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RIJKSUNIVERSITEITTE UTRECHT
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GßüNDZÜaE
DER
ALLGEMEINEN
TIIMÄRZTLICra HEILTJNGSLEHRE
LEITFADEN BEIM SCHUL- UND SELBST-ÜNTERKICHT
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IS0FBS80B AN DEU CEOSSlaquo;. BAI, THIER.mzNEISCHllE ZU KALBBStBE.
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ERLANGEN, 1852. VERLAG VON FERDINAND ENKE.
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V o r w o r t.
raquo;3 eit einer Rlaquo;iLe von Jahren hat der Arcrfasser dieser Schrift über ihre Aufgabe gelehrt; man hat erwartet, dass derselbe, da er chic freundlich aufgenommene allgemeine Pathologie heraus­gegeben bat, auch mit einer allgemeinen Therapie hervortreten werde. Jener Ueruf und diese Erwartung machten es dein Verf. gewissennassen zim Pflicht, diese Schrift zu veröffentlichen. In derselben liegt nicht allein das Bestreben vor, Inhalt und Form dem gegenwärtigen Standpunkte der tbierärztlichcn Wissenschaft und Kunst geinäss würdig zu gestalten, sondern auch diese letz­tern auf der Bahn des Fortschritts nach Kräften zu fördern. L'm diese Schrift als Leitfaden für den Unterricht möglichst brauch­bar zu machen, hat sie unbeschadet der Vollständigkeit, eine kurze Fassung erhalten, um dem Lehrer Raum zu weiteren Lrör-timgen zu lassen, und um den Thierarzt in den Stand zu setzen, seine eigene Erfahrungen gleichfalls wie in einen Kabinen ein­fügen zu können. Die Abhandlung über die medizinischen Theorien, welclie zur Zeit einen mehr oder minder grossen Ein-tluss auf die thiciiirztliche Therapie ausüben, ist abgesondert gehalten und als Anhang gegeben worden, um durch sie in dem
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bündigen, tlopinatischen Gange laquo;los llaiiptinlialts der Schrift keine Störung zu veranlassen.
Möchten laquo;lie Sachverständigen über das Ganze streng und gerecht urthcilen und zugleich Beitrüge zur Yervolikominniing der behandelten Disziplin liefern!
Karlsruhe, den 1. Januar 1852.
C. J. Fuchs.
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#9632;nhalfsvci'zcicSinfcraquo;.
Seih'. Einleitung. Begriff und Zweck der allgcmi'inen Therapie ...nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp;. . i
Krstcr Abschnitt. Von der Möglichkeit der Krankheit und Heilung überhaupt, so wie von der Möglichkeit der Kraukheitsheilung diircli die Natur und Kunst insbesondere.
Erstes Kapitel. Von der Möglichkeit der Krankheit und ihrer Heilung überhaupt.....4
Zweites Kapitel. Von der Möglichkeit der Krankheitsheilung durch die Natur......laquo;raquo;
Drittes Kapitel. Von der Möglichkeit der Krankheitsheilung durch die Knust......18
Zweiter Abschnitt. Von der Krahkheits - Erforschnng.
Erstes Kapitel. Vom Snbjecte der Krankheits-Erforschung, oder dem Thierarztc .... 23
Zweites Kapitel. Vom Olijecto der Krankheits-Erforschung oder von den kranken Tliiercn . . 2:gt;
Drittes Kapitel. Von der Erforschung hinsichtlich der Unterscheidung der Krankheit, so wie der Bestininiung ihres Verlaufes und Ausganges......... . iilaquo;
Dritter Abschnitt.
Vom Kurplan.
Erstes Kapitel. Begriffsbestimmung und Begründung des KurplaiiM durch die Anzeige .nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp;3i
Zweites Kapitel. Begründung des Kurplans durch das Angezeigte..........37
Drittes Kapitel. Begriindung des Kurplans durch die Heilmethoden..........Kl
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Seite
Vierter Ahschnitt. Von den Grandbeilmethoden.
Erstes Kapitel.
licgiiir mifl Binllieilnng der Crrnadheilinetlioden............',•!
Zweites Kapitel. Die Abwartnngsmethode...................U
Drittes Kapitel. Die schwäcliende Kunuetliode..................15
Viertes Kapitel. Die stärkende Kurmethode..................47
F ü ii t't e s Kapitel. Hie bernhigende Karmethode .................50
Sechstes Kapitel.
Die erlegende Kiiiinetliodc..................quot;gt;2
Sclilnss............5t
Die medizinische n Theorieen.
Einieitiing...........5(gt;
Erstes Kapitel. Die inediziiiisclien Theorieen der Vorzeit bis auf die neuere laquo;nd neueste Zeit 57
Zweites Kapitel. Die medizinischen Theorieen der neueren und neuesten Zeit.
1quot;) Die Lehre Jolin Brown's................nbsp; nbsp; 63
23 Die Lehre von Razori und Broussais............nbsp; nbsp; 05
3)nbsp; nbsp;Die Lehre Halinernann's................nbsp; nbsp; Btt
4)nbsp; nbsp;Die Lehre Sdmltz's..................nbsp; nbsp; 77
DiUtcs Kapitel.
Der Eiiifluss der medizinischen Tlieorien auf die TIncrheilkunst.....Sl
Die homöopathische Tlieorie..................93
Viertes Kapitel. Welche Tlieorie ist die beste für die Tliierlieiikunst?.........102
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Einleitung;.
IJegriff und Zweck der allgemeinen Thcraiiic.
Die allgemeine Veterinär-Therapie (llierapia generalis Teteri-Bariä), welche auch Anleitung zur thierärztlichen Praxis in Beziehung anf die Behandlung der Krankheiten genannt werden kann, ist als eine Auf­stellung von Grundsätzen und Regeln zu betrachten, welche bei der Erforschung, Bestimmung und Behandlung der Krank­heiten in Anwendung kommen; auch kann sie als Theorie des Hei-lungsgeschäfts öder als ein Gesetzbuch betrachtet werden, dessen Inhalt bei der Heilung der Krankheiten Anwendung findet.
So wie die allgemeine Pathologie erst ans einer Summe von Beobach­tungen spezieller Kranklieitsfonnen auf dem Wege der Abstraction hervor-gebildet worden ist, so die allgemeine Therapie aus einer Summe von Be­handlungen gegebener Krankheitsfälle. Diese allgemeinen Lehren sind also und konnten nur erst später entstehen, als die bezüglichen speziellen. Ob­gleich es in früheren Zeiten, sowohl auf medizinischem, als auch auf thier-ärztlichem Gebiete, noch keine geschriebene allgemeine Therapie gab, so ha­ben sich doch die ausgezeichneten ärztlichen Praktiker aller Zeiten nach dem Maasse ihrer Erfahrung und Intelligenz Normen festgesetzt, nach wel­chen sie in künftigen Kraiikheits-Behamilmigcn verfahren sind; und indem sie dies thaten, haben sie nichts Anderes gethan, als was jeder kluge, durch Erfahrung gewitzigte Mensch in den gewöhnlichen Vorkommnissen des Le­bens beobachtet.
Es würden nun aber die Erfalirungen in der Behandlung der Krank­heiten immer wieder von neuem gemacht werden müssen und nie zu einem wachsenden Gemeingute werden, wenn die Quintessenz derselben nicht
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in der Form einer allgemeinen Therapie, die den Neulingen in der ürztlicheu Kunst als Leitfaden in noch wenig bekannten Gebieten dienen könnte, auf-gezeiebnet werden wollte. Die Wichtgikeit der allgemeinen Therapie leuch­tet aus dem Gesagten von selbst hervor; und braucht in dieser Beziehung nur angedeutet zu werden, dass sie nicht allein eine grösscre Sicherheit im Handeln begründet, sondern auch vor dem würdelosen Schlendrian der rohen Empirie schützt. Um aber diesen Schutz in vollem Maasse zu ge­wahren, sind die klinischen Lehrer angewiesen, die Untersuchungen und Handlungen von ihren Schillern nach den Formen dieser Lehre zum Be­hüte der Angewöhnung an ein rationelles Verfahren zu fordern.
Man hat verlangt, dass die allgemeine Therapie, wenn sie den ge­hofften Nutzen leisten sollte, sich an die allgemeine Pathologie in einer VVeisse anschliessen müssle, dass jene zu dieser sich wie eine Folgerung verhalte, oder mit andern Worten, dass die allgemeine Therapie die Regeln aufzustellen habe, nach welchen die in der allgemeintn Krankheitslehre er­örterten Krankheilszustände zu behandeln seien. Nicht zu läugnen ist die IViöglichkeit einer derartigen allgemeinen Pathologie und Therapie, aber diese würden dann, wenn sie in der Verfolgung ihrer eigenthümlichen Lehren be­schränkt wären, nicht Alles das bieten, was sie bieten sollten, und gewis-strmassen im Empirismus befangen bleiben.
Die allgemeine Pathologie hat vorzugsweise die ursächlichen Verhält­nisse, Erscheinungen, das Wesen und die Folgen der elementaren Krank-heitsprozesse und die sich in denselben offenbarenden Gesetze zu erörtern;, es ist also das Kränkende der Mittelpunkt dieser Erörterung. Die allge­meine Therapie aber hat vorzugsweise die im Genesungsprozess sich kund­gebenden Gesetze befauszustellen, und geht dabei von der, der Krankheits­kraft enlgegengesetzten Naturheilkraft aus. Die Wege dieser beiden Lehren sind also verschieden, mithin ein völliges Verschmelzen derselben, oder das Aufgehen der einen in die andere, nicht thunlich, es sei denn, dass man die vorherrschend wissenschaftliche Seite der allgemeinen Pathologie oder die vorherrschend praktische Seite der allgemeinen Therapie opfern wollte.
Eher ist es möglich, eine allgemeine Therapie oder Theorie des Kunst-handelns ohne Rücksicht auf allgemeine Pathologie aufzustellen, als eine umfassende allgemeine Pathologie oder Theorie der Krankheit mit ansschlicss-licher Berücksichtigung des Heilgeschäfts. Nichts destoweniger kann die allgemeine Pathologie, insofern sie eine Einsicht in die durch die Behand­lung zu bewirkende Veränderung und die Mittel zur Beurtheilung des jedes­maligen Zustandes der Lebenskraft, so wie die Bekanntschaft mit dennbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp; nbsp;I.
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Wegen, auf welchen sie heilend wirkt, gewährt, als wissenschaftliche Grund­lage der allgemeinen Therapie angesehen werden, während diese Lehre je­doch auch noch eine vorherrschend praktische Grundlage hat.
Man hat zwar, in vornehmer Weise diese wissenschaftliche Grundlage Verleugnend, dagegen in massloser Art dem Kunstgeschick der praktischen Schule huldigend, gesagt, dass Plato ein tiefer Denker gewesen sei, ohne anatomische Kenntniss des Gehirns, welches er zum Denken gebrauchte; dass Vestris vortrefflich getanzt habe, ohne physiologische Kenntniss der Muskeln, die er bewegt, und der Mechanik, die er ausgeübt habe; dass Paganini uniibertretflich gespielt habe, ohne forstbotanische und verglei­chende anatomische Kenntniss der Hölzer, Därme und Haare, mit welchen er gespielt, und ohne anatomische Kenntniss der Herzen und Nieren, die er gewaltig erschüttert hat; ich sage, man hat Dies und Anderes gesagt, ohne aufrichtig za gestehen, dass Plato seines Gehirns und Vestris seiner Beine als Instrumente, wie Paganini seiner Geige, sich bedien­ten. AVäre aber das Instrument Plato's, das des Vestris und Paganini in Unordnung gerathen, so würden dieselben mit aller ihrer Kunstfertigkeit zur Wiederherstellung der Ordnung nichts vermocht und nothwendig an die­jenigen sich haben wenden müssen, welche die Einrichtiguugen jener Instru­mente und die Bedingungen zur Wiederherstellung ihrer Integrität gekannt hätten. Der kranke thierische Körper ist keine Geige, auf der man ein eingelerntes Tonwerk absägt, oder dem man eine Phantasie mit genialen Zügen des Fidelbogens entlockt; der kranke Körper verlangt vielmehr ein Eingehen der Kunst auf den jedesmaligen Zustand, und auf die daraus er­lauschten Winke der Natur. Mit kurzen Worten: Handeln ist die Auf­gabe der Therapie und dies setzt Kenntniss des Zustanderaquo; voraus, worin gehandelt werden soll. In der üebertreibung jener Art liegt weniger die Wahrheit, als der Irrthum. Ja wollte man die Kunst­fertigkeit jener Männer mit und auf ihren Instrumenten, wovon sie keine ge­naue Kenntniss hatten, hloss in eine Beziehung bringen mit den Mitteln, welche zur Heilung der Krankheiten dienen , so geht dies nicht einmal an; denn allseitige Kenntniss dieser Mittel ist nicht allein nothwendig zur Ein­sicht in das Heilgeschäft, sondern auch zur Förderung desselben.
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Erster Abschnitt.
Von der Möglichkeit der Krankheit und Heiluna; überhaupt, so
^ic von der Möglichkeit der Krankheits-Heilung durch die Natttf
und Kunst insbesondere.
Erstes Rapilcl. Von der Möglichkeit der Krankheit und ilircr Heilung überhaupt^
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So #9632;R'ie laquo;las reife, mir mit der innern Miiglicljkeit des Lebens ver­sehene thierisclie Eichen erst durch eine äussereBedingung, den beiVuchlcn-den männlichen Samen, lebendig wird, also das Leben erst in die Erschei­nung tritt durch das Zusammenwirken eines mehr leidenden, empfiiiigenden und eines mehr thätigen, zeugenden Momentes; so wie die Entwickehittg des jungen Tiiieres im mütterlichen Leibe von der innern Möglichkeit der Elitwickelung und von den relativ äussern, von der Mutter stammenden, Bedingungen abhängig ist: ebenso ist die selbständige Fortdauer desthierischen Lebens nach der Geburt an innere, im Organismus seiende und an ausser hm befindliche, auf ihn einwirkende Bedingungen geknüpft. Diese äusseren Bedingungen (auch Lebensreize genannt) sind: Luft, Nahrungsmittel (mit Einschluss des Getränkes), Wärme und Licht, und stehen, was ihre Menge und Beschaffenheit, so wie die Dauer ihrer Einwirkung anbetrifft, in einem verschiedenen Grude der Nothv.endigkeit zum thierischon Körper.
sect;#9632; 2. Das thierische Leben besteht in Thätigkeiten, die durch einen bestimmt geformten und gemischten Körper, (Organismus) in die Erscheinung treten, und sind, allgemein genommen, Empfmdiings, - Bewegungs,-Ernährungs,-nnd Zeugungs-Vorgänge. Der Zweck des thicrischen Lebens ist: Erhal­tung der Individuen und der Art. Wird dieser Zweck in einem ge­wissen Grade der Vollkommenheit unter Wohlbefinden erreicht, so ist Ge­sundheit vorhanden, -wenn nicht, Krankheit. Eine vollkommene Gesundheit besteht nicht in raquo;ten einzelnen, die Art darstellenden Individuen; sie ist vielmehr nur ein ideal, dem die wirkliche Gesundheit in den Individuen nur mehr oder weniger nahe kommt. Die wirkliche Gesundlieit ist also eine relative, in verschiedenen Abstufungen sich darstellende, und dies um so
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siielir bei lien Hausääiigetliieieii, als sie in ihrein gegenwärtigen Zustande der Doiucsticatiüii, den manchfaltigen Zwecken der Bfenschen dienend, dem der Gesundheit förderlichen Naturzustando entrückt sind. Eine solche rela­tive Gesundheit wird sogar zum Behufe der Erreichung gewisser ökonomt-sehen Absichten (\u der Mast, Milch- uuJ Wollprodnction) gefordert, mul ist daher bei den Hau.ssiiugetliieren nicht einmal stets der höchst mügliclie (#9632;rad der Vbllkommenheit ihrer Gesundheit zu erstreben.
sect;• 3. Dem thieiischen Leben ist die Tendenz der Zweckmäßigkeit von dn-Natur eingepflanzt, d. h. ein solches inneres Streben, welches mit der (^. 2.J bezeichneten Absicht im Einklänge steht. Diese Tendenz der Zweck-inlissigkeit muss unterstellt werden, in sofern eine gegcntheilige Annahm.', mit der Weisheit und Güte des Schöpfers unvereinbar wäre; sie wird indess auch bewiesen durch die Tfaatsache, dass die Haussäugethiere, trotz den Widerwärtigkeiten, denen sie im Verlaufe der Zeiten unterworfen waren, dennoch die Möglichkeit der Erfiilliing ihres Daseins, wenn auch in einen) relativen Grade in den Inclividnen, doch in ungetrübter Vollkommenheit in den Arten und Gattungen sich erhalten haben.
Dem Leben der Haussäugethiere ist eine gewisse Dauer bemessen, in #9632;welcher dasselbe durch drei Hauptstadien: der Heranbildung, Ausbildung und Rückbildung, abläuft; und wird gerade durch die Endlichkeit des Le­bensverlaufs in den [ndividuen die Erhaltung und der Verlauf des Lebens in der Art und Gattung (der Thiei licit, wie bei den Menschen in der Menschheit) möglich. Erreicht das thierisehe Leben das natürliche Lebensziel, wie es dem­selben in Äücksicht auf die Haussäugethiere allerdings nicht häufig vergönnt ist, durch Rückbildung, d. h. durch allmählige Abnahme des Umfanges und der Stärke der Thätigkeiten, so kann das endliche Aufhören des Lebens als natürlicher Tod bezeichnet werden, aber, im Grunde genommen, lt;l:c Altersschwäche, welche dahin führt, nicht als Krankheit, weil diese nur als ein zufälliger und daher als ein Ausuahms-Zustand zu betrachten ist, der dem Zwecke des Lebens in den Individuen widerstreitet..
sect;#9632; 3. Gesundheit und Krankheit also sind verschiedene Zustände laquo;los Lebens: der erste führt zur Erfüllung des Zweckeraquo; des Lebens, der andere in ent-
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go^engeactzter Bichtiing davon ab. Krankheit wäre demnach ein Zustand, in dein der Zweck des Lebens höchstens nur sehr unvollkommen und unter üebelbcfinden erreicht werden kann. Der höchst mögliche Grad der Gesundheit und ein solcher der Krankheit sind die Endglieder, zwischen welchen sich unendliche Abstufungen des Lebenszustandes be­merkbar machen können; daher die Aiinahine eines zwischen der Gesund­heit und Krankheit schwankenden Mittelzustandes, den man mit den Aus­drücken: Unpässlichkeit, Kränklichkeit, Unwohlsein, Abgeschlagenheit, Küm­mern belegt, während die Bedeutung, welche die Krankheit oder der Mit-tclzustand für das Leben hat, als Schaden, L'obel oder Leiden bezeich­net wird,
sect;#9632; 6. Das thierische Leben in seinem Vorgange (dem Lebensprozess), oder, was dasselbe sagen will, der thierische Körper in seinem Lebensverlanfe, be­findet sich nicht allein mit den {sect;. 1.} bezeichneten, äussern Lebensbedin­gungen im Wechselverkehr, sondern auch noch mit unzähligen anderen äus­sern Einflüssen, die in einer mehr oder minder feindlichen, oder in einer neutralen Beziehung zu ihm stehen. Darin muss der Hauptgrund für die Möglichkeit der Krankheit, eines von der Gesundheit abweichenden Lebens-ziislaiides (der Disharmonie des Lebens) gesucht werden, dass der thierische Körper unzweckmässigen Einwirkungen des Aeussern, nicht zu seinen noth-wendigen Lebensbedingungen gehörigen, so wie der im nachtheiligen Zu­stande befindlichen, notwendigen äusseren Lebensbedingungen unterwor­fen ist,
sect;• 7. In dem thierischen Körper wohnt nun zwar, wie gesagt, die Tendenz der Zweckmässigkeit, und die ihn auch bis zu einem gewisssn Grade, den feindlichen Einflüssen gegenüber, bewahrt, aber die zu diesem Behufe statt­findenden Gegonwirkuiigen sind oft um so weniger genügend zur Ausglei­chung , als jene heftig sind oder oft wiederkehren. Darin schon liegt ein Grund, dass die Einpfänglichkeit des thierischen Körpers für schädliche Ein­flüsse überhaupt, was man als allgemeine Anlage bezeichnet, sich mehr aus­bildet, in sofern durch die Einwirkung von Schädlichkeiten Spuren in dem­selben zurückbleiben, die, obwohl keine offenbare Krankheit, laquo;loch eine Nei­gung dazu bewirken. Tritt nun endlich mit der mehr oder minder ausge­bildeten Anlage zu erkranken, eine weitere ausscre, mit jener in einem ver-
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wandschaftlichen Verliältnissc stehende Schädlichkeit zusammen, so wird ebensowohl Krankheit entstehen können, wenn die Anlage stark und die. äussere Scliädiiclikeit minder heftig ist, als wecn jene minder stark und diese heftig ist.
sect;. 8. #9632;
Eine jede grösserc, entschiedene, oder vorherrschende Neigung des thierischen Körpers zu erkranken, kann, wenn man bis auf die Schöpfung der Thiere zurückgeht, als erworben betrachtet werden; indessen uaterschei-tlet man angeborene und erworbene Anlagen zu Krankheiten, und begreift Wnter jenen die, welche die Individuen, von den elterlichen oder vorellerlichen Thieren ihnen eingepflanzt, mit zur Welt gebracht, und unter den an­dern die, welche die Individuen im selbständigen Leben unter dem Ein­flüsse änsserer Schädlichkeiten erlangt haben. Je naclulein nun das Anlage-verhältniss, ausgedrückt durch ein besonderes Temperament oder eine be­sondere Constitution, oder ausserdem noch durch eine besondere organische Stimmung, sich darstellt in den verschiedenen Geschlechtern, und je nach­dem diese sich in den verschiedenen Altersperioden und damit in einer ver­schiedenen Aufgabe für das Leben befinden, sind sie für äussere Schädlich­keiten mehr oder minder zugänglich, und können diese danq mehr oder minder leicht, vorausgesetzt, dass das eben bezeichnete verwandtschaftliche Verhältniss zwischen dem iuuern und äussern Momente besteht, Krtiukheiten erzeugen.
sect;• 9,
In dem Vorhergehenden wird die Möglichkeit der Krankheit im thie­rischen Körper genügend nachgewiesen sein, und dürfte es auch nicht schwer fallen, die Möglichkeit ihrer Fortentwickelung, womit nothwendig eine re­lative Dauer verbunden ist, darzuthun. Besteht das thierische Leben über-baupt In Thätigkeiten, die durch einen bestimmt geformten und gemischten Körper In die Erscheinung treten (sect;. 2.), so muss der Zustand desselben, welcher als Krankheit bezeichnet wird, ebensowohl darin bestehen, als die andere Form des Lebens, welche man Gesundheit nennt. Die krankhaften Thätigkeiten haben also ihren Grund In der abgeänderten Mischung oder Form des Körpers, oder in beiden zugleich; es ist mithin dieser Grund ein realer, positiver, wenigstens bis auf solange die abnormen Thätigkeiten sichernder, als er aelbst besteht, oder mit andern Worten, alt das materielle
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Verhiiltniss kein normales geworden ist. Ausser diesem Grunde für die relative Dauer der Krankheit besteht für die Möglichkeit ihrer Fortent-wickelung noch der, dass die ursprünglich in krankhafter Thätigkeit be­findlichen Organe mit allen übrigen in einem näheren und entfernteren sym­pathischen (sowohl konscnsnellen als antagonistisclen) Verhältnisse stehen, und dass manchfache krankhafte materielle Produkte gebildet werden, welche, streng genommen, als Iiinzugekommene neue Krankheits-Schädlichkeiten be trachtet werden müssen.
sect;. 10.
Wenn die Krankheit als ein Prozess betrachtet wird, der von der Ge­sundheit abweicht und in der Eichtung des Todes verläuft, so kann der Ueilnngsvorgang oder der Genesungs - Prozess nur als in umgekehrter Rich­tung, also zur Gesundheit vollaufend gedacht werden. Um eine Einsicht in die thatsächliche Möglichkeit des Hcihmgsvorganges, sei es durch die Natur allein oder mit Beihülfe der Kunst, zu gewinnen, scheinen vorzugs­weise zwei Punkte iu's Auge gefasst werden zu müssen. Für's Erste ist eine jede Krankheit ein Lebensprozess, obwohl ein abnormer; sie muss da­her auch die Eigenschaft des Lebens an sich tragen, welche in Ent-wickelung und Rückbildung, Anspannung und Abspannung sowohl des Le­bens im Ganzen, als seiner einzelnen Thätigkeiten besteht. In dieser un-läugbaren Eigenschaft des Krankheits-Prozesses nun liegt der eine Grund für die Möglichkeit der Heilung der Krankheit, und kann als Abspannung oder Eilaliraung ihrer Thätigkeiten oder auch als ihr natürlicher Tod be­trachtet werden. Für's Zweite muss einer jeden Krankheit eine relative Oertlichkcit im thierischen Organismus beigemessen werden, und, hieruiit im Einklänge, den übrigen nicht unmittelbar von der Krankheit ergriffeneu Organen eine relative Gesundheit, und zwar eine relative deshalb weil die Thätigkeiten der unmittelbar krankhaft afficirten Organe durch das sympa­thische Vcrhältiiiss sich in den übrigen wiederspiegeln, mehr oder weniger, je nach der Verkettung. Für diese Annahme spricht vorzüglich das Gefühl der Kränkung, der Disharmonie in den kranken Menschen, das auch als in den Thieren bestehend mit Sicherheit angenommen werden kann; denn eine Kränkung, eine Trübung des Lehens, kann vernunftgemäss nur empfunden v erden, wenn in demselben Thätigkeiten nach entgegengesetzter Richtung verlaufen. Ist nun aber ein Theil des thierischen Körpers während der Krankheit noch in einem relativen Gesundheitszustände, so muss demselben
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ftucli noch die Tendenz der Zweckinässigkeit beiwoliuen, mithin auch die Möglichkeit in einem Kampfe mit dem kranken Theile das abnorme Ver-hiilüiiss zu überwinden.
Zweites Kapitel. Von der Müg/ichkeit der Kraukhei tsheilun g durch die Nadu *}•
sect;, 11.
Das Wort ,,Heiliingquot; (sanatio) hat einen zweifachen Begr;fl3 ent­weder hat man darunter: das Ziel des Genesens, d. i. die Wiederge-nesung (reconvalesceutia) zu verstehen, oder die Veranstaltung zur Bewir-kang der Genesung, und ist dann gleichbedeutend mit dem Ausdrucke .,Heilgeschäftquot; (curatio morborum). Ebenso verhält es sich mit dem Worte ,,Kurquot;. Wer viel kurirt, kann schlechte und gute Kuren machen, oder es ist möglich, dass der, welcher viele Kuren unternimmt, doch nur wenig Heilungen bewirkt,
Soll ein Thicr von einer Krankheit genesen, so muss dieselbe in ihrem Verlaufe auf der Bahn zum Tode zuriiekkehren und sich ihrem Ausgangs-punkte, d. i. dem gesunden Leben wieder zuwenden, und auf diesem Wege ihre Merkmale einbüssen, während die des gesunden Lebens wieder zurück­kehren. Die Heilung kann nun erfolgen entweder durch die Natur allein, oder durch Mitwirkung der Kunst; und unterscheidet man demnach Natur-und Kunsth eilun g. Doch ist wohl zu merken, dass es keine Kuust-heilung giebt, ohne Beihülfe der Natur.
sect;. 12.
Heilung ohne Mitwirkung der Kunst, vielmehr allein durch die Heil­kraft der Natur (vis medicatrix naturae) d. i. durch die im Organismus selbst liegenden Hülfsmittel (molimina naturae niedicatricis, vel salutaris) ge­schieht der an Menschen und Thieren geimichten Erfahrung zufolge sehr oft; ja sogar lässt sich behaupten, dass die Natur zuweilen mehr thut, als einfach die Krankheiten beseitigen, und dann auch noch die unkiinstlerischen ärztlichen Einwirkungen überwindet. Die Natur a-llein heilt; der Arzt behandelt oder misshandelt die Kranken. Hieraus folgt, dass bei
*) In dieser Bezieluing verdient gelesen zu werden: Strauss, die Heilkraft der Natur etc. 'Wien 1S!0.
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dem Heilgescbaft die Naturheilkrafl stetraquo; zu beachten ist. Ton Seite der Kunst ist nichts zu thun, wenn die Naturheilkraft angemessen sich zeigt; ist sie zu schwach zur Ueberwindung einer Krankheit, so ist es Sache des Kunst, sie zu unterstützen, zu beleben; ist sie zu stark entfaltet, oder vom rechten Wege abgewichen, so ist sie zu massigen und auf die rechte Bahn, zu führen. Die Heilmethoden durch und mit Abwartung (Metho-dus medendi per exspectationem et cum cxspectatione} finden hierin, ihre Erklärung, so wie der Ausspruch, dass der Arzt mehr Diener (mini­ster) als Herr der Natur (magister naturae) sein soll. Bei der Heilme­thode durch Abwartung leistet die Kunst nichts, bei der Heilmethode mit Abwartung beschränkt sich jene auf diätetische VorscLriftei). (Vergl. sect;. 33 und sect;, 36.)
sect;. 13. Die Heilkraft der Natur ist nichts anderes, als die Lebens.-. kraft (y\s vitalis) mit ihren verschiedenen Theilkräften, wie sie in den, einzelnen Verrichtungen des thierischen Körpers, sowohl im Zustande der Gesundheit, als der Krankheit sich aussprechen; sie ist also das, was man im gesunden Zustande als Trieb oder Bestreben zur Erhaltung des unver-? letzten Zustandes (der Integrität) des Lebens, im kranken Zustande als Bestreben zur Wiederherstellung der Integrität, d.i. der Gesundheit bezeich­net hat. Sonach ist die Naturheilkraft nicht etwas zu der Krankheit neu Hinzukommendes, das gleichsam wie ein Schutzgeist aus höhern Regionen niedersteigt und über dem kranken Leben schützend schwebt, auch ist sie nicht etwa eine im gesunden Leben gebumleye, im kranken L.ebeq frei-! werdende Kraft; zu welcher Annahme man übrigens leicht geführt werden kann, in sofern das Integritäts-Bestreben im gesunden Zustande der ober­flächlichen Wahrnehmung leicht entgeht, in den Krankheiten aber, gerade, weil das Leben gefährdet ist, sich oft in auffallender Weise bemerklich macht. Die Naturkeilkraft kann sich begreiflicher Weise am meisten bei denjenigen Thieren geltend machen, die dem Naturzustande arn wenigsten entrückt sind, und in den Fällen, wo die edlen Organe des Körpers nicht darniederliegen, und wenn die Schädlichkeit ihrer Menge nach nicht gross^ und ihre Beschaffenheit noch nicht zu fremdartig ist.
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Es ist bereits (sect;, 10.) bemerkt worden, dass die Möglichkeit der Krank-heits-Heilnng durch die Natur im Allgemeinen auf dem, den organischen
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Tliätigkeiten überhaupt, mithin auch dem krankhaften eigenen Gesetze der Abspannung und auf dem Ankämpfen des relativ gesunden Theils der orga­nischen Kräfte gegen den abnormen beruht. Im Besonderen aber sind die Thätigkeits - Aeusseningen der Naturheilkraft manchfaltig, und obwohl ihrer Erscheinung nach abnorme oder regelwidrige, so können sie doch den Er­folg der Wiederherstellung der Normalität oder der Regel nach sich ziehen. Im Besondern zeigt sich die Naturheilkraft zunächst in der Form der Gegenwirkung (reactio) gegen die unbedingt (absolut) oder bedingt (relativ) äusseren Schädlichkeilen thätig, indem sie dieselben entfernt, oder unschädlich macht. Dann in der Form der Gegenwirkung gegen d;e Krank­keit selbst, und zwar auf verschiedenen Wegen; auf dem des ruhigen Ve­getations-Prozesses, und auf dem Wege des Fiebers, indem anomale, aus dem Bewegungs- und Nerven-Leben entspringende Thätigkeiten mit den vegetativen, so zu sagen im Kampfe durcheinander liegen. Andere Hülfs-mittel der Naturheilkraft liegen im Consensus und Antagonis­mus der Thätigkeiten, im Anschmiegen des Krankhaften an das Ge­sunde, in der Entwickelung und im Instinct.
sect;#9632; 13-Die auf die Einwirkung der absolut äusseren Schädlichkeiten erfolgende Gegenwirkung ist manchfacher, durch die Schädlichkeit selbst, die Weise ihrer Einwirkung und durch die Eigenthümlichkeit des betreffenden Organs bedingten Art; im Allgemeinen aber ist diese Gegenwirkung auf mehr oder minder rasches Ausstossen der Schädlichkeit aus dem Organismus, oder auf Unschädlichmachung derselben gerichtet. Bekanntlich werden die absolut äusseren Schädlichkeiten unterschieden in vorwaltend mechanische, chemische und dynamische, ich sage vorwaltend, weil bei den mechanischen auch che­mische und dynamische Momente, bei den chemischen mechanische und dy­namische und endlich bei den dynamischen auch chemische und mechanische Momente sich geltend machen können.
sect;. 16.
Wirkt eine mechanische Schädlichkeit auf den thierischen Organismus ein, z. B. der Staub von mehr oder minder reizenden Stoffen auf die Luft­wege, so zeigt sich die Gegenwirkung in der Form des Brausens und Hu­stens , indem hierdurch die fremden einwirkenden Körper ausgestossen wer­den; wirkt eine solche Schädlichkeit auf die Augen, so zeigt sich die Reac­tion durch häufigeres Thräncn und Nicken der Augenlider; dringt aber
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eine mechanisch wirkendlaquo; Schatllicbkeit in den Organüinus ein, z. B. eilaquo; Holzsplitter, eine Kugel u. dgl., so zeigt sich die reagirende Thätigkeit durch Ausstossung vermittelst Eiterbildung oder durch Unschadlichniacbung #9660;eruiittelst Abkapselung,
sect;• 17. In ähnlicher Weise erfolgen die Reactionen gegen Einwirkungen chemi­scher Schädlichkeiten, wenn z. 13. auf die Luftwege eine schädliche G;is:irt wirkt, wenn ein ätzender Stoff in die äusseren Weichtheile dringt; nur k;tuigt; hierbei begreiflicher Weise die ünschädlichinaclmng durch Abkapselung nicht erfolgen. Gelangt ein in seiner Mischung entarteter Futterstoff in den Ma­gen, oder gar eine giftige Substanz in denselben, so zeigt sich die Gcgea-wirkung in der Form des Erbrechens und Laxirens. Gelingt der Natur das Ausstossen der genannten Schädlichkeiten auf angegebene Weise nicht, so, sind sie als relativ äussere zu betrachten, über deren Entfernung vermittelst der Natnrheilkraft weiter unten gehandelt werden wird.
sect;. 18. Bei der Einwirkung dynamischer Schädlichkeiten äussert sich die Na-turheilkraft nicht in so einfacher Art, wie bei chemischen und inechanischeu Schädlichkeiten; auch gelingt es ihr nicht, jene Schädlichkeiten in so nn-mittelbarer Weise zu entfernen, wie diese, eben weil die dynamischen Schäd­lichkeiten inimateriell sind, oder doch hier am Orte so angesehen werden können, und deshalb primär nur Abweichungen von Funktionen bedingen, gegen welche die reagirende Thätigkeit sich richtet. Wenn z. B. eine iiberniässige Wärme der Luft auf den thierischcn Körper einwirkt, so würde sie dadurch schädlich, dass die Eigenwärme des Thieres nicht hinreichend ausstrahlt und daher sich in demselben in einer den Funktionen nachtheiligen Weise an­häuft. In diesem Falle wird sich die lleaction durch Vermehrung der Haut-und Lungenausdünstung zeigen, bei welcher dann nothwcndiger Weise Wärme verzehrt wird. Wirkt dagegen die Kälte der Luft auf den thiesischen Kör­per ein, so wird, wenn die Kälte nicht zu intensiv und ihre Einwirkung nicht anhaltend ist, die Naturheilkraft nachtheiligen Folgen dieser Einwirkung für den Organismus, welche in zu grosser Entziehung der organischen Wärme bestehen, dadurch begegnen, dass in Folge der Reaction der cen-tralen Nerven- und Blutgefässparthien eine vermehrte Thätigkeit in dem Blut-Kapillarsysteme der Haut entsteht, wodurch die lutegtilät des fruberii 7,nstaiidcs hr rgcstellt wird.
