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ROMANTIK UND NEUROMANTIK

mit besonderer berücksichtigung
hugo von hofmannsthals

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MARTINUS NIJHOFF
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ROMANTIK UND NEUROMANTIK
MIT BESONDERER BERÜCKSICHTIGUNG
HUGO VON HOFMANNSTHALS

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ROMANTIK UND NEUROMANTIK

mit besonderer berücksichtigung
hugo von hofmannsthals

PROEFSCHRIFT

ter verkrijging van den graad van doctor
in de letteren en wijsbegeerte aan de
rijks-universiteit te utrecht, op gezag van
e>en rector magnificus m
r. j. c. naber, hoog-

leeraar in de faculteit der rechtsgeleerd-
heid volgens besluit van den senaat der
universiteit, tegen de bedenkingen van de
faculteit der letteren en wijsbegeerte te
verdedigen op 25 mei 1923, des namiddags te

4 ure

DOOR

IKA ALIDA THOMÉSE

geboren te rotterdam

HAAG

MARTINUS NIJHOFF
1923

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Ten gevolge van het Akademisch Statuut van Juni 1921 heb ik
het voorrecht gehad weer in aanraking te komen met U, Profes-
sor Frantzen; als aanstaand promotor hebt U, hoewel onder zeer
moeilijke omstandigheden, steeds een levendige belangstelling
getoond in mijn werk.

U, Professor de Vooys, ben ik zeer dankbaar voor de groote
welwillendheid, waarmee U de taak, als plaatsvervangend pro-
motor op te treden, op U hebt genomen.

Professor B. Sijmons spreek ik mijn erkentelijkheid uit voor
alles, wat ik heb mogen ontvangen op de Colleges te Groningen.

Met diep gevoelde dankbaarheid gaan mijn gedachten terug
naar het zeer vele, dat mij geworden is door den persoonlijken in-
vloed van mijn vriend, den lektor H. Pol.

Een woord van dank richt ik verder aan den Heer E. de Jong,
leeraar aan het Gymnasium te Amsterdam, wiens lessen den
grondslag hebben gelegd, waarop ik bij mijn verdere studie heb
niogen voortbouwen.

De dames F. de Meyier, letterkundige te \'s-Gravenhage en
T^r. J, A. H. Posthumus, privaat-docent in de moderne Deensche
en Noorweegsche philologie aan de Universiteit te Amsterdam,
alsmede den Heer R. Guarnieri, privaat-docent in de Italiaansche
taal en letterkunde aan de Universiteit te Amsterdam, betuig ik
mijn dank voor hun zeer gewaardeerde voorlichting bij het be-
studeeren van het onderwerp van mijn proefschrift, den Heer G.
Deelman, oud-leeraar aan het Gymnasium en een H.B.S. te
Utrecht, voor zijn groote nauwgezetheid bij het helpen nazien
der drukproeven.

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inhalt

EINLEITUNG ....

................

ERSTES KAPITEL, Romantik in Deutschland . . i

ZWEITES KAPITEL, Romantik und Neuromantik

in England................... 29

drittes kapitel, Romantik und Neuromantik
in Frankreich..............

VIERTES KAPITEL, Romantik und Neuromantik

in Italien................................^

FÜNFTES KAPITEL. Romantik und Neuromantik

in Dänemark................................g^

SECHSTES KAPITEL, Romantik und Neuromantik

in Holland................................jjj

SIEBENTES KAPITEL. Neuromantik in Deutsch-

..................... 130

ACHTES KAPITEL, Hugo von Hofmannsthal. . . 141

ALPHABETISCHES VERZEICHNIS DER LITERA-

....................... 191

REGISTER .....

195

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EINLEITUNG

In zwei Bänden, „Zeitgenössische Dichter, übertragen von Stefan
George"
vereinigt der erste deutsche Neuromantiker „eine Anzahl
Werke der wichtigsten Geister, denen man das Wiedererwachen
der Dichtung in Europa verdankt." Im Wesentlichen hat Georges
Dichtenvahl vorliegende Besprechung der Neuromantik in den
verschiedenen Ländern bestimmt, nur die Dichtung Lieders ist
wegen der geringen Bekanntheit der polnischen Sprache nicht
berücksichtigt worden.

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ERSTES KAPITEL

romantik in deutschland

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Wann sich zum ersten Mal in Leben und Dichten der europäi-
schen Völker romantische Gefühle gezeigt haben, läszt sich kaum
mehr ermitteln. Da aber die Literaturgeschichte zeigt, dasz sich
auch in klassischen Zeiten Romantik nachweisen läszt und dasz in
dem Gemüt eines vorwiegend realistischen Dichters häufig Wirk-
hchkeitssinn und Romantik nahe bei einander liegen, so liesze sich
daraus schlieszen, dasz romantische Gefühle, obgleich in sehr ver-
schiedener Abstufung, allen Zeiten angehören^).

Der Kern aller Romantik ist eine Mischung von Verinnerli-
chung und Phantasie. Die Freude am Phantastischen ist nament-
W ^^^^ Eigenschaft südlicher Völker, deshalb tragen so viele
Werke spanischer und italienischer Romantiker — Calderons,
Cervantes\' — Pulcis, Bojardos, Ariostos — das Gepräge dieser
^ust am Abenteuerlichen. Der Sinn für Phantastik ist aber nicht
auf den Süden beschränkt. Auch die Franzosen und die Kelten be-
sitzen ihn, davon zeugen die auf den Karolinger-und Artussagen
beruhenden Epen^. Die Epen der genannten italienischen Re-
naissancedichter sind sogar eine dichterische Gestaltung der fran-
zosischen und keltischen Sagenstoffe. In Deutschland erhielt sich
le Romantik der französischen Sagen in den Volksbüchern; es ist
em Zufall, dasz der einzige Dichter der Frühromantik, der einen
ausgeprägten Sinn für das Phantastische besasz und dessen dra-
matische Komödiensatiren mit so groszer Freude die gemeine
Wirklichkeit verspotten, zweimal den Stoff zu seinen Dichtungen
^!^i^en^lksbüchem geschöpft hat^).

Pater, Appreciations with an essay on Stile 1920, Seite 243.
zen • M Verinnerlichung ein Element auch dieser Poesie ist, beweist Prof. Frant-
Trot"^ • 1922. der im
Chevalier de la Charrette. von Chrétiende

yyeineSteigerungdesLiebesgefühlsnachweist.ähnlichderinjKä^envnnHeilhmnq.
„„i } Heymonskindern und in der Liebesgeschichte der schönen Magelone

und des Grafen Peter von Provence.

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Da aber die grosze romantische Strömung, die vom Mittelalter
bis zur Neuzeit durch die europäische Literatur flieszt, vorwie-
gend aus dem Bedürfnis nach Verinnerlichunghervorgegangenist x
und da es das Ziel dieser Betrachtung ist, die verwandten Gefühle
aufzudecken, welche die aus dieser Gefühlsrichtung zu verschiede-
nen Zeiten hervorgegangenen Dichtungen verbindet, so wird von
vornherein die vorwiegend phantastische Romantik aus dieser
i Besprechung ausgeschlossen oder nur flüchtig berührt werden.

Dreimal regte sich in der Geschichte der europäischen Litera-
I tur die Romantik so kräftig, dasz man von einer romantischen Pe-
I riode sprechen kann: im Mittelalter, um 1800, in der zweiten"^
i Hälfte des 19. und zu Anfang des 20. Jahrhunderts. Das erste Mal
i hatte Frankreich, das zweite Mal Deutschland die führende Stelle
das dritte Mal verbreitete sie sich von En_gland aus.

Weil die Romantik um 1800 in viel höherem Grade als die frü-
here und die spätere Strömung eine Kulturbewegung gewesen ist
gebührt Deutschland in einer Besprechung der europäischen Ro-
mantik die erste Stelle. Die Provence aber ist die Heimat der mit-
telalterlichen Poesie der Verinnerlichung. Und weil der deutsche
Minnesang nur ein Widerhall der südfranzösischen Liebeslyrik ist
wird die Besprechung der Poesie der Troubadours aus dem dritten
Kapitel vorweggenommen und die mittelalterliche romantische
Poesie der beiden Länder im Zusammenhang besprochen werden.

Die höfische Lyrik stammt, was die literarische Form, Motive
Stil, Technik betrifft, aus der gelehrten Schule. Ihre Schöpfer wa- ^
ren Kleriker oder gelehrte Jongleurs und Trouvères, die auch la-
teinisch dichteten und die aus der lateinischen Poesie stammende
durch jahrhundertelange Übung ausgebildete Technik auf die ro-
manische Lyrik übertrugen!).

Während aber die Liebeslyrik der Vaganten der reine, durch
keine gesellschaftlichen und sittlichen Schranken gehemmte,
durch keine höhere Geistigkeit geadelte Naturtrieb ist^), so ist
der Inhalt schon der ersten höfischen Minnelieder eine Mischung
von sinnlicher und geistiger Liebe.
Da zwischen der Poesie der Araber und den Liedern der Trou-

\') Prof. Frantzen, Über den Einflusz der mittellateinischen Literatur auf die fran-
zösische und deutsche Poesie des Mittelalters, Neophilologus IV, Seite 365, vgl. Sal-
verda de Grave, Neophilologus III, Seite 247 ff. \' 6 -il

\') Prof. Frantzen, Zur Vagantendichtung, Neophilologus V, Seite 68.

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badours eine auffallende Motiv- und Gefühlsverwandtschaft be-
st eht^), und der Einflusz der Provence auf die arabische Dichtung
durch das frühere Datum der Institution des Hofdichters in Spa-
nien ausgeschlossen ist^), musz angenommen werden, dasz die
provenzalische Minnelyrik sich unter dem Einflusz der arabischen
entwickelt hat®). Dem Spiritualismus der Christusreligion und
der Mystik ist es zuzuschreiben, dasz das geistige Element in der
mittelalterlichen Liebeslyrik immer bedeutender wird, dasz es bei^
den spätesten Troubadours so sehr vorherrscht, dasz es die Sinn-
lichkeit zum gröszten Teil, manchmal sogar ganz verdrängt^). ^
Die immer wachsende Vergeistigung der christlichen Religion,
die zu einer lebendigen Kraft heranwuchs, drang auch in die Ge-
müter der auszerhalb der kirchlichen Welt Stehenden ein; den hö-
fischen Kreisen erklang es wie eine wunderbare Kunde, dasz der
Mann in einer hohen und edlen Frau ihre Seele und ihre geistigen
und sittlichen Vorzüge verehre und liebe.

Von dem Zusammenhang zwischen Mystik und Minnelyrik sagt
Wechssler®): \'

„In den Jahren 1020-30 traten in Frankreich die beiden gröszten
Mystiker des 11. Jahrhunderts hervor: Bernhard von Clairvaux
und Hugo von St. Victor. Wenig früher blühten die ältesten
Troubadours, von denen wir Werke besitzen, Wilhelm IX von
Poitou und Cercalmon. Kurz nachher, seit den dreisziger Jahren
und gegen die Mitte des Jahrhunderts sangen die ersten groszen
a
Dichter, deren Lieder mystische Züge und mystische Stimmung
aufweisen: Jaufre Rudel, Bernhard von Ventadour und Peter
Rogier. Zwischen dem ersten und zweiten Kreuzzug (1099—
1147), in diesem Zeitraum einer erstaunlichen geistigen und wirt-
schaftlichen Regsamkeit, wurde die älteste populäre Mystik des
Mittelalters und unmittelbar darauf das Minnelied in seiner klas-
sischen Vollendung geboren. Dieses Zusammentreffen war kein
Zufall; aus der auf die Mystik gestellten Zeitbildung holten sich ^
die höfischen Lyriker die Kraft zu dem himmelanstrebenden Flug
ihrer Minne".

Vgl. Singer, Arabische und europäische Poesie im Mittelalter. Abhandlungen
der preuszischen Akademie der Wissenschaften 1918.

Einzelausgabe, Seite 15. ») Einzelausgabe, Seite 14.
*) Wechssler, das Kulturproblem des Minnesangs I, Seite 219, 220, 243.
\') Wechssler, Das Kulturproblem des Minnesangs I, Seite 243.

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Mystik ist das Hinausstreben der Seele aus dem Endlichen
und ihr Aufgehen im Unendlichen durch die Kraft ekstatischer .
Liebe^).

Die psychopathische Forschung hat nachgewiesen, wie sehr
sich religiöse und sexuelle Erotik auf den Höhepunkten ihres psy-
chologischen Verlaufes gleichen. „Es unterliegt keinem Zweifel",
sagt August Forel, „dasz dieheiszen, schwärmerischen Sympathie-
gefühle, aus denen z. T. unsre Religion heraus geboren wurde,
ferner die heilige Inbrunst, dieWonnen der Andacht, der Verzük-
kung und Ekstase.... mögen sie auch Gott, Christus, die Jung-
frau Maria, die Heiligen zum Gegenstand haben, nichts destowe- ^
niger vielfach in erotischen Gefühlen wurzeln oder geradezu deren \'
Transformation darstellen^). Und so erklärt es sich, dasz von
Bernhard von Clairvaux an die Poesie der Mystiker zu religiöser
Erotik geworden ist\' . <

Zieht die Mystik das religiöse Gefühl herab, der irdischen Liebe
verleiht sie eine gewisse Weihe. Und so sehr vergeistigten die bei- ^
den religiösen Strömungen den Frauensänger, dasz er in der
Herrin eine Heilige anbetete^), sie als ein Wunderwerk der
Schöpfung betrachtete, dessen unaussprechliche Schönheit Got-
tes eigne Schönheit wiederstrahle®). Er legte üir Attiibute bei,
die nur der Gottesmutter eignen«), oder er setzte sie der Göttin
der Minne und der Schönheit gleich\').

Aber erst recht wurde die Liebe des Frauensängers zur mysti-
schen Liebe, wenn die Herrin gestorben war, oder der Dichter
sich die noch Lebende als Verklärte, als Engel neben Gottes
Thron dachte. Dann läuterte sich sein Gefühl zu einer Seelenliebe,
die sich dem platonischen Begriff des Eros, als einer blosz geis-
tigen Liebe, nähert.

Heinrich von Morungen ist der einzige deutsche Minnesänger
in dessen Poesie sich die Verbindung von Liebe und Tod findet!\'
Die Vergeistigung der Liebe bedeutete für ihn, wie für jeden Min-
nesänger, der wirklich Dichter war, dessen Lieder aus einem in-
neren Erlebnis hervorgingen, dessen Liebeswerbung keine poeti-
sche Fiktion, keine offizielle Huldigung war, eine Linderung des
Schmerzes, der ihm notwendig aus seiner gesellschaftlichen Stel-

») Wechssler, Seite 243. =) Wechssler, Seite 248. ») Wechssler, Seite 249
7 Wechssler, Seite 282. Wechssler, Seite 278. «) Wechssler, Seite 303 f
\') Wechssler, Seite 307.

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lung, aus dem eigentümlichen Verhältnis zu der Herrin, erwach-
sen muszte.

Heinrich von Morungen geht in der Verklärung der Liebe noch
einen Schritt weiter als die zeitgenössischen Sänger. Denn er
denkt sich nicht nur die Herrin, sondern auch sich selbst als ge-
storben, wodurch es ihm möglich wird, die höchste Vergeistigung
der Liebe, die Liebe zwischen zwei Seelen, zu besingen^). ^

Zu einer solchen Seelenliebe, die in ihrer Reinheit der göttli-
chen Liebe verwandt ist, schwingt sich auch bei Plato der Mensch
erst nach dem Tode auf^); nur einem Philosophen wie Sokrates
war es gegeben, schon im Leben dieser geistigen Liebe teilhaft zu
Werden^).

Und so finden wir den Frauendienst zum Frauenkult und end-
lieh zu einer eigenartigen höfischen Religion vergeistigt. Mit der
Kirchenlehre bildete sie einen Gegensatz, den auszugleichen den
französischen und deutschen Dichtern nicht gelang. Erst Dante
überbrückte diese Kluft; ihm wurde die Geliebte zur Vermittlerin ^
der Gottheit.

In Deutschland aber war der feinen, ritterlichen Kunst des
Minnesangs eine Weiterentwickelung versagt. Sie artete aus in y
die handwerksmäszig betriebene bürgerliche Kunst der Meister-\'\'
Sänger.

Aus der altchristlich-orientalischen Mystik, deren Spuren schon
in der deutschen geistlichen Literatur des 11. Jahrhunderts zu
erkennen sind, entwickelte sich im Anschlusz an die französische ,
Schule des Heiligen Bernhard und an die scholastischen Speku-
lationen die grosze deutsch-niederländische Literaturströmung,
die von Eckhart bis Tauler, Suso, Mersewin, Hadewijch, Ruys- t
broec, Thomas ä Kempis reichte, durch Parazelsus hindurch
im 17. Jahrhundert mit Böhme, Angelus Silesius wieder auflebte
und s9hlieszlich in den Pietismus des 18. Jahrhunderts ausmün- ^
dete. Erst da wurde diese religiöse Strömung weiteren Kreisen t
zugänglich. Klopstock gestaltete die pietistische Stimmung der
religiösen Empfindsamkeit in seiner Poesie. Sein Epos, „Der Mes-,
Sias", ist die erste Dichtung in der deutschen Literatur, in welcher

\') Minnesangs Frühling, Seite 147, Zeile 4—16.

\') Nicht ausgesprochen, nur angedeutet am Schiusz des Gesprächs zwischen Sokra-
tes und der Diotima im Symposion.
") Rede des Alkibiades auf Sokrates im Symposion.

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, die Sprache des Dichters, weü sie, aus seinem Gemüt hervorge-
i pngen, der Ausdruck seiner Persönhchkeit ist. Durch diese Ver-
,; innerhchung — ein Ausflusz der Mystik — ist Klopstock der erste j
\' Vorläufer der zweiten groszen romantischen Strömung- zum
zweiten Mal ist Mystik eins der Elemente, aus denen sich
die ro-
mantische Poesie entwickelt.

