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Die drei Mysterien

des heiligen Martin von Tours.

Ihr Yerliältnis und ihre Quelle.

Inaugural-Dissertation

zur

Erlangung der Doktorwürde

bei der

hohen philosophischen Fakultät der Unh'ersität Greifswald

vorgelegt
und nebst den beigefügten Thesen
Dienstag, den 18. Juli 1899, 11 Uhr Vorm.

öffentlich verteidigt
von

Carl David

aus Paris.

Opponenten:
Herr Drd. phil. Seippel.
Herr cand. phil. Relling.

V ö'/ä fr ^ '

Frankfurt a. M.

Druck von Gebrüder Knauer.

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UNIVERSITEITSBIBLIOTHEEK UTRECHT

3519 7924

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Seinen lieben Eltern

in steter Dankbarkeit!

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Die drei Mysterien des hlg. Martin von Tours, auf
die sich diese Abhandlung erstreckt, sind:

A.nbsp;das Mystère des hlg. Martin von A. Del a vigne,
das 1496 zu Seurre aufgeführt worden und unediert ist,

B.nbsp;ein Mystère des hlg. Martin, dessen Neudruck
1841 erschienen ist, und

C.nbsp;ein Mystère desselben Heiligen, das 1565 in St.
Martin de la Porte en Maurienne aufgeführt worden ist.

Einleitendes.

1.nbsp;Das Mystère des heiligen Martin von Andrieu
Delavigne ist noch nicht herausgegeben. Bekannt ist nur
der procès-verbal, der ihm angeheftet ist, ebenso wie das
Verzeichnis der auftretenden Personen und die Farce und
die Moralität, die mit dem Mystère zusammen aufgeführt
worden sind; diese mehrfach ungenauen Wiedergaben werden
an geeigneten Stellen der nachstehenden Abhandlung er-
wähnt werden. Eine eingehende wissenschaftliche Be-
trachtung des Dramas fehlte bisher.

2.nbsp;Das einzige Manuskript unseres Mystère ist das
jetzt in der Pariser National - Bibliothek, f. fr. No. 24332
Befindliche. Nach einer Note in der rechten oberen Ecke
des ersten Blattes gehörte sie zur reichhaltigen Sammlung
des französischen Bücherliebhabers, Herzogs de la Vallière.
Nach dessen Tode kam sie in die Bibliothek des Arsenal,
um später der National-Bibliothek einverleibt zu werden.

3.nbsp;Von ihr fertigte ich in den Herbstferien 1894
eine genaue Abschrift an. Die Papierhs. umfaßt 264
Blätter im Quartformat (28 cm X 20,5) mit Goldschnitt.
Auf dem ersten weißen Blatte liest man No. 3362 ; diese
Nummer, ebenso wie die Bemerkung von Francisque Michel,

1

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daß er die Moralität und die Farce 1831 habe drucken lassen,
bezieht sich auf den Catalogue de la Vallière, T. III, p. 418.

4.nbsp;Die Schriît ist ziemlich leserlich, in kleinen
gothischen Buchstaben; am Anfange neuer Absclmitte finden
sich oft sonderbar verschnörkelte Buchstaben oder Carri-
caturen im Geschmack der Zeit wie auf fias v°.

5.nbsp;Gewöhnlich sind 28 Zeilen auf der Seite, jeder
Vers ist durch eine rote Linie vom andern getrennt. Die
Gesamtzahl der Verse beträgt 10461.

6.nbsp;Das Manuskript ist von dem Regisseur während
der Proben zur Aufführung iind während dieser selbst be-
nutzt worden, wie aus nachträglichen Randbemerkungen
über Auftreten und Abtreten von handelnden Personen
hervorgellt. Die Schrift dieser Nachträge ist oft fast un-
leserlich, weil kritzelig und verwischt.

7.nbsp;Die Blätter sind stark von Würmern zernagt,
besonders nach den beiden Seiten der Hs. zu ; viele Löcher
gehen durch den ganzen Band.

8.nbsp;Der Name iinseres Dichters lautet bestimmt André
oder Andrieu Delà vigne. Francisque Michel sagt in der
Einleitung zu seiner Ausgabe der Farce, am Ende des
procès-verbal fände sich die Signatur: N. Delavigne. Dieses
N ist aber, wie leicht zu sehen, ein verziertes A, das sich
unmittelbar vor dem Zunamen nochmals befindet.

9.nbsp;Unser Delavigne ist also nicht ein „Bruder oder
Verwandterquot; des berühmten Mitarbeiters von Octavien de
St. Gelais, sondern er selbst. Er wurde hauptsächlich
durch ein großes historisches Werk in Prosa und Versen :
„Le vergier d'honneur de l'entreprise et voyage de Naplesquot;
berühmt; ihm und der Freundschaft mit seinem Gönner
auf dem Bischofstuhl in Angoulême verdankte er es, daß
er zum „facteurquot;, d. h. zum Hofdichter König Carls VIII
von EVankreich und zum Sekretär seiner Gemahlin Anna
von der Bretagne ernannt wurde.

10.nbsp;Außer diesem „vergier d'honneurquot; rühren von
ihm her: „Les renards traversausquot;, „le pater noster des
Genevoisquot;, das „Atolhte portas de Gênes, en balladesquot;,
die „Ballades de bruit commun sur les alhances des roisquot;,
und „Le libelle des cinq villes d'Italie contre Venise.

m

') Catalogue des livres du feu M. le duc de la Vallière par
Guillaume de Bure. Paris 1783. T. III.
p. 368.

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11.nbsp;Sein Geburtsjalir steht nicht liinreichend fest,
aber trotz der langen Controversen von Achille Jubinal
scheint man mit Recht sein Todesjahr auf 1504 ansetzen
zu dürfen.

12.nbsp;Seurre, der Ort der Darstellung unseres Mystère,
war zu jener Zeit eine ziemlich wichtige Stadt und Festung.
Sie liegt einige Meilen von Dijon dicht am Zusammenfluß
von Saone und Rhone und ihre Messen brachten Fremde
und Wohlstand.

13.nbsp;Wie oben gesagt, ist der procès-verbal schon
öfters gedruckt und untersucht worden.'') Im allgemeinen
ist diese Urkunde, die uns über die näheren Umstände
und die Art und Weise der Aufführung unseres Mystère
ausführlich unterrichtet und die deshalb zu jeder Dar-
legung der Bühneneinrichtung und des szenischen Verlaufs
eines afr. Mystère herangezogen wird, genau wiedergegeben
worden.

14.nbsp;Von Irrtümern führe ich nur an: 1. Zeile 29
lies „ydone pour ce fairequot; statt „y donc pour ce fairequot;
in Verbindung mit dem folgenden: „Si furent faitzquot;.
2. „Cloist bonquot;, das die bisherigen Herausgeber am Ende
der Zeile 149 alle haben, muß umgeändert werden in
„Cloist boutiquequot; ; denn wenn auch von t und i nichts mehr
zu sehen ist, kann man doch das „qquot; mit dem Abkürzungs-
zeichen noch deutlich erkennen. 3. Zeile 151 haben die
Ausgaben „œuvre mocquamquequot;, nach Fournier ein bur-
gundischer Ausdruck für „mocqueuxquot; ; es ist zu lesen :
„mecquanique (mécanique)quot;.

15.nbsp;Auf den Inhalt dieses Berichtes im Zusammen-
hang einzugehen, würde zu weit führen, im Laufe der
Abhandlung werden wir aber gelegentlich darauf zurück-
kommen.

') a. Ach. Jubinal : Mj'stères inédits du XV® siècle. T. I, préface
XLIV, note. — b. Donhet: Dictionnaire des Mystères. 1864 publié par
Migne in .Nouvelle Encyclopédie théologique ï. 43. Spalte 505—ô08
und T. 14: Douhet: „Légendesquot;, Spalte 849. — c. Chevalier: Répertoire
des sources historiques du moyen-âge. 1877—86.

Aoh. Jubinal : Mystères inédits du XV® siècle. Paris 1837. —
Ed. Fournier : Théâtre avant la Renaissance. Paris 1872. — L. Petit
de Julleville: Histoire du Théâtre en France. Mystères T. II, 68—71.
Paris 1880. — L. Petit de Julleville : Histoire de la langue et de
la littérature française des origines à 1900. T. Il, 415. — Mystère des
3 Doms Lyon 1887. Einleitung. Im Besitze des Herrn Prof. Dr. Stengel.

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16.nbsp;Ebenso wie der procès-verbal sind die Moralität
und die Farce schon lange und wiederholt veröffentlicht, i)
Die dritte Ausgabe hat die Sprache öfters modernisiert.

17.nbsp;Von dem uns erhaltenen Manuskript muß das
erste Blatt, wenn nicht mehrere, fehlen. Denn auf dem
ersten Blatt oben in der Mitte steht fast ganz verblaßt
„Secondquot;, nämlich „messagerquot;. Wie in anderen Mysterien
scheinen auch in unserem Boten aufgetreten zu sein, die
das Publikum bitten, sich zu setzen und während der
Vorstellung ruhig zu sein.

18.nbsp;Das „preigne placequot; links darunter, das nur mit
einer Lupe zu entziffern ist, stützt unsere Vermutung;
auch stehen am Anfang des Personenverzeichnisses die
Namen von „2 messagersquot;, die doch sonst am ersten Tage
nicht mehr auftreten.

19.nbsp;Dieses Personenverzeichnis ist von Petit de
Julleville a. a. 0. im Auszuge veröffentlicht worden ; dabei
ist auf wichtigere Namen, wie Bossuet, den 2 Mitspieler,
„Estienne und Jacquesquot;, tragen, aufmerksam gemacht.^)

20.nbsp;Statt 152 (Julleville) zähle ich 157 Rollen, statt
14 Frauenrollen nur 11, die natürlich von Männern und
jungen Leuten gespielt wurden.

21.nbsp;Lies „G-enin Druetquot; statt „Drattquot;, „Jehan
Veraulquot; statt „Vexanelquot;. Jubinal a. a. 0. hat schon die-
selben Irrtümer, außerdem muß es lauten: „Jehan Picartquot;
statt „Picarotquot;, „George Casotequot; statt „Tasotequot;, „Chevrelquot;
statt „ChevreUquot;, „Cordierquot; statt „Tordisquot;, „Grosbecquot; statt
,Grosberquot;.

') Francisque Michel : Poésies du XVe et XVIe siècle. Paris 1831.
— Paul Lacroix (Jacob Bibliophile): Recueil de farces de la Bibliothèque
Gauloise. Paris 1858. — Edouard Fournier : Théâtre avant la Eenais-
sance. Paris 1872.

Die Familie des bekannten Kanzelredners stammte von Seurre
und kam erst im Laufe des XVI. Jahrhunderts nach Dijon. Cf. Guille-
mot: Histoire de Seurre p. 42.

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Mystère A.

I. Analyse.^)

22.nbsp;(V. 1—54). Das Mystère von A. Delavigne, so
wie es auf uns gekommen ist, fängt mit einer Ballade der
Hölle au. Lucifer befiehlt den Teufeln, die er mit Schimpf-
worten überhäuft, aus ihren Verstecken herauszukommen.
Sie gehorchen und erscheinen schreiend unter Feuer und
Blitz auf der Bühne.

23.nbsp;(—V. 114). Es folgt ein „chant royalquot;; in
burlesker Weise werden die Teufel aufgefordert, Lucifer
10000 Seelen zu bringen. Satan, der über diesen Plan
entzückt ist, tritt ab und unter den Klängen von Trom-
peten treten die Eltern Martins mit ihrem Gefolge auf.

24.nbsp;(— V. 190). Der Vater Martins ruft seine heid-
nischen Götter an und rühmt seine edle Abkunft, seine
Stellung und seine kriegerische Vergangenheit. Seine
Kräfte schwinden; aber er ist zufrieden, denn sein Sohn
verspricht ein geschickter Ritter zu werden, würdig seines
Vaters, des Tribunen von Pavia.

25.nbsp;(—V. 300). Die Mutter hegt Zweifel: er sei
etwas schwächlich und nicht zum Krieger geschaffen ; auch
hat er ihr einmal gesagt, Mahomet sei nicht ewig; sie
ahnt, daß er nicht an die Götter ihrer Familie glaubt.
Wirklich sieht man nun Martin in der Gesellschaft zweier
Priester, die ihm auf seine Bitten die Grundsätze des
christlichen Glaubens auseinandersetzen. Der junge Heide
läßt sich zur neuen Lehre bekehren.

26.nbsp;(— V. 847). Inzwischen hat der Vater Nach-
richt erhalten, daß der Kaiser „Julien Cesarquot; Krieg

') Douhet : Dictionnaire des Mystères. 1854 par Migne in „Nouvelle
Encyclopédie théologiquequot; T. XLIII, Spalte 506. — L. Petit de Julleville :
a. a. 0. II, 539—41. — Ernest Serrigny : La représentation d'un mystère
de St. Martin à Seurre. en 1496. Dijon 1888.

Wer dieser „Julien Cesarquot; oder „Julies Cesarquot; sein soll, ist
nicht auszumachen. Martin war 316 geb. ; da er damals 15 Jahre alt
war, sollte es also Kaiser Constantin der Große sein. Delavigne hat
wahrscheinlich diesen Namen mit Julien l'apostat (Julianus Apostata)
verwechselt, der unter dem Titel Caesar 367 über Gallien herrschte ;
auch von ihm kann aber ernstlich keine Rede sein, vielmehr liegt ein
chronologischer Fehler vor. 0Î. S. Severus : Vita sanoti Martini.
Gap. II,
2 : armatam militiam in adulescentia secutus inter scolares
alas sub rege Constantio, deinde sub Juliano Caesare militavit.

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führen will und den Adel nach ßom zur Heeresfolge auf-
ruft, In einer langen Eede, die sich durch ihre poetische
Sprache und die Kunst ihrer Reime auszeichnet, fleht der
Krieger im weißen Barte seinen Sohn an, sich zu beteiligen.