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sect; 19-Die in dein thieriscben Körper befintlliclien Schädlichkeiten, die als re­lativ äussere bezeichnet werden können, in sofern sie ursprünglich ausser-halb desselben lagen, oder in sofern sie nicht zn seiner nothwendigen Zn­sammensetzung gehören, aber als innere Schädlichkeiten bezeichnet werden sollten, wenn sie Krankheiten erzeugende Abänderungen nothwendiger Be-standtheile des thierischen Organismus betreffen, wie z. B. in jenem Falle aufgenommene und nicht ausgeleerte schädliche Futterstoffe, Gifte, Tuber­keln u. s. \v., in letzterem Falle aber fehlerhafte Galle u. dgl.; ich s^ge: die in dem Körper befindlichen Schädlichkeiten werden von der Naturheilkraft dadurch zu beseitigen oder zu vermindern gestrebt, dass die aufsaugungs­fähigen Stoffe auf Sekretionswegen nach und nach ausgeschieden, odev wie es bei den Tuberkeln der Fall ist, abgekapselt werden. Dass im Organis­mus liegende Schädlichkeiten, wie fehlerhaft beschaffene Galle, Tuberkeln u.dgl. schon an und für sich krankhafte Zustände darstellen, die sich als Erreger zu einer zweiten verhalten können, leuchtet von selbst ein.
sect;. 20. \Yenn durch die Einwirkung einer oder mehrerer Schädlichkeiten eine Krankheit zu Stande gekommen ist, so wirkt die Naturheilkraft zu deren Beseitigung hin entweder durch den ruhigen Gang der vegetativen Thätig-keiten oder durch Fieber; im ersteren Falle wird das Gleichgewicht der organischen Thätigkeitcn wiederhergestellt allein durch allmählige, also nicht in auffallender Weise erfolgende Einlenkung der abweichenden Funktionen in die gesunde Bahn: durch Lösung (lysis); im letztern Falle durch ra­sche, unter stiirrnischeu Erscheinungen herbeigeführte Entscheidung (Cri­sis) oder auch durch Lösung. Sowohl die Lysen, als auch die Crisen kom­men durch eine Reihe mehr innerlicher, durch die Verkettung der Systeme, Apparate und Organe des thierischen Organismus bewirkte Beactionen auf den Wegen des Consensus und Antagonismus zu Stande, und wird es eben durch die gegenseitige Verstärkung und durch den Gegensatz von Thätig­keitcn möglich, dass durch Abarbeitung und Ableitung das Gleichgewicht wiederhergestellt werde. Das Fieber ist daher eigentlich nicht die Krank-lieit selbst, vielmehr der äussere Ausdruck der Reactionen gegen dieselbe (Febris nmbra potius morbi quam morbus ipse. P. Frank). Da aber alles Heilbestreben der Natur in den Krankheiten, wie das Heilbestreben auf allen Gebieten der menschlichen Einrichtungen, durch Maasslosigkcit selbst zur
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Krankheit werden kann, so kann auch das Fieber, imMaasse ausartend, die Krankheit verstärken.
sect;• 21.
Die sympathischen Verhältnisse im thierischen Organismus in der Forirt des Consensus und Antagonismus sind es also hauptsächlich, welche, wie im gesunden Leben die Instrumente sind, vermittelst deren sich dasselbe vof Abirrungen erhält, auch in den Krankheiten das Leben in die gesunde Bahn wieder einzulenken vermögen. Bedingt werden die sympathischen Verhältnisse am meisten durch das eigenthümliche Leben der Organe, durch ihre Verbindung, die hieraus erfolgende Aufeinander Wirkung und Zusam-menwirkung zu einem gemeinschaftlichen Zwecke. Vorzüglich ist es der Antagonismus, durch welchen in den Krankheiten heilend gewirkt wird, and zwar sowohl in den dynamischen, wie in den materiellen Verhältnissen, in ersterer Hinsicht ist es besonders die sensible Nervensphäre, welche mit der motorischen, und hierdurch mit den Muskeln selbst, in einen Gegensstz tritt, so dass die krankhafte Erregung in den Empfindungsnerven durch Krampf der Muskeln gehoben zu werden vermag. In letzterer Hinsicht aber zeigt sich der Antagonismus am klarsten durch verstärkte Absonderungen in dem einen Organe oder Apparate, wenn sie in den andern vermindert oder vollständig unterdrückt sind, was man als stellvertretende (vicarireiult') Thätigkeit bezeichnet, und wodurch zugleich häufig eine Ableitung (T)erivatio) von den krankhaft erregtenTheilen bewirkt wird. Die kritischen materiellen Produkte, wie Schweisse, vermehrte und consistentere Absonde­rung der Schleimhäute, vermehrter und consistenterer, d. h. an festen und wesentlichen Bestandtheilen reicherer, und daher einen Bodensatz bildender Harn, vermehrte Speichelabsonderung, ferner Blutungen, krankhafte Ab­sonderungsflächen , Abscesse u. dgl. finden hierdurch ihre Erklärung.
sect;• 22. Tritt die Natnrheilkraft als eine besondere Krankheitsform auf, welche, so lange sie besteht, die ursprüngliche Krankheit, entweder zu verdecken oder auch vollständig zu heilen vermag, so bezeichnet man jene Krankheits­form als Reinigungskrankheit (morbus depuratorius) und je nachdem durch dieselbe eine blosse Linderung oder vollständiges Verschwinden den ursprünglichen Krankheit bewirkt wird, bezeichnet man sie als in. d. palliati-vus oder m. d. radicalis. So sehen wir nicht selten, dass durch Entwickelung von Mauke die periodische Augenentzündung, durch Strahlfäule der begin-
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nende Dampf, durch Hautausschläge Äffectionen im Pfortadersystem, durch Druse beginnender Koller u. dgl. zum Schweigen oder zur gänzlichen Vertilgung gebracht werden. Soll aber eine derartige Krankheit wirklich als Reini­gungskrankheit gelten, so darf sie keine lebensgefährlichere, oder den Ge­brauch der Thiere beschränkendere sein, als die ursprüngliche Krankheit, #9632;vielmehr muss sie sich durch gelindere Zufälle und grössere Heilbarkeit aus­zeichnen, obwohl die Heilung der depuratorischen Krankheiten meist der Natur zu überlassen ist,
sect;. 23.
Die Gewohnheit, welche, wie es im sect;. 11. angedeutet, ebenfalls ein Hülfsmittel der Neturheilkraft ist, besteht im Anschmiegen (Accommodatio) des Gesunden an das Krankhafte im thierischen Organismus oder auch über­haupt im Anschmiegen dieses letztern sowohl an absolut als auch an relativ äussere Schädlichkeiten. Dieses Anschmiegen kann aber begreiflicher Weise nur dann stattfinden, wenn die Schäillichheiten, welche auf den Organismus einwirken, nicht sehr fremdartig ([different) sind, und ein gewisses Maass der Stärke C'nt^nsität} nicht überschreiten, und wenn die in ihm schon befind­liche Krankheit sich nur langsam entwickelt und dieselbe die wesentlichen Lebensverrichtungen nicht bedeutend zu beschränken vermag.
Es ist bekannt, daslaquo; von enzootischen Schädlichkeiten vorzüglich die an die Quelle derselben neu eingeführten Thiere betroffen werden, während die heimischen, an die Schädlichkeiten nach und nach gewöhnten, häufig verschont bleiben (consuetudo est altera natural; ebenso bekannt ist es, dass langsam sich entwickelnde Tuberkeln, organisirte und unorganisirte Neubil­dungen überhaupt sich oft erst bei der Section der an andern Krankheiten gestorbenen Thiere entdecken lassen, während im Leben keine Symptome beobachtet werden konnten, die auf jene hinwiesen. Im Anschmiegen an Schädlichkeiten haben es die Menschen zu einer gewissen Virtuosität gebracht, und erreichen sie hierdurch einen grossen Theil ihrer Lebensgenüsse. Die Thiere haben es zwar in diesem Punkte nicht so weit, wie die Menschen, doch haben diese es mit den Hauslhieren schon ziemlich weit gebracht.
sect;. 24.
Es ist eine Thr.tsaclie, dass die Thiere in den verschiedenen Alterspe-Hoden zu gewissen Krankheiten eine grössere Anlage besitzen, und auch wirklich davon befallen werden , dass diese Anlagen aber bei der fortschrei-
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tcnden Entwickeliing sich Yerlieren'. 30 Terliält es sich z. B, mit der VVufra-krankheit (Helminthiasis) Scrofelsucht, Fiillenlähme u. dgl. Man hat daher die Entwickelung (Evolutio) auch als ein Moment der Naturheilkraft betrachtet; jedoch verdient sie dies nicht in der Art, wie die bereits betrach­teten Momente der Naturheilkraft, und wie das im folgenden sect; zu erwäh­nende. Denn, wenn auch durch die fortschreitende Entwickelung gewisse Anlageverhältnisse und Krankheiten getilgt werden, so treten dagegen an­dere wieder hervor. Dies liegt überhaupt darin, dass in den verschiedenen Altersstufen das Verhältniss der festen Theile zu den flüssigen, das Ver-hältniss der Kraft zur Materie verschieden ist; dass ferner in dem einen Al­ter Organe noch nicht, wohl aber andere thätig sind (z. B. die Geschlechts-theiie) und später wieder ruhen; dass endlich nicht in jeder Altersperiode die Reizempfänglichkeit und das Wirkungsvermögen, so wie die Bildungs-j Bewegungs- und Ernpfmdungs-Thätigkeit in einem gleichen Verhältniss zit einander stehen.
Der Instinct, oder der Verein von Trieben, welche auf die Erhaltung des l.idividuums und der Art hingerichtet sind, oder, um mit Jean Paul zu reden, die Eselin, welche den Engel früher sieht, als der Prophetj bietet der Naturheilkraft ein nicht unbedeutendes Mittel. Man kann in den Trieben zwei Momente unterscheiden; das Eine fällt dein Gemeingefiihl an-heim, das Andere dem niedern Willen; jenes bestellt in einer dunkeln Vor­stellung von den Bedürfnissen des individuellen und Gattungslebens, dieses in einem der Vorstellung entsprechenden Bestreben zur Aneignung oder Ent­fernthaltung des Zweck- oder Unzweckmässigen. Da es ein Gesetz ist, dass der Instinct in der Thierwelt um so deutlicher hervortritt, je mehr die Intelligenz zurücktritt, so haben die Haussäugethiere einen bei weitem wachsamem Instinct, als die Menschen; da es aber auch Gesetz ist, dass, je weniger die natürlichen Fälligkeiten geübt, sie um desto mehr geschwächt werden, so ist auch einleuchtend, dass die Hausthiere im Zustande ihrer Abhängigkeit Vieles von jenen Trieben eingebüsst haben, und Manches, we­gen der Beraubung ihrer Freiheit, sich weder anzueignen, noch von sich fern zu halten vermögen. Nichtsdestoweniger verdient der Instinct in den Krankheiten der Thiere um so mehr Beachtung, als er bei diesen meist noch als wahrer, und nicht, laquo;ie so oft beim Menschen, ein falscher Ausdruck des Bedürfnisses für die Selbsterhaltunfr ist.
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sect;• 26.
Wie die Naturheilkraft überhaupt, so ist iler Instinct insbesondere nicht allein gegen die absolut, sondern auch gegen die relativ-äussern Schäd­lichkeiten, so wie gegen die bereits in der Entwickeiung begriffenen Krank­heiten gerichtet. Das Thier verabscheut sowohl im Krankheits- als Gesund-heits-Zustande die ihm unpassenden Nahrungsmittel und Getränke, oder gar giftige Stoffe, und eignet sich dagegen die entsprechenden wo möglich an. Freilich giebt es auch Beispiele und zwar wohl erklärliche genug von ver­derbtem Instincte in dieser Beziehung bei den Hausthieren, so dass sie dann schädliche PQanzen und andere Stoffe aufnehmen; aber wenn sie dies thun, so ist wohl zu unterscheiden, ob nicht etwa der Instinct der richtigen Wahl durch den momentan überwiegenden Instinct der Erhaltung um jeden Preis, welcher im heftigen Hunger seinen Ausdruck findet, nur in den Hintergrund getreten ist, oder ob nicht gar die schädlichen Stoffe so verdeckt raquo;ind, dass der Instinct, welcher begreiflich nur auf Futterstoffe, wie sie die Natur bie­tet, gerichtet sein kann, die schädlichen Stoffe nicht herauszufühlen vermag.
In den Krankheiten ist der auf die Wahl der Nahrungsmittel und Ge­tränke, sowohl in quantitativer als qualitativer Hinsicht gerichtete lustinet noch viel reger, als im Gesundheitszustände, und ihm alsdann nur selten nicht Folge zu geben. Zur Entfernung der relativ äussern Schädlich­keiten werden die Thiere oftmals durch den Instinct aufgefordert, wenn solche sich in den Luft- und Verdauungswegen befinden-, in jenem Falle durch Brausen, Husten, in diesem durch Anstrengungen zum Erbrechen oder zur Ausstossung durch den After, und bemerkenswerth ist es, dass iu sol­chen Fällen laquo;lie Hunde sogar den Brechreiz durch Benagen rauher Gräser vermehren..^.Besteht im Magen eine iibermässige Säure, im Körper über­haupt ein Betlürfniss nach Salz, so suchen die Thiere, besonders Rinder und Schafe, jene Säure durch Aufnahme von Kalk, Lehm u. dgl. zu neu-tralisiren, und dieses Bedürfuiss durch Ablecken des Maucrsalpctcrs zu be­friedigen.
S. 27. Vielfach äussert sich die Natnrheilkraft durch den Instinct in den Krank­keiten; alle Lagen und Stellungen, und meist auch alle Bewegungen sind dann als wolilthätige zu betrachten; nicht minder das auf Licht, Wärme und Luft sich äussernde Begehrungs- und Verahscheuungsvermögen bei den-jenigeuThieren nämlich, welche eine zur Äeusserung des bezüglichen Instinctes
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angemessene Freiheit besitzen. Alles dies verdient die sorgfältigste Beach­tung; denn schon Sydenham hat in Bezug auf den Menschen gesagt, und ihm nach lässt es sich noch mit grösserm Rechte hinsichtlich der Thiere sagen: „in morborum curationibus plus concedendiim est aegrorum desidi-riis, quam msgis fallacibus et dubiis artis regulis.quot; —
Drittes Kapitel. Von der Möglichkeit der Krankhcitshciliing durch die Kunst.
sect;. 28.
Wäre die Natur stets im Stande, diejenigen Krankheiten, deren Hei­lung überhaupt möglich ist, allein durch die im thierischen Organismus wal­enden Kräfte zu beseitigen, so würde eine jede Kunsthülfe nicht allein überlliissig sein, sondern sie könnte sogar oft schädlich werden, und laquo;iiiilc daher der Ausdruck: „Kuusthülfequot; einen Widerspruch in sich selbst tragen. Nur in dem Falle könute dann noch eine Kunslhülfe gestattet, und diese als solche ihren Namen verdienen, wenn die Natur zwar allein die. Krank­heiten zu heilen vermöchte, aber nicht so rasch und so angenehm, wie un­ter Mitwirkung der Kunst. Es muss nun aber behauptet werden, dass jenes nicht der Fisil ist, und ist es eben der Beweis dieser Behauptung: welclu.'r nicht allein die Krankheitsheilung durch die Kunst zulässig, sondern sogcr nothwendig macht.
sect;• 29. Diejenigen, welche aus Mangel an gründlicher theoretischen und prakti­schen medizinischen Bildung, aus Mangel an praktischem Blick und richti­gem Tact (ytrgl. sect;. 38.) nichts Erspriessliches zu Stande bringen, aber auch diejenigen, welche, im Besitze dieser unveräusserlichen Güter, Alles heilen zu können vermeinen, verfallen zuweilen in Verachtung der mediziui-sci.en Kuusthülfe, so wie nicht minder diejenigen, welche sich gern den Sth.'iü der Grosse durch den so oft missverstandenen Ausspruch, wonach derjenige am weisesten sei, welcher zur Ueberzeugiiiig gelangt, dass er nichts wisse, geben möchten, und demnach behaupten, dass derjenige Arzt am se­gensreichsten wirke, welcher am wenigsten schade. Trostlos, wenn dem so wäre! Alle Opfer der Staaten zur Erlangung der medizinischen Kunsit-hüife, alle Anstrengungen und Opfer Tausender von Männern, sich die sog.
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medizinische Kunst anzueigccn, ulle Opfer der Hillfosuchenden wären um-sunst. Glücklicherweise jedoch verhält es sich anders.
sect;. 30.
Diejenigen, welche in Verachtung der sog. medizinischen Kunsthulfe versunken sind, weil sie nachgerechnet zu haben vermeinen, dass die Sterb­lichkeit unter den Menschen zu allen Zeiten, abgesehen von zwischenfallen­den Seuchen, gleich oder nahezu gleich gross gewesen sei, und zwar trotz der Verschiedenheit der medizinischen Kultur, und der entgegengesetztesten medizinischen Systeme und darauf gegründeten Heilmethoden, scheinen eben­sosehr im Unrecht zu sein, als diejenigen, welche die Nothwendigkeit der medizinischen Kunsthülfe allein auf die Anforderungen von Seite des Publi­kums gründen. Jene deshalb, weil sie nicht beachtet haben mögen, dass die Sterblichkeit in grössern Zeitabschnitten wegen der Endlichkeit des Menschenlebens nicht allein gleich gross, sondern wegen der progressiven Zunahme der Bevölkerung, sogar in den Jüngern Zeiten grosser, als in äl­teren sein müsse; und es daher bei einer solchen Untersuchung eher auf die höchst schwere Ermittelung ankommt, wie sich das Verhältniss der Lebens­alter in den verschiedenen Zeiten gestellt hat, und wie das Leben in den Individuen, ob mit mehr oder weniger Krankheit, ob mit einer geringeren öder grösseren Vollkommenheit der Gesundheit verlief. Die Andern sind im Unrecht, weil das Bedürfniss einer Sache nicht allein auf die Anforderungen derselben gegründet werden kann, denn sonst müsste die medizinische Quack­salberei Zi B- auch ein Bedürfniss sein.
sect;• 31.
Auf thierärztlichem Gebiet ist die Statistik zu jenem Zwecke noch nicht betrieben worden, und wird eine solche wegen ausserordeutlicher Schwie­rigkeiten auch nie betrieben werden. Wie aus dem Voranstellenden erhellet, kommt ein Schaden bei diesem Verluste nicht heraus. Wir railssen andere Und bessere Gründe für die behauptete Möglichkeit der Krankheitsheilung durch die Kunst aufsuchen, und ist es erlaubt, diese Gründe kurz zusammen ZU fassen, weil sie einleuchtend sind.
Die Möglichkeit und Nützlichkeit der thierärztlichen Kunsthulfe ist of­fenbar, wo es darauf ankommt, Krankheitsschädlichkeiten zu zerstören, ab­zuhalten oder zu vermindern, dagegen die Gesundheit befördernde Einflüsse herbeizuführen, wie es in den prophylactischen, diätetischen und hygieni­schen Wissenszweigen gezeigt wird. Alle Änsteckungsstoffe lassen sich jetzt
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mildern, vermindern, isoliren oder aufheben, und eben hierin, so wie in der Möglichkeit der Abhaltung anderweitiger Schädlichkeiten und der Her­beiführung wohlthätiger Einflüsse findet die Thatsache ihre Erklärung, dass heutigen Tages Seuchen unter den Hausthieren bei weitem seltener -vorkom­men und weniger verheerend sind, als ehedem und lässt sich als ausgezeich­netes Beispiel der Milderung des Contngimns die Schutzimpfung der Schaf­pocken anführen; ein unberechenbarer Gewinn, der aus der Fortbildung der Thierheilkunst geflossen ist. Und wer will, um noch ein Beispiel von den Krankheitsschädlichkeiten, und zwar von der Gattung der relativ äussern herbeizuziehen, liiugnen, dass bei Vergiftungen die Kimsthüife oft sehr gross ist?
sect;• 32.
Die thierärztliche Kunst leistet jedoch nicht allein viel hinsichtlich der Krankheitssdüidlichkeiten, sondern auch bei Beseitigung der Krankheiten selbst. Hat man jemals bei einem Thiere allein durch die Natur die Räude heilen sehen? Liegt nicht die Nützlichkeit ja Notliwendigkeit der Kunst-liiilfe bei allen sog. chirurgischen Leiden mit Einschluss der Geburtsfehler auf flacher Hand? Ist es jemals der Natur ohne Beihiilfe der Kunst, gelun­gen , einen umgestülpten Tragsack wieder in seine gehörige Lage zu brin­gen, einen verschlossenen After wegsam zu machen, oder auch nur eine Balggeschwnlsi zu entfernen? Man sieht, ich ziehe keine Beispiele aus deni zu jenem Beweise freilich zweifelhaftem Reiche der innern Krankheiten heran, obgleich die Kunsthülfe sich hier oft ebenso günstig bewiesen hat, und zwar am meisten wiederum bei denjenigen, wobei chirurgische Werk­zeuge in Anwendung kommen, z. B. bei den Wind- und Wassersuchten. Aber auch bei solchen innern Krankheiten, welche blossc phannako-dynami-sche Heilmittel erfordern, lässt sich die Kunsthülfe als nützlich darthun, es sei denquot;, dass man den Nutzen zahlreicher Arzneien längncn wollte, welche doch offenbar im Stande sind, die heilenden Naturkräfte zu steigern, zu besänftigen oder zu regeln, indem sie Hindernisse wegräumen, Absonderun­gen vermehren oder vermindern u. s. w. Dass die Krankheiten unter den Hansthieren jetzt häufiger sein mögen, als sonst, daran ist die Thierheilkunst nicht schuld, vielmehr die Steigerung der ökonomischen Anforderungen an die Thiere, welche die Vorschriften der Hygiene stets paralysirt. Aber die Thatsache, dass trotz diesem Missverhältnisse die Viehverluste geringer sind, als zuvor, entscheidet aufs Glänzendste zu Gunsten der Thierheilkunst, und fordert nothwendig eine Steigerung ihrer Pflege nnd Anerkennung um
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so dringender, als die Gefahren, welche die Hanathiere bedrohen, und die Abhängigkeit der Menschen von diesen letzteren im steten Wachsen be­griffen sind.
sect;. 33. Wenn nun aus dem Gesagten nicht allein die Möglichkeit der Kunst-heiiung hervorgeht, sondern auch dieNothwendigkeit derselben für viele Fälle, in sofern die Natarheilkraft allein oft ausser Stande ist die Heilung zu be­wirken, so sind bei dem Heilgeschäft doch stets die Wege zu beachten, auf welchen die Naturheilkraft sich wirksam zeigt, weil ohne diese die Kunst nichts vermag. Daher soll der Thierarzt, wie es bereits (sect;. 12) ausgespro­chen ist, sich mehr als Diener, denn als Herr der Natur verhalten, und in sofern sich nur als Herr der Natur ansehen, als ohne Mitwirkung der Kunst die Nifurhcilkraft oft ausser Stande ist, Krankheiten zu beseitigen, und in sofern als in solchen Fällen die Kunst mit einer gewissen Freiheit handelt, die Natur aber stets mit blinder Notliwendigkeit wirkt.
sect;. 34.
Im Allgemeinen ist es Aufgabe der Kunst, Hindernisse, welche der Ent­faltung der Naturheilkraft entgegenstehen, wegzuriinmen, sie vor Störungen zu bewahren, sie zu massigen, wenn sie zu stark erscheint, und endlich ihre Richtung zu regeln, wenn sie von der rechten Bahn abgewicton ist. Dies Alles ist überhaupt nur dadurch zu erreielien, dass Schädlichkeiten ent­fernt und abgehalten, so wie Einflüsse auf den kranken Orgnnismus hingelenkt werden, welche eine zwecknif'issige Veränderung hervorrufen; aber die ein­zige zugängliche Seite des Organismus für solche Einflüsse (incitamenta) ist die Erregbarkeit (incitabilitas), und die alleinige Bedingung des Er­folges ist die Rückwirkung (reactio), wodurch eine Erregung finci-tatio) erfolgt, welche eine Reihe sekundärer Erregungen zu bewirken im Stande ist. Wo also keine Rückwirkung auf Einwirkungen erfolgt, da ist jede Kunsthülfe vergeblich, und Unsinn wäre es, in solchen Fällen Heilung durch die Kunst erzwingen zu wollen, weil ihr alsdann aller Bodea für eine wirksame Entfaltung mangelt.
sect;. 35.
Das Heilgeschäft (curatio morborura, vergl. sect;.11.) d.i. dieBehand-liing der kranken Thiere, die Knr (cura) soll, wo nur immer möglich, darauf hinausgehen, eine wahre, gründliche, vollständige Heilung (sana-
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tio radicalis), nicht allein der Krankheit selbst, sondern auch der vorlierr-scheiiden Anlage dazu zu bewirken, und ist die Kur, wenn sie dahin strebt, eine Radikalkur (cura radicalis}. Oft genug aber muss sich die Kur, laquo;Jer Schwierigkeiten wegen, darauf beschränken, nur so viel wie müglich die Krankheitszuialle zu massigen, die Leiden der kranken Thiere zu mil­dern , um sie zur ökonomischen Verwendung so viel als thunlich wieder geschickt zu machen. In einem solchen Falle ist die Kur eine blosse Lin­derungskur (cura palliativa), also eine unvollständige, wodurch die thier-ärztliche jedoch auch sehr oft wohlthätig wirkt. Niemals aber sollte die Kur eine blosseSch einkur ^curaspuria) sein, weil sie, wenn sie absichtslos geschieht, in das Reich der Täuschungen, wenn sie aber absichtlich bewirkt wird, in diis Reich der Betrügereien gehört. Als Beispiel kann die schein­bare Beseitigung der verdächtigen Druse durch Ausscheidung der krank­haften Kehlgaugsdrüsen dienen.
sect;. 36.
üebrigens kann die Radikal- wie die Palliativ-Kur unter dem Begriff der aktiven Kur (cura activa) im Gegensatz zu den mehr oder minder passiven Graden der Kunsthiilfe durch oder mit Äbwartung (vergl, sect;. 12.) zusammengefasst werden. Die sog. Kunsthülfe durch Äb­wartung Cars medendi per exputationein) oder das Nichtsthun darf in der Regel nur dann stattfinden, wenn die Krankheiten der Art sind, und die Heilkraft der Natur in einem Grade und in einer Beschaffenheit sich zeigt, dass man ihr das Heilungsgeschäft der Erfahrung zufolge allein über­lassen könne, und kommt hierbei alles auf eine richtige Würdigung der quot;Verhältnisse an, nämlich der Natur, des Sitzes, des Grades und Cha­racters der Krankheit, der Constitution der Thiere, der Lebenskraft, so wie der Umstände, worunter die kranken Thiere leben. Diese Kunsthülfe kann aber auch ausnahmsweise da eintreten, wenn sich von der Behandlung der Krankheiten nach dem gegenwärtigen Standpunkte unserer Wissenschaft und Kunst kein Erfolg von einem mehr positiven Handeln erwarten lässt, und wenn in solchen Fällen die Eigeuthümer ihre kranken Thiere, wegen besonderer Neigung zu ihnen, nicht opfern wollen.
Wo die Heilkraft der Natur allein nicht ausreicht zur Heilung, wo aber auch ein mehr positives Handeln von Seiten des Thierarztes, also eine active Kur nicht erforderlich scheint, da soll die Kunsthülfe mit Äbwartung (ars medendi cum exspeetatione) eintreten, und zwar zur Entfernung und Abhaltung von Schädlichkeiten, zur Herbeiführung wohlthätiger Einflüsse
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durch Regiilirung einer angemessenen Diät, so wie zur BekampCung zwi-tchcnlaufender, den normalen Gang der Naturbeilkraft störeudcn Zufälle.
sect;#9632; 37. \Velche Art von Kunsthülfe aber auch zum Belmfe der Heilung dt-r |{rankheiten der Thiere eintreten möge, so muss sie ihre Zwecke auf eine möglichst sichere, scluielle, angenehme und billige Weise zu errei­chen streben (cito., tuto et jueunde curare); die Sicherheit und Raschheit ist freilich die Hauptsache beim Kuriren, wollen wir uns jedoch nicht der Barbarei gegen die Thiere schuldig machen, so muss auch die Kur für die-laquo;elben möglichst angenehm sein; und da endlich die Thiere (abgesehen von einzelnen Fällen besonderer Zuneigung) einen in Geld anzuschlagenden \Verth besitzen, so muss auch die Kur hierauf Rücksicht nehmen, besonders da dieses im eigenen Interesse der Thierärzte liegt. Es ist von Seite die­ser auf jede Kur, selbst wenn sie auch die radikalste zn werden versprä­che, zu verzichten, wenn dieselbe ihrer Mühe, ihres Zeitaufwandes und ihrer Kostspieligkeit wegen ([wobei nicht allein directe Kosten für Arznei, ärztliche Hülfe, Futter, sondern auch indirecte, wie Arbeitsverminderung, Arbeitslosigkeit der Thiere während der Krankheiten, W'erthverniinderung jener durch diese zu erwägen sind) nicht im Einklänge mit dem Werthe des Thieres nach der Heilung steht. Es ist dies ein Punkt, welcher den ^hierarzt weit ungünstiger stellt, als den Menschenarzt; bleibt er aber von jenem unbeachtet, so geräth er durch Entziehung des Vertrauens von Seite des Publikums in eine noch ungünstigere Lage.
Zweiter AliscIiniU.
Von der Krankheit-Erf or schun'g.
Erstes Kapitel. Vom Subjecte der Kraukhcits-Erforschuiig, oder vom Thierärzte.
sect;. 38. Von demjenigen, welcher berufen ist, Krankheiten der Thiere zu erfor­schen und zu heilen, oder vielmehr die Thierheilkunst überhaupt auszuüben müssen zunächst gesunde Sinne, ein gewisses Maass intellectueller Kräfte,
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strenge Moralitüt, der Besitz des nöthigen Grades der Ausbildung in Wis­senschaft und Kunst, Liebe zu seinem Fache, Humanität gegen die Besitzer und ihre Tliiere und die sittliche Kraft der Verzichtleistung auf Ruhm, Ehre und Gliicksgüter gefordert werden. Er hat sich die Stellung, welche er dem Publikum, den Behörden und seinen Collegen gegenüber einnimmt, klar zu machen, und hat in allen sich darbietenden Verhältnissen gesetzlich und sittlich zu handeln, und zu diesem Behufe stets den praktisch-sittlichen Satz im Auge zu behalten: „Was du nicht willst, dass dir geschehe, das thue auch keinem Andernquot;. Uebrigens kann es aber auch noch als ein Erforderniss hingestellt werden, dass der Thierarzt eine natürliche Anlage zum praktischen Blick und Tact besitze, und diese Anlage nach Möglichkeit ausbilde, auf dass er im Stande sei, das rasch und sicher zu erkennen, was in den vorkommenden Fällen das Wesentliche, und wie den Umständen nach am zweckmässigsten zu handeln sei.
sect;. 39.
Insbesondere aber setzt die Krankheits - Erforschung voraus, dass der Forscher treue Beobachtungen, gehörige Verknüpfungen dersel­ben, so wie mit Hülfe der Analogie richtige Folgerungen zu machen im Stande sei. Hierin bildet die Erfahrung den Meister, nicht aber die hingjährige Praxis allein, sondern die wahre, an der Hand der Wissenschaft und des erleuchteten Verstandes geleitete Erfahrung.
Bei der Beobachtung ist es Hauptbedingung, dass das, was als beobach­tet vorausgesetzt wird, auch wirklich beobachtet worden ist, dass es näm­lich wirklich eine Beobachtung und keine Folgerung ist. Denn sehr hüufig sind mit den Beobachtungen, ja sogar nicht selten mit jedem Acte der Wahrnehmung, Folgerungen vermischt, so dass das, was wir beobachtet zu haben glauben, ein zusammoiigesetztes Resultat sein kann, worin ein Theil wirklich beobachtet, das Uebrige aber gefolgert ist. Es ist daher zur Vermeidung des hrthuins uothwendig genau zu unterscheiden zwischen dem, was in einem Resultate der Beobachtung wirklich wahrgenommen, und dem, was eine Folgerung aus der Wahrnehmung ist.
sect; 40. Die Quelle des Irrthums in den Beobachtungen ist drei­facher: physischer, moralischer und in tellectueller Art. Der Irrthum, welcher eine physische Quelle hat, beruht auf unrichtiger sinnlichen Wahrnehmung-, der Irrthum, der eine moralische Quelle hat, entsteht ent-
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weder aus Gleichgültigkeit gegen die Wahrheit, oder aus Neigung, irgend etwas für wahr oder nicht wahr zu halten; endlich entspringt der Irrthum, welcher eine intellectuelle Quelle hat, aus unrichtiger Folgerung. Uebrigens beruhen die Irrthümer in der Beobachtung entweder darauf^ dass etwas nicht, oder falsch beobachtet worden ist. Die Nichtbeobachtung von Fällen und Umständen entspringt aus Unaufmerksamkeit, Mangel an Uebung der Beobachtungsgabe, oder aus Mangel an Interesse für den Gegenstand der Beobachtung. Die falsche Beobachtung entsteht daraus, dass Fol­gerungen für Wahrnehmungen gehalten werden.
Wenn es schon höchst schwierig ist, reine Beobachtungen in Krank-heits-Vorgängen zu machen, so tritt diese Schwierigkeit noch stärker bei therapeutischen Versuchen hervor, insofern dann die Krankheits- und Heilungs­vorgänge durcheinanderliegen, und sonach nicht leicht eine Sonderung der einzelnen Erscheinungen und ihrer ursächlichen Bedingungen möglich ist. Deshalb dürfte der Schluss: post hoc, ergo propter hoc stets mit grosser VorsicLt aufzunehmen sein.
sect;• 41.
Die Erforschung der Krankheiten zertällt in die eigene Beobachtung von Seite des Thierarztes und in die Erkun­digung bei den Eigenthümern oder Wärtern der Thiere. Das Letztere ist ein Geschäft, welches nicht so einfach ist, als es scheint; sehr oft kommen hierbei Täuschungen, absichtliche und unabsichtliche vor. Men-schenkenntuiss, Gewandtheit im Umgänge mit den Menschen, und Kcnnt-niss der Sache, um die es sich jeweils handelt, schützen vor derartigen Täuschungen.
Bei der Erforschung einer Krankheit handelt es sich überhaupt zu­nächst um ihre Geschichte, und um Das, was ihr vorhergegangen ist, d. i. die Anamnestik. Hierbei ist eine besondere Rücksicht zu nehmen auf die veranlassenden Ursachen, nicht minder auf die Anlageverhiiltnisse als auf die erregenden Ursachen (das Aetiol cgi seh e), ferner auf die Umstände, welche die erregenden Ursachen begleiteten, herbeiführten, bestimmten und abänderten; ferner auf die Dauer der Krankheit, auf die beobachteten Er­scheinungen; endlich auf das befolgte diätetische und therapeutische Verfah­ren, und darauf, was dies für Veränderungen in der Krankheit bewirkt hat. Dies Geschäft kann auch als genetische Krankheits erfo r seh ung bezeichnet werden, in sofern es dabei Absicht ist die Krankheit aus ihren
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#9660;eranlaHenden Ursachen bis zu ihrer grgenwärtigen Ausbildung zu ent­wickeln.
sect;• 42.
Bei der eigenen Beobachtung der Krankheit handelt es sich zunächst nm sorgfältige Ermittelung der gegenwärtigen Symptome, und der Verän­derungen, welche sich beim fernem Verlaufe und bei der Ausbildung der Krankheit ergeben. Diese Art von Krankheits-Erforschung kann als analytische bezeichnet werden, in sofern man bestrebt ist, von den Erscheinungen auf die inneren Ursachen zu schliessen. Nicht minder ist der Ausgang der Krankheit zu berücksichtigen; es sind sowohl die Erschei­nungen zu beachten, unter denen der Genesungsprozcss erfolgt, als auch etwa eintretende Nachkrankheiten, so wie endlich auch die Erscheinungen, unter welchen der Tod erfolgt, und durch die Section die Merkmale, welche die Krankheit in den Leichen hinterlassen hat. Alles Dies ist zu beachten noting, wenn man den Krankheitsfall vollständig ergründen will, und ist zu diesem Behufe auch das Lesen von Beschreibungen ähnlicher Fälle nicht minder erspriesslich, als die Rücksprache mit erfahrenen Collegen. Um aber die eigene Erfahrung sicher zu stellen, führe man ein Krankheits-Geschich­tenbuch, worin mindestens die bemerkenswerthesten Fälle kurz einzuschrei­ben sind. Denn es ist nicht immer räthlich, Alles dem Gedächtniss anver­trauen zu wollen.
Zweites Kapitel.
Vom Obje
cf.
der Krankbeits-Erforscliuiig oder von den kranken
Tiiieren.
sect;. 43. Zunächst ist das Älter, Geschlecht und die Constitution des kranken Thieres zu erforschen, weil diese Verhältnisse einen Einfluss auf die Krankheit ausüben oder mit derselben im Zusammenhange stehen können. Die Aufnahme anderweitiger Untcrscheidungsmerkraale des zu un­tersuchenden kranken Thieres oder das sog. Signalement ist in der Regel nicht und nie wegen der Krankheit selbst noting, sondern nur dann, wenn in gerichtlicher oder polizeilicher Hinsicht die Identität eines zu untersuchen­den Thieres (d. i. die Gleichheit oder Einerleiheit, d. h. dass das su un-
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tersuchende Thier wirklich dasjenige ist, um welches es sich handelt), fest­gestellt werden soll.
sect;. 44.
Dann hat man bei der weitern Untersuchung hauptsächlich dahin zu trachten, dass das ursprünglich ergriffene Organ, System oder der Apparat, von welchem aus die Krankheit durch Mitleidenschaft sich auf andere Organe, Systeme und Apparate verbreitete, ermittelt werde. Ferner ist die Art und die Stärke der Störungen in den Verrich­tungen sowohl, als in der materiellen Grundlage der Theile, zu erforschen; endlich der Antheil festzustellen, welchen die übrigen Theile laquo;lurch Mitleidenschaft an dein ursprünglich ergriffenen Theile nehmen. In allen diesen Beziehungen ist eine genaue Untersuchung aller Organe, Appa­rate und Systeme des thierischen Organismus erforderlich, und kann man hierbei eine zweifache Ordnung befolgen, entweder wird von den hervor-stechensten Symptomen ausgegangen (pathologische Ordnung), oder man nimmt die Organe, Apparate und Systeme in einer feststehenden Ord­nung durch ([physiologische Ordnung). Ueberhaupt aber handelt es sich bei der eigenen Krankheits-Erforschung um die Ermittelung der Ant­worten auf die bedeutsamen Fragen: Wo und Wie?
sect;. 45.