Neben Klopstock weist auch Lessing, der Feind des verknöcher-
ten Formalismus!), aber namentlich Herder auf eine nicht mehr i
weit entfernte romantische Bewegung hin. Sowohl durch die geni-
ale Weise, wie er sich in die Stimmungen fremder Dichter, auch
ferner Zeiten, einfühlen und ihre Poesie übersetzen konnte, wie
durch seine hohe Wertschätzung der Volkspoesie aller Länder
weiter durch die Verherrlichung Homers und Shakespeares\'
schlieszlich durch seine historische Auffassung der Literatur der
Kunst überhaupt ist Herder so recht der Vorläufer der beiden
Schlegel, namentlich des älteren Bruders. Die genialen Überset-
zungen August Wilhelms, namentlich seine Shakespeare-überset-

zung, sowie die niemals auf vorgefaszten Meinungen beruhende,
immer in den Geist der Dichtung eindringende Kritik der beiden
Brüder, sind aus Herders geistigenBestrebungenhervorgegangen ^

und die Verwirklichung seiner Ideale.

Herder übertrug seine Gedanken und Gefühle, die z. T. auf
Rousseau und auf englische Vorläufer der Romantik zurückge-
hen, dem jungen Goethe. Namentlich in „Götz von Berlichingen"
und in den „Leiden des jungen Werther\'s", den beiden typischen ^
Vertretern des Sturm und Drang, treten uns Lieblingsideen Herders
entgegen. Da Goethe aber auch unmittelbar von Rousseau beein-
fluszt wurde, könnten ihm z. B. der Gedanke, dasz es für den
Menschen notwendig sei. zur Natur zurückzukehren, das Gefühl
für menschliche Gleichheit, die Verherrlichung der Liebe auch
ohne Herders Vermittelung gekommen sein. Die „romantische Lie-
besraserei" in „Werther" stammt, wie E. Schmidt in „Richardson
Rousseau undGoethe"^) nachgewiesen hat, aus der „Nouvelle Hé-^
loise", und zwar aus dem ersten Teil des Romans, der nicht auf der
Liebe zu der Gräfin d\'Houdetot, sondern auf einer kurzen Jugend-!
hebe beruht. Bezeichnend für die empfindsame Zeit ist auch die
Schwärmerei für Klopstock, in der Werthers und Lottes Seelen
sich finden.

») Coellen. Neuromantik. Seite 41. 2) Seite 87. 157 ff.

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Im Hinblick auf die englische Romantik musz Bürger, der Leh-
rer A. W. Schlegels, namentlich wegen seiner Meisterballade „Le-
nore , die von Scott und andern übersetzt wurde, als ein zu der
Romantik hinüberführender Dichter genannt werden, während
für die holländische Romantik eine der vielen Nachahmungen
von „Werthers Leiden", Millers „Siegwart, eine Klostergeschichte"
in Betracht kommt. Millers Roman trägt nicht die groszen klassi-
schen Züge des Originals, wohl aber hat der Verfasser Goethes
Jugendwerk in kleineren Motiven kopiert ; in manchen Anschau-
ungen geht er auf den Göttinger Dichterkreis zurück^).

Hermann Gschwind nennt in „Die ethischen Neuerungen der
Frühromantik"2),in denen er zu zeigen sucht, wie die Moral der
Stürmer und Dränger zu der Moral der Frühromantik hinüber-^
führt, Heinse das Bindeglied zwischen den beiden Strömungen,
wegen seiner Verherrlichung des Machtweibes und des Genies.
Walzel hat zuerst darauf hingewiesen, dasz Fr. H. Jacobi ein Ver- ,
mittler beider Richtungen und der nächste Vorläufer der Schlegel ^
ist. Seine Romane, „Aus Edward Alwills Papieren" und „Wolde-
îïiar \' sind Nachahmungen „Werthers", gehören aber doch schon
der romantischen Periode®) an.

Von einer romantischen Periode im engeren Sinn ist aber erst y
die Rede nach dem Jahre 1798, in welchem die Zeitschrift der
Schlegel, das „Athenäum" ans Licht trat. Wenn man die sechs
Bände, die bis 1800 erschienen, durchblättert, so fällt auf den
ersten Blick die grosze dem Fragment eingeräumte Seitenzahl
3-uf. JoeP) erklärt die Beliebtheit des kurzen Ausspruchs daraus,
dasz Romantik Unendlichkeitsdrang sei, Unendliches sich aberX
j nicht ausdrücken, nur andeuten lasse. Ein zweiter Grund dieser
Bevorzugung liegt wohl darin, dasz bei den Frühromantikern das
Gefühl stärker war als die schöpferische Phantasie, dasz folglich die ^
Gestaltungskraft schwand, sobald das Gefühl verblaszte. Auch
fehlte es ihnen — mit Ausnahme von A. W. Schlegel, dem gebo-
renen Sprach- und Formenkünstler—an Formensinn. Diese schnei- ^
len, genialen Aperçus ermöglichten es ihnen, eine aufblitzende
Idee festzuhalten, ohne genötigt zu sein, sie auszuarbeiten. Fr.

E.Schmidt, Richardson, Rousseau, Goethe, Seite 313. \') Seite 5 ff.

) Gschwind führt diese Ansicht Walzels an in Den ethischen Neuerungen der Früh-
romantik, Seite 31, 32.

M Joel, Nietzsche und die Romantik, Seite 18.

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Schlegel sucht das Fragment zu heben, indem er betont dasz es
em Kunstwerk seil).

Das „Athenäum" ist eine Hauptquelle für das Verständnis der
Fruhromantik. Die junge Schule spricht in dieser Zeitschrift ihre
Gedanken über Leben, Kunst, Philosophie und Ethik aus Wie
schon erwähnt wurde, beruhen die Anschauungen der frühroman-

. tischenDichterimKeimauf den Sturm-und-Drangideen; nur wer- .

den diese logisch weiter geführt und philosophisch begründet In
der Auffassung der Kunst als ein bewusztes Schaffen weicht die
Komantik aber wesentlich von jenen Vorgängern ab^)

An erster Stelle verlangen ihre Jünger von dem Menschen die
Ausprägung semer Individualität, vor allem aber Bildung

„Dem Ziel ist die Kunst und die Wissenschaft, dein Leben Liebe
, und Bddung. Du bist ohne es zu wissen auf dem Weg zur Relidon
Erkenne es und du bist sicher, das Ziel zu erreichen", sagt Schleier-
machera). UndFr.Schlegel: Jeder gute Mensch wirk
^ und mehr Gott. Gott werden, Mensch sein, sich bilden, sind Aus- A
drucke, die einerlei bedeuten"^).

„Jeder ungebildete Mensch ist die Karikatur von sich selbst^)" x
Die jungen Dichter fühlen sich als die Aristokraten des Geistes
im Gegensatz zu den Philistern, die sie hassen. ^

„Der revolutionäre Wunsch, das Reich Gottes zu realisieren ist
der elastische Punkt der progressiven Bildung und der Anfang
der modernen Geschichte. Was in keiner Beziehung auf das Reich

Gottes steht, ist in ihr nurNebensache"6). Bildung ist ihnen Reli- ^
gion.

Dementsprechend wollen sie den Kampf für die Sittlichkeit—
aber gegen die Sitte. Schleiermacher spricht Gedanken über Frau-

de^esr ^^^^^^^^--^--^--htigempfun- >

In der Kunst streben sie nach einer Synthese aller Künste dar-
in sind sie die Vorläufer R. Wagners. Ihr Ideal ist aber noch wei- \'
ter: es schwebt ihnen die Synthese aller Künste und Wissenschaf-
ten vor. So ist es Fr. Schlegels Wunsch:

\') Athenäum l, 2, Seite 54

särä^ .v.

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Der Bildung Strahlen all in Eins zu fassen^). ^

Und an einer andern Stelle heiszt es: „Je mehr die Poesie Wissen--»
Schaft wird, je mehr wird sie auch Kunst" . Dasselbe wird in der 6.
Strophe von Fr, Schlegels Gedicht „An Heliodora" ausgespro-
chen®) :

Entreisze jeder Wissenschaft das Siegel,
Verkündge Freunden heilige Gedanken
Und stifte allen Künsten einen Tempel, ^

Ich selbst von ihrem Bund ein neu Exempel,

In dem „Gespräch über die Poesie"^) gibt Friedrich Schlegel
eine Übersicht der Weltliteratur bis zu seiner Zeit. Dante, Petrar- ^
ca, Shakespeare, Cervantes hebt er als romantische Dichter her-
vor und zeigt damit seine moderne, weite Auffassung des Begriffs
Romantik. Den deutschen Dichtem gibt er den Rat, dem Vorbild
zu folgen, das Goethe gegeben hatte. Schlegel fühlte, wie nahe
Goethe im Innern seines Wesens der Romantik verwandt war. / ^

Unter Romantik versteht Fr. Schlegel eine phantasievoll ge-
staltete Kunst der Verinnerlichung: „Romantik ist das, was einen
sentimentalen Stoff in einer phantastischen Form darstellt", heiszt
esin dem „Brief über den Roman"®). „Das Sentimentale ist das was
uns anspricht, wo das Gefühl herrscht und zwar nicht ein sinn-
liches, sondern das geistige. Die Quelle und Seele aller dieser Re-
gungen ist die Liebe und der Geist der Liebe musz in der roman-
tischen Poesie überall unsichtbar sichtbar schweben. Es ist der
heilige Hauch, der uns in den Tönen der Musik berührt. Er läszt
sich nicht gewaltsam fassen und mechanisch greifen, aber er läszt
sich freundlich locken von sterblicher Schönheit und in sie ver-
hüllen und auch die Zauberworte der Poesie können von seiner
Kraft durchdrungen und beseelt werden. Aber in dem Gedicht,
wo er nicht überall ist oder überall sein könnte, ist er gewisz gar
nicht. Er ist ein unendliches Wesen und mit nichten haftet und
klebt sein Interesse nur an den Personen, den Begebenheiten und

Athenäum III, 2, Seite 236. ») Athenäum I, 2, Seite 71.
\') Athenäum III, 1, Seite 3.

\') Athenäum III, 1, Seite 58—121; III, 2, Seite 169—187.
■) Athenäum III, 1, Seite 113 ff., vgl. Seite 120.

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Situationen und den individuellen Neigungen; für den wahren
Dichter ist alles dieses, so innig es auch seine Seele umschlieszen
mag, nur Hindeutung auf das Höhere, Unendliche, Hieroglyphe
der einen, ewigen Liebe und der heiligen Lebensfülle der bilden-
den Natur.

Nur die Phantasie kann das Rätsel dieser Liebe fassen und als
Rätsel darstellen, und dieses Rätselhafte ist die Quelle des Phan-
tastischen in der Form aller poetischen Darstellung."

Die Liebe ist die Befriedigung der Sehnsucht. Unter Liebe ver- .X
steht der Romantiker ebenso sehr die geistige Liebe, die Liebe
zum Unendlichen, den Versuch sich Gott immer mehr zu nähern,
wie die sinnliche Liebe des Mannes zum Weibei).

„Obgleich das Romantische ein Element der Poesie schlechthin
ist"2), so fährt Fr. Schlegel fort „ist doch der Roman vor allem ein
romantisches Werk. Im Gegensatz zur klassischen Poesie ist in
der Romantik wahre Geschichte das Fundament aller Dichtung,
und diese wahre Geschichte ist ein verhülltes Selbstbekenntnis^
des Verfassers, die Quintessenz seiner Eigentümlichkeit\'\'.

In Bezug auf den Vorwurf, das „Athenäum" sei unverständlich,
spricht Fr. Schlegel sich in dem ironisch gehaltenen Aufsatz „Über
die UnVerständlichkeit"3) aus. Darin erklärt er, was Ironie\'sei«):
„Sie ist die freieste aller Lizenzen, denn durch sie setzt man sich
über pich selbst weg, und doch auch die gesetzlichste, denn sie ist
unbedingt notwendig. Es ist ein sehr gutes Zeichen, wenn die har-
monisch Platten gar nicht wissen, wie sie diese stete Selbstparo-
die zu nehmen haben, den Scherz grade für Ernst und den Emst
für Scherz halten."

Oder es heiszt: „Ironie ist die Form des Paradoxen. Paradox ist X
alles, was zugleich gut und grosz ist.

Ironie ist klares Bewusztsein der ewigen Agilität, des unendHch
vollen Chaos"5).

..Ironie ist die Freiheit des Künstlers, der sich selbst auch über
sein Werk zu erheben weisz. denn jedes Ideal ist ihnen noch zu
beschränkt, so idealistisch sind sie angelegt"«).

Und Fr. Schlegel prophezeit, dasz im 19. Jahrhundert jeder
Mensch in der Verdauungsstunde die Fragmente mit vielem Be-

\') Walzel, Deutsche Romantik I, 4. Auflage, Seite 23
\') Athenäum III, 1, Seite 123. \') Athenäum III, 2, Seite 335—352

\') Athenäum III, 2, Seite 345. \') Athenäum III, 2, Seite 345

\') Athenäum III, 1, Seite 16. ») Joel, Nietsche und die Romantik, Seite 134

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hagen werde genieszen können^), und er fügt hinzu: „eine klassi-
sche Schrift musz nie ganz verstanden werden können. Aber die,
welche gebildet sind und sich bilden, müssen immer mehr daraus
lernen wollen"^).

In der „Rede über die Mythologie"®) wünscht Fr. Schlegel sich
eine neue Mythologie, die aus der tiefsten Tiefe des Geistes her-
ausgebildet, ein hieroglyphischer Ausdruck der umgebenden Na-
tur in der Verklärung von Phantasie und Liebe sein soll. Eine sol-
che Mythologie ist ein Kunstwerk der Natur. In ihrem Gewebe
ist das Höchste wirklich gebildet, alles ist Beziehung und Ver-
wandlung, angebildet und umgebildet, und dieses Anbilden und
Umbilden eben ihr eigentümliches Verfahren, ihr inneres Leben,
ihre Methode1).

„Sie soll", sagt WalzeP), „dem Bedürfnis nach Symbolisierung ^
des Übersinnlichen entgegenkommen, sie ist eine Reaktion gegen
das Vordringen mechanischer Weltanschauung".

Diese Mythologie, nach der Fr. Schlegel sich vergebens sehnte,
fanden die dänischen Romantiker in den Sagen der nordischen
Heldenzeit, die sie zu neuem Leben erweckten.

Diese Rede weist auch auf den Orient als eine bedeutende
Quelle der Romantik hin®). Im Orient müssen wir das höchste >(
Romantische suchen. „Und wenn wir erst aus der Quelle schöpfen
können, so wird uns vielleicht der Anschein von südlicher Glut,
der uns jetzt in der spanischen Poesie so reizend ist, wieder nur
abendländisch und sparsam erscheinen.

Überhaupt musz man auf mehr als einem Wege zum Ziele
dringen können. Jeder gehe ganz den seinigen, mit froher Zuver-
sicht, auf die individuellste Weise, denn der eigentliche Wert, ja;^
die Tugend des Menschen ist seine Originalität."

Originell im höchsten Sinn ist Novalis\'), aber auch der geistig
weit weniger bedeutende Wackenroder, der in Tieck den Roman-
tiker erweckte.

Schon in seinen Jugendwerken zeigt Tieck das Talent, Stim-x
mung zu schaffen.

\') Athenäum III, 2, Seite 349. ») Athenäum III, 2, Seite 350.

") Athenäum III, 1, Seite 94 ff. «) Athenäum III, 1, Seite 101, 102.

\') Leben, Erleben, Dichten, Seite 57. ®) Leben, Erleben, Dichten. Seite 100.

\') Von Novalis erschienen im Athenäum die unter dem Titel Blütenstaub zusam-
mengefaszten Fragmente I, 1, Seite 56—107 und die Hymnen an die Nacht III, 2,
Seite 188—204.

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Bezeichnend für den späteren Stimmungskünstler ist es, dasz
er z. B. in seinem durch Schillers Sturm und Drangstücke angereg-
ten „Alamoddin"
statt durch die leidenschaftliche Sprache seiner
Vorbilder, durch Stimmungsmalerei zu wirken sucht. In seinen er- ;!
sten Werken schildert er seine Seelenerlebnisse, seine innere Gä-
rung, die Selbstzerrüttung durch Reflexion, das Grauen vor dem
Leid. Zum Sänger der mondbeglänzten Zaubernacht wird er erst
durch Wackenroders Einflusz.

Die beiden besuchten 1793 von Erlangen aus zusammen Nürn-
berg,Bamberg und Dresden. Den Ausflusz ihrer Gespräche über die
Kunst Dürers und Rafaels legte Wackenroder in den „Herzenser-
gieszungen eines kunstliebenden Klosterbruders" nieder. Was nach
Wackenroders Tod noch nicht veröffentlicht war, hat Tieck umge-
arbeitet in den „Phantasien über die Künst für Freunde der
Kunst".

Das Muster der „Herzensergieszungen" sind die Künstlerbiogra-
phien Vasaris. Wackenroder nimmt die auf Young und Herder zu-
rückgehenden Ideen herüber, dasz jede Kunst die Äuszerung
eines bestimmten Volkes zu einer bestimmten Zeit sei^). Daraus ^
geht hervor, dasz man Dürer Rafael nicht unterordnen dürfe,
dasz die Kunst beider Maler sich als eine geniale Äuszerung einer
verschiedenen Zeit ebenbürtig sei^).

Auch in der Verherrlichung des Mittelalters geht Wackenroder
auf den Sturm und Drang zurück — man denke an Goethes Ge-
fühle beim Anblick des Straszburger Münsters; dagegen teilt er
die Ansicht, dasz die Kunst nur um der Kunst willen da sei®), die
Überzeugung, dasz Kunst mehr als Wissenschaft«), Fühlen mehr
als Denken sei®), mit romantischen Dichtern, mit deren Poesie
ihn auch die Verwendung des Traummotivs«) in seiner Dichtung
verbindet.

