fort, enthält er bezüglich des Herkom­mens und des Vehikels der Infection! Dass es sich um eine evidente Syphilisinoculation am Arme handelt, wird Niemand be­zweifeln , welcher die Ergebnisse der modernen Syphilidologie, be­züglich der örtlichen und der constitutionellen Syphilisevolution auf vorher Gesunden kennt. Zahlreiche Detailfragen aber bleiben unbe­antwortet, zunächst, ob der Arzt gleichzeitig auch modificirte Revac-cinen, und welcher Art davongetragen hat; wir wissen ferner nicht, welchen positiven Erfolg die Revaccination bei den andern, in der­selben Sitzung hinter ihm, und von demselben Stammimpfling Ge­impften gehabt hat. Ueber den Ursprung der Syphilis bleiben wir völlig im Dunkeln, der Beschädigte wusste sich nicht einmal zu er­innern, ob ihm an den Vaccinepusteln des Stammimpflings, oder an dessen entblösstem Arme etwas Besonderes aufgefallen sei, ob beim Abimpfen Blut geflossen, und wie die Revaccinen bei ihm verlaufen seien, ob die Laucette schon vorher zu Impfungen gedient hatte, u. s. w.
Der zweite, von Köbner erlebte und ausführlich berichtete Fall mag im Original eingesehen werden. Er weicht von vielen ähn­lichen in dem tödtlichen Ende des Kindes ab, das an Phthisis pulm., käsiger Infiltration aller Lymphdrüsen , und Tuberc. miliaris acuta verstarb und secirt wurde. Auch in ihm beruht die Entwickelungs-geschichte der Syphilis auf den nachträglichen Angaben und Erinne­rungen der Anverwandten, und eine anderweitige Erwerbung der zweifellosen Lues, als aus der geschehenen Vaccination, war, laut Köbner „mit annähernder Gewissheit auszuschliessenquot;.
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Kritik der Syphilis im Gefolge der Vaccination.nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; 329
In dem lithographirten Nachtrag zu dem S. A. seiner Arbeit theilt derselbe Autor eine dritte Beobachtung aus dem Jahre 1869 mit, welche ihm von zuverlässiger Seite zuging. Es handelte sich um ein 1 Va jähriges Kind, welches von demselben Impfarzte vaccinirt war, der in Köbner's zweiten Falle die Rolle des unglücklichen Vaccinators gespielt hatte. Alle weiteren Notizen fehlen.
Im Jahre 1871 und später 1873 hat Hutchinson') mehrere Fälle von Impfsyphilis veröffentlicht, welche ^zu gewichtige Anfein­dungen erfahren haben, und jedenfalls zu unsicher dastehen, um in dieser Angelegenheit ein Wort mitsprechen zu können.
In der Sitzung der Berl. medic. Gesellschaft, vom 5. Juni 1872, theilte Langenbeck2) Folgendes mit: Ich selbst habe einen Fall gesehen, wo ein Knabe von 16 Jahren in Rossleben von einem kun­digen Arzte geimpft wurde. Die Vaccine ging nicht an, es bildeten sich an der Impfstelle Krusten, welche langsam abheilten. Die Impfung hatte im Februar stattgefunden, und die Mutter brachte ihn mit einer über Gesicht und Brust verbreiteten unzweifelhaften Roseola syphil. zu mir. Es fanden sich ausserdem noch einzelne kleine Elevationen an der Schleimhaut der Wange, aber keine Condylome. Diese Affectionen heilten unter dem Gebrauche eines Decoct. Zittmanni. Der Stubengenosse dieses Kindes, der von dem­selben Kinde geimpft war, erkrankte in derselben Weise.
Das ist das Material, aus welchem die Impfsyphilis sich aufbauen soll — gross genug, aber von höchst mangelhafter Beschaffenheit. Denn keiner der Fälle von Vaccinal-Syphilis, sowie sie in der Literatur vorliegen und beurtheilt werden müssen, gibt eine durchweg exacte Beobachtung, keiner ist in allen nothwendigen Ein­zelnheiten so klar, und von unurastösslicher Beweiskraft, dass er der Kritik Stand hielte. Die ärztliche Untersuchung kam fast allemal viel zu spät, manchmal nach Jahr und Tag hinzu, und sah sich dann auf die Beobachtungen und Aussagen von Laien, meist der erbitterten Angehörigen der beschädigten Personen, verwiesen. Nicht wenige der schweren Anklagen gegen die Vaccine wurden von den Aerzten aus der Erinnerung hervorgeholt oder ergänzt, als das Thema der Vaccinal-Syphilis Mode geworden war. Oftmals gelang es gar nicht mehr, die Quelle zu ermitteln oder festzustellen, aus welcher das Unglück, welches man vorfand, stammen musste, und niemals ist der
U Allgem. med. Central-Zeitung. 1S73. 18. u. li). 2) Ebendas. 1872. 77.
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Gesundheitszustand des später beschuldigten Stammimpflings recht­zeitig, vor oder an dem Impftage von kundigen Augen geprüft, und zweifellos gemacht worden. Nicht genug an diesen groben Mängeln und wesentlichen Lücken, springen Widersprüche der man-nichfaehsten Art überall aus den „ Beobachtungenquot; hervor, und treten dieselben in den schärfsten Conflict mit andern „Fällenquot; und mit sehr schlagenden Gegenversuchen, so dass wahrlich keine über­triebene Skepsis, und nicht viel Scharfsinn zur Verwerfung dieser ganzen Literatur gehört. An den, bis zum J. 1863 veröffentlichten Fällen habe ich selbst das nachgewiesen ^, von Anderen sind die Blössen der späteren Mittheilungen aufgedeckt worden2), und es ist darnach kein unanfechtbarer Fall übrig geblieben, kein einziger, der im Stande wäre, durch sich die Realität der Impfsyphilis über jeden Zweifel zu stellen. Kein Wunder, wenn der wissenschaftliche Sinn, solche Beweise ablehnend, sich lange gegen die Anerkennung dieser Form von Syphilis ge­sträubt hat.
Heute nun liegt die Sache freilich umgekehrt, wie vor etwa zwanzig Jahren, und nur wenige Aerzte werden jetzt noch*in ihrer starren Ableugnung der vaccinalen Syphilis verharren. Allgemein hat zugegeben werden müssen, dass die Unzulänglichkeit der ein­zelnen Beweisstücke aufgewogen wird durch ihre Zahl, und durch gewisse charakteristische Erscheinungen, welche in ihnen mit bedeutsamer Regelmässigkeit wiederkehren.
Wenn — man sehe die Zusammenstellung der gravirendsten Fälle bei Köbner (S. 27) — unter 324 Geimpften bei 222 eine gleiche fremde Krankheit post vaccinationem ausbricht, welche ihre specifische Ansteckung an zahlreichen Personen in zweiter und dritter Linie, an Müttern, Pflegerinnen, Männern u. s. w. fortsetzt, — wenn sich diese Krankheit innerhalb eines, ihr auch sonst zukom­menden, gesetzlichen Spielraums nach der Impfung zu äussern beginnt —, wenn sie stets von den Impfstellen den Ausgang nimmt — und wenn die Inoculabilität dieser Krankheit eine experimentelle Thatsache ist, dann kann aller­dings über das, was in den fraglichen Beobachtungen Ursache und Folge war, eine Unsicherheit nicht mehr obwalten..
Um so strenger müssen aber die Mittheilungen über Impfsyphilis
1)nbsp; Bohn, Die Transmission der Syphilis durch die Vaccination. Schmidt's Jahrb. 1S63. Bd. 120.
2)nbsp; Siehe Auspitz, Die Lehre vom syphil. Contagium. Wien 1866.
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Kritik der Syphilis im Gefolge der Vaccination.nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; 331
auf ihre Echtheit angesehen werden, weil manche, die es nicht sind, in gutem Glauben, oder in absichtlicher Entstellung, als solche auf den Markt gebracht worden sind. So wurde im Frühjahr 1870 Berlin durch die Presse in Schrecken versetzt, weil eine Anzahl Kinder in einer Strasse von der Impfung syphilitisch geworden seien. Die, von der Berliner medic. Gesellschaft erwählte Commission, welche die angeblich Beschädigten aufsuchte', und längere Zeit unter Augen behielt, fand nur unschuldige Hautaffectionen an denselben. Impetigo, Liehen, Furunkeln, Ekzem und leichte Drüsenanschwel­lungen (keine Induration), welche während der Beobachtungszeit spontan abheilten, und mit Syphilis nichts gemein hatten. Eine weitere Infection der säugenden Mütter kam nicht vor 1). Kurz, man sah hier nur postvaccinale Hautaffectionen gehäuft, welche bei zer­streutem Vorkommen keinen Anstoss erregen. — Eine ähnliche falsche Epidemie von Impfsyphilis in der Provinz Ferrara deckte G am­ber ini auf2), eine solche in zwei Ortschaften Böhmens Petters in Prag'). — Ebenso beruhen manche einzelnen, für Syphilis genom­menen Erkrankungen nach der Impfung auf diagnostischen Irrthümern.
Sodann müssen von der Vaccinalsyphilis diejenigen Fälle ge­trennt werden, wo eine bereits vor der Impfung vorhandene latente, schwach angedeutete oder übersehene Syphilis des Impflings (ge­wöhnlich hereditären Ursprungs) nach der Vaccination zu rascher und greifbarer Entwickelung gelangte. Das früheste Symptom einer solchen Syphilis besteht, nach Viennois, welcher zuerst darauf hinwies, in einem allgemeinen Hautausschlage maculöser, papulöser oder bullöser Art; niemals beginnt sie mit einem indurirten Schanker an der Impfstelle, wo die Vaccinen vielmehr in der gesetzmässigen Frist, und mit den normalen Narben abheilen. Eine solche Haut­syphilis bindet sich, was die Zeit ihres Auftretens nach der Vacci­nation betrifft, nicht an die Incubationsdauer der syphilitischen In-oculationen, und erscheint gewöhnlich sehr frühzeitig. Förster in Dresden sah unmittelbar nach der Impfung eine, bis dahin latente Syphilis mit überaus heftigen und hartnäckigen Symptomen zu Tage treten 4).
Viennois, Fridinger5), die italienischen Aerzte, Henry
1)nbsp; Fränkel, Sitzung der Berl. med. Gesellschaft vom S.Juni 1872. Allgem. med. Centr.-Z. 1872. Stück 77.