27.nbsp;(— V. 1010). Dieser bleibt aber taub gegen-
über allen Bitten. Da gerät der Alte in Zorn und läßt
ihn von Rittern abführen. Vater und Sohn, der endlich
gute Miene zum bösen Spiel macht, nähern sich Julies Cesar,
der von den Großen seines Reiches umgeben ist: er nimmt
sie in aufrichtiger Freundschaft auf.

28.nbsp;(— V. 1525). Mit großer Schlauheit lobt der
Tribun von Pavia seinen Sohn und erbittet vom Kaiser
für Martin die Gunst des Ritterschlags. Er wird im Beisein
der Höflinge zum Ritter geschlagen. Darauf verabschiedet
sich der Vater und Martin zieht zu Pferde in den Krieg.

29.nbsp;(— V. 1587). Während ein Marquis, der Herzog
und der Graf sich durch eine leichte Unterhaltung die
Zeit vertreiben, betet Martin fortwährend und bittet Gott
um Verzeihung: er habe seinem Vater gehorchen müssen.
Es ist Winter. Man nähert sich dem Thore von Amiens,
vor dem ein Armer, halb nackt, um Unterstützung bittet.
Die anderen Herren schenken ihm keine Aufmerksamkeit;
Martin hat Mitleid, er schneidet mit dem Schwert seinen
Mantel entzwei und reicht ihm den Stoff, um ihn vor
Kälte zu schützen. 1)

30.nbsp;(— V. 1647). Die Ritter machen sich über
diesen Akt der Menschenliebe des jungen Christen lustig.

31.nbsp;(— V. 1801). Die Ritter verabschieden sich von
Martin, der ebenfalls mit seinem Diener einen Gasthof
aufsucht. Dieser muß wie seinesgleichen mit ihm essen.

32.nbsp;(— V. 1880). Martin, der Schlaf empfindet, geht
zu Bette und schläft während seines Gebetes ein. Eine
Orgel spielt himmlische Melodieen, und Gott erscheint ihm
in Begleitung von Raphael und Gabriel. Er dankt Martin
für seine Liebe gegen den Armen und fordert ihn auf, im
christlichen Glauben auszuharren.

33.nbsp;(— V. 2075). Am anderen Morgen verläßt Martin
den Gasthof, nachdem er pünktlich bezahlt hat. Auf seinem
Wege begegnet er 2 Priestern, von denen er sich taufen läßt.

') Diese Szene, die die Menschenliebe des Bekehrers von Gallien
kennzeichnet, ist allgemein bekannt und oft von Malern und Bild-
hauern verherrlicht worden. Cf. Lecoy de laMarche: St, Martin. 1881.

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Hier eudigt der erste Teil des ersten Tages; unser
Mystère ist bekanntlich in 3 Tagen aufgeführt worden, an
denen vormittags und nachmittags gespielt wurde.

34.nbsp;(— V. 2314). Die Nachmittagsvorstellung er-
öffnen wieder Lucifer und die ganze Hölle mit ihren groben
Spässen, die nach dem Geschmacke der Zeit waren. Die
ersten 200 Verse enthalten nur das Kauderwelsch der
Hölle; ein Schimpfwort Lucifers wird mit noch roheren
von Satan, Berith, Burgibus, Astaroth und Proserpina
beantwortet. Vor allen wird wieder der „ Hurensohn quot;
Martin ihrer Aufmerksamkeit empfohlen, denn er habe
sich taufen lassen und bekehre fortwährend Leute zum
christlichen Glauben.

35.nbsp;(— V. 2389). Der König des Abendlandes, der
Scythen, Mauren und Türken beherrscht, betritt die Szene.
In trotziger, übermütiger Weise thut er seinen Getreuen
seine Absicht kund, den Kaiser zu Wasser und zu Land zu
bekriegen ; neben ihren Degen und Lanzen sollen sie auch
Büffel, Elephanten, Kamele und Dromedare bereit halten.

36.nbsp;(— V. 2524). Der Kriegszug setzt sich in Be-
wegung. Eine befestigte Stadt, die Widerstand leistet, wird
im Sturm genommen. Stolz auf seinen ersten Sieg schickt
der Barbarenkönig dem'Kaiser eine Herausforderung. Der
gerät in gewaltigen Zorn, schart seine Mannen um sich
und zieht dem „verfluchten Hund, dem sarazenischen Bar-
barenquot; entgegen.

37.nbsp;(— V. 2729). Martin ist inzwischen auch herbei-
gerufen worden. Der Kaiser verteilt Geschenke unter
seine Getreuen ; aber unser Heiliger nimmt nichts au. Zur
Rechtfertigung seines Betragens aufgefordert, erklärt er
Christ und nicht Soldat zu sein

38.nbsp;(— V. 2762). Außer sich, befiehlt ihm der
Kaiser morgen mit dem Kreuz in der Hand am Kampfe
teilzunehmen und läßt ihn ins Gefängnis werfen.

39.nbsp;(— V. 2835). Martin schwört seinem Gott ewige
Treue und bittet Jesus Christus darum, er solle es nicht
dazu kommen lassen, daß Blut vergossen würde.

40.nbsp;(—V. 2890). Und richtig! bei Tagesanbruch
kommt ein Eilbote vom Barbarenkönig, er bereue seinen
Verrat und ergebe sich auf Gnade und Ungnade.

41.nbsp;(— V. 2962). „Julies Cesarquot; ist entzückt über
diesen glücklichen Ausgang; er ahnt, daß dieser 'Um-

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sclwung von dem Gebet Martins lierrühren müsse, läßt
diesen frei und will ihn königlich belohnen.

42.nbsp;(— V. 3038). Aber Martin verzichtet demütig
auf irdisches Gut und begiebt sich zum Bischof von Tours,
dem heiligen Hilarius.

43.nbsp;(—- V. 3192). Dieser nimmt Martin auf seine
Bitten, sich seiner anzunehmen und über sein zukünftiges
Wohl zu wachen, auf und läßt ihn als „clercquot; einkleiden.

44.nbsp;(— V. 3329). 4 Spitzbuben lauern in einem Walde
den Reisenden auf, um sie zu berauben. Zu ihrer Unter-
haltung spielen sie Karten und singen. Kaufleute nähern
sich; die Bande versteckt sich, überfällt sie aus ihrem
Hinterhalt und schleift sie in ihr Versteck.

45.nbsp;(— V. 3477). Zu derselben Zeit verabschiedet
sich Martin von seinem Meister, bei dem er den Sommer
über geblieben, um seine Eltern aufzusuchen und sie zu
bekehren. Er geht denselben Weg und fällt denselben
Räubern in die Hände. Während 3 auf der Lauer liegen
bleiben, soll der vierte ihn in den Schlupfwinkel bringen.

46.nbsp;(— V. 3599). Aber Martin erweicht dessen Herz
durch Hinweis auf die ewige Verdammnis; er läßt sich
taufen und flieht mit Martin.

47.nbsp;(— V. 3644). Noch bevor Martin zu Hause an-
kommt, wird er vom Teufel in Verkleidung versucht; auf
das Kreuzeszeichen Martins verschwindet er aber.

48.nbsp;(— V. 3761). Der Vater Martins ist nicht wenig
erstaunt beim Anblick seines Sohnes im Priestergewande.
Auf seine ungestümen Fragen antwortet Martin freimütig.
Eine schreckliche Scene entspinnt sich. Der Alte verflucht
außer sich vor Wut seinen entarteten Sohn und zieht den
Degen, ihn zu durchbohren.

49.nbsp;(— V. 4038). Martin entkommt und bekehrt
sogar trotz der Nachstellungen des Tribunen seine Mutter
sowohl durch inständige Bitten wie durch eine ausführliche
und ergreifende Auseinandersetzung der christlichen Lehre.

50.nbsp;Nach diesem gefähriichen Beweise kindlicher
Liebe fällt der Vorhang. Der Bote erscheint und fordert
die Zuschauer auf, der Natur ihr Recht einzuräumen und
morgen wiederzukommen.

51.nbsp;Anfangs des zweiten Tages der Vorstellung
findet sich eine kleine Lücke von einem oder zwei Blättern.
Während die anderen Teile unsres Mystère in der Mitte

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eines Blattes begiunen und die Eingangsworte mit Schnörkeln
verziert sind, zeigt Blatt 92 keins dieser Zeichen. Was ver-
loren ist, kann nur die Unterhaltung der 4 Henkersknechte
enthalten haben, von denen der vierte das Spiel eröffnet.

52.nbsp;(— V. 4117). Das Gerücht von der Beraubung
der 4 Kaufleute ist in die Stadt gedrungen; man hat die
Umgegend nach den Schuldigen abgesucht, sie gefunden
und zum Tode verurteilt.

53.nbsp;(— V. 4351). Der Galgen ist aufgerichtet und
bald hängt der erste der Missethäter, der im Angesichte
seines schimpflichen Todes gezittert hat. Das Los des
zweiten Eäubers ist dasselbe: nur kann er noch in einer Eede
an die Zuschauer seine Schuld öffentlich bekennen und die
Eltern ermahnen, ihre Kinder nicht zu verziehen, wie er
verzogen worden wäre.

54.nbsp;(— V. 4413). Um dem Publikum eine Abwechse-
lung zu bieten, wird der dritte ün Bunde geköpft. Der Henker,
resp. Scharfrichter, läßt ein „großes Schwertquot; holen; in-
dessen hält der Delinquent seine Abschiedsrede in einer
Ballade, die durch die Tiefe ihrer Gedanken und durch
ihre besondere Art von Reimen Beachtung verdient.

55.nbsp;Die Taschen der Verbrecher werden durchsucht,
und eine große Summe Geld darin gefunden zur hellen
Freude des Henkers und seiner Knechte, die dasselbe be-
halten dürfen.

56.nbsp;(— V. 4651). Martin tritt von neuem auf. Bei
seiner Reise durch Kleinasien und Griechenland hat er
vom Streite der Arianer und Athanasianer über die Natur
Gottes des Vaters und des Sohnes gehört. Nach einem
Gebete um Erleuchtung in der kirchhclien Streitfrage trifft
er mehrere Bischöfe der Arianer, die lange wissenschaft-
liche Reden halten, um zu beweisen, daß Gott-Sohn nicht
gleich dem Vater ist.

57.nbsp;(— V. 4969). Über ihre unlogischen Ausführungen
ärgert sich Martin, greift ein und widerlegt sie. Aber
Gewalt geht über Recht. Sie züchtigen den Verteidiger
des katholischen Bekenntnisses mit Ruten und lassen ihn
dann laufen.

58.nbsp;(— V. 5008). Nach einem Dankgebet für seine
Errettung macht sich Martin auf zum heihgen Hilarius,
der ihm Eintritt in ein Kloster verschaffen soll, wo er im
Dienste Gottes seine Tage zu beschließen gedenkt.

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59.nbsp;(— 5100). Eine neue Szene spielt sich in der
Hölle ab. Lucifer, der noch hoiît, Martins habhaft zu
werden, bedroht seine Teufel mit den härtesten Todes-
strafen, wenn sie ihm den „Schurken Martinquot; nicht tot oder
lebendig bringen. Man hört die Zähne Satans knirschen bei
den unanständigen Worten, die alle mit einem r beginnen.

60.nbsp;(— V. 5248). Unser Martin erhebt in einer
„ballade enchaînéequot; in der Einsamkeit seine Seele zu Gott
und kommt bei seinem „guten gnädigen Herrnquot; an, der
ihn mit offenen Armen empfängt. In ausführlicher Weise
zählt er ihm alle seine Leiden auf und teilt ihm seinen
unerschütterlichen Entschluss mit.

. 61. (- V. 5436). Sein alter Meister schickt ihn in
die Abtei in der Nähe. Der Abt hört die demütige Bitte
Martins an, legt sie dem Urteile der Mönche vor und nimmt
ihn dann feierlich auf. Den Schluss der Dienstag Vor-
mittagsvorstellung bildet ein Gebet des Novizen.

62.nbsp;(— V. 5444). Am Nachmittag des zweiten Tages
tritt zuerst, wie gewöhnlich, ein Bote auf. Er bittet um
Schweigen und giebt den Teufeln das Zeichen anzufangen.

63.nbsp;(_ V. 5526). Lucifers Wut kennt keine Grenzen,
als er den Eintritt Martins ins Kloster vernimmt. Er
schwört ewige Rache. Diese Wutausbrüche zeigen wieder
die Leichtigkeit, mit der Delavigne solche Reimereien in
der Sprache der Hölle zu stände brachte. In 8 Versen
fängt jedes Wort mit p an.

64.nbsp;(— V. 5562). Von jetzt ab ziehen Wunderthateu
unseres Heiligen fast unaufhörlich an unseren Augen vor-
über. Ein junger Mann sucht den „Sachverständigenquot;
Martin. Er will sein Leben bessern und hoSt mit Für-
sprache Martins Karthäuser- oder Cölestiner-Mönch zu
werden.

65.nbsp;(— 5602). Dieser verwendet sich auch bei seinen
Mitbrüdern und dem Abt für ihn und er wird Cathecumeu
(Katechismusschüler).

66.nbsp;(— V. 5638). Hannequin, der Spieler, hat sein
Geld im Spiel verloren und will sich entleiben.

') Diese verschiedenen Bezeichnungen der Mönchsorden haben
im Munde unseres Dichters keinen Wert. Ihm macht es keine Sorge,
daß der Orden der Karthäuser durch Bruno erst 1086 und die Cölestiner
durch Pabst CölestinV. in der 2. Hälfte des XIII. .Jahrhunderts ge-
stiftet wurden.

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67.nbsp;(— V. 5727). Zu gleicher Zeit sehen wir, wahr-
scheinlich in einem anstoßenden Zimmer, das sich auch
nach dem Zuschauerraum öSnete, wie der Cathecumen
während der Abwesenheit Martins auf einer Pilgerfahrt
mit Severus und Gallus krank wird: er hat heftiges Fieber,
sein ganzer Körper zittert und er stirbt unter schrecklichen
Schmerzen.