Die Kunst, die höchste Äuszerung menschlicher Vollendung, ist
dem Dichter heilig, in frommer Stimmung betrachtet er ein Ge-
mälde, voller Andacht hört er Musik. Diese ist ihm die höchste •
aller Künste. Wie im Kapellmeister Kreisler E. Th. A. Hoffmann ,

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Steckt, SO birgt sich Wackenroder hinter J. Berlinger, Wie dieser
kannte der junge Dichter — kannte auch Tieck —• die bittere
Miszhelligkeit zwischen einem angeborenen ästhetischen Enthusi-,
asmus und dem den Menschen aus seinen Schwärmereien mit Ge-
walt herabziehenden Leben^), wie Berglinger war Wackenroder,
waren vielleicht alle Dichter der Frühromantik mehr dazu ge-*^
schaffen, Kunst zu genieszen als Kunst auszuüben®). Und in bit-
terer Entsagung, im schmerzlichen Gefühl, dasz er, der Immer-
begeisterte, als Künstler wohl berufen, aber nicht auserwählt sei,
preist er die Schöpfungskraft als etwas noch Wundervolleres,
noch Göttlicheres als die von den romantischen Dichtern so hoch
erhobene Phantasie®).

In dem Aufsatz „Die Farben" spricht Tieck von der Mög-
lichkeit, dasz Ton, Linie und Farbe in einander dringen könnten.A
In dieser Synthese der Künste hätten wir die Kunst als Gegen-
stück zur Natur, als höchst verschönerte Natur, von unsrer rein-
sten und höchsten Empfindung eingefaszt, vor uns. Auch in dem
Aufsatz „Die Töne" sucht er fortwährend Parallelen zwischen
Farbe und Ton zu ziehen^).

Praktisch ging auch ihm, wohl durch Wackenroders Beeinflus-
sung, der Ton über alles: als Lyriker suchte er musikalisch zu ge- *
stalten. Und so entstand seine Stimmungskunst der in süszen Tö-
nen denkenden Liebe, eine Dichtung, gegenstandlos wie Musik,
nur bemüht einen Gemütszustand wachzurufen, der äuszerste Ge-
gensatz zu einer plastischen Dichtung, gegenständlich wie die
bildende Kunst®). In dieser romantischen Stimmungskunst ist-f\'
Tieck ein Meister, darin liegt seine Bedeutung als romantischer
Dichter. Im Hinblick auf die dänische Literatur müssen seine sa-
tirischen Komödien erwähnt werden, worin er namentlich die
nüchterne Literatur der Aufklärung verspottet. x

Zweimal war es Tiecks Schicksal, das Werk eines Dichters, dessen
Kunstgefühltieferwarals das seine,weiterzuführen.Das zweite Mal
war dieses Werk der Roman seines verstorbenen Freundes Novalis. \\

Friedrich von Hardenberg stammt aus einem religiösen, frän-
kischen Adelsgeschlecht. Sein Vater, der ein weltliches Leben
führte, änderte dies ganz als seine junge Frau den Blattern erlag;

\') Wackenroder, Werke und Briefe Band I, Seite 131.
") Seite 150. •) Seite 150, 151. «) Seite 263 ff. ») Seite 295.

Walzel, Wechselseitige Erhellung der Künste, Seite 76.

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er sah in ihrem Tode eine Strafe Gottes, der religiöse Eifer er-
wachte in ihm und er blieb sein ganzes Leben ein frommer Mensch.

Als der junge Hardenberg aus diesem herrnhuttisch frommen,
aller Geselligkeit fremden Hause als Student nach Jena ging,\'
lernte er da Kants und Schillers Philosophie, aber zugleicherzeit
die irdischen Freuden des Lebens kennen. 1791 ging er nach Leip-
zig und schlosz da die bedeutendste Freundschaft seines ganzen
Lebens, die mit Fr. SchlegeF). X

Dieser charakterisiert Novalis\'und sich in einem Brief an seinen
Bruder2):

----„Das Schicksal hat einen jungen Mann in meine Hand ge-
geben, aus dem alles werden kann. Er gefiel mir sehr wohl und
ich kam ihm entgegen, da er mir denn bald das Heiligtum seines
Herzens weit öffnete. Darin habe ich nun meinen Sitz aufgeschla-
gen und forsche. — Ein noch sehr junger Mensch, von schlanker,
guter Bildung, sehr feinem Gesicht mit schwarzen Augen, von
herrlichem Ausdruck, wenn er mit Feuer von etwas Schönem re-
det, unbeschreiblich viel Feuer — er redet dreimal mehr und drei-
mal schneller wie wir andre — die schnellste Fassungskraft und
Empfänglichkeit. Das Studium der Philosophie hat ihm üppige
Leichtigkeit gegeben, schöne philosophische Gedanken zu bilden
— er geht nicht auf das Wahre, sondern auf das Schöne — seine ;<
Lieblingsschriftsteller sind
Plato und Hemsterhuys — mit wildem
Feuer trug er mir einen der ersten Abende seine Meinung vor —
es sei gar nichts Böses in der Welt und alles nahe sich wieder dem
goldenen Zeitalter. Nie sah ich so die Heiterkeit der Jugend. Seine
Empfindung hat eine gewisse Keuschheit, die ihren Grund in der
Seele hat, nicht in Unerfahrenheit. - Er ist sehr fröhlich,sehr weich
und nimmt für jetzt noch jede Form an, die ihm aufgedrückt wird/

Die schöne Heiterkeit seines Geistes drückt er selbst am besten
aus, da er in einem Gedicht sagt, die Natur hätte ihm gegeben,)^
immer freundlich himmelwärts zu schauen. Dieses Gedicht ist
ein Sonett, welches er an Dich gemacht, weil er Deine Gedichte
sehr liebt. Ich habe seine Werke durchgesehen: die äuszerste Un-
reife der Sprache und Versifikation, beständige unruhige Ab-
schweifungen von dem eigentlichen Gegenstand, zu groszes Masz

\') Bing, Novalis, Seite 11.

2) Meisterbriefe aus der Frühzeit der Romantik, bearbeitet von J. Frankel, Seite 6.

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der Länge und üppiger Überflusz an halbvollendeten Bildern, so
wie beim Ubergang des Chaos in Welt nach dem Ovid — verhin-
dern mich nicht, das in ihm zu wittern, was den guten, vielleicht
den groszen lyrischen Dichter machen kann — eine originelle und
schöne Empfindungsweise, und Empfänglichkeit für alle Töne der
Empfindung. Sein Name ist Hardenberg.

Das Verhältnis mit einem jüngeren als ich gewährt mir eine neue
Wollust, der ich mich überlasse."

Dieser Brief macht dem Psychologen und dem Kritiker Schle-
gel, der aber nur einige "Monate älter war als sein Freund, alle Eh-
re. Bis zuletzt hat Novalis\' Stil die von Schlegel hervorgehobenen
Eigenschaften behalten, bis zuletzt litt Novalis an zu groszer^
Empfänglichkeit.

Was die beiden jungen Männer verband, war die Begeisterung
für Literatur, Kunst, Philosophie, für die französische Revolu-^
tion als ein durch romantische Ideale hervorgerufenes, weltbedeu-
tendes Ereignis.

Was sie geistig trennte war, dasz Friedrich sich wie sein Bruder
ganz der Literatur widmete, während Novalis Jura studierte und
sich schlieszlich in Tennstedt unter dem Kreisamtmann Just
auf ein Amt vorbereitete. In dieser Zeit lernte er in Grüningen
Sophie von Kühn kennen. Er beschreibt uns das dreizehnjährige
Mädchen als einen lustigen, reizenden Backfisch, der für seine
Poesie gar kein Interesse besasz^). Im März 1795 verlobte er sich
mit ihr. In dem Familienkreis des Herrn von Roggenthin, bei dem
Sophie erzogen wurde, lernte er die häusliche Gemütlichkeit und
die naive Lebensfreude kennen.

Dichterisch verklärt hat er die in diesem Kreise herrschende
Stimmung in der Beschreibung des Festes, wo Heinrich von Ofter-
dingen Mathilde kennen lernt, dem Hohelied der Lebensfreude,.\\
und des Lebensgenusses^). März 1797 aberstarb Sophie, frühzei-
tig gereift durch ihr schweres Leiden. Und wie der Vater durch den
Tod seiner jungen Frau zum frommen Pietisten geworden war, so
erwachte durch das Hinscheiden der Braut in dem Sohne der Mys-
tiker. Einsam, wie noch kein Einsamer war, schaut der Dichter

Novalis, Heilbom I, Seite 265; Minor II, Seite 72, 73.

Novalis,HeilbomI,Seite97if.;MinorIV, S. 150 ff.; vgl. Schubart, Novalis* Leben,
Dichten, Denken, Seite 22; Gloege, Novalis\' Heinrich von Ofterdingen als Ausdruck
seiner Persönlichkeit, Seite 113.

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durch die Wolken die verklärten Züge der Geliebten. „In ihren Augen
ruhte die Ewigkeit—ich faszte ihre Hände, und die Tränen wurden

emfunkelndes,unzerreiszlichesBand"i).„WessenMundeinmaldie

krystallene Woge netzte, die gemeinen Sinnen unsichtbar, quillt in
des Hügels dunkelm Schosz, an dessen Fusz die irdische Flut bricht,
wer oben stand auf diesem Grenzgebirge der Welt und hinüber sah
in das neue Land, in der Nacht Wohnsitz: wahrlich, der kehrt nicht
in das Treiben der Welt zurück, in das Land, wo das Licht regiert
und ewige Unruh haust. Oben baut er sich Hütten, Hütten des
Friedens, sehnt sich und liebt, schaut hinüber, bis die willkom-
menste aller Stunden hinunter ihn — in den Brunnen der Quelle
zieht. Das Irdische schwimmt oben auf und wird von der Höhe
hinabgespült, aber was heilig ward durch der Liebe Berührung,
rinnt aufgelöst in verborgenen Gängen auf das jenseitige Gebiet,\'
wo es, wie Wolken, sich mit entschlummerten Lieben mischt"2)\'
Das Tagebuch, das der Dichter kurze Zeit nach Sofiens Tod an-
fing, zeigt zwar das Bestreben, die Liebe zu der Verstorbenen auf
dieser geistigen Höhe zu erhalten — er wünscht der Braut durch die
Kraft seines Willens nachzusterben®), sein Tod soll Beweis für
das Höchste sein®); nichts Irdisches soll ihn mehr stören®); „das
Engagement war nicht für diese Welt, ich soll hier nicht vollendet

werden"«), heiszt es. Daneben hat er aber Augenblicke, wo seine

Liebe nicht grosz genug ist®), wo es ihm nicht gelingt, Leib und
Seele genug von den Dingen der Welt abzulenken. Allzu häufig
gesteht er Sinnlichkeitsgefühle, leichtsinnige Gedanken, Lüs-
ternheit, manchmal an demselben Tage, wo der „Zielgedanke"
ziemlich fest steht«). Und so ist Novalis\' Liebe zu der Verstor-
benen nicht der Seelenliebe vergleichbar, die Heinrich von Mo-
rungen und die Dichter des dolce stil nuovo in ihrer Poesie ge-
staltet haben, sondern sie besteht aus der Mischung von Religiosi-

Ji t^^\'T\' Sf*\'® I. Seite 16. Vgl. dazu die 13, 56 überschrie-

bene Tagebuchstelle, Novalis, Heilborn I, Seite 274; Minor II. Seite 82
\') Novahs, Heilbom I, Seite 310, 311; Minor I, Seite 18.

!! ol Tagebuchstelle, Heilborn I, Seite 280; Minor II. Seite 88

5 , o "^^^cJ^riebene Tagebuchstelle, Heilborn I, Seite 285; Minor II Seite 94
■in »i^f schriebeneTagebuchstelle, HeilbomI, Seite 276; MinorlI,Seite84.

30, 43—4 Mai 47, Heilbom I, Seite 271; Minor II, Seite 77
15, 89, Heilbom I, Seite 286; Minor II, Seite 94, 95

2 V n o^f Osterfeiertag Heilborn 1, Seite 267; Minor II, Seite 74.

}. ^8uberschnebeneTagebuchstelle,HeilboraI,Seite279 jMinor II,Seite87

die 7, 50 uberschnebene Tagebuchstelle, HeilbornI, Seite 272; Minor II, Seite 79 u a

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tat und Sinnlichkeit, welche auch der mittelalterlichen Mystik i <
eignet.

Während aber die Erotik der religiösen Lyrik einen weltlichen
Charakter gibt, sie herabzieht, verleiht das Ewigkeitsgefühl No-
valis\' irdischer Liebe eine religiöse Weihe.

Novalis ist nicht der einzige Dichter der deutschen Romantik,
in dessen Poesie sich die geheimnisvolle Verknüpfung von Liebe
und Tod findet. Auch
Heine kennt die Liebe zu einer Versterbe- .<
nen. In der ersten der „Florentinische Nächte"^) erzählt er uns,
wie er, sieben Jahre nach dem Tode der kleinen Veronika^) sechs
Monate ganz versunken in ihre Liebe gelebt, und wie er sich in
dieser Zeit sorgfältig vor jeder Berührung mit der Auszenwelt ge-
hütet habe.

Nicht nur die Jugendgeliebte erweckt er durch die Kraft seiner
Liebe zu neuem Leben, er weisz selbst eine Marmorstatue zu be-
seelen. „Und nie habe ich die grauenhaft süsze Empfindung ver-
gessen können, die meine Seele durchflutete, als die beseligende
Kälte jener Marmorlippen meinen Mund berührte"®), so schlieszt
der Dichter seine Erzählung. Geht Novalis\' Todessehnsucht aus\',
der Hoffnung auf Erfüllung des Liebesideals im Jenseits hervor,
Heines Gefühl erwächst aus der Verzweiflung an der Erfüllung : ^
im Diesseits. Sein letztes Gedicht, „Für die Mouche"^), wo sich dem
im Sarge liegenden Dichter die ihm zu Häupten wachsende Passi-
onsblume in die Geliebte verwandelt, enthält dieses Geständnis:

O Tod, mit deiner Grabesstille du,

Nur du kannst uns die beste Wollust geben;

Den Kampf der Leidenschaft, Lust ohne Ruh <

Gibt uns für Glück das albern rohe Leben.

Was bei Novalis aus einem, den ganzen Menschen erschüttern-
den inneren Erlebnis hervorgewachsen war, findet bei Heine sei-
nen Grund darin, dasz er den Gegenstand seiner Liebe so sehr ide- ^
alisiert, dasz keine irdische Frau ihn mehr befriedigen kann. Die
Liebe zu der verstorbenen Veronika ist, obgleich man ihr ein mys-

Heine, Elster IV, 1. Auflage, Seite 328, 329, 330.

\') Vgl. das Buch Legrand, Elster III, Kap. 16, Seite 188; Kap. 17, Seite 189, 190;
Kap. 19, Seite 192.

\') Heine, Elster IV, Seite 325, 326, 327. \') Heine, Elster II, Nachlese, Seite 45.

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tisches Element nicht absprechen darf, doch weniger hervorge-
gangen aus der Sehnsucht ins Unendliche aufzugehen, als aus dem ^
Wunsch sich in eine bessere Welt zu flüchten, wo das Ideal zur
Wirklichkeit werden, die Liebessehnsucht ihre ungetrübte Er-
füllung finden könnte. Heines Liebesgefühl erinnert an das des
Minnescängers, auch diesem war die Liebe eine süsze Qual, nur im.^
Traum erlebte er das höchste Glück. Doch sind diese Gefühle ver-
schieden begründet: bei dem Minnesänger wird es durch den
Druck der gesellschaftlichen Verhältnisse hervorgerufen, bei dem <
späteren Dichter geht es frei aus dem innersten Wesen der Ro- 1
mantik hervor.

Heines mystischer Poesie fehlt zu sehr das Gepräge des Religi-
ösen als dasz sie Novalis\' „Hymnenandie Nacht" gefühlsverwandt
wäre. Aber auch in Novalis\'Werk stehen die „Hymnen" vereinzelt
da. Von allem, was er später geschaffen hat, weichen sie ab durch
ihre „onstuimigheid"i). Dirk Cöster führt diesen Zug auf noch un-
besiegte Sinnlichkeit zurück, aus der auch des Dichters Mystik
hervorgehe^), Carl Busse®) schreibt diese nicht zu Novalis\'Wesen
passende Stimmung dem Umstand zu, dasz er sich während der
letzten Umarbeitung der „Hymnen", die er ins Jahr 1799 verlegt^),
nicht mehr in die Gefühle des Entwurfs (1797) versetzen konnte:
Sophie war ihm durch die Verlobung mit Julie Charpentier weiter
gerückt. Er wollte die „Hymnen" aber beendigen und daraus eine
romantische Dichtung machen. Dazu lautete sein eigenes Pro-
gramm®) :

„Ich schaffe eine romantische Dichtung, indem ich dem Gemei-
nen einen hohen Sinn, dem Gewöhnlichen ein geheimnisvolles
Ansehen, dem Bekannten die Würde des Unbekannten, dem End-
lichen einen unendlichen Schein gebe. Es gehört ein tiefes poe-
tisches Nachdenken dazu, um diese Verwandlung vorzunehmen.
Eine gewisse Altertümlichkeit des Stils, eine leise Hindeutung
auf Allegorie, eine gewisse Seltsamkeit und Andacht, die durch die
Schreibart durchschimmert, dies sind einige wesentliche Züge der
Kunst."