2)nbsp; Gaz. des Hopit. 1869.
3)nbsp; Oestreich. Jahrbuch für Pädiatrik. 1872.
4)nbsp; Ebendas. 1871.
5)nbsp; Zeitschr. der Gesellsch. der Aerzte in Wien. 1855.
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Lee1) u. A. sind deshalb geneigt, der Vaccine die Fälligkeit zuzu­schreiben, eine schlummernde Syphilis zur raschen Manifestation zu bringen, allein der überzeugende Beweis für diesen angeblichen Ein-fluss der Impfung hat bisher nicht beigebracht werden können.
Sucht man nun, nach Abscheidung der nicht hingehörigen oder gar zu zweifelhaften Beobachtungen, auf die Quelle der Syphilis, welche im Gefolge der Vaccination erscheint, einzugehen, so darf mit voller Bestimmtheit ausgesprochen werden, da%s eine, für das blosse Auge durchweg klare und reine Lymphe, aus einem 5 bis Ttägigen Jenner'sehen Bläschen, niemals zum Vehikel der Syphilis werden kann. Das haben die ab­sichtlichen Impfungen mit der klaren Lymphe von deutlich Syphi­litischen zur Genüge gelehrt, welche niemals den gesunden Impf­lingen Schaden zufügten, und die Anzahl solcher Versuche hebt den regelmässigen Ausfall derselben aus dem Bereiche des Zufalls, oder der temporären oder individuellen Unempfänglichkeit der Versuchs­personen. (Man sehe die Versuche von B i d a r t, der f r a n z ö s i s c h e n Akademie, von Montain in Lyon, Schreier in Kegensburg, He im, Bousquet, Cu lie rier,Auxias-Tu renne, Boeck, Del-zenneu. A.) Auxias-Turenne inficirte durch den eitrigen Inhalt einer am 11. Tage eröifneten Vaccinepustel eines syphilitischen Kindes ein gesundes, während die klare Lymphe, drei Tage früher, auf zwei andere gesunde Individuen schadlos und zwar mit mehreren Stichen übertragen war.2)
Auch der Umstand bezeugt die Ungefährlichkeit der reinen Lymphe, dass gewöhnlich nicht alle Impfstiche an den inficirten In­dividuen syphilitisch entarteten, sondern einer oder wenige, und dass die übrigen gute Vaccinen trieben.
Ich konnte daher mit gutem Grunde, im Jahre 1863, sagen (und wundere mich über die Missdeutung, welche die logische Bemerkung erfahren): da Vaccination, im schulgerechten Sinne, die Verimpfung der klaren Kuhpockenlymphe bedeutet, so gibt es, wenn Vertheidiger und Gegner der Vaccinations-Syphilis die klare Lymphe für schuldlos erklären müssen, keine durch die Vaccination verimpfte Syphilis, und es herrsche daher, im Wesen der Sache, keine Mefnungsdifferenz. Wenn aber nur ein Kunstfehler beim Vacciniren die Syphilis fort­pflanze, so verdiene sie eigentlich nicht das Beiwort vaccinata.
1)nbsp; Wiener med. Wochenschr. — Spitalszeitung. 1862.
2)nbsp; Gaz. hebd. 3. Febr. 1865.
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Impfsyphilis. Die Bluttheorie Viennoisquot;.nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp;333
Allein man sagt, vor diesem Kunstfehler könne sich der Arzt, in der Dunkelheit, womit die Impfsyphilis umhüllt sei, kaum oder gar nicht schützen, und die Vaccination bleibe in den meisten Fällen ein Glücksspiel, weil die Gesundheit der Stammimpflinge, ihrer Eltern u. s. w. höchst selten über jedem Zweifel klar sei; jeder Vaccinator müsse daher sein Glück preisen, wenn unter seinen Händen nicht einmal Syphilis aufgehe.
Zwei Hypothesen haben versucht, das unheimliche Dunkel, welches auf der Syphilis im Gefolge der Vaccination lastet, aufzu­hellen.
Viennois bezeichnete das mitverimpfte Blut als den Träger der Syphilis, weil das Blut von Syphilitischen, laut den bekannten Experimenten, ansteckend sei. Diese überraschend einfache Auf­klärung, welche von vom herein Nichts gegen sich zu haben schien, löste ungezwungen manche Eäthsel bei den unglücklichen Impfungen. Sie erwarb sich schnell die allgemeine Zustimmung, die Beobach­tungen von Lecocq undSöbastien brachten sogar den klinischen Beweis, Beobachtungen freilich, bei denen man den Eindruck kaum abwehren kann, als seien sie für die neue Lehre zugerichtet worden. Es schadete der Hypothese Viennois' auch nicht, dass in jeder klaren Lymphe regelinässig einige rothe Blutkörperchen gefunden werden, weil das Quantum des beigebrachten syphilitischen Blutes, hinsichtlich des inficirenden Erfolges, nicht gleichgültig ist.
Viennois gab seine Meinung als Hypothese, was sie auch heute noch vorstellt, denn niemals ist, weder experimentell noch klinisch, bewiesen, dass durch Vermischung von Vaccinlymphe und Blut eines Syphilitischen wiederum Vaccine und Syphilis überimpft worden sei, und wer in den Fällen von Lecocq, Sebastien, Pacchiotti u. A. den positiven Beweis erkennen will, der ist leicht befriedigt.
Den ersten Stoss gegen die Bluthypothese führte Melchior Robert 1862'), und Köbner hat seine Behauptungen ergänzt2).
Die bekannten Inoculationen mit dem Blute Syphilitischer (aus deren acutem, notorisch virulentem Stadium der allgemeinen Durch­seuchung) gaben bei 23 Versuchen: 6 Erfolge und 19 Nichterfolge, d. h. auf 100 Inoculationen 26 Erfolge. Geht man diese erfolg­reichen Versuche durch, so lassen sich zwei Kategorien sondern; in die erste kommen diejenigen, wo die Inoculationen durch einen ein-
1)nbsp; L'union med. 1S62. 47 u. 71.
2)nbsp; Archiv f. Dermat. u. Syph. 1870.
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fachen Einstich, wie er bei der Vaccination üblich ist, gemacht wur­den; es sind 10 Fälle, und alle waren ohne Erfolg. In der zweiten Kategorie kam eine bei weitem grössere Quantität Blut mit grösseren Eesorptionsflächen in länger dauernde Berührung; hier gab es 6 po­sitive und 7 negative Eesultate. — Ueberrechnet man nun die Reihe der voruehmlichsten Fälle von Vaccin-Syphilis, so kommen, nach Köbner, auf 324 Vaccinationen 222 Inficirte, 61 gesund Gebliebene, und 41, welche nach der Impfung nicht mehr gesehen wurden.
Während man also bei den directen Blut-Inoculationen, wo das­selbe zum Theil reichlich auf dem Corium aufgetragen wurde, unter 100 Fällen nur 26mal Haftung erzielte, würde man das Unglück haben, bei der Vaccination, wo sich's um ein Minimum von Blut und um. einen feinen Einstich oder Schnitt handelt, in 100 Fällen 71 mal die Syphilis zu übertragen. Und dabei müsste man die will­kürliche Annahme hinzufügen, dass in jenen 222 unglücklichen Fällen jedesmal eine recht bluthaltige Lymphe beigebracht sei.
Die Freunde der Bluttheorie haben die Zuverlässigkeit dieser Zahlen bemängelt, als ob es auf einige Procente mehr oder weniger ankommt, wo die auffällige Thatsache sich immer wiederholt hat, dass die unabsichtlichen vaccine-syphilitischen Inoculationen ganz unverhältnissmässig höhere Haftungsprocente ergeben, als die directen syphilitischen Impfungen.
Ganz unannehmbar erschien aber die Bluthypothese für den zweiten Stammimpfling, d.h. da, wo sie erklären wollte, wie ein gesundes, von einem syphilitischen Stammimpfling angestecktes Kind bereits S—10 Tage nach seiner Impfung, wo es selbst wieder­um als Stammimpfling diente, im Stande gewesen sein sollte, auf seine Impf - Descendenz die Syphilis fortzupflanzen zu einer Zeit also, wo seine eigene Durchseuchung nimmermehr schon den Grad erreicht haben konnte, um bereits ein inoculables Blut zu liefern. Wenn Au spitz diese Möglichke'it dadurch zu retten sucht, dass er behauptet: die normale Incubationszeit der Syphilis, von im Mittel 3 Wochen, werde durch die Mitüberimpfung der Vaccine auf ein Mittel von 10 Tagen herabgesetzt, so ist dieser Einfluss der Vac­cine ebenso unerwiesen, als jener, oben erwähnte, wonach sie die, in dem Impflinge schlummernde Syphilis rasch, zum Leben er­wecken soll.
Diesen theoretischen Bedenken gegen Viennois'Erklärung der Impfsyphilis folgten aber auch gerade Gegenbeweise ')• W. B o e c k
1) Rahm er a. a. 0. S. 2S u. 31.
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Impfsyphilis. Die Theorie Köbner's.nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp;335
hat fllnfmal die, mit Blut reichlich vermischte Lymphe stark syphi­litischer Kinder auf Gesunde verimpft, und damit keine Syphilis zu erzeugen vermocht. Mag man diese kleine Zahl immerhin miss-trauisch betrachten, es sind jedenfalls 5 positive Daten gegen Viennois, während keine sichere Thatsache für denselben be­kannt geworden ist.
Die Impfärzte Bousquet, Taupin, Cullerier, Fridinger haben ferner, wie Einige von ihnen ausdrücklich versichern, ohne jede Vorsicht beim Akte der Operation, wobei sehr häufig Blut der Abgeimpften floss, und ohne Berücksichtigung der Quelle, d. h. zum Theil von notorisch syphilitischen Kindern Tausende geimpft, und niemals üble Ereignisse hinterher beobachtet. Ja Reiter hat, wie er angibt, oft von Syphilitischen revaccinirt, und dabei absichtlich „zum Theil blutig verimpftquot;, ohne je die Syphilis mit zu übertragen; im vollen Vertrauen auf die Richtigkeit seiner (Privat-) Ansicht, dass die Vaccinepustel Syphilitischer das syphilitische Virus in so hochgradiger Verdünnung enthalte, dass es bei der Impfung mit kleinen Stichen unwirksam bleibe.