68.nbsp;(— V. 5924). Martin und seine Begleiter kommen
schnell herbei. Martin wirft sich nach Entfernung der
Neugierigen auf die Kniee, betet inbrünstig für das junge
Leben zu Gott und erweckt ihn auf. Der Schüler'wird
zum Schutz gegen die Macht des Teufels getauft.

69.nbsp;(— V. 5952). Inzwischen hat der Spieler den
Strick um den Hals geschlungen und spricht zum Publikum
m einer dreistrophigen Ballade, deren 7 erste Verse eine
Anapher zeigen, während der Endvers jeder Strophe „ä
tous les diables me commandequot; grausig in unser Ohr klingt.

70.nbsp;(— V. 6030). Kaum hat er sich aufgehängt, da
erscheinen seine Eltern auf der Suche nach Martin, der
allein ihren Schmerzen eine Heilung weiß.

71.nbsp;(— V. 6114). Durch ein Gebet gelingt es ihm,
auch ihn ins Leben zurückzurufen. Unter Ermahnungen
übergiebt er den jungen Spieler seinen dankbaren Eltern.

72.nbsp;(— V. 6355). Der Bischof von Tours war ge-
storben und das Kapitel sollte zusammen mit dem Bürger-
meister und den Honoratioren der Stadt einen Nachfolger
wählen. Der Dechant kniet mit den Seinen nieder und
bittet Gott um Eingebung für die Neuwahl. Der Schatz-
meister, der Archidiacon, der Offizial, der Küster und alle
Domherren stimmen für den Vorschlag des Dechanten,
„die heilige Personquot; Martins zu ernennen, indem sie seine
Vorzüge loben.

(— V. 6489). Mit Zustimmung des Bürgermeisters
und seiner Leute geht der Dechant sofort in die Abtei, um
Martin ihren Entschluß mitzuteilen. Aber weder die Ehre
und der Ruhm einer so hohen Stellung, noch die dringenden
Bitten seines eigenen Abtes können Martin bestimmen, die
Mönchskutte mit dem Bischofstabe zu vertauschen

74. (— V. 6697). Da hilft eine List. Ein Bauer
wird unter der Vorspiegelung, seine Frau läge im Sterben,
m die Abtei geschickt. Nichtsahnend folgt Martin seiner
Nächstenliebe, geht mit, wird festgenommen und nach Tours

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geschleppt, wo er endlich den Bitten der Honoratioren
nachgieht und zum Bischof geweiht wird.

75.nbsp;(— V. 6887). Die salbungsvolle Rede, die Martin
bei seiner Einführung hält, beginnt mit den lateinischen
AVorten: „Venite, filii, audite; timorem domini docebo vosquot;
und ist durch Einüechtung mehrerer lateinischer Sentenzen
bemerkbar, wie „Inicium sapiencie timor domini et Jesus
Christiquot;, oder „beati omnes qui timent dominum et Jesum
Christumquot;, oder „qui timet deum, faciet bonum ecclesias-
ticumquot;; auch finden sich darin als Ausspruch der heiligen
Maria die Worte: „Et misericordia eius a progenie in pro-
genies timentibus eum / luce p quot;Jquot;, die noch heute in der
Vesper vorkommen.

76.nbsp;(— V. 6911). In der Nähe von Tours war eine
Kapelle, die nach dem Grlauhen der Umwohner die Leiche
eines Heiligen bergen sollte. Drei Priester waren in ihr
thätig und viele Gläubige besuchten sie.

77.nbsp;(— V. 6965). Martin vermutete, dieser Heilige
von Hörensagen sei ein Spitzbube. Eines Tages ging er
hin und bat, da er gar keine Einzelheiten über das Leben
dieses verdächtigen Heiligen erfahren konnte, Gott knie-
fällig um die Wahrheit.

78.nbsp;(—V. 7058). Und*siehe! aus der Ecke eines
Denkmals erhebt sich ein Gespenst, das seine Betrügereien
bekennt und laut über die Mai'ter klagt, die es „in den
Armen Lucifersquot; erlitten habe. Dann versinkt es. Das
Heiligtum wird von Severus und Gallus dem Erdboden
gleichgemacht.

79.nbsp;(— 7286). Den Schluß des zweiten Tages bildet
die Erzählung von der Zerstörung eines andern heidnischen
Tempels: Martin trifft 5 Heiden, die Jupiter, Mars und
Apollo opfern wollen, verbrennt ihre „Synagogequot; mit Hilfe
von Gabriel und Michael und führt sie dem christlichen
Glauben zu.

80.nbsp;(— V. 7294). Auch den dritten Tag eröffnet der
Bote mit den üblichen Bitten um Ruhe und Gehör.

81.nbsp;(— V. 7329). Es treten 3 Heiden auf, die auf
einem Altar ihren Göttern Mahomet, Apollo und Mars ein
Lamm opfern wollen. Martin greift ein und wehrt ihnen; die
Heiden bedrohen ihn mit dem Tode, wenn er sie weiter störe.

82.nbsp;(— V. 7399). Aber der mutige Martin giebt
seine Bekehrungsversuche nicht auf, zerstört „ihren Tempel

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und ihre Götzenquot; und macht dadurch solcheu Eindruck,
daß der eine das lange Messer, das er schon gezückt
hatte, sinken läßt und sie sich alle, von der Schwäche
ihrer Götter überzeugt, zu Christus bekennen.

83.nbsp;(—V. 7506). Ohne Übergang oder Randbemerkung
tritt der Vater eines gelähmten Mädchens auf, das seit
3 Monaten das Bett hütet. Bereitwillig folgt Martin dem
Vater ins Krankenzimmer, macht ihr das Kreuzeszeichen
auf die Stirn und heilt sie so.

84.nbsp;(— V. 7608). Ein Besessener, der zur Vorsicht
gebunden ist, tritt auf und überhäuft alle Anwesenden
mit Schimpfworten. Martin beschwört den Teufel. Darauf-
hin kommt ein Dämon in der Gestalt eines Teufelchens
aus dem Besessenen und flieht schreiend zur Hölle.

85.nbsp;Diese Vorstellung von dem Zustand eines Ver-
rückten findet sich in vielen Bildern des Mittelalters.

86.nbsp;(— V. 7624). Der Herr des Besessenen, ein
Prinz Tetradius, lässt sich darauf mit seinem Gefolge taufen.

87.nbsp;(— V. 7707). Auf dem Wege nach hause be-
gegnet Martin einem Aussätzigen, der schrecklich leidet.
Martin küsst ihn und der Aussatz weicht vom Körper.

88.nbsp;(— V. 7847). Die Tochter eiuer sehr frommen
Familie, die seit einiger Zeit mit Martin in Beziehung
gestanden hat, liegt am Fieber rettungslos darnieder. Da
erinnert sich der Vater eines Briefes von Martin. Er legt
denselben seiner Tochter auf die Brust und die blosse
Berührung giebt sie dem Leben wieder. In Tours, wohin
sich der glückliche Vater mit seiner Tochter begiebt, wird
diese überredet, den Schleier zu nehmen.

89.nbsp;(— V. 7877). Während all dieser Wunder muß
aber ein großer Zeitraum verstrichen sein. Denn wir
sehen, wie unser Heiliger, gealtert, Todesgedanken äußert.
Er hält eine „messe authentiquequot; ab, um Gott Leib und
Seele darzubieten.

90.nbsp;(—V. 7973). Eine großartige, wirkungsvolle
Szene spielt sich ab, während welcher der heilige Geist
sich in Gestalt eines Feuerreifs um sein Haupt legt.

') Der Maler Lesueur (1617—1656) hat sie zum ewigen Gedächt-
nis in glänzenden Farben dargestellt. Das Bild ist im Louvre.

Die Szenenbemerkung sagt tiber die Inszenierung folgendes:
„Icy doibt avoir un autel bien acoustre de toutes choses, auquel sainct
Martin viendra pour chanter messe; lors on le revestira et on fera ne

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Bewegt spricht Martin seinen Dank für diese hohe, un-
verdiente Gnade aus.

91.nbsp;(— V. 7997). Lucifer ist diese Erhöhung Martins
nicht entgangen. Mit erbarmungslosen Schimpfworten jagt
er die Teufel aus der Hölle, auf daß sie Martin bringen.
Proserpina ist die erste, die verspricht, diesmal seinen
Wunsch zu erfüllen.

92.nbsp;(— V. 8117). Sie will ihn durch ihre Reize be-
stricken und ihn verführen. Während er in seinem Bet-
zimmer ist, nähert sie sich ihm unverhüllt „en forme de
Venusquot; und fordert ihn auf „a appointer leur casquot;. Aber
Martin bleibt standhaft und jagt sie zu allen Teufeln, wo-
her sie käme.

93.nbsp;(— V. 8255). Trotz ihrer Entschuldigungen,
alles gethan zu haben, wird sie elend geschlagen; ebenso
wie Astaroth, Berith und Burgibus.

94.nbsp;(— V. 8430). Martin macht sich nun auf mit
Gallus und Severus, um den Kaiser zu bekehren. Unter-
wegs bittet eine Witwe, ihren jungen Sohn, der soeben
gestorben ist, wieder aufzuwecken. Durch eine „priere
medicinablequot; gelingt dies auch Martin.

95.nbsp;(— V. 8594). Vier Heiden, die dieser Wunder-
that Martins zugeschaut haben, bekehren sich, von seiner
Allmacht überwältigt.

96.nbsp;(— V. 8744). Die 3 Frommen kommen endlich
in der Residenz an. Thore und Thüren sind geschlossen,
aber mit Gottes Hilfe kommen sie trotzdem hinein.

97.nbsp;(— V. 8858). Der Kaiser verwünscht die Ein-
dringlinge mit unflätigen Worten. Da entzündet sich
unter seinem Throne ein verzehrendes Feuer und macht
ihn gefügig. Er bereut seinen verfluchten Unglauben und
bittet um ihren Segen.

98.nbsp;(— V. 8917). Während unser Martin nach Tours
zurückreist, tritt ein Wucherer, der taube Peter, auf. Er
klagt bei einem Richter gegen Claude la Gente auf Schaden-
plus ne moins qu' à ung arcevesque. II pourra dire la messe toute,
mais il ne consacrera poinct. Puis quand il viendra à la levacion du
corps de Dieu, jusqu'à la poitrine seulement, il doibt venir dessus son
Chief ung tourbillon de feu, subtillement fait sans toucher à sa teste
et y demeurer une petite espace de temps radiant et esclairant, puis
s'en aller et perdre par subtil moyen. Et saint Martin qui fait sem-
blant de ne le voir point achèvera le résidu de sa messe, puis vient
une ange qui luy dit quand il veut faire son oraison.quot;

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ersatz. Eiu Gericlitsbeamter geht gleich zu der jungen
Witwe und bestellt sie auf IV2 Uhr.

99.nbsp;(— V. 8925). Bis dahin soll sich auch das
Publikum bei Speise und Trank gütlich thun und zur
selben Stunde wiederkommen, wie der auftretende Bote
verkündet.

100.nbsp;(— V. 9061). Nachmittags besteht denn der
Wucherer darauf, das Haus und den Weinberg der Witwe
als Ersatz zu erhalten für das Geld, das er ihrem Gemahl
zu seinen Lebzeiten geliehen habe, damit er seinen galanten
Abenteuern nachgehen konnte. Zum Beweise seines rechts-
gültigen Anspruchs zeigt er einen Schuldschein vor.

101.nbsp;( — V. 9246). Die arme Witwe kann einge-
schüchtert nur die Unschuld ihres vortrefflichen Mannes
beteuern. Der Richter neigt schon dazu, sie zu verurteilen;
da entsinnt sie sich des heiligen Martin, der gewiß Licht
in den Prozeß bringen könnte. Sie geht zu ihm hin, er
spielt ihren Anwalt und treibt den unverschämten Wucherer
in die Enge.

102.nbsp;(— V. 9304). Um die Unschuld seiner Clientin
ganz zu beweisen, weckt Martin nach einem Gebet ihren
toten Gemahl auf, der seine Unschuld darthut.

103.nbsp;V. 9352). Der falsche Gläubiger wird zu
9 Monaten Gefängnis verurteilt. Die Charaktere dieser
damals so häufigen Prozesse sind scharf gezeichnet, die
Sprache ist lebhaft und schlagfertig.

104.nbsp;(— V. 9418). Gott findet Wohlgefallen an dem
unerschütterlichen Glauben Martins und beschließt, ihn zur
Belohnung zu sich zu nehmen. Die Erzengel Gabriel und
Raphael erscheinen bei ihm und teilen ihm den Ratschluß
Gottes mit.

105.nbsp;(— V. 9473). Martin dankt und verspricht
allen Versuchungen des Teufels zu widerstehen bis an
sein Lebensende. Diese Worte geben dem Abgesandten
der Hölle, die über wirksame Mittel beraten hatte, Martin
zu Grunde zu richten, das Zeichen aufzutreten.

106.nbsp;(— V. 9526). Satan will die Ehre der Hölle
retten und nähert sich Martin in Gestalt und Kleidung
eines „roj' triumphant et gorgiasquot; mit Krone und Diadem
geschmückt. Er lobt Martin wegen seiner großen Gottes-
furcht und Nächstenliebe, warnt ihn vor „dem Feindequot; und
fordert ihn auf, ihn als Gott aus der Höhe zu verehren.

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107.nbsp;(— V. 9559). Aber Martin läßt sich nicht
übertölpeln; er weiß, daß Gott nie in solchem Aufzuge
erscheint und beschwört den Satan durch das Kreuzes-
zeichen; dieser flieht in die Hölle zurück und wird nach
dortigem Brauche grausam gezüchtigt.

108.nbsp;(— V. 9733). Wieder wird ein Gottesdienst
mit „ganz besonderer Feierlichkeitquot; abgehalten. Unter
Glockengeläut schreitet der Erzbischof von Tours mit
Kelch, Gebetbuch und bischöflicher Tracht zur Kirche. Am
Eingang sieht er einen nackten Bettler; gerührt gibt er
ihm seinen Eock und muß sich nun einen vom Trödler
durch den ersten Diakon kaufen lassen. Die Ärmel gehen
Martin nur bis an die Ellenbogen, aber da die Zeit drängt,
besteigt er die Kanzel und liest die Messe.