In letzterer Hinsicht kann die Untersuchung mit dem Blnt-Gefäss-systeme beginnen, und hat man dabei vorzüglich folgende 4 Punkte in Betracht zu ziehen: l) die Beschaffenheit und Schnelligkeit der Herz- und A rteri cn-Th äti gk eit; 2) die Beschaffenheit des künstlich oder natürlich entleerten Bluts; 3) die vorzüglich durch das Blutleben bedingte Eigenwärme, ihrem Grade und ihrer Vertheilung nach; 4) die Anfiillung und Farbe ;der Gefässe in solchen Gebil­den, welche dem Auge zugänglich sind. Mit dem Gcfasssysteme steht der At hm im gs-Ap par a t im unmittelbarsten Zusammenhange; bei dessen Un-tersucbiing sind folgende Punkte zu beachten: 1) Der Bau des Brust­kastens; 2) die Ath emb e wegungen in Bezug auf Zahl und Beschaf­fenheit; 3) der Zustand der Empfindlichkeit der'Athmungsorgane, ob dieselbe erhöht ist bis zum Schmerze, oder nicht; 4) der Reizungs­zustand der Luftwege, ob etwa freiwillig erfolgender Husten vorhan­den, oder ob er erst nach einem Druck an den Kehlkopf oder an das obere Ende der Luftröhre erfolgt, und wie er beschaffen, ob darauf Brausen und
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wie erfolgt oder nicht, oder ob andere m odifi cirte St iiumlaute, wie Stöhnen, Aechzen u. dgl. damit verbunden sind; 5) endlich die Abson­derung der Schleimhaut der Luftwege, insbesondere in welcher Menge und Beschaffenheit dieselbe stattfindet, oder ob gar auf dem, dem Auge zugänglichen Thf.ile der Nasenschleirahaut anderweitige krankhafte Bildungen, -vyie Bläschen, Geschwüre und dgl. sind, oder ob Auftreibun-gen am Gesichtstheile des Kopfes , am Kehlkopfe u. s. w. auf krankhafte Veränderungen in einer der beziehungsweisen Höhlen schliessen lassen.
sect;• 46. Bei der Untersuchung des Muskelsystems ist 1) die Masse und die Festigkeit der Muskeln und 2) die Leb ensäusser ung der­selben zu berücksichtigen, ob nämlich Lähmung oder Krampf in den­selben vorkommt. Beim Nervensystem ist zu beachten, ob in seiner Gesammtheit oder in seinen einzelnen Thcilon Erhöhung, Verminderung, oder abgeänderte Beschaffenheit, ob üebereinstimraung oder Nichtübereinstimmung in seinen Verrichtungen besteht. Von den Sinnesorganen sind insbesondere die Augen hinsichtlich ihrer Reiz­empfänglichkeit imd der abgeänderten Beschaffenheit der einzelnen Theil.e und Absonderungen zu untersuchen.
sect;• 47. Hinsichtlich der Untersuchung der Vcr dann ngs-Organe hat man zunächst die äussere Beschaffenheit des Bauches zu betrachten in Bezug auf ihre Füllung und Spannung der Bauchmuskeln, welche durch den Druck und dabei sich ergebenden Widerstand ermittelt wird. Ferner ist die Neigung zum Futter und Getränke, sowohl in quan­titativer, als qualitativer Hinsicht zu erforschen, die Beschaffenheit der Zunge, die Speichel- und Schleimabsonderung, der Geruch aus dem Maul und das Schlingvermögen zu ermitteln, endlich sind die Kothausleerutigen zu berücksichtigen in Bezug auf Zeit des Kothab­satzes , auf Art und Weise wie er erfolgt, ob mit Leichtigkeit oder mit An­strengung unter Schmerzäusserung, und wie sich die Beschaffenheit und Menge des Kothes verhält.
sect;. 48. Die Harn- und Geschlechts Werkzeuge sind zu erforschen hin­sichtlich ihrer äussern Beschaffenheit und Absonderung; bei jenen ist insbc-
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sondere die Menge und Beschaffenheit des zur Ausleerung kommenden Harns, so wie die Art seines Absatzes, bei den Geschlechtstheilen aber noch zu beachten, ob Träciitigkelt und in welcher Periode zugegen ist.
Hinsichtlich der Haut ist ihre eigene Beschaffenheit, so wie die Be­schaffenheit und Menge ihrer Absonderung, so wie die Beschaffenheit des Haares zu untersuchen.
sect;. 49.
Die Art und Weise, wie die Krankheits - Erforschung hinsichtlich der Handfertigkeit und Austelligkeit, so wie der erforderlichen Vorsichten vor­genommen werdeu soll, wird beim klinischen Unterricht gezeigt, und hier­bei auf die mechanischen Hülfsmittei, wie Maulgatter etc. auftiierksam ge­macht, und soll hier nur noch angemerkt werden, dass auf die physikali­schen Untersuchungs-Methoden der Percussion und Ausculta­tion laquo;1er Brust und Bauchhöhle ihrer Ausbildungs-Fähigkeit und möglichen Nutzens wegen ein entsprechendes Gewicht gelegt werden sollte.
sect;. 50.
Die physiologische Erklärung der aufgefundenen Symp­tome gehört in die allgemeine Pathologie, es wird in dieser Lehre näher gezeigt, wie [die. Symptome sich von einander unterscheiden, auf •welchen Innern Vorgang sie zurückgeführt und welche Folgen sie haben können; auch gehört in jene Lehre die Feststellung des gegenseitigen Werthes der Symptome, oder mit andern Worten die Erklärung der zu diesem Behufe gebräuchlichen Terminologie.
Auf die Erforschung äusserer, örtlichen krankhaften Zu­stände, so wie auf die Regeln ihrer Behandlung wird in der all­gemeinen Therapie keine Rücksicht genommen, vielmehr dieses Geschäft in die Chirurgie, so wie die bezüglichen Momente hinsichtlich des Gebäh-reus in die Geburtshülfe verwiesen.
Anmerk. In Betreff des Speziellen bei der Untersuclumg kranker Thicre wird
auf folgende Schriftchen verwiesen : W. Dittweiler. Anleitung zur thierärztlicheu Kranken-Untersuchung und
Behandlung. Karlsruhe 1850. Ujchucr, Taschenbuch der Veterinär-Semiotik. Bern 1849.
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T #9632;
;jo
Drittes Kapitel.
Von der Erforschung hinsichtlich der Unterscheidung der Kranklieifj so wie der Bestimmung ihres Verlaufes und Ausganges.
sect;• 51.
Nachdem die Ergebnisse der Anamnestik (anamnesis, die Rückerin-nerung) festgestellt (vergl. sect;. 41.) und die Krnnkheits-Erscheinungen treu aufgefasst sind (vergl. sect;. 43 fg.) gelangt man zu dem schwierigen Geschäft der Krank hei ts-Bestimnmng (Diagnosis). Hierbei handelt es sich um Feststellung des Organs, Apparats oder Systems, welches ursprünglich er­krankt ist, wie es leidet (was als Form und Wesen der Krankheit be­zeichnet wird}; ferner darum, welche Theile in Mitleidenschaft (auf consen-suelle oder antagonistische Weise) gezogen sind, weichen Einfluss die Eigen-thiimlichkeit (Individualität) des kranken Thieres, sowie die äussern Ver­hältnisse (panzootischen, atmosphärischen, klimatischen und ökonomischen), unter welchen es lebt, auf die Krankheit, sie modißzirend, ausüben; endlich darum, ob die Krankheit eine einfache, zusammengesetzte oder verwickelte, eine schnell (fieberhaft) oder langsam (fieberlos) verlau­fende, eine typische oder nicht typische ist.
sect;• 52. Bei diesem für den Anfänger und im Anfange der Krankheit stets und für den gewiegten Praktiker nicht selten sehr schwierigen Geschäfte der Diagnose ist zu ihrer möglichst genauen Feststellung eine gründliche Er­wägung des Werthes und des gegenseitigen Verhältnisses der beobachteten Symptome nach Anleitung einer geläuterten allgemeinen Pathologie vorzu­nehmen; es sind die Symptome der veranlassenden Ursachen von denen des Krankheitsprozesses selbst zu unterscheiden, die letzteren in die wesentlichen und unwesentlichen zu zerlegen, zu unterschei­den, was von den ersteren zu den Hülfs- oder Reactionssymptomen, was zu Symptomen angewandter Arzneien oder was zu den durch den ursprünglichen Krankheits-Prozess auf sympathischem Wege zu Stande gekommenen gehört. Auf die wesentlichen Symptome, d. h, auf solche, welche unter sich in einem physiologischen Zusammenhange stehen, und insgesammt ohne Zwang auf eine Quelle zurückgeführt wer-
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den können, und mil Notliwendigkeit aus dem unterstellten Kmikheitspro-zesse flicssen , ist das Hauptaugenmerk zu richten.
sect;. 53.
Als Hauptmerkmale einer richtig gestellten Diagnose, bei welcher es viel weniger auf den Namen der Krankheit als auf den patholo­gischen Prozess und das leidende Organ ankommt, können: 1) die Be­festigung derselben durch den Verlauf der Krankheit in Be­zug auf ihre Entwicke)ung, und 2) das wirkliche Eintreten gewünsch­ter Veränderungen laquo;lurch der Diagnose entsprechende ärzt­liche Eingriffe angesehen werden. Dio Wichtigkeit einer sicheren und umfassenden Diagnose, die Zierde und der gute Ruf, welche eine solche dem behandelnden Thierarzte verleiht, veranlassen denselben gar nicht selten aus falscher Schaam oder Wichtigthuerei sich auch dann den Schein der Sicherheit zu geben, wenn Unsicherheit vorhanden ist. Will man Dies auch dem praktischen Thierarzte, um der Sicherung seines Erwerbes willen, hin­gehen lassen , so ist ein solches Benehmen jedoch für einen tbierärztlichen Leh'rer geradezu Verwerflich. Denn ein solcher hat eher die Aufgabe seinen Schülern die in jener Beziehung sich darbietenden Schwierigkeiten nicht zu verhehlen, und dieselben durch seine eigene unablässige treue Forschung zur Ueberwindung derselben anzuspornen, als sie daran zu gewöhnen, auf die Worte des Meisters zu schwören, um in Zukunft anmassende Ignoranten zu werden. Der Ausspruch Linne's „medicum oportet non vacillare, sed pedibus duobus incedere firniissimis, nempe ratione et experientiaquot; ist daher nur als ein Ideal zu betrachten, nach dessen Erreichung zu trachten ist.
sect;. 51.
Zur vollständigen Erforschung einer Krankheit gehört noch die Bestimmung des Ausganges, welchen dieselbe und binnen welcher Zeit sie denselben wahrscheinlich nehmen werde, was man Vor­hersage (prognosis), dagegen die Kunst der Vorhersage: Progno­stik (prognostica) nennt. Die Stellung der Prognose ist sehr wichtig, nicht allein wegen der umfassenden Kenntniss über die Krankheit, sondern auch wegen der Bestimmung des Verhaltens des Thierarztes gegenüber den Thier-besitzern, insofern dieselben ihren Thieren einen Geldwerth beilegen Geht die Prognose dahin, dass die Krankheit eine unheilbare, oder dass ihre theilweise oder gänzliche Heilung Opfer fordert, welche mit dem W'erthe
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des Thieres nach der Kur nicht im Einklänge stehen, so ist auf diese letztere zu verzichten (vcrgl. sect;. 37). Es würde ebenso unmoralisch gehan­delt und ein Zeichen von Habsucht und Renomisterei sein, wenn man leichte Krankheiten den Thiereigentbiiniern als schwere Krankheiten schildern wollte, mn sich bei ihrer Heilung den Schein zu geben, eine wichtige Kur gemacht zu haben, als es wiederum von Habsucht zeugen würde, unheilbare Krank­heiten nur um deswillen als heilbare zu schildern, um sie länger zu behan­deln und einen höhern Lohn für die Bemühungen ansetzen zu dürfen.
Wenn nun auch beides Verhalten vor dem strengen ßichterstuhl der Moralität als verwerflich erscheint, so muss es doch in besondern Fällen den Thierärzten anheim gegeben werden, nach den Umständen zu handeln; hat er es z. B. mit leichtsinnigen Tliierbesitzern zu thun, welche, bekannt ge-nacht mit der Ungefährlichkeit der Krankheiten ihrer Thiere, dieselben 'ernachlässigen, und hierdurch die Krankheiten steigern würden, so darf er Ton jener Strenge ebensowohl abweichen , als dann , wenn die Thierbesitzer seiner Versicherung der Unheilbarkeit keinen Glauben beimessen und sich zu ihrem eigenen Schaden in die Hände der Quacksalberei werfen würden. Wenn also von jener strengen moralischen Forderung abge­wichen wird, so darf dies doch nur aus Rücksichten der Hu­manität und im wohlverstandenen Interesse der Tierbesitzer ges c liehen.
sect;. 55.
Die Prognose kann entweder günstig, zweifelhaft oder un­günstig sein, und gründet sich diese Unterscheidung im ersteren Falle auf die Voraussicht der vollständigen Genesung des kranken Thieres unter Anwendung von Mitteln, deren VVerth mit dem VVerthe des Thiere? nach der Heilung in einem angemessenen Verhältniss steht; im zweiten Falle gründet sich die Unterscheidung auf die Schwankung im Urthoile über die Heilbarkeit der Krankheit oder auf die Annahme einer nur theilweisen Hei­lung, oder auch auf die Wahrscheinlichkeit, dass die Krankheit materielle und dynamische Störungen im Organismus zurücklassen , d. h. in andere Krankheiten übergehen werde; im dritten Falle endlich fusst die Unterschei­dung auf der Ueberzeugung, dass die Krankheit in den Tod übergehen wird, oder wenn dies auch nicht, doch voraussichtlich das theilweise oder voll­ständig geheilte Thier hinsichtlich seines VVerthes nach der Heilung in einem ungünstigen Verhältnisse zu den Kosten derselben steht.
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sect; 56.
Bei der Stellung der Prognose ist zunächst in Erwägung zu ziehen: 1) welchen Ausgang die vorhandene Krunkheit der Erfahrung zufolge in der Regel zu nehmen pflegt; 2) welchen Ausgang sie unter den gerade obwaltenden Verhältnissen wahrscheinlich nehmen werde. Dann sind in letzterer lünsiclit wie­derum mehrfache Erwägungen anzustellen: 1) ob die Ürsachenj sowohl die inneren, d. h. die Anlageverliältnisse, als auch die absolut- oder relativ-äusseren erregenden Ursachen von der Art sind, dass sie sich beseitigen oder beschränken lassen, oder nicht; 2) von welcher Art und Form die Krankheit ist, d. h. welches Organ, welcher Apparat oder weiches System von der Krankheit und in welcher Art ergriffen ist, ob die ergrilfenen Theile edle sind, oder nicht; 3J ob die Krankheit einfach, zusammenge­setzt oder gar verwickelt ist; 4) ob die Constitution des kranken Thiefes und die Lebenskraft von der Art sind, dass von dieser Seite eine angemes­sene Naturheilkraft zu erwarten steht, oder nicht; 5) endlich: ob die Ans-senverhältnisse, unter denen das kranke Thier sich befindet, günstig oder ungünstig sind; Und ist bei dieser Erwägung Bücksicht zu nehmen auf Klima, Jahreszeit, Witterung, Beschaflenheit des Futters, AVartung und Pflege so wie auf das Vermögen und den guten Willen der Thiereigen-thümer, auch Das auf- und anzuwenden, was zum Behufe der Heilung er­forderlich scheint.
sect;• 57. Man ersieht hieraus, dass die Stellung einer guten, begründeten Prognose eine grosse Umsicht erfordert, welche allein durch ein ge­läutertes pathologisches Studium und durch wahre Erfahrung erworben wer­den kann. So wie aber die Diagnose sich oft erst im Verlaufe der Krank­heit feststellen lässt, so erleidet auch durch denselben die Prognose nicht selten eine Abänderung; je seltener Dies jedoch der Fall ist, um so mehr gereicht es dem behandelnden Thicrarzte zur Zierde; aber aus blosser Eitelkeit, übelangebrachter Consequenz oder Starrsinn bei den ursprüng­lichen Annahmen bleiben zu wollen würde so viel heissen, als des Ver­trauens der .Thicreigenthiliner und der Mitwirkung zur Erhaltung eines höchst schätzbaren National-Vermögens sich unwürdig niacheu.
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Driitrr Absclmitt.
Tom Kurplan.
Erstes Kapitel.
Begriffsbestimmung und Begründung deraquo; Kurplans durch die
Aiizcilt;re-
sect;. 58.
Der verniinftige und durch Erfahrungen klug gewordene Mann wird raquo;ich Tor der Besorgung wichtiger, im Leben vorkommender Angelegenhei-laquo;en einen Pi.ni dazu entwerfen; und ebendasselbe wird auch jeder rationelle 'J1 ierarzt vor der Behandlung einer wichtigen Krankheit thun, d. h. er wird zu diesem Behufe eine wissenschaftliche und erfahrungs-m assige Ueberlegnng anstellen, wie und wodurch der Heil ver­buch zu machen sei, und das ist ein Knrplao. Um aber einen sol­chen Plan entwerfen zu können muss man zunächst darüber im Klaren seinj welche Veränderung in der Krankheit durch die Kunst zu bewirken seij um die Heilung möglich zu machen. Diese Erkenntnisa wird Anzeige (indicatio) genannt.
sect;'' 59. Der hinreichende Grund der Anzeige kann nur in einer rich­tig gestellten Diagnose liegen, d. h. wenn mau weiss, in welcher dynamischen und materiellen Veränderung der Krankheitsprozess besteht, so kann man auch wissen, welche Veränderung zu bewirken ist, um die Heilung möglich zu machen. Jener hinreichende Grund der An­zeige heisst das Anzeigende (indicans), welches aus mehren Momenten zusammengesetzt ist, die aus den einzelnen, den Krankheitsprozess darsttl-lenden Symptomen fliessen, die man daher anzeigende Momente nennt, auch als mit anzeigend e oder gemeinschaftlich anzeigende Mo­mente (coindicantia) bezeichnen kann. Dagegen nennt man Das, was der Anzeige entsprechend zum Behufe der Heilung in Anwendung zu bringen ist, das Angezeigte Ciudicatum), welches ebenfalls aus verschiedenen Mo­menten bestehen kann
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t
sect;. 60. Insofern einzelne Zufalle in der Krankheit vorhaiulen fein können, welche der gestellten Anzeige widerstreiten, d. h. welche Veränderungen erheischen, die nicht mit der Anzeige iibereinstiininen, oder sogar die­ser geradezu entgegengesetzt sind, pflegt man auch eine Gegenanzeige (coutraindicatio) anzunehmen. Allein streng genommen, kann nur von gegenanzeigenden Momenten (contraindicantia) die Rede sein, welche bei der Stellung der Anzeige milenvogen, und daher so zu sagen in dieser untergehen müssen. Die wichtigsten gegenanzeigenden Momente stammen ans Krankheitszusammensetzungen oder Verwickelungen, besonders, wenn die in einem hulividuum vorhandenen Krankheitsprozesse einen verschiedenen Character au sich tragen.
sect;• 61. Da die Diagnose nicht selten schwankend ist, oder im Verlaufe der Krankheit eine Abänderung erleiden kann (vergl. sect;. 51.), so folgt daraus, dass ebendasselbe mit der Anzeige der Fall sein könne, da sie sich auf die Diagnose stützt (vergl. sect;. 5!).). Es ist indess stets dahin zu trachten , der Anzeige die möglichste Wahrheit und Beständigkeit zu verleihen, weil davon der Erfolg des Heilgeschäfts abhängt. Wenn hier nur von einer Anzeige die Rede ist, so soll daraus nicht gefolgert werden, dass es bei jeder Krank­heit auch nur eine einzige geben könne; vielmehr dürfen und müssen sogar oft aufeinander folgend mehre zur Geltung kommen.
sect;• 62. Die Anzeigen sind verschieden nach dem Zweck des Heil­geschäfts und nach ihrem gegenseitigen Werthe. Da nun das Heilgeschäft sich nicht allein auf die Heilung von Krankheiten erstreckt, son­dern auch auf die Besorgung des Heils der Thiere durch Vorbauung oder Verhütung der Krankheiten, so ist zunächst die Kur- und Heilungs-Anzeige (indicatio curatoria s. therapeuthica) von derVerbauungs- oder Verhütungs-Anzeige (indicatio prophylactica s. praeservatoria) zu un­terscheiden. Es kann ferner das Hcügeschäft, und sollte dasselbe so viel als möglich stets darauf hinausgehen, eine Radiculkur zu bewirken, und kommt dann die Radical-Anz eige (lud. radicalis) zur Geltung. Diese ist aber nichts anderes, als eine Einsicht in das Wesen des Krankheitspro­zesses, und die Kcnntniss der erforderlichen zur Heilung führenden Verän-
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(lernngen, und in sofern ist die Radical-A nzeige eine Causal-An­zeige (ind. causalis), welche von allen möglichen Anzeigen die wichtigste ist, und nur zeitweise, wie bald näher gezeigt werden wird, in den Hinter­grund treten darf. Ist voraussichtlich keine radicule Heilung möglich, so kann vernünftiger Weise nur eine Linderungs- Anzeige (ind. mitigalo-ria s. palliativa) zur Geltung kommen, und zwar hiosichtlich der Thicre, welche nur einen ökonomischen Werth haben, dann, wenn dieselben durch die Linderung noch einen Nutzen gewähren. Daher kann auch eine An­zeige, die auf blosse Erhaltung des Lebens hinausgeht, die indic. conservatoria auf thierärztlichem Gebiet nicht zur Geltung kommen.
i
sect;• 63. Der Begriff von Causal - Anzeige ist im vorstehenden sect; so aufgefasst, dass sie sich auf die nächste Ursache der Krankheit (causa proxima morbi) d. h. auf die Natur des Krankiieits-Prozesses bezieht, und nicht auf die veranlassenden Ursachen desselben. Will man noch eine Anzeige zur Ent­fernung, Unschädlichmachung oder Yerminderung dieser Ursachen aufstellen, so kann diese als Causal-Anzeige und die Causal-Anzeige nach iinserm Begriff als wesentliche (iiulic. essentialis) bezeichnet werden. Nöthig ist die Aufstellung einer Anzeige zur Entfernung u. s. w. der veranlassenden Ursachen nicht, weil diese Entfernung, wie weiter unten auseinaildergeraquo; setzt werden wird, zu den allgemeinen, bei jeder Kur zu ilehlnendeil Bücksichten gehört. Auf die Causal- oder wesentliche Anzeige in jenem Siiiüt; ist auch die Forderung „tolle causam, uam cessante causa, ces-sat efifectusquot; zu beziehen; denn durch die Entfernung der erregenden Ursachen allein wird nicht zugleich auch die durch sie bereits hervorge­brachte Wirkung gehoben, vielmehr wird die Krankheit ihren Verlauf durch­machen.
sect;. 64. Es können Zufälle in den Krankheiten eintreten, welche für das Leben der Thiere sehr gefährlich, oder in den Heilungsgang sehr störend eingrei­fen , und daher eine rasche Beseitigung erfordern, die hieraus fliessende Anzeige wird als dringende (indic. urgens), und insofern sie auf Be­seitigung einzelner Symptome gerichtet ist, auch als symptomatische A uzeige (indic. symptojpatica) bezeichnet, und steht also im Gegensatz laquo;ur Ab wartungs-Anzeige (indic. exspeetativa). Man hat sich indjss zu hüten, die s;!nptoin.itiächen Anzeigen so aufzufassen, als seien siedle Haupt-
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:W,
suche bei Bc-gründung des Kurplans, oder als wenn jedes Kranklieits-Sjmn-tom eine Anzeige zu begründen vermöchte. Denn eine solche Auffassung Tfürde eine roh-empirische und daher verwerfliche sein. Vieimehr hat die ij-uiptomatische Anzeige nur einen vorübergehenden Worth, und tritt nacli ihrer Berücksichtigung die Causal - Anzeige wieder in den Vordergrund.
sect;. ('.5.
Die Therapeuten haben wohl meist noch viele andere Anzeigen aufge­stellt; aber bei Lichte betrachtet läuft die grössere Ausdehnuug dieser Lehre auf terminologische Spitzfindigkeiten hinaus. Es ist allerdings notlmendig, dass bei Feststellung der erwähnten Anzeigen die Constitution des kran­ken Thieres, die Jahreszeit, Witterung, der herrschende Krankheits-Cha­racter berücksichtigt werden; ferner, dass bei seltenen Krankheiten auck auf analoge Fälle, auf das, was sich in solchen oder im gegenwärtigen Falle als nützlich oder schädlich erwies, gesehen werde. Aber es brauchen wegea aller dieser Berücksichtigungen keine ihnen entsprechende ludicationen aufgestellt zu werden; vielmehr sollten die Ergebnisse dieser Berücksichtigungen iq die Causal-Anzeige aufgehen. Was aber die in die allgemeine Therapie vorzugsweise gehörigen Grundanzeigen anbetrilft, laquo;o wird davon am gehö­rigen Orte (S. sect;. 74 ff.) näher die iledc sein.
Zweites Kapitel. Begründung des Kurplans durch das Angezeigte.
sect;. claquo;.
Das Angezeigte ist ein Verein von Mitteln, welche im Stande sind, die durch die Anzeige geforderte, wiinschens-werthe, zur Heilung führende Veränderung zu bewirken, und werden in diesem Sinne als Heilmittel bezeichnet. Heilsam ist Alles, was die Lebenskraft in ihrem Kampfe gegen die Krankheit unterstützt. Das Reich der Heilmittel ist daher sehr gross; es gehören in dasselbe so­wohl die Einflüsse, unter welchen die Thiere leben, nämlich die hygieni­schen, als auch die, welche zum ßehufe der Heilung erst herbeizuziehen sind, nämlich die arzneilichen und chirurgischen. Was die hygieni­schen Einflüsse betrilft, so sind diese nur zweckmässig zu rcgulireu, die andern aber zu wählen. Der Verein von Mitteln, welcher zum Bc-
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,
hufe der Heilung einer Krankheit aufgestellt wird, ist als Heilapparut 0gt;ppunttas meüicinalis) zu bezeichnen.
sect;. 67.
Die Lehre von den hygienischen Einflüssen hinsichtlioh ihrer Mitwirkung bei der Heilung der Krankheiten wird zweck-nuissig als Diätetik bezeiclmet, und die Einflüsse selbst als diätetische. Denn in den Krankheiten der Thiere müssen dieselben oft von anderer Art und Beschaffenheit, von anderer Aufeinanderfolge, und von anderer Dauer sein, als bei der blossen Erhaltung oder Befestigung der Gesundheit. Die bei der Heilung der Krankheiten in Beriicksichtigimg kommenden diäte-tischen Hegeln können nicht anders, als durch ein wissenschaftliches Stu-dimn der Hygiene gewonnen werden. Wciss man, worin die hygienischen Einflüsse bestehen, hat imin ihre Natur erkannt, weiss man, was sie hin­sichtlich ihrer Menge, Beschaffenheit, Zeit, Ändauer und Aufeinanderfolge für Wirkungen in einem bestimmt gearteten und in einem gewissen Zu­stande sich befindlichen Individuum hervorbringen, und welche Folgen diese Wirkungen für die Gestaltung dessen Lebens haben: so wird man auch in den Krankheiten, die nichts anderes, als Modificationen des Lebens, voraus­gesetzt, dass sie ihrer Natur nach richtig erkannt sind, leicht die ent­sprechende Diät zu reguliren im Stande sein. Alle diätetischen Kegeln, raquo;lie ohne Rücksicht auf ein rationelles Studium der Hygiene aufgestellt wer­den möchten, sind rein empirische, und daher vom rationellen Standpunkte zu verwerfen. Uebrigens werden bei den Grundheilmethoden auch die diätetischen Rücksichten angemerkt werden.
Inzwischen soll hier noch angemerkt werden, dass man unter Diät im engeren S|inne auch das blosse 3Iaass und die Beschaffenheit der in den Krankheiten zu verabreichenden Futterstoffe und Ge­tränke versteht, und in dieser Beziehung eine absolute oder strenge, halbe oder magere, und nahrhafte oder fettic Diät unterscheidet.
:sect;. 68-
Auf die Regulirung der Diät in den Krankheiten der Thiere, d. h. auf die Vorschriften zum Behufe der Herbeiführung der der Heilung förderlichen, und der Abhaltung der der Heilung schädlichen, oder der die Krankheiten unterhaltenden oder steigernden diätetischen Einflüsse, kommt sehr viel an. Denn oftmals ist man durch dieselben allein im Stande,
ii I;
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die Naturbeilkraft so zu leiten und zu unterätützen, dass sie ohne Mitwir­kung anderer Mittel Heilung zu Stande bringt, was der Thierheilkuostler um so mehr zu beachten hat, als an ihn die Forderung einer möglichst wohlfeilen Kur gestellt werden muss. Nur hat derselbe, wie als Hygiastiker, so auch als Diätetiker sich zu hüten, solche Vorschriften zu ertheilen, wel­che mit den ökonomischen Zwecken der Thiere unvereinbar sind; oder mit ihrem Geldwerthe nicht im Einklänge stehen; vielmehr muss er oft von den durch die Wissenschaft begründeten strengen Anforderungen abstehen und den Verhältnissen Rechnung tragen; zumal da seine rücksichtslosen For­derungen doch nicht beachtet, vielmehr als unpraktische, seinen Ruf gefähr­dende, augesehen werden würden.
sect;. 69.
Die Kenntnislaquo; der eigentlichen Arzneimittel (medicamenta i. pharmaca) ist Gegenstand der Arzneimittellehre (raateria medicagt; welche sich ebensowohl über die Unterscheidung, Bereitung und Natur der Arzneien, als über ihre Wirkung, Gabe, Form u. dgl. zu verbreiten hat. In den Arzneiverordnungen hat man sich eher der Einfachheit zu bcüoissi-gen, als Zusammensetzungen vorzuschreiben, die wegen der möglichen Viel­heit der Wirkungsweise eine unbekannte Richtung einschlagen können. Dage­gen hat man sich auch ebensosehr zu hüten, in den Ruf eines sirnpeln Thier-arztes zu gerathen, der um deswillen nur siroplicia verordnet, um sog. reine Beobaclitungen zu machen, und daher durch die Erfahrung bewährte Arznei-ausammensetzangen ausser Acht lässt. Die Hauptaufgabe des practi­schen Thierarztes ist: Krankheiten zu heilen; kann er aber ne­benbei für die Wissenschaft werthvolle Beobachtungen machen, so ist dies raquo;ehr schätzbar. Ueberdies sind die sog. einfachen Mittel, streng genommen, es in der Regel nicht; daher ist die Einfachheit der Verordnung ebenso re­lativ, wie die Zusammensetzung.
üebrigens aber hat der Thierarzt, der Kosten wegen, sich sehr oft so #9660;iel als möglich auf Hausmittel zu beschränken, und kann er hiebei durch Umsicht und Manchfaltigkeit in der Wahl, ja selbst durch Handanleguug bei deren Zubereitung sich als einen gewandten empfehlen. Auf der andern Seite jedoch wird ihn seine Menschenkenntniss auch- veranlassen, zuweilen da nicht zu sparen, wo er sonst mit Hausmitteln auszukommen vermöchte; ja selbst kann es zur Erhaltung des Vertrauens und im eigenen Interesse der Thierbesitzer geboten sein, sonst unschuldigen Arzneien durch Glaquo;uch und Farbe eiueu Anschein von Wichtigkeit zu verleihen. Sapicntia raquo;at;
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sect;• 70.
Die Kenntniss der chirurgischen Mittel lehrt die Chirurgie. sowohl hinsichtlich der geschickten Leistungen durch die blossen Hände (Manual-Chirurgie) als durch den Gebrauch von Werkzeugen (Instru-jnen tal-C hir urgi e), welche, insofern scharfe Werkzeuge in Anwendung kommen Äkiurgie genannt wird, als auch endlich durch den Gebrauch von Binden u. dgl, (Des m olog ie). Die chirurgischen Heilmittel sind in den Krankheiten der Tiiiere sehr schätzbar, nicht allein wegen ihrer Einiadiheit imd Wohlfeilheit, sondern auch wegen der öfteren Sicherheit un-i Ruschheit ihres Erfolges. Die dem „Savoir fairequot; huldigen­den Thierarzte, welche bei jeder innern Krankheit, ohne dazu durch eine Anzeige aufgefordert zu sein, irgend etwas Chirurgisches, weil in die Au­gen Fallendes vornehmen, mögen ein solches Benehmen selbst vertreten, und an Gründen wirds ihnen nicht fehlen, (est modus in rebus3 Klimiiern ge­hört zum Handwerk!
Drittes Kapitel. Begrü iiduiifr des Kurplans durch die Heilmethoden.
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sect;• 71.
Unter Kur- oder Heilmethode (methodus medicinalis s. medendi) ist eine Vorschrift zur zweckmässigen Anwendung des Ange­zeigten, d. i. der Heilmittel zu verstehen. Man kann allgemeine oder Grundheil nie thoden (meth. nied. fundamentales) und besondere oder spezielle (meth. med. speciales) unterscheiden; jene stützen sich auf Grund­anzeigen (indic. fundamcntalesj, diese auf spezielle Anzeigen (ind. speciales). Nur jene gehören, sainint ilcn sie begründenden Anzeigen, wie es im I.Kap, des folgenden Abschnittes näher auseinandergesetzt werden soll, in das Ge­biet der allgemeinen Heilungslehre, die andern in die besondere. Entweder kommt in einer Krankheit nur eine Grundmethode in Anwendung oder auf­einanderfolgend mehre; aber es ist nicht nothwendig, dass der ganze Ap­parat von Mitteln, welcher in einer Grundmethode aufgestellt ist, in Auwen-dung gebracht wird, vielmehr ist daraus stets das Passende nach der Indi­vidualität des Falles auszuwählen.
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sect;• 72.
Bei der Feststellung des Kurplans ist zunächst in Ueber-legung zu nehmen, ob eine der aufzusteHenden Grundheil-jnethoden in Anwendung kommen soll oder nicht. Das Ergebniss dieser üeberlegung begründet entweder die active Kur oder die .•nehr oder minder passive mit und durch Abwartung (Vergl. sect;.36.). Bei jeder einzusclilagenden Knnnethode sind Vorsichten (cautelae) zu beachten, welche durch die gerade obwaltenden Umstände oder durch die Art der in die Methode aufgenommenen Mittel geboten werden. Welche Methode und in welcher Krankheit auch dieselbe in Anwendung kommen möge, so sind doch stets einige Momente dabei zu beachten, welche sich als unabweisbare For­derungen des Hcilgcschäfts darstellen.
sect;. 73.
Diese Momente sind: 1) Entfernung oder Unschädlichma­chung der etwa noch vorhandenen veranlassenden äusseren Ursachen der Krankheit; 2) Hebung oder Linderung der nächsten Ursache der Krankheit; 3) Abhaltung schädlicher und Herbeiführung wohlthätiger Einflüsse während des Krankheitsverlaufs, d. i. Regullrung der Diät; 4) Leitung der Re-co nvalescenz.
Wenn die veranlassenden Ursachen fortwirken, so ist alle Bemühung des Heilens vergeblich; es ist daher ihre Entfernung sehr wichtig, aber mit ihrer Eiitfernuiig ist nicht zugleich ihre Wirkung d. i. der durch sie hervor­gerufene Krankheits-Prozess gehoben, vielmehr kann derselbe nunmehr erst mit möglichem Erfolge bekämpft werden. Bei dem 4. Momente ist vorzüg­lich auf die Tilgung der vorherrschenden Anlage zur durchgemachten Krank­heit Rücksicht zu nehmen; denn eben diese Tilgung vollendet die Kur als radicale. Aber es muss gestanden werden, dass die Durchführung dieses Moments auf tbierärztlichem Gebiete höchst schwierig ist, insofern die wie-dergenesenden Thiere meist der heilkünstlerischen Einwirkung entzogen werden. Werden aber wirklich radicale Heilungen bewirkt, so macht sich der Thierarzt für die Folge entbehrlicher und insofern kann man. mit gleich­zeitiger Berücksichtigung der Krankheitsvorbauung, behaupten, dass der­jenige Thierarzt der bessere ist, welcher sich am meisten ent­behrlich zu machen versteht. Leider aber kommt hierbei das Interesse des Thierarztes mit dem Interesse des thierbesitzenden Publikums in Wider-
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streit und gehört es daher zu den Aufgaben der Staaten und Gemeinden, die Thierärzte in eine Verfassung zu setzen, in welcher sie eingeladen sind ihr ganzes Strehen auf die Wahrnehmung des auderseitigeu Interesses zu verwenden.
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Vierter Absclimitt.
Ton den Grumlbcilmctboden.
Erstes Kapitel. Begriff und Eintheihing der Grundlicilmetlioden.
sect;• 74.
Eine Vorschrift zur zweckmässigen Anwendung des durch eine Grundanzeige geforderten Vereins von Mitteln heisst Grundheilmethode (vergl. sect;. 71). Demnach kann und darf es nur so viele Gnindheilmethoden geben, als es Grundanzeigen giebt. Als erstes und nothwendiges Erforderniss der ächten Grmidanzeigeiraquo; muss ein allgemein gültiges,! wissenschaftliches (d. i. physiologisch und pathologisch) begrün­detes Prinzip aufgestellt werden. Es miisseu also die Grundanzeigea sich auf den allgemeinen Zu.-tand des kranken Organisinus stützen, auf das ganze Sein desselben, insbesondere auf die Aeusscrmig der Lebensthätigkeit in Bezug auf Mitwirkung bei der Heilung der Krankheiten in der Eigenschaft als Naturheilkraft. Die Grundanzeigen können sich daher nicht anders, als auf die möglichen Grade der Empfänglichkeit und des ßückwirkungsvermöi-gens des kranken Organismus stützen.
sect;• 75. D as Haupterforderniss der auf die Gr iindanzeigcn gestütz­ten Grundheilmetho d en ist die wissenschaftliche und erfah-rungsui äss ige Folgerichtigkeit der letztern aus den erstcren. Es ist darauf zu achten, dass, trotz der hervorstechenden praktischen Ten­denz der Gnindheilmethoden, der wissenschaftliche Faden nicht verloren gehe, weil sonst dieselben allzu leicht in einen rohempirischen Schlendrian ausarten, zumal da sich dieselben geradezu auf die Anwendung von Mitteln
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Ijeziehcn. Dagegen muss als praktisches Erl'ordcrniss der Gnind-lieihnethoden: Z weckmässigke it, Vollständigkeit, verbunden mit möglichster Einfachheit, betrachtet werden.
sect;• 76.