Das Unzureichende der Bluttheorie veranlasste verschiedene
•Forscher (Gamberini, Au spitz) nach einem anderen Träger des
Syphilisgiftes im Vaccinebläschen sich umzusehen, und Köbner
vertritt am bestimmtesten die zweite Hypothese, die hier in Frage
kommt').
Nach ihm ist das Vehikel der Syphilis das Secret einer an der Basis der (Pseudo) Vaccinepustel sitzenden syphi­litischen Lokalaffection, mag dieselbe nun eine, durch die Vaccination selbst erst eingeimpfte ülceration, oder beginnende Indu­ration sein — entsprechend den Fällen, wo von einem zweiten Stamm­impfling abgeimpft wurde — oder (bei dem ersten Stammimpfling) ein Infiltrat als Theilerscheinung einer bereits länger bestehenden constitutionellen Syphilis.
Köbner setzt also voraus, dass bei dem (ersten) Stammimpf­linge die Syphilis schon bestanden habe, und durch die Hautver­letzung, welche die Vaccination bereitet, zu einer Localisation an den Impfstellen gebracht sei; die letztere bleibe dem Auge ver­borgen, weil das Impf bläschen sich darüber erhoben habe. — Diese Vorstellung von der gleichzeitigen syphilitischen und vaccinalen Action an demselben Punkte des Coriums hat sehr viel Wider-
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1) Dissert, von Kahmer, Breslau 1869, u. Köbner, Archiv f. Dermat. u. Syph. 1870.
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336nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; XL Würdigung und Kritik der Vaccination.
strebendes: das Gebilde an der Impfstelle soll eine Vaccinepustel sein (und bei vielen der unglücklichen Impfungen haben die Aerzte in der That eine solche in aller Normität vor sich gehabt), und doch wieder eine Pseudo-Vaccinepustel, weil an ihrer Basis ein In­filtrat sitzt, das bereits verimpf bares Secret oder Gewebe darbietet!
Indess, Vorstellung oder nicht — viel wesentlicher ist, ob that-sächlich bei einem syphilitischen Stammimpflinge, am 8. oder 10. Tage nach seiner Impfung, das, was Köbner beansprucht, an der Basis des Jenner'sehen Bläschens gesehen oder gefüh 11 worden ist? Die unbedingte Antwort darauf heisst: niemals! denn keiner der bisher bekannten Stammimpflinge ist so zeitig und aufmerksam genug untersucht worden, und bei keinem sind, zur Zeit der Ab-impfung (am 8. bis 10. Tage), Geschwüre oder Infiltrate au oder unter den normal aussehenden Impfbläschen erwähnt worden.
Wie aber verliefen die Vaccinepusteln dieser Stammimpflinge in der Folgezeit? Sind alle, oder ein Theil wenigstens, in syphilitische Ulcerationen und Verhärtungen ausgegangen? was sicher hätte geschehen müssen, wenn alle oder einzelne an ihrer Basis zu­gleich syphilitische Affecte geborgen hätten: Nein! in keinem Falle wird weder von einer nachträglichen Ulceration des Impf-bläschen-Grnndes, noch von einem Aufbrechen der Impfnarbe be­richtet. Wol aber liest man (und selten genug ist von den Stamm­impflingen später die Rede) das Gegentheil, z. B. in der Beobach­tung von Trousseau, wo der beschuldigte Stammimpfling, vier Wochen nach seiner Impfung gesund das Spital verliess. Auch die Impfung des Kindes Choabrera in Rivaita verlief normal, es sollen schöne Bläschen entstanden, und dieselben regelmässig vernarbt sein, ohne dass sich Geschwüre aus ihnen bildeten. Da nach ferneren vier Monaten die Impfstellen dieses Kindes nicht weiter erwähnt werden, müssen sie dem Auge des eifrigen Pacchiotti gleichfalls nichts Abweichendes dargeboten haben.
Es fehlen also für die Hypothese Köbner's vor Allem die unerlässlichen örtlichen Befunde, während er andererseits selbst zu­gestehen muss, dass in einer grossen Anzahl von Vaccinationen und Revaccinationen deutlich syphilitischer Individuen durchaus nor­maler Verlauf der Vaccinen constatirt worden ist.
Ueberdies, bemerkt Au spitz, müsste noch nachgewiesen wer­den, dass gerade die Vaccine den Anstoss zur Bildung solcher Infil­trate (wie Köbner sie verlangt) gebe, da doch bekanntlich durch sonstige Verwundungen, Pustelaffectionen u. s. w. bei Syphilitischen
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Symptomatologie der Syphilis vaccinata.nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; 337
kein Auftreten syphilitischer Affecte an den Wundstellen, oder unter den Efflorescenzen, z. B. der Scabies, beobachtet wird.
So viel über die Hypothese, was den ersten Stammimpfling an­geht. In den Fällen, wo noch zweite Stammimpflinge intervenirten, nimmt K ö b n e r an, dass sich bei diesen, welche syphilisfrei waren, durch die vaccino-syphilitische Inoculation ein syphilitischer Affect am Boden der Impfpocke bis zum 8. oder 10. Tage gebildet habe, und zu dieser Zeit, wo sie zum Weiterimpfen dienten, übertragen sei.
Diese Annahme hat wenigstens zwei Thatsachen für sich, denn ein so frühzeitiges Hervortreten der örtlichen Erscheinungen nach Syphilis-Inoculation ist, wenn auch als Ausnahme, beobachtet, und andererseits sind bei den zweiten Stammimpflingen wirklich syphi­litische Ulcerationen der Impf bläschen festgestellt worden.
Für den zweiten Stammimpfling, woViennois nicht ausreicht, könnte Köbner genügen, wenn seine Hypothese nur bei dem ersten annehmbar wäre.
So steht heute diese überaus wichtige Angelegenheit: der Ur­sprung der, im Gefolge der Vaccination auftretenden Syphilis hüllt sich in ein Geheimniss, hinter welches zu dringen bisher alle An­strengungen missglUckten. Möglich, dass die gebotenen Hypothesen, an sich wahr, nur unzulänglich erscheinen wegen der Mangelhaftig-keit der klinischen Beobachtungen, nach welchen sie vorderhand gemessen werden müssen. Denn zweifellos verfolgen diejenigen die richtige Fährte, welche die Syphilis nicht in der klaren Vaccinlymphe, sondern ausserhalb derselben suchen. Es wird sich wie beim Impf-erysipel verhalten, mit welchem die Impfsyphilis in manchen wesent­lichen Punkten auffällig übereinstimmt.
Die SyDiptomatologie der Syphilis e vaccinatione.
Die Syphilis äusserte sich da, wo sie auf die Im­pfung zurückgeführt werden musste, immer zuerst an den Impfstellen. Das ist der feste Punkt, von welchem aus die klinischen Bilder in ausserordentlicher Mannichfaltigkeit sich ent­rollten.
Die mitgetheilten Beobachtungen sind doppelter Art. In der grösseren Zahl derselben erscheint sowol Vaccine als Syphilis ein­geimpft — die kleinere Reihe enthält nur Syphilisübertragungen. Bei diesen versteht sich die erste Localisation von selbst: es entstehen
Bohn, Handbuch der Vaccination.nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp;22
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338nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; XI. Würdigung und Kritik der Vaccination.
keine Vaccinebläsclien, die Impfung scheint verfehlt, und die erste Aeusseruug an der Impfstelle ist, nach mehrwöchentlicher Latenz, die Syphilis selbst. Im ersteren Falle dagegen, wo Vaccine und Syphilis zusammen inoculirt wurden, können sich die Vorgänge verschieden gestalten.
Die Vaccinen entwickelten sich in durchaus normaler Weise, so dass sie am 8—10. Tage zur Äbimpfung völlig geeignet befunden wurden, boten überhaupt in den beiden ersten Wochen nichts Un­gewöhnliches; aber anstatt zu vertrocknen, 'wurden sie, zwischen dem 15—20. Tage, geschwürig, und die Basis der unreinen Geschwüre fing an sich zu verhärten. Andere Male entstanden die Geschwüre erst nach dem Abfall der Krusten, zuweilen nach fertiger Bildung der Narben, welche aufbrachen und indurirten.
In den Fällen, wo es zu keinen regulären Vaccinen kam, (wenn­gleich eine spätere Probevaccination lehrte, dass auch die Lymphe gehaftet hatte,) da bedeckten sich die Impfstiche mit Borken, welche lange hafteten, oder es gingen harte kupfrige Knötchen aus ihnen hervor, die entweder später ulcerirten, oder unverändert lange be­standen. Seltener erfuhr die Impfstelle, ohne jede weitere Reac­tion, eine allmähliche Induration.
Welcher Modus nun statthatte, so- entarteten (in Uebereinstim-mung mit dem Impferysipel) fast niemals alle Stichpunkte an den Impflingen in gleicher Weise, sondern es wurden entweder nur ein Paar zu indurirten Geschwüren, und an den übrigen begab sich nichts (Trousseau, Lecocq), oder es kamen an einigen Impfstellen legitim verlaufende und vernarbende Kuhpocken, an den anderen syphilitische Aifecte zu Stande (Hörard, Chassaignac, Seba-stien).
Ein indurirter Schanker, oder (seltener) eine blosse Induration an der Impfstelle war demnach allemal das erste Symptom der vaccinalen Lues.
Dazu gesellten sich bald indolente Drüsenanschwellun­gen in der Achselhöhle und am Nacken, später an entlegeneren Theilen, deren Umfang und Härte bedeutender waren in den, der Impfstelle benachbarten Drüsen, als in den entfernteren. Die Inguinal-drüsen sind sogar mehrmals frei gefunden worden.' Die Drüsen­erkrankung wies somit direct auf die Ursprungsstätte der Lues hin.
Wie die syphilitischen Primäraffecte an den Impfstellen aus­fallen mochten, der Ausbruch der allgemeinen Syphilis er­folgte nicht unter zwei Monaten, manchmal erst in der 10., 12., ja IC. Woche nach der Vaccination. Gewöhnlich
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Prophylaxe der Syphilis vaccinata.nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp;339
eröffnete ein Syphilid dieselbe, später traten Schleimhauter­krankungen im Rachen, an den Genitalien hinzu, und im weiteren Verlaute die ganze, mehr oder weniger vollständige Reihe der übrigen constitutionellen Processe.