109.nbsp;Da ereignet sich wieder ein großes Wunder,
das die Bemerkung nach Vers 9739 ausmalt

110.nbsp;(—V. 9835). Die Erhabenheit dieser Minuten
wird noch erhöht, als die Engel den Entschluß des Herrn
verkünden „den Schatz der Keuschheit, den Weg des
glücklichen Lebens, den Inbegriff der Jungfräulichkeitquot;, der
hier „Mühe, Arbeit, Verfolgung und Elendquot; um seines
Glaubens willen erlitten, in Kürze in das himmlische Reich
zu rufen.

111.nbsp;(~V. 9903). Martin bereitet sich inmitten der
Seinen zu dem Eingang in den Himmel vor und bittet sie,
Gott unablässig mit ganzem Herzen zu dienen, denn er
werde sie dann auch öfters besuchen.

112.nbsp;Unmittelbar nach dieser feierlichen Szene, wo
die Herzen der Zuschauer zum Unendlichen erhoben höher
schlagen mußten, sollte die cj'uische „Farce vom Müllerquot;
gespielt werden, deren im Eingange unserer Abhandlung

') ,Ici est assavoir qu'il faut avoir un autel tout encourtiné et
bien préparé, puis saint Martin à l'autel fait son cas, comme il appartient.
Et les dessus dits chantres doivent chanter de musique ou autrement,
comme l'on voudra. Puis quand Martin levera les bras pour dire:
,gloria in excelsis Deoquot;, ses bras seront tous nus jusqu'au coude, parce
que la robe est si mechante et courte qu'elle ne lui peut venir plus
avant. C'est pourquoi deux anges lui apporteront subtilement et sou-
dainement deux paquets de drap d'or et de pièrres precieuses. Et tout
à coup on tirera les courtines d'environ l'autel. Puis lesdits anges
et ceux qui ont vu le miracle s'en vont et disent en suivant le jeu
ce qui s'ensuit; et saint Martin se dévêtira tot aprèsquot;.

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Erwähnung gethan und deren Inhalt später angegeben
werden wird.

113.nbsp;(_ V. 10032). Martin bekommt jetzt heftiges
Fieber, er läßt sich auf Asche legen und erwartet sein
Ende. Alle Versuche, ihm seine letzten Augenblicke zu
erleichtern, schlagen fehl: weder darf sein Kopf auf ein
paar Säcke gebettet werden, noch darf sein schon fast
steif gewordener Leib gerieben oder überhaupt ein Arzt
geholt werden.

114.nbsp;(— V. 10070). Auf dem Eücken liegend sieht
Martin unverwandt nach dem Himmel, „dem Ort seiner
Sehnsuchtquot;. Er fühlt sein Ende nahen und bittet um die
letzte Ölung und das heilige Abendmahl. Der heilige Bris
läßt darauf das „reliquaire du corpus Christiquot; und eine,
„hostie non sacreequot; holen und während 3 seiner Schüler
rechts und 3 links sich aufstellen, nimmt Martin bei dem
feierlichen Scheine der Kerzen dieses Sacrament der katho-
lischen Kirche.

115.nbsp;(_ V. 10255). Noch einmal lebt der Heilige
auf, um unter Dankgebeten sanft zu entschlafen. Auf
Anordnung Grottes bringen 6 Engel und 6 Jungfrauen die
Seele zum Himmel.

116.nbsp;(_ Y. 10288). Man bereitet sich zu einer
würdigen Totenfeier vor. Die Leiche wird in bischöflichem
Ornate in einen kostbaren Schrein gelegt, um den eine
Unmenge Fackeln und Kerzen brennen, und auf eine Sänfte
^östöllt

117.nbsp;(_ V. 10377). Auf die Nachricht vom Tode
Martins kommen der Abt, der Prior und die Mönche der
Abtei, der Martin angehört hatte, um die heilige Leiche
zu reklamieren. In Tours angelangt weigert sich der
Dechant, ihnen dies Kleinod herauszugeben.

118.nbsp;(_ V. 10415). Man kommt dahin überein, zu
Gott um Erleuchtung zu beten, wer den Leichnam des
Apostels von Gallien besitzen soll. Sogleich fangen beide
Teile an, die Stundengebete herzusagen. Aber während

In Wirklichkeit wurde durch ungünstiges Wetter veranlaßt
dieser derbe Schwank Sonntag am Tage vor der eigentlichen Fest-
vorstellung gegeben. Anhaltender Regen fing schon an die herbei-
geströmte Landbevölkerung aus der Stadt zu verscheuchen, da ent-
schloß man sich, um sie zufrieden zu stellen und festzuhalten, zu dieser
Aufführung. Cf. Procès-verbal : f. 261 v. Zeile 20-24, f. 262 r. Zeile 1—23.

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ein bleierner Schlaf den Abt nnd seine Leute befällt,
tragen die Tourer Geistlichen die Sänfte mit der Leiche weg.

119.nbsp;(— V. 10461). Der Abt wacht auf, erkennt
die List, der er zum Opfer gefallen ist, verzichtet aber
freiwillig auf das kostbare Gut, denn er erkennt darin
den Willen Gottes.

120.nbsp;Alles setzt sich zum Schluß in Procession und
verläßt so die Bühne.

121. An diese Inhaltsangabe unseres eigentlichen
Mystère müssen wir diejenige der „Moralität des Blinden
und des Lahmenquot; anscMießen, die ebenso wie die
„Farce des Müllers, dessen Seele der Teufel in die Hölle
schlepptquot; einen Teil der Festvorstellungen in Senrre
bildete.

; 122. Wir sehen in einer Straße von Tours 2 Un-
glückliche, einen Lahmen und einen Blinden, die Vorüber-
gehenden um ein Almosen bitten.

123.nbsp;Der Blinde ruft nach einem Führer, denn der
Spitzbube, der ihn vorher geführt hat, hat ihn „bestohlen
und aufs Trockene gesetztquot;. Da bietet ihm der Lahme,
der sich nur mit Hilfe eines Stockes aus Rebenholz auf-
recht halten kann, seine Dienste an.

124.nbsp;Der Lahme steigt auf den Rücken des Bünden,
der „das Kellerlokal aufsuchen will, wo er auch ohne
Laterne genug siehtquot;. Aber der Lahme ist zu schwer
und riecht noch außerdem nicht zum besten, denn er hat
seit 6 Tagen ein Bedürfnis nicht mehr gestillt. Er muß
herunter „pour faire portrait d'un étronquot;.

125.nbsp;Da hört man Trompetenschall sich nähern, der
Leichenzug des hlg. Martin kommt heran, von einer Un-
menge von Gläubigen begleitet. Die beiden haben von
den Wundern Martins gehört und zittern bei dem Gedanken,
von ihren Leiden befreit zu werden, die ihnen ohne Arbeit
ein sorgenfreies Leben ermöglichten. Sie wollen Reißaus
nehmen: da geht der Zug an ihnen vorüber und sie sind
geheilt wider ihren Willen.

126.nbsp;Der Blinde zeigt sich jetzt dankbar für das
Glück, das ihm widerfahren ist. Aber der Lahme bleibt
aufgebracht und lästert Gott und den Heiligen, die ihn
um seine tägliche Einnahme gebracht haben. Er macht
sich über die Wunderheilung lustig und tröstet sich damit,

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daß er ja auch in künstlicher Verstellung sein Brot ver-
dienen könne.

127. Diese tragi-koraische Szene zwischen Bettlern,
die sich verstellen, solange die AVeit besteht, ist offenbar
von grosser AVirkung gewesen.

128.nbsp;Es erübrigt nun noch, kurz den Inhalt der
„Farce des Müllers, dessen Seele der Teufel in die Hölle
schlepptquot; wiederzugeben. Außerhalb des Rahmens, in dem
sie hier steht, ist sie ein Meisterstück von Bosheit und
Scherz, (cf. Abschn. 112, Änm.)

129.nbsp;Berith, ein Zögling der Hölle, lernt von Lncifer,
durch welche Öffnung die Seele des Menschen den Leib
verläßt. AVir werden an das Sterbebett des kranken
Müllers versetzt, der an einer starken Magenverstopfung
leidet. Um ihn sehen wir seine Frau, eine Art Xanthippe,
beschäftigt, die, anstatt die Schmerzen ihres Gemahls zu
lindern, sich über seine AVehklagen lustig macht und ihn
noch schlägt, wenn er sich beschwert.

130.nbsp;Der kranke Mann muß sogar schon den Ge-
liebten ungeniert kommen sehen, mit dem sie sich nach
seinem Tode trösten will. Es ist ein Geistlicher, der nun
schon ein paar AVochen nicht mehr bei ihr war. Auf die
Nachricht, ihr Gemahl läge im Sterben, ist er außer sich
vor Freude; er verspricht ihr:

Je seray gallant de nnit et jours
Et un million ferons de tours.
Lustig umarmt und küßt er auch gleich die junge Frau.
Der Kranke ist entrüstet, wird aber durch Schläge zur
Ruhe gebracht. Übrigens war jetzt der Geistliche in ge-
wöhnlicher, bürgerhcher Kleidung erschienen und als ein
A'etter vorgestellt worden, der eben angekommen sei, um
den Sterbenden zu trösten. Er wird zu einer Flasche
AVein eingeladen und setzt seine Liebelei mit der jungen
Müllerin ganz offen weiter fort.

131.nbsp;Der Zustand des armen Hahnreis verschlimmert
sich, er verlangt nach. einem Pfarrer, dem er beichten und
der ihm die letzte Ölung geben könnte. Der ehrsame
A^etter schlüpft wieder in den Ornat und eilt, dem Sterben-
den den letzten Dienst zu erweisen. AVelche Ironie! Ein
getäuschter Ehemann läßt den Geliebten seiner Frau be-
wirten und vertraut nichtsahnend dem Ehebrecher auf

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dem Sterbebett seine Wut über die Schamlosigkeit seiner
Gattin an.

132.nbsp;Da scheint der Tod zu nahen: ein Durchfall
zwingt den Müller, den Teil seines Körpers, dessen Name
unaussprechlich ist, aus dem Bette..zu strecken und der
kleine Teufel fängt, was aus der Öffnung herauskommt,
durch die nach dem Ausspruche Lucifers die Seele der
Verdammten austreten sollte, in einem Sacke auf. Entzückt
über seinen Erfolg bringt Berith den Sack seinem Herrn,
der, den Inhalt riechend, ihn züchtigen läßt, weil er ihm
diesen Streich gespielt habe. Ein für allemal wird aber
der Hölle verboten, die Seele eines Müllers oder einer
Müllerin holen zu wollen: „car ce n'est que bran et ordurequot;.

133.nbsp;Trotz der Roheit der Handlung hat Delavigne
mit gewisser Geschicklichkeit wenigstens den Anstand im
Ausdruck zu wahren gewußt.

11. Metrisches.

134. a. Silbenzählung.

Das Mystère von Delavigne ist im allgemeinen in
10-Silbnern verfaßt. Größere Partieen sind auch in 8-
Silbnern gedichtet; so Vers 331—514.

In den Versen 319—330 treten uns viermal drei
5-Silbner entgegen. Reimstellung: aab aab bbc bbc.

5-Silbner liegen noch vor in V. 2638—2681 und
5829—5850.

4-Silbner sind die Verse 7890—7969. Im Dialog
bildet, wie schon in den Miracles de N. D. des XIV. Jahr-
hunderts, ein 4-Silbner oft den Abschluß der einzelnen
Reden; er gehört dann aber mit der Anfangszeile der
folgenden Rede zu einem Vers; so 1263, 1269, 1355, 1357,
1599, 1603, 1606, 1638, 1694 u. a.

135. b. Reim.

Delavigne verwendet bunt durcheinander Reimpaare,
sich kreuzende und sich umschliessende Reime.

Gebrochener Reim liegtvor 6766/67 (AveMaria:marya).

Reiche Reime linden sich in großer Anzahl, besonders
an den Stellen, wo unser Dichter mit seiner Reimkunst
glänzen wollte.

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Das Versende wiederholt sicli bei der Caesur des
folgenden Verses (rime bâtelée) bei 175—186, 539—550.

Die Gewandtheit unseres Dichters, die mannigfaltigsten
Reime zu finden, beweisen die Verse 779—846, 1929—1967,
4970—5008, 5626—5634.

Oft kehrt das Ende eines Verses am Anfang des
nächsten wieder; so 1526—1532, 2621—2628.

Die Figur der Anapher hat Delavigne angewandt in
Vers 6286—6293, 6796—6808, 6816—6839, 5611—5622.

136. c. Strophengebilde.

Besonders wertvoll wird unser Mystère durch die
eingelegten Balladen.

Eine streng regelrechte Ballade ist 5925—5952 ; hier
stimmt die Zeilenzahl der Balladenstrophe mit der Silben-
zahl der Verse tiberein (3-8 4 8-Silbner). Reimstelhing :
ab ab bc bc. Geleit: bc bc.

Die anderen Balladen sind in 10-Silbnern gedichtet;
aber die Silbenzahl der Verse ist nicht die gleiche wie die
Verszahl der Strophen.

Die Balladen 4376—4403 und 5101—5128 haben
auch 3-8 4 Verse mit der Reimstellung ab ab bc bc ;
Geleit: bc bc. Die Strophen der anderen haben 12, das
Geleit 6 Zeilen. Reimstellung: aab aab bbc bbc; Geleit:
bbc bbc 1).

Ballade 5101—5128 heißt bei Delavigne „enchaînéequot;,
weil das Versende am Anfange des folgenden Verses wieder
erscheint; dieselbe Bezeichnung kommt auch Ballade
4376-4403 zu.