Neben den „Hymnen" nehmen sich die „Geistliche Lieder" ein-

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fach aus!). Namentlich das fünfte^), ist ein für das ganze Volk
bestimmtes Lied, ein Lied nach dessen Dichter man nicht mehr
fragt®). Das vierte Lied erinnert an die dritte Hymne und an die
entsprechende Tagebuchstelle:

Novalis schaut Sofie an der Hand Christi.

Zu den „Marienlieder"«) bemerkt Dilthey^), dasz die abgeschie-
dene Braut dem Dichter jene überirdische Wirklichkeit vertreten
habe, welche in der gnadenreichen Himmelskönigin dargestellt
!st. Aus seinem individuellen Schicksal habe sich seine Verehrung
Marias wie ein subjektives, mythologisches Gebilde erhoben.
I^asz ein Besuch der Dresdener Galerie zu dieser Marienvereh-
rung beigetragen hat, wie Busse®) vermutet, ist sehr wahrschein-
lich.

Sind die „HymnenandieNacht",die„GeistlicheLieder"unddie
»Marienlieder\'\' die Verklärung von des Dichters Liebes- und Religi-
onsgefühl, seine Weltauffassung hat er niedergelegt in dem unvoll-
endeten Roman „Heinrich von Ofterdingen".

In diesem Werk sind Poesie und Philosophie so unzertrennlich/
verbunden, dasz es, um den Dichter verstehen zu können, nötig
ist, erst die Gedanken des Philosophen kennen zu lernen.

Keinem romantischen Dichter ist es je um die Philosophie als

Wissenschaft zu tun. Sie ist ihm nur das Mittel, einen gefestigten^

Standpunkt für seine Kunst zu finden. So nimmt sich auch Nova-

hs aus Fichte. Schelling. Jacob Böhme. Hemsterhuys was ihm

grade gefällt und kombiniert und färbt, wo er es nötig erach- ^
tet\').

Zu wiederholten Malen spricht Novalis aus, dasz die Kunst
nicht in dem Stoff liege, sondern erst von dem Künstler hinein- x
gebracht werde®). Wie der Maler mit ganz andern Augen als der
gemeine Mensch die sichtbaren Gegenstände sieht, so erfährt
auch der Dichter die Begebenheiten der äuszeren und der inneren

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Welt ganz anders als weniger begabte Menschen. Nirgends aber
ist es auffallender, dasz es nur der Geist ist, der die Gegenstände,
die Veränderungendes Stoffes poetisiert und dasz das Schöne, der
Gegenstand der Kunst, uns nicht gegeben wird, oder in den Er-
scheinungen schon fertig liegt, als in der Musik. Daher gibt No-
valis dieser Kunst theoretisch den letzten Platz unter den Kün-
steni).

Trotzdem ist Musik die am meisten beglückende Kunst.

Sie erregt Stimmungen, und: „Stimmungen, unbestimmte Emp- ^
findungen, nicht bestimmte Empfindungen und Gefühle machen
glücklich"2). Das Leben der romantischen Seele ist Musik, das >
Wesen der Romantik ist Liebe. Das widerspricht sich nicht, beide
fordern Harmonie, Musik und Liebe sind eines Wesens®). In die-
sem Sinne sagt Heinrich von Ofterdingen von seiner Braut, dasz sie
ihn in Musik auflösen werde*). Novalis denkt an die Möglichkeit,
die höchste Unbestimmtheit, den Geist der absoluten Musik®), in
Worten zum Ausdruck zu bringen. „Es müszte Gedichte geben
können, blosz wohlklingend und voll schöner Worte, aber auch
ohne allen Sinn und Zusammenhang — höchstens einzelne Stro-
phen verständlich — wie lauter Bruchstücke aus den verschie-
denartigsten Dingen. Höchstens kann wahre Poesie einen allego-
rischen Sinn im Groszen haben und eine indirekte Wirkung, wie
Musik tun"6). Wie hier auf eine Synthese der Dicht-und der Ton-
kunst weist Novalis auf eine Synthese aller Künste hin\'), wenn
ihm, wie Richard Wagner, die vollkommene Oper als eine freie /
Vereinigung aller Künste, als die höchste Stufe des Dramas vor-
schwebt; mit Fr. Schlegel geht er über Wagner hinaus in dem
Traum einer Synthese aller Künste und Wissenschaften^). ^

Die Augenblicke, in denen der Künstler schafft, sind Augen-
blicke der Ekstase, wo Schauen, Hören, Fühlen Eins ist; in diesen /

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mystischen Momenten, in denen das Gefühl der Unendlichkeit,
der Ewigkeit den Schaffenden berührt, fühlt dieser sein wahrhaf-
testes, eigenstes Leben^). Daraus geht hervor, dasz der Sinn für
Poesie viel mit dem Sinn für Mystik gemein hat2). Dichter und
Priester waren denn auch im Anfang Eins, erst spätere Zeiten^
haben sie getrennt. Der echte Dichter ist aber immer Priester, wie
alle absolute Empfindung religiös ist®).

Fr. Schlegel gestaltet wohl einen Gedanken Novalis\', wenn er
^agt: „Wenn jedes unendliche Individuum Gott ist, so gibt es so
viele Götter als Ideale. Auch ist das Verhältnis des wahren Künst-
lers und des wahren Menschen zu seinen Idealen durchaus Religi-
on. Wem dieser innere Gottesdienst Ziel und Geschäft des ganzen
Lebens ist, der ist Priester, und so kann und soll es jeder werden"«).

»Poesie ist Darstellung des Gemüts, der inneren Welt in ihrer^
Gesamtheit"®). Auch diesen Gedanken führt Fr. Schlegel weiter aus:
.,Die eigentliche Lebenskraft der inneren Schönheit und Vollen-
dung ist das Gemüt. Gemüt ist die Poesie der erhabenen Ver-
nunft und durch Vereinigung mit Philosophie und sittlicher Er-
fahrung entspringt aus ihm die namenlose Kunst, welche das ver-
worrene flüchtige Leben ergreift und zur ewigen Einheit bildet"®).

»Der Dichter, der Künstler ist allwissend, er ist eine wirkliche
Welt im Kleinen"\'). Denn obgleich jeder Mensch in jeder Minute
dichtet und trachtet, obgleich jedermann im geringen Grad schon
Künstler ist»), so steht doch der Dichter, der wirkliche Künstler auf
dem Menschen, wie die Statue auf dem PiedestalP), er ist durch-
aus transzendental, er versteht die Natur besser als der wissen-
schaftliche Kopfio). Jegröszer er ist, desto philosophischer ist er"),
desto weniger Freiheiten erlaubt er sich.

Die Philosophie lehrt uns den Wert der Poesie kennen, sie istx
die Theorie der Poesie, sie zeigt uns, dasz die Poesie Eins und al-

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les isti). Jeder echte Künstler ist von jeher nichts andres als der
anwendende, praktische Philosoph^). Der Unterschied zwischen
beiden ist, dasz der Philosoph seine Gedanken begrifflich, intel-
lektuell, erfaszlich ausdrückt, der Künstler anschaulich, büdlich,
symbolisch.

Die gemeinschaftliche Grundlage aber ist das Genie®). ^

„Das Genie ist der Springer par excellence"«). Der Weg der inne-
ren Betrachtung ist ihm nur ein Sprung. Und trotzdem schaut er
unmittelbar die Natur jeder Begebenheit und jeder Sache, er be-
trachtet sie in ihrem lebendigen, mannigfaltigen Zusammenhang
und vergleicht sie leicht mit allen übrigen, wie Figuren auf einer
TafeP). Alle Produktionen des Geistes stammen, wie die instink-
tiven Bewegungen des Körpers, nicht aus Vorsatz, sondern quel-
len ungewollt, unwillkürlich aus der unergründeten Tiefe des Be-
wusztseins. Sie sind Kinder der Gnade, der Begabung«). Einmal
nennt Novalis genial, was durch Inspiration gegeben ist\'). Ein
Genie ist nach Novalis derjenige, für den die Gebilde seiner Phan-
tasie leben wie die Gegenstände der Erscheinungswelt®). Für No-
valis haben diese keine gröszere Realität als die Resultate der
„schaffenden Einbildungskraft", womit er die Phantasie meint
Und so kommt der Dichter zu dem Ausspruch: „Ich = Du ist der
höchste Satz aller Wissenschaft und Kunst." Von da an haben für
ihn Innen- und Auszenwelt die gleiche Realität, die gleichen Ge-
setze. Er selber aber hat aufgehört, Fichteaner zu sein»).

Die produktive Einbildungskraft ist für ihn eine magische
Wundergewalt, deren sich der Mensch nur zu bemächtigen, ja
nur bewuszt zu werden braucht, um alles hervorzubringen was
er wül").

Wenn aber für uns die realen Gegenstände mit schwerer wie-
gendem Wirklichkeitsgefühl verbunden sind, so hat das seinen
Grund in der mangelhaften Ausbildung unsrer Sinne^i). Vermeh-

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rung und Ausbildung der Sinne gehört mit zu der Hauptaufgabe
der Verbesserung des Menschengeschlechts, der Graderhöhung
der Menschheiti).

Der Mensch musz die Kraft seiner Sinne bis zu dem Grade stei-
gern, dasz ihm abstrakte Gedanken anschaulich werden; andrer-
seits musz sich das Denkvermögen derartig vervollkommnen,
dasz es anschauliche Vorstellungen ohne weiteres in Gedanken
verwandelt. Nur der magische Idealist^) hat diese beiden idea-
listischen Operationen, die Versinnlichung des Denkens und die\'^
Vergeistigung der Sinne®), vollkommen in seiner Gewalt. Zwi-
schen dem Durchschnittsmenschen und ihm büdet der Künstler \'
eine Zwischenstufe.

Kunst musz symbolisch sein. Denn deutlich wird etwas nur
durch Repräsentation. Man versteht das Ich nur, insofern es
vom Nicht-Ich repräsentiert wird. Das Nicht-Ich ist das Symbol
des Ich und dient nur zum Selbstverständnis des Ich. Umgekehrt
versteht man das Nicht-Ich nur als Symbol des Ich«).

Wie schon erwähnt, hat Novalis diese Gedanken in „Heinrich
von Ofterdingen" künstlerisch gestaltet.

Dieser Roman, ein Erziehungsroman in Stimmungsbildern, ein
lyrisches Selbstbekenntnis, sollte eine in bewusztem Gegensatz
zu „Wilhelm Meister" geschriebene Verherrlichung der Poesie sein,
einer Poesie, die das ganze Leben durchdringen sollte. Das von
Klingsor erzählte Märchen sollte als höchste Verherrlichung den
Schlüssel zum Ganzen bieten5)6).

Zur Zeit der paradiesischen Unschuld des Menschengeschlechts
^ar die Sinnenwelt — das Reich Arcturs — mit der Geisteswelt
■ dem Altar Sophiens — vereinigt. Als Sophie, des Königs Ge-
niahlin, das Reich verliesz, um sich zu dem Altar der Mysterien zu
hegeben, deren Priesterin sie war, trat eine Spaltung ein, wovon
der erstarrte Zustand von Arcturs Reich die Folge ist.

T^ie Wiedervereinigung des Getrennten ist das Ziel des Mär-
chens; sie findet statt durch Eros, die Liebe und Fabel, die Poesie,

Se

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die Tochter Ginnist ans, der Phantasie. Aber erst musz der Ein-
flusz des Reichs der Parzen, der mathematischen Gewalten des
Lebens, aufgehoben werden, erst wird die Mutter, das Symbol des
Herzens und des moralischen Triebes im Menschen, verbrannt,
denn erst durch das tiefste Leid wird der Weg zur Höhe frei ge-
macht, erst musz die Sonne, das mathematische Gestirn, das Sinn-
bild der Aufklärung verblassen vor den leuchtenden Flammen des
Scheiterhaufens.

Das Erwachen der neuen Zeit erscheint wie ein Zurückkehren
zum Urbeginn — Atlas, der Träger der Welt, gewinnt neue Kraft
und neues Leben.

Aus der Flüssigkeit der magischen Schale, die auf Sophiens Al-
tar gestanden hat und der Asche der Mutter wird ein göttlicher
Trank bereitet, von dem alle kosten.

Alle fühlen nun im Innern die freundliche Begrüszung der
Mutter; das grosze Geheimnis, der Sinn des strebenden Daseins
wird ihnen offenbart als die Gewiszheit eines innem Gebunden-
seins. das Gefühl der Abhängigkeit von einem höheren Ich.

im zweiten Teil sollte im Gemüt des Dichters die Idee der All-
Einheit symbolisiert werden^):

Der Liebe Reich ist aufgetan,
Die Fabel fängt zu spinnen an.

Dem Dichter ist die Geliebte das Symbol, die Abbreviatur des
Universums^); Mathüde aber ist gestorben. Ihr Tod liegt zwischen
dem ersten und dem zweiten Teil des Romans. Aber Cyane, und
das Mädchen aus dem Morgenland aus dem ersten Teil des
Romans sind wie Mathüde Verkörperungen derselben Idee, die
von Anbeginn in uns ruht®).

Sehr bezeichnend für Novalis ist die Antwort, welche Cyane
dem Pilgrim gibt auf seine Frage: „Wo gehen wir denn hin?" Sie ^
lautet: „Immer nach Hause"*). Denn Novalis ist der Lehrling zu, ^
Sais, den alles in sich selbst zurückführt^), bei dem der geheim-\'
nisvolle Weg nach innen geht«).

\') Novalis, Heilborn I, Seite 160; Minor IV, Seite 216.
«) Novalis, Heilborn II, 1, Seite 36; Minor II, Seite 146.
\') Simon, Der magische Idealismus, Seite 128.
*) Novalis, Heilborn I, Seite 168; Minor IV, Seite 224.
*) Novalis, Heilborn I, Seite 212,; Minor IV Seite 6
•) Novalis, Heilborn II, 1, Seite 30; Minor II, Seite 114

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Er ist derjenige, der den Schleier der Göttin zu Sais gehoben
hat und sich selbst erblicktei)rAber er ist auch Hyazinth, der im
Tempel der Isis Rosenblütchen in die Arme fällt2). Durch die
Liebe erfuhr er die Welt®).

Für einen Dichter wie Novalis läszt auch die Natur sich nur
aus dem Inneren heraus erfassen. Und so heiszt es in „Die Lehrlin-
ge zu Sais": „Mitdem Verstande gelingt es keinem, in sie zu drin-
gen. Langer, unablässiger Umgang, freie und künstliche Be-
trachtung, Aufmerksamkeit auf leise Winke und Züge, ein inneres
Dichterleben, geübte Sinne, ein einfaches und gottesfürchtiges
Gemüt, das sind die wesentlichen Erfordernisse eines echten Na-
turfreundes"«). Nur dem Kinde und dem Dichter erschlieszt die
Natur sich ohne Mühe«). \'\'\'

Eine Landschaft erblickt Novalis mit dem modernen Gefühl,
dasz die Stimmung, welche sie in ihm erweckt, der Reflex der^
Stimmung seines eigenen Gemüts sei.

»Wieandersist sie" —heiszt es in „Heinrich von Ofterdingen"®),
»wenn ein Engel, wenn ein kräftiger Geist neben uns ist, als wenn
em Notleidender vor uns klagt oder ein Bauer uns erzählt, wie
ungünstig die Witterung ihm sei oder wie nötig er düstre Regen-
tage für seine Saat brauche."

In Bezug auf diese Stelle sagt Heilborn«): „Novalis hat das
Wort, dasz die Landschaft ein Erlebnis sei, noch nicht prägnant
ausgesprochen, aber sie war es ihm".

Eine Stelle in „Die Lehrlinge zu Sais" ist wohl aus des Dich-
ters innerster Uberzeugung hervorgegangen. Sie lautet: „Sittliches
Handeln ist jener grosze und einzige Versuch, in welchem alle
Rätsel der mannigfaltigsten Erscheinungen sich lösen"\'). Dieser
Ausspruch deckt sich mit der Bedeutung des Geheimnisses im
Märchen und mit dem Gespräch über das Gewissen zwischen Syl-
vester und dem Pilger im zweiten Teil von „Heinrich von Ofterdin-
gen \'. Auf Heinrichs Frage, wann es keinen Schrecken, keine Not
und keines Übels mehr im Weltall bedürfe, antwortet Sylvester:

Vgl-das Distichon, Novalis, Heilborn II, 1, Seite 177; Minor IV, Seite 45.

) Novalis, Heilborn 1, Seite 228; Minor IV, Seite 24.

) Novalis, Heilborn I, Seite 388; Minor I, Seite 257.

) Novalis, Heilborn I, Seite 219; Minor IV, Seite 14.

) Novalis, Heilborn I, Seite III; Minor IV, Seite 165.

} Heilborn, NovaUs der Romantiker, Seite 200.

) Novalis, Heilbom I, Seite 223; Minor IV, Seite 18—19.

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„Wenn es nur Eine Kraft gibt, die Kraft des Gewissens, wenn die
Natur züchtig und sitthch gewordenist" i). So ist auch der wahre

Geist der Fabel einefreundliche VerkleidungdesGeistesder Tugend

und der eigentliche Geist der untergeordneten Dichtkunst die
Regsamkeit des höchsten, eigentümlichen Daseins. Eine überra-
schende Selbstheit ist zwischen einem wahrhaften Liede und einer
edlen Handlung®),

Das Schicksal eines Menschen ist für den Dichter in so hohem
Masze und so unbedingt die Folge seiner inneren Verfassung, dasz V
ihm Schicksal und Gemüt Namen desselben Begriffs sind®).\' Sein
eigenes Gemüt war heiter gestimmt. Trauriges konnte er nicht
darsteUen — Mathüdes Tod z. B. liegt zwischen dem ersten und
dem zweiten Teil seines Romans. Trotzdem liegt in Novalis\' Le-
bensauffassung der Keim des Pessimismus, und zwar darin, dasz
der Dichter das Leben als einen Traum betrachtet. Er entwertet
es, da er blosz ein herrliches Schauspiel darin sieht^). Verzweiflung
und Todesfurcht sind ihm grade die interessantesten Täu-
schungen dieser Art

Dieser Auffassung des Menschen als eines Schauspielers ent-
spricht es, dasz der Mensch — namentlich der höchste Mensch,
der Künstler — um seine Individualität auszubüden, immer mehr
Individualitäten anzunehmen und sich zu assimilieren wissen
musz: der Künstler macht sich zu allem, was ersiehtundsein will«)./.