Die Incubationsfrist für diese allgemeine Aeusseruug der Infec­tion entspricht also bei den Vaccinirten im Allgemeinen den Gesetzen, welche für jede anderweitig erworbene, oder für die inoculirte Syphilis ermittelt sind; die gleichzeitige Vaccine kürzt die Incubation nicht ab.
Todesfälle sind ungemein häufig vorgekommen, dürfen jedoch nicht auf eine besondere Bösartigkeit der vaccinalen Syphilis, sondern auf die meist arge Vernachlässigung der inficirteu Kinder geschoben werden.
Die Zeit des Auftretens der allgemeinen Syphilissymptome dient zur Unterscheidung zwischen einer wirklichen Lues e vacci-natione und jener bloss zufällig mit der Impfung zusammenfallenden Syphilis, welche der Impfling bereits vorher in sich trug. Denn hier bindet sich der Ausbruch der generellen Symptome an keine Regel, und unmittelbar nach der Impfung, oder in den ersten Wochen^ bedeckt sich der Körper mit einem Syphilid, oder kommen Con-dylome auf den verschiedenen Schleimhäuten zum Vorschein. Das Verhalten der Impfstellen wechselt; gewöhnlich verlaufen und ver­heilen die Impfpocken in legitimer Weise, ohne Geschwürsbildung und Induration. Doch sind Ausnahmen verzeichnet, wo letzteres stattfand, so dass dem Befunde an den Impfstellen, hinsichtlich der differentiellen Diagnose, nicht allemal zu trauen ist.
Die Prophylaxe der Syphilis vaccinata enthält kaum eine Vorschrift, welche nicht längst für die kunstgerechte und ge­wissenhafte Ausführung jeder Imptung gegolten hätte.
1. Es darf nur aus echten Jenuer'schen Bläschen des 5 — 7. Tages abgeimpft werden. Benutzt man den Inhalt der Impfpocken vom 10 —14. Tage, wofür die unheilvollen Impfungen zahlreiche Beispiele bieten, dann verlässt man leichtsinnig ein bekanntes Fahrwasser.
Es darf 2. nur die klare und reine Lymphe auf die Lancette gefasst werden, und jede Impfpocke, bei deren Eröffnung Blut in sichtbarer Menge austritt, muss sofort autgegeben werden.
3. Jedes, zum Stammimpflinge erwählte Kind ist einer vorher­gehenden allseitigen Prüfung seines Gesundheitszustandes zu unter­ziehen. Als doctrinär muss die Forderung gelten, dass eine gleich umsichtige Untersuchung sich auf die Eltern u. s. w. zu erstrecken habe; die Forderung gewinnt nur einen Sinn, wenn man vom Impf-
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340nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; XI. quot;Würdigung und Kritik der Vaccination.
arzte verlangt, er solle die Stammimpflinge aus ihm bekannten, oder solchen Familien wählen, deren Mitglieder ihm Bürgschaft gegen Syphilis gewähren.
4. Um vor anscheinend gesunden, aber latent- (hereditär-) syphilitischen Stammimpflingen sicher zu sein, sollen dieselben nicht unter 5—6 Monaten stehen, in welchem Zeitraum sich die angeborene Lues offenbart haben wird. Das ist die einzige neue Vorschrift in der Prophylaxe der vaccinalen Syphilis. Denn was den, gleichfalls in dieselbe aufgenommenen Vorschlag anbetrifft, ausschliesslich, oder so weit als möglich die animale Lymphe in Verwendung zu ziehen, so werde ich demselben, ohne Rückhalt, erst dann beitreten, wenn unter Beweis gestellt ist, dass ein Impfarzt, welcher die vier ersten Vorschriften streng erfüllt hatte, sich trotzdem vor Syphilis im Ge­folge der Vaccination nicht hatte bewahren können.
Rückblick.
Prüft man, ohne Voreingenommenheit, die Anschuldigungen, welche gegen die Vaccination erhoben sind, so stellen sich die einen als grundlos, die andern als übertrieben heraus.
Nimmermehr soll bestritten werden, dass die milde Kuhpocken­krankheit ausnahmsweise eine bedrohliche, und selbst verderbliche Richtung einschlagen kann, so dass sie zur ernsten Erkrankung wird, der wol hier und dort ein Impfling zum Opfer fällt. Und die tiefen Schatten, welche der Impfrothlauf und die Impfsyphilis auf die Vaccination werfen, sollen in keiner Weise durch das helle Licht ihrer Vorzüge verdrängt werden. EsgibtbegründeteNachtheile der Vaccination, immerhin beklagenswerth, aber was die Art und Häufigkeit ihres Vorkommens, und demnach ihre wirkliche Bedeutung anbetrifft, nur in der übertriebensten Entstellung und carrikirtesten Verdrehung furchtbar. Die Gegner (oftmals nur die Verläumder) der Impfung erzählen viel von schrecklichen Ereignissen, welche sie häufig im Verlaufe derselben beobachtet haben, so dass die übrigen, viel mehr erfahrenen Impfärzte, denen dergleichen nicht begegnet, zweifelhaft werden müssen, ob dieselbe Impfung gemeint sei. Wie wenige Aerzte haben unter Tausenden von Impflingen aus den ver­schiedensten Ständen die Febris nimia mit ihren augenblicklichen Gefahren gesehen ? Wer hat z. B. ausser A1 b u 0 beobachtet,
1) Siehe die hohle Statistik: Berl. klin. Wochenschr. 1S71. S. 581.
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Rückblick.nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; 341
dass die Vaccination die Kinder im ersten und zweiten Lebensjahre durch Scrophulose und andere Krankheiten mehr als decimirt? Immerfort (siehe Reitz) liebt man, seine Urtheile über das Impf-erysipel, über Pyämie und Septieämie post vaccin. aus den Finde!-häusern zu holen, welche, mit ihren zahlreichen Mängeln, in den Augen keines Verständigen, den Ausschlag bei einer Sanitätsmass-regel geben können. Bei der Impfsyphilis vollends scheint mit jeder Logik, mit jeder naturwissenschaftlichen Methode gebrochen zu sein. Die veröffentlichten Fälle mit ihren groben Widersprüchen und Un­geheuerlichkeiten, welche den gewissenhaften Forschern lange Zeit das Bekenntniss der Impfsyphilis so schwer machten, werden von den Impfgegnern mit staunenswerther Gläubigkeit, wie eine Offen­barung, nachgebetet. Man nimmt keinen Anstoss, dass in vielen der Epidemien von Impfsyphilis strafbar spät abgeimpft wurde, man übersieht, wer in andern Fällen die Personen waren, unter deren Händen, z. B. bei der Hebamme in Grauchamp, die Syphilis auf­ging. Die mala praxis, die Unkenutniss und grobe Fahrlässigkeit, kurz jeglicher Mangel an der erforderlichen Sorgfalt bei dem Impf­geschäft hat häufig genug die evidente Schuld getragen. Wenn es wahr ist, dass die gewöhnliche, fortwährend geübte Impfung „häufig und leichtquot; Syphilis verbreitet, „wo ist, fragt John Simon mit Recht, die Syphilis, welche durch sie verbreitet wird? Wer beobachtet sie? Die Erfahrung unseres Impfamtes vveiss nichts davon. Jeder der 3500 Impfdistricte in England ist in den letzten 10 Jahren drei- bis viermal vaccinirt, und weiss, wie das nationale Impf Institut, nichts von vaccinirter Syphilis. Ist es denkbar, dass alle diese negativen Erfahrungen angeführt werden könnten, wenn die Kuhpockenlymphe von Kindern mit ererbter latenter Syphilis eine wirkliche Gefahr für den öffentlichen Gesundheitszustand in sich trüge ?quot; Und ebenso fragen wir in Deutschland nach der verbreiteten Impfsyphilis, wo der landläufige Usus bei den öffentlichen Gesammtimpfungen wahr­lich nicht die mindeste Garantie bietet, obwohl die Syphilis im Volke verbreitet genug, und die Bereitwilligkeit gross ist, jedes, der Vac­cination folgende Uebel sofort ihr zuzuschreiben. „Es steht, fährt J. Simon fort, unzweifelhaft fest, dass Jahr aus, Jahr ein Millionen von Impfungen in Europa vorgenommen werden, und kaum eine vereinzelte Anklage dabei laut wird, dass Syphilis durch dieselbe übertragen sei, und 2) dass Hunderte von Aerzten, die solche Fälle in grosser Menge sehen m U s s t e n, wenn sie in der That in grosser Menge vorkämen, mit fast absoluter Einstimmigkeit erklären, es sei ihnen in ihrer ausgedehnten Erfahrung nie auch nur ein einziger
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342nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; XI. Würdigung und Kritik der Vaccination.
solcher Fall begegnet. Wahrlich, für jeden praktischen Zweck ge­nügen solche Thatsachen vollkommen, und ihnen gegenüber wäre es eitel Sophisterei, wollte man sich in dem festen Vertrauen an die bisherige Art der Kuhpockenimpfung irre machen lassen.quot;
Berechtigter erscheinen auf den ersten Blick jene Zweifel au der Vaccine, welche die nicht aussterbenden, ja gehäuften und ge­steigerten Blatternepidemien unserer Tage hervorrufen. Ich gehöre nicht zu den Anbetern der Vaccination und bin der Meinung, dass es in dem Leben der Blatternkrankheit Momente gibt, welche nicht von ferne durch die Vaccination gestreift werden. Aber es fragt sich, da die antivariolöse Kraft der Vaccine ein unanfechtbares Factum ist, ob die Gesellschaft dieses Jahrhunderts alle Be­dingungen erfüllt hat, ohne welche das Schutzmittel die ihm eigene Kraft nicht entfalten kann.