Die Ballade 55—96 nennt der Dichter „Ballade du
chant royalquot;; bei den Balladen 1—42, 2794—2835, die
genau so gebaut sind, fehlt diese Bezeichnung. Sie be-
stehen aus 3-12 6 Versen und gehören also gar nicht
zu der Abart der Ballade, dem chant royal, der aus 5
Strophen und dem Geleit gebildet wird.

In den Versen 10256—271 ist ein rondeau double
mit rentrement enthalten mit der ihm eigenen Reimstellung
aabba | aab | aabba :

'} Unsere Balladen bestätigen also die .-Vnsicht Stengel's (Roman.
Verslehre, S. 90) gegenüber de Gramont und Lubarsch.

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De Martin le bon catholique
Emportons l'ame magnifique
En la gloire sempiternelle,
Laquelle de joie eternelle
Sera comme nous pacifique.
Sa vie fut si authentique
t^ue nous dirons ce doux cantique
Maintenant à mode nouvelle
De Martin

Le corps a la terre s'applique,
Son bienfait aux humains s'explique,
Son ame en joie supernelle
Sera. Donc de voix solennelle
Chantons par vertu déiflque
De Martin.

Mystère B.

137.nbsp;Das 2te Mystère des heiligen Martin, mit dem
sich ttnsere Untersuchung zu beschäftigen hat, ist in einem
Neudruck aus dem Jahre 1841 zugänghch, enthalten in der
„Collection de poésies par Crapeletquot;. Livraison XII. Paris.

138.nbsp;Die erste bestimmte Nachricht von seiner
Existenz stammt aus dem Munde Jacques-Charles Brunet's,
der in seinen „Nouvelles Recherches Bibliographiquesquot;
T. II. p. 478 sagt, daß dieses Stück seit kurzem auf-
gefunden sei und daß er ein Exemplar eines alten Druckes
bei dem Buchhändler Techener gesehen habe.

139.nbsp;Ebenso teilt uns Onésime le Roy in seinen
„Etudes sur les Mystèresquot; p. 301 dessen Ausdehnung, die
er durch einen Freund habe feststellen lassen, mit. Auch
schon die Erwähnung von Beaiicliamps : „Recherches sur
les théâtres de Francequot; Paris 1735. T. I p. 227 bezieht
sich wohl auf unser Mystère.

140.nbsp;Wegen der Wichtigkeit, die mau dem Texte bei-
maß, wurde 1841 von dem erwähnten Exemplar Techener's
eine Abschrift angefertigt, die sich noch heute in der
Bibliothek zu Chartres befindet. Nach ihr hat einer der
damaligen Conservateurs den oben angeführten Neudruck
veranstaltet. ')

') Catalogue général des Mss. Département Chartres. T. XI.
Paris 1890: Copie, par M. Hérisson, de l'imprimé à Paris, pour la

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141.nbsp;Ueber den gegenwärtigen Aufbewahrungsort
des einzig bekannt gewordenen Druckexemplars ist nichts
bekannt, ebensowenig hat sich bisher eine alte Hand-
schrift des Textes entdecken lassen.

142.nbsp;L. Petit de Julleville hat in seinen „Mystèresquot;^)
eine im allgemeinen richtige Inhaltsangabe von B gegeben ;
nur begeht er im Namenverzeichnis denselben Irrtum wie
die Ausgabe von 1841, daß er Boutavant (= Boitavant),
den Herold des Grafen zum Herold des Prinzen macht,
dem Lahmen (Haustebet) und dem Blinden (Jolestrin) gibt
er keine Namen; statt der von ihm rund angenommenen
4500 Verse zählt das Mystère gegenwärtig nur 3888 wegen
einer Lücke von c. 2 Blättern nach dem 2ten Blatt der
Signatur E in der Charter Copie, resp. nach N I des Neu-
drucks. Seine Analyse genügt aber zu einem Vergleich
von A und B nicht. Ich lasse deshalb eine neue folgen.

I. Inhaltsangabe von B.

143.nbsp;(-- V. 130). Nachdem in den ersten 80 Versen
die Hauptpersonen dem Publikum einzeln vorgestellt worden
sind, beginnt der Vater des heihgen Martin die Handlung ;
er, der König von Ungarn, übergibt seinen 10 Jahre alten
Sohn den Großen zur Erziehung, besonders dem prince
d'Acherance.

144.nbsp;(_ V. 491). Sie besuchen Martins Schwester,
die an einen Grafen von Mailand verheiratet ist, und Martin
findet, nachdem er sich verabschiedet hat, einen nackten
Bettler, dem er die Hälfte seines Mantels abschneidet.
Trotzdem verscheidet derselbe; seine Seele und das Tuch
Martins werden von Raphael in das Paradies mitgenommen.
Eine Szene zwischen Raphael und Gott erlebt Martin im
Traume mit und beschließt in Folge dessen Christ zu werden.
Nach Einführung in die christliche Lehre bleibt er 3 Jahre
bei einem Einsiedler.

145.nbsp;(—V. 786). Inzwischen ist der alte König von
Ungarn gestorben und die Großen des Reiches suchen
Martin auf, der die Krone aus den Händen eines heidnischen
Priesters annimmt.

veuve Jean Bonîons et réimprimé depuis par M. Boisthibault. En tête
est la copie, par M. Roux, d'une lettre de M. Hérisson à M. de Monmerqué.
XIXe s. Papier. 181 pp. 28B sur 183 mill. Demi-reluire.
') Petit de Julleville : A. a. 0. II, 535—38.

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146.nbsp;(— V. 1031). Am andern Morgen flieht Martin
zu dem Einsiedler in den Wald, läßt sich taufen und begiebt
sich mit ihm auf die Wanderschaft. Darauf wird der
prince d'Acherance zum Könige gewählt und gekrönt.

147.nbsp;(— V. 1339). Martin kommt nach Mailand, wo
er öBentlich predigt; er wird von 2 Hauptleuten gefangen
genommen und seinem Schwager vorgeführt. Er bekehrt
den einen der Offiziere und seinen Neffen Brice und wird
daraufhin aus dem Lande verwiesen.

148.nbsp;(— V. 1564). Der Graf wird von seinen Leuten
umgestimmt, er bereut seine Handlungsweise und läßt
Martin wieder zurückrufen. Dieser verzichtet zu Gunsten
seines Schwagers auf sein Reich Ungarn, tauft ihn, dessen
Gemahlin und Ritter und begiebt sich in das Kloster Mar-
moustier, wo er Mönch wird.

150.nbsp;(— V. 2252). Der Abt des Klosters Mar-
moustier stirbt; Martin, der diese Würde ausschlägt, wii'd
auf Befehl des Erzbischofs von Tours sein Nachfolger.
Ein Schneider und seine Frau Polye bringen Martin ihre
stumme Tochter, damit er sie heile. Der Akt der Heilung
fehlt ebenso wie der Anfang der Geschichte des Malheure.
Dieser hat sich erhängt und wird mit Hilfe der Erzengel
aus der Hölle befreit.

149.nbsp;(— V. 1954). Der prince d'Acherance erkennt
die Ansprüche des Grafen nicht an; es kommt zu einer
mörderischen Schlacht, in der der Prinz mit der Mehrzahl
seiner Anhänger erschlagen wird.

151.nbsp;(— V. 2506). Der Erzbischof von Tours liegt
auf dem Sterbebett und empfiehlt Martin zu seinem
Amte. Dieser will aber nicht annehmen, wird deshalb
vor den Papst geladen und von diesem zum Erzbischof
erhoben.

152.nbsp;(— V. 2725). Martin heilt vor Paris einen Aus-
sätzigen und beschenkt ihn. Während er sich schlafen
legt, um gegen Mitternacht Frühmesse zu lesen, streut
Satan Erbsen auf die Treppe; Martin gleitet aus, stürzt
herunter und bricht 2 Rippen; wird aber von den Erz-
engeln geheilt.

153.nbsp;(— V. 3188). Ein Bettler, der von 4 Räubern
seiner Kleidung beraubt worden ist, wird auf Martins
Befehl durch den ersten Diakon für 30 Sols neu bekleidet.
Da dieses Gewand zu kurz ist, muß er mit Martin tauschen.

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dem die Engel, als er auf der Kanzel stellt, längere Armel
bringen. Polye und ihre Tochter unterhalten sich in der
Kirche. Satan schreibt ihr Gespräch auf, wird aber hinter
einer Säule entdeckt und flieht; er erzürnt dann Martin,
der schreiben will; dafür wird ihm der rechte Fuß abge-
schnitten. Als armer Manu verkleidet beschwert er sich
über den Erzbischof beim Papste, der Martin zu sich beruft.
Martin entlarvt aber den Kläger als Teufel.

154.nbsp;(— V. 3357). Auf der Rückreise wird Martin
das Opfer von 2 Bettlern. Der eine, Pignoguet, bittet um
Geld zur Beerdigung seines Complizen Penaillon, der sich
tot stellt. Da stirbt dieser und Leviathan entflieht mit
der Seele des Betrügers. Die Seele wird aber von Raphael
zurückgefordert und der Leib von Martin auf die Bitten
des Pignoguet auferweckt. Beide bekehren sich und ver-
sprechen in Zukunft ehrliche Arbeit.

155.nbsp;(_ V. 3643). Martin bekommt Fieber und fühlt
sein Ende nahen. Sein Neffe Bricet, dem der Erzbischof-
stuhl von Tours versprochen wird, bereitet ihm ein einfaches
Lager auf Asche und Stroh. Er stirbt im Beisein der
Mutter Gottes, Petrus' und der Engel Michael, Raphael,
Agnes und Cecilie, während die Seele des heiligen Ambrosius
eine Messe liest und durch seinen Gesang dem Akte eine
doppelte Weihe verleiht. Der Teufel, der auf die Seele
Martins lauert, wird vom heiligen Michael durch Schläge
verscheucht. Martins Seele wird feierlich in den Himmel
aufgenommen und bedankt sich bei Gott. Darauf be-
fiehlt Bricet, die Leiche durch die Straßen von Tours zu
tragen.

156.nbsp;(— V. 3864). Hier finden wir einen Blinden,
Jolestrin, und einen Lahmen, Haustehet, die von der Wtmder-
kraft des heiligen Leichnams gehört haben und sich deshalb
verbinden, um gemeinsam ihrer Heilung zu entgehen, die
ihnen ihr sorgenfreies Leben unmöghch machen müßte.
Der Krüppel steigt auf den Rücken des Blinden und beide
suchen dem Leichenzuge auszuweichen. .Sie werden aber
überrascht und gegen ihren Willen geheilt.

157.nbsp;(— V. 3888). Die letzten Verse des Mystère^ B
füllen Lobpreisungen Martins und Gottes, sowie Er-
mahnungen der Anwesenden zur Arbeit und ehrbaren
Lebensführung aus dem Munde Bricet's und des ersten
Diakons.

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II. Würdigung des Dichters von Mystère B.

158.nbsp;Der Dichter dieses Mystère steht an Bedeutung
weit hinter Delavigne zurück. Seine Sprache ist trocken
und eintönig, nur selten gelingt es ihm durch Anschauhchkeit
und Wärme der Darstellung zu packen. Von Bühnentechnik
und ihrer Verwertung hat er nur eine dunkle Vorstellung.
Der Szenenwechsel wird nur dadurch äußerlich kenntlich,
daß die Schauspieler sich von einem Teil der Bühne an
einen anderen begehen ; eine innere Begründung der Hand-
lung, oft auch nur eine Wahrscheinhchkeit der Darstellung
fehlt. Passegueret tritt (V. 2321) seine Reise über den
St. Bernhard nach Rom au und kommt (V. 2323) dort an,
ohne daß die Zwischenzeit durch eine andere Handlung
ausgefüllt wird ; er begiebt sich (V. 2356) auf die Heimreise,
V. 2358 sieht er Marmoustier wieder zu seinen Füssen.
Martin geht (V. 2387) mit Passegueret nach Rom und drei
Verse später stehen sie vor dem Papste. In einem Verse
legt sich Martin schlafen, im folgenden steht er auf, um
die Messe zu lesen u. s. w. So wird die Zeit vollständig
vernachlässigt.

159.nbsp;Mehrere Namen sind nicht schlecht gewählt,
so heißt ein Herold, der seinem Namen Ehre macht,
Boitavant, ein anderer Passe-gueret, ein Ritter Bois-le-vin
und ein Bote Tête-hii-vole ; doch fehlt es an der geringsten
Individualisierung: schematisch verlangt jeder Bote vor
Antritt seiner Reise Geld, das er in Alkohol anlegt.

160.nbsp;Oft schwächt der Dichter die Wirkung durch
vorausgeschickte Bemerkungen und Handlungen ab: so
hat Gott den Bettler vor Amiens schon getröstet, Martin
werde ihn bekleiden, bevor dieser sich ihm naht. Martin
weckt (V. 3331) den einen der beiden Spitzbuben erst vom
Tode auf, nachdem Raphael dessen Seele dem Teufel ent-
rissen hat ; der Heilung des Blinden und des Lahmen geht
eine zu lange Loheserhebung der Wunderkraft des Leich-
nams Martins voraus. So fehlt jede Spannung nnd oft
wird die natürhche Wirkung vereitelt.

161.nbsp;Wie tot und unwahr wird hier (V. 1760—1853)
die Schlacht zwischen dem Thronräuber prince d'Acherance
und dem Schwager Martins geschildert! Wie anschaulich
und echt ist die Darstellung der Vorbereitung zu einem
Kampfe und dieser selbst bei Delavigne (V. 2315—2524).