Das Gleichnis, das Leben sei ein Traum, weist andrerseits auf
den hohen Wert hin, den Novalis dem Traum beimiszt. Die beiden \'<
Träume, womit „Heinrich von Ofterdingen" anfängt, klären uns
über das innerste Wesen Heinrichs und seines Vaters auf. In die-
ser hohen Wertung des Traums berührt Novalis sich mit mittelal-
terlichen Dichtern. „Schon in germanischer Sage und Dichtung
wurden bedeutungsvoUe, meist prophetische Träume erzählt, so
der berühmte Falkentraum Kriemhildens. Und in der kirchli-y
chen, mehr noch in der vulgär-katholischen Literatur und Sage
gab es Visionen aller Art. Vermöge seines Dualismus glaubte der
mittelalterliche Mensch im Traum ein wertvolleres, weil ganz in- ^

\') Novalis, Heilborn I, Seite 175; Minor IV, Seite 231
\') Novalis, Heilborn I, Seite 177; Minor IV, Seite 234.
=) Novalis, Heilborn I, Seite 172; Minor IV, Seite 228 229
\') Joel, Seite 226.

») .Joel, Seite 158; Novalis, Heilborn II, Seite 109; Minor III, Seite 73
\'} Novalis, Heilbom II, 1, Seite 80, 81; Minor II, Seite 302.

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nerliches Leben zu genieszen. Da waren der Seele die Pforten von
Himmel und Hölle aufgetan, die ihr im Wachen des Tages ver-
schlossen waren. Die gewaltigste christliche Dichtung aller Zeiten
wurde ein Traum\'\'^). Auf die Bedeutung des Traums für die Poesie -
des Minnesängers wurde schon hingewiesen. Zum zweiten Mal
berührt sich die mittelalterliche Romantik mit der durch ein
halbes Jahrtausend von ihr getrennten Geistesströmung in der
hohen Stellung, welche die Frau in Leben und Dichten ein>
nimmt. Und wie die Frauenverehrung im Mittelalter daraus her-
vorging, dasz der Sänger in der hochgebildeten Herrin eine Per-
sönlichkeit erblickte, so verlangte der spätere Romantiker, dasz
die Frau sich, wie er, zu einer geistig immer wachsenden Indivi-
dualität ausbüden sollte. Deshalb sind die romantischen Frauen ,
für das Verständnis der ganzen Strömung von der gröszten Be-
deutung.

Wie die Mitglieder des romantischen Kreises das geistige Ideal
nicht dadurch erreichen wollten, dasz sie die eigentümlich männ-
lichen oder spezifisch weiblichen Eigenschaften ausbildeten, son-
dern indem sie den Mann und Weib in sich fassenden höheren Be-
griff des Menschen zu verwirklichen suchten, so ist ihr Charakter
eine Mischung männlicher und weiblicher Eigenschaften. Weib-
liche Züge in dem romantischen Dichter sind wohl die überaus
grosze Empfänglichkeit und der Drang sich mitzuteilen, der Ge-
selligkeitstrieb. Einsame Menschen waren die Romantiker wähx
rend der Blütezeit ihrer Poesie nicht, der Individualismus hatte
sich noch nicht so sehr gesteigert, dasz geistige Einsamkeit, wie^^
Wir sie bei den neuromantischen Dichtern finden, davon die not-
wendige Folge sein muszte. Als aber der romantische Kreis zer-
stob und dadurch für jedes einzelne frühere Mitglied eine gröszere
geistige Selbständigkeit notwendig wurde, da zeigte es sich, dasz

B. die Schlegel vor der Durchführung ihres eigenen Prinzips
^rückschraken und zu der schon immer wegen ihrer ästhetischen
Jilemente so hoch von ihnen verehrten katholischen Kirche über- X.
traten.

Wie modern aber sonst die Gedanken und Gefühle der Frühro-
mantik, namentlich Novalis\' Ansichten sind, geht daraus hervor,
dasz wir sie — mit Ausnahme von Maeterlincks Werken wahr-

\') Wechssler, Das Kulturproblem des Minnesangs I, Seite 230.

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scheinlich unabhängig von ihm — in der Poesie der französischen^
Symbolisten wiederfinden. Die aus dieser Dichtung hervorgegan-
gene deutsche Neuromantik, namentlich die Poesie Hugo von
Hofmannsthals, knüpft dazu bewuszt wieder an Novalis an. /

Dieses Wiederaufleben der Gefühle und Gedanken des jung
verstorbenen Dichters ist wohl der stärkste Beweis seiner wahr-
haft seherischen Genialität.

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ZWEITES KAPITEL

ROMANTIK UND NEUROMANTIK IN ENGLAND

Wie durch die deutsche, so geht auch durch die englische Lite-
ratur schon im Mittelalter eine romantische Strömung; von
Chaucer flieszt sie, obgleich meistens unterirdisch, über Spenser,
Shakespeare und Milton zu den Vorläufern der Romantik um
1800. Chaucer, der im Kern realistische Dichter, entnimmt nicht
selten den Stoff zu seinen poetischen Erzählungen französischen
oder italienischen romantischen Dichtungen, namentlich dem
„Roman de la Rose" und Dantes Poesie. Manchmal, wie in „The
Monkes Tale"^) geht der Inhalt seines Werkes auf beide roman-
tische Quellen zurück. Auch „The Parlement of Foules, a com-
pleint to his lady"^) könnte man nicht nur wegen der Allegorie,
der Symbolik dieser Dichtung in gewissem Sinne romantisch nen-
nen, sondern auch deshalb, weil Chaucer dieses Gedicht als Vision
gestaltet. Im Anfang der „Legend of good Women"®), wo der
Dichter sagt, es gebe mehr auf Erden, als man mit Augen erblik-
ken könne, könnte sogar auf ein romantisches Gefühl hingewie-
sen werden.

Spenser ist in seiner Allegorie „The Fairy Queen" durch den
französischen Ritterroman beeinfluszt, in „The Shepheards Ca-
lender" steht er unter der Einwirkung Petrarcas und Boccaccios.
In ersterer Dichtung sucht er durch die Verwendung von Allite-
rationen und den Gebrauch altertümlicher Worte seinem Werk
das Gepräge einer früheren Zeit zu geben.

Kräftiger äuszert sich die Romantik in Shakespeares Dramen:
als Visionär schaut der gröszte aller englischen Dichter das Ver-
borgene des menschlichen Herzens, dazu liebt er das Märchen-

\') The Student\'s Chaucer, Skeat, Clarendon Press Oxford, Seite 530 ff.
The Student\'s Chaucer, Skeat, Clarendon Press Oxford, Seite 101 ff.
The Student\'s Chaucer, Skeat, Clarendon Press Oxford, Seite 349.

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hafte, manchmal greift er ins Feenreich hinüber, hie und da ist
der Schauplatz seiner Dramen „eine romantische Gegend."

Milton fügt zu der Strenge des Puritaners die Glut des Re-
naissancedichters, namentlich in Gedichten wie „L\'Allegro" und
„II Penseroso" und in „Paradise Lost" kann man von romanti-
schem Gefühl sprechen.

Im 18. Jahrhundert erblüht dann, obgleich noch als literari-
sche Seltenheit, die Poesie, welche die Gestaltung des inneren Er-
lebnisses ist. So finden sich in Youngs und Grays Dichtungen per-
sönliche Gefühle über Leben. Tod und Vergänglichkeit und ist
Thomsons und Cowpers Poesie der dichterische Ausdruck einer
wirklich empfundenen Liebe zur Natur. Von diesen Dichtern hat
Young den gröszten Einflusz ausgeübt; unter andern Werken ^
regte sein „Essay on original composition", worin er ausführt, wie
notwendig es für den Dichter sei,zur Natur zurückzukehren und in
dem er die Rechte des Genies hervorhebt, Herder zu Gedanken
an, welche den Sturm und Drang vorbereiteten. Als Dichter be-
einfluszte er u. a. Novalis.

Die Veröffentlichungen Macphersons, „Fragments of ancient
Poetry", „Fingal" und „Temora"i) übertrafen an Romantik aber
alle zum Teil unbewuszten Bestrebungen früherer Dichter.

Nicht nur auf die romantische Bewegung in England, sondern
auch auf die Dichter des Sturm und Drang, auf Chateaubriand,
auf die Romantik in Italien. Holland und Dänemark haben diese
Dichtungen eingewirkt.

Von noch gröszerem Einflusz waren Percys „Reliques"^). OhneX
sie wären Wordsworths und Coleridges „Lyrical Ballads" nicht
möglich gewesen. Wordworth ist der Ansicht, dasz die englische Poe-
sie sich seit Percys Werk vollkommen geändert habe, und dasz
er selbst den alten Balladen „the power of sincery and of direct
and homely speech" verdanke®).

Wordsworth sucht in seiner Dichtung die alltäglichen Erleb-
nisse der einfachen Leute aus seiner Heimat poetisch zu verklä-

Macphersons Vorlagen sind irische Gedichte aus dem 13. Jahrhundert, in die er
die Stimmung der wilden und erhabenen Natur der westlichen Hochlande hineintrug
Vgl. Beers, A history of English Romanticism I, Seite 306 ff., Seite 332.

Reliques of ancient English poetry, consisting of old heroic ballads, songs and
otter pieces of our earlier poets. Sieh Beers I, Seite 310 ff. Herder übersetzte einige
dieser Balladen; Sweet Williams Ghost inspirierte Bürger zu seiner Meisterballade
Lenore, die u. a. von Scott ins Englische übersetzt wurde.
\') Beers I. Seite 299, 300.

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ren: nur die Landleute hätten noch den Eindrücken der Natur
offene Sinne, nur sie seien noch empfänglich für die Wunder der
Schöpf ungi).

Nach Wordsworths Ansicht soll die Sprache des Dichters die
Umgangssprache sein. Denn wie wahr und lebendig der Dichter
sich äuszere, die Wahrheit und Lebhaftigkeit der Sprache dessen,
der sich wirklich in der erdichteten Situation befinde, könne er
nicht erreichen; m. a. W. der Dichter kann den prosaischen Aus-
druck der Wirklichkeit nie übertreffen, höchstens sich ihm nä-
hern®).

In dieser Auffassung zeigt sich Wordsworth, wie in seiner Poe-
sie, als den Übergangsdichter; auch seine Werke besitzen einen
zwiefachen Charakter, z. T. tiagen sie das Verstandesgepräge des
18. Jahrhunderts, z. T. sind sie der Ausdruck der Gefühle einer
poesievolleren Zeit.

An die Aufklärung erinnern diejenigen Stellen in seiner Poesie,
Wo der Dichter in dem Wirken der Natui einen Zweck erblickt
und von ihr sagt, sie hätte die Gewalt, den Menschen zu lehren,
das Leben zu nehmen wie est ist, ihn zu läutern,

to chasten and subdue®).

In manchen Augenblicken genieszt Wordsworth die Natur
nicht um der inneren Freude willen, die sie ihm während des
Schauens spendet, sondern er sucht den Natureindruck mit Ab-
sicht festzuhalten, weil er weisz, dasz die Erinnerung an ein sol-
ches Erlebnis glücklich macht^), bewuszt bewahrt er den gegen-
wärtigen Moment zu künftigem Gebrauch auf®).

Häufig erinnert Wordworth an Rousseau®). Ganz im Geiste die-
ses Naturpredigers ist z. B. das Gedicht „Lines written in early-
Spring"\') empfunden; wenn es der Wille des Himmels ist, dasz
die ganze Schöpfung glücklich sei.

\') Das Thema seiner Poesie sind „common subjects, such as will be found in every
village, poetically treated".

Brandes, Der Naturalismus in England, 1. Auflage, Seite 76.
=•) The complete poetical Works of William Wordsworth, Macmillan 1909, Seite 94.
♦) Vgl. den Schlusz des Gedichts „I wandered lonely as a cloud", Seite 205.
\') Brandes, Der Naturalismus in England, Seite 51.

®) Vgl. das Sonett Seite 353 „The World is too much with us", vgl. The Cambridge
history of Englisch Literature Volume XI, Seite 93.
\') Seite 84.

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Have I not reason to lament
What man has made of man ?

Daneben kennt der Dichter Augenblicke mystischen Auf-
schwungs, Zeiten, wo

we are laid asleep
In Body and become a living souP).

Da wird Wordsworth zum Pantheisten, da erblickt er in der
Natur die Offenbarung Gottes, da kann ihm jede Frucht, jede
Blume, jeder Stein die Berührung mit der Ewigkeit gewähren^).

In „Ode, Intimations of Immortality from Recollections of
Childhood"®) äuszert der Dichter Gedanken, die an Piatos Lehre
von den Urbildern erinnern. Als Romantiker erblickt Words-
worth in dem Kinde das Wesen, in dem die Erinnerung an die
göttliche Heimat der Seele noch am kräftigsten lebt, nur die
Jugend sehe die Natur „apparelled in celestial light."

Wo Wordworth der Stimmung seines Innern in Augenblicken
dichterischen Empfindens einen poetischen Ausdruck gibt, da
entsteht eine in groszer Schönheit gestaltete Gefühlslyrik1) mit
ursprünglichen und geschauten Gleichnissen®), da ist der Dichter
Lyriker im höchsten Sinn, so dasz man ihn, trotz der rationalisti-
schen Elemente seiner Poesie doch als den Vorläufer von Dich-_/
tem wie Keats und den Präraphaeliten betrachten musz.

Coleridges Dichtung bedeutet auf dem Weg zur Neuromantik ^
den zweiten Schiitt. Das Thema dieser Poesie bilden: „subjects
mainly supernatural, but made real by the dramatic truth of such
emotions, supposing them real"®).

Die Ereignisse und die handelnden Personen sollen übernatür-
lich sein, aber die Schilderung der Gemütsbewegungen soll ebenso
dramatisch wahr sein, wie wenn die Situation real wäre. Solche

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Balladen sind „The Rime of the Ancient Mariner"i) and „Christa-
ber\'2). In dieser Poesie ist die mittelalterliche Stimmung, das
Wunder, das Unbestimmte mit groszer Kunst suggestiv gestal-
tet, Dasz nicht alles verständhch ist, erhöht nach des Dichters
Ansicht noch die Stimmung des Wunderbaren: „Poetry gives most
pleasure, when only generally and not perfectly unterstood"®),
eine Auffassung, die
auch Friedrich Schlegel im „Athenäum" ver-
tritt.

Wie A. W. Schlegel wies Coleridge auf „the endless subtle beau-
ties of Dante"«), hin; im Anschlusz an dessen Vorlesungen über
dramatische Kunst und Literatur verkündete auch er das Genie
Shakespeares.

Coleridges Balladen stehen an Kunstwert so hoch über den
Balladen Scotts, dasz diese, was die Bearbeitung betrifft, auf spä-
tere Dichter nur selten eingewirkt haben. Gewöhnlich geben sie
blosz den Stoff und die Lokalfarbe, aber nicht den Geist des Mit-
telalters®).

In Scott flieszt eine englische Strömung mit einer deutschen zu-
sammen: sowohl Percys „Reliques" und Walpolesund Lewis\'Ro-
mane wie Bürgers Balladen und Goethes „Götz von Berlichingen"
haben auf seine Dichtung eingewirkt. Von der Gemütsseite des
Sturm und Drang ist er aber nicht beeinfluszt worden; unabhän-
gig von Deutschland fand diese Gefühlsrichtung ihren dichteri-
schen Vertreter in Lord Byron. Auch Byrons Einflusz auf seine
Zeitgenossen, sowohl in England wie im Ausland, war grosz. Aber
auf die Dichter, die an erster Stelle Schönheit suchen, hat er kaum
eingewirkt. Dazu ist seine Poesie zu sehr eine Dichtung aus Grund-
sätzen und Zeitideen, und ist ihre Form in der Regel zu wenig ge-
pflegt. Stefan George nennt Bjnron eine vergegenwärtigende Ge-
stalt, dessen Gedichte von Jahr zu Jahr schlechter werden®).

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Wie Coleridge berührt sich Shelley in seinen Gedanken und Ge-
fühlen mit der Frühromantik; zugleicherzeit aber bedeutet seine
Poesie eine beträchtliche Steigung nach dem Gipfel der Neuro-
mantik. Wie Franciscus von Assisi, wie Schelling und Novalis,
fühlt auch Shelley sich durch die Liebe mit der ganzen Natur
verbunden; das Gefühl der Einheit mit der ganzen Schöpfung
spricht er u. a. aus in den Anfangsworten seiner Dichtung „Alas-
tor":

Earth, Ocean, Air, beloved brotherhood^).

Wie für Novalis, so ist auch für Shelley die Liebe der Zentral-y
punkt, aus dem sich sowohl seine poetischen wie seine sittlichen
Ideale erklären lassen: für beide Dichter ist das Kunst- und das
Sittlichkeitsideal im Grunde Eins^).

Nicht nur die Naturmystik und die hohe Würdigung der Liebe
verbindet Shelleys Poesie mit der Dichtung der Frühromantiker:
auch das Vorherrschen des Instinktes, der Intuition, des Unbe-
wuszten, der Phantasie, des Traumes®), der Kampf gegen die
Konvention«), die Liebe zu Symbol und Allegorie®) sind Be-
rührungspunkte. Wie Novalis strebt auch Shelley die Poetisierung
des Lebens an: „Durch Science, Poetry and Thought soll auch
dem Ärmsten so viel Glück zu Teil werden können, dasz er sich
in Zufriedenheit mit seinem Los abfindet®). Kein Mensch soll sich
des Luxus entschlagen und auf die Freude verzichten müssen.
Frei aus der inneren Selbstbestimmung der kraftvollen Persön-
lichkeit heraus soll er alle Früchte der Erde, alle Genüsse der Sin-
ne und des Geistes gleichmäszig weise genieszen\'\')."