Es ist ein recht schlechter Kunstgriff der Gegner, „ von der jetzt allgemeinen Verbreitung der Vaccination, von ihrem blühenden Zu­stande in Europaquot; zu sprechen (Reitz) und dass „die Bevölkerungen desselben schon so lange unter der vollen Einwirkung der Vaccine stehenquot; — während keine öffentliche Institution bisher widerwilliger ertragen, nachlässiger und ungenügender ausgeführt wurde, als die Kuhpockenimpfung. An Gesetzen und Folizeiverorduungen, welche sie in ihren Schutz nahmen, hat es keinem Staate Europas ge­fehlt, und Tausende von Kindern sind alljährlich geimpft worden. Und doch hat die letzte Pandemic von 1870—73 überall geradezu trostlose Irapfzustände aufgedeckt. In Berlin, der Metropole eines Staates mit scheinbar geregelten Impfzuständen, sind in den letzten Decennien des zunehmenden Verfalls der Impfung Jahre vorgekom­men, in denen nur 30 pCt. der Geborenen von der Impfung erreicht wurden. Auf 262,000 Geburten in dem Zeiträume von 1860—70 sind 142,000 Impfungen gezählt. Rechnet man von den Geburten 100,000 als todt und verzogen ab, und nimmt man an, dass unter dieser Zahl kein geimpftes Kind sich befunden habe, so bleiben noch immer 20,000 Ungeimpfte für das Jahr 1871 übrig; die Er­krankungslisten dieses Jahres enthalten die Anmeldung von 2730 üngeimpften (Guttstadt a. a. O.). Aehnliche, meist ungünstigere Zahlen enthalten sämmtliche Blatternberichte aus dieser Zeit uud Eyselein1) hat ausführlich nachgewiesen, wie die Vaccination nir­gends und niemals auch nur eine annähernd allgemeine gewesen sei.
1) Ueber Vaccination und Revacciuation und deren bisherige ungenügende Durchführung. Wiener med. Jahrb. 1872. Heft III.
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Rückblick.
343
Es wurde bisher kurz von Geimpften gesprochen, und dabei an den Normalverlauf einer hinreichenden Anzahl von Schutzpocken ge­dacht. In Wahrheit aber versteht das Publikum unter Impfung häufig nicht viel mehr, als den Act der Pockeninsertion. Wie un­genügend bei Vielen, welche durch die Jugendimpfung für geschützt gehalten wurden, dieselbe in Wirklichkeit war, weiss Jeder aus den öffentlichen Gesammtimpfungen. Da ging ein Theil der Kinder mit einer oder zwei Impfpocken davon, und für eine rechtzeitige Nach­impfung war bisher nur in der Gesetzgebung einiger kleiner deutschen Staaten gesorgt. Bei einem andern Theile der Impflinge fand über den Gang der Schutzpocken keine Controle statt, weil er der Re­vision vorenthalten wurde. Wo „Nichtsquot; nach der Impfung aufging, wozu da die Kinder überhaupt zur Revision stellen? So „impftenquot; und schützten wir alljährlich Tausende — dem Namen nach, und die Zweifler an der Vaccine, und die Gegner sahen ihre Abneigung gegen dieselbe bekräftigt, wenn ein Kind den Blattern unterlag —, das „geimpftquot; war — bei dem aber keine Pocke aufgegangen, oder wenn eine Person gegen die zwanziger Jahre an confluenten Blattern starb, deren Impfschein aus dem ersten Lebensjahr auf eine Schutz­blatter lautete.
Und doch stehen wir noch nicht am Ende dieser Betrachtungen.
Alle jene Bedenken, welche aus den Blatternepidemien des 2., 3. und 4. Decenniums, vor Kenntniss der Revaccination, gegen die Vaccine erhoben wurden, gehen uns heutzutage nichts mehr an, da wir wissen, dass derjenige, welcher die Wiederholung der Impfung verabsäumt, nicht den Anspruch auf die volle Ausnutzung des Schutz­mittels erheben kann. Mit der Revaccination aber hat es bis zur heutigen Stunde in der Civilbevölkerung so gestanden, dass sie, die Zeiten der Epidemien abgerechnet, mehr als überflüssiger Luxus der bessern Stände gelten konnte. Dabei herrscht über den Werth der äusserst mannichfaltigen Erfolge bei der Revaccination vollständige Unkenntniss beim Publikum, und selbst vielen Aerzten wäre ein grösseres Maass dieser Kenntniss wünschenswerth. Zahlreiche Re-vaccinationen, bei drohender Pockengefahr und Lymphmangel, werden mit einem durchaus unzuverlässigen Stoffe unternommen. Versagen sie, so gilt das gewöhnlich für ein Zeichen der Immunität. An eine sorgfältige Beobachtung der Revaccinirten, ohne welche der Erfolg nicht beurtheilt werden kann, hat man sich nicht gewöhnt. So sind Erstaunen und Entrüstung masslos, wenn ein Revaccinirter, über dessen zweite Impfung Niemand ein Urtheil besitzt, von der Seuche weggerafft wird.
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344nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; XI. Würdigung und Kritik der Vaccination.
Wir haben kein Recht, von einer Schutzimpfung im Staate zu sprechen, wenn die Revaccination nicht in derselben quot;Weise, wie die Vaccination aufgefasst und behandelt wird — und wir sind augen-hlicklich aussei* Stande, ein sicheres Urtheil über den Umfang der Leistungen, deren die Vaccine fähig ist, abzugeben, weil wir ihre ganze Kraft niemals geprüft haben.
Suchen die Gegner hier vorzuspiegeln, dass die Menschheit schon längs: im Vollgenuss der Vaccination lebe, und trotzdem von den Blattern nicht befreit sei, so geben sie andrerseits mit wohlbedachtem Stillschweigen über eine sehr wesentliche Thatsache hinweg, indem der Variola modificata gewöhnlich mit keiner Silbe Erwähnung ge­schieht (s. u. A. Reitz „Versuch einer Kritik der Schutzpocken-Impfung 187-1); die Blattern von heute und von ehedem gelten ihnen schlechtweg für dieselben Blattern, die Pocken der Geimpften für die ganz gleiche Krankheit, wie die bei Ungeimpften. Und doch hat jene gemilderte Blatternform unter den geimpften Bevölkerungen in unserem Jahrhundert nur der Vaccination ihre allgemeine Herr­schaft entlehnt.
So beklagenswerth die Ereignisse sind, welche, unvermeidbar, zuweilen aus der Impfung entspringen, vermögen sie doch, als geringer Tribut für die Millionen Leben, welche die Vaccination er­hält, keinen Einfluss auf die Beurtheilung der Scbutzmetbode zu üben. Sie können nur ein Sporn für die Wissenschaft sein, ernst­licher als bisher dem Studium der Vaccine nachzugehen, und legen dem Arzte die Pflicht auf, den simpeln Lancettstichen die Auf­merksamkeit einer wichtigen Operation zu schenken, nicht durch Sorglosigkeit den Zweck derselben zu vereiteln, oder durch leicht­fertige Wahl des Impfstoffs den Ruf des Schutzmittels aufs Spiel zu setzen. Die Vaccination muss eine Ehrensache der ärztlichen Praxis sein. —
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Zwölfter Abschnitt.
Die Mministration der Vaccination.
Die Schutzpockeuimpfung ist nicht blos ein merkwürdiger wissen­schaftlicher Fund, geeignet die Fachmänner anzuziehen, sondern sie schliesst, wie die früheren Abschnitte gelehrt haben, die grösste praktische Bestimmung in sich. Und da letztere weit über die rein persönlichen Interessen hinausgeht, kann die Vaccination nicht dem Belieben des Einzelnen anheimgegeben werden, vielmehr hat die Gesellschaft ein Anrecht auf dieselbe, wie auf ihr Eigenthum, und darf sich desselben nicht begeben.
Die Regierungen in den meisten cultivirten Staaten haben das frühe begriffen, und fast überall ist der erste Anstoss zur Aufnahme der verheissungsvollen Entdeckung von hoher oder höchster Stelle aus erfolgt. Aber man ist lange Jahre über das Nothdürftigste nicht hinausgegangen; wenige Staaten abgerechnet, haben die meisten Re­gierungen sich begnügt, die Einsicht und den guten Willen der Bevölkerungen wiederholt, wohl auch dringend anzurufen, und den Erwerb des Schutzmittels zu erleichtern. Das konnte so lange vor­sichtig heissen, als eine geringe Erfahrung über die Vaccination zu Gebote stand; das musste gebilligt werden, als die Regierungen, in den 20er und 30er Jahren mit Bestürzung erfuhren, wie vergänglich der anfangs so sicher gepriesene Schutz der Vaccine geworden sei. Aber seit geraumer Zeit schon ist diese Verlegenheit überwunden, und jene Vorsicht überflüssig geworden, und schädlich zugleich, weil das Publikum, von meist unlauterer Seite her fortwährend über die Vaccination beunruhigt, hinter den halben Massregeln der Regierung
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346nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; XII. Die Administration der Vaccination.
nur halbe Ueberzeugung, ja Misstrauen in die Sache argwöhnen musste.
Bis zur Ermüdung ist die Frage wiederholt und verhandelt worden, ob der Staat das Recht habe, die Schutzpocken­impfung, als allgemeine sanitäre Massregel, gesetzlich in die Hand zu nehmen, und für seine Bürger eine Verpflichtung daraus abzu­leiten? Das ist als ein Eingriff in die Bestimmung des Einzelnen über sein leibliches Wohl, als eine Schädigung der persönlichen Freiheit, bestritten worden, und manche Regierungen, welche sonst nicht ängstlich mit der letzteren umzugehen pflegten, glaubten die­selbe , im Punkte der Vaccination, für unantastbar erklären zu müssen. Der Missbrauch, welcher hier mit dem Heiligthume der persönlichen Freiheit getrieben wird, ist für die gedankenlosen Nach­beter berechnet.
Der Rechtsstandpunkt in dieser Frage lässt sich kurz fassen: Der Staat hat die Pflicht, seine Einwohner vor einer höchst ver­derblichen Seuche zu schützen, die noch immerfort und an Kraft unvermindert ihre Umzüge in der Welt macht, Menschenleben zu retten, Gesundheit und Arbeitskraft zu erhalten, welche dem Einzelnen zum Lebensgenuss, und der Gesellschaft zu ihrer weiteren Entwicke-lung von höchstem Werthe sind. Aus dieser Pflicht erwächst ihm das Recht, die Freiheit des Einzelnen so weit einzuschränken, als das wohlerkannte Interesse der Gesammtheit verlangt. Auf dem Gebiete der öffentlichen Gesundheitspflege handhabt er schon lange dieses Recht unbestritten in den verschiedensten Formen, und bei mannich-fachen Gelegenheiten.