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162.nbsp;Aus verscliiedeneu Gründen läßt sich ein Geist-
hcher als Verlasser dieses religiösen Dramas vermuten.
Trockene Gelehrsamkeit (,V. 422/423, 455/56, 2084/85) und
das einzige Mittel, alle Streitigkeiten durch Anrufung der
höheren richterlichen Instanz in Sachen des Glaubens zu
regeln (vom Abt Berufung an den Erzbischof, von diesem
an den Papst) lassen auf einen Gelehrten schließen, dem
seine Phantasie keine Lösung eingab, wo eine Notwendig-
keit geschichtlicher Treue nicht vorlag; diesen Schluß
rechtfertigt auch die wiederholte Hereinziehung der heihgen
Maria als Vermittlerin zwischen Gott, die Betonung des
KathoUschen (^1252), wo es nicht durch einen Gegensatz
verlangt wird; besonders das breite, behagliche Ausmalen
der Macht des Papstes im Namen des Petrus und Paulus
(2440) und der ganzen Geistlichkeit (2455—76) verrät
den Stolz des Verfassers auf seine Stellung.

163.nbsp;Der Dichter hat kaum Sulpicius Severus i) ge-
kannt: die ganze Stellung des heiligen Martin als Sohn
des Königs von Ungarn und die daraus hervorgehende
Verwicklung ist eine zu verschiedene; die Namen der
handelnden Personen sind fast immer andere und die
Wunder, die er in seiner Weise beschreiht, waren so all-
gemein bekannt, daß man den lateinischen Kirchen-
schriftsteller nicht als Quelle anzunehmen braucht; auch
bringt er nur eine Auswahl in vielfach anderem Zu-
sammenhang.

164.nbsp;Hätte der unbekannte Dichter die wirkungs-
volle Darstellung der List der Turoner bei Sulpicius
Severus: IX, 1, 2 gekannt, er hätte sicherlich nicht zu
dem Auswege der Berufung auf ein päpstliches Urteil
gegriffen; er erwähnt auch fast keins der bei Severus
angeführten Versuchungsmittel des Teufels und der Hölle.

165.nbsp;Ob der Dichter überhaupt zu seinem Mystère
eine bestimmte Vorlage benutzt hat, ist nicht mehr aus-
zumachen; sicherlich
Avar es keine der uns heute zu-
gänglichen.

166.nbsp;Möghch ist, daß er den damals allgemein be-
kannten und beliebten Roman der „Belle Helainequot; gekannt
hat. Der Versuch des Teufels, Martin durch Ausstreuen
von Erbsen auf der Treppe verunglücken zu lassen, hat

gt;) Cf. Abschn. 181, 182.

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große Aelmlichkeit mit der Erzählung dieses Romans.
(Cf. Ruths:/) A. a. 0. S. 104/105).

167. Wenn wir annehmen, daß er den Prosatext
Wauquelins, dem seine Darstellung am nächsten kommt,
benutzt hat, dann ist ein Schluß auf die Entstehungszeit
von B möglich. Wauqueliu's Bearbeitung datiert aus dem
Jahre 1448, und da, wie wir später sehen werden, Delavigne
1496 Mystère B gekannt haben muß, so würde es zwischen
1448 und 1496 gedichtet worden sein.

III. Metrisches von B.

168. a. Silbenzählung.

Die Dichtung ist an einem Tage aufgeführt und in
8-Silbnern verfaßt.

5-Silbner liegen vor in V. 8308/9; 6-Silbner in 3307.

169. b. Reim.

Fast durchgängig ist das Reimpaar angewandt worden;
doch hat sich der Dichter nicht immer an dies Schema ge-
bunden; öfters finden sich 3 mal gereimte Verse: 356ff,
426 ff, 891 ff, 1804 if, 1829 ff, 3537 ff. 3667 ff, 3672 ff.

Zwischendurch kommen auch Kreuzreime vor: 278—281,
286—93; 1023—26; 3296—99. Nur in Kreuzreimen ist
verfasst Vers 1037—1474. In diesem Teile finden sich die
meisten Verstöße gegen den Reim; der Dichter scheint also
dieser Art von Reimen nicht gewachsen gewesen zu sein.

Als reimlose Zeilen (Waisen) begegnen uns die Verse
228, 276, 358, 428, 1298. 1312, 1322, 1706, 1760, 1792,
2702, 3015, 3044, 3361, 13388, 3610, 3653, 3664, 3825.

Eine Menge scheinbar (graphisch) unreiner Reime
kommen vor:

Auf wenig artikuliertes r gehen zurück die Reime:
212/3, 488/9, 801/2, 848/9, 961/2, 1256/8, 1284/5, 1736/7,
1867/8, 2368/9, 2811/2, 3074/5, 3162/3, 3174/5, 3264/5,
3364/5, 3407/8, 3425/6, 3606/7, 3619/20, 3846/7.

Auf anderen, nicht oder wenig lautenden Endkonso-
nanten beruhen die Reime: 892/3, 1318/20, 1157/9, 3007/8,
3280/1.

') K. Ruths: Die französischen Passungen des Roman de la
belle Helaine. Diss. Greifswald 1897.

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OL ou reimt mit ai, ay, é, er in: 136/7, 166/7,
206/7, 210/1, 267/8, 352/3, 370/1, 382/3, 580/1, 1614 5,
1960/1, 2065/6, 2904/5, 3032/3, 3128/9, 3352/3, aoOo/6,

3611/2.nbsp;. , ,

Ebenso reimt fortwährend our mit eur (auch our
oeschrieben): 864/5, 949/50, 1132/4, 1509/10, 1529/30,
1606/7, 1974/5, 2252/3, 2272/3, 2598/9, 2700/1, 3042/3,
3072/3, 3076/7, 3230/1, 3382/3, 3461/2, 3467/8, 3623/4.

Unreine Eeime liegen vor in: 2149/50 und 3735/6,
wo
omme und onne reimen.nbsp;, ,, ■

In einer Anzahl von Versen können wir durch kleine
Verbesserungen den verderbten Eeim herstellen. Lies:
V. 145: Sus Chevaliers! entendez la
V. 559/60: Mais nous en desieunerons

Prenons la tost et nous hastons
V. 1104: Si Jesus Christ voulez requerre
V. 1228/30: Et quant jai regarde cecy,
Sacrifier a mahom desmis
V. 1276: Tout en present jai délaissé
V. 1282: Au Dieu plaisir o moy venez
V. 1341: Puis quainsi va, je men iray
V. i::557: cast Martin quil ramene soit
V. 1460/62: A Marie et a Jesuchrist

Point ne variez, je vous pry
V. 1711: Monseigneur je vous pry allez
V. 1868: je irai devant, va derriere
V. 2113: Apres cecy vouldroye boire
V. 3052: Ils sont prestz tost dessus montez
V. ,3272 : Je vois (le bonne eau quérir.
V. 3539: Sainctz et Sainctes Anges vrayment.

Trotzdem bleiben eine Anzahl reimlose Verse, die ver-
derbt sind oder die der Dichter nicht hat reimen können :
V. 150/1, 226/7, 346/7, 725/6, 1456/8, 1497/8
1726/7, 1748/9, 1765/6, 1836/7, 1877/8, 190^/8 1970/1,
2803/4; 2981/2, 3308/10, 3331/2, 3507/8, 36ol/2, 3629/30,

3675/6, 3731/2, 3858/9.

Die Bemerkung nach Vers 1044 ist als Vers zu be-
trachten.

druck von 1841 eingeschlichen : Lies V. 695 Je
1246 „vouloisquot; statt „voulonsquot;, 3053 „doncquot; s
3674 „Jolestrinquot; statt „Jolestruquot;. (Cf. V. 3781).

m

170. c. Strophenformen

fehlen ganz.

Folgende Druckfehler haben sich wohl erst in den Neu-
— ' ^ • ehlichen : Lies V. 695 Jequot; statt „se ;

voulonsquot;, 3053 .doncquot; statt „dont ;

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Zusammenhang zwischen A und B.

171.nbsp;Auf den ersten Blick scheint kein näherer Zu-
sammenhang zwischen A und B zu bestehen. Fast alle
Namen der auftretenden Personen und Ausgangspunkt wie
Einkleidung der Handlung sind verschieden; daher haben
die Litterarhistoriker beide Mysterien für von einander
völlig unabhängig erklärt.

172.nbsp;Allein eine Veränderung der Situationen, in denen
sich die Wunder eines Heiligen abspielen, finden wir auch
in anderen Mysterien, die in mehrfachen, untereinander
zusammenhängenden Bearbeitungen auf uns gekommen
suid.i) So glaube ich, dass auch hier Delavigne das
Mj^stère B gekannt und benutzt hat ; es müßte sonst noch
eine Bülmenhearbeitung oder eine Lehensbeschreibung des
heiligen Martin existiert haben, die sowohl dem Mystère
B sehr nahegestanden, wie auch Delavigne vorgelegen hätte.

173.nbsp;Wir erinnern uns der Szene, wo Martin vor
der Kirche, in der er Gottesdienst abhalten will, von einem
nackten Bettler um eine Gabe angehalten wird und wie
er dem Armen dann seinen Ornat giebt.

174.nbsp;In dem einen wie in dem andern Mystère (k
9620-9733, B. 2725-2819) geht dieselbe Person, ein
erster Diakon, zu einem Trödler, dem er handelnd einen
Kock abkauft, der aber zu kurz ist. Von diesem ganzen
Vorgang, der m beiden Mystèrien fast ganz übereinstimmend
dargestellt wird, steht bei Sulpicius Severus nichts.

175.nbsp;Ebenso hat Delavigne seine Darstellung von
der Heilung des Blinden und Lahmen der des Mystère B
angelehnt; ihm schien die letzte Wunderthat des toten
Heiligen von solchem Interesse und von solcher Wirkung
daß er sie zu einer selbständigen Morahtät weiter ausspannt

176.nbsp;Die Heilung zweier Krüppel (paralitici) wird
uns auch von Odo (abbas Cluniacensis): „de reversione
Martini Turonensisquot; erzählt2) und dieselbe Darstellung
hat auch Péan Gatineau, V. 8100—8147.3) Der Vorgang

Diss 1895nbsp;Die Mysterien des hlg. Sebastian. Marburger

i'aiis loll. (Komgl. Bibl. Berlin. Bb. 2910).

4 iff nnbsp;Gatineau : Leben und Wunderthaten des heiligen Martin

wnbsp;de® Anfang des XIII. Jahrhunderts. Herausgegeben

von Werner Soderhjelm. Tübingen 1896.

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bei Delavigne älmelt aber dem des Mystère B. Hier wie
da finden sicli ein Lahmer und ein Bhnder zu glückhcher
Ergänzung ihrer Fehler zusammen. Delavigne hat die
kürzere Darstellung in B geschickt seinem Eahmen an-
gepaßt. Er hat die Situation ausführhcher ausgemalt
und läßt den Lahmen im Gegensatz zu B und den anderen
Berichten über seine Heilung gegen seinen Willen schimpfen
statt seine Dankbarkeit ausdrücken, wie es der Blinde thut.

177.nbsp;Die Fabel blieb in Burgund bekannt und veiquot;-
breitete sich auch über dessen Grenzen. Wir finden sie
bei Boursault') wieder, der ihren Inhalt seinem Freunde,
dem Bischof von Langres mitteilt. Eben daher hat wohl
Florian^) den StoS seiner Fabel „Der Blinde und der
Lahmequot; entnommen.

178.nbsp;Größere Bedeutung hat für Delavigne das
Mystère B nicht gehabt. Es konnte sie auch bei seiner
trockenen Sprache, seiner dürftigen Handlung, die nur
einige Wunder des Heiligen herausgreift, dem Mangel an
Bühnentechnik und seiner strenggläubigen Tendenz gar
nicht haben.

179.nbsp;Auf der andern Seite gelingt es uns die Lücke
des Charter Druckes, die sich in der Neuausgabe nach
fo. NI findet, mit Hilfe des Mystère von Delavigne aus-
zufüllen.

180.nbsp;In der Charter Copie (Neudruck S.95, V. 2115ff.)
hören wir von dem stummen Mädchen, das durch Martin
geheilt wird. Nach der Lücke werden wir in den Himmel
versetzt, wo 3 Engel die Gnade Gottes anrufen, Martin
zu erhören, der für einen Gehängten ums Leben bittet.
Dieser arme, hier mit Namen „Malheurèquot; kann nur Dela-
vigne's „Hannequin le hazardeurquot; sein, der junge Spieler,
der sein ganzes Vermögen verloren und sich aufgehängt
hat. (A. 5603—5638, 5925-6114.)

180. Die verlorenen Blätter haben uns also den
ganzen Vorgang der Heilung der Stummen und das Auf-
treten des Spielers berichtet. Die Szene ist von Delavigne
allerdings etwas frei verändert; wir müssen nämlich an-

') Boursault (1638 —1712), Dichter und Dramatiker. Lettres
Nouvelles, accompagnées de fables, de contes, d'épigrammes et de bons
mots. 1709. 3 Bände.

J. P. Florian (1755—94), Fabeldichter. Ediert von L. Claretie.
Paris 1889.

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nehmen, daß der Spieler in Mystère B nicht wie in A
minderjährig als Sohn des bourgeois und der bourgeoise
dargestellt wurde, sondern als mit „Belle de nuitzquot; ver-
heiratet. Daraus ergiebt sich auch die Eolle, die diese
Frau in Mystère B nach dem vorausgeschickten Personen-
verzeichnis spielen sollte, während sie im Stücke selbst,
wie es vorliegt, nicht vorkommt.

Quellen von A.

181.nbsp;Die Haiiptquelle, aus der Delavigne geschöpft
hat, um in 5 Wochen ein Werk von mehr als 11000 Versen
zu vollenden, ist die vita sancti Martini von Sulpicius
Severus.

182.nbsp;Dieses Werk von Severus war zu unseres
Dichters Zeiten weit verbreitet und hat sich in 7 Mss.
erhalten, die bis ins 7. Jahrhundert zurückgehen.^)

183.nbsp;Im allgemeinen hat Delavigne Seite für Seite
die Darstellungen dieses Zeitgenossen Martins benutzt; er
ist dieser Biographie sogar oft bis in die größten Einzel-
heiten gefolgt. Das ergeben besonders chronologische Fehler,
die er gemeinsam mit seiner Quelle begeht. Wir erinnern
uns, daß Delavigne den Kaiser, der Martin zur Kriegs-
folge zwingt, Constantin und den, den er bekehren will,
Julien (Julies) Cesar nennt. Und doch kann es nur Con-
stantin d. Gr. (325—37) gewesen sein; denn Martin ist 316
geboren und wurde im Alter von 15 Jahren Soldat.