Wie spätere Dichter kennt Shelley die innere Einsamkeit®),
welche die Folge dieses von ihm so kräftig verfochtenen Individu-
alismus ist; wie sie, und besser als die frühromantischen Dichter,
weisz Shelley, dasz für Musik und Dichtkunst verschiedene Re-
geln gelten: „the mannerof music ist not the manner of poetry"®).

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» Es ist zu bewundem, wie des Dichters Verskunst neben den
Schönheiten des Rhythmus fast unbewuszt die feinsten Klangef-
fekte anzubringen verstand, so dasz man hierin die französischen
Dekadenten fast seine Jünger nennen und nicht unwahrschein-
lich von ihm für beeinfluszt halten kann"^).

Dasz für Shelley die Kunst noch nicht blosz wegen ihrer selbst
da war, zeigen folgende Worte aus einem Brief an Leigh Hunt: „It
is impossible to compose, except under the strong excitement of
an assurance of finding sympathy in what you write"®).

Der erste englische Dichter, der blosz aus der Freude am Schaf->f
fen dichtete, war Keats. Obgleich die Ballade „La Belle Dame
Sans Merci"®) das einzige seiner Gedichte ist, das aus der Stim-
mung der Frühromantik heraus geschaffen ist, berührt auch die-
ser Dichter sich in seinen Gedanken und Gefühlen häufig mit der
deutschen Strömung, manchmal auf dieselbe Weise wie Shelley,
namentlich aber darin, dasz für ihn die Phantasiewelt schöner
und wahrer ist als die Welt der WirkUchkeit:

Heard Melodies are sweet, but those unheard are sweeter^).

Beauty is truth, truth beauty®).

Keats ist der Dichter mit den verfeinerten Sinnen, auf welche
Novalis so groszen Wert legte. Niemals verwendet er ein unvoll-
endetes Bild, all seine Gleichnisse sind mit dem Auge, dem Ohr,
dem Geruchssinn erlebt. Die Kunst, durch Laut und Rhythmus
verwandte Seelenschwingungen zu erzeugen, versteht er meister-
haft®), dazu ist Keats in so hohem Masze und so ausschlieszlich der
Gestalter der Schönheit\'), dasz man seine Dichtung den Vorhof ^
zum Tempel der Neuromantik nennen könnte.

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Namentlich die Schilderung, welche Okeanos in „Hyperion" von
dem jungen Meeresgott gibt, der ihn entthront, dessen Schönheit
aber so gewaltig ist, dasz der ältere freiwillig auf sein Reich ver-
zichtet, und die darauf folgenden Worte der Klymene, in denen
sie erzählt, wie sie, schönheitsberauscht, dem jungen Gott Apollo
gefolgt sei, könnte man als das Programm für die Poesie aller
jüngeren Dichter betrachten2).

Keats ist der Dichter, der von Coleridge zu Rossetti, dem ex-^
sten Neuromantiker der englischen Literatur, hinüberführt.

Rossetti verdankt das eigentümliche Gepräge seiner Poesie z.T.
seiner italienischen Herkunft. „Tief unten in der Seele des Dich-
ters, wo die Wurzeln seines Lebens aus geheimnisvollem Nährbo-
den ererbte Träume und Neigungen sogen, da lebten die Gedan-
ken und Gefühle der Männer und Frauen, die gesättigt waren von
Jahrtausende altem Volksglauben, von inbrünstiger Marienver-
ehrung, vom Ahnen einer übernatürlichen Welt"®).

Wie mehrere seiner groszen italienischen Vorfahren, wie Leonar-
do da Vinci und Michel Angelo, hatte Rossetti eine mehr als einsei-
tige Künstlerbegabung, er war nicht nur Dichter, sondern auch
Maler.

Das Ideal aller Kunst erblickte er in den Gemälden der Prära-
phaeliten, sehr hoch schätzte er die Einfachheit und Energie der
Ausführung, die Reinheit und Aufrichtigkeit der Idee bei diesen
Künstlern1). Wie Chiaro dell Erna®) malt Rossetti mit „the fee-

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ling of worship and service", wie dieser fühlt er „the worship of
beauty", auch er sucht den Rat zu befolgen »welchen der enttäusch-
te italienische Maler von der schönen Frau — der Verkörperung
seiner Seele — erhält: „Set thine hand and thy soul to serve Man
with God." Für Rossetti, wie für Novalis und Wackenroder, wie
für Keats, ist die Kunst heilig; „all pure art is sacred art"^).

F. W. H. Myers nennt Rossettis Gemälde „the sacred pictures
of a new religion"^).

Was Rossetti als Maler wollte, suchte er auch als Dichter zu
erreichen: seine Poesie sollte eine symbolische Kunst derVerinner-
lichung sein, voll Wahrheit und Naturtreue, die Realistik der
Einzelheiten sollte dazu dienen, die Schönheit der Dichtung als
Ganzes zu erhöhen und ihre Mystik zu vertiefen. Sie bildet, als
die Wortkunst eines Malers, den äuszersten Gegensatz zu der mu-
sikalischen Stimmungslyrik der Frühromantik, alles Abstrakte
wird konkret vorgestellt, alle Bilder sind geschaut®).

Auch als Dichter fühlte Rossetti sich zu der mittelalterlichen
Kunst Italiens hingezogen, namentlich liebte er die Dichter des
dolce
Stil nuovo, vor allen Dante«).

An erster Stelle aber ist Rossetti, wie Keats, derSchönheitssucher: A

This is that Lady Beauty, in whose praise
Thy voice and hand shake stilP).

Schönheit bedeutet für ihn aber vorzugsweise die Schönheit des /
Frauenantlitzes:

What dawn-pulse at the heart of heaven, or last
Incarnate flower of culminating day, —
What marshalled marvels on the skirts of May,

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Or sung full-quired, sweet June\'s encomiast;
What glory of change by nature\'s hand amass\'d
Can vie with all those moods of varying grace
Which o\'er one loveliest woman\'s form and face
Within this hour, within this room, have pass\'dP^).

Beauty like hers is genius. Not the call
Of Homer\'s or of Dante\'s heart sublime, —
Not Michael\'s hand furrowing the zones of time, —
Is more with compassed mysteries musicaP).

Wie die Dichter des dolce stil nuovo, wie Dante, betrachtet Ros-
setti das Äuszere der Geliebten als das Symbol ihres Inneren:

O Love! let this my lady\'s picture glow
Under my hand to praise her name, and show
Even of her inner self the perfect whole®).

Wie für Dante lebt auch für Rossetti die verklärte Geliebte in
der Gemeinschaft auserwählter Seelen:

What word can answer to thy word — what gaze
To thine, which now absorbs within its sphere
My worshipping face, till I am mirrored there
Light-circled in a heaven of deep-drawn rays?1)

Die irdische Liebe wird aus der ursprünglichen Einheit zweier ^
Seelen erklärt:

Even so, when first I saw you, seemed it, love.
That among souls allied to mine, was yet
One nearer kindred than life hinted of.
O born with me somewhere that men forget.
And though in years of sight and sound unmet.
Known for my soul\'s birth-partner well enough®).

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Eine Mischung von geistlicher und sinnlicher Liebe — wie so
manche Dichtung Petrarcas — enthält das 6. Sonett :

I was a child beneath her touch — a man
When breast to breast we clung, even I and she —
A spirit when her spirit looked through me —
A god, when all our life-breath met to fan
Our life-blood, till love\'s emulous ardours ran.
Fire within fire, desire in deityi).

Wie den späteren Minnesängern und den gleichzeitig lebenden
italienischen Dichtem erwächst auch dem neuromantischen Dich-
ter aus der Liebe die Seelenkultur.

Eine Verherrlichung der irdischen Liebe ist „The blessed Damo-
zel"2): diese, ein verklärter Geist, legt während Engelscharen an
ihr vorüberziehen, das Haupt auf das Himmelsgeländer und
weint Tränen der Sehnsucht nach ihrem Geliebten auf Erden.

Der junge Rossetti fühlt wie der Minnesänger Wachsmut von
Mühlhausen :

Mir waere ie liep bi ir ze sine
Dan bi Gote in paradis®).

Neben der Liebe gestaltet Rossetti auch den Hasz: drei Tage
lang schmilzt Sister Helen das Wachsbild, drei Tage lang läszt
sie den Fluch auf dem untreuen Geliebten lasten, so dasz er nicht
beichten kann und in die Hölle fahren musz^).

In „Sister Helen" wird, wie in „Rose Mary" und in „The King\'s
Tragedy",
der Wunderglaube dichterisch verklärt. Zum Teil lag die
Verherrlichung des Wunders dem Nachkommen italienisch-
katholischer Vorfahren im Blut, zum Teil wurde sie ihm durch
Lektüre vermittelt®).

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Rossettis Dichtung bedeutet in der enghschen Literatur einen
Gipfelpunkt; dieser Italiener-Engländer ist der erste Dichter,
der eine Poesie geschaffen hat, in der die Schönheit des Inhalts
und die der Form sich entsprechen, der erste Künstler, der unauf-
hörlich an der Form seiner Gedichte arbeitete. Nur ausnahms-
weise besitzt Swinburnes Poesie diese schöne Einheit. Einer ihrer
Fehler liegt darin, dasz der Dichter in seinen Bildern an die Auf-
nahmefähigkeit des Lesers Anforderungen stellt, denen dieser
nicht genügen kann: es ist unmöglich, sich diese zeilenlang durch-
geführten Gleichnisse in einem Augenblick in ihrem ganzen Um-
fang
zu verwirklichen. Sie lenken die Aufmerksamkeit auf sich
und zerstören die Schönheit des Ganzen^). Nur selten sind Swin-
burnes Gedichte reine Gegenstandskunst^), gewöhnlich wirkt
seine Dichtung, wie die Shelleys, mehr musikalisch als plastisch,
häufig besitzt sie die Kraft und Bewegung, die der Dichter an dem
dem Sturm trotzenden Seemöwen®) bewundert. Eben so wenig
wie in seiner Plastik, weisz Swinburne sich auch in der musikali-
schen Wirkung seiner Poesie zu beschränken, manchmal strömt
er seine Lyrik mit einem derartigen Wortschwall aus, dasz man
über diesen Trompetenstöszen und Orgeltönen den Inhalt ver-
giszt. Dazu ist diese mit gewaltiger Kraft herausgeschmetterte
Poesie zum Teil Gedankenlyrik, auch in dieser Hinsicht nähert sich
Swinburnes Poesie Shelleys Dichtung; gegen Rossettis reine Kunst
bedeuten diese Gedichte aber auch inhaltlich einen Rückschritt.

Auch Swinburne verficht die religiöse und soziale Freiheit des
Individuums«), daneben spricht er seine Wehmut über die Ver-

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gänglichkeit alles Irdischen aus\'^), und in den Chören der Tragödie
„Atalanta" den Schmerz darüber, dasz der Kampf des Menschen
gegen das Schicksal immer erfolglos ist.

Swinburne ist nicht nur einerseits durch Keats und Rossetti,
andrerseits durch Shelley beeinfluszt, auch französische Dichter
haben auf ihn eingewirkt^). So verwendet er z. B. in „Hertha"^) das
von Victor Hugo so sehr geliebte Kunstmittel der Gegensätze; in
»Laus Veneris\'\' , einem Gedicht das auf eine Erzählung in Maistre
Antoine Gagets „Livre des grandes merveilles d\'amour" zurück-
geht und die Sage vom Venusberg nach der Art eines Dichters der
..fleshly school" behandelt, erklingen Baudelairesche Töne, da
gestaltet Swinburne „exceeding pleasure out of extreme pain."

Späteren Dichtern ist Swinburne verwandt durch die Weise,
wie er in seinem Trauerspiel „Atalanta" einen antiken Stoff auf ro-
mantische Weise umdichtet, weiter durch die verhältnismäszig
Wenigen Lieder, in denen er für ein tief empfundenes Gefühl —
häufig die Liebe zur Natur, namentlich zum Meere — eine schö-
ne, geschlossene Form findet. Durch diese Lieder hat er sich die
Liebe Stefan Georges erworben1).

Mehr als Swinburne ist der junge Morris ein Verherrlicher der
Schönheit, geheimnisvoller als Rossetti weisz er die Stimmung des
Mittelalters zu gestalten®). Da er aber die Farben zu stark auf-
trägt, da seine Poesie nicht die Verfeinerung besitzt, welche eine
Eigenschaft der neuromantischen Dichtung ist, kann man diesen
Dichter nicht als ein Bindeglied zwischen Rossetti und einer mo-
derneren Strömung betrachten.

Die „Blätter für die Kunst" charakterisieren die Poesie der Prä-
raphaeliten auf folgende Weise:

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„Präraphaeliten und ähnliche: das gewollte Hervortreten lassen
gewisser Eigentümlichkeiten für Beschauer, die das genaue Sehen
verlernt und für die man schon sehr stark auftragen musz um be-
merkt zu werden\'\' i).

Für die deutschen Dichter um 1900 ist Rossettis Kunstbegriff
zu eng, für sie darf Wortkunst kein Gemälde sein.

Daneben aber rechnet Stefan George die Präraphaeliten zu den
„wichtigsten Geistern, denen man das Wiedererwachen der Dich-
tung in Europa verdankt" 2). Und die „Blätter für die Kunst" loben
die leuchtende Grazie®) der Dichter, welche wieder die lebende
und schöne Göttlichkeit der Form auf den Thron gesetzt«).

Die deutschen Neuromantiker erkennen also den Wert der
schönen Gleichnisse und der sehr gepflegten Form namentlich in
Rossettis Dichtung an, betrachten aber die Poesie der Präraphae-
liten doch nur als eine Etappe auf dem Weg zu der geistigen
Kunst, welche sie anstreben.

Hoch schätzen sie dagegen Emest Dowson, den von Baude-
laire, Verlaine und den Symbolisten sowie von Swinburne beein-
fluszten, im engern Sinn als die Präraphaeliten den ausländischen
neuromantischen Strömungen verwandten Dichter. Folgende,
der „Villaueile of his Lady\'s Treasures" entnommene Zeilen,
charakterisieren die ganze Dichtung dieses Künstlers:

I stole her laugh, most musical,
I wrought it in with artful care®).

Dowson will keine Theorien verwirklichen, keine philosophi- t
sehen Gedanken dichterisch gestalten, seine Stimmungslyrik ist
der Ausdruck individueller Gefühle, die er mit „artful care", in ge-
schlossener Form, mit hoher musikalischer Wirkung, daneben mit
plastischer Begabung in groszer Schönheit zu gestalten weisz.

Dowson liebt das Kind, er suggeriert uns „the glory of child-
hood"®).

Mehr als die Kindheit verherrlicht er aber die Jugend: wir se-

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hen das junge Mädchen in her „flowerlike beauty"i), mit Trä-
nen in den Augen über „the burden of the days that are to be."

Die Zeit der Jugend ist die Zeit der Liebe, und die Liebe ist die
Herrscherin der Welt, „Love is a mighty Lord!"

Lord over life and all the ways of breath.
Mighty and strong to save
From the devouring grave;
Yea, whose domination doth out-tyrant death.
Thou who art life and death in one.
The night, the sun;
Who art, when all things seem®).

Obgleich Dowson hofft, dasz Liebe seine Todesstunde verklä-
ren wird:

I will praise Thee, Lord, in Hell, while my limbs are racked asun-

(der.

For the last sad sight of her face and the little grace of an hour®).

obgleich „Liebe" für ihn „service" bedeutet*), obgleich er im
Traum die Geliebte als Heilige erblickt®), so weisz er doch, dasz
die Liebe zwei Menschen nur kurze Zeit verbindet®), und dasz
alte Liebe nie wieder erblüht\'): „life is a masque that changes"®).
Die Trennung aber soll äuszerlich heiter — „with a smile"®)
stattfinden:

But touch my hand and say:
„Until to-morrow or some other day.
If we must part"io).

Dieser Verfechter einer heiteren Kultur, dieser Schauspieler
des Lebens ist — wie der ihm in dieser Hinsicht verwandte deut-
sche Neuromantiker Hugo von Hofmannsthal — der Dichter der
Wehmut, des Pessimismus.

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In music I have no consolation
No roses are pale enough for me^).

For, Lord, I was free of all Thy flowers, but I chose the world\'s

sad roses^).

Erst nach dem Tode findet der Mensch den Frieden®), im Le-
ben erblüht die Ruhe des Gemüts nur dem, der sich vor der Welt
verschlieszt: der Nonne1), dem Mönch®).

Beside the altar, there ist rest®).

Die Verwirklichung der Schönheit der inneren Welt erblickt der
Mensch nur in „perfumed dreamland"\'), nur auf seiner Traum-
wanderung durch „No Man\'s Land"»).

Darum liebt der Dichter vor allem andern „the visionary face,
the admirable image, that my dreams have wrought"®).

Am schönsten hat Dowson den Traum — zugleicherzeit die
Liebe und die Musik — veiherrlicht in „The Pierrot of the Mi-
nute" lo).

Take up thy destiny of short delight;
I am thy lady for a summer\'s night.
Lift up your viols, maidens of my train.
And work such havoc on this mortal\'s brain.
That for a moment he may touch and know
Immortal things").

Music, my maids! His weary senses steep
In soft untroubled and oblivious sleep.
With mandragore anoint his tirfed eyes.
That they may open on mere memories.
Then shall a vision seem his lost delight.
With love, his lady for a summer\'s night.
Dream thou hast dreamt all this, when thou awake.
Yet still be sorrowful, for a dream\'s sake.
I leave thee, sleeper! Yea, I leave thee now.
Yet take my legacy upon thy brow;

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Remember me, who was compassionate.