Handelte es sich bei der Vaccination um das Wohl oder Wehe des Einzelnen, und würde gefragt, ob der Staat berufen sei, die einzelne Person vor den Blattern zu bewahren, so müsste das kurzweg verneint werden, denn des Einzelnen Schicksal ist wahrlich des Staates Sache nicht. Aber die Blattern sind eine Volkskrankheit und wenn sie den in einer Gemeinschaft lebenden Menschen befallen, hören sie auf, dessen Privatangelegenheit zu sein, weil sie durch ihn die üebrigen gefährden. Und da gebietet die erste und unbestreit­bare Pflicht der Gemeinschaft, welche sich Staat nennt. Gefahren zu steuern, welche, von dem Einzelnen ausgehend, dem Ganzen drohen. Auf diesem Pfeiler ruht die staatliche Existenz und es muss für durchaus identisch .erachtet werden, ob jene Gefahren durch die brutale Willkür oder durch feindselige Neigungen des einzelnen Individuums gegen seine Umgebung heraufbeschworen werden, oder ohne sein Verschulden aus ihm erwachsen. Im vor-
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XII. Die Administration der Vaccination.nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; 347
liegenden Falle hat der Staat noch die besondere Verpfiielitung, über diejenigen zu wachen, welche sich selbst nicht bewachen und schützen können, für die Kinder. Wie viele Opfer legt er unserer persönlichen Freiheit zu ihren Gunsten auf!
Die Gegner wenden ein, dass alles dies so lange sich richtig verhalte, als das Opfer, welches von dem Einzelnen gefordert würde, kein bedenkliches sei. Die Vaccination aber, wenn sie auch bei der ungeheuren Mehrzahl der Menschen eine kaum nennenswerthe Krank­heit bedinge, könne den Tod oder eine schwere Schädigung der Gesundheit nach sich ziehen. Niemand vermöge für ihren Ausgang einzustehen. Derartige Unglücksfälle, selbst wenn sie einzeln da­ständen, würden nimmermehr aufgewogen durch etwaige Tausende, welche die Vaccination vom Blatterntode errette, oder durch Millionen, welche jetzt unter ihrem Schlitze ruhig dahinleben. Der Einzelne dürfe von Staatswegen nicht verpflichtet werden, sich in einer, nach vielen Seiten bin zweifelhaften Angelegenheit dem Ganzen als mög­liches Opfer zu stellen.
Es trifft nicht zu, wenn solchem Einwände von den Impffreunden mit dem Hinweis auf andere gemeinnützige Entdeckungen grossen Stils begegnet wird, die Niemand ungeschehen machen möchte, obgleich sie entfernt sind, Allen, die sie benutzen, nur Heil und Wohl-that zu spenden. Denn das Chloroform und die Eisenbahnen, welche hier vornebmlich herbeigezogen werden, halten zwar im Uebrigen den Vergleich mit der Vaccination aus, unterscheiden sich aber wesentlich darin von ihr, dass der Staat die Benutzung derselben nicht gebietet oder erzwingt. Es muss daher nach einer staat­lichen Einrichtung gesucht werden, welche gleich der Vaccination, auf mögliche Gefahren hin, den Einzelnen zwingt, seine Ge­sundheit und sein Leben dem Ganzen zur Verfügung zu stellen, und das ist die allgemeine Wehrpflicht. Man darf dabei nicht sofort an die Gefahr des Krieges denken, für welchen jener allge­meine Waffendienst vorbereitet, schon die militärische Ausbildung und die Scheinmanöver im Frieden kosten alljährlich Hunderten Gesundheit und selbst das Leben. Und wofür? Sind die socialen Uebel der Kriege nothwendiger, unvermeidbarer, als die physische Bedrängniss der Menschheit von der Blatternseuche?
Wenn also dem Staate das Eecht zusteht, ja die Verpflichtung obliegt, von der Vaccination, als dem gegen die Blattern best­erprobten Schutzmittel Gebrauch zu machen, und wenn ihre Durch­führung von dem Gutdünken Einzelner nicht gekreuzt werden darf, dann kann der Zwang des Gesetzes nicht umgangen werden.
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348nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; XII. Die Administration der Vaccination.
Die Erfahrung eines halben Jahrhunderts bat alle Impfverordnungen, welche auf die Ueberzeugung und das Entgegenkommen der Be­völkerung einzuwirken trachteten, als ohnmächtig biossgestellt; sie hat ferner die Unzulänglichkeit des sogenannten indirecten Impf­zwanges dargethan. Wenn die preussische Regierung früher, bei den wiederholten Petitionen einzelner Provinzial-Landtage für den directen Zwang, auf die schönen Fortschritte hinwies, welche die Impfung, vermittelst Belehrung und Ermahnung, in ihrem Lande gemacht habe, so scheint ihr verborgen geblieben zu sein, dass das Publikum, sowie ein grosser Theil seiner Aerzte in dem festen Glauben eines in Preussen bestehenden Impfzwanges gelebt haben. Dieser Irrthum, in welchem der polizeilichen Aufforderung zum Impfen der Kinder ziemlich allgemein Folge geleistet wurde, war das Geheimniss der leidlichen Resultate, welche die Vaccination bisher in Preussen aufzuweisen hatte. Ein gleicher Irrthum kam der Revaccinatiou in einem Kreise Würtembergs zu statten. Wo ein solcher Irrthum nicht waltet, wie u. A. im englischen Indien und dem französischen Algier, da treiben die verheerendsten Blattern-epidemien mit den, wie man sagt, „unablässigen und angestreng­testen Bemühungen der Regierung, die Vaccination in die Höhe zu bringenquot;, grausamen Spott.
Dieselben Gründe, welche zur erstmaligen Impfung verpflichten, bestehen auch für die Einführung des Revaccinatious-Zwanges. Ja, wie die Sachen augenblicklich liegen, fällt der Schwerpunkt der Impffrage gerade auf die Revaccinatiou, denn nicht die Mangelhaf-tigkeit der Jugendimpfung führt die Gefahren der Blatternseuche immer von Neuem über die Gesellschaft herauf, sondern es wird dies nur durch den Unverstand und die Gleichgültigkeit möglich, welche das grosse Publikum der Revaccination gegenüber festhält.
In welcher Weise dem Gesetze bei den Widerstrebenden Ach­tung zu verschaffen sei, ist eine, meines Erachtens, immer viel zu doctrinär behandelte Frage. Es kommt Alles darauf an, dass die Regierung selbst, dem Impfgesetze gegenüber, den vollen Ernst und die Gewissenhaftigkeit der Pflicht offenbare. Dann wird das Publikum, welches sich jetzt meist so stellt, als bringe es mit der Vaccination ein Opfer, gleichfalls Achtung vor ihr empfinden, und die Zahl der wirklichen Widersacher — nicht der vermeintlichen, die es aus Trägheit und Befürchtungen verschiedener Art sind — wird stets eine geringe sein. Geld- und Freiheitsstrafen, mit dem Widerstände gesteigert, genügen, und haben immer ausgereicht; solche Zwangsmassregeln sind in Bayern innerhalb mehr denn 60 Jahren,
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XII. Die Administration der Vaccination.nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; 349
nicbt oft nöthig gewesen. Kommt dem Gesetze dann, namentlich betreffs der Revaccination, der vielseitige Druck des iudirecten Zwanges bei den verschiedenen Acten des bürgerlichen Lebens, zur Hülfe, so hat man Schranken genug aufgerichtet, das Umgehen des Gesetzes zu verhindern. Jeden weiteren Zwang, der consequent bis ans Ende geführt, ein gewaltsames Hinschleppen der Impflinge zur Impfung fordern müsste, verbietet die Humanität. Er ist in diesem Sinne niemals verlangt worden, und kein Impfgesetz hat ihn anzu­ordnen gewagt.
Mit der Emanation eines Impfgesetzes fallen aber der Regierung Verpflichtungen zu, welche sie nicht, wie gewöhnlich auf dem Ge­biete der öffentlichen Gesundheitspflege, des Kostenpunktes wegen verkleinern darf. Die Sparsamkeit hat leider bisher immer als oberste Norm in den Impfverordnungen gegolten. Die möglichste Er­leichterung der Impfung, die thunlichste Sicherstellung vor den Nachtheilen und Gefahren derselben müssen die leitenden Gesichtspunkte und die Ziele bilden, denen alles Uebrige sich unter­ordnet. Daneben erhebt die wissenschaftliche Förderung der Vaccination, welche mit ihren eminent praktischen Zwecken aufs Innigste verflochten ist, die begründetsten Ansprüche an den Staat. Die tiefere Kenntniss der Vaccine, die Ausfüllung der zahlreichen Lücken in ihrem Verständuiss dürfen nicht länger von den gelegent­lichen, bruchstückartigen Studien einzelner Liebhaber abhängig ge­macht werden; sondern an ihre Stelle müssen planvolle Studien in gut eingerichteten Impfinstituten treten. (S. Impfinstitute 354.)
Das Deutsche Impfgesetz vom 8. April 1874.
sect; 1. Der Impfung mit Schutzpocken soll unterzogen werden:
1.nbsp; jedes Kind vor dem Ablauf des auf sein Geburtsjahr fol­genden Kalenderjahres, sofern es nicht nach ärztlichem Zeug­nisse (sect; 10) die natürlichen Blattern überstanden hat;
2.nbsp; jeder Zögling einer öffentlichen Lehranstalt oder einer Privatschule, mit Ausnahme der Sonntags- und Abend­schulen, innerhalb des Jahres, in welchem der Zögling das zwölfte Lebensjahr zurücklegt, sofern er nicht nach ärzt­lichem Zeugnisse in den letzten fünf Jahren die natürlichen Blattern überstanden bat, oder mit Erfolg geimpft worden ist.
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quot;
350nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; XU. Die Administration der Vaccination.
sect; 2. Ein Impfpflichtiger (sect;1), welcher nach ärztlichem Zeug­nisse ohne Gefahr für sein Leben oder für seine Gesundheit nicht geimpft werden kann, ist binnen Jahresfrist nach Aufhören des, diese Gefahr begründenden Zustandes der Impfung zu unterziehen.
Ob diese Gefahr noch fortbesteht, hat in zweifelhaften Fällen der zuständige Impfarzt (sect; G) endgiltig zu entscheiden.
sect; 3. Ist eine Impfung nach dem Urthcile des Arztes (sect; 5) er­folglos geblieben, so muss sie spätestens im nächsten Jahre, und falls sie auch dann erfolglos bleibt, im dritten Jahre wiederholt werden.