Andere Gruadanzeigen, als die (sect;. 74.) angedeuteten, sich, so zu sagen, auf den Character der Krankheiten beziehenden, kann es nicht wohl geben. Denn das Anzrigende, welches zu solchen anderswoher, als aus dem Zustande der Naturheilkraft entnommen werden wollte, wäre etwas Speciellos, mit dem Kraukheitsprozesse, seiner Form, oder gar nur mit einem Momente J derselben in Bezug Stehendes. Daher halte ich die Aufstellung von einer brechenerregenden, ausleerenden u. dgl. Methode in der allgemeinen Therapie nicht für gerechtfertigt, vielmehr dürf­ten deren Angaben in die spezielle Therapie und ihre Ausführung in die spezielle Arzneimittellehre, worin sie auch gewöhnlich abgehandelt werden, gehören.
sect;#9632; 77.
Hier am Orte werden folgende Formen oder Modalitäten der Reaction und der Enipfänglichkeit des kranken thierischen Körpers, nebst den darauf sich stützenden Grundheilinethoden aufgeführt:
I.nbsp; nbsp;Form: Genügende Empfänglichkeit und Reaction. Hier ist die Anzeige des Nichtstliuns gestellt und fordert diese An­zeige die Anwendung der Abwartungsmethode (methodtis medendi per exspeetationem, vel cum exspeetatione).
II.nbsp; Form: Uebermaass der Reaction. Hierbei ist die An­zeige zur Kraft Verminderung gestellt, und fordert diese An­zeige die Anzeige der schwächenden Methode (methodus debi-litans).
III.nbsp; Form: Un gen ügende Reacti on. Hierbei ist die Anzeige zur Kraftv er melirun g gestellt, und fordert diese Anzeige die Anwendung der stärkenden Methode (methodus firmans).
IV.nbsp; Forin: Uebermaass der Empfänglichkeit. Hierbei ist die Anzeige zur Emp fängli chkeitsver minderung gestellt, und for­dert dieseAnzeige dieAnwendung der be ruhigenden Methode (methodus sedansquot;).
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V. Form: Ungenügende Empfänglichkeit. Hierbei ist ehe Anzeige zur Einpfanglichkeitsvermehrung gestellt und for­dert diese Anzeige die Anwendung der erregenden Methode (metbodus excitans).
Zweites Kapitel. Die Abwartunjjs-Metliodc.
Diese Methode wird bei Renii quot;ender Reaction und Em-pfänglichkeit von der Anzeige des Nichtsthuns gefordert. Die genügende Empfänglichkeit und Reaction zeigen sich bei dem gleich-niässigen, nicht nach einer Richtung hervorstechenden Temperament, oder bei der gutgearteten Körper-Konstitution; ferner zeigen sie sich in keiner Jahreszeit, in keinem Klima vorherrschend, und ist daher die durch genü­gende Empfänglichkeit und Gegenwirkung sich auszeichnende Lebensthätig-keit in den Krankheiten bildHch als eine Ausgleichung aller Temperamente oder Konstitutionen, Jahreszeiten und Klimate anzusehen.
sect;. 79.
Zu erkennen ist dieser Zustand im Allgemeinen aus folgenden Erschei­nungen : 1) das Gemeingefühl der kranken Thiere ist weder auffallend ge­steigert, noch vermindert; 2} das Fieber ist bei gewöhnlicher Spannung und Volle der Arterien massig, in seinen Exacerbationeu und Remissionen regelnlässig und entscheidet sich in wenig Tagen durch vermehrte Excre-tionen. Insbesondere wird dieser Zustand daran erkannt, dass in dem Blick, in der Haltung und in den Bewegungen der Thiere keine auffallenden Veränderungen vorkommen, dass ihre Fresslust zwar vermindert, aber die Neigung zu anderm Futter, als dem gewöhnlichen nicht auffallend ist, dass die Neigung zum Getränke zwar etwas vermindert oder gesteigert sein kann, aber immer nur in einem Grade, welcher mit der Massigkeit des Fiebers im Einklänge steht; ferner daran, dass die Lebensschwellung in der Haut weder auflallend vermehrt oder vermindert erscheint; dass aber die Körperwärme, obwohl sie, je nach dem Frost- oder Hitzestadium, welche niemals intensiv sind, etwas vermindert oder vermehrt sein kann, narnent-lich im letzteren Stadium gleichmässig über die sanft und etwas fei.cht an­zufühlende Körperoberfläche verbreitet ist; dass endlich die Symptome,
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welche mit dem Krankheitsprozesse und dem leidenden Organ in Beziehung stehen, in keiner Weise etwas Beunruhigendes bieten.
sect;. 80. Die in diesem Zustande in Anwendung kommende Abwartungsmethode darf sich, bei Beachtung der allgemeinen im sect;. 73 angeführten Momente, wovon besonders das 3. zu berücksichtigen ist, auf ein sonst passives Ver­halten beschränken, d. h. es brauchen keine Heilmittel, es seien denn aus­nahmsweise leichte zur Unterstützung kritischer Ausleerungen, in Anwen­dung gebracht zu werden, vielmehr ist das diätetische Verhalten stets in der Art einzurichten, dass die wohlthätigen Bemühungen der Naturheilkraft zur Beseitigung der Krankheiten unterstützt werden, so z, B. durch ein reizmilderndes, künstlich die Harn - und Hautabsonderung beförderndes Getränk, welch' letztere dann auch durch Reibungen und Bedeckungen be­fördert werden kann.
Drittes Kapitel. Oic schwächende Kurmethode.
sect;. 81.
Beim Vorhandensein übermässiger Reaction wird diese Methode von der Anzeige zur Kraftverminderung gefordert. Mit dem Ausdrucke: „üebermaass der Reaction oder Gegenwirkungquot; sind gleichbedeutende Ausdrücke: Üebermaass der Erregung oder der Kraft, Sthe-nie, Hypersthenie, Hyperdynamie (entzündlicher Zustand der Wiener Schule). Üebermaass der Reaction ist dem cholerischen Temperament oder der robusten Constitution eigen, und tritt am häufigsten im normalen Win­ter und im nördlichen Klima auf.
sect;. 82. Der Zustand der übennässigen Reaction wird im Allgemeinen aus fol­genden Erscheinungen erkannt: 1) das Gemeingefühl kann ebensowohl unter­drückt, als gesteigert sein, und giebt dies Veranlassung sich zu hüten, dass man im ersteren Falle die blosse Unterdrückung der Kräfte für wahre Schwäche und im zweiten Falle die durch zu hohe Empfänglichkeit gesteigerte Erregung ohne starkes Wir-kungsvermögen für wahre Ueberkr aft halte; 2) die zuverlässigsten
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allgemeinen Kennzeichen der übermässigenReaction sind: ein harter und voller Puls, Nichtwahrnehmung der Herzbevvegungen (beim Pferde^) so wie ein mehr anhaltendes Fieber, das mit einem deutlichen kurzLii Frostschauder beginnt, worauf dann stark erhöhte Körperwärme folgt. Insbesondere aber wird dieser Zustand, der insgemein im kräftigen Alter der Thiere vorkommt, an einem strammen Faserbau bei Wohlgenährtheit, aber nicht Fettleibigkeit, und bei starker Lebensschwellung erkannt; ferner an der grossen^Fülle der sichtbaren Gefässe, an der höhern Röthe der sichtbaren Schleimhäute, an der #9632;Verminderung aber Consistenzvermehrung der Ab- und Aussonderungen, so wie an der vollständigen Abneigung vor dem Futter, oder an der Nei­gung zu kraftlosen Nahrungsmitteln und endlich an der Neigung zu kühlem Aufenthaltsorte der kranken Thiere und zu kaltem Wasser. Als ein sehr gutes Hiilfsmittel zur Controllirung kann die BescbafTenheit des Aderlass­blutes benützt werden, das in dem in Rede stehenden Zustande rasch zu einem festen Kuchen erstarrt ohne Faserstoffkruste, mit langsamer Ausschei­dung einer verhältnissmässig geringen Menge des Serums.
sect;. S3. Entweder besteht das Kraft ii b er m aas s gleichmässig in sämmtlichen organischen Gebieten, o der vorwaltend im l?lut-oder Nervensysteme oder auch in der Gesammtmasse dor con-tractilen Fasern. Demnach kommen dann auch die der schwächenden Methode untergeordneten, als die a dersch wäc h ende oder antiphlogi-stische (m. antiphlogisfica) , die n er vensc h w ächend e (in. euervans) und die spannkraftmindernde (m. antitonica) entweder gleichmässig, oder die eine oder die andere vorwaltend in Anwendung. Ueberlumpt aber ist es beim Vorhandensein des Kraftübermaasses, wobei leicht materielle Krankhcitsproducte gesetzt werden, die nicht allein die wünschenswerthen Krisen hindern, sondern auch als Ursachen neuer, gefährlicher Krankheits-zustände auftreten, Aufgabe, die dem Umfange und der Stärke nach zu sehr gesteigerte Lebenskraft bis zu dem Grade der genügenden Gegen­wirkung herabzudrücken, dass dieselbe in der Eigenschaft als Naturheilkraft im Stande ist, normale Krisen herbeizuführen.
sect;#9632; S4.
Als vorzüglichstes chirurgisches Mittel der antiphlogistischen Methode ist eine starke, rasche und allgemeine Blufcntziehung zu nennen; in weite­rer Reihe stehen dann die schwächenden und kühlenden Arzneimittel
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(tnedicamenta debilitantia et refrigerantia) d. h. solche, welche das Blutleben herabstimmen, mehr direct durch Verminderung der Reizbarkeit des Ge-fässsystems und Verminderung der Plastizität des Blutes, mehr indirect durch solche Mitte!, welche Absonderungen vermehren und eben durch den Verflüssigungsprozesi die Temperatur herabstimmen; wozu vorzüglich das versüsste Quecksilber, der BrechWeinstein, der Salpeter und das Glauber­salz, so wie die vegetabilischen Säuren gehören. Als vorzüglichste Arznei­mittel der nervenschwäclienden Methode können der Schwefeläther, und der Kampfer, letzterer in Verbindung mit Salpeter genannt werden, so wie als vorzüglichste Mittel der spannkraftvermindernden Methode die erschlaffenden Mittel (remed. relaxantia) wozu Schleim und fettes Oel enthaltende Stoffe gehören.
sect;. 85. Die diätetischen Mittel sind in der schwächenden Heilmethode nicht minder zu beachten, als die genannten chirurgischen und die bezeichneten arzneiiiehen. Sie gehen darauf hinaus 1) entweder durch vollständige Ent­ziehung der Nahrung die Stoffzufuhr zum Blute zu verhüten, damit es keine neue Elemente zur Uiiterhaltung seiner Lebenssteigeruug erhalte, oder durch Gewährung solcher Nahrungsmittel in kleinen Mengen, welche sich weniger durch Nährkraft als durch reizmiklernde und kühlende Bestandtheile aus­zeichnen und die Wirkung der andern Mittel unterstützen; ferner durch reichliches kühles Getränk auf Verminderung der Körperwärme und auf Vermehrung der Stoflfverflüssigung und Absonderungen hinzuwirken; 3) alle übrigen Einflüsse abzuhalten, welche die Erregung vermehren, dagegen die­jenigen herbeizuführen, welche dieselbe herabzustimmen vermögen, wie äus-sere und körperliche Ruhe der kranken Thiere, niedrige Temperatur, und Mässigung der Helligkeit ihrer Aufenthaltsorte, massige Feuchtigkeit der Luft, und leichte Bedeckung.
Viertes Kapitel. Die stärkende Kurraethode.
sect;. 86.
Diese Methode wird bei ungenügender Reaction von der Anzeige zur Kraftverraehrung gefordert. Mit dem Ausdrucke: „ungenügende Reactionquot; sind gleichbedeutend: ungenügende Gegenwirkung
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oder Erregung, Asthenie, Adynamie, fauliger oder putrider Zustand. Diese Form der Reaction ist dem melancholischen Temperament oder der schwa­chen Constitution eigen, und tritt am hänngsten bei herabgekoramenen Thie-ren jedes Alters im hohen Sommer und im Süden auf.
sect;• 87. Man hat sich zu hüten, die blosse Unterdrückung der Kräfte für ungenügende Reaction zu halten, und zu beachten, dass ungenügende Reaction auch bei äusserlich vermehrter Thätigkeit, aber bei Mangel wahrer innerer Ener­gie vorkommen könne. Die Form der ungenügenden Reaction wird im Allgeineinen an folgenden Erscheinungen erkannt: 1) an der Verminderung des Gemeingefühls, 2) an dem leeren, kleinen oft sehr raschen Pulse, und (vorzugsweise beim Pferde) an der Gegenwart des Herzschlags, der häufig pochend und an beiden Seiten vorhanden ist. Insbesondere wird dieser, in keinem Altersstadium vorherrschend auftretende Zustand au einem schlaffen Faserbau bei herabgekommenem Ernährungszustände oder bei wässrigem Turgor oder Fettleibigkeit erkannt; ferner entweder an vollständig aufgeho­bener Fresslust oder, in den gelindem Graden, an Verminderung der Fress­lust und Wahl der konzentrirten Nahrungsmittel, so wie entweder an ver­minderter Neigung zum Getränk oder an brennendem Durst; ferner an der schnellen Zunahme der Fiebersymptome bei herabgesunkener oder ungleich vertheilter Kürperwärme, oder auch gegenthcils bei brennender Hitze, kleh-rigen, örtlichen oder allgemeinen, schmelzenden Schweissen; ferner an der #9632; Blässe, oft schmutzigen Färbung der sichtbaren Schleimhäute, die nicht selten schmierige, missfarbige Ausflüsse zeigen; endlich an dem schnellen Sinken der Kräfte, wobei die Thiere sich kaum aufrecht zu erhalten ver­mögen, die Pferde sich jedoch vor dein Umfallen durch Anlehnen und Stützen oft zu bewahren suchen, während beim Niederliegen leicht Durchliegen und Brandigwerden der Haut auftritt.
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sect;. 88. Wird beim Auftreten dieses Zustandes, der wohl nur sehr selten in sei­nen höheren Graden primär auftritt, vielmehr sich in der Regel, obwohl meist rasch, aus dem im folgenden Kapitel zu betrachtenden Zustande ent­wickelt, ein kleiner Versnchsaderlass gemacht, so bemerkt man kein rasches Erstarren des Blutes, wohl aber, dass der Blutkuchen, der sich in eine obere mehr oder weniger dicke, vom Blutroth mehr oder minder tivie Fa-
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serstoffschicht, und in eine untere, laquo;las Blutroth (die Blutkörperchen) enthal­tende Lage getrennt, einen lockern Zusammenliang hat, und dann rasch eine grosse Menge Serums ausscheidet. Tn den höhern Graden der unge-nügenden Reaction, in dem ausgebildeten septischen oder putriden Zustande kommen noch manchfache Erscheinungen vor, welche entweder grosse Un­ordnungen im sensibeln oder irritabeln Leben oder die beginnende Auflösung der Säftemasse bekunden, mithin einerseits ein sehr stupides oder schreck-haftes, flüchtig-auflalirendes Benehmen der Thiere, verbunden mit partiellen Lähmungen oder Sehnenhüpfen, so wie anderseits Petcchien, Ecciiymoscn, passive Blutungen aus natürlichen Leibesöffnungen oder aus Hautschnitten, oft schwer zu stillende, kolliquative Durchfälle, übler Geruch sämmtlicher Ausleerungen, insbesondere aber ein leichenartiger der Haatausdiinstung u. dgl.
sect;• 89.
Die wahre Asthenie besteht entweder vor waltend im Ner­vensystem oder in der Gesam mtmasse der irritabeln und con-traclilen Fasern, im Bin tgefäss- un d Muskel-System; am häufig­sten aber in beiden zugleich. Die Abtheihuigen, in welche die stärkende Grundheilmethode zerfällt, sind: die nervenstärkende Methode (nicth. nerviua, s. analeptica} und die ton i sir ende oder roborirende Me­thode (method, tonica, s. roborans). Je nachdem nun die wahre Schwä­che mehr in dem einen oder dem andern der vorgedachten organischen Gebiete oder in beiden gleichmässig stattfindet, wird auch die eine oder die andere der bezeichneten Methoden vorwaltend, oder es werden beide gleich-massig in Anwendung gebracht. Ueberhaupt aber geht die stärkende Me­thode darauf hinaus, eine angemessene Erregung zu bewirken, und dersel­ben entsprechende und von dem Erregungs-Zustande zu bewältigende Er­satzmittel zu bieten.
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sect;. 90.
Als vorzüglichste Mittel der nervenstärkenden Heilmethode sind die ein mildes ätherisches Oel und ein balsamisches Harz enthaltenden Mittel zu nennen. In dieser Reihe steht laquo;1er Kampfer oben an; darauf folgen: brenz-liches Oel enthaltendes kohlensaures Ammonium, Wadiliolderbccren, Alant-, Baldrian-, Angelik- und Kalmus-Wurzel. Als vorzüglichste Mittel der robo-rirenden Beilmethode sind die rein bitteren, so wie die mit einem ätheri­schen Ode verbundenen bitteren, adslringircmlen, so wie fanlnisswidrige
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Mittel zu npnncii, z. !gt;. Gentianwurzel, Wermuthkraut, Weidcnrinde, Ei­chenrinde, Schwefelsaures Eisen, Salzsäure, Schwefelsäure.
sect;• raquo;quot;#9632; Die lt;!i;iteti.laquo;clien Mittel, welche in raquo;ler Asthenie der nervenstärkenden und roborirenden Methode entsprechend in Anwendung zu bringen sind, ver­langen, da sie die arzneilichen sehr zu unterstützen im Stande sind, oder vielmehr, da diejenigen unter ihnen, welche als nährende betrachtet werden können, vorzugsweise die Stärkung bewirken, wenn durch die übrigen Mit­tel die Empfänglichkeit und das Wirkungsvermögen, insbesondere tue quot;Ver-dauungsthätigkeit gehoben ist, — eine sorgfältige Beachtung. In diesen Beziehungen stellen sich lih.he und ein bequemes, trockenes und reinliches Lager, eine sanfte, auf die Gemuthsstiramung der Thiere wohlthätig ein­wirkende Behandlung, eine mehr trockene, massig wanne Luft und Erhel­lung des Aufenthaltsortes, dann öftere, massige Beibungen der Haut, nebst angemessener Bedeckung des Körpers als jrstes Erforderniss heraus. Ferner sind bei vorhandenem Appetite, seinem Grade entsprechende Nahrungsmittel aus der Klasse der leichtverdaulichen, erregenden und konzentrirten in öf-fern aber kleinen Gaben zu reichen, z. B. erregende nährende Getränke (Gersten- und Malzabkochung, Mehltränke mit Zusatz von Salz, rother Wein): dann als Futter gekochte Kartoffeln, Hafer, Brod, Gerstenscbrot. Ausnahmsweise können selbst Eingüsse von Mehlsuppe mit etwas Sal/, und rothem Weine oder Klystiere von gekochter Stärke am Platze sein.
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Fünftes Kapitel.
Die bei u h i g e n (I e Kur m e t Ii o d e.
sect;. 02. Diese Methode wird beim Vorhandensein deraquo; Uebcrmaas-ses an Empfänglichkeit von der Anzeige zur Vermi nd t m uquot; derselben gefordert. Der Ausdruck „erethischer Znstandquot; ist gleich­bedeutend mit den Bezeichnungen : Vermehrung der Rezeptivität oder Reiz­barkeit oder Uebermaass der Empfänglichkeit. Diese Form stellt gewisser-maassen eine Mittelstufe zwischen der genügenden und übermässigen Reac­tion dar. Sie ist dem nervösen, sanguinischen, feurigen Temperament, oder laquo;ler zarten Constitution eigen, und tritt am häungsten im jugendlichen Alter, im Frühjahr, und im massigen, dem heisen Klima nahe liegenden auf.
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sect;. 93.
Die crliöhte Empfänglichkeit, welche im Allgemeinen ti;ir:in zu erkennen ist, dass laquo;las Gemeingefiihl gesteigert ist, dass auf massige oder selbst ge­ringe iiussere und innere, örtliche oder iillgcnicine Eindrücke (Heize) unge­wöhnlich starke Gegenwirkungen erfolgen, kann sowohl liei Kraflvennehning als bei Kraftverminderung, d. h. sowohl in der Sthenie als Asthenie vorkom­men; daher geschieht es dann auch, dass die beruhigende Kurmetl.ode, ob­wohl häufig für sich allein, doch auch nicht selten in Verbindung oder ab­wechselnd mit der stärkenden oder schwächenden Kiinnetiiode in Anwendiiug kommt. Insbesondere wird der eretliische Zustand an einer örtlichen oder allgemeinen Aufregung im Nerven-, Gefäss - oder IMuskelsysteni erkannt; z. ß. an der Empfindlichkeit des Auges für das Licht, des Ohres für den Schall (daher schreckhaftes Auffahren hei einem Getöse); an grosser Ein-pfindlichkeit der allgemeinen Empfindungsnerven, oder im Bereiche des Ganglien-Nervensystems (daher Schnierzäusserungen!; an Convnlsionen, an unordentlichen, zitternden Arterien- und Herzschlägen, so wie endlich an einem ängstlichen, eine innere Aufregung verrathenden, Benehmen.
sect;. 04.
Die Mittel, welche in ihrer Anwendung der beruhigenden Knrmethode
entsprechen, gehen darauf hinaus, laquo;lie gesteigerte Empfänglichkeit entweder auf indirectem oder directem Wege zu massigen. In ersterer Rücksicht ist laquo;ler Zweck zu erreichen durch Ueberreizurig, wodurch die Rezeptivität ver­braucht und der Zustand laquo;ler in dir ec ten A st h enie nachßrown hervor­gerufen wird, in der andern Hinsicht durch Entziehung laquo;ler Reize, wodurch laquo;lie Empfänglichkeit wegen Mangels an Reizen herabgestimmt und laquo;ler Zustand laquo;ler dir ec ten Asthenie nach ßrown bewirkt wird. Diese letztere IMe-thode dürfte im Allgemeinen empfehlenswert her, als laquo;lie erstere sein, weil man damit jedenfalls sicherer zum Ziele gelangt. Der Herabstimmung laquo;ler Empfänglichkeit auf laquo;lirecte Weise entsprechen die tier beruhigenden Grund-heilmetfaode untcrgeonuieten : die erschlaffende olaquo;ler reizrnild ernd e Kurmethode tiueth. relaxans v. denmlcens) und die abstumpfende M etho laquo;I e (meth, obtundens).
Die zuletzt genannten Kiumcthoden finden sowohl änsserlich als inner­lich, sowohl mehr örtlich, als mehr allgemein Anwendung. Als Mittel laquo;ler
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erschlaffenden odor reizmildorndcn Metliode sinlt;l vorzugsweise zu nrmiou: die fenclite Wärme in der Form von Dampf- und iropfbardüssigen Bädern, (Iciicn pin Zusatz \on schleimigen Mitteln, wie von Gersten- oder Küsej):!!)-pei-Abkochung, selbst auch Aschenlauge und Äehnliches beigefügt werden kann. Als innere, mehr örtlich wirkende reizraildernde Mittel sind vorzüg­lich lauwarme, schleimige und frische fette Oele enthaltende Eingüsse und Klistiere zu bezeichnen. Der abstumpfenden Methode entsprechen vorzugs­weise: die Kainillenblinnen , der Tabak, das Schierlings,- Tollkirschen- und Bilsenkraut und ihre Präparate; feiner der Stinkasant, das Opium und seine Präparate und endlich die Blausäure und die davon enthaltenden Mit­tel. Alle diese haben eine mehr direetc Beziehung zum Nerven - und Mus-kelsystem, während das Fingerhutkratit, so wie gewisse ableitende Mittel, wie ein zu diesem Behufe gemachter Aderlass, Senfpflaster, Bicchweinstcin-und Cantharidensalbe mehr den Errethismus im Gefässsystemc herabstim­mend wirken.
sect;. 9G. Das diätetische Verfahren, welches in die beruhigende lleiimethode aufzunehmen ist, bezieht sich einestheils auf Entziehung von Reizen, andern-iliiils auf directe Besänftigung. Diesen Beziehungen entsprechend, iniigt;s der Aufenthaltsort der kranken Thiere ruhig sein, und zu keiner nunöthigcu Störung, resj). Beunruhigung oder Aufregung der Kranken Veranlassung geben; feiner ist das Licht in demselben sehr zu massigen, die l.nft tcui-perirt und etwas feucht zu erhalten. Die Hantpflege hat sich auf sanfte Reibungen und leichte Bedeckung zu beschränken, so wie das Getränk und Futter aus schleimigen, reizmildernden Stoffen bestehen soll, z. B. aus Wcizenkleie und Weizenmehl, gekochter Gerste, und wenn der Erelhismus verbunden ist mit Schwäche im Gefässsysteme, so ist ein Zusatz von Schwe­felsäure zum Getränk erspriesslich.
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Sechstes Kapitel.
Die e irr quot; ende Kw nnetliode.
sect;• ^~-Bei der Gegenwart ungenügender Empfänglichkeit wird diese Methode durch die Anzeige zur Vermehrung der Em­pfänglichkeit gefordert. Der Ausdruck „ungenügende Empfang
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luliki'ltquot; ist gleichbedeutend mit raquo;lor Bezeichnung: torpider Zustand. Der­selbe ist als eine Mittelstufe zwischen der geuiigendea und ungenügenden Reaction zu betrachten; er ist dem phlegmatischen Temperament oder der schlaffen C'onstilutioii eigen, und tritt am häufigsten im höheren Alter im Herbst, und im gemässigten , dem kalten Klima nahe liegenden auf.
sect;. 98.
Der torpide Zustand ist im Allgemeinen daran zu erkennen, dass das Gemeingefühl gesunken ist, dass auf massig oder ungewöhnlich starke, änssere und innere, örtliche und allgemeine Eindrücke (Reize) sowohl im Bereiche des Cerebrospioal- als des Ganglien-Nervensystems ungewöhn­lich schwache Rcactionon erfolgen. Insbesondere wird der torpide Zustand an der Stumpfheit der Sinne, an dem gleichgültigen, dummen Blick, au der Verminderung des Bewusstseins und an der geringen Empfindlichkeit laquo;ler allgemeinen Empfindungsnerven, die bis zur Schmerzlosigkeit und Liih-inung gehen kann, erkannt; ferner an der Trägheit aller derjenigen Func-tioucn, welche zum vegetativen Leben gehören, so dass die Zahl der Puls #9632; und der Athemzüge sogar unter die Normalzahl sinken, die Ausleerungen des Harns und des Kothes träge, fast bewustlos erfolgen; endlich au der 151ässe der sichtbaren Schleimhäute, an der Verminderung der Körperwärme und der Lebensschwclluiig.
sect;. 99.
Die arzneilichcn und physikalischen Mittel, welche der erregenden Me­thode entsprechen, sind theils schwächer, theils stärker erregende oder wahre Reizmittel (incitamentaj; alle geistigen, ätherartigen Mittel, die ätherischen Oele und diejenigen Stoffe, welche davon viel enthalten, d. h. gewürzhafte Mittel, gehören hierher, z. B. Weingeist, Scbwefeläther, Terpenthinöl, Kampfer, Fenchelsamen, Pfeffcrmiinzc, Ingwer u dgl. Ferner äusserlich Aetzammoniak, Cantharidcn, Senf, Electrizität und Galvanismus, Strahlbad U. dgl. Als Errcgungsraittel für das Gebiet des Ganglien-Nervensystems stehen drastische Purgirmittel oben an.
sect;. 100. Die diätetischen Mittel, welche zur Unterstützung der erregenden oder reizenden Arzneimittel in Anwendung zu bringen sind, beziehen sich vor­züglich auf Belebung der Tastnerven und des Blutgefässsvstems, oder des
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Blutes selbst. Diiher siml hiiufig trockene und starke Reibungen der Haut, oder auch solche nach vorhergegangenem Besprengen der Haut mit Weingeist und selbst einem Zusätze von Terpenthinöi am Platze; fer­ner voller Liifteinfluss, eine reine, mehr kühle, als wanne Luft, ja selbst ist vorübergehende stärkere Kälte, wegen der Herausforderung der Gegen­wirkung dienlich. Unter Umständen aber können ebensowohl warme Bäder, z B. von Heublumen-Infusiun und andern gewiirzhaften Stoffen zweckmäs-sig sein. Bei der erregenden Methode kommt es , bei Vermeidung erschlaf­fender Futterstoffe und Getränke, vorzugsweise darauf an, dass die hier-hergehörigen Heilmittel in einem angemessenen Wechsel und in einer Dauer in Anwendung kommen, welche der Intensität des Torpors sowohl als der Kraft der Mittel entsprechen.
Soli I us s.
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Sind die Bemühungen in der Unterstützung und Leitung der Natur-hcilkraft so wie die speziellen therapeutischen Rücksichten zur Beseitigung einer Krankheit erfolglos geblieben; sei es, dass die Prognose bereits bei tier Unternehmung der Kur ungünstig gestellt wurde, oder dass dieselbe erst im Verlaufe der Krankheit als eine ungünstige sich ergab, so tritt na-incntlich im letzteren Falle der sehr unangenehme Moment für den behan­delnden Thierarzt ein, in welchem seine Pflicht, den Thiereigenthümcr mit der Unheilbarkeit der Krankheit oder mit der Unzulänglichkeit der Heilkunst für den obschwebenden Fall bekannt zu machen, in einen Wider­streit geräth mit dem Bemühen zur ungeschmälerten Erhaltung des Rufes. Es ist dies ein Moment, in welchem der Thierarzt mit dem ganzen Ge­wicht seines Ansehens, mit Ernst, Ruhe und Theilnahme dem Thiereigen­thümcr die unerfreuliche Aufklänmg ertheileu und dabei die Individualität desselben beachten muss. Trost gewährt es alsdann dem Thierarztc, wenn ihm sein Gewissen keine Sorglosigkeit in der Behandhing vorwirft, und ihm eine solche von Seite des Thiereigenthiimers nicht vorgeworfen werden kann. Es bleibt nichts zu thun übrig, als den Eigcnthümer, zum Behufe der Er­sparung der weitern Leiden des Thieres, der fernem Mühen und Kosten der Behandlung, zu bestimmen, das Thier durch Todtung aufzuopfern; ge­lingt diese Bestimninng, die Tödtung, in einer der Humanität gegen die Thierc angemessenen, das Gefühl des Eigcnthümers nicht verletzenden ^Veise vorzu­nehmen oder vornehmen zu lassen; gelingt aber jene Bestimmung nicht, dem Thierc den natürlichen Ucbergang vom Leben zum Tode so sauft als
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inügliuh zu machen, welche Sorgfalt :ils Euthanasie* bezeichnet wird. Wemigleicli lt;ler Scheintod bei ilnn Tliieren nur sehr selten vorkommen mag, und iiuch in dieser Bczieliung nicht die strengen llücksithten zu neh-xnen sind, wie beim Menschen, so muss doch schon wegen des Geldwerthes der Thiere und wegen der nicht seltenen grossen Affektion der Eigen-thiiiuer zu ihnen, so wie der Wissenschaft halber die Forderung gestellt werden, dass man sich vor der Section und Wegschaffung der gestor­benen Thiere von der Gegenwart der Zeichen des wahren Todes ver­lässige.
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Die inediziiiisclicn Vlicoricn.
Einleitung.
Im Vorworte zu dieser Schrift liegt das Versprechen, dass in diesem Anhange diejenigen medizinischen Theorien, welche zur Zeit einen mehr oder minder grossen Einfluss auf die Therapie ausüben, abgehandelt werden sollen. Im Folgenden wird dieses Versprechen so kurz als möglich gelöst.
Unter medizinischen Theorien, Systemen oder Lehrgebäuden hat man Aufstellungen von Lehrsätzen zu verstehen, nach welchen das gesunde und kranke Leben im Allgemeinen zu bcurtheilen ist, und aus welchen die all­gemeine Therapie als eine mehr oder minder nothwendige Folgerung fliesst. Insofern die Theoretiker, Systeniatikcr oder Lehrgebäude-Männer so zu sagen einen selbstgemachten dreieinigen Gott in der Gesundheit, Krankheit und Wiedergenesung anbeten, kann man sie auch medizinische Sektircr nennen, zumal da sie sich insgemein nicht geschliffner, in der Regel aLer ebenso ungeschlacht benehmen und benommen haben, wie die religiösen Sektirer. Im Vergleich mit den Bezeichnungen politischer Spaltungen kann man auch die Anhänger der medizinischen: Parteimäuner oder Klujbisten nennen. Die Lehrgebäude-Männer gleichen — wie lleveille Parise sagt — jenen chinesischen Gelehrten, die auf ihren Landkarten nur in den chinesischen Ländern Menschen abbilden, und die übrigen Erdtheile mit kopflosen Missgeburten bevölkern. Und eben nach diesem gelehrten und sinnigen Arzte, liegt die Ursache für die Entstehung der verschiedeneu Lehr­gebäude vorzüglich in der Marter, welche der Zweifel verursacht, aus wel­chem man sich erern, wenn auch durch einen neuen Irrthum befreien möchte. Aber ausser dein in der Persönlichkeit und dem geistigen Bedürfnisse lie­genden Grunde für die vielen, sich oft geradezu cntgogengcsetzlcn medizi-
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nischen Systeme, zu welchen der Stoü wenigstens in Jen älteren Zeiten öfter aus der Phantasie der Theoretiker, aus der Sternen- und Geisterwelt, als aus dem thierisch-organischen Leben genommen wurde, liegt gewiss auch ein erheblicher Grund ihrer Entstehung in dem je durch die Entwicke-lung der Künste und Wissenschaften gebildeten Z.?itgeiste und erscheinen so die verschiedenen medizinischen Systeme als ein Ringen nach der Wahr­heit. Leider aber ist es allzuwahr, wenn gesagt wird: „Jahre lang schöpfen wir in das Sieb und brüten den Stein aus; aber der Stein wird nicht warm und das Sieb nicht vollquot;.
AVir können zu unserem Zwecke die sämmtlichen medizinischen Lehr­gebäude in das einzige, Vielen alleinseligmachend erscheinende homöopa­thische oder Hahnemann'sche, und in die zahlreichen allopathischen •anderer Männer eintheilen, obwohl die Wörter: „Homöopathie und Allopa­thiequot; noch ziemlich neuen Ursprungs, und zuerst i. J. 1822 in einer An-haitköthenschen Regierungs - Verordnung als in einem Gegensatze stehend gebraucht worden sind, wonach also — wie Kraus in seinem mediz. Lexi­con ironisch meint — Allopathie sänuntliche rationelle Schulen der Heilkunde mit Ausnahme der Hahnemann'schen bezeichne.
Wenn es nun auch, wie gesagt, hier vorzugsweise Zweck ist, diejeni­gen medizinischen Theorien zu berücksichtigen, welche zur Zeit noch einen mehr oder minder grossen Einfluss auf die Therapie ausüben , so wird es doch nicht unpassend sein, zuvor wenigstens mit einem flüchtigen BlickD die mehr als 2000jälirige medizinische Geschichte in dieser Beziehung zu überschauen, um auf diese Weise einen Anknüpfungspunkt für den heutigen Zustand zu erhalten.
Erstes Kapitel.
Die medizinischen Theorien der Urzeit bis auf die neuere und
neueste Zeit.
Man weiss weder, wo zuerst die Medizin entstanden und in Ausübung gekommen, noch wo und von wem das erste Lehrsystem aufgestellt worden ist; doch das kann man wohl annehmen, dass die ersten medizinischen Aus­übungen und Ansichten höchst unbedeutend und mit einem unserer jetzigen Anschauungsweise nicht entsprechenden Dämonologie und Magie verbrämt sein mussten, wie es das älteste uns bekannt gewordene System des Pytha­goras (500 J. v. Chr. G.) worin Zauberformeln und Wahrsagereien als Heilmittel angepriesen werden, nachweist.
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Erst mit laquo;lein sog. göttlichen Vater tier Medizin von Chos, dem Hip­pocrates (]ein Sprössling der niediziniselien Familie der Asklep laden und der ßepresentant ihres Gesammt-Verdienstes), trat etwas Vernünftiges auf diesem Gebiete (400 J. v. Chr. G.) auf, insofern derselbe die durch die Vernunft geleitete Erfahrung, die rationelle Empirie, als vorzüglichitea Leitfaden auf dem Gebiete der Medizin erkannte, und somit den Weg zeigte, den heut zu Tage die besten und vorurtheilfreisten Aerzte verfol­gen. Freilich konnte auch dieser Mann sich nicht ganz von damals herr­schenden theoretischen Ansichten lossagen, vielmehr hat er nur gezeigt, dass diese ihn nicht befriedigten, indem er zwar die schon früher von Empe-dokles (450 J. v. Chr. G.) aufgestellten Elemente, woraus alles Körper-iche, mithin auch der menschliche Leib zusammengesetzt sein sollte, näm­lich: Feuer, Luft, Erde, und Wasser und die daraus entspringenden 4 Qualitäten: wann, kalt, trocken und feucht annahm, jedoch be­hauptete, dass sich dieselben im menschlichen Körper zu 4 andern Elemen­ten gestalten, nämlich zu Blut, Schleim, schwarzer und gelber Galle, welche von einem Lebensprinzip (enormon genannt) durchdrungen und geleitet werden, und daher Krankheit von der regelwidrigen Wechselwirkung dieses Lebeusgeisfes mit einer der entarteten Hauptttüssigkeiten entstehe. Sieht man von dieser dem Zeitalter entsprossenen humoral - pathologischen An­sicht ab, so bleibt es unbestritten, dass Hippocrates durch Einführung der nüchternen, rationellen Beobachtung in das Gebiet der Medizin zum Behufe der Beschreibung und Bestimmung der Krankheiten rücksichtlich ihrer Form, ihres Verlaufs, ihres Ausgangs und insbesondere hinsichtlich ihres Heiliingsvorganges durch die Kräfte der Natur ein Vorbild iür alle Zeiten ist. Diese nüchterne Beobachtung bestimmte selbst den Hippocrates, sich nach der Anatomie und den Krankheiten der Thiere umzusehen, um davon eine vergleichende Anwendung in der Medizin zu machen.