And opened for thee once, the ivory gate.

I come no more, thou shalt not see my face

When I am gone to mine exalted place:

Yet all thy days are mine, dreamer of dreams,

All silvered over with the moon\'s pale beams:

Go forth and seek in each fair face in vain.

To find the image of thy love again.

All maids are kind to thee, yet never one

Shall hold thy truant heart till day be done.

Whom once the moon has kissed, loves long and late.

Yet never finds the maid to be his mate.

Farewell, dear sleeper, follow out thy fate^).

Wie Heiberg in „Syvsoverdag" durch Anna, die Hauptperson
seiner Märchendichtung, die Zeit Valdemar Atterdags und die
Gegenwart verbindet, so leben wir in Dowsons lyrisch-dramati-
schem Gedicht, obgleich der Ort nicht wechselt, bald im Reich des
Märchens, bald zur Zeit der Madame Pompadour: the Lady of
the Moon richtet aus einem „little book, bound deliciously in vel-
lum," aus einem Rokoko-Lehrbuch der Minne, an Pierrot Fragen
über das Wesen der Liebe^); als Marquise geht die Tochter des
Mondes mit einer Lilie als Fächer in Trianon spazieren®).

Nicht aus dem Bedürfnis nach mystischem Aufschwung, wie
Maeterhnck, sondern aus dem Gefühl der Lebensverzweiflung her-
aus verherrlicht Dowson das Schweigen.

„What is the use of speech?"«) „Silence is best"®).

Meisterhaft suggeriert er die Stimmung der „silent sorrow",
der „pale silence" in dem Gedicht „O Mors"®).

Dowson ist der Dichter der „Beata Solitudo" im Lande des
Schweigens.

There all forgetting
Forgotten quite.
We will repose us
With our delight
Hid out of sight.

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And men shall travail
And laugh and weep;
But we have vistas
Of gods asleep
With dreams as deep^).

Im tiefsten Schmerz bleibt Dowson, der Neuromantiker, der
Verherrlicher der Schönheit.

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DRITTES KAPITEL

ROMANTIK UND NEUROMANTIK IN FRANKREICH

In seiner „Psychologie contemporaine" sagt Paul Bourget^) :

»Parfaitement douée pour l\'analyse et pour la logique, la tête
française est d\'une pauvreté d\'imagination qui étonne, si on la
•compare aux têtes du Nord et à leur magique pouvoir de rêve, aux
têtes du Midi et à leur magique pouvoir de vision"®).

Dennoch ist Frankreich nicht nûr die Heimat der mittelalterli-
chen europäischen Romantik, sondern auch das Land, in dem
zum ersten Mal Gedanken und Gefühle ausgesprochen wurden,
Welche die Strömung um 1800 ankündigten. Rousseau bahnte ihr
durch die in seinen Werken zum ersten Mal ausgesprochene An-
sicht, dasz der durch gesellschaftliche und staatliche Bande gefes-
selte Mensch zur Natur zurückkehren müsse, den Weg. Aber auch
m den Jahrhunderten zwischen den zwei romantischen Höhepunk-
ten flosz die Strömung weiter; deutlich zeigt sie sich in dem Leben
Und der Kunst der burgundischen Lande während des ausgehen-
den Mittelalters®) und in der durch die Poesie der Nachfolger Pe-
trarcas beeinfluszt en Dichtung der Plejaden. Sogar in der klassi-
schen Zeit tritt sie hie und da ans Tageslicht.

Mit dieser sich in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts wie-
der an die Erdoberfläche her vorwagenden französischen Strö-
mung flosz in Chateaubriands Dichtungen „René "und „Atala"eine
englische und eine durch Rousseau und englische Dichter beein-
fluszte deutsche Gefühlsrichtung zusammen. In diesen beiden
Werken wurde zum ersten Mal das neue Gefühl der Wehmut laut,
das sich bei diesem Dichter zwar einerseits aus seiner Religiosität

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und der inneren Unruhe seiner Jugend erklären läszt, andrerseits
aber auf der Lektüre Ossians und Werthers beruht^).

Wie Chateaubriands Naturbeschreibungen als Wortkunst
manchniEd an die Poesie einer späteren Zeit heranreichen^), so
stöszt man in seiner Dichtung auch hie und da auf Gefühle, die
sich, kräftiger gestaltet, erst in der Literatur der zweiten Hälfte
des 19. Jahrhunderts finden.

So atmet z. B. die Szene in der Klosterkirche in „René"®) die
Stimmung der Poesie Baudelaires und des ersten Teils von Vil-
liersdelTsle Adams „Axel", „Le monde religieux"; im Geiste Mae-
terlincks heiszt es von den Natchez: „assis tranquillement sous
vos chênes, vous laissiez couler les jours sans les compter, vous ar-
riviez mieux que moi au résultat de la sagesse comme l\'enfant en-
tre les jeux et le sommeil"«). Und wenn René, „le jeune homme
plein de passions, assis sur la bouche d\'un volcan"®) nicht weisz,
woher ihm diese Schwermut Tiommt, so wird man an Verlaines
Lied „II pleure dans mon cœur" erinnert, in dem der Dichter „ce
deuil sans raison" durch das Bild des leise, aber ununterbrochen
tropfenden Regens gestaltet®).

Auch Benjamin Constant kennt „la mélancolie et la passion
moderne." Seiner Freundin, Belle van Zuylen, schrieb er: „La
vie n\'est bonne que pour qui a souffert et sait souffrir\'"\').

Alfred de Musset schildert auf den ersten Seiten seines Werkes
„La Confession d\'un enfant du siècle" die Atmosphäre des wer-
denden Pessimismus, „du sentiment de malaise inexprimable"®),
und sucht das Gefühl des Weltschmerzes aus den Enttäuschun-
gen, welche die Zeit mit sich brachte und der Einwirkung der
deutschen undderenglischenLiteratur zu erklären.De Musset flucht
Goethe und Eyron, weil diese Dichter durch ihre Werke, nament-
lich durch „Werther", „Faust" und „Manfred" einen so verhäng-
nisvollen Einflusz ausgeübt hätten. Aber, fügt er hinzu, auch wer

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diese Dichtungen nicht las, erlag dennoch der Stimmung der Zeit;
sie war ansteckend.

Mit besonderer Vorliebe wurden während der ersten Jahrzehnte
nach dem Sturz Napoleons Lamartines „Méditations" gelesen. „In
diesem Buch fand die Zeit einen Dolmetsch ihrer Gefühle und al-
les dessen, was sich ihr im tiefsten Innern regte, ein Bild ihres ide-
alen Sehnens, das in den zartesten, schönsten Farben des Trau-
nies spielte. Es wurde durchaus nicht als ein Fehler empfunden,
dasz sich hier keine gesteigerte Leidenschaft, wie keinerlei Nei-
gung fand, die düstern, schrecklichen Seiten des Menschenlebens,
überhaupt das Leben, wie es ist, zu sehen. Nach einer Zeit, in wel-
cher so viele Instinkte hatten erstickt werden müssen, freute man
sich dieses rein poetischen Instinktes, dieses so melodiösen Dich-
ters, der wie er sagte, einen Akkord für jedes Gefühl und jede
Stimmung hatte"i).

Ein poetisch wertvollerer Ausdruck dieser auf die ereignisvollen
Jahre folgenden Zeit ist das Werk Alfred de Mussets. Diese im en-
gern Sinn romantische Dichtung, die Gestaltung der aus dem zer-
rissenen Gemüt des Dichters emporsteigenden Gefühle, ist die
wehmutsvolle Verklärung der Vergänglichkeit aUes Irdischen :

L\'homme est un apprenti, la douleur est son maître^).

De Musset fühlt nicht wie Francesca di Rimini:

Nessun maggior dolore
Che ricordarsi del tempo felice
Nella miseria,®)

sondern er erblickt in der Erinnerung an Zeiten des Glücks den
groszen innern Schatz, der den Menschen über den Schmerz des
Lebens tröstet®).

Der dritte Dichter dieser Zeit, der junge Victor Hugo, wird ge-
wöhnlich als das Haupt der romantischen Schule in Frankreich
betrachtet. Seine Gedanken über Poesie hat er in dem Vorwort zu
»Cromwell" niedergelegt. Maurice Souriau weist in seinem Werk

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„La préface de Cromwell" nach, dasz sich in des Dichters Kunst-
ansichten sehr verblaszte Jugenderinnerungen an Spanien und
Italien mit einer geringen Beeinflussung durch Shakespeare und
A. W. Schlegel verbinden und dasz Manzoni, noch mehr aber Cha-
teaubriand und Madame de Staël den Dichter beeinfluszt ha-
beni).

Victor Hugos Ansicht ist es, dasz die moderne Kunst, wie es
das Mittelalter getan, das Häszliche, das Groteske künstlerisch
verwerten soU : „eile sentira que tout dans la création n\'est pas hu-
mainement beau, que le laid y existe à côté du beau, le difforme
près du gracieux, le grotesque au revers du sublime, le mal avec le
bien, l\'ombre avec la lumière"2).

Die Romantik ist nach des Dichters Ansicht die Kunst, welche
diese Gegensätze neben einander stellt. Ihre höchste Form, zu-
gleicherzeit die für das 19. Jahrhundert geeignetste Dichtungs-
gattung ist das Drama, das sich in Bezug auf Handlung und
Sprache so viel wie möglich der Wirklichkeit annähern soll. Des-
halb werden die Einheiten des Ortes und der Zeit, wie die Vertrau-
tenrollen der klassischen Tragödie verworfen®).

Dasz das Werk eines Dichters mit diesem aus der Reaktion ge-
gen den Klassizismus enstandenen fast naturalistischen Kunst-
programm keine Romantik im engern Sinn, keine „Darstellung
des Gemüts" ist, leuchtet ein«). An Innigkeit steht Victor Hugos
Dichtung hinter de Mussets und Lamartines Lyrik zurück. Dage-
gen übertrifft er diese beiden Dichter durch seine Sprachgewalt.
Hugo ist der Rhetoriker, der Deklamator, der Virtuose, der durch
die Kunst der Antithesen zu wirken, der Künstler, der die Sprache
zu orchestrieren weisz®). Der Dichter, der von de Musset zu Ver-
laine und den Symbolisten hinüberführt, ist er aber nicht. Dieses
Bindeglied bildet die Poesie der dii minores der damaligen fran-
zösischen Literatur, die Dichtung Maurice de Guérins, Madame
Desbordes — Valmore, Gérard de Nervals. Der Lyrik dieser Dich-
ter eignet die Innigkeit, welche der Poesie Hugos gewöhnlich
fehlt«).

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Die immer wachsende Strömung des Pessimismus findet ihre
Fortsetzung in der Poesie de Vignys, Leconte de Lisles, Baudelai-
res. Dichter, welche, obgleich Klassiker der Form, dem Gefühl
nach Romantiker sind.

De Vigny gestaltet namentlich das Leid der Führer der Mensch-
heit, den Schmerz „d\'être puissant et solitaire"^). Nach des
Dichters Ansicht aber helfe der Stoizismus dem Menschen, das
Leben zu ertragen®).

Diesem Philosophen, der sich am liebsten in seine „Tour d\'i-
voire" zurückzog, war es nicht möglich, seine Gefühle unmittel-
bar zu äuszern, nur unter dem Schleier des Symbols wagte er es,
sie in seiner Poesie zu gestalten. So ist er der Vorläufer der neuro-
mantischen Dichter, welche das Sinnbild als Kunstmittel ver-
wenden.

Gelingt es de Vigny zwischen der Welt in seinem Innern und
der Welt der Wirklichkeit einen Ausgleich zu finden, für Leconte
de Lisle ist diese Möglichkeit ausgeschlossen. Lemaître nennt die
Lebensauffassung dieses Dichters so „horriblement triste", dasz
damit verglichen, das Leid Renés uns berühre wie die Wehmut
eines Bourgeois®).

La nature se rit des souffrances humaines
Et garde pour sa part le calme et la splendeur*).

Dem Menschen mit seinen Idealen bleibt nichts übrig, „pas
même la poussière"®). Der Tod erscheint als die einzige Ret-
tung®).

Nicht nur der Mensch ist unglücklich, auch das Tier kennt die
Melancholie, denn Mensch und Tier sind verschiedene Formen
derselben Naturkraft. Auf dieser Auffassung beruhen die vielen
Gedichte, in denen der Schmerz der Tiere geschildert wird. Na-
mentlich aus „Les Hurleurs"\') der Schilderung der „angoisse in-
connue" der Hunde, spricht neben der Angst der Tiere, die Le-
bensverzweiflung des Dichters. *

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Die Lebensauffassung Baudelaires, des dritten groszen Pessi-
misten, faszt Henri de Régnier in folgender Weise zusammen:

„Pour Baudelaire l\'homme est mauvais dans un monde mau-
vais, où une influence satanique se mêle à sa vie et y engendre le
péché, l\'ennui et le dégoût. Et quel remède à la lourde tristesse du
mal? Sera ce l\'amour, le rêve, le vin, l\'art? Sera ce la mort?"!)

Von diesem Lebensschmerz zeugen u. a. die Worte, welche der
Dichter beim Anblick einer Statue spricht :

Elle pleure, insensé, parce qu\'elle a vécu.
Et parce qu\'elle vit ! Mais ce qu\'elle déplore
Surtout, ce qui la fait frémir jusqu\'aux genoux,
C\'est que demain, hélas ! ü faudra vivre encore !
Demain, après-demain et toujours ! — comme nous 1^)

Namentlich für den Künstler ist das Leben eine Qual:

Exilé sur le sol au milieu des huées.

Les ailes de géant l\'empêchent de marcher®).

In manchen Augenblicken erschreckt den Dichter selbst die
Natur :

Grands bois, vous m\'effrayez comme des cathédrales;
Vous hurlez comme l\'orgue.

Je te hais. Océan ! tes bonds et tes tumultes
Mon esprit les retrouve en lui!«)

Mit Vorliebe gestaltet Baudelaire den Hasz : ■

Ange, plein de bonté, connaissez vous la Haine,
Les poings crispés dans l\'ombre et les larmes de fiel,
Quand la Vengeance bat son infernal rappel.
Et de nos facultés se fait le capitaine?®)

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Der Dichter fragt sich:

Ne suis je pas un faux accord
Dans la divine symphonie
Grâce à la vorace Ironie
Qui me secoue et qui me mord?

Elle est dans ma voix, la criarde !
C\'est tout mon sang, ce poison noir

Das Leiden aber läutert den Menschen :

Soyez béni, mon Dieu, qui donnez la souffrance
Comme un divin remède à nos impuretés^).

Infolge dieser Läuterung ist der Dichter imstande zu der Ge-
liebten wie zu einer Heiligen emporzublicken:

A la très chère, à la très belle
Qui remplit mon cœur de clarté,
A l\'ange, à l\'idole immortelle
Salut en immortalité®) !

Die Geliebte spricht zu ihm :

.... Je suis belle et j\'ordonne
Que pour l\'amour de moi vous n\'aimiez que le Beau ;
Je suis l\'Ange gardien, la Muse et la Madone*).

Manchmal aber mischt sich auch in die Heiligenverehrung der
Ton der „vorace Ironie" :

Je t\'adore, o ma frivole
Ma terrible passion
Avec la dévotion
Du prêtre pour son idole®).

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Enfin, pour compléter ton rôle de Marie,
Et pour mêler l\'amour avec la barbarie.
Volupté noire ! des sept Péchés capitaux.
Bourreau plein de remords, je ferai sept Couteaux
Bien affilés, et, comme un jongleur insensible,
Prenant le plus profond de ton amour pour cible.
Je les planterai dans ton cœur pantelant.
Dans ton coeur sanglotant, dans ton cœur ruisselant!^)

In diesen Zeilen lernen wir Baudelaire kennen als den Dichter
der komplizierten Gefühle, der Freude am Schmerz, der Lust an
der Sünde, als den Schöpfer der „Fleurs du Mal".

Obgleich die Wirklichkeit für den Dichter das Reich der Nüch-
ternheit ist :

Et qui sait si les fleurs nouvelles que je rêve
Trouveront dans ce sol lavé comme une grève
Le mystique aliment qui ferait leur vigueur?2)

betrachtet er sie doch als den Abglanz, das Symbol, einer höhe-
ren Welt.

Durch die Schönheit wird dem Menschen der Einblick in das
Reich der Ewigkeit gewährt. Es ist Baudelaire aber nicht mög-
lich, sich diesen inneren Glauben rein zu erhalten ; es regt sich der
Zweifel, ob die Schönheit eine Botin des Himmels oder eine Ge-
sandtin der Hölle sei und so bekommt die Verklärung des Ewig-
keitsgedankens des Dichters die Färbung des Satanischen :

Que tu viennes du ciel ou de l\'enfer, qu\'importe,
O Beauté ! monstre énorme, effrayant, ingénu !
Si ton œil, ton souvenir, ton pied, m\'ouvrent la porte
D\'un Infini que j\'aime et n\'ai jamais connu ?

De Satan ou de Dieu, qu\'importe? Ange ou Sirène,
Qu\'importe, si tu rends, — fée aux yeux de velours, \'
Rhythme, parfum, lueur, ô mon unique reine ! —
L\'univers moins hideux et les instants moins lourds?®)

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In dem Gedicht „Correspondance"^) wird die Synthese aller
Sinneswirkungen in dieser Welt voller Symbole gestaltet:

La Nature est un temple où de vivants piliers
Laissent parfois sortir de confuses paroles;
L\'homme y passe à travers des forêts de symboles
Qui l\'observent avec des regards familiers.