184.nbsp;Wahrscheinlich hat aber von den uns erhaltenen
vollständigen Hss. Delavigne keine vorgelegen; seine direkte
Vorlage wird vielmehr eine Lücke gehabt haben, welche
nach unserer jetzigen Zählung die Capitel 12—15 umfaßte.

185.nbsp;Nach der Darstellung von der Zerstörung des
Tempels bei Tours, bei welcher der dort verehrte Heilige
sich als Dämon entpuppt, springt unser Dichter zur Ge-
schichte der Tochter über, die in Todeslieber liegt und
durch die Gewalt des heiligen Martin geheilt wird. Die
Beschreibung der Lebensführung Martins in dem Kloster

1) Sulpicius Severus (365—425), Kirchenschriftsteller. Cf. Teuffei:
Gesch. der röm. Litt. 1890^ II, 1136.

Karl Halm: Corpus script, eccles. lat. Sulp. Severi vita s.
Martini. Wien 1886.

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(Marmoustier) und 4 Wunder, die ebensoviel Wirkung
gehabt hätten als die andern, läßt er aus:

a)nbsp;Martin bringt ein gallisches Leichenbegängnis
zum stehen,

b)nbsp;er fällt einen Baum, den die heidnischen Gallier
verehren,

c)nbsp;er zerstört bei Leprosum einen Tempel durch
3tägiges Fasten und

d)nbsp;kann von 2 Messerhelden nicht verwundet werden.

186.nbsp;Der Umstand, daß diese von Delavigne aus-
gelassenen 4 Wunder in der lateinischen Quelle unmittelbar
aufeinander folgen, scheint mir ein beabsichtigtes Übergehen
auszuschließen.

187.nbsp;Als mit dem letzten Wunder bei Severus der
Stoff ausgegangen war, mußte sich Delavigne weiter um-
sehen, denn die Festspiele sollten ja 3 Tage ausfüllen.
Es ist interessant zu sehen, wo er Eat gesucht und ge-
funden hat.

188.nbsp;Das Motiv des Kaiserbesuchs und die Begeben-
heiten während desselben sind geändert nach: P. Fortu-
nati presbj'teri carmen sancti Martini atque alia diversa,
Fo. LVII, r-fv.

189.nbsp;Der Wucherprozeß gegen Claude la Gente ist
aus keiner Quelle nachweisbar; entweder hat Delavigne
aus mündlicher (lokaler) Überlieferung geschöpft, oder er
hat ja oft vorkommende Verhältnisse .auf Martin nach der
Phantasie angewandt. Eine gewisse Ähnlichkeit zeigt sein
Bericht allerdings mit einer Erzählung von Pean Gatineau
(v. 3266—3421), deren Ursprung von W. Söderhjelm auch
nicht nachgewiesen werden konnte.

190.nbsp;Todesahnung, Vorbereitung und Ende Martins
ist aus Sulpicius Severus: Epistula IV geschöpft.

191.nbsp;Der darauf dargestellte Streit der Mönche und
Turoner um die Leiche ist der Geschichte Gregors von
Tours entlehnt.

192.nbsp;Daß die Moralität nur eine ausführlichere Dar-
stellung einer Szene von Mj-stere B ist, haben wir schon
gesehen.

193.nbsp;Der Stoff der „Farce vom Müllerquot; ist, wie
schon Raynouard vermutete, einem alten fabliau ent-

') s. Abschn. 176.

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iiommeu. Die direkte Quelle, die er noch nicht kannte,
ist auch nicht schwer zu finden gewesen. Es ist wahr-
scheinlich das fabliau: „Le Pet au Villainquot; des bekannten
Kustebuef. Hier wird uns die Geschichte eines Bauern
erzählt, der

„tant ot niangie bon buef as aus
et du gras hume qui fut chaus
que la pance nestoit pas molle
ainz 11 tent com corde a citole.
Tant se torne, tant se remue
quuns pez en saut qui se desroie
le sac emplist et cil le loie.quot;

Nat. Bibl. (Vélins) 1159 und Brit. Mus. C22 b?.^)

194.nbsp;„La vie et miracles de monseigneur St. Martin,
translatée en francoysquot; lautet der Titel eines Buches, von
dem Graesse®) berichtet.

195.nbsp;Danach könnte man vermuten, daß Delavigne
noch eine weitere, bequeme Quelle, nämlich eine französische
Lebensbeschreibung des heiligen Martin benutzt habe. So
verlockend diese Vermutung auch schien, so hat sie sich
doch bei näherer Prüfung als unhaltbar herausgestellt.

196.nbsp;Von beiden kostbaren Drucken auf vélin habe
ich mir vor 2 Jahren gelegenthch einer Reise Auszüge
gemacht.

197.nbsp;Die zwei Exemplare, die wegen ihres Kunst-
wertes unter Glas gehalten werden, gleichen sich bis ins
Kleinste. Das Format ist Großquart: 18 cm breit und
27 cm lang; die Bände in schwerem Sammt haben Gold-
schnitt. Beide enthalten 106 bedruckte oder bemalte
Blätter und 1 weißes. Die zahlreichen Bilder sind mit
echten Farben ausgeführt, sie sollen das Leben Martins
und seine Wimderthaten illustrieren.

198.nbsp;Der einzige Unterschied zwischen den beiden
Drucken ist : das Pariser Vellum trägt auf der Schlußseite

') Eustebuef (c. 12;-50—1280), Lyriker und Satiriker.

Auf erstere Hs. war ich durch eine gütige Privatmitteilung des
Herrn Leopold Delisle, administrateur général de la Bibl. Nat., auf-
merksam gemacht worden und die zweite fand sich erst nach langem
Sachen.

Graesse : Trésor de livres rares et précieux ou }nouv. Dict.
bibliogr. D. P. L. 1859-07, T. IV, 431. A la lin: Imprimé à Tours
par M. Lateron, le septième jour de may 1496 pour Jehan du Liège,
marchand libraire à Tours. In fol. av. fig. en bois.

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eine Angabe über Ort und Zeit der Abfassung, wälirend
dieses Coloplion in der Ausgabe des Britisciien Museums
fehlt.

199.nbsp;Auf dem weißen Blatte vor dem Texte steht
la Vie St. martin des histoires et livres en francoys pul ™

A la cheminee bloys

Auf einer Seite des vorletzten Blattes unten
Av Roy = / AV PLESSIS^)

200.nbsp;Nach der ausdrücklichen Angabe auf der 2ten
Seite des ersten Blattes % daß dieser Druck dem .saint
Sulpice folge und der Schlußbemerkung, daß diese Uber-
setzung am 7. Mai 1496 zu Tours erschienen sei, also drei
Tage, bevor die Stadt Seurre Delavigne beauftragte „de
leur faire et composer ung registre arnjuel serait couchée
et déclarée par personnages la vie monseigneur sainct
Martinquot;, lag die Vermutung, Delavigne habe diese Uber-
setzung bei Abfassung seines Werkes benutzt, sehr nahe.

201.nbsp;Der Druck ist aber, wie man beim ersten Blick
schon aus der äußeren Form sieht, mehr eine Illustration
der Wunder unseres Heiligen; die Beschreibung der ein-

') A l'onneur et louange de dieu le père tout puissant, de la
glorieuse vierge Marie et de la court oelestielle de paradis a été
imprimée à Tours par Mathieu Lateron cette présente vie avecques les
miracles de monseigneur sainct Martin arcevesque dudit lieu de Tours.
En la(iuelle cité repose le henoist corps du glorieux saint. Le septiesme
jour de may l'an mil CCCC IUI ' XX et XVI pour Jehan du Liège,
marchant libraire, demeurant à Tours en la rue de la sellerie à Fymage
de saint Jehan Tevangeliste près des Augustins.

Nach dieser Bemerkung zu schließen ist dieser kostbare Band
ein Exemplar Carl's VIII (1483—1498) gewesen, der oft in Plessis-les-
Tours residierte.

') Gloire et honneur pardurable soit à la celeste trinité : ung

dieu en trois personnes........C'est au pasteur de rectitude,

miroir des evesques, arcevesques et patriarches monseigneur saint
Martin arcevesque de Tours : remply de beatitude, duquel selon la
petitesse de mon engin vueil descripre la tristesse de sa vie et les
miracles qu'il a faiz tant en vie qu'après sa mort: ainsi qu'il est
trouvé de ceulx qui de lui ont escript. Et sachez (lue riens ny vueil
mettre du mien, mais ensuivre la lettre des peres et clers anciens de
ses îaiz. Et comme ainsi tout que sainct Sulpice ait faict ung livre
contenant vingt et six chappitres par leurs titres divisés : esquels sont
contenus les îaiz et merveilleux miracles de saint Martin ainsqu'il
mourust; si dieu plaît m'aider je poursuivray ma matière au mieulx
que je pourray.

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zelnen Thaten ist selir knapp und beschränkt sich oft,
schon von der Mitte an, auf eine Unterschrift unter das
Bild und so könnten die Drucke, selbst wenn sie aus
Sulpicius Severus tibersetzt wären, Delavigne keine großen
Dienste geleistet haben.

202.nbsp;In Wirklichkeit ist aber der Druck trotz der
obigen Versicherung des Verfassers gar keine Übersetzung
von Sulpicius Severus, sondern ein direkter Auszug aus
dem erwähnten altfranzösischen Gedicht von Péan Gatineau.

203.nbsp;Dieses Gedicht baut sich, wie der Herausgeber
auf Seite 5 ff. im einzelnen darthut, auf Sulpicius Severus,
Gregor vou Tours, Hubertus, St. Odo auf. Es enthält in
10295 Achtsilbnern das Leben und Wirken unseres Heiligen
und ist den Verfassern der beiden französischen Mysterien
A und B unbekannt geblieben.

204.nbsp;Wie eng sich der Druck von 1496 Péan Gatineau
anlehnt, geht schon daraus hervor, daß es die gleichen
Überschriften über einzelnen Teilen (so auf fo. 1 IUI in
der Mitte getreulich wiedergibt.

205.nbsp;Auch die Abschn. 198, Anm. angeführte An-
gabe über Ort und Zeit der Ausgabe ist mit geringer Um-
stellung und Auslassung dem Schlußvermerk in der Vorlage
nachgebildet.^) Andere untrügliche Zeichen für unsere
Ansicht sind nachstehende Angaben, welche in beiden
Texten übereinstimmend wiederkehren:

1.nbsp;findet sich eine geschichtliche Orientierung über
die damalige Zeit, die Familienverhältnisse Martins®) und
daran anschließend

2.nbsp;die Geschichte der 7 Schläfer^) und

3.nbsp;die lange, umständliche Erzählung von Menart und
Persois ®).

Von alledem kennt Sulpicius Severus nichts.

206.nbsp;Das Bild, das sich auf der ersten und zweiten
Seite des ersten Blattes des Pariser und Londoner Druckes
gleichmäßig findet, hat übrigens große Ähnlichkeit mit der
Darstellung auf der ersten Seite des Neudrucks von
Mystère B. Beide veranschaulichen die Szene, wo Martin

') Secundus Uber sancti Gregorii Turonensis.

W. Söderhjelm: A. a. 0. S. 1.
ä) Derselbe: A. a. 0. Vers 37—64.
Derselbe: A. a. 0. Vers 65—80.
Derselbe: A. a. 0. Vers 1880—2161.

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zu Pferde in den Krieg zieliend einen nackten Bettler
sieht und ihm aus Mitleid die Hälfte seines Mantels mit
dem Schwerte abschneidet. Nur sind die kostbaren Bilder
der beiden alten Prachtexemplare viel deutlicher und zeigen
um den Rahmen noch zur Verzierung in den Ecken Teufel
mit eingelegter Gabel, die auf Löwen reiten. Es scheint
also, als ob der Drucker von Mystère B die Vignette dem
Tourer Druck von 1496 nachgeahmt habe.

207. Auf die Beziehungen, die W. Söderhjelm in
seinem Aufsatz : „St. Martin et le roman de la belle Hélène
de Constantinoplequot; S. 32 ff. i) beweisen wollte, brauchen
wir hier nicht mehr einzugehen, da G. Paris (Romania,
Bd. 22, 1893. S. 566) und R. Ruths (S. 6 der oben genannten
Dissertation) seine Annahmen als irrig widerlegt haben.

Kurze Zusammenstellung aller von Delavigne benutzten

Quellen.

208. Tag I (Vorm. — V. 2075) nach Sulp. Severus, vita
s. Martini — Cap. III.
(Nachm. - V. 4038) — Cap. VI, 3.

Tag II (Vorm. — V. 5436) — Cap. VI, 4.

(Nachm. — V. 7286) — Cap. XI (Cap. X
ausgelassen)

Tag III (Vorm. — V. 8917) — Cap. XIX, 2.

(Cap. XII—XV ausgelassen)
(Nachm. — V. 9352) Quelle unbekannt
(_ V. 9733) Cap. XXIV, 4-8.
(_ V. 10288) Sulp. Severus :
Epistula III (Bassulae parenti) 9—15

(_ V. 10461) Gregor von Tours:
Kirchl. Geschichte der Franken : Buchl

Cap. 43.

Moralität: Mystère B, v. 3644—3864.

Farce: Rustebuef, Pet au Villain.

209. Die Urteile von E. Serrigny (A. a. 0. S. 91):
„Andrieu Delavigne a suivi la tradition de Sulpice Sévèrequot;
und von L. Petit de Julleville (A. a. 0. II, o40) : „La vie

') Enthalten in den: „Mémoires de la société neo-philologique
à Helsingîorsquot;. 1893.

Cf. Abschn. 189.

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de saint Martin par Sulpice Sévère a fourni au poète du
XV® siècle toute la trame de son œuvrequot; treffen also nur
für die beiden ersten Tage und den Vormittag des dritten
Tages zu und die Ansicht von Serrigny (S. 20): „Les
deux mystères du même nom n'ont aucun point de ressem-
blancequot; ist falsch.