Aber schon damals gieng es nicht anders zu, als heut zu Tage, man bestrebte sich das Alte, weil es nicht vollständig befriedigte, und anstatt das darin liegende Gute weiter auszubilden, durch neue Irrthümer zu er­setzen. Es entstand mit Plato (350 J. v. Chr. G.) die dogmatische Schule und diese wurde durch seine Nachfolger ein Jahrhundert hindurch forterhalten. Der medizinische Dogmatismus jener Zeit bestand darin, dass, von aller Erfahrung abgesehen, nur sog. wissenschaftliche, allein aus den Köpfen ihrer Urheber entsprungene Lehrsätze aufgestellt wurden.
Da man jedoch seit Hippocrates nun einmal die wahre Mitte verlassen hatte, so schlug man sich bald auf die enlgegengrsctzlc Seite, und es cut-
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laquo;tand und blühte von 250—100 J. v. Chr. G. die Schule der Empiri­ker, iu welcher vun aller Vernuuftleitimg in der Erfahrung abgesehen wurde, und daher in einem Sammelplatz roh-empirischen Materials bestand.
Hierauf wurden die vorhergi-nanuten Lehrgebäude der Griecheu raquo;lurch die bei den Rilmern entstandene Schule der Methodiker, von welcher Asklcpiades C'OO J. v. Chr. G.) als Repräsentant angesehen werden kann, verdrängt. Die Methodiker haben ihr Hauptaugenmerk auf Handlun­gengerichtet, da ihr Haiiptgnuidsatz lautet: „der Arzt heilt die Krank­heiten, nicht aber die Naturquot;; und jener müsse die Krankheiten, wie es heute noch gefordert wird, auf eine sichere, geschwinde und angenehme Weise heilen. Dies Letztere wäre das Gute, was wir von dieser Schule noch übrig haben; ihre pathologischen Ansichten aber vom Stiictmn, Laxura und Mixtum haben sich sammt der darauf gegrün­deten Heiliingsk'Ine, theils als zu straff, theils als zu schlaff, theils als zu einfach gemischt erwiesen.
Hundert Jahre später entstand die Schule der Pn eu matiker, welche wiederum zu dem früher von den Doginatikern angenommenen Pneuma, ein Luftgeist, der durch den Körper, Gesundheit und Krankheit bedingend, wandert, ihre Zuflucht nabinen. Diese Schule ist in Luft aufgegangen, und wieder durch die Eklektiker, welche, müde aller theoretischen Spitzfindigkeiten, dein Auswählen des in den vorhergegangenen Lehrge­bäuden liegenden Guten huldigend, ersetzt. Als der beste Eklektiker da­maliger Zeit wird Aretäus au gesellen, der, als alle Künste und Wissen­schaften bereits in Barbarei zu versinken anfingen (90 J. n. Chr. G.) ein Werk geschrieben hat, das heute noch als ein Muster von Enthaltsamkeit im Theoretisiren und von achter hippoeratischeu Erfahrung angesehen wird.
Als um das Jahr 100 n Chr. Geb. die Anhänger der vorhergedachten Schulen sich bekämpften und gegenseitig sich herabwürdigten und dadurch laquo;lie gesanunte medizinische Kunst und Wissenschaft im Publikum verächt­lich machten, da trat zu Rom Galen mit seinem System auf, dessen Grund­lage wohl dogmatisch war, aber durch die grosse Gelehrsamkeit jenes Arz­tes in einer Weise zugestutzt wurde, dass die geringeren Geister sich scheu vor demselben zurückzogen, und dem Galen'schen Systeme eine fast 1400 jährige Herrschaft überliessen, ohne dass jedoch neben ihm das Auftauchen des rohesten Aberglaubens durch astrologischen, theosbphischen und kabal-listischen Unsinn verhindert werden konnte. Wegen der gelehrten Schwulst, womit iu diesem Systeme die Erfahrung erstickt war, hat später Fricdr. Hoffmann dasselbe als eine „uominalis medicina, pure scholastica et
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|)h;mt:isi;ic tantmu filiiiquot; bczeiclr;at. JJas Pneuma liisst Galen in i Kräfte zerfallen, nämlich in die Lebens-, thierisehe und natürliche Kraft, wovon der Sitz der 1. im Herzen, der 2. im Gehirn und der 3. in der Leber angenommen wurde; in den einzelnen Verrichtungen aber unterschied er eine anziehende, anhaltende und ausstosse ndc Kraft (vts attrattrix, v. retentrix, v. repultrix). Jetzt kann man voji diesem Systeme sagen, dass es bei seinem Erscheinen anziehend gewesen, dass es lauge ab­gehalten und doch endlich ausgestossen worden ist.
Als das Galen'sclie System lauge genug, der neben ihm licrlaufcnde^ im Aberglauben wurzelnde Unsinn aber schon zu lauge gedauert, und die ganze medizinische Weisheit sich in ein Choas aufgelöst hatte, trat ein neuer Jupiter mit dem Donnerkeil in der Hand in der Person des Paracelsus um's Jahr 1525 hervor und warf alles Alte mit beherzter Kraft darniedei', um für einen neuen Unsinn Platz zu gewinnen. Dieser Mann ist nach über­einstimmenden Nachrichten ein im seltenen Grade roher, unwissender inul ungesitteter Mensch gewesen; doch soll er, wie Zinnnermann sagt, ein für die damalige Zeit guter Chemiker, ein noch besserer Chirurg, aber stets so grob, wie ein Fuhrmann, und so besoffen, wie ein Schwein gewe­sen sein. Dieser Mann, dein, wie man sieht, refonuatorische Eigenschafton in seltenem Masse zukamen, erschütterte damals in der That den ganzen gelehrten Erdkreis. Während der Eine das System des Paracelsus algt; ein Gewirre von theosophischem Unsinn, wie er einem Verfertiger des Stei­nes laquo;1er Weisen wohlanstehe, betrachtet, will jedoch ein Anderer (C. H. Schultz, die homo obi o tische Medizin des Paracelsns, Berlin 1S3I) darin die Keime für die jetzt im Schwange befindliche Hahnemann'sche Lehre, so wie für die natnrhistorische Pathologie gefunden haben. Ueber-hanpt aber meint Schultz, dass im Paracelsus der Widerspruch der neuen geistigen Kraftlchre gegen die antike Pathologie und Therapie zum Durchbruch gekommen sei, und wird dieser Durchbrach in folgender Weise fornmlirt: der organische Körper (microcosmus) ist vom Weltleben (macro-cosmus), als mit ihm im Gegensatz stehend, verschieden; die gesunde Le­benskraft des Organismus, oder die im Magen sitzende assimilirende Kraft ist der Arch aus; zur Entstehung der Krankheiten dienen 3 Elemente: Schwefel, Quecksilber und Salz, welche keine Qualitäten, sondern nur dynamische Wirkungen haben sollen, die durch die Elemente gezeugt werden, wie die Frucht durch die Mutter. Indem die Elemente zerbrechen, der Schwefel z. B. verbrennt, das Quecksilber sich verflüchtigt, entstehen die Krankheiten, wie durch Ansteckung und wachsen wie die Pflanzen ans
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einem Samenkorn, und sitzen dann auch jene, wie diese, im Boden. Die Arzneien (arcana) wirken durch geheime ansteckende Kraft, die sich eben-1'mIIs wie aus einem Samenkorn entwickelt; es sind nur kleine Dosen von Arzneien notiiwendig, weil diese, wie die Keime, eine Menge von ßeac-tionen erzeugen, welche sich als ein innerer Arzt zu einer Art Heil­kraft ausbilden, wodurch die Krankheit zernichtet wird. Die Arzneien brauchen, weil sie nicht den zusammengesetzten Qualitäten der Krankheit entgegenwirken, nicht zusammengesetzt zu sein, vielmehr liegt die Kraft im Simplex. Da nun die Arznei eine ähnliche Kraflentwicklung im Kör­per zeigt, wie die Krankheit selbst, so sind in demselljen zwei Individuali­täten, die gegeneinander fechten. Daher das Prinzip: „similia similibusquot; im Gegensatz gegen das „contraria contrariisquot; der Alten.
Seit Paracelsus hat die medizinische Geschichte bis auf Brown keinen grossen Reformator mehr aufzuweisen, wohl aber zahlreiche tüchtige Aerzte, die. wie die Aerzte aller Zeiten, auch ihrem Zeitgeiste hinsichtlich der Theo­rien Rechnung trugen. So war Helmont (1600) ein Anhänger nicht allein des uralten Enormon, sondern auch des paracelsischen Archäus; während Silvins (IGÖO) nicht allein ein gleicher Anhänger, sondern auch ein einge-(leischter Humoral-Patholog war, und den menschlichen Körper wie ein che­misches Laboratorium ansah, in welchem es sich nur um Säure und Alkali handelte. Nachdem Harvey (1019) den Kreislauf des Blutes entdeckt hatte, wird man es natürlich finden, dass seine Zeitgenossen das Blut und seinen Lauf auch in den Krankheiten mehr berücksichtigten, und je nachdem laquo;lie eine oder die andere Seite mehr beachtet wurde, dynamische, ma­thematische oder mechanische Systeme im Gegensalz der jüngsten chemischen zum Vorschein kamen, bis man es endlich in den mechanischen so weit gebracht hatte, dass man mit aller Sicherheit ausrufen konnte: .,homo est machiua hydraulicaquot;. Dagegen suchte Sydenham die Medizin wieder in die Wege der Erfahrung zurückzudrängen, indem er sagte: „docet enim experientia, non autem ratio etc.quot; Bo er have (ITüS), ein in der damaligen Zeit in der ganzen zivilisirten Welt berühmter Heil-kiinstlcr, hatte durch die Untersuchungen von Löwenhoeck absonderliche Ideen von der obliteratio vasorum und dem error loci, sowie von den durch Formverhällnissc der Saftpartikeln bewirkten Schärfen der Säfte. Folgende beide Sätze dieses grossen Arztes, der wenigstens allen Postbe­amten Europa's bekannt sein musste, indem an denselben aus andern Welt-lluilen Briefe mit der einfachen Adresse: „an den Dr. Boerhave in Europaquot; anlangten, — sind jetzt noch beaclitenswerth; nämlich: 1) simplex veri si-
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giilmnquot; mid 2) „constat its, quibns ntitrilur corpus — qnalis cihus, taliä chvintis, laquo;{iialis chymus talis chylus, qnalis cliylus talis sangtiis, qualis san-guis talis lympha, qualis lyinpha talis caroquot;.
Nach Boerhave hat die zunächst folgende Geschichte der Medizin keine sehr Ijeaclitenswerthen Theorien aufzuweisen, obwohl Hallcr durch seine ausgezeichneten Forschungen über die Lebenskraft in den verschiede­nen Organen, insbesondere über die Reizbarkeit der Muskeln, hätte Veran­lassung dazu geben können; jedoch hat sie den beiden Hoffmannen, dem Friedr. und dem Christ. Ludw. so wie dein Cullen, Stoll u. a. einen Denkstein gesetzt. Endlich trat dann wieder ein Mann ansser der Reihe auf: Kämpf (I7S4), der die durch die zuletzt Geiianuten vorbereitete gast­rische Theorie mit seinem Infarctus auf die Spitze trieb, zu deren Lösung nicht allein eine angemessene Diät, sondern auch gewisse Arzneien und zuweilen an 1000 Visceral-Klystiere noting waren. Und heute ist noch nicht aller Infarctus in den Köpfen der Aerzte gelöst.
Es konnte nicht fehlen, dass die grossen Fortschritte, welche seit dem letzten Viertel des vorigen Jahrhunderts in der Chemie gemacht worden sind, auch ihren Eintliiss neuerdings und in einem höhern Grade als zuvor, auf die medizinischen Theorien ausüben mnsstori. So z. B. sah Priestley das Athmen als einen chemischen Prozess an, durch welchen dem thierischen Körper Phlogiston entzogen, dagegen Wärme frei werde. Girtanner u. a. giengen so weit, den Sauerstoff als das Prinzip der Reizbarkeit in der ganzen Natur anzusehen-, dagegen bei 31 it chill das oxydirte Stickgas, namentlich in den ansteckenden Krankheiten eine Hauptrolle spielt, und Reich das Wesen aller Fieber in einen durch die widernatürliche, absolute oder relative, örtliche oder allgemeine Verminderung des Sauerstoffs bewirk­ten widernatürlichen allgemeinen Trennung und Wiederverbindung der ein­fachsten Bestandlheile des menschlichen Körpers bestehen lässt. Endlich hat Baumes die chemischen Theorien amalgauiirt und systematisirt. Nach ihm beruhen alle Unorduuugen in den Verrichtungen des menschlichen Kör­pers auf 5 Zustän den, der Oxy genisation, Calorification, Hydro­genisation, Azotisation und Ph osphorisa t i on. Uebrigens hat eine jede Klasse dieser Krankheitszustände noch 2 Abthcilungen, z. B. die Sii-roxygenisation und die Desoxygenisation u. s. w., je nachdem zu viel oder zu wenig Sau .stoft u. s. w. vorhanden ist. Nach diesem relativen Höhe-punkic der chemischen Theorien trat Reil (17'Jti) auf, und drang wieder, obwohl auch er die Abhängigkeit ihr Gesundheit und Krankheit von tier
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Mischung des malprielleii Substrats anerkannte, auf eine alle Hypothesen verbannemlc geliiutertc, rationelle Empirie.
Zwar hatten, ansser den verschiedenen philosophischen Schulen, auch die Fortschritte in der Lehre von der Electrizitiit und dein Magnetismus, so wie die Entdeckung des thieriseben Magnetismus durch Mesm er ( 1775 ), und die Entdeckung des G al van is in us durch Galvani (1791) einen mehr oder iniinier grossen Einfluss auf die medizinischen Ansichten, indess kann hier dieser Einfluss, der vorgesetzten Kürze wegen, nicht weiter be-luessen werden.
Zwei tes Kapitel. Die in cd i/in is cli cn Theorien flcr Heuern und neuesten Zeit.
I) Die Lehre John Brown's.
Nachdem um die vorhemerkte Zeit ein ähnlicher Zustand in der Medi­zin eingetreten war, wie vor dem Auftreten des Paracelsus, d. h. als die Medizin — wie sich Friedläuder in seinen Vorlesungen über die Ge­schichte der Heilkunde, Leipzig IS3S, ausdrückt — für jeden höhern Auf­schwung erstorben, kein lebendiger Geist, kein tiefer Gedanke die aufge­häufte, träge, eklektische Masse, die man als Erfahrungs - Wissenschaft oder als Gelehrsamkeit ansprach, durchdrang, da gerieth das System des schotti-schenLeinwebers-Sohn John Bruwii, das — der Behauptung A. F. Heck er's zufolge — nach einer mehr als zehnjährigen Dunkelheit und nach dem es mancherlei Veränderungen unter den Händen seines Urhebers erfahren hatte, in stürmische Bewegung (1702) und drohte dem mehr als 3000jährigen Gebäude der Medizin mit einem Einsturz, wenigstens kündigte es denselben bestimmt an, während seine Elemcnta medicinae die Grundlage zu einer neuen Schöpfung abgeben sollten. John Brown war, wegen des damaligen chaotischen Durcheinanders, vorzüglich bemüht, ein Prinzip als Ausgangspunkt seiner Lehre aufzustellen. Zu diesem Behufe warf derselbe, abseilend von den geistigen Thätigkeiteu des Menschen als über unserni Ho­rizonte liegend, und absehend von allen Hypothesen, die doch zur Auf­deckung des Grundes der Erscheinungen nichts betragen, den Satz auf: dass gleiche Erscheinungen uuwiderspieclilich auf gleiche Ursachen schlies-sen lassen; und dass folglich alle Erscheinungen an dem gesunden und kran­ken mcnschliclicn Körper, so wie überhaupt alle Veränderungen in der or-ganisirten Welt, von unwandelbaren, über jede Ausnahme erhabenen, allge-
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meinen Naturgesetzen abhängen. In den festen Theilen des thierischen Körpers wird sodann die Erregbarkeit oder Reizbarkeit (incitabilitas) angenommen, welche durch Zusammentreffen mit Reizen (meitamentaquot;), wozu alle Äussendinge und auch die Säfte des thierischen Körpers gezählt werden, den Erregungs-Zustaud bedingt, so dass, je nach dem Grade der Erregbarkeit und des Reizes der Grad der Erregung (incitatio}, Ge­sundheit und Krankheit in ihren verschiedenen Abstufungen sich äussern inüssten, während die vollkoinincnste Gesundheit bei völlig gleicher Erreg­barkeit und Erregung besteht. Sind die Reize, dein Grade nach, der Er­regbarkeit nicht entsnrechend, so häuft sich diese letzlere an, und es ent-steht zunächst eine Neigung zu Krankheiten mit Schwäche aus Entziehung von Reizen (direkte Asthenie); tritt aber ein noch grösserer Mangel an Reizen ein, so Läuft sich in demselben Masse auch die Erregbarkeit an; daher die verschiedenen Grade der Krankheiten mit direkter Schwäche, so dass endlich bei vollständigem Mangel an Reizen die Erregbarkeit aufs Höchste und damit der Tod eintreten müsse. Umgekehrt verhält es sich, wenn die einwirkenden Reize im Verhältniss zur Erregbarkeit zu stark sind-, dann nimmt die Erregbarkeit ab, und es entsteht zunächst die Neigung oder Anlage zu Krankheiten mit Ueberkraft (sthenische Krankheiten). Geht es dann mit der Einwirkung von Reizen noch weiter, so entstehen wirk­lich sthenische Krankheiten, in der Heftigkeit mit dem Masse der Reize iiber-einstinuneiid, während in gleichem Grade die Erregbarkeit abnimmt. Zu­letzt jedoch kann die Erregbarkeit in einem solchen Grade durch die Reize verbraucht werden, dass wiederum Asthenie und zwar indirekte durch Ueberreizung entsteht, welche, sich überlassen, ebenfalls in Tod übergeht.
Man sieht aus dieser Darstellung, dass Brown das Leben als einen durch äussere Reize durchaus erzwungenen Zustand ansah, und dass er keine manchfaltigere Krankheiten als asthenische C^irekte und indirekte, nach ihm als bei weitem die häufigem) und sthenische annahm. Diese ein­fache Vorstellungsweise nmsste allerdings trägen, zerfahrenen Geistern sehr willkommen sein-, woher sich denn auch der rasche Eingang, welchen diese Ansichten namentlich in Deutschland fanden , leicht erklären lässt.
Was die Therapie Brown's anbetrifft, so ist zunächst zu bemerken, dass dieselbe in konsequenter Weise nichts auf die Naturheilkraft hielt, son­dern Alles mit schwächenden und erregenden Arzneien, in denen er keine qualitatire, sondern nur quantitative Verschiedenheiten annahm, erzwingen wollte. Seine Hauptanzeigen in den Krankheiten sind: I) hinsicht­lich der sthenischen dieErrcgnng zu vermindern; 2) in An he-
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traHit dor as then! sehen ilio Erregung zu vermphren. Dor er­sten Anzeige entsprechen solche Mittel, welche in einem geringern Maasse erregen, als es für die Gesundheit erforderlich wiire, also schwächen (anti-st hen is die Mittel). Bei der direkten Asthenie ist mit Reizen geringen Grades anzufangen, damit aliuiiililig lgt;is zu demjenigen Grade des Ver­brauchs der Erregbarkeit, welcher der Gesundheit entspricht, zu steigern; zu diesem Behnfe sind in der indirekten Asthenie zuerst dein Grade der Krankheitsursache entsprechende Reizmittel anzuwenden, dann aber davon allmählig weniger zu verabreichen, bis das gesunde Maass der Erregbarkeit wieder einiretreten ist.
2) Die Lehre von Razori und Broussais.
Zur Zeit, als besonders in Deutschland die Lehre Brown's Wurzeln geschlagen hatte, trieb dieselbe in Italien und Frankreich Aeste, welche freilich in diesen Klimaten noch pikantere Früchte tragen mussten, als in den Landern der Nebel und Rauhreife. Razori stellte die Lehre vom Contrastitnolo auf, welche wie die Brown'schc das Leben als einen durch Reize erzwungenen Zustand auffasst, die Energie delaquo; Lebens mnl somit auch die Naturheilkraft nicht beachtet. Die Therapie wird nach die­ser Lehre bloss gegen tue Erscheinungen, nicht aber gegen das Wesen der Krankheit gerichtet. Die vermehrte, mit erhöhter Lebensthätigkeit verbun­dene Erregung wird Diathesis des Reizes oder Stimolo, dagegen die verminderte, mit gesunkener Thätigkeit verbundene Erregung: Diathesis des Gegen reizes oder Contrastimolo genannt Man sieht hieraus, daslaquo; die Wörter: „Stimolo und Contrastimoloquot; einerlei Bedeutinig haben mit Brown's Stbenie und Asthenie, und so sind auch die Ausdrücke: „Stimoli und Con-trastimoliquot; gleichbedeutend mit Brown's sthenischen und antisthenischen Mitteln. Die Diathesis des Reizes, der Stimolo, wird nach jener Lehre für weit häufiger raquo;orkoramend gehalten, als der Gegensatz dieses Znstandes.
Broussais nahm auf die verschiedenen Gewebe des Körpers Rücksicht, was Brown und Razori nicht gethan hatten; auch unterschied sieh die Lehre jenes von den Lehren dieser wesentlich dadurch, dass nach ihr die Krankheiten nur örtlich sind, und durch die sympathischeVerbindungderOrgane eine scheinbare allgemeine Verbreitung im Körper nehmen. Daher wurde diese Lehre auch die physiologische Medizin genannt. Alle Krank­heiten dachte sich Broussais als mit Congestion und Entzündung und zwar zumeist im Magen und Darmkanal anfangend, daher bei ihm die Gastroenteritis eine Hauptrolle spielt. Dieser Ansicht entsprechend
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worden laquo;liinn reizrniIlt;(prnlt;Je und sclmächcnrir Mittel in einem Umfange nwi Grade angewandt, wie sonst nir, unti nanipritlich wurde von Blntentzieh-ungen ein tnassloser Gebnmch geniHcht.
Kacbdem ilie iirztliclie Welt sich von dfn Uehcrtölpelnngcn der Lehren Brown's, Razori's untl Br oussais's ein wenig irholt hatte, maebtu sich, nbwohl anfmigs in schwachen, schüchternen Aeussernngen, eine Reaction gegen dieselben geltend. Andr. Böschlaub wies auf die Energie des Oi-ganismus hin, schrieb dein Lebensprinzip nicht blass Emplanglichkeit für iinssere Eeize, sondern auch Gegemvirknngs-^erl)llt;quot;^gen zu, und crfnssle so das Leben als selbstlbätig und durch Wechselwirknng zwischen der Erregbarkeit und den Heizen bedingt, auf. Eine solche Ansicht; Erre­gungstheorie genannt, ist heute noch, freilich vielfach modifizivl im Schwünge.
-'H Die Lehre Hahn em ami's.
„Homöopathiequot; s:igi Dr. Friedr. Aug. Günther im I.Thcile seines Werkes: Der homöopathische Thierarzt, (i. Aufl. — ^ist der aus der criechischcn Sprache abgeleitete und von dem Begründer derselben, laquo;lein Hofarzte Dr. Samuel llahncuiann sehr bczcielnieiul gewählte Name der ;mf die, nnabändcrliclien Gesetze der Natur sich stützenden Heiilehre, weiche sich wegen der glanzenden Resultate, die sie seit ungefähr ?,() Jahren bereits geliefert hat, mehr und mehr über alle Theile laquo;1er civilisirten Welt von Eu­ropa, Asien und Amerika, ja selbst von Afrika verbreitet, und in ihren Grund­sätzen der älteren oder allöopathischen Schule schnurgerade entgegenstellt. Die ältere Schule nämlich, welche sich auf Hufe land's Veranlassung die rationelle, d.i. die veniimftjniissige nennt, von H ah nemann aber, wegen ihres Gegensatzes zur Homöopathie, schicklicher mit dem Namen die allöo-pathische bezeichnet worden ist, wendet bei ihren sog. Heilversuchen ent­weder solche Mittel an, welche den Symptomen der zu heilenden Krankheit geradezu entgegengesetzt wirken, wie z. B. erhitzende Arzneistoffe gegen Kälte, kühlende Mittel gegen Fieberhitze, oder auch solche Mittel, die eine mit der zu heilenden in gar keiner Beziehung stehende neue Krankheit zu erzeugen vermögen, welche jene verdrängen soll. Letzteres ist die eigent-iirbe allöopat hi scli e Methode im engeren Sinne, während jenes Ver­fahren mit dem Namen des an l i p a t h i s ch en bezeichnet wird. Von dem entgegengesetzten Grnndsatze ausgehend wendet die Homamp;opathie zur Hei­lung einer Krankheit gerade dasjenige Mittel an, welches, in einer etwas grösseren Gabe genommen, eine ähnliche Krankheit bei einem Gesunden
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hervorzabringen vermag; und von diesem Satze, anf welchem die Grundlage des boinoopathiscben Heilverfahrens beruht, von dem Satze:
,,Wähle, um sanft, schnell, dauerhaft und angenehm zu heilen, in jedem Krankheitsfälle eine Arznei in änsserst klei­ner Gabe, von welcher du vveisst, dass sie in grösseren Ga-ben bei Gesunden ein ähnliches Leiden erregen kann, als sie bei dem Kranken heilen soll;quot;
hat die Homöopathie iliren eben so schicklicli als bezeichnend gewähl­ten Namen erhalten; denn homoion bedeutet in der griecliisciien Sprache das Äehnliche und pathos das Leiden.quot;
Diese von Günther gegebene Begriffsbestimmung setzt uns sogleieli an den Ausgangs-, aber auch in den Mittelpunkt der homöopathischen Lehre mit ihrem therapeutischen Grundsätze: „similia similibus curanturquot;, die indessen ihren Hanptziigen nach in Folgendem noch etwas näher geschil­dert werden soll. Da aber diese Lehre in neuerer Zeit manche Modifica-tionen durch ihre Jünger erhalten hat, so müssen wir auf die ursprüngliche Lehre zurückgehen, wie sie Hahnemann in seiner Schrili; „Organon der Heilknnstquot;, deren I. Auflage im J. '8!ü erschienen ist, seitdem aber mehrere Auflagen erlitten hat, niedergelegt ist. Zu diesem Zwecke benutzen wir eine Darstellung, wie sie das „Encyclopädische Wörterbuch der medizi­nischen Wissenschaften, herausgegeben von einigen Professoren der medizini­schen Fakultät zu Ilerlinquot; liefert, und zwar geben wir hieraus nur einen möglichst gedrängten Auszug in Folgendem :
Nach der Lehre Hahnemann's muss eine jede Krankheit auf einer Veränderung im Innern des menschlichen Organismus gegründet sein; (Kuh ist diese Veränderung an sich auf keine Weise erkennbar, da das Leben überhaupt in keiner Rücksicht rein physischen Gesetzen folgt. Es gehorcht vielmehr einer innerlichen Grundkraft, Vitalität, welche die Gesetze aller anderen Kräfte anflicht, indem sie die Massen in dem zur Erhaltung des Lebens gehörigen Zustande von Empfindung und Thätigkeit in einem fast geistig dynamischen Zustande erhält. Es ist daher auch durchaus fruchtlos, jene physikalischen Kräfte zur Erforschung der Krankheiten und ihrer inneren Zustände zu benutzen, da der Mensch weder mit einem Räderwerk, noch mit einer hydraulischen Maschine, noch mit chemischen Prozessen, noch mit einer galvanischen Batterie, überhaupt mit nichts, als mit sich selbst vergli­chen werden kann. Diesen anerkennbaren inneren Grund der Krankheiten zur Basis von Krankheits - Systemen zu machen, (We als Leitfaden für laquo;lie Kur dienen sollen, ist darum auch schädlich.
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Da al)cr die Vergleichung des kranken menseblichen Orgnnismus mit sich selbst nichts weiter zu erkeimcii jjicbt, als raerkbart! Veränderungen lt;l('s Befindens (Symptome), so können auch sie allein mir zur ErkenntnUs laquo;Irr Krankheiten berücksichtigt werden. Die Gesainnitzahl aller Syniptome i epiiisentirt die Krankheit in ihrem ganzen Umfange; denkt man sich daher alle Symptome hinweg, so bleibt von der Krankheit nichts mehr übrig. Es innss also Gesundheit eintreten, so wie die Symptome hinweggenommen wer­den, da dies ohne Aufhebung ihres inneren Grundes nicht möglich ist. Sie stellen und fallen mit ihm, und sind wechselseitig und nothwendig durch einander bedingt. Es ist daher auch unnütz, sich um den inneren Grund der Krankheiten zu bekümmern. Nur die Symptome, als das einzig mögliche Erkennbare sind zugleich auch das einzig Nützliche zur Erkenntniss der Krankheit; darum muss in jedem einzelnen Krankheitsfalle ihre Aufsuchung mit der grössten Sorgfalt geschehen. Bei einer solchen sorgfälligen Auf­suchung der Symptome ergiebt sich eine so grosse Mannichfaltigkeit dersel­ben, dass jeder einzelne Krankheitsfall nur ein einziges Alal in der Welt so vorkommt, wie er gerade ist; darum ist ein System, welches auf die Symp­tome gegründet ware, ebenso unmöglich, als jene Systeme, welche den iuue-ren Grund der Krankheiten berücksichtigen wollen. Wären Systeme bei der .#9632;-teleii Verschiedenheit der Krankheitsfälle möglich, so würden sie höchstens eine natnrhistorische Ansicht der Krankheiten gewähren, dürften indessen doch niemals die Kur bestimmen, da diese gegen ein Intlividmim, nicht aber gegen eine Klasse oder Gattung gerichtet werden kann. Es gehört zu ei­ner so sorgfältigen Aufsuchung der Symptome, d. i. zu dem Individualisiren, nichts weiter, als Unbefangenheit und gesunde Sinne, Aufmerksamkeit und Treue im Kopircn des Krankheitsbildcs.
insofern die Symptome allein das in Krankheiten Wahrnehmbare sind, bilden sie auch die alleinige Hinweisnng (Indication) auf ein zu wählendes Heilmittel.
In den Arzneien ahnet der Verstand ein heilendes Prinzip, aber sein Wesen ist ebensowenig erkennbar, als das Wesen der Krankheit. Seit 2:tl)0 Jahren hat man sich vergebens bemüht, dasselbe zu erforschen, und bat dazu fhcils die Chemie, theils die sinnlichen Eigenschaften der Arzneien, thcils und vorzüglich die Wirkung der Arzneien auf den kranken Menschen benutzt, aber ohne Erfolg. Der kranke Mensch eignet sich überhaupt gar nicht zur Prüfung der Heiltugenden einer Arznei, da man nur auf zweierlei Weise da­bei verfahren kann. Mau probirt entweder eine Arznei gegen alle Krank­heiten, um zu wissen, in welcher sie hilft, oder alle Arzneien in einer Krank­heit, um zu erfahren, welche am besten hilft.
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Im sresunden menscblicheu Körper bringen hingegen die Arzneien iwcli bestirninten unabänderlicben Gesetzen gewisse, zuverlässige Krankheits-Symp-tume hervor, und da sie weiter nichts bervortriugen, so niii.ssen sie muh eben durch diese Kraft Krankheits-Symptome hervorbringen, Krankheiten heilen. Der Komplex der dnreli eine Arznei hervorgebrachten KrankUeits-Symptonie muss sell)st als eine kiuistliclie Krankiieit betrachtet werden, und so können Krankheiten nur durch Krankheiten geheilt werden.
Hieraus folgt, dass auch andere Krankheitsursachen als Heilmittel ange­wandt werden könnten; doch eigneraquo; sie sich aus gewissen Gründen nicht hierzu.
Es bleibt also zur Hervorrnfuiig einer künstlichen Krankheit, als Gegen­kraft einer natürlichen, oder zum Zwecke der Heilung nichts übrig, als di #9632; Arzneien, die auch noch den Vorzug vor allen Krankheitsursachen, wenn diese überhaupt brauchbar wären, verdienen, weil 1) tue Waid der Mittel und mit ihnen die Ar*, der zu erregenden Krankheit vollständig in dir Mach' lies Behandelnden ist, und weil 2) die Stiirke und Dauer dieser Krankheiten durch Muass und Gewicht der Arznei gaben bestimmt werden kann.
Zur Prüfung der Heilkraft irgend eines Mittels gehört also nichts wei­ter, als die Symptome vollständig zu erforschen, die seine Anwendung bei Gesunden hervorbringt:. Hat man auf die geeignete Weise mil passenden Mitteln Versuche angestellt, so wird der Gesammtausdruck der erhaltenen .Symptome zeigen, dass jede Arznei ihre besonderen Wirkungen hat, die sich von keiner anderen genau so ereignen. Es giebt daher auch keine Surrogate.
Das Verhältniss, in dem eine von einer Arznei erregte Krankheit zu einer zu heilenden möglicher Weise stehen kann, ist ein dreifaches: Ent­weder ist die Ar zu eik ran k ho it überhaupt nur eine anders­artige, als die zu heilende, dann steht sie zu ihr in einem allopathischen Verhältnisse; oder sie ist 2) der zu heilenden entgegengesetzt, damit ist ihr Verhältniss enant iopat h i s ch oder antipathisch, oder sie ist ;5) tier zu heilenden Krankheit ähnlich, ihr Verhältniss zu raquo;lies er ist dann homöopathisch.
Die allopathische Anwendung der Arzneien kann desshalb nicht hülfreich sein, weil sie durchaus schief wirken muss, nach dem Bilde eines Winkels! sie kann wo anders hinführen, aber nicht zur Gesundheit Die antipatbisebe Anwendung kann zur Heilung nicht fuhren, weil durch die Reaction des Körpers das Gegentheil hervorgerufen wird von dein, wozu er von aussen her i durch die positive primäre Wirkung) gezwungen wird. Dies.- Gegen-
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tlifil min zu der schon vorhandenen Krankheit addtrt, zeigt, dass durch solche Anwendung nothwendig Verschlimmerung des üebels hervorgebracht
werden iniisä.
Es bleibt also gar kein anderer Weg der Anwendung der Arzneien übrig, als der homöopathische, und dass dieser nothwendig zur Heilung fuh­ren müsse, ergiebt sich ganz allein schon daraus, dass der Körper von den Arzneien iinincr veränderbar ist, von den sogenannten krankmachenden Schädlichkeiten aber nicht; denn sonst miissten alle Menschen, da jene Ur­sachen allgemein verbreitet sind, krank sein. Die Arzneien wirken also stär­ker, als die übrigen Dinge Da zwei ähnliche Krankheiten alier nicht zu­gleich im Körper bestehen können, so muss die schwächere jedesmal erlöscht werden; also durch homöopathische Anwendung der Arzneien, als die stär­kere Potenz, jedesmal die durch weniger starke Potenzen hervorgerufene natürliche Krankheit verschwinden. Nur muss die Arzneikrankheit, die dem Wesen nach von der natürlichen verschieden ist, in den Symptomen ihr sehr ähnlich sein. Ohne diese innere Verschiedenheit erfolgt nichts, oder Ver­mehrung des Uebels.
Der Ort der Anwendung der Mittel verdient im Allgemeinen keine be­sondere Wahl; jeder ist gut, wenn derselbe nur mit Tastsinn begabt ist; und der um so besser, welcher am feinsten fühlt. In den gewöhnlichen Fällen verdienen diejenigen daher den Vorzug, die mit einem feinen Epithe­lium überzogen sind, als die Lippen, das Innere des Mundes, die Nase, die Geschlechtstbeile, vor allem aber der Magen und sonst hautlose und ge-schuürige Stellen des Körpers. Nur erfährt jedesmal der Ort, wo man das Mittel anwendet, die Wirkung desselben schneller, als der übrige Körper; und darum darf man, hat man es mit einseitigen und unter diesen mit ört­lichen Krankheiten zu thiin, den örtlichen Gebrauch der Arzneien nicht in Anwendung bringen, indem man sonst das Hauptsymptom der Krankheit früher vernichtet, als die innere Krankheit. Dadurch wird es aber in man­chen Fällen unmöglich, zu beurtheilen, ob das Totale der Krankheit ver­nichtet sei.
Aus der überwiegenden Kraft der Arzneien im Verhältniss zu anderen Krankheitsursachen folgt von selbst, dass man mit ihrem Gebrauche behutsam sein, und nicht mehr anwenden soll, als gerade zur Heilung der Krankheit nothwendig ist. Man kann aber die Gabe so klein wählen, als irgend mög­lich, so muss doch, da die Einwirkung der Arznei eine durchaus notluven-dige ist, stets zu Anfinge eine kleine Verschlimmerung eintreten; daraus folgt, dass fast keine Gube des homöopathisch gewählten Arzne.iaittels
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*o klein sein kann, Uiiss :ie iiiclit noch stärker wäre, als ilic natürliche Knuiklieit.