Die zuständige Behörde kann anordnen, dass die letzte Wieder­holung der Impfung durch den Impfarzt (sect; 6) vorgenommen werde.
sect; 4. Ist die Impfung ohne gesetzlichen Grund (sect;sect; 1. 2) unter­blieben, so ist sie binnen einer, von der zuständigen Behörde zu setzenden Frist nachzuboleu.
sect; 5. Jeder Impfling muss frühestens am sechsten, spätestens am achten Tage nach der Impfung dem impfenden Arzte vorgestellt werden.
sect; fi. In jedem Bundesstaate werden Impf bezirke gebildet, deren jeder einem Impfarzte unterstellt wird.
Der Impfarzt nimmt in der Zeit vom Anfang Mai bis Ende September jeden Jahres an den vorher bekannt zu machenden Orten und Tagen für die Bewohner des Impf bezirks Impfungen unentgeld-lieh vor. Die Orte für die Vornahme der Impfungen, sowie für die Vorstellung der Impflinge (sect; 5) werden so gewählt, dass kein Ort des Bezirks von dem nächst belegenen Impforte mehr als 5 Kilo­meter entfernt ist.
sect; 7. Für jeden Impf bezirk wird vor Beginn der Impfzeit eine Liste der nach sect; 1, Ziffer 1, der Impfung unterliegenden Kinder von der zuständigen Behörde autgestellt, lieber die auf Grund des sect; 1, Ziifer 2, zur Impfung gelangenden Kinder haben die Vorsteher der betreffenden Lehranstalten eine Liste anzufertigen.
Die Impfärzte vermerken in den Listen, ob die Impfung mit oder ohne Erfolg vollzogen, oder ob und weshalb sie ganz oder vorläufig unterblieben ist.
Nach dem Schlüsse des Kalenderjahres sind die'Listen der Be­hörde einzureichen.
Die Einrichtung der Listen wird durch den Bundesrath fest­gestellt.
sect; 8. Aussei' den Impfärzten sind ausschliesslich Aerzte befugt, Impfungen vorzunehmen.
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Das Deutsche Impfgesetz vom S. April 1S74.nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; 351
sect; 9. Die Landesregierungen haben nach näherer Anordnung des Bundesraths dafür zu sorgen, dass eine angemessene Anzahl von Impfinstituten zur Beschaffung und Erzeugung von Schutzpocken­lymphe eingerichtet werde.
Die Impfinstitute geben die Schutzpockenlymphe an die öffent­lichen Impfärzte unentgeldlich ab und haben über Herkunft und Abgabe derselben Listen zu führen.
Die öffentlichen Impf ärzte sind verpflichtet, auf Verlangen Schutz­pockenlymphe, soweit ihr entbehrlicher Vorrath reicht, an andere Aerzte unentgeldlich abzugeben.
sect; 10. lieber jede Impfung wird nach Feststellung ihrer Wir­kung (sect; 5) von dem Arzte ein Impfschein ausgestellt. In dem Impf­schein wird, unter Angabe des Vor- und Zunamens des Impflings, sowie des Jahres und Tages seiner Geburt, bescheinigt, entweder, dass durch die Impfung der gesetzlichen Pflicht genügt ist, oder, dass die Impfung im nächsten Jahre wiederholt werden muss. In den ärztlichen Zeugnissen, durch welche die gänzliche oder vor­läufige Befreiung von der Impfung (sect;sect; 1, 2) nachgewiesen werden soll, wird, unter der für den Impfschein vorgeschriebenen Bezeich­nung, der Person bescheinigt, aus welchem Grunde und auf wie lange die Impfung unterbleiben darf.
sect;11. Der Bundesrath bestimmt das für die vorgedachten Be-scheiniguDgen (sect; 10) anzuwendende Formular.
Die erste Ausstellung der Bescheinigung erfolgt Stempel- und gebührenfrei.
sect; 12. Eltern, Pflegeeltern und Vormünder sind gehalten, auf amtliches Erfordern mittelst der vorgeschriebenen Bescheinigungen (sect; 10) den Nachweis zu führen, dass die Impfung ihrer Kinder und Pflegebefohlenen erfolgt oder aus einem gesetzlichen Grunde unterblieben ist.
sect; 13. Die Vorsteher derjenigen Schulanstalten, deren Zöglinge dem Impfzwange unterliegen (sect; 1, Ziffer 2), haben bei der Aufnahme von Schülern durch Einfordern der vorgeschriebenen Bescheinigungen festzustellen, ob die gesetzliche Impfung erfolgt ist.
Sie haben dafür zu sorgen, dass Zöglinge, welche während des Besuches der Anstalt nach sect; 1, Ziffer 2, impfpflichtig werden, dieser Verpflichtung genügen.
Ist eine Impfung ohne gesetzlichen Grund unterblieben, so haben sie auf deren Nachholung zu dringen.
Sie sind verpflichtet, vier Wochen vor Schluss des Schuljahres
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352nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; XII. Die Administration der Vaccination.
der zuständigen Behörde ein Verzeichniss derjenigen Schüler vorzu­legen, für welche der Nachweis der Impfung nicht erbracht ist.
sect; 14. Eltern, Pflegeeltern und Vormünder, welche den nach sect; 12 ihnen obliegenden Nachweis zu führen unterlassen, werden mit einer Geldstrafe bis zu zwanzig Mark bestraft.
Eltern, Pflegeeltern und Vormünder, deren Kinder und Pflege­befohlene ohne gesetzlichen Grund und trotz erfolgter amtlicher Auf­forderung der Impfung oder der ihr folgenden Gestellung (sect; 5) ent­zogen geblieben sind, werden mit Geldstrafe bis zu fünfzig Mark oder mit Haft bis zu drei Tagen bestraft.
sect; 15. Aerzte und Schulvorsteher, welche den durch sect; 8, Ab­satz 2, sect; 7 und durch sect; 13 ihnen auferlegten Verpflichtungen nicht nachkommen, werden mit Geldstrafe bis zu einhundertfünfzig Mark oder mit Haft bis zu vierzehn Tagen bestraft.
sect; 16. Wer unbefugter Weise (sect; 8) Impfungen vornimmt, wird mit Geldstrafe bis zu einhundertfünfzig Mark, oder mit Haft bis zu vierzehn Tagen bestraft.
sect; 17. Wer bei der Ausführung einer Impfung fahrlässig han­delt, wird mit Geldstrafe bis zu fünfhundert Mark oder mit Gefäng­nissstrafe bis zu drei Monaten bestraft, sofern nicht nach dem Straf­gesetzbuch eine härtere Strafe eintritt.
sect; 18. Die Vorschriften dieses Gesetzes treten mit dem 1. April 1875 in Kraft. Die einzelnen Bundesstaaten werden die zur Aus­führung erforderlichen Bestimmungen treffen.
Die in den einzelnen Bundesstaaten bestehenden Bestimmungen über Zwangsimpfuugen bei dem Ausbruch einer Pocken-Epidemie werden durch dieses Gesetz nicht berührt.
Impfregulatir.
Die Aufstellung eines Impfregulativs ist Sache der Lokal-Ke-gierungeu, welche dabei die örtlichen Zustände Und Bedürfnisse zu berücksichtigen haben. Die folgenden Normen dagegen sind allge­meingültig, und werden in jeder Instruction gefunden werden müssen.
Unter der Oberaufsicht der Lokal-Regierung leiten und über­wachen die Orts-, beziehungsweise die Kreis-Polizeibehörden das Impfwesen. (Aufstellung der Impflisten, Eintheilung der Impfbezirke,
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Impfregulativ.nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; 353
Wahl der Impfärzte, Bestimmung und Veröffentlichung der Impf-tennine, Beschaffung der Lokalien.
Ein Polizei- oder Gemeinde-Beamter wohnt jeder öffentlichen Impfung bei, und besorgt alle, nicht rein technischen Geschäfte.
Die öffentlichen Impfungen fallen von Anfang Mai bis Ende September jeden Jahres. Die Privat-Impfungen sind dem Ermessen der einzelnen Aerzte überlassen.
Nur approbirte Aerzte sind befugt, Impfungen vorzunehmen.
Die öffentlichen Impfungen sind unentgeltlich und dürfen von Jedermann benutzt werden.
Anwendbar sind: die humanisirte Lymphe (einschliesslich der Lymphe aus vollkommenen Revaccinen), die originäre, die Eetro-vaccin- und die sogenannte animale Lymphe. Nur zu Revacci-nationszweoken soll die animale Lymphe nicht in den öffentlichen Gebrauch kommen. — Die directe Uebertragung jedweden Stoffes ist, soviel als thunlich, zu erstreben. Die in Glasphiolen aufbe­wahrte Lymphe muss sich vollkommen klar erhalten haben; weisse Flocken und fadige Gerinnsel gelten nicht als Verunreinigung.
Nur kräftige gesunde Kinder mit reiner Haut und mit voll­kommen legitimen Vaccinen dürfen als Stammimpflinge benutzt werden; bei den öffentlichen Impfungen niemals Kinder unter 6 Monaten. — Der Vaccinateur ist verpflichtet, so weit ihm möglich, die Gesundheitsverhältnisse der Eltern der Stammimpflinge zu er­forschen.
Die Lymphabnahme jenseits des 8. Tages (der 7 mal 24 Stunden) nach der Impfling ist verboten. — Die Lymphe muss klar, und nicht sichtbar durch Blut verunreinigt sein. Jede blutende Impf-pocke ist sofort zu verlassen. — Durch Quetschen des Bodens der Pocke Lymphe zu gewinnen, ist untersagt. Wie viel Individuen aus einer Pocke geimpft werden, hängt von deren spontaner Ergiebigkeit ab, doch sollen aus einer Impfpocke höchstens 5—6 Kinder geimpft werden, und die Hälfte der Impfpocken des Stammimpflings muss uneröffnet bleiben. Aufgekratzte oder bereits geborstene Bläschen dürfen nicht benutzt werden.
Die Impfung geschieht in der Regel auf beiden Oberarmen, und insgesammt an 10—12 Stellen, die gleichmässig vertheilt werden, jede Pocke von der andern 1 '/a—2 Ctm. entfernt.