Würdigung Delavigne's als Mysteriendichter.

210.nbsp;Die Verdienste Delavignes um die Dramati-
sierung der Legende vom heiligen Martin sind nicht geringe.
Von den Reimkünsteleien, die zu seiner Zeit sehr geschätzt
wurden, abgesehen, finden wir in seinem Werke glückliche
Eingebungen in Fülle und eine erfreuhche Stilgewandtheit.

211.nbsp;Wenn auch von einer individuellen Charakter-
zeichnung, von psychologischer Motivierung der Handlung
bei ihm ebensowenig wie bei den sonstigen französischen
Mysterien des XVten Jahrhunderts die Rede sein kann,
so hat der Dichter doch jeder Person wenigstens eine
natüriiche, ihrer Stellung entsprechende Sprache in den
Mund gelegt: die Teufel stoßen nur Lästerungen und
Schimpfworte aus; die Heiden und die Missethäter halten
Reden von empörender Gottlosigkeit, während Martin, die
Geisthchkeit und die Christen Reinheit des Charakters
und der Sprache zeigen. Die schmutzige, blutgierige und
grausame Hölle setzt seine Zuhörer in Schrecken; Himmel
und Paradies erwecken ihre leidenschaftliche Sehnsucht.

212.nbsp;Eigene Arbeit des Dichters ist die dramatische
Einkleidung der einzelnen Wunder, von denen er meistens
nur einen kahlen Bericht in seinen Voriagen fand. Der
Dialog ist meistens natürlich und lebendig und wir ver-
stehen die brausenden Beifallsstürme, von denen der procès-
verbal spricht. Zu der Höhe einer sentenzartigen Sprache
erheben sich die Verse 879—86, 989/90, 1850/1, 1919/20;
als Epigramm könnte man benutzen V. 7022—31.

213.nbsp;Delavigne erweist zumal, wenn wir die kurze
Zeit, die ihm zur Verfügung stand, in Betracht ziehen,
eme recht bemerkenswerte Gewandtheit in der Darstellung,
eine große Vertrautheit und ein weitgehendes Verständnis
für den Geschmack seines Publikums. Wenn er Artillerie
auffahren lässt, von Reiterheeren, Karthäusern und Cöles-
tinern spricht, so nahmen seine Zuhörer nicht nur keinen
Anstoß an derartigen Anachronismen, nein, sie verlangten

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sie gerade zu, da sie einer liistoriscli getreuen Darstellung
kein Verständnis und folglich auch kein Interesse ent-
gegengebracht haben würden.

Mystère C.

214.nbsp;Außer den beiden bisher besprochenen Verherr-
lichungen Martins in dramatischer E'orm liegt uns noch ein
drittes Mj'stère unseres Heiligen vor, das 1565 in St. Martin
de la Porte in der Maurienne (Savoyen) aufgeführt wurde.i)

215.nbsp;Es wurde zum Danke für die Befreiung von
der Pest durch Martin zu dessen Ehrung aufgeführt. Es
enthält nach meiner Zählung 3871 8-Silbner (mit wenigen
5-Silbnern); 74 Personen beteiligten sich an der Vor-
stellung, die 2 Tage in Anspruch nahm.

Analyse.

216.nbsp;Da eine Analyse dieses Mystère noch nicht
gegeben worden ist, wollen wir hier kurz seinen Inhalt
wiedergeben.

217.nbsp;(— V. 260). Martin wird von seinem Vater
Silvien und seiner Mutter Emilienne wegen seines zurück-
gezogenen, in sich gekehrten Wesens getadelt und zur
Teilnahme an höfischem Leben und Treiben aufgefordert.
Martin weigert sich und bekennt sich im Beisein von
4 heidnischen Priestern zum Christentum ; deshalb muß er
vor dem Zorn des Vaters eine Zeitlang vom Hofe fliehen.

218.nbsp;(— V. 653). Dem Kaiser „Jullienquot; ist vou
Arabus von Lybien und Arabien der Krieg erklärt worden.
In seiner Not befiehlt er Silvien gegen ihn nach Carthago
zu ziehen. Dieser aber entschuldigt sich mit seinem Alter
und verspricht seinen Sohn Martin zu schicken. Martin
bekleidet einen Armen mit seinem Mantel und wird des-
halb von Gott durch Gabriel aufgefordert, sich taufen zu
lassen, was durch einen Einsiedler geschieht.

gt;) Histoyre de la vie du glorieulx sainct Martin, euesque de Tours
en Touraine, Publ. 1882 à Sainct Jehan de Maurienne par Pl. Truchet,
pharmacien. — Auch ein im Mai 1667 zu Sanslevillard en Maunenne
aufgeführtes Mystère de Monseigneur Saint Sébastian ist erhalten und
1872 veröffentlicht. Vgl. G. Quedenfeldt: Die Myst. des hlg. Sebastian.
Marburger Diss. 1896.

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219.nbsp;(— V. 1005). Vor Jullieu erklärt sich Martin
zu dem Kampfe bereit; als er bei Verteilung des Soldes
kein Geld nimmt, wird sein Glauben offenbar ; der Kaiser
erlaubt Martin mit dem Kreuze in der Hand gegen Ar abus
zu ziehen ; wenn er ihn so besiegen könne, wolle auch er
übertreten. Durch Gebete des Heiligen um Hilfe ange-
rufen veranlaßt Gott die Erzengel, das feindliche Heer
mit Feuer und Blitz niederzuwerfen.

220.nbsp;(— V. 1397). Dieses geschieht; der Kaiser
und sein Reich treten zum Christentum über; Martin be-
gibt sich zu Hilarius, Bischof von Poitiers, und wird dort
Geistlicher.

221.nbsp;(— V. 1853). Es treibt Martin, seine Eltern
zu bekehren; auf dem Wege nach Mailand wird er von
2 Räubern überfallen; diese bewegt er aber, ihr schänd-
liches Handwerk aufzugeben und Christen zu werden.
Zu hause gelingt es Martin seine Mutter zu bekehren;
bei seinem Vater findet er kein Gehör. Zwei der heid-
nischen Priester geraten in Streit und erdolchen sich:
ihre Leichen schleppen die Teufel vergnügt in die Hölle.
Ein Bote verabschiedet das Publikum und lädt es auf den
folgenden Tag ein.

222.nbsp;(— V. 2391). Martin kehrt zu Hilarius zurück.
Da der Erzbischof von Tours gestorben war, erscheinen
bei Beginn des zweiten Tages der Vorstellung Abgesandte
bei Hilarius, um ihn um Rat bei der Neuwahl zu bitten.
Durch dessen Empfehlung wird Martin zum Erzbischof
gewählt. Der Bischof Défenseur, der sich dieser Wahl
unter den gröbsten Beleidigungen unseres Heihgen wider-
setzt hatte, entpuppt sich als Heide, ersticht sich und
wird in die Hölle gebracht.

223.nbsp;V. 2978.) Luden, der Sohn der Gilette,
wird wegen des starken Glaubens seiner Mutter von
Martin ins Leben zurückgerufen und wird Novize. Die
Hölle macht vergebhche Versuche, Martin vom Wege des
Glaubens und der Ehrbarkeit abzubringen. Vor einer
Kirche trifft Martin auf einen Bettler, dem er sein Ge-
wand schenkt. Das Kleid, das der Archidiacon für Martin
kauft, ist zu kurz ; die Engel erscheinen und bringen
Martin unter Lichterscheinungen lange Ärmel.

224.nbsp;(— V. 3220). Der König Arabus bittet Julien
um Waffenstillstand; dieser verlangt aber völlige Unter-

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werfuug. Der Heidenkönig will sein Kriegsglück noch
einmal versuchen, wird aber von einem Teile seiner Offiziere
verlassen und weiht sich dem Teufel, der ihn lebendig
wegschleppt.

225.nbsp;(— V. 3685). Der Erzbischof von Tours fühlt
sich schwach und todmatt; er legt sich auf ein einfaches
Lager und stirbt. Seine Seele wird von Gabriel und
Raphael zum Himmel gebracht und von Gott feierlich
aufgenommen. Ein Blinder und ein Lahmer werden von
der Leiche des Heiligen gegen ihren Willen geheilt.

226.nbsp;(— V. 3771). Eine Szene, in der die früher
bekehrten Räuber, Gilette, der Einsiedler und Emilieune
ihrer Trauer und ihrem Schmerz über das Hinscheiden
Martins würdigen Ausdruck verleihen, ist hier von späterer
Hand hinzugefügt.

227.nbsp;(— V. 3871). Ein Aussätziger, der den heiligen
Martin angerufen hat, ist geheilt worden und küßt dankbar
den Leichnam. Sein Herr, der „ conte de Cornuaillesquot; läßt
30000 Francs anweisen für einen Tempel zur ewigen
Verherrlichung Martins, Ein Bote entläßt die Zuschauer
mit Dankesworten für ihr Erscheinen.

Quellen von C.

228.nbsp;W. Söderhjelm, der 1893 (s. Abschn. 207) auf
dies Mystère, das bis dahin unbekannt geblieben war, auf-
merksam machte, konstatierte nur, daß dessen „Handlung
so ziemlich mit der gewöhnlichen Uberlieferung überein-
stimmtquot;. Das Verhältnis dieses Dramas im einzelnen zu
bestimmten Quellen nachzuweisen, wie bei Mystère A, ist
auch mir nicht gelungen.

229.nbsp;Möglich ist, daß dieser Dichtung eine alt-
französische Prosabearbeitung im Patois von Hoch-Burgund
zu Grunde liegt, von dem uns Douhet Mitteilung gemacht
hat. Sichere Angaben werden sich erst machen lassen,
wenn eine größere Anzahl noch iinedierter Heiligenleben
und Bruchstücke von Legenden Martins in Prosa und
Versen veröffentlicht oder daraufhin durchforscht sein

') Encyclopédie Thêologique T, XIV: Douhet: Dictionnaire des
légendes du Christianisme, Paris 1855, Spalte 849, (Eibl. Imp. n» 7208,
jetzt Eibl. Nat, anc, f. 818),

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■wird. W. Söderhjelm hat sie zusammengestellt. Mir war
es unmöglich, sie einzusehen.

230.nbsp;Direkte Beziehungen von C zu Pean Gatineau
lassen sich jedenfalls nicht ermitteln.

231.nbsp;Aus manchen ganz auffallenden Übereinstim-
mungen ergibt sich eine Anlehnung von C an die Lebens-
beschreibung von Sulp. Severus. So zeigt sich eine ganz
überraschende Ähnlichkeit in der Darstellung der Wahl
Martins zum Erzbischof von Tours unter dem Wider-
spruche des Defensor mit Cap. IX, 3—5 dieses Autors.

232.nbsp;Auf der anderen Seite scheint der Dichter von
C auch A gekannt zu haben; denn das Geschenk des
priesterlichen Gewandes Martins an den Bettler vor der
Kirche, die Szene..in der Kirche, in deren Verlauf die
Erzengel längere Ärmel für das von dem Archidiacon
gekaufte Kleid überbringen, die Stelle, in der uns das
Ende des Heiligen dargestellt wird, und die Heilung des
Bünden und Lahmen zeigen Anklänge an Delavigne.

233.nbsp;Um in den Rahmen einer 2tägigen Darstellung
zu passen, ist die Handlung im Verhältnis zu A und auch
zu B, besonders auf Kosten der Wunder, bedeutend ver-
kürzt. Der Dichter zeigt große Gewandtheit in der Zeich-
nung der Charaktere; seine Sprache ist lebendig und an-
schatihch. Zum Ergötzen der Menge ist die Figur des fol,
der sich in den derbsten Spässen über seinen tollen Lebens-
wandel ausläßt, eingeführt; und der Bauer Badin mußte
durch sein savoyardisches Patois, das übrigens auch der
fol öfters spricht, und die Anspielungen auf die lokalen
Verhältnisse sehr gefallen.

') A. a. ü. IV. Der heilige Martin in der französischen Litteratiir
des Mittelalters. S. 22 ff.

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Thesen.

I.

/ ..nbsp;Français ist nicht lautgemässe Entwickelung von francemis

oder franoiscus, sondern eine Neubildung von France aus.

II.

'n in Boethius: V. 16 ist nicht mit Hündgen als Rest
^ ■nbsp;von
dominum, sondern als aus inde entstanden aufzufassen.

III.

Die Lauttafeln und die Lautschrift sind in der Schule
mit Erfolg verwendbar.

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Lebenslauf.

Am 29. Januar 1871 wurde ich, Friedrich Carl
David, als jüngster Sohn des Lehrers Eugen David,
zu Paris geboren. Ich bin evangelischer Confession. In
Hanau a. M., wohin meine Eltern nach dem Kriege dauernd
übersiedelten, besuchte ich zuerst die Realschule, dann von
meinem Ilten Jahre an das Gymnasium derselben Stadt.
Michaelis 1891 erwarb ich mir das Reifezeugnis des Kgl.
Gymnasiums zu Weilburg und widmete mich dem Studium
der neueren Sprachen. Ich studierte 2 Semester in Berhn,
2 Semester in München und 3 Semester in Marburg. Im
Februar 1896 bestand ich vor der Kgl. wissenschaftlichen
Prüfungs-Kommission letzterer Universität das Staats-
examen und bin zur Zeit als wissenschaftlicher Hilfslehrer
in Frankfurt a. M. beschäftigt.

Meine akademischen Lehrer waren: Birt, Brey-
mann, 0 a r r i e r e, C
0 h e n, E b b i n g h a u s, v. H e r 11 i n g,
Koppel,
v. d. Ropp, Steng-el,Tobler,Treitschke,
Vietor, Waetzoldt und Wölfflin.

Ihnen allen, besonders Herrn Prof. Stengel, der
mich bei Anfertigung vorstehender Arbeit auf das bereit-
willigste unterstützte, fühle ich mich zu stetem Danke
verpflichtet.