Uebrigens wird die Wirksamkeit kleiner Gaben noch durch folgende Thatsacfaen Itewiesen:
i) dass sich die Empfindlichkeit des kranken Körpers gegen horaöoiia-thische Arzneien über allen Glauben steigert;
2) dass sich die Wirkung der Gabe durch Verdünnung steigert, indem dadurch eine grossere Anwenduugsdiiclic gewonnen wird;
31 dass raquo;lurch die Tlieilung der Gabe auf mehrere Einnahmszeiteu die Wirkung der Arznei verstärkt wird;
41 dass durch anhaltendes Schütteln und Reiben der Arzneien ihrlaquo;; Wirkung am allermeisten verstärkt wird, und zwar bis zur völligen Auflösung des arzneilichen StolTs zu lauter arzneilichein Geist.
Es wäre indessen doch möglicli, dass ein Kranker nicht zur Genesung zu bringen wäre bei passender homöopathischer Wahl und Gabe einer Arznei. Wenn dies der Fall wirklich ist, so dauert die Krankheit erzeugende Ursache noch fort, und muss diese dann, soll die Ileilinig dauerhaft sein, erst geho­ben werden. Dergleichen Krankheit erzeugende Ursachen sind zweierlei Art:
I) Fehler in der Lebensordnung; 2) selbstständige Uebel. Es giebt aber der letzteren nur drei, und der Anwesenheit eines oder zweier, oderraquo; was seiteuer ist, aller zusammen, liegt jedesmal eine chronische Krankheit zum Grunde. Sie sind:
1) Sycosis, das Feigwarzensiechthum; 2) Syphilis, die Chanker-krankheit; 3) Psora, die Krätze
Nach diesen, bisher dargelegten Grundsätzen müssen alle Krankheiten behandelt werden; nur die sog. plötzlichen Unglücksfälle, als Scheintod durch Erfrierung, Erstickung etc. und Vergiftungen machen hievon eine Ausnahme. Bei den ersteren muss vorerst die Empfindung und Reizbarkeit nach dem Grundsätze: „contraria contrariisquot; wieder in Gang gebracht sein, ehe man weiter homöopathisch verfahren kann. Bei der letzteren aber dürfen ganz unverdauliche oder fremdartige, höchst schädliche Substanzen aus dem Magen oder den Gedärmen durch die Revulsiv-Methode (durch Brech- und Purgirniittel) entfernt werden.
Heim Eingange zur Darstellung der Halme man n'schcu Lehre ist ge­sagt worden, dass dieselbe durch Nachfolger Modilicalioneu erlitten habe. Die bedeutendste, aber auch die wunderlichste ist die durch Lux in Leipzig versachte, welche derselbe Isopathie (gleiches Leiden) nennt. Sie besteht in der Ansicht, dass die Heilung einer Krankheit durch Einwirkung eben
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tleraelbcn otltr üirer Producte, entweder ans demselben oder ans einem an-deren Individuum erzielt werden künue; z. B. laquo;lie kontagiösen Krankheiten dnrcii ihre eigenen ^nstcckungsstoüe, lt;lie Wurmkranlcheiten durch Eiiigel)cii gleicher gepulverter Würmer, die Exuntheme durch eben dieselben, die Ver-hiiliing tier Toihvntli endlich durch Anliegen der Haare des Hundes, der gebissen hat, auf die Unmie des Gebissenen u. S. w. Inzwischen ist gewiss schon mancher nervenschwache Nicht-Isopath durch die blosse Anführung solcher Mittel rasend geworden, oder er hat doch wenigstens gemeint, dass es zum Tollwerden sei. In der That taugen aber solche nervenschwache Herren nicht für das Studium der medizinischen Geschichte. Wie die Wol­ken nicht die Sonne verfinstern, sondern nur den Ort, wohin ihre Strahlen zu fallen gehemmt werden, so können die Ausgeburten des ineiisclilichcii (.ieistes seine giitlliche Abstammung nicht aufheben. Lehrigens sind zum Ucbcrfliiss an der lierlhier Thierarzneischule isopathische Versuche angestellt worden, die sämmtlich ein negatives llesnltat geliefert haben (Med. Zeilg. des Vereins für Heilkunde in Preusseu. Jahrg. 1S34. Nr. 14j.
Eine andere Modification der Homöopathie oder vielmehr der Homöo-therapie besteht in dem Bestreben, sie zu einer spezifisch-ablcitenden Heil-methode zu machen, wie es besonders Herstel (wissenschaftliche Begrün-raquo;linig lt;ler Prinzipien der Homöopathie, Wien IS43 ) thut. indessen be-Lauptet Schnitz, (allgem. Krankheitslehre. Berlin 1844), dass ein sol­ches Unternehmen dem Prinzip H ahne mann's entgegen sei, der seine Me­thode für eine rein empirische ausgegeben habe, die spezifische Heilkunst alier KranklieiU-Spezies voraussetze, die Ha line mann liingnet, und daher die ableitende Wirkung das homöopathische Prinzip nicht begründen, sondern umstossen würde.
Kine weitere Modification der Homöopathie besteht in der Verschieden­heit der Ansichten über die Gabengrösse der Arzneien. In dieser Hinsicht mögen die eigenen Worte Günther's (I. c.) angeführt werden, und zwar zunächst rücksichtlich der Art der Potenzirung der Arzneimittel. Er sagt niimlich (p. 38.): „Zwei Tropfen der reinen, zur Hiilfte mit Weingeist vermischten, aus ansgepressten Planzensäften gewonnenen Arziieiersenz wer­den nämlich zu 'JS Tropfen 80 — 90 Grad starken Weingeistes, und 20 Tropfen der aus trockenen Pflanzen ausgezogenen Arzneitinktur zn 80 Tropfen Weingeist hinzugegossen, und diese Masse durch ein paar abwärts geführte Schüttelschläge unter einander gemischt. Dies beisst die erste Verdiinniing oder Potenz. Ein Tropfen derselben mit 99 Tropfen Wein­geist aid' dieselbe Weise ge. „lit, giebt die zweite Potenz, von tvelchor
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wiederum ein Tropfen mit 99 Tropfen Weingeist die dritte Potenz lie­fert, und sofort bis zur dreissigsten Potenz. Auf äfmliclie Weise wer­den auch die dem Mineralreiche entnommenen ArzneistoiTe anfangs durch allniaiiiige Verreibungen mit Milchzucker in einer porzellanenen Beibschale, von der dritten Potenz an aber durch Potenzirung mit gewässertem (aus gleichen Theilen Weingeist und Wasser bestehendem) Weingeiste bis zur dreissigsten Kraftentwicklung erhoben.quot;
Nach dieser Vorausschickung kann min jene Verschiedenheit der Ansich­ten unter den Homöopathen mit den Worten Günther's (1. c. p. 44.) näher entwickelt werden: „Ganz und gar abweichend von den früheren Ansichten hat sich in neuester Zeit eine Meinung geltend zu machen gesucht, durch welche Hahn emann's merkwürdige Entdeckung, dass ein sehr klei­ner Körpcrtheil, ein Gran, in million- bis drillionfachcr Verkleinerung noch so weit seine Wesenheit behaupten künue , dass er nicht nur eine Reaction, sondern sogar bedeutende Lnistimmung und Veränderung im thierischen le­benden Körper hervorzubringen im Stande sei, eine hinreichend genügende Erklärung findet. Herrn Prof. Doppier in Prag kommt nämlich das Ver­dienst zu, uns anschaulich und begreiflich gemacht zu haben, was bei der Manipulation unserer sog. Arzneipotenziruug geschieht, und wie die drillion-fache Verkleinerung eines Arzneikörpers noch im hohen Grade heilkräftig sein könne. Nach dem Endresultate seiner Erklärung enthält nämlich eine kleine Messerspitze voll Pulver oder ein Tropfen der drillioufachen Ver­kleinerung eine ungeheuere, mehrere hundert Klaftern in der länge be­tragende Menge von Körperflächen des verkleinerten Arzneikörpers, in­dem deren Zahl bei jeder neuen Verreibung verlülltnissmässig bedeutend zu­nimmt. Da nun, seiner Meinung zufolge, eben von den Körperflächcn oder Berührungspunkten des Arzneimittels die Heilwirkung desselben abhängt, so muss natürlicher Weise ein einziger Tropfen der dreissigsten Verkleinerung eine weit stärkere Reaction hervorbringen, als mehrere Tropfen einer niedri­gem Verkleinerung. Die hohen Potenzen unterscheiden sich daher von den niederen blos hinsichtlich der Quantität der in ihnen enthaltenen Körpcr-ilächen des Arzneimittels, nicht aber der Qualität nach, wie viele behaupten, so dass wir folglich den beabsichtigten Heilzweck mit demselben glück­lichen Erfolge mit der ersten, wie mit der dreissigsten Arzneibereitung erreichen müssen, wenn wir nämlich von jener, welche viel weniger berüh­rende Kürpcrllächen enthält, viel grössere, massivere und öftere Gaben dein Kranken reichen, als von dieser; eine Wahrheit, welche tue Erfahrung bereits hiulauglich bestätigt hat, indem sowohl die Vertheidigcr der dreissigsten Potenz
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(AI tiuiliiieiiuinn ian er genannt) als auch diejenigen, welche den niederen Potenzen das Wort reden (G ri esse lie hi an er), sich auf gemachte Erfah­rungen und glückliche Resultate berufen. So können wir z. 13. seihst mit dem rohen unvernebenen Schwefel etc. eben so gut homöopathisch heilen, als mit einer hohen, oder selbst der höchsten, bisher üblichen Potenz des­selben .Mittels, nur mit dem Unterschiede, dass wir in dem ersten Falle massivere und öftere Gaben dein Kranken verabreichen müssen. Diese Verschiedenheit ist aber nach Doppier keineswegs dem Umstände zuzu­schreiben, dass in dem rohen, unpotenzirten Arzneikörper die Arzneikraft unentwickelt verborgen liegt, wie man bisher allgemein geglaubt hat, und erst durch das Potenziren frei und wirksam gemacht werden muss (indem wir, wie gesagt auch die rohen Stoli'e eben so gut heilkräftig und wirksam finden), sondern rührt einzig und allein daher, dass die rohen Arzneikörper dem Organismus weniger Arzneidächen und Berührungspunkte darbieten, als die nach Hahnein arm's Vorschrift bereiteten Arzneistoffe.quot;
Aus der Darstellung dieser Modification der Hahneman n'sehen Lehre oder des sog. G riessei ich ianism us, der freilich in mehreren Punkten nicht weniger Unbegreifliches für einen Allopathen hat, als der A 1thahne­in a nnism us, wohin z. 13. die unterhaltene antimathematische Behauptung gehört, dass ein Theil grosser sei, als das Ganze, wobei es Einem allerdings ein wenig grieseln muss; — wir sagen, dass man aus jener Darstellung einsieht, wie die Juri gh ahnemannianer sich der rationellen, mit relativ-grossen Arzneigaben operirendeu Medizin ein wenig nähern, und daher, wie ein deutsches Sprichwort sagt, „Kleinbeigeben.quot; Und so steht auch zu hoffen, dass einst die jüngsten Hahnema nnianer noch ehe der jüngste Tag anbricht, — den von ihren Vorgängern erfundenen, übri­gens nicht schlechten Witz, wonach die Bezeiclmng „rationelle Heil-kunstquot; nicht von „ratio, Vernunftquot;, vielmehr von „Pferderationquot; abgeleitet werden müsse, zurücknehmen, oder doch mindestens in dem Maasse wie sie die Arzneineigaben vermehren, denselben veriniiidern werden.
Die jüngste Form des Hahnema n nisin us ist die Palin g enesith e-rapie des Dr. Ott (theoretisch-praktisches Handbuch der Palingenesithe rapie. München 1851).
Die Pal i ngenesie (Wiedergeburt) des Dr. Ott einigermassen zu characterisiren, werden die eigenen Worte dieses neuen Sectirers , welche er beim Anfange und Ende des I.Thls. seines Werkes ausgesprochen hat, die­nen können. Er sagt im Vorwort: „Mit der Entdeckung des natürlichen Heilpiiuzips „similiu raquo;imüibusquot; begann die glückliche Reform tur die
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praktische Heilkunst. Dieser oberste Heilgrumlsatz erweckte jene segenvolle Praxis, womit sich mit allem Rechte die Homöopathie zu rühmen hat. Bis zur Stunde aber blieb dieser Grundsatz mir auf den Gebrauch der Arznei-inittel angewendet, und hat daher noch noch nicht jenes segenvolle Wirken gebracht, welches wir von der Zukunft dann zu erwarten haben, wenn wir ihm eine reichhaltigere Ausdehnung fur unser ärztliches Wirken geben. Die unumstössliche Wahrheit der Entdeckung Hahnemann's Hess mich indess nicht eher ruhen, bis ich durch unermiidete Forschungen und Versuche da­hin gekommen war, diesen Grundsatz nicht nur der Hydriatik, sondern selbst dem diätetischen Theile der Heilkunst, d. i. der Gymnastik, Nahrungs-Ulittellehre und alle den Zweigen der Kraokenbebandlung, welche man ge­wöhnlich mit dem gemeinsamen Namen „Krankendiätetikquot; bezeichnet, erfolgreich zu unterbreiten und das Ganze auf eine praktisch - pathologische Ueberzcugung und eine tinumstössHche wahre Physiologie zu gründen. Ich fand gar bald, dass sich Alles auf den obersten Grundsatz der Homöopathie zurückführen lasse, und nichts als richtig und unbezweifelt feststehend be­trachtet werden könne, das nicht dieses oberste Heilgesetz „similia similibusquot; zur Unterlage hat. Der ununterbrochene Stoffwechsel, die ewige Erneuerung der Materie und Kraft, der stete Kampf des Organismus mit dein Che­mismus: die Grundlage der Gesundheit und der Ausscheidung von Krank­haftem und Unbrauchbarem als das Ziel aller Heilbestrebungen der Natur und Kunst, kann nur durch Mittel, arzneiliche oder künstliche, natürliche oder diätetische, dann möglichst schnell erzielt werden, wenn dieses Prinzip in Anwendimg kommt. Die Kunst, nach dieser Ueberzeugung die Praxis zu üben, ist jene, welche ich die Gener ation s - Theorie nenne, und deren Grundlinien diese Schrift enthält. Ich masse mir durchaus nichts Anderes an, als der Anwendung des obersten Heilprinzips eine grössere, meiner prak­tischen, physiologischen und pathologischen Anschauung entsprechende Aus­dehnung gegeben zu haben. Wer nicht Homöopath und nicht Hy-Jriatiker ist, kann sich nicht rühmen, Arzt zu sein, und nur wer heikles ist, hat Hoffnung palingenetis eher Arzt zu werden. Wenn ich in dieser Schrift von Hydriatik spreche, so verstehe ich darunter nicht jene Wasserheilung, welche Oertel, Priessnitz u, A. übten und üben, auch nicht jene Heilart, die man gewöhnlich nur die Behandlung mit kaltem Wesser nennt, sondern ein Heilverfahren, welches sich aus dieser Me­thode bis auf den heutigen Tag zur höheren physiologischen und pathologi­schen Heillehre ohne Arznei heransentwickelte, und das man, um mit dem
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JVliiiicliencr hyJropatbischen Verein zu reden, das Naturheilverfahren ohne Arznei nennt.quot; *)
Am Schlüsse seines Buches sagt der Verfasser folgendes: „Die von mir dargestellte Behaudhmgsweise ist #9632;von weit höherer I5c-deutnng als man bei flüchtiger Betrachtung glauben sollte. Eine richtig ge­leitete palingenetische Behandlung ist über alle übrigen Bchandlnngsvveiseii weit erhaben; sie bietet die höchste Sicherheit in akuten Krankheiten, und in chronischen Leiden überall da Hülfe, wo schon alle Hofinung zur Wieder­herstellung aufgegeben ist. Ich will hiermit nicht behaupten, als könne man durch sie Unmögliches möglich machen, so zu sygen Wunder wirken, z. Blaquo; ein erweitertes Herz verengen, entartete tuberkulöse Lungen und eine skir-rhöse Leber zur Normalität zurückführen, nein, dies wollte ich durch Obiges nicht behaupten-, wohl aber kann ich durch eine 26jährige Erfahrung, ge­sammelt auf dem Felde nüchterner Beobachtung und durch gründliche und vorurtheilsfreie Prüfung der allöopathischen, homöopathischen und hydropa­thischen Behandlung überzeugt, im Allgemeinen diese meine Ueberzeugung nach Analogie des 0. Aphorismus (Append.) des Hippocrates auf folgende Weise aussprechen: Quae alloeopathia non sanat, ea homoeopathia sanat; quae liomoeopathia non sanat, ea hydropathia sanat, quae hydropathia non sanat, ea palingenesitherapia sanat; quae vero ars palingenetica non sanat, ea in-sanabilia reputari oportet.quot;
Die Allöopathen, welche bei dieser Lockspeise noch nicht anbeisseu wollen, mögen sich Das zu Gemüthe führen, was der palingenetische Arzt über sie und ihre Kunst denkt und (S. 77) sagt: „Gift ist Alles zu nennen, was nicht nährt und heilt, wohl aber plötzlich oder allmälig verdirbt oder
') Zwischen Bydriat oder Hydnatiker und Hydropath pflegt mau so zu un­terscheiden, dass man unter jenem den wissenscliaftliclien, vorurthcilsfrcien Wasserarzt, unter diesem aber den blinden und loidcnschafiliclirn Wasscr-bold zu verstellen hat. Die Hydropathie konnte begreiflicher Welse mir auf menschenärztlicliem Gebiete Wurzel lassen, nicht aber auf thlciärztli-chein, indem die Thicre sieh in der llcgcl satt Wasser saufen: die Menschen aber wollte man durch den häufigen Gebrauch des Wassers zam Naturzu­stände zurückführen und den sündhaften materiellen Schlamm aus ihrem Körper spülen, üebrigens macht der verständige Xliierarzt einen häuügen Gebrauch vom Wasser; und ist in dieser Beziehung die uniffasseiide Ab­handlung; Kreuzer1raquo; in dessen Ceutralzeitunsr l. Jabrjj. zu beachten.
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gnr tödtet , wie dies immsr geschieht, wenn Arzneien durcli langwierigen Gebrauch endlich Verderben erzeugen; sie sind scliieichende Gifte. Es ist hieraus ersiclitlicli, ilass die Ueilkunst zur lizcnzirtcn Giftpraxis werden kann und ilass unvorsichtige und schleclite Allüopathen das „pe rsoni fizir te a-qna To fan aquot; sind,
4) Die Lehre Schultz's.
Dr. Carl Heinrich Schnitz Schultzenstein Prof. an der Univer-sität zu Berlin, hat bereits in einigen seiner frühereu Schriften Aimeutungen zu einer neuen medizinischen Theorie gegeben , indess dieselbe bestimmter entwickelt in seinem Buche: Leber die Verjüngung des menschli­chen Lebens -etc. Berlin 1S42., welches seither die 2. Aufl. erlitten hat, laquo;lann in dem Lehrbuch der allgemeinen Kran khe its lehre, Berlin 1S44, ferner in seiner allgemeinen Pharmakologie; jedoch hat derselbe seine Lehre, namentlich ia Beziehung auf die Therapie noch nicht in der Art ft.r-rmiUrt, dass wir seine Ansicht klar und umfassend zu reproduziren vermöch­ten. Das Folgende möge zu unserm Zwecke genügen, zumal da die Theo­rie bisher weniger gangbar geworden ist, als sie es zu verdienen scheint, inso­fern sie eine wahre organische Basis hat, da sie das Leben fn Gesundheit und Krankheit von Innen heraus, und nicht mit einseitigen inechanischeu, physikalischen oder chemischen Prinzipien zu erfassen strebt.
Schultz sagt (Lclirb. d. allg. Krankheitslehre p. 70. ff.): „Die Krank­heit ist ein Streben des Lebens zum Tode. Es fängt vom gesunden Leben an, und durchläuft von da aus alle Stufen der Veränderung bis zum Tode. Es ist der Tod im lebendigen Leib des Menschen fnecrobiosis), der Todes-prozess geht von einzelnen Organen oder Functionen aus, während die übrigen mehr oder weniger in den Kreis der Thätigkeiten hineingezogen werden, ohne gerade im Todespi ozess begriffen zu sein, wobei aber auch ihre Actio-nen eigeiitliiimlithe Richtungen erhalten, indem sie sich gegen den Todes-prozess wehren und gegen ihn ankämpfen. Es sind also hier wahre Krank-heits-Elemeiite in Wechselwirkung. Der Todesprozess fängt mit einer Ver-inindernng oder Beminnng der Lebenserregung an, die nach und nach bis zum völligen Erlöschen sich steigern kann. Darin ist zuerst die Störung, das Leiden der kranken Functionen, begründet. Diese verhalten sich passiv, werden vom Todesprozesse überwältigt. Sekretionen hören auf, Muskeln cr-matten, Empfindung schwindet. Obgleich diess Leiden ursprünglich örtlich ist, so kann es sich doch sympathisch ausbreiten, und sich auf andere Organe fibertragen. Dies? kann man die Lebensaullosung nennen. Damit tritt aber
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liorror, lt;lnss mit lt;ler Lebens- und Forniaii(Iö-;iing dor Organe die cbemische Zersetzung der Stoife beginnt, wodurch sich auch ein aktiver Destructions-Prozess ausbilden kann, laquo;ie wir dies in Nervcnfiebern so häufig sehen. Das Leben weicht hier der vortretenden Stoffbildung und der chemischen Ver-m-imltschaft. Die gesunden Organe bleiben gegen das Leiden nicht iiutliiitig, sondern reagiren dagegen, um den Tod von sich abzuwehren. Dadurch entsteht der Kampf, wodurch z. B. Fieber, Krämpfe als Aufregung gegen den Todesprozess entstehen. Jede Krankheit ist ein Kampf zwischen Leben und Tod, worin aber der Tod eben so gut als das Leben überwältigt wer­den kann. Der Wehrprozess selbst kann also in Todesprozess umschlagen. Leben und Tod laufen in der Krankheit in Aufregung aneinander hin. Spuren der Gesundheit bleiben bis zum Tode; Spuren des Todes bleiben bis zur Genesung. In dem Wehrprozess kann man zweierlei unterscheiden: a) Den Kampf der organischen Form mit dein vortretenden chemischen Stoff. Die Krankheit ist hier der Assimilation entgegenge­setzt; in der Assimilation wird der Stoff in organische Form assimilirt; im Todesprozess die organische Form wieder in Stoff aufgelöst, die Form von dein Stoff wieder dissimilirt Die wahre Assimilation und Ernährung wirkt fäulnisswidrig, hält den Stoff durch die Form gebunden; durch Krankheit schlägt die Formbildung in chemische Zersetzung um. Die Krankheit zeigt sich darin dem Organisiren entgegengesetzt, dass sie formauflösend, zerfres­send oder erstarrend wirkt, b) Kampf der Lc benser regun g mit der chemischen Verwandtschaft. Der lebendige Tonus weicht der chemi­schen Zersetzung. Hierin liegt der Begriff der kranken Solbsterregunig z. B-im Blute durch die Anhäufung von MauserstoliVn, die sich mit in die Bil-dnngen übertragen. Die Aufregung der organischen Action gegen die vor­tretende chemische Thätigkeit bildet dieselben, die wir besonders im Blute stark hervortreten sehen. Gewöhnlich läuft hier das Erscheinen der SloII-bildung mit der vortretenden chemischen Verwandtschaft, und das Erscheinen der Formaudösung mit den Zuständen der Erregung parallel, und der Kampf geschieht zugleich zwischen Form und Stoff, zwischen Erregung und chemi-cher Verwandtschaft. Indessen sehen wir auch eine relative Isolirung beider, ein üeberwiegen der einen oder der andern Seite, wo dann im Zellgewebe sich oft bedeutende Stoffiimwandlungen ohne besondere Erregnngs-Verände-rimgen finden, was im Blute z. B. nicht geschehen kann, so vie wir auch oft im Nervensystem bei geringer Formanfiösung bedeutende Reactioneo der Erregung sehen. In dein Kampf entstehen oft Abweichungen der normalen Erregung und Bildung, ohne die Richtung zum Tode zu haben: Wucher-
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migfii, Geschwulste, Afterliildungcn, AJienationen der Respiration, Circulation. J)pr Strom der Lcbenserregmig tritt gegen die Hemnmng nach allen Seiten über und oft sind die Phänomene der Metamorphosen mehr hervortretend, als der Todeskampf selbst, wie in den BiidungsaWeicbongen, worin überall laquo;lie Bildnngs- und Mauserplastik verschmelzen. Zur Einheit und Individua­lität tier Krankheit gehören also sehr vielerlei unter einander in Wechsel­wirkung befindliche Thätigkeitcn. Die wahre Krankheits - Individualität ist der Kampf, laquo;lie Einheit der streitenden Parteien mit Allem, was dazu gehört: tlen*chemischen und unorganischen Phänomenen, laquo;1er Gesundheit und laquo;lem Tode im Körper. Der Körper hat nicht nur eine in ihm wohnende Krank­heit, sondern er ist selbst krank. Nach der naturhistorischen Ansicht müss-ten die äusseren Krankheitsursachen die schädlichen Potenzen wesenlliche Factoren in dem Krankheitsprozess selbst sein. Uieses ist aber nicht laquo;1er Fall. Die Factoren der Krankheit liegen im Körper selbst. Die Krankheit kann daher auch gasz von innen heraus entstehen, durch ein Zerfallen lies Lebens einzelner Organe in sich selbst, ohne alle directe äussere Veranlassung, was am auflallendsten in den sogenannten Entwickelungs-Krankheiten, die immer erst in gewissen Jahren erscheinen, ist. Hiermit hängt zusammen, dass die verschiedenen Actionen (Symptome der Krankheit!, nicht äusserlich und zufällig zusammengehäuit sind, sondern sich aus der Einheit des Krank-heitskampfes entwickelt haben. An dem Wachsthum der Krankheit müssen wir zweierlei unterscheiden, a) Die Steigerung des Todesprozesses in laquo;lern kranken Thcil und b) laquo;lie Verbreitung der Krankheit von einem Organ auf mehrere. Dieses ist von dem Wachsthum organischer Körper etwas ganz Verschiedenes. Es ist in beiden Fällen ein Wachsthum des Todes, d. i. laquo;ine Auflösung des Lebens. Der Wachsthum organischer Körper ist eine Formzunahme; der Wachsthum der Krankheit ist eine Formzerstörung. Was wir Zeugung und Fortpflanzung der Krankheiten nennen, ist nur eine Zeu­gung des Todes. Die Krankheitskeime sind in chemischer Zersetzung be-griffene Stoffe: Die Lebenskeime sind organisirte Formen. Wenn wir also von Zeugung der Krankheit sprechen, so können wir diese nicht durch Ana­logie der gesunden organischen Zeugung erläutern, vielmehr kommt es hier darauf an, zu verhüten, laquo;lass laquo;lurch solche A'ergleiclnmgcn das Verschieden­artige identifizirt werde. Wir müssen vergleichen und unterscheiden. Die Krankheit ist also kein Schmarotzerleben, und laquo;lie naturhistorische Ansicht allein kann uns laquo;las Wesen der Krankheit nicht ergründen.quot;
Wie Schultz über die Therapie mit Arzneimitteln laquo;lenkt, möge Fol­gendes darthun. Es scheint, dass rs nach ihm gcrathener ist, alle Heilver-
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jndie mit Arzneien aufzuschieben, bis eine bessere Pbarmakodynamik auf­gestellt worden. Indessen werden viele Kranke sagen: Hclf, was helfen mag, wenn auch zur Zeit noch keine Einsicht in die Wirkungsweise nach der Theorie Scbnitz's zu gewinnen ist. Ich fürchte, dass die Systematiker es so weit bringen, dass die Kranken am Ende zur Ueberzeugung gelangen, dass es am besten sei „es gehen zu lassen wie es Gott gefällt,quot; als unter einer Theorie daliin zu sterben, wie sie dem Arzte gefällt. — Schultz sagt, in der gedachten Beziehung (1. c. p. XXIV.):
„Die Traditionen, welche wir über die Wirkung der Arzneien gegen bestimmte Krankheiten besitzen, reichen nicht hin, zu bcurtheilen, wie da­durch die Heilung zu Stande gekommen, um unter veränderten Umständen sich derselben Mittel wieder bedienen zu können. AVir sind alsto auf be­stimmtere Beobachtungen und Versuche hingewiesen. Diese setzen aber eine gründliche Keimtniss der Physiologie voraus, und es kommt dabei auf den Zustand der Physiologie Alles an, wenn dergleichen Versuche irgend einen Werth haben sollen. Wir bedürfen einer natürlichen, organischen Physiologie. Einer chemischen Physiologie entspricht eine chemische Arzneiwirkungslehre, bei der aber der wahre organische Kern der Wirkling, ebenso wie in der chemischen Physiologie der lebendige Kern der Functioncn ganz übersehen wird. Was nützt es uns also, dass chemische Empiriker, die keine Kennt-uiss der Physiologie besitzen, Versuche über chemische Arzneiwirkungen an­stellen? Das lebendige Blut, dieser ewige Durchgangs- und Mittelpunkt fast aller Arzneiwirknngen, wird von dem Chemiker am wenigsten in seinen leben­digen Verhältnissen erkannt, und diese wollen uns über lebendige Arznei­wirkungen belehren. Die chemische Versuchsmacherei bringt uns um keinen Schritt weiter. Man denke nur an den Zweck der Arzneiwirkungen, daran, dass sich der Mensch dadurch aus der Krankheit organisch verjüngen soll, und sofort wird man die Unvollkommenheiten der chemisch-empirischerlaquo; Arz­neilaquo; irkungslehre erkennen. Die dynamische Theorie der Arzneiwirkungen verschwindet in der chemischen Materialität, und so wird, was man von al-terirender, reizender und schwächender Wirkung nebenbei sagt, sogleich wie­der auf den chemischen Stoffwechsel bezogen; man spricht von chemischen Verbindungen der Arzneien mit Eiweiss, mit den Geweben, wo nur der or­ganische Fonnwechäel und die organische Erregung die Wirkung aufklären. Ueber die Wirkimgsart der wichtigsten Arzneien: Die Wirkung des Queck­silbers, Spiessglanzes, der metallischen Mittel überhaupt, des Opiums, der Narcotica sind wir nach der bisherigen Theorie ganz im Dunkeln, und können nicht direct in's Reine kommen, bevor wir nicht von einer soliden
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organischen Physiologie dabei ausgehen, lt;iie allen Versachen zu Grunde He­gen niuss. Welche Wirkungen haben die Mittel auf die beiden Verjungnhgsakte, auf den Bildungs- und auf den Mauserpro-zess? Das werden die Fragen sein, die wir zu lösen haben, wenn wir ei­nen Kranken zur Genesung führen, d. i. die Verjüngung der kranken Func­tion herbeiführen wollen. Wir können den Kranken chemisch nicht verjün­gen ! Die chemische Qualität der Arzneien ist eine Bildung ihrer Wirkung, aber nicht die organische Wirkung selbst, ebensowenig als die Lebensbe­dingungen das Leben selbst sind.quot;
Aiimerk. Nfichdem dieses Manuscript bereits zum Druck vorbereitet war, ist von Scb iil tz-Silin Itzcnstein erschienen: Die natürlichen Familien der ICraukheiten, und die diesen entsprechenden Heilmittel, mit be son derer Kficks ich t auf das natürliche System der Pbai ma-kologic und die allgemeine Krankhe i tslehre.quot; Vielleicht würde es uns iniifjicb gewesen sein, die Ansiebten Schultz1 s besser zu entwickeln, wenn wir diese Schrift quot;elosen hätten.
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Drilles Kapitel.
Der Einlluss der med iz i nisehen Theorien auf die Tbicrb eil k u u s t.
Es ist nicht die Absicht liier eine Untersuchung über den Einflnss an­zustellen, welchen die medizinischen Theorien seit ihrer Entstehung im grauen Alterthum auf die Tbierbeilknnst ausgeübt haben, und wenn auch diese Ab­sicht vorschwebte, so wäre sie insofern unmöglich zu erreichen, als die Ge­schichte uns über den Zustand der Thierheilkunst bis zum 4. Jabrh. n. Chr. G. im Dunkeln lässt, und nur aufgezeichnet hat, dass damals schon Thier-ärzte und sogar Lehrer der Thierheilkunst vorhanden gewesen sind. Ob­wohl von dieser Zeit bis zum 15. Jahrhundert es mit der Thierheilkunst nicht viel schlechter bestellt war, als mit der Mciisclienheilkmist, so war die erstere doch meist in den Händen von Landwirtben, Stallmeistern und .quot;n-dern Dilettanten, und hatte dieselbe damals keinerlei Einflnss von der Medi­zin erlitten, vielmehr schritt sie auf ihrem eigenen empirischen Wege weiter. Einzelne Thierärzte dieser Zeit haben uns achtuugswürdige Zeugnisse ihrer zeifgemässen Gediegenheit hinterlassen, unter diesen Apsyrtus, Mic­ro des, Hippocrates (nicht zu verwechseln mit dem Menschenarzte) und Theomnestus, Jordanus Buffus und Laurentius Rusius. Vom 13. Jahrhundert ab bis zum 18. blieb die Thierheilkunst weit hinter tier Medizin zurück; sie führte nur noch ein kümmerliches Leben unter den
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Häiuien von Schäfern, Schmieden, Abileckern und Dilettunten ans liöhercn Kreisen, auter denen die Stallmeister wiederum die erste Stelle einnahmen. Als aber seit dem Anfange des IS. Jahrlmnderts durch die Noth der Vieh­seuchen dazu aufgefordert, Aerzte wie fiamazziiii, Laneisi, Caiiii)er u. A sich mit der Schriftstellerei auf thierarztlichem Gebiete beschäftigten, da lässt sich denken, duss sie diess auch unter dem Einflüsse der tlainaligeu medizinischen Theorien tliaten. Von eigentlichen Thierärzten, so wie von einer selbstständigen thierärztlichen Literatur war damals keine Spur mehr vorhanden, und insofern haben die damaligen Aerzte sich ein Verdienst um die Kultur der Thierheilkunst erworben.
Erst seit der Gründung der Thierarzneischulen (1762) beginnt eine selbstständige thierärztliche Literatur, einen bedeutenden Einflnss auf die gegenwärtige Zeit ausübend, hervorzutreten, mehr aber mit den durch Beo­bachtungen und Versuchen gewonnenen Erfahrungen, als mit dein jeweiligen, der Medizin entlehnten theoretischen Gewände.
Waldinger, unter dem Einflüsse drr chemischen Theorien des letzten Viertels des vorigen Jahrhunderts und des Anfangs des gegenwärtigen le­bend, hat daher auch diese für seine Schriften ausgebeutet, und die Jatrochemie besonders in seiner „Therapie etc. 2 Bde. Wien 1813quot; auf die Spitze getrieben.
Der reine B ro wn ianismus scheint nirgends die thierärztlichen Thoorien bestimmt zu haben; dagegen reicht der moilifizirte bis auf unsere Tage, auf unser Gebiet Einflnss ausübend. Am meisten nähert sich Laubender (Theoretisch praktisches Handbuch tier Thierheilknnde. Erfurt ISÜ3) dem reinen Brownianismus; doch nennt er seine Theorie eine auf Naturphiloso­phie zurückgeführte Erregungstheorie. In Lebereinstimmnng findet sich Lau bend er mit Brown, indem er das Leben als einen erzwungenen Zu­stand ansieht; im Gegensatz aber mit demselben, indem er dem Organismus Reaction auf die Einwirkung von Reizen und überdies auch den verschie­denen Organen ebenso verschiedene Energien beilegt.
J)ie Lehre Razori's, ein Ausläufer tier Brown'schen Theorie, scheint die Grenzen Italiens nicht überschritten zu haben; hat aber die da­mals in diesem Lande aufgetretenen thierärztlichen Schriftsteller vollständig gefesselt.
Der andere Ausläufer der Lehre Brown's, die Theorie des Bruussais, hat im Lande ihrer Geburt vorzüglich die Thierärzte: Girard d. S., Ro­det, Vatel, d'Arboral und Auzel eingenommen, und trugen diese zur Anerkennung jener Theorie in weiteren Kreisen am meisten bei. Delaf'oud
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(Traitlaquo; tie Thamp;apeiltique namp;iinde vet er., I'mi.* IS43) •'quot;gt in du-spr Be­ziehung (lere purtie p. 141) laquo;lass inun damals in den Krankheiten der Thiere fast nichts als Gastroenteritis, Irritationen mid Inflaimnationeu gesehen habe, auch seien die örtlichen und allgemeinen Aderlässe zur Be-kampfung dieser Zustünde an der Tagesordnung gewesen. Glücklicherweise aber habe die Möglichkeit, die Thiere gleich nach dem Tode secireu zu können, den beobachtenden Tfaierärzten die Augen geöffnet, indem sie sich überzeugt hatten, dass die Gastroenteritis nicht alle Krankheiien aus­mache, wie es Broussais angab, dass vielmehr eine grosse Zahl derselben nicht ansschliesslich in den festen Theilen beruhe, sondern, dass auch die flüssigen Theile urspsünglich ergriffen sein können; endlich auch, dass mau nicht im Stande sei, viele Krankheiten unter den Haussäugethieren, nament­lich unter Bind- und Schafvieh mit der anthiphlogistischen Methode zu be­kämpfen, [ndesa gesteht Delafond dem Broussaismus auch einen gi.-ten Einfluss zu, indem er den damals in den Tbierarzneischulen Frankreichs gangbaren Piuelismus gestürzt habe, insbesondere die monströse Lehre vom essentiellen Fieber, so wie den niordbrennerischen Gebrauch von Pur-ganzen u. dgl. Einen anderen guten Einfluss habe der Broussaismus da­durch gehabt, dass er die Furcht vor dem Aderlass in Congestionen und Eulzündimgen verscheucht habe, da jetzt derselbe mit dem ganzen antiphlo-gistischen Apparate, nach Maassgabe der Congestionen und Entzündungen, nach deren Sitz und dem afficirten Gewebe in Anwendung gebracht werde. Durch eine Amalgamation der Lehre brown's, Razori's und Brous­sais's, unter Zusatz von etwas Zünd- und Brennstoff, ist ein neuer Regu-lus an der Wiener Thierarzneischule in dem von Hayne begründeten und durch 151 ei weis verbreiteten und ausgebeuteten Systeme hervorgegangen. Als Hauptsätze dieser Lehre werden (Praktisches Heilverfahren von Dr. Johann Bleiweiss etc. 4. Aufl. Wien 1847) folgende angegeben:
1)nbsp; nbsp;„Nur fünf Punkte sind es, die als Leitfaden zur vollständigen Er-kenutniss einer jeden Krankheit führen, und wieder fünf Punkte sind es, die als Leitfäden bei der Behandhing aller Krankheiten dienen. Also zweimal fünf! Darin liegt mit wenigen Worten laquo;las grosse Geheimniss, um in kurzer Zeit ein guter praktischer Thierarzt zu werden.