Die Impfung ist als erfolgreich zu betrachten, und darf der Impfschein nicht verweigert werden, wenn Eine Impfpocke zur vollen Entwickelung und Reife gekommen ist. Dagegen sind alle Kinder, bei welchen nur 1 oder 2 Impfpocken regulär sich ent-
Bohn, Handbuch der Vaccination.nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp;quot;
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354nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; XII. Die Administration der Vaccination.
wickelt haben, Im nächsten, beziehentlich im zweiten Jahre einer abermaligen Impfung zu iinterziehen. Von Kindern mit 1 oder 2 Impf­pocken darf nicht abgeimpft werden.
luipfinstitute
(deren Einrichtung und Aufgaben).
Die Lehre von der Vaccination lässt fast überall die Exactheit vermissen, welcbe erreicht werden kann, weil die meisten Fragen, die sie anfwirft, durch den directen Versuch an Thieren und Menschen beantwortet werden können. Der einzelne Forscher aber ist aussei* Stande, sich an diese Aufgaben mit den entsprechenden Mitteln zu machen, und sie in dem notwendigen Umfange zu lösen. Dazu bedarf es Anstalten, ähnlich den pathologischen Instituten, und die­selben müssen schon deshalb Staatsinstitute sein, da des Staates Interesse mit dem Stande der Schutzimpfung enge verwebt ist.
Die gegenwärtig in Deutschland bestellenden „Impfinstitutequot; vermögen, zu blossen Lymphniederlagcn und öffentlichen Impfstätten bestimmt, nur den nächsten praktischen Zwecken, und auch diesen in unvollkommener Weise zu dienen.
Ein Impfinstitut, wie es hier gedacht wird, ausgestattet mit hin­reichenden Mitteln, und von wissenschaftlichen Aerzten geleitet, hat zwei Aufgaben zu verfolgen, die praktische und die wissenschaftliche.
Am Sitze der Provincialregierung soll es, in ersterer Beziehung die Centralstelle für die Impfangelegenheiten der ganzen Provinz bilden. Es besorgt selbst die öffentlichen Impfungen der Stadt, wo es . sich befindet, leitet das auswärtige Impfwesen, und empfängt die Berichte sämmtlicher öffentlicher und Privat-Vaccinateure der Provinz. In seinen Ordinationsstunden bietet es dem Publikum und den Aerzten jederzeit ein gutes Impfmaterial zu Vaccinationen und Revaccinationen, und versendet auf Begehren Lymphe nach auswärts.
Um aber ein sicheres Urtheil über die vaccinalen Leistungen gewinnen, und dieselben laufend controliren zu können, muss ein solches Institut zugleich der Sammelpunkt für die Blatternvorgänge in der ihm übergebenen Bevölkerung sein.
Seine wissenschaftlichen Arbeiten hier näher zu erörtern, wäre eine durchaus überflüssige Mühe. An vielen Stellen dieser Arbeit ist auf die Mangelhaftigkeit und die Unsicherheit unserer Kenntnisse, auf die Lücken in denselben, und auf die dunkeln Punkte
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Impfinstitute.nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; 355
in der Vaccinationslehre hingedeutet worden, welche der Bearbeitung, des Experimentes, der sorgfältigeren klinischen Beobachtung, der statistischen Forschung dringend bedürfen, und jeder Sachverständige wird eine Menge Fragen in Bereitschaft haben, die blos auszusprechen nicht lohnt, wenn man sich nicht ihrer Lösung widmen kann. Wir wissen eben Vielerlei von der Vaccination, aber nicht viel, und darunter Vieles recht ungenau.
Sieht man unserer Forderung nach Impfinstituten, wie sie hier, um nicht ins Blaue zu construiren, mit den flüchtigsten Strichen skizzirt worden sind, ernst ins Auge, dann wird man sie weder über­trieben, ideal, noch praktisch unausführbar, oder, was wesentlich mitspricht, kostspielig finden. Der freie wissenschaftliche Charakter aber würde solchen Anstalten oft das Interesse und die freiwillige kräftige Unterstützung der Aerzte zuwenden, ohne deren Hilfe das Ziel unerreicht bleibt, und die, in ihrer Gesammtheit, sich niemals willig finden lassen, wenn ihre Arbeit nur in die Verwal­tungs-Bureaus wandert.
Ich habe mich jeder Kritik des Deutschen Reichsimpfgesetzes in diesem Buche enthalten, weil sie im Augenblicke mtissig wäre, und es räthlicher erscheint, das endlich Errungene fest in die Hand zu nehmen und zu verwerthen, als durch Ausstellungen und Be­denken zu schmälern. Das nächste Decennium wird die Kritik selbst übernehmen. Wie viel bestimmter würde dieselbe ausfallen, und welche neuen legislatorischen Experimente würden künftig erspart werden, wenn, mit der Emanirung des Gesetzes, die Vaccination zu­gleich dahin verwiesen wäre, wohin sie gehört — an Impf institute.
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REGISTER.
Adenitis axillar. 167. Anatomie d. Impfpocken 15-1. Anomalien d. Vaccine 104. Areola 151.
Blattern 1.—Alter u. Heimath 2ii. 3.— im Alterthum 2. — im Mittelalter 3, — in d. Neuzeit 8. — Postvaccinale Pe­riode 18. — Blattern u. Masern 4. — Name 8. — Schwarze Blattern 10. — Zweite Blattern 45. — Periodicität d. Blatternepidemien 48. — Blattern-inoculation 12, 63.
Blasenpocken 165.
Blaubuch, englisches 316.
Borken, secund. u. tertiäre 164.
Boerhave 11.
Borsieri 11.
Bretonneau's Phiolen 198.
Bryce' Probe 269.
Bulmerincq 228.
Burchardt 249, 268.
Ceely, R. 143, 219, 229. Chemnitz, Blatternepidemie 29quot;. Cless 254. Cohn, F. 281.
Complicationen d. Vaccine 185. Condamine 68. Constantinus Afric. 4. Cotugni 11. Cow-pox 94.
Depaul 235.
Deutsches Reichsimpfgesetz 145,350. Dimsdale quot;8.
Englisches Blaubuch s.Blaubuch. Epidemien s. Blattern. Epizootien s. Kuh- u. Schafpocken. Equiuation 104.
Flinzer 297. Fröbelius 231. Frölich 227. Früh-Yaccination 189.
(xatti 73.
Gefahren der Impfung 306.
Gregor v. Tours 3.
Harder 252.
Hecker 14.
Heim (Stuttgart) 29, 245, 256.
Hensler 88.
Hoffmann 11.
Holwell 14.
Horse-pox 102.
Huxham 11.
Jenner, Edw. 120.
Impferysipel 161. Impfinstitute 354. Impfnarben 159. Impfregulativ 352. Impfstiche u. Impfschnitte 193. Impfschnäpper 196. Impfzwang 347.
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Register.
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Inoculation d. Blattern 63. — Be­deutung 6,4- — Aelteste Nachrichten 64. — im westlichen Europa 66. — Pathologie d. inoculirt. Blattern 79. — Kritik 89. — in der Jetztzeit 91.
Keber 288.
Köbner 327, 335.
Kuhpocken-Symptome 147.— Ge-setzmäss. Verlauf 147. — Analyse der Symptome 151. — Wesentliche Kri­terien 151. — Fieber 152. — Post-vaccin. Hautausschläge 160.
1/ anoix 231.
Lymph e. Morphologie u. Chemie 156. — Trockene it. flüssige 197. — Platten-u. Phiolenlymphe 197. — Wasserl. 199. — Glycerinl. 199. — Glycerin-borkenl. 200. — Originäre 202.. — Humanisirte 20G. — Revaccinl. 208. — Degeneration d. human. L. 211. — Regeneration ders. 217. — Variolo-vaccin-L. 218. — Retrovaccinl. 224. — Animale L. 230. — Färsenl. 230.
Lyon, Commission de 221.
Marias v. Avenches 3.
Mauke 102.
Mead II.
Modificirte Kuhpocken 165.
Modificirte Revaccinen 247.
Monro 2, 19.
Mortalitätstabe 11 en, schwedische
289, preussische 292, Berliner 295. Müller in Waldheim 298.
Nachimpfungen 263. Narben 272.
Narbentheorie Gregory's 243. Neapolitanische Methode 230. Nebenpocken 163. Negri 231.
Ovination 109. Ovine 109.
Parasitentheorie 281. Pearson 122.
Petite, veröle 7.
Plett 119.
Pocken Name 8. Im Uebrigen siehe
Blattern. Prager 255, 299. Prophylaxe der Impfsyphilis 339.
Ilazes 3.
Reiter 159, 221, 225.
Revaccination 242.— Rev.-Lymphe 208, 245. — Rev.-Erfolge 246. — Früh- u. Spät-Revacc. 257. — Re-vacc.-Alter 252. — Revacc.-Zwang in den Heeren 243. — Geschichte 242.
Revaccinen 246.— modificirte 247.
Robert (Marseille) 22, 26, 303.
Rosenstein 86.
Sacco 131.
Schutzkraft, vaccin. 260.
Schwedische Mortalit.-Tabellen 289.
Seaton 235.
Senf ft 221, 237.
Simon, John 139.
Small-pox 7.
Sutton 77, 119.
Sydenham 9.
Symptome der Impfsyphilis 337.
Synesius 5.
Syphilis vaccinata 312.
Telangiectasie, Impfung der 192.
Theorie d. Vaccination 273.
Thiele, Basil 143, 219.
Thierpocken 94. — Kuhp. 94. — Pferdep. 102. — Schafp. 107. — Schweinep. 113. — Ziegenp. 113. — Hundep. 113. — Affenp. 114. — Thier­pocken u. Menschenblattern 114.
Thomson 19.
Tissot 69.
Vaccination 118. — Geschichte 118 u. flgde. — animale Vaccin. 144. — der Thiere s. Thierpocken.
Vaccine u. Variola 186.
Vaccinen s. Kuhpocken.
Vaccinefieber 152.
Vaccinegeschwür 166.
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358
Register.
Vaccinella 165. Vaccinetta 165. Van Swieten 11. Varicellenfrage 51. Variola 4. — modiflcata 23. Variolation des Menschen 63. — der
Kühe 218. — der übrigen Thiere s.
Thierpocken. Varioloiden 23.
Viennois 317, 333.
Waldheim in Sachsen. Bl.-Epid. 287. Warlomont 231. Warzenpocken 165. Weigert 156, 282. Wertheim 279.
Zahl der Impfpocken 103. Zwangsimpfung 348.
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Druck von J. B. Hirschfeld in Leipzig;.
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