2)nbsp; nbsp;„Die fünf Punkte, die zur vollständigen Erkenntniss fuhren, sind folgende fünf diagnostische Fragen , die der Tbicrarzt-, wenn er zu einem kranken Thiere kommt, immer an sich stellen niuss, und durch deren mehr otler weniger vollständige Beantwortung er zu einer mehr oder weniger ge­nauen Erkenntniss der Krankheit gelangt. Sie gelten für die Erforschung
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jrdoi Krankheil, ob ilicso min cnlwrdcr 7,11 dm soponannten sporndisrliru frier zu den seuchenartigen gehört. Sie sind der Schlüssel, der dem Thicr-nrzle die Liusicht in das Wesen der Krankheit öflnet, und ihm das grosse Grlieimniss: Erkennlniss der Krankheit, cntliüllt.
..Diese fiinf diagnostischen Fragen sind folgende:
a)nbsp; nbsp;,,Wer leidet oder wer ist krank? 1). h. welche Thiergattuug, von welchem Alter, Geschlecht, Ra^e, Temperament und von welcher Organisa­tion, entzündlicher oder fauliger? Durch letztere, nehmlich die Organisation des Thieres, wird der Character der Krankheit bestimmt, ob er entzünd­lich oder faulig.
b)nbsp; nbsp;„Wo ist der Sitz des Leidens? d. h. welches Organ oder welche Organe sind die vorzüglich leidenden? Sind es mehr die Organe der Bil-(luiifjf, Bewegung oder Empfindung, und welche darunter leiden vorzüglich, zuerst, zutiäcbst und am meisten, und welche nur seeundär oder in Folge des Hauptlcidens? Zur Feststellung der Diagnose in Bezug auf den Sitz der Krankheit ist in einigen schwierigen, nicht deutlich ausgesprochenen Fällen, die Bestimmung: welche Organe nicht leiden (Diagnose durch Ans-schliessungl nothwendiglaquo;
c)nbsp; nbsp;„Wie leiden die ergrilJencn Organe? D. h. welches Grundleiden lt;-dei welcher Krankbeitsprozess (JBIatcongestion, Entzündung oder ein oder der andere Entzündungsübergang') ist zugegen? oder findet erst Reaction gegen die feindliche Einwirkung, noch ohne erstgenannte Grundleiden statt?
t\) „\Vic gross ist der Grad und der lndang des Leidens? 1). h. i.-t das Leiden im geringen, mittleren, hohen oder höchsten Grad zugegen? Ist es auf einen kleinen Umfang beschränkt oder aber mehr ausgebreitet, mit verschiedenartigen anderen Leiden vergesellschaftet, ein nur ganz örtliches (fieberloses) oder ein allgemein gewordenes (fieberhaftes) Leiden? Befindet sich dieses im Stadium des Anfangs, der Zunahme, Höhe, Abnahme, Becon-valeScenz. 1st vielleicht eine Wiederholung derselben Krankheit in der niim-lichen Form, ein Rückfall, eingetreten.
e) „Warum ist laquo;las Thier erkrankt? 1) h. welche vorbereitende, Ge-1 genheits- und nächste Ursachen haben die Krankheit veranlagst^
:?) „Das Leben des Thieres ist durch fünf äussere Einflüsse, als Licht, Luft, Wärme, Feuchtigkeit und Nahrung bedingt; man nennt sie desswegen Lebensbedingungen.
4) ,,Fs giebt im lebenden Thierreiche keine ganz vollkommene Oesunlaquo;!-li'-ii, keinen echten Normalzustand und keine ganz normale Organisation, die ohne Fehl und Mackel als Vorbild der Gattung gellen könnte-, jede ist
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entweder mehr oder weniger entzündlich oder faulig, und beide sind voi-Eiiglicb duicli den unterjochten Zustand unserer Hmistliiere begründet, weil ihnen das rechte Maass der Lebensbedingungen, an wquot;lciies sie von lt;ler N;i-lur angewiesen sind, in diesen Verlüiltnissen nicht zukommt.
„5) Uebermass an Licht, reiner atmosphärischer Luft und guter kohien-stoffiger Nahrung, sowie Beschrankinig der Feuchtigkeit und Wanne macht entzündliche Organisation (Vorwalten des Brennstoffes), das Gegentheil lt;la-von, nämlich Mange.: an Licht, reiner Luft und guter Nahrung, so wie Ueberfliiss an Feuchlgkeit und Wärme macht faulige Organisation (Vorwal­ten raquo;Ics Zündstoffes).
,,#9830;•) Die entzündliche Organisation gibt sich aquot;) bei der Untersuchung des Biidungslebens durch Straramheit, Dichtheit und Festigkeit der eygani-laquo;clien (Gebilde und besonders sichtlich durch dichten, festen Bau der Mus­kelfaser und des Zellgewebes zu erkennen; im Blute ist tue Neigung zur Gerinnung vorherrschend; b) bei der Untersuchung des Bewegungslebens zeigt sich eine vorwaltende Zusainmeriziehung in allen Bewegungsorganen, und weil das Herz als das erste und oberste Bewegungsgebilde den sicher­sten JMassstab dieser Lebensseite abgibt, durch Unfnldbarkeit des Herzschla­ges; und endlich c) im Empfindungsleben ist eine beschränkte Empfindlich­keit zu erkennen. — Die faulige Organisation zeigt gerade das Gegentheil in allen drei Lebensseiten: a) Schlaffheit und lockeres Getüge der feston Theile , im Blute grosse Neigung zur Trennung in seine nächsten Bestand-theile; b) vorwallende Ausdehnung in der Bewegung, daher Fühlbarkeit des Herzschlages und c) gesteigerte Empfindung.
„7) Wenn mau aber von der fauligen Organisation, vorn fauligen Zu­stand und fauligen Fieber spricht, so darf man nicht glauben, als ob der thierische Organismus in diesem Zustande zu faulen anfinge; denn eigenl-liche, allgemeine Fäulniss ist beim Leben der Thiere unmöglich; sondern man will mit dieser Benennung nur den obigen Zustand der Schlaffheit und Schwäche, das Vorwalten der expansiven Bewegung 11. s. w. bezeichnen, weil man keinen anderen besseren Namen dafür hat, ebenso wenig wie für laquo;ien entzündlichen Zustand, das entzündliche Fieber und die entzündliche Organisation, obgleich Jedermann weiss, dass man unter Entzündung kein gewöhnliches Brennen oder Verbrennen versteht.
„8J Entzündliche Organisation des Thieres ist aber noch nicht Entzün­dungslieber und faulige Organisation ist noch nicht Faulfieber; daher nicht mit einander zu verwechseln. Denn die entzündliche oder faulige Organisa­tion, olntc ein örtliches Leiden, ist noch nicht förmliche Krankheit, sondern
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nur die jedem Thicre eigentliümliche Gesundheit, oder der Grund und Bo­den zu nennen, wo die Krankheiten aufgehen, wenn Krankheitsursachen auf die Tliiere einwirken. Das phlegmatische, schlaffe, wenig reizbare schwere Fuhrmannsross ist in seiner Art ebenso gesund, als das lebhafte, entzünd­lich organisirte, leichte Rcitjiferd.
„91 Krankheit ist, im allgemeinsten Sinne, jede Abweichung vom nor-nialen Lebensprozesse. Diese Abweichung gibt sich durch ungewöhnliche J.sbensäusserungen zu erkennen, die man Krankheitszeichen, Krankheits-syniptome nennt. Ihr letzter Grund oder Zweck ist meistens Selbsterhal-luug des Organismus.
„10) Jede Krankheit beginnt örtlich und muss örtlich beginnen, weil die Gelegenheitsursachen niemals den gesammten Organismus auf allen Punk­ten und überall gleich stark treffen und beleidigen; jederzeit erfolgt der Anfall mehr auf die eine oder die andere Lebensseite, auf das eine oder laquo;las andere System, auf ein oder mehrere Organe, welche entweder der Schädlichkeit mehr ausgesetzt waren, und von ihr feindlicher und starker getroffen wurden, oder aber für die Verletzung mehr empfänglich waren, und ihrer Einwirkung den geringsten Widerstund (Resistenz, Reaction) zu leisten veimochteu. Disposition und Gelegenheitsursachen beweisen daher, dass jede Krankheit örtlich beginnen müsse.
,,ll) Jede Krankheit, mit wenigen Ausnahmen, spricht sich entweder durch Entzündung oder durch das, was ihr vorhergeht, nämlich Blutcon-gestion, oder durch das, welches ihr nachfolgt, nämlich Eutzündungsüber-gänge aus.
„12) Die Gründe aber, warum man in den meisten Krankheiten unse­rer Hansthiere die Entzündung als Stammleiden findet, sind, kurz angedeu­tet folgende: a) Jede Krankheit ist eine Folge der örtlichen Verletzung; h) raquo;lie verletzende Ursache reizt die getroffene Stelle zur Gegenwirkung ge­gen die Schädlichkeit, denn die Wirkung jeder änsserlichen Einwirkung auf ein Gebilde des Organismus ist allemal ein Reiz; c) diase Gegenwirkung, vermehrte Erregung oder Reaction des verletzten Gebildes steigert sich im­mer , wenn die verletzende Schädlichkeit nicht auf irgend eine Art schnell entfernt und beseitigt wird, entweder zur Blutcongestion oder Entzündung, oder wohl gar zu Entzüridungsübergängen, was uns die Krankheitserschei-nuiigcn ah lebenden, und die Sectionen an umgestandenen Thieren bewei­sen, die uns allezeit mehr oder weniger die genannten Krankheitsänderun­gen finden lassen ; d) je geringer und schwächer dia Reactionskraft ist., desto langsamer und weniger lebhaft wird die Entzündung auftreten, wofür, die
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geringe oder gar keine VVirkuiig der revellirenden Mittel bei dem mit wenig Lebensenergie begabten kranken Tliiere als ein Beispiel statt melirer dienen soll; wirkt aber vollends die Schädliclikeit so heftig und stiinnisch auf ein oder mehre Organe des Thierkörpers, dass entweder plötzlich das getrofiene Organ abstirbt, oder das Leben wie mit einem Schlage, z. B. bei tödtlichen Verletzungen der edelsten Organe, Gehirn, Rückenmark und de.-gl. endet, dann tritt freilich keine Entziindiaig ein, weil die Natur gar nicht Zeit hat, dagegen zu reagiren, was wieder als (negativer) Beweis gilt, dass jede Reaction des Organisiniis bei einer bedeutenden Verletzung desselben, in Blntcongestion, Entziindnug und ihren Uebergängen besteht. Es geht nun aus dem eben Gesagten hervor, dass wohl meistens, aber nicht immer, die Entzündung den Krankheiten zu Grunde liegen müsse, wodurch der Vor­wurf einer einseitigen Entziindnngstheorie abgelehnt wird.
„13) Hie Entzündung ist daher aus dem eben angegebenen Grunde ein Ausgleichungsprozess zu nennen, laquo;1er immer auf die Entfernung des durch die Verletzung Gestörten und Zerstörten und auf den Ersatz des da­durch Verlorengegangenen hinarbeitet.
„14) Aus diesem Grunde ist auch die Entzündung überall und immer die nämliche und nur Eine; doch theilt man sie in eine entzündliche und faulige ein, weil der Grund und Boden, wo die Entzündung sich befindet, einmal eine entzündliche, das andere Mal eine faulige Organisation ist.
„15) Obgleich die Entzündung immer ein wohlthätiges Heilbemühen der Natur ist, so muss man sie doch insofern einen krankhaften Prozess nennen, als sie sich immer nur in verletzten und kranken Gebilden ent­wickelt, und weil sie bei all' ihrer Nützlichkeit dennoch eine Abweichung von den gewöhnlichen, normalen Aeusserungen des Eebensprozesses dar­stellt. Diese kranke, wenngleich wohlthätige Beschaffenheit der Entzündung ist auch der Grund, warum der Thierarzt die Entzündung behandelt; dort, wo sie zu wenig thut, weil sie zu schwach ist, sie unterstützt und hebt, dort aber, wo sie zu heftig und stürmisch zu Werke geht, sie mässigt und beschränkt.
„IG) In jenen Fällen aber, wo die Entzündung, das Fieber und auch die Kunsthülfe nicht alles durch die Verletzung Beleidigte und Zerstörte aus dem Wege räumen können, und keine Zertheilung der Entzündung er­folgt, bleibt dieses Zerstörte an Ort und Stelle, macht weitere Aendernn-gen, und stellt sammt dem während des Entzündungsprozesses rascher Ab­gelebten und Ausgeschiedenen die sog. Entzündungs - Uebergänge dar uU a) krankhafte Trennung und krankhafte Erzeugung hornartiger Gebilde,
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h) krankhaft vermclirlc und verämlertc Sclileimabsomlening, cquot;) Wiisserer-^iessiing, d) Ausschwitziing gerinnbarer Lymphe, e) Verhärtung, f) Wurm-bildnag, g) Eiterung, 10 Verschwärung ([auch Verjauchmig genannt), i) Brand.
„17) Das Fieber ist immer die Folge des örtlichen Leidens, der Con­gestion, Entzündung oder ihrer Uebergange; man kann es daher nicht ein Grundleiden, sondern nur das Folgeleiden der mannigfaltigen Localaffectio-nen nennen. Das Fieber verhält sich daher zur Entzündung wie die Wir­kung zur Ursache. Fieber ohne Localaffectionen kommen bei Thicren nicht vor, und noch niemals hat das Fieber ohne ein örtliches Leiden ein Thior umgebracht, wie es die Leichenuntersuchungen deutlich zeigen.
„IS) Was der Zweck der Entzündung als Localleiden ist, das ist der Zweck des Fiebers ais Allgemeinleiden; wo die örtliche \ erlctzung nicht zu heftig war, da gleicht die Entzündung ohne Fielier Alles allein aus; wo aber die Verletzung heftig war, da ruft die Entzündung, so wie jedes andere be­deutendere Entziindnngs - Uebergangsleiden das Fieber (als eine allgemeine Biutgefässreaction) zu Hülfe.
„193 Das Fieber ist daher: a) der verlässlichste Massstab für die Grosse und Heftigkeit des Localleidens; denn das Fieber vermehrt sich in dem Vcrhältniss, als die Localaffection intensiv oder extensiv zunimmt, und lässt nach oder vergeht ganz, sobald jene sich vermindert oder ganz aufgehört hat. Die Quantität der Fieberbewegungen zeigt demnach die Höhe; die Qualität derselben den Character der Krankheit an.
„20) So wie die Entzündung in ihrem Wesen nur immer Eine ist, so ist auch das Fieber immer dasselbe, immer ein wohlthätiges BestreLen der Natur: Ausscheidung und Wiederersatz zu bewerkstelligen, und so die noth-wendigen Heilbedingungen zu erfüllen. Nur der Character des Fiebers ist einmal entzündlich, das andere Mal faulig, aus welchem Grunde das Fieber in ein entzündliches und fauliges eingetiieilt wird.
„21) Entziindnngs- und Faulfieber sind nur durch die entzündliche oder faulige Organisation ties Thieres begründet. Entzündliches Fieber ist dasjenige, welches in Folge der Localaffection bei entzündlich organisirten Thicren vorkommt; fauliges Fieber hingegen dasjenige, welches in Folge der Localaffection bei faulig organisirten Thiercn vorkommt. Diese faulige Organisation ist nun oft schon wegen mangelhafter Lebensbedingungen vor dem Beginn der Erkrankung zugegen ; oft aber entwickelt sie sich erst im Verlaufe der Krankheit bei früher entzündlicb organisirten Thieren, wenn die kranken edleren Organe mit Lebensbedingungen nicht gehörig verkoh-
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reu, und das anfänglich entzündliche Fieber geht dann in ein fauliges über; daher begleitet die meisten übergegangenen Entzündungen ein fauliges Fieber.
,,22) Es gibt daher auch nur zwei, in ihrem Character wesentlich von einander verschiedene Fieber, nämlich das Entzündnngs- und Faulfieber. Alle anderen Fieber, z. B. katarrhalisches, rheumatisches, gichtisches, typhö­ses, gastrisches, Nervenfieber, Zelirfieber, Warmfieber, Wundfieber, Anthrax-fieber u. s. w. sind nichts anderes, als entweder Entzündungs- oder Faul­fieber ; nur haben sie diese Zunamen und besonderen Benennungen entwe­der von dem verschiedenen Sitze des Localleidens, oder von den verschie­denen Grundleidcn, veranlassenden Ursachen u. s. w.
„23) Das Fieber behandelt der Thierarzt für sich allein niemals, son­dern nur die Localaffection, laquo;lurch die das Fieber bedingt ist. Ist die Lo-calaifection gehoben, so vergeht das Fieber gleichsam als Schatten des Lo­calleidens von selbst, dauert aber die Localaffection fort, so mag der Thier­arzt gegen das Fieber thun, was er will, er wird nie seine Absicht errei­chen. Doch wird das Fieber immer früher vergehen, als die ganze Local­affection, weil gemässigte und dadurch geringer gewordene Entzündungen fieberlos verlaufen.
„24) Unter den nächsten Ursachen der Krankheit fdie man mit ande­ren Worten auch das Wesen, die Natur der Krankheit oder die Krankheit selbst nennt), versteht man die durch Gelegenheitsnrsachen hervorgebrachte Verletzung eines Organs. Ist ein Organ auf welche Art immer verletzt wor­den, so wird es in seiner normalen Bildung, Bewegung und Empfindung mehr oder weniger geändert, und diese organische Aenderung oder Ver­letzung ist die nächste Ursache jeder Krankheit.
„25) Die nächste Ursache der Krankheit darf man aber nicht mit der Entzündung verwechseln; denn die Entzündung ist nie die nächste Ursache der Krankheit, sondern die Entzündung ist immer die Folge der nächsten Ursache oder Verletzung, die durch die Entzündung gerade ausgeglichen werden soll. Nehmen wir als Beispiel eine Schnittwunde u. s. w.
„26} Die fünf Heil- oder Heilungs-Bedingungen sind folgende:
a)nbsp; nbsp;Entfernung und Entfernthaltimg der Gelegenheitsursachen; denn so lange die Gelegenheitsursache nicht entfernt ist, wirkt sie als Schädlichkeit immerfort, unterhält das Leiden und rauss es sogar bis zur tödtlichen Höhe steigern.
b)nbsp; nbsp;Entfernung des Krankheitsproductes; denn wird das kranke Product (bei der Blutcongestion und Entzündung Blut, bei der Schleimsecretion
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Schleim, bei VVasserergiessiingen Serum, bei Lympliaüsschwitznngen Lymphe, bei Eiterung Eiter, bei Verjauchung Jauche, beim Brand BrandmatcrieJ nicht entfernt, so wirkt es wieder auf die kranken oder auch nachbarlichen, gesunden Gebilde zurück, macht neue Entziindungen und diese wieder ähn­liche Uebergänge, bis das Thier zu Grunde geht. Auf diese Art, nämlich durch Rückwirkung der Krankheitsproducte und Erzeugung neuer Entzün­dungen und ihrer Uebergänge entstehen die sog. chronischen oder langwie­rigen Entzündungen und Krankheiten.
c)nbsp; nbsp;Umstiminung oder zuweilen gänzliche Zerstörung des krankhaft prodnzirenden Gebildes; denn so lange das krankhaft produzirende Gebilde (d.i. die örtliche kranke Stelle) nicht umgestimmt (d.h. zum normalen Ge­schäfte zurückgeführt) wird, wird immerfort Krankhaftes nachgebildet, und was heute entfernt wurde, wird morgen wieder von Neuem erzeugt. Wo aber die Organe eine solche Aenderung erlitten haben, dass sie nie mehr zur Normalität zurückgeführt werde): können, z. B. bösartige Geschwüre, brandige Theile, Aftergebilde u. s. w., dort ist gänzliche Zerstörung und Entfernung dieser Gebilde, z. B. durch das Messer, Glüheisen oder durch Aetzmittel das einzige Heilmittel, das helfen kann.
d)nbsp; nbsp;Vollständige oder doch möglichste Ruhe des leidenden Theiles; denn ein krankes Organ kann nicht das leisten, was ein gesundes leistet, und wird nur noch mehr krank, wenn man es seines Geschäftes nicht so viel als möglich enthebt. Das kranke Auge soll daher nicht schauen; die kranke Lunge nicht durch Bewegung angestrengt werden; das kranke Gehirn aller Sinnesreize entbehren; der kranke Magen oder Darm keine Nahrung be­kommen; der kranke Fuss nicht gehen; die reine Wunde durch nichts ge­reizt und beunruhigt werden u. s. w. Ruhe ist oft die ganze Kur. Es gibt zwar Organe im thierischen Körper, z.B. das Gehirn, Herz, die Lunge, die zur Erhaltung des Lebens immerfort beschäftigt sein müssen, weil mit ihrer gänzlichen Ruhe nothwendigerweise der Tod eintreten müsste; allein gerade desswegen gehören die Krankheiten dieser Organe zu den schwierig­sten und bedeutendsten, was aus dem nämlichen Grunde auch von den Krankheiten der Füsse gilt, denen der Thierarzt nicht immer die so oft nöthige Ruhe gebieten kann.
e)nbsp; nbsp; Ersatz des während der Krankheit Versäumten oder Verlorenge­gangenen; denn sollen die Thiere zu ihrer Verwendung wieder tauglich wer­den, und nicht am Werthe verlieren, so muss das durch verlorene Fress­lust, Blutverlust, Schweiss, Eiterung, Verjauchung, Brand u. s. w. Verloren­gegangene wieder ersetzt werden. Die Erfüllung dieser Heilbedingung folgt
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immer den vorausgegangenen, geschieht meistens in der Wiedergenesungs-periode durch eine kräftige Unterstützung des Bildung^lebens (der Ernäh­rung) und die Beschrärikinig des Einpfindungs- mal Bewegungslebens.
„27) Die eigentliche Ursache jeder Genesung besteht in der Herstel­lung des normalen Verkehrs der betreffenden Organe mit den lebensbedin­genden Einflüssen in Folge der vollständigen Erfüllung der obgenannten Heilbedingungen. Die sog. kritischen Entleerungen durch die Haut, Lun-genausdünstung, Harn, Mist u. s. w. sind daher nur die Folge des örtlich gebesserten Leidens, nicht aber, wie Viele glauben, die Ursache desselben.
„28) So wie die nächste Ursache jeder Krankheit in der Verletzung eines Organes und der daraus erfolgenden Störung des Verkehrs mit den betreffenden Lebensbedingungen liegt, so ist die eigentliche Ursache des Todes in dein ganz aufgehobenen Verkehr der Organe mit den lebensbe-dingenden Einflüssen in Folge der nicht erfüllten Heilbedingungen zu su­chen.quot;
Das Vorstehende stellt einen Auszug aus denjenigen Sätzen dar, welchlaquo; die an der Wiener Thierarzneischule gangbare Theorie characterisiren. Diese Theorie hat, man muss es gestehen, in ihren behauptenden Sätzen eine Kürze, Bündigkeit und Fasslichkeit, die besonders solchen Leuten gemiith-lich \iud anziehend erscheinen dürfte, aus welchen die Zöglinge jener Schule meist bestehen, Zöglinge, deren Denkvermögen mit einer gewissen Schonung zu behandeln ist, und daher für diese die Theorie auch vorzüglich erfunden zu sein scheint.
Diese Theorie, welche heute allerdings etwas polirter erscheint, als da­mals, wo sie zum ersten Male in die Welt hinauswanderte, ist nichts desto-weniger eine einseitige Entzündungstheorie geblieben; denn die Versicherung aliein, dass die meisten (also nicht alle) Krankheiten auf Congestion, Ent­zündung und ihren Ausgängen beruhen, entzieht ihr den Vorwurf der Ein­seitigkeit nicht; vielmehr hätte dieser nur durch eine gebührende Rücksicht auf die zahlreichen Fälle, worin der Erfahrung zufolge nichts von jenen Zu­ständen besteht, beseitigt werden können. Diese Theorie ist indess nicht allein einseitig, sondern sie ist auch unvollständig, da den pathologischen Ansichten keine entsprechende therapeutische aufgestellt worden sind; denn diese können nicht durch die bezeichneten und nothwendig zu beachtenden allgemeinen Heilbedingungen ersetzt werden, insofern dieselben. Weniges aus­genommen, bei jedem therapeutischen Verfahren, auf welche Prinzipien es auch gegründet sein möge, Anwendung finden können oder sollten.
Ein Hauptirrlhum in dieser Theorie, der wohl daraus entstanden ist,
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diiss man bei ilirer Aufstellung hauptsächlich nur an Wunden gedacht zu hö­ben scheint, bestellt darin, dnss der Entzundungsprozess als eine stets wohl-tliätige Naturhülfe, als eine ausgleichende Reaction gegen den eigentlichen, aber bei den meisten inneren Krankheiten nnbekannten Krankheitsreiz oder die wahre ursprüngliche Krankheit selbst angesehen wird, und hieraus fliesst dann auch u. a. die auffallende Forderung, die Entzündiing zu steigern, wenn sie sich nicht stark genug zur Bekämpfung der Verletzung zeige. Bei vielen inneren Krankheiten jedoch können wir primär nichts sinnlich wahr­nehmen, als Congestion oder Entziiudiing nebst ihren Producten; es sind daher diese Zustände, wenn mau nicht allen Boden verlieren will, für die Krankheit selbst zu halten, mithin in solchen Fällen die Krankheit für die reagirende Thätigkeit, wie es auch wirklieh in jener Theorie zugegeben ist, dass die Entzündung, trotz dem dass sie eine Reaction sei, doch als eine krankhafte Thätigkeit betrachtet werden müsse Dass aber eine solche An­sicht, wonach der Krankheitsprozess als eine wohlthätige Reaction betrachtet wird, wenigstens nicht durchgreifend richtig sein könne, ist bereits früher (in der allg. Pathologie des Verf. S. 20) mit folgenden Gründen gezeigt worden: 1) Reaction ist zweckmässig; Krankheit aber, wenigstens in Bezug auf die damit behafteten Individuen imzweckmässig; wäre Krankheit biosse Reaction, so könnte sie nicht auf Beschränkung und Vernichtung des indi­viduellen Lebens gerichtet sein, wie es doch der Fall ist. 2) Krankheit, könnte nur so lange dauern, als der Einflnss des schädlichen Reizes; denn mit dem Aufhören desselben müsste auch die Reaction wegfallen, wie es doch die Erfahrung nicht lehrt. 3} Die Heftigkeit der Krankheit würde ein Zei­chen kräftiger Reaction sein, also Bürgschaft für den glücklichen Ausgang leisten, was aber bekanntlich nicht der Fall ist. Die Reaction in kontagiösen Krankheiten würde den Reiz, welchen sie erzeugte, nemlich daraquo; Contagium, in der Bekämpfung reproduciren, was ein Widerspruch in sich selbst -.väre. Lieber die in jener Theorie vorkommenden Ausdrücke; „entzündli­cher Zustand und faulTger Zustandquot; wird hier hinweggegangen, die hinsichtlich dieser Ausdrücke vorgebrachten Entschuldigungsgründe ehrend; uud kann man auch annehmen, dass die Bezeichnungen: Brennstoff und Zündstoff nur im bildlichen Sinne genommen sind, wie denn Schwefel, Merkur und Salz bei Paracelsus biosse theoretische Begriffe waren. Doch nimmt es sich jedenfalls etwas sonderbar aus, die Entzündung als eine eut-zündliche und faulige unterschieden zu sehen. Ueber die pathologischen Ansichten hinsichtlich des Entzündungsprozesses selbst, die übrigens wenig geläutert erscheinen, kann auch hier füglich als über etwas weniger VVeseul-
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lidips liinweggpgangen werden, auch darüber, wenn hehanutet wird, dass h. a. gute koliloiistoffige Nahrung die entzündliche Organisation bedinge, und dass die Entfernung der Krankheitsprodncte stets eine nothwendig zu berück­sichtigende Heilbedingung sei. Insofern können wir über derartige Bchanp-lungen leicht hinweggehenj als hinreichend bekannt sein sollte., dass nicht kohlenstofTreiche, sondern proteinreiche Nahrungsmittel die sog. entzündliche Organisiition bedingen, und dass z B. bei Entfernung der ausgeschwitzten Lymphe in Integritäts-Verletzungen, die man bei Aufstellung jener Theorie doch vorzüglich im Auge hatte, keine Herstellung der Integrität stattfinden kann, insofern die Bildung der Narbensubstanz nur aus der plastischen Lymphe hervorzugehen vermag.
Diesem zufolge v\ird jene durch Hayne aufgestellte Theorie nicht als das grösste seiner sonst namhaften Verdienste betrachtet, obwohl es scheint, dass sich Blei weis mit derselben einen ansehnlichen Verdienst durch die vier Auflagen seiner oben angegebenen Schrift erworben hat.
Die homöopathische Theorie.
Von allen genau formulirten medizinischen Theorien hat die homöopathi­sche den grössten Einfluss auf die Thierheilkunst ausgeübt; es wrden nach den Grundsätzen der Homöopathie beziehungsweise der Homöotherapie nicht allein von vielen Thierärzten und Nichtlhierärzten (besonders in den säch­sischen Landen]) die Krankheiten der Hauslhiere behandelt, sondern es be­steht auch bereits eine ziemlich ansehnliche thierärztlich homöopathische Li­teratur. Dieselbe hat auch zwei Zeitschriften aufzuweisen: Die Zoojas is von Lux und das Magazin von Günther, welche beide indess nicht fort­gesetzt worden sind. Das beste thierärztlich-homöopathische Werk, des­sen allgemeiner* Theil auch von Alloopathen, der Kenntniss der Homöopa­thie und selbst der Beherzigung mancher Punkte wegen, gelesen zu werden verdient, ist unstreitig das in 3 Theilen erschienene Werk von Dr. Fr. Auquot; Günther: Der homöopathische Thierarzt etc. Sondershausen 1848, 184ft und 1850. Der erste Thcil dieses Werkes handelt, ausser über das Wesen der Homöopathie im Allgemeinen, über die Krankheiten der Pferde nnd ihre homöopatliische Heilung; der zweite Theil handelt über die Krankheiten der Kinder, Schafe, Schweine, Ziegen und Hunde nebst ihrer homöopathischen Heilung; der dritte Theil endlich enthält eine Darstellung der homöo-pathisclicn Hausapotheke und ihre zweckmässige Anwendung zur Heilung kranker Thiere. Der I. Theil dieses Werkes hat die 6., der 2. Theil die :gt;. und dir :{ Thcil die :!. Anllaje erlebt. Hieraus allein schon lässt sich
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ermessen, welchen Eingang die thierärzlliche Hornüopathie besonders beim nichtthierärztlirhen Publikum gefanden hat.
Der umstand, dass die Homöopathie viele Anhänger zählt, und ihr selbst sich Anhänger unter Aerzten und Thielärzten zugewandt haben, welche in der allöopathischcn Schule ihre Bildung erhielten, und nicht ohne Prüfung zu Convertiteu geworden sein werden, macht eine Abwägung der von Seite der Allöopathen gegen die Homöopathie erhobenen Einwürfe und der von den Homöo­pathen geführten Vertheidigung notluvendig. Zur Entäusserung alles Anscheinlaquo; der Parteinahme gegen die Homöopathie, wollen wir bei dieser Abwägung den Anhängern dieser bei der Vertheidigung den Vorrang lassen, und in dieser Beziehung den geschicktesten thierärztlich-homöopathischen Verthei-diger, Günther (1. c. I. Thl. S. 58 ff) abhören.
Derselbe behauptet, dass es 3 Hanptkiassen von Gegnern der Homöo­pathie gebe, und dass die allöopathischfn Aerzte die I. Klasse bilden. Für diese sei die Homöopathie eine wahre Lehensfrage, die ihre Subsistenz be­drohe, und daher sei es denn auch gar nicht zu verwundern, dass gerade von ihrer Seite die meisten Angriffe gegen die Homöopathie ausgegangen seien. Nun könne aber diese Lehre auf einem doppelten Wege angegriffen und bekämpft werden: entweder indem man den praktischen Theil derselben, ihre Erfahrung bestreite, oder indem man ihren theoretischen Theil, die Grundsätze ihres Systems zu widerlegen suche. Ersteres könne man nicht, ohne zugleich Dinge zu bestreiten und abzuläugnen, die aller Welt offen da­liegen, und die Zeugnisse achtungswerther und anerkannt rechtlicher Männer in Zweifel zu ziehen, die man eben so wenig zu verwerfen vermöge. Eine Widerlegung der Grundsätze des Systems der Homöopathie könne aber eben­falls wieder auf einem doppelten Wege versucht werden: entweder, indem man dieselben nach den Grundsätzen der aliöopathischen Schule beurtheile, und mithin von Vordersätzen und von Voraussetzungen ausgehe, die auf die Homöopathie gar keine Anwendung zulassen, oder indem man dem Systeme derselben den Mangel innerer Consequenz nachweise , was , bis jetzt wenig­stens noch keinem ihrer Gegner gelungen sei. Viele der älteren Schule früher angehörige Aerzte, und darunter Männer von bedeutendem Rufe, hät­ten daher die Lehre der Allöopathie schon längst verlassen, und sich zur Homöopathie gewendet, und zum grossen Theil auch die an sich selbst oder an anderen gemachten Erfahrungen, durch welche sie zum Uebcrtrilte haupt­sächlich bestimmt worden seien, durch den Druck öffentlich bekannt gemacht. — Die zweite Klasse von Gegnern der Homöopathie bestehe aus allen Den­jenigen, welche sich durch dieselbe auf irgend eine Weise in ihrem burger-
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liehen Erwerbe gestört sähen, und werden zu ihnen die Wein- und Brannt-weinhändler, Kaffee- und Gewurzkramer, Coiulitoren, Parfümeura etc., be­sonders aber die üroguisten und Apotheker gezählt. Alle diese würden na­türlich durch die Homöopathie mehr oder weniger beeinträchtigt, und ge­hörten daher, wenn sie nicht etwa selbst durch die Homöopathie geheilt worden seien, oder sonst auf irgend eine Weise ihren Vortheil dabei zu fin­den glaubten, zu den natürlichen Feinden und Gegnern der neuen Lehre, so dass man sich gar nicht wundern dürfe, wenn dieselbe im Allgemeinen mehr Widerstand unter dem Volke finde, als man erwarten sollte. Das Geld-interesse sei bei der gegenwärtigen Lage der Dinge so allgemein vorherr­schend , dass jede neue Einrichtung und Erfindung von denen verschrieen werde, deren pekuniäre Vortheile durch dieselbe bedroht seien, und liefere ja die Geschichte aller Zeiten hinlängliche Belege, dass selbst das Beste seine Gegner, und gerade unter den vom persönlichen Interesse Geleiteten immer seine erbittertsten Gegner gehabt habe. Socrates habe den Gift­becher leeren müssen, weil er die Einheit Gottes nachgewiesen hatte, und der Erlöser sei den Kreuzestod gestorben. — Die dritte Klasse von Geg­nern der Homöopathie endlich bestehe aus ]S'ichtkennern derselben, die ent­weder als Spötter, VVitzlinge und Satyriker oder auch als niüssige Schreier und Raisoimeurs gegen dieselbe zu Felde, ziehen. Was die Ersteren betrifft, so sei bekannt, dass nach den hergebrachten Ideen dem Menschen Alles ko­misch und lächerlich erscheine, was einen Widerspruch zwischen Mittel und Zweck, wenn auch nur scheinbar, in sich enthalte. Die allerdings ungewöhn­lichen Grundsätze der Homöopathie dürften daher nur ein wenig übertrieben, #9632;oder in ihrer Anwendung schief gestellt werden, so wäre das Lächerliche fertig, und dass der grosse Haufe lieber lache als nachdenke, sei eine be­kannte Sache. Auf ähnliche Weise verhalte es sich mit den Schreiern und Baisonneurs; diese redeten bekanntlich von nichts, lieber, als von Dingen, von denen sie nichts verstehen, und da nun (hauptsächlich durch die Be­mühungen ihrer Gegner) die Homöopathie ein Hauptgegenstand der gesell­schaftlichen Unterhaltung geworden sei, so haben sie eine willkommene Gele­genheit ihre Talente zur allgemeinen Ergötzlichkeit auf eine recht glänzende Weise zu entwickeln.
Die speziellen Eiuwendungin, welche der Homöopathie von Seite der Allöopathen gemacht worden sind, so wie die Erwiederungen von Seite der Homöopathie, wollen wir, da nun doch einmal die Homöopathie ein Gegen­stand der giscllscliaflliclieu LJuterhuItung geworden ist, gesprächsweise vor­führen.
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D. A. „Die Homöopathie ist nichts, als das Werk betrogener Betrüger!quot;
D. H „Wo kann von einem Betrüge nur irgend die Rede sein, wenn der Homöopath ein nach seinen Erstwirkungen au Gesunden geprüftes Heilmittel anwendet und damit genau die beabsiciitigteu Wirkungen hervor­bringt?quot;
D. A. „Die Homöopathie ist eine Art von Charlatanerie oder Wind­beutelei !quot;
D. H. „1st nicht Zweck der Charlatanerie der: durch Täuschung Geld zu gewinnen, und Alles zu thun, um das Geheimniss, auf welchem die Geld einbringende Täuschung beruht, in ein undurchdringliches Dunkel zu hüllenquot;? Was hat die Homöopathie von diesem Alien gethau? Hat sie nicht in einer lansren Reihe von Schriften alle ihre Grundsätze unverholen der Welt vor Augen gelegt, und durch Offenbarung der von ihr entdeckten Geheimnisse die Vortheile, welche sie in dieser Hinsicht aus derselben hätte ziehen kön­nen, freiwillig und für immer aus den Händen gegeben'?quot;
D. A. „Die Homöopathie widerspricht den Forderungen der gesunden Vernunft!quot;
D. H. Sehen wir uns nicht überall von Wirkungen umgeben, deren Ursachen wir nicht kennen, und wagt es darum irgend Jemand, jene Wir­kungen, die ihm klar vor Augen liegen, zu leugnen.quot;
D. A. „Die glänzenden Wirkungen der Homöopathie werden nicht durch die Arzneien, sondern durch die bei dein Patienten stattfindende Er­wartung eines ausserordentlichen Erfolges hervorgebracht!quot;
D. H. „Finden diese Erwartungen auch bei kleinen Kindern oder Thieren statt, die doch durch die Homöopathie so gut geheilt werden, als erwachsene Personen?quot;
D. A. „Es ist rein unbegreiflich, dass sich die Arzneimittel durch die sog. homöopathischem Potenzirung zu lauter arzneiliche Geist umgestalten sollen; vielmehr liegt es nahe, dass solche potenzirte Arzneien physikalische Nichlse sind!quot;
D. H. „Dass diese den Arzneikörpern unbestreitbar inwohnende geistige Kraft durch die Manipulation der Potenzirung freigemacht, entbunden, erregt lind erweckt werde (oder wie man es sonst nennen mag} ist sehr wahr­scheinlich, obgleich diese Ansicht Keinem als ein Glaubensartikel aufgedrun­gen werden soll. Eine in eine Dlechform gegossene Harzscheibe kann jeder berühren, ohne die geringste Wirkung davon zu verspüren. Reibt oder schlägt man aber diesen sog. Eleklrophor mit eiuein Fuchsschwänze oder Katzenfelle, so lässt sich aus demselben eine Menge elektrischer Funken
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herausziehen, welche man in einer Leydncr-Flasche aufsammeln und zu einem bedeutenden Funken verstärken kann. Ist hier nicht offenbar durch eine ganz einfache Manipulation eine in dem todten Stoffe schluminernde, mithin durch die äusseren Sinne gar nicht erkennbare geistige Kraft erregt und erweckt wordenquot;? Aehnliche Beispiele liefert die Naturlehre noch mehrere. Kleine Scheiben von Zink, Kupfer und Filz kann man berühren, ohne irgend eine Empfindung davon zu haben. Legt man aber diese Scheiben so über­einander, dass zwischen jede Kupfer- und Zinkplatte eine mit Salzwasser angefeuchtete Filzscheibe zn liegen kommt, so entsteht die bekannte galva­nische Säule, deren wundervolle geistige Kraft fast Todte zu erwecken ver­mag. Ein Paar neben einander stehende Stückchen Eisen bringen nicht die geringste sichtbare Wirkung auf einander hervor, bestreicht man aber das eine derselben von einem Ende nach dem andern mit einem Magnetsteine, so wird es durch diese ganz einfache Manipulation selbst zum Magnete, wel­cher anderes Eisen und eisenhaltige Körper an sich zieht, und, wenn mau ihn, auf Quecksilber schwimmend, oder auf einem Stifte, oder an einem Fa­den in seinem Mittelpunkte anthängt, frei schwebend sich bewegen lässt, sei­nen einen Pol immer nach Norden richtet. Dass diese wundervollen Kräfte der Elektrizität, des Galvanisraus und des Magnetismus rein geistiger Natur seien, bezweifelt Niemand, und dass diese geistigen Kräfte durch eine blosse Manipulation geweckt und hervorgerufen werden, sieht Jeder mit eigenen Au­gen. Warum sollte durch die ganz ähnliche Manipulation der Potenzirung die geistige Kraft der Arzneikörper nicht eben so gut geweckt und erregt werden können? Hierin kommt, dass in dem körperlichen Arzneimittel tier eigentliche, geistige Heilstoff durch die Natur wahrscheinlich so fest gebun­den liegt, dass die Verdauungswerkzeuge nicht Kraft genug besitzen, den­selben aufzulösen und auszuscheiden; durch die Potenzirung hingegen diese geistige Heilkraft so weit befreit wird, dass sie nun mit weit grösserer Leich­tigkeit in den menschlichen Organismus übergehen kann, wie ja, nach einem allgemein bekannten Gesetze, jede Kunstinischiing leichter zu lösen, allaquo; eine Naturverbindung.quot;
D. A. „Die homöopathischen Arzneien sind Gifte!quot; D. H. „Wendet nicht der Allöopath dieselben Gifte in millionenmal grösseren Gaben an, oder ist es der Homöopathie schon ein einziges Mal begegnet, dass sie diirch sehr heftig wirkende Mittel und willkürlich vergrös-serte Arzneigaben den Kranken an den Rand des Grabes oder gar in das­selbe hinab gebracht hat? wie es nach den Zeugnissen vieler allöopathischer Aerzte bei der Albööpathie so hänfig der Fall ist. lind bedenken die Allöo-
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putlien denn nicht, tlass sic sich oinor argen Inkonsequenz schuldig machen, wenn sie auf der einen Seite behaiinteu, ilass die kleinen homöouathischen G.iljen (homöopathische Niciitse von ihnen geiumiit^ nichts wirken können, mithin doch unschädlich sein müssen, und gleichwohl auf der anderen Slt;-ite dieselben als die stärksten Gifte verschreien'?quot;
I). A. „Bei den Heilungen der Homöopathie ist Alles auf Rechnung der Diät und der Heilkraft der Natur zu schreiben!quot;
D. H. „Aber warum wirkt die Naturheilkraft in so vielen hundert und tausend Fallen nicht schon vorher, sondern immer erst nach der gcnominenon homöopathischen Arznei ?quot;
D. A. „Uio homöopathische Diät ist eine Hungerkur!quot;
D. H. „Kann wohl Unwissenheit und böser Wille etwas Verkehrteres behaupten? Die Homöopathie erlaubt jedem, sich satt zu essen, ja sie em­pfiehlt sogar in den meisten Fällen die nahrhaftesten Speisen, wo die Allöo-patliie dieselben verbietet. Dass der Kranke während der Dauer einer lio-möopathischen Behandlung sich aller arzneilichen und reizenden, aber nicht stärkenden Sachen enthalte, ist eine so einleuchtende und billige Forderung, dass dieselbe nicht im Mindesten einer Hechtfertigung bedarf. Von den all­bekannten, furchtbaren Hunger- und Sclimieikureii der Allöopathie weiss die Homöopathie nichts.quot;
1) A. „Die Homöopathie kann nicht alle Krankheiten heilen!quot;
I). H. „Aber heilt sie nicht selbst da sanft, schnell und dauerhaft, wo allnopatliische Hülfe unmöglich ist, indem sie in nicht seltenen Fällen Patien­ten, welche die Allöopathie als unheilbar aufgegeben hatte, in kurzer Zeil wieder herstellt?quot;
1). A. „Die Homöopathie ist das Grab der Wissenschaft, weil sie sich nur auf die äusserlirhen Kennzeichen der Krankheiten beschränkt, weder Anatomie, noch Physiologie, noch Pathologie etc. bedarf, und um das Wesen der Krankheiten sich gar nicht bekümmert!quot;
1). H. „Wo steht denn geschrieben, dass der Homöopath die genann­ten Hülfswissenschaften der Medizin für überflüssig erkläre, wenn er auch Vieles darin für seine Zwecke unbrauchbar findet? Sie lehren ihn ja den wahren Weilh der Krankheits - Symptome nicht nur überhaupt kennen, son­dern auch die Hauptsymptome von den Nebensymptomen unterscheiden.quot;
1). A. „Die Symptome sind nicht die Krankheit selbst, und die Ursache der Krankheit muss laquo;loch ergründet und bekämpft werden, wenn eine Radi­kalkur staltfinden Soll!quot;
D. H. „Sehr schön! aber lebt wohl irgend ein Mensch auf tier gan-
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zon wfileii Erde, welclier raquo;las Wesen der Krankheit jemals erforscht bat' Was ist Fiebir? Was ist Entziindiing? Welcher der so schöne Phrasen aufstellenden Ällöopathiker vermag auf diese Fragen genügende Antwort zu gehen? Und welche Bewandtniss es mit der Erforschung der Krankheits-Ursachen von Seiten allöojwthischer Aerzte habe, sehen laquo;ir aus der so liäufig dagewesenen Tluitsache, dass oft drei und vier der berühmtesten Acrzte am Hette eines Kranken sich über das Wesen der Krankheit streiten, und raquo;lie nachherige Section alle noch so schön klingenden Hypothesen über den Haufen stösst. Die Homöopathie ist nicht so amnassend, das Wesen und laquo;lie eigentliche Ursache einer Krankheit erforschen zu wollen, was keinem Sterblichen vergönnt ist. Sie täuscht nicht sich selbst und den Kranken mit leeren Verinuthungen über Dinge, die kein Mensch wissen kann, sondern sie fasst Das, was allein bei einer vorhandenen Krankheit wahrnehmbar ist, laquo;lie ällSüeren sichtbaren Erscheinungen derselben, ihre Symptome in's Auge, berücksichtigt die veranlassenden Ursachen derselben, soweit sie aufzufinden laquo;•der noch vorhanden sind, verfolgt die Entwickelung der Krankheit, so weil es dem menschlichen Geiste möglich ist, und heilt, was dann doch immer laquo;lie Hauptsache bleibt, in den ineisten Fällen ihre Kranken, und zwar nicht selten selbst da, wo die allöopathischc Kunst, nach ihrem eigenen Geständ­nisse, an der Grenze ihres Wissens steht. Desshalb ist es ein grosses Un-i echt, welches mau der Homöopathie anthut, wenn man dieselbe eine blosse symptomatische Heilmethode genannt hat. Das symptomatische Verfahren berücksichtigt bloss ein einziges, einzelnes Symptom, von welchem sich der Kranke besonders belästigt fühlt, und sucht dasselbe durch antipathische Mittel palliativ , d. h. so zu bekämpfen, dass es nach einiger Zeit mit verstärkter Kraft wieder hervortritt, — ein Verfahren, welches bloss in der AUöopathie recht eigentlich zu Hause, der Homöopathie aber durchaus fremd ist.quot;
Es möge geniigen mit diesen Einreden und Gegeneinreden zwischen Allöopathen und Homöopathen, da auf solche Weise keine vollständige Ent­scheidung zu Gunsten der einen oder der andern Partei herbeigeführt zu werden scheint. Die ausserordentlich kleinen Dosen laquo;1er Arzneimittel in der Homöopathie hat man für die angreifbarste Seite derselben gehalten und ge­hofft auf dem Wege des Versuchs die Homöopathie aus dem Felde zu schla­gen. Aber beide Partheielaquo; führen zu Gunsten ihrer Ansichten zahlreiche Ver­suche an, die indess gegenseitig als unrichtig angestellt, oder als solche an­gesehen werden, aus welchen unrichtige Folgerungen gezogen worden seien. Auf thierärztlichcm Gebiete sind dergleichen Versuche augestellt worden, welche sich in ihren Resultaten widersprechen; so wollen z. B. Bernard
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(Rec. tic med. vcter. T. XIV.) und Leblanc (Journal ties Iiaras, Aout ISM) gute Erfolge davon gesehen haben , während die Berliner Thierarzneischule bei ähnlichen A'ersuchen (Med. Zeitung des Vereins für Heilkunde in Preussen Jahrg. IS34. Nr. 14.) keine Erfolge sah. Die meisten und gründlichsten Versuche hinsichtlich der Wirksamkeit homöopathischer Arzneimittel sind von Hienschenärztlichen Ällöopathen angestellt worden, und halten die Allöopathen auch ihre verneinenden Resultate für schlagend, während die Homöopathen eben so schlagende wieder entgegenstellen. Nach den von Dr. Lochner hl Nürnberg öffentlich angestellten Versuchen mit Kochsalz, aufgelöst in rei-iipin destillirteu Schneewasser, war das Resultat gleich, ob Kochsalzauflösuug genommen worden war, oder reines Schneewasser, d. h. es traten überhaupt fast keine Erscheinungen ein (Simon, antihomöop. Archiv Till. II. Heft 2). Andere Versuche scheinen darzuthun, dass die etwa hervortretenden Arznei-symptome von homöopathischen Gaben subjective Ursachen haben; so sah man in den auf Veranlacsung des Dr. Seidlitz an russischen Feldscheercrn angestellten Versuchen zuweilen sehr heftige Erscheinungen, es mochten po-teuzirte Streukiigelohen oder reiner Zucker oder reines Stärkemehl gegeben worden sein (I. c. Thl. I. Heft 2). In Frankreich haben die H H. Andral, Broussais, Bailly, Emery, Double und Dumas Versuche angestellt, sowohl mit Arzneimitteln, welche nach Hahnemann die Eigenschaft haben sollten, künstliche Krankheiten zu erregen, als auch mit sol:hen, denen eine spezielle Heilkraft gegen gewisse Krankheiten beiwohnen sollte. Alle diese Versuche haben negative Kesultate geliefert; und desshalb hat sich die KönigL Akademie der Medizin in ihren Sitzungen am 10-, 17. U. 24. März gegen raquo;lie Hahnemann'sehe Heillehre ausgesprochen. (Delafond 1. c. p. 14ö)-Lesser (die Homöopathie von der praktischen Seite beleuchtet. Berlin 1835) hat bei 686 Kranken keine Arznei zu geben versucht, und stand nur bei 134 von diesem Versuche wegen Dringlichkeit der Umstände ab, während die Heilung ohne Arznei bei 554 Personen vollständig gelang. Ja sogar sind von einer Königl. Commission zu Neapel, zu der auch der Homöopath Dr. H oratius gehörte, Versuche mit homöopathischen Arzneien angestellt worden,. welche negative Resultate geliefert haben (Simon 1. c. Bd. 2. Heft 4.). Dagegen wird die ganze homöopathische Arzneiwirkungslehre, als auf Ver­suche gestützt von den Homöopathen entgegengehalten.
Wie sollen wir hier in's Klare kommen? Der Verfasser ist ein Allöo-path aus Ueberzeugung und gründet sich dieselbe vorzüglich auf folgende Punkte:
1J Die Homöopathie läugnct die Naturheilkraft, von welcher die Allöo-
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patliie ausgeht, wogegen raquo;Joch alle die Krankheitsfälle, welche sich seihst überlassen in Genesung übergegangen sind, streiten. Wenn diess keine Er­fahrung ist, so haben wir gar keine in der Medizin.
2) Der Ursprung der Homöopathie liegt bereits in der Lehre des Para­celsus; die kleinen Dosen, die einfachen Arzneien, die Potenzirung der Kräfte derselben, das Ableugnen der Krisen, so wie das Prinzip: „sirnilh similibusquot;. (Schultz die homöopathische Medizin des Theoph. Paracelsus. Berlin 1831). Wenn nun die Lehre des Paracelsus, welcher nach dem Zeugnisse Schultz's mehr wissenschaftliche Consequenz inwohnt, als der Homöopathie, sich nicht hat erhalton können, so wird die Homöopathie noch weniger geeignet sein, die seit mehr als 2000 Jahren bestehende Lehre von der Naturheilung umziistossen.
3~) Es widerstreitet der gesunden Vernunft wenn hinsichtlich der Arz­neien angenommen wird, dass einem Theile eine grössere Kraft beiwohne ;ils dem Ganzen; und was die Homöopathen als analoge Beweise aus der Lehre von der Elektrizität, dem Galvanismus und dem Magnetismus beibrin­gen, ist nicht stichhaltig. Denn gerade die elektrischen, galvanischen und magnetischen Kräfte werden durch verschiedenartige, sich berührende Kör­per entwickelt, und wachsen diese Kräfte mit der Grosse der Massen.
Trotz dem nun aber, dass wir der Homöopnthie nicht huldigen, halten wir raquo;loch diese Lehre für nützlich und zeitgemäss. Denn I) sind die oppositionellen Ansichten in allen Gebieten des Wissens zur Erhaltung ihres regen Lebens und ihrer Läiiterimg dienlich; 2) verdanken wir der Homöopathie eine ge­naue Prüfung der Arzneikräfte an gesunden Menschen und Thieren, und desshalb die Kemitniss' ihrer sogenannten physiologischen Wirkungen; 3) ist durch die Homöopathie die Polypharmacie ausserordentlich beschränkt worden, gegen welche schon viele hochstehende allöopathische Aerzte gekämpft haben;
4)nbsp; nbsp; verdanken wir der Homöopathie zum grossen Tlieil die segensreiche Wirkung der Mässigkeitsvereine, und das Zurückdrängen zu einer naturge-mässen Lebensweise (die Urhygieine nach Ernst Mahner) und endlich
5)nbsp; nbsp;bestärkt sie die Ällöopathie in der Annahme der Naturbeilkraft, welche laquo;lie Homöopathie direct verwirft, aber indirect dieselbe durch gelungene Ku­ren vermittelst Regulirung der Diät und Anwendung von Arzneien, welchen nach unserer Annahme keine heilenden Kräfte beiwohnen, beweist. Der Thierarzt Straus hat bereits gesagt: „Die Homöopathie ist nichts ande­res, als der glänzendste ßeweiss, d.iss die Heilkraft der Natur mächtiger ist in ihrem Wirken, als es unsere Köpfe bisher fassen konnten. Uebrigens aber huldigen die Allöopathcn, sowohl menschenärztliche als thierärztliche schon lange dem Grundsätze „similia similibusquot;, obwohl sie ihn nicht ausge-
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sprochcn und ihm aucli keinlaquo;; durcbgreifende Gültigkeit beimessen, wie es raquo;lie Homöopathen thun. Dieses Prinzip liegt der peitnrbirenden Methode der Aliöopathie zu Grunde; so z. 15. werden C'antharidcn gegen Harnruhr, Brechwnrzei gegen Erbrechen u. s. w. angewandt, auch in kleinen Dosen, aber nicht in homöopatbuefa kleinen und potenzirten. Auch wird die China­rinde und ihre Präparate nach eben diesem Prinzip angewandt, Mittel, wel­che den Hahneinann zunächst zum Ausspruch seines Kurprinzips und zwar mit Recht veranlasst haben; nur that er darin Unrecht, dass er diesem Prinzip eine allgemeine Gültigkeit beigemessen hat.
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Viertes Kapitel. Welche Theorie ist die beste liii die Thierlicilkiinnt.
Die Thierheillehre ist wie dieHeillehre überhaupt (die Medizin) ein Zweig der gesaimnten Naturwissenschaft, und zwar insofern, als die vorzugsweise in ihr Gebiet fallenden Hausthiere lebende Naturwesen sind, und als die übrigen Zweige der Natnrwissenscliaft in ihrer Fortbildung stets einen gros-sen Einfluss auf dieselbe ausgeübt haben und ausüben werden, weil eben die Hausthiere in ihrem ganzen Sein, im gesunden und kranken, unter der Einwirkung von Naturkräften stehen und durch Wechselwirkung mit den­selben bestehen.
Wenn aber die Thierheillehre als ein Zweig der gesanimten Naturwis­senschaft bezeichnet wird, so ist hier das Wort „Wissenschaftquot; nicht in dein Sinne zu verstehen, wie man es für die rcin-spcculativen Geistes-thätigkeiten, die von aller sinnlichen Erfahrung absehen, also nicht, wie man es für die Mathematik oder Philosophie gebraucht, welche von Grundsätzen ausgehen, die unmittelbar ans der Vernunft entspringen, und eben deshalb #9632;ciiich unmittelbar eingesehen werden können; sondern das Wort „Wissen­schaftquot; ist hier in sofern gebraucht, als I) dem durchaus unentbehrlichen Kifahrungsmaterial der Thierheillehre ein systematischer Zusammenhang sei­ner einzelnen Theilc beigebracht ist, die dadurch in einem Verhältniss wie CIrund und Folge zu einander stehen, und sonach ein wissenschaftliches Gebäude darstellen, oder als 2) dem Erfaliningsmatcrial ein geistiges Le­ben eingehaucht ist, oder als endlich 31 das Wissen in erforschten Gesetzen besteht, nach welchen das gesunde und kranke Leben in den Hansthicrea abläuft, dieses in jenes zurückkehrt. Gesetze dieser Art, so wie Naturge­setze überhaupt sind aber als Regeln anzusehen , nach welchen die Ni.tur-vorgänge erfolgen, oder, mit andern Worten, der Ausdruck der Nothwen-
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digkeit, mit der die durch gewisse Ursachen bedingten Nfc'turerscheimingcn auftreten.
Wenn es nun, dem Vorhergehenden zufolge, als festgestellt betrachtet werden kann, dass die Tliierheillehre ein Zweig der gesammten Naturwis­senschaft ist, und dass diese letztere sich nicht mit dem Wisseu, der Kunde oder Kenntniss allein begnügt, sondern, insofern sie Abänderungen an Na-tiirgegenständen und Naturprozessen zu irgend welchen Zwecken hervor­bringt, ein Können, oder dasselbe zu einem höheren Grade entwickelt, eine Kunst verlangt: so ist auch unmittelbar klar, dass die Tliierheillehre nicht minder als die übrigen Zweige der Naturwissenschaft eine Kunst fordert, und sonach auch das Wort „Thierheilkunstquot; filr das Gesammt-gebiet des Wissens und Könnens der Thierärzte bezeichnender ist, als je­des andere.
Man wird es gewiss am Platze finden, dass durch Vorstehendes der Boden ein wenig vorbereitet wurde, um in der Beantwortung der hier ou-schwebeuden Frage möglichst sicheren Fusses weiter gehen zu können; und dürfte es zu diesem Behufe auch nicht überflüssig sein, nochmals daran zu erinnern, was unter Theorie der Heillehre überhaupt zu verstehen ist. In der Einieitnng zu dieser Abhandlung ist die medizinische Theorie als eine Aufstellung von Lehrsätzen betrachtet worden, nach welchen das gesunde und kranke Leben im Allgemeinen zu beurtheilen sei, und aus welchen die allgemeine Therapie als eine mehr oder minder nothweudige Folge fliesse; und in diesem Sinne, ist dort gesagt, könne dann auch die medizinische Theorie als System oder Lehrgebäude bezeichnet werden. Uebrigens aber kann auch Theorie überhaupt kurzweg als Erklärungsversuch, oder nach Hufeland als ein Anknüpfen des Unsichtbaren (einer geistigen Thätigkeit) an das Sichtbare (die sinnliche Erfahrung) bezeichnet werden.
Nun ist jedoch bereits in meiner „allgem. Pathologiequot; (S. 10) behaup­tet, dass die Geschicklichkeit zum Theoretisirea dem Thierärzte von beson­derem und unmittelbaren Nutzen sei; denn wie weit man es auch in dem Streite über Theorie und Praxis getrieben haben möge, und wie sehr auch sog. praktische Leute bemüht gewesen seien, alle Theorie als einen nutz­losen Ballast aus der Medizin überhaupt zu entfernen, so sei Dies doch nie­mals gelungen, und werde auch ein solches Bemühen stets fruchtlos bleiben. Auch ist 0- c.) angeführt, es habe in diesem Sinne ein angesehener Arzt bereits früher gesagt: Thun und Denken, Praxis und Theorie seien unzer­trennlich; was Athmcn dem Leibe sei Denken dem Geiste; joder ärztliche Künstler und Handwerker theoretisire, d. h. er denke mehr oder weniger
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über die Entstehung und Fortbildung der Krankheit, ihr Verhältniss zu den Arzneien u. s. w. nach; die Gegner der Theorie seien nie ohne Theorie, vielmehr seien sie nieist nur Gegner von ihnen nicht leicht zugänglichen Theorien, sie theoretisirten auf ihre einfache, materielle Weise; das in jeder Zeit uuabweisliche Bediirfniss der Theorie sei noch mächtiger und unab-weislicher in unserer, der Zeit der in unzähligen Entdeckungen zu umfas­senderen Bewusstsein gelangenden Menschheit; wo es endlich kein Gesetz-buch, wie in der Bechtskimde gebe, da sei eine nach richtigen Grundsätzen handelnde Theorie noch weit nöthiger.
Erwägen wir nun diese Worte mit ruhigem und klarem Verstände, so werden wir nicht ferner in Frage stellen wollen: ob es überhaupt eineTheo-rie für die Thierheiikunst geben sollequot;? Vielmehr dürfte zu untersuchen sein,, ob wir im Besitze der wahren sind, einer solchen nämlich, welche sich ebenso wenig von der Erfahrung als von der vernünftigen Einsicht entfernt. Nun wissen wir aber schon, dass die unveräusserliche Grundlage der gc-sammten Thierheillehre aus sinnlichen Erfahrungen besteht, dass dieselben von der Einsicht des Verstandes, einem in demselben ebenso tmabweislichen Drange gemäss, geordnet, zusammengefasst und fruchtbar gemacht, über­haupt dem im Menschen wattenden göltlichen Funken entsprechend vergeistigt werden sollen; denn die Beobachtung ist die Mutter, der Geist der Vales der Erkenntnisse. Da wir nun ferner ebenso gut wissen, dass die verschie­denen Zweige der gesammteu Thierheillehre ebenso verschiedene empirische Grundlagen haben, als sie derselben ihrer Art nach bedürftig siudr so folgt hieraus, dass von einer einzelnen Theorie in der Thierheillehre eigentlich nicht die Bede sein könne sondern, dass sie vieler rationeller Erkläningciraquo; (Theorien) bedarf, und eben durch die gehörige Verknüpfung dieser zu einer rationell-empirischen Gesammtlelire wird.
Die Ueberschrift dieses Schlusskapitels besteht jedoch in der Fragel welche Theorie die beste sei für die Thierheiikunst, oder, mit anderen Wor­ten , welche Theorie die geeignetste sei, um als Grundlage der Therapie zu dienen. Das ist die grosse Frage, die man seit mehr als zwei Tausend Jahren auf medizinischem Gebiete, wie aus den vorhergehenden Kapiteln sich erweist, durch Heransstelhing von Theorien oder Systemen zu beant­worten versucht hat. Es liegt die Erklärung dafür sehr nahe, weil in einem Bedürfnisse des menschlichen Geistes nach leitenden Grundsätzen, dass zahl­reiche Beantwortungsversuche jener Frage im Laufe der Zeit hervorgetreten sind, aber ebenso nahe liegt auch die durch die Geschichte bereits zu einer Tliatsache erhobene Annahme, dass keiner dieser Versuche für alle Zeiten
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genügen konnte noch kann, weil sie alle der zeitlichen Entwickelnng des menschlichen Geistes, wie er sich unter dem Eiofliisse der Gesammtgeschichte, insbesondere der fortschreitenden Kultur der Naturwissenschaften hervorge­bildet hat, entsprechen, also, mit kurzen Worten gesagt, den Stempel ihrer Zeit an sich tragen. In dieser Beziehung hat uns jener deutsche Hippocra­tes: Hufe land, einen schönen Aphorismus hinterlassen; er lautet: „die Kunst gehört dem Innern Heiligthuin des Menschen an, das System der Zeit, deren Product es ist. Wir haben Systeme genug gehabt, um zu wissen, dass in den Systemen der Schule die Heilkunst nicht liegt; dies bat die Ge­schichte, besonders in den letzten Dezennien nnwidersprechlich bewiesen. Jedes hielt sich für das alleingiiltige, alleinseligmachende, bis es von einem andern, ebenso alleingültigen zertrümmert wurde, und so wird es fortgehen bis an das Ende der Tage.quot;
Trotzdem dass also das Heil der Medizin überhaupt und der Thierheil-kunst insbesondere nicht in vergänglichen Theorien oder Systemen dieser Art liegt, muss doch anerkannt werden, dass dieseelben doch stets einen fortbil­denden Einfluss auf die Medizin ausgeübt haben, wie es insbesondere bei der Betrachtung der Homöopathie näher nachgewiesen worden ist. Es Hegt, wie schon angedeutet, ein Drang im menschlichen Geiste, von Zeit zu Zeit, wenn die Tliatsachen sich angehäuft haben, ja zu einer kaum zu bewälti­genden Masse angeschwellt sind, sich nach leitenden Grundsätzen umzuse­hen, um sodann mit ihnen ausgerüstet beejuemer, so wie anscheinend ver-nunftgemässer und sicherer handeln zu können. Sind diese Grundsätze wirk­lich auf gewisse Thatsachen gestützt, und ihre Anwendung im Lehrsystem mit einer gewissen Consequenz durchgeführt, so kann es gar nicht fehlen, dass sie für eine grosse Zahl von Hedkünstlern zu leitenden werden, weil eben laquo;lie grosse Menge dasselbe Bedürfniss fühlt, von dein der Begründer eines Systems lebhaft angeregt worden sein mag. Nun wandert die grosse Menge auf der bequemen Heerstrasse fast gedankenlos vorwärts, bis es einem unruhigen und herzhaften Geiste überkommt, die einengenden Gräben mit einem kühnen Satze zu überspringen, sich einen neuen Weg mit einem neuen System zu bahnen, und diesen Weg als den zum Ziele führenden besten auszuposaunen. Viele glauben es und wandern dem Eröffner der neuen Bahn auf derselben nach, bis es endlich einem Dritten, Vierten u.s. w. einfallt, wiederum neue Bahnen mit neuen Systemen aufzuschliessen. Alle diese Wege aber schliessen das Gebiet wirklich auf und gewähren eine er­weiterte Kenntniss desselben um so mehr, als die Wanderer auf den ver­schiedenen Wegen besondere Euldeckungen machen, und diese gegenseitig
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als die scliönstcii iiik'I erfolgreichsten heraiisstcichen. Es wiinle gevviss, nicht allein in der Mcilizin, sondern auch auf allen anderen Gebieten des Wissens iiml der menschlichen Einrichtungen, insbesondere im Staate und in der Kirche, zur Versumpfung führen, wenn nicht verschiedene Meinungen, Theo­rien und Ideen auftauchten, so wie das Fehlen neuer, anrerrender Theorien im Mittelalter die 3Iedizin wirklich dein Abgrunde nahe gebracht hat.
Aber „die Kunst gehört dem inneren Heiügthum des Menschen an, das System der Zeit, dessen Product es ist.quot; — Und so hat es auch zu allen Zeiten vorsichtige, gewissenhafte, wahrhaft weise Männer gegeben, welche so zu sagen auf den Kreuzwegen jener in verschiedenen Richtungen auseinan­dergehenden Wanderstrassen der Theoretiker und Systematiker auf der Warte standen, mit offenen Sinnen, mit festem, vorurtheilsfreien und klaren Verstände die Art und den Gehalt der Producte prüften, welche diese letzteren mit­brachten, so wie das, was sie von der Wohnlichkeit und Sicherheit der von ihnen aufgeschlossenen Gebiete aussagten. Da ergab es sich denn, dass der ruhigen, besonnenen Erfahrung, die das Neue stets mit Vorsicht, aufnimmt und den sicheren Besitz nicht gegen den verlockenden unsicheren hingibt, dagegen mit einem zu allen Zeiten bewährten Mass und Gewicht abwägt und misst; — ich sage, dass dann der ruhigen Erfahrung wohl Einiges wahr. Vieles aber übertrieben oder falsch erschien, wie es sich in der That auch bei allen exaltirten Reisebeschreibern findet. Männer jener Art, deren es jetzt eine weit grössere Zahl gibt, als ehedem, haben Alles geprüft und das Beste behalten; sie haben ein auswählendes Verfahren beobachtet, den Eklekti­zismus, welcher, nach dem Ausdrucke Leveille Parise's, den Grad und den Werth der Proben abwägt.
Ein solcher Eklectizismus, der zwar seinen Anhängern keinen strahlen­den Entdecker - Nimbus, keinen weit schallenden Namen und kein bequemes Lungern gewährt, aber die einzige zuverlässige, wahre Würde verleihende Philosophie in der Heilkunst überhaupt ist, dürfte auch die empfehlenswer-theste für die Thierheilkunst sein; nicht aber ein Eklectizismus, der wohl­meinend und versöhnend die widersprechendsten Meinungen zusammenstellt, sondern der ohne Ansehen der Person mit vorurtheilsfreiem Blicke und ver­ständigem Zweifel prüft und sichtet, und insbesondere nichts in die Thera­pie überträgt, was seinen Ursprung einer blossen Speculation und nicht der rationellen Empirie verdankt.
Demnach sollte das Bestreben der angehenden Thierärzte unablässig dahin gerichtet sein, alle Zweige der Thierheillchre, sowohl der Hülfs- als eigentlichen Fachzweige, nach dein Grade ihrer Erheblichkeit für das Ganze
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his zu einer entsprechenden Tüchtigkeit tlienrctisch und praktisch sich an-zueignen, und alle diese Zweige hinsichtlich der Benrtheilnng des thierischen Organismas in seinem gesunden und kranken Zustande, so wie zum Behufe des Handelns bei der Vorbaiinng, Linderung und Heilung der Krankheiten in harmonische Anwendung zu bringen. Keinem jener Lehrzweige aber ist ein überwiegender Einfluss bei der Beurlheilung des thierischen Organismus und bei dem auf ihn sich b-ziehenden Handeln zu gestatten, weil er ein eigenthüinlichcs Ganzes, eine kleine Welt darstellt, welche von ihrer Eigen-thiimlichkeit heraus betrachtet sein will. Wir sollen also wohl im Einzelnen tüchtige physikalische und chemische Kenntnisse besitzen, aber keine aus-schliesslich physikalische und chemische Prinzipien zum Behufe der Beurthei-lung und des Handelns aufstellen; wir sollen ferner alle Theile des thieri­schen Körpers sowohl in anatomischer als physiologischer Hinsicht gründlich kennen, aber weder den festen noch den flüssigen Theilen, weder den sen-sibeln, den irritablen noch vegetativen Thätigkeiten in unserer Anschau­ungsweise ein Uebergcwicht verstatten, d. h. wir sollen weder Humoral- noch Solidar-Pathologen, wohl aber solide und mit Humor begabte Thierärzte sein; wir sollen endlich mit den Wirkungen der Heilmittel unter den gegebe­nen Verhältnissen gehörig vertraut sein, aber weder Isopathen noch Hetero-pathen, weder Homöopathen noch Hydropathen sein, und doch sollen wir wissen, worin diese Besonderheiten bestehen, was sie Gutes und Schlechtes haben, um das letztere verwerfen, das erstere uns aneignen zu können. Thun wir Dies Alles, so verhalten wir uns als ächte Pathen bei der heili­gen Taufe ties Eklectizisinns, und sind dann würdig seine religiöse Erzie­hung zu beaufsichtigen. Denn schon Hufeland hat gesagt: „Wem die Heilkunst nicht zur Religion wird, dem ist sie die trostloseste, unseliquot;-stc und Undankbarste Kunst auf Erden.quot;
Es ist nicht leicht, den wahren Eklectizisinns, wie er hier mit kurzen Worten geschildert ist, auszuüben, aber es kann keinen anderen fruchtbaren Weg in einer Erfahrungslehre geben. Denn wird er verlassen, den einsei­tigen Systemen gehuldigt, so heisst Dies die Wahrheit für eine Täuschung hingeben. Die Systeme gehen zwar auch von Thatsachen aus, aber diese Thatsachen sind willkürlich herausgegriffene und alle anderen müssen sich fügen; daher sind die Systeme nicht im Besitze der ganzen Wahrheit, viel­mehr von vielen Wahrscheinlichkeiten und nicht weniger Ungereimtheiten. Der Eklecticismus kann sich zwar auch nicht rühmen, die ganze Wahrheit und nliiits als Wahrheit zu besitzen; denn ein solches Rühmen hiesse die menschliche Unvollkoinmenheit laugnen. Mier wohl wissend, dass Das, was
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nie in Zweifel gezogen, auch nie recht bewiesen worden, sucht er vom Zweifel zur Wahrscheinlichkeit, von dieser zur Gewissheit und wo möglich zur Augenscheinlichkeit zu gelangen, und scheut sich selbst nicht, in vielen Dingen ein Nichtwissen ehrlich zu bekennen. Doch rastlos strebt der Eklec-tiker das allerdings ziemlich weite und traurige Gebiet des Nichtwissens in der Heilkunst einzuengen, und da, wo derselbe sich an diesem Vorhaben endlich gehemmt sieht, sucht er wenigstens die Gründe sich klar zu machen, welche dem Wissen ein Ziel setzen; und findet darin Trost, dass, obwohl die begränzten sinnlichen und geistigen Kräfte des Menschen nicht zur Er­fassung unbegränzter Wahrheit geschaffen sind, ihm doch ein dereinstiges verklärtes Schauen verheissen ist, und legt endlich, im Gewissen beruhigt, die ihm vom Schöpfer verliehene Gaben redlich benützt zu haben, sein frommes Werk in Demuth vor dem allmächtigen und allwissenden Geiste, denselben mit Inbrunst anbetend, nieder.
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