Comme de longs échos qui de loin se confondent
Dans une ténébreuse et profonde unité,
Vaste comme la nuit et comme la clarté.
Les parfums, les couleurs et les sons se répondent.

Und im Geiste Maeterlincks heiszt es:

Celui dont les pensers, comme des alouettes.
Vers les cieux le matin prennent un libre essor.
Qui plane sur la vie et comprend sans effort
Le langage des fleurs et des choses muettes®).

Die Auffassung der Wirklichkeit als das Symbol einer Welt der
Schönheit macht Baudelaire in höherem Sinn als de Vigny zu dem
Vorläufer der Symbolisten. Neben dem Dichter der „Fleurs du
Mal" hat aber auch Verlaine auf die französische Neuromantik
eingewirkt. Verlaines Wert liegt hauptsächlich darin, dasz er seine
Gefühle als eine vollkommene Einheit von Inhalt und Form, von
Bild, Klang und Rhythmus in einer Sprache zu gestalten weisz,
welche der Wirkung der Musik erstaunlich nahe kommt. Wie
z. B. in „Chanson d\'Automne"®) war noch niemals in französischer
Sprache gesungen worden:

Les sanglots longs
Des violons

De l\'automne
Blessent mon cœur
D\'une langueur
Monotone®).

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Die Anforderungen, denen ein Gedicht genügen musz, faszt
Verlaine in „l\'Art poétique"^) zusammen.

An erster Stelle soll Poesie musikalisch sein :

De la musique avant toute chose.

Der Dichter ging in dieser Hinsicht so weit, dasz er in den „Ro-
mances sans paroles" Gedichte schuf, in der er, im Geist der Früh-
romantik, blosz durch den Klang zu wirken suchte.

Im Geiste Friedrich Schlegels und Coleridges ist die Bedeutung,
welche Verlaine auf die poetische Dunkelheit legt :

C\'est des beaux yeux derrière des voiles.
C\'est le grand jour tremblant de midi.
C\'est par un ciel d\'automne attiédi,
Le bleu fouillis des claires étoiles !

Car nous voulons la Nuance encore.
Pas la couleur, rien que la nuance !

Und in Strophen, die deutlich den Einflusz Rimbauds zeigen,
schlieszt Verlaine sein Gedicht:

De la musique encore et toujours!
Que ton vers soit la chose envolée
Qu\'on sent qui fuit d\'une âme en allée
Vers d\'autres deux à d\'autres amours.

Que ton vers soit la bonne aventure
Eparse au vent crispé du matin
Qui va fleurant la menthe et le thym —
Et tout le reste est littérature.

Zeigt Verlaine in seiner Auffassung der Poesie eine innige Ver-
wandtschaft mit den Dichtern der Frühromantik 2), wie sie ist

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auch er an erster Stelle der Sänger der Liebe. Den Dichter quält
..la fureur d\'aimer"^), er kennt die Liebe in ihren verschiedenen
Schattierungen und gestaltet sie als Freundschaft und Frauen-
|iebe, aber auch als Marienverehrung und Gottesliebe. Das grosze
irdische Liebesglück erlebt auch er nur im Traum :

Je fais souvent ce rêve étrange et pénétrant
D\'une femme inconnue, et que j\'aime, et qui m\'aime,
Et qui n\'est chaque fois, ni tout à fait la même
Ni tout à fait une autre, et m\'aime et me comprend^).

Verlaine, der Sänger der „inquiétude profonde", gehört mit
Baudelaire zu den Dichtern der Dekadenz. Keiner hat diesen Be-
griff so sehr gehoben und diese Gefühlsrichtung so poetisch um-
schrieben wie er:®)

..J\'aime le mot décadence tout miroitant de pourpre et d\'or. J\'en
révoque toute imputation injurieuse et toute idée de déchéance.
Ce mot suppose au contraire des pensées raffinées d\'extrême civi-
lisation, une haute culture littéraire, une âme capable d\'intenses
Voluptés. Il projette des éclats d\'incendie et des lueurs de pierre-
ries. Il est fait d\'un mélange d\'esprit charnel et de chair triste et de
toutes les splendeurs violentes du bas-empire ; il respire le fard des
Courtisanes, les jeux du cirque, le souffle des belluaires, le bon-
dissement des fauves, l\'écroulement dans les flammes des races
épuisées par la force de sentir, au bruit envahisseur des trompet-
tes ennemies. La décadence, c\'est Sardanapale allumant le bra-
sier au milieu de ses femmes, c\'est Sénèque ouvrant les veines en
déclamant des vers, c\'est Pétrone, masquant des fleurs son ago-
nie. C\'est encore, si vous voulez prendre des exemples moins éloig-
nés de nous, les marquises marchant à la guillotine avec un sou-
rire et le souci de ne pas déranger leur coiffure. C\'est l\'art de mou-
rir en beauté."

Dieses dekadente Fühlen, das durch die sozialen Verhältnisse
m Frankreich nach der Niederlage des Jahres 1871 genährt wur-
de*), findet sich in der Poesie der Dichter der Neuromantik wieder./

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Mallarmé gestaltet es als die Empfindung des überbewuszten
Kulturmenschen :

La chair est triste, hélas! et j\'ai lu tous les livres^).

Auch Rimbaud kennt es:

„J\'aimais les peintures idiotes, dessus de portes, décors, toiles de
saltimbanques, enseignes, enluminures populaires; la littérature
démodée, latin d\'église, livres érotiques sans orthographe, romans
de nos aïeules, contes de fées, petits livres de l\'enfance, opéras
vieux, refrains niais, rhythmes naïfs.

Je rêvais croisades, voyages de découvertes dont on n\'a pas de
relations, républiques sans histoires, guerres de religion étouffées,
révolutions de mœurs, déplacements de races et de continents" 2).

Die französischen Neuromantiker wollen eine Poesie, die als
Stimmungskunst der Musik verwandt ist und wie diese das
Dunkle, Geheimnisvolle der menschlichen Seele gestaltet. Ob-
gleich diese Dichter gerne das Symbol anwenden, ist doch auch
nach ihrer Ansicht eine unmittelbarere poetische Gefühlsgestal-
tung möglich, „il suffit d\'exprimer les secrètes correspondances
des choses avec notre âme"®).

Wie die Frühromantiker und die Präraphaeliten streben auch
die Symboliker nach einer Synthese mehrerer Künste : ihre Wort-
kunst soll zugleicherzeit Gesang sein. Mallarmé, der ehemalige
Parnassien, der erst durch den Einflusz der Kunst moderner Ma-
ler, namentlich durch die Gemälde Manets, zum Dichter von „L\'a-
près-midi d\'un Faune"«) wurde®), träumte von einem Werk, das
wie die Schöpfungen Richard Wagners, eine Synthese der Musik,
der Literatur und der bUdenden Künste werden sollte. Aus die-
sem Drang nach Synthese geht auch Rimbauds Spiel der ver-
tauschten Sinne hervor: „J\'inventai la couleur des voyelles, A
noir, E blanc, I rouge, O bleu, U vert®), sowie René Ghils naiver

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Versuch, die Sprachlaute mit Musikinstrumenten zu vergleichen:
A Orgel, I Geige, O Kupfer, Ü Flöte, T. D. H. Harfei).

Die französische Neuromantik ist eine Poesie der Verinnerli-
chung im Geiste Novalis\', Namentlich Maeterlinck zeigt sich in
seinen Anschauungen und Empfindungen der frühromantischen
Strömung aufs innigste verwandt. Auch in seiner Poesie findet
sich die Verherrlichung der Liebe, des Kindes, des Traums. In der
von „La Princesse Maleine" zu „ Aglavaine et Sélysette" führenden
Dramenreihe gestaltet er nicht, wie es so häufig die Tragödien-
dichter vor ihm getan, „la vie violente et la vie d\'autrefois", son-
dern „l\'existence d\'une âme en elle-même au milieu d\'une immen-
sité qui n\'est jamais inactive, le dialogue solennel et ininterrompu
de l\'être et de sa destinée, les pas hésitants et douloureux d\'une
vie qui s\'approche ou s\'éloigne de sa vérité, de sa beauté et de
son Dieu."®) Nach Maeterlincks Ansicht fängt die wirkliche Tra-
gik erst an, nachdem der heftigste Schmerz und die Gefahren vor-
über sind. „Schuldig" werden die Gestalten dieses Dichters eigent-
lich nie. Denn ihre Seele schwebt über ihren Worten und ihren Ta-
ten; nur für Kinder und Einfältige bemerkbar, kann sie rein aus
den gröszten Verbrechen hervorgehen.

Villiers de 1\'Isle-Adam berührt sich namentlich durch sein Dra-
ma „Axel" mit der deutschen Frühromantik, aber auch sonst fin-
den sich in seinen Werken Aussprüche, die wie die Ubersetzung
eines dem „Athenäum" entnommenen Fragmentes anmuten. So
heiszt es z. B. in „Elen\' \' : „La science ne suffit pas, vous finirez par
vous mettre à genoux"®). Maître Janus spricht im Geist der deut-
schen Ich-philosophie, wenn er zu Axel sagt : „Tu n\'es que ce que tu
penses"1), „spiritualise ton corps, sublime-toi"®), „car tu possèdes
l\'être réel de toutes choses en ta pure volonté et tu es le dieu que
tu peux devenir"®).

In Augenblicken mystischer Ekstase gelang es Rimbaud sich
zum Göttlichen aufzuschwingen: „Enfin, ô bonheur, ô raison, j\'é-
cartai du ciel l\'azur qui est du noir et je vécus, étincelle d\'or et de
la lumière nature\').

1  Axel, Collection Gallia, Seite 189.

Seite 190. ®) Seite 188. \') Œuvres de Arthur Rimbaud, Seite 292.

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Maeterlincks schon erwähnte Auffassung des Tragischen ist die
notwendige Folge seiner inneren Überzeugung, dasz der Mensch
ein Teil des Universums ist, in dem sich alles gegenseitig beein-
fluszt :

„II m\'est arrivé de croire qu\'un vieillard assis dans sonfauteuil,at-
tendant simplement sous la lampe, écoutant sous sa conscience tou-
tes les lois éternelles qui régnent autour de sa maison, interprétant
saris le comprendre ce qu\'il y a dans le silence des portes et des fe-
nêtres et dans la petite voix de la lumière, subissant la présence de
son âme et de sa destinée, inclinant un peu la tête, sans se douter
que toutes les puissances de ce monde interviennent et veillent
dans la chambre comme des servantes attentives, ignorant que le
soleû lui-même soutient au-dessus de l\'abîme la petite table sur
laquelle il s\'accoude, et qu\'il n\'y a pas un astre du ciel ni une force
de l\'âme qui soient indifférents au mouvement d\'une paupière qui
retombe ou d\'une pensée qui s\'élève, — il m\'est arrivé de croire
que ce vieillard immobile vivait, en réalité, d\'une vie plus profonde,
plus humaine et plus générale que l\'amant qui étrangle sa maîtresse,
le capitaine qui remporte une victoire ou l\'époux qui venge son
honneur"!).

Im Geiste Maeterlincks empfindet Rimbaud sein dichterisches
Schaffen als ein mystisches Erlebnis: „Le poète trouve expression
non plus en cherchant les mots, mais au contraire en se mettant
dans un état de silence et en faisant passer sur lui la nature, les
espèces sensibles „qui accrochent et tirent"^).

In der Poesie der französischen Neuroniantik findet sich, wie in
der Neuromantik überhaupt, der Individualismus zum Ich-kultus
gesteigert.

In Mallarmés durch die Poesie Baudelaires beeinfluszter Dich-
tung „Herodiade" antwortet die Prinzessin auf die Frage ihrer Am-
me:

pour qui, devorée
D\'angoisses, gardez-vous la splendeur ignorée
Et le mystère de votre être?

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mit den Worten:

Pour moi^).

Aus der Ausbildung der Persönlichkeit geht die innere Einsam-
keit hervor. Villiers\' del\'Isle-Adam klagt: „Je me suis toujours sen-
ti seul."2) Rimbaud aber hebt das Alleinsein als die notwen-
dige Folge seiner unbezwinglichen Wanderlust:

Si je désire une eau d\'Europe, c\'est la flache
Noire et froide où vers le crépuscule embaumé
Un enfant accroupi, plein de tristesse, lâche
Un bateau frêle comme un papillon de mai.®)

Die französische Neuromantik ist eine Dichtung der Wehmut,
in der aber der Pessimismus früherer Dichter häufig zur Sehjj-
^^^t gemildert ist.«) Aber auch aus der Poesie der Symbolisten
spricht der Schmerz, dasz die Schönheit der inneren Welt in der
Wirkhchkeit nicht wiederzufinden ist. Blosz Rimbaud gesteht :

J\'ai vu quelquefois ce que l\'homme a cru voir.®)

je me suis baigné dans le poème
De la mer infusé d\'astres et lactescent —®)

Wer die höchste innere Schönheit, das Glück der Liebe erlebt
hat, musz sterben. „Toutes les réalités demain que seraient-elles
en comparaison des mirages que nous venons de vivre?"\') sagt
Axel zu Sara. Der Wunsch zu sterben geht also bei Villiers\' Liebes-
paar nicht, wie bei Tristan und Isolde, aus der Sehnsucht hervor,
sich in die Unendlichkeit aufzulösen®), sondern sie ist die Folge
des untrüglichen Gefühls, dasz auch das Schönste im Leben ver-
blassen musz.

Die flämischen Dichter Verhaeren und Maeterlinck aber stim-
men freudigere Töne an.

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Dem ersteren erblüht das Glück aus dem den Flamändern
angeborenen Sinn für die Wirklichkeit. Verhaeren bewundert die
Kraft, wo immer er sie erblickt :

La force est sainte.
II faut que l\'homme imprime son empreinte,
Violemment, sur ses desseins hardis:
Elle est celle qui tient les clefs du paradis
Et dont le large poing en fait tourner les portes^).

Maeterlinck, in dem die Gefühle der primitiven Maler seiner
Heimat noch leben, ist folgender Ansicht:

„Nous vivons tous dans le sublime. Ce qui nous manque, ce ne
sont pas les occasions de vivre dans le ciel, c\'est l\'attention et le
recueillement, et c\'est un peu d\'ivresse d\'âme" 2).

Im Wesentlichen trägt die Poesie der Symbolisten das Gepräge
des Geheimnisvollen. Mallarmé sucht seinem Werk den Charakter
der Unbestimmtheit zu verleihen, indem er dem Wort eine abwei-
chende Stellung im Satz gibt. Rimbaud gesteht : „J\'écrivais des si-
lences, des nuits, je notais l\'inexprimable, je fixais des vertiges"®).
Maeterlinck suchte in seinen Dramen das Dunkle, das er bei Sha-
kespaere fand, noch zu übertreffen1).

Dem gesteigerten individualistischen Sinn der Neuromantik ge-
mäsz dichteten anfänglich einige der jungen Symbolisten, u.a. La-
forgue, in freien Versen; sie fühlten das Bedürfnis, jedes ihrer Ge-
fühle in der nur dieser Empfindung entsprechenden Form zu ge-
stalten. Dasz dieses Bestreben zur Prosa führt, zeigt der zweite
Teil von Rimbauds „Illuminations", sowie Maeterlincks „La Prin-
cesse Maleine"®).

Abgesehen von diesen Versuchen ist die französische Neuroman-
tik eine Kunst der Formenschönheit. Die Worte Villiers\' de
1\' Isle-Adam : „Mes mots sont pesés dans des balances en toile\' \' \'),
könnten von jedem Symboliker gesprochen worden sein.

1 Emile Verhaeren, Choix de Poèmes, 7ième Edition, L\'Arbre, Seite 162. Vgl. Les
Moines, Seite 14 fi., Le Vent, Seite 57.

Le Trésor des Humbles, Seite 232, 233.

ä) Œuvres de Arthur Rimbaud, Seite 285.

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Durch den Formenkultus setzen die französischen Neuroman-
tiker die literarischen Traditionen ihres Volkes fort. Über die be-
stehende Literatur hinaus wollen sie, als vollkommene Einheit
von Inhalt und Form, eine nur der Schönheit gewidmete Poesie,
eine Kunst für die Kunst. Aus dieser Sehnsucht geht die „ivresse
lyrique"^) der damaligen Jugend hervor, nicht nur die Poesie
von Dichtern wie Mallarmé, Rimbaud u.s.w., sondern auch die
Gedichte der vielen der Vergessenheit Anheimgefallenen, welche
in den ersten Zeitschriften der Dekadenten und Symbolisten er-
schienen.

Von diesen die Schönheit verherrlichenden Dichtern wurden
französische Übertragungen der ersten Gedichte Stefan Georges
gelesen, ehe diese Poesie in Deutschland veröffentlicht worden
war. Auch in der Zeitschrift „Vers et Prose", die von Paul Fort
gegründet worden war um Gedichte und Prosa der Symbolisten
zu veröffentlichen, jungen, wesensverwandten Dichtern die Gele-
genheit zu geben, ihre Gedichte bekannt zu machen und auf die
Poesie ausländischer Dichter, deren Kunst auf denselben Grund-
sätzen beruhte wie die ihre, hinzuweisen, erschienen Übertra-
gungen Georgescher Gedichte.

Auch Gedichte von Morris und Dowson finden sich in,, Vers et
Prose". Morris eignet sich zur Aufnahme in diese Zeitschrift durch
die Verwandtschaft einiger seiner Balladen mit der Poesie Maeter-
lincks, Dowson durch seine im engern Sinn neuromantische Poesie.

Und so erkennt, „Vers et Prose" die englische und die deutsche,
wie die „Blätter für die Kunst" die englische und französische
Schönheitsströmung als wesensverwandt an.

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VIERTES KAPITEL

ROMANTIK UND NEUROMANTIK IN ITALIEN

Wie die deutsche, so ist auch die italienische mittelalterliche
Minnelyrik nur aus der Poesie der Troubadours heraus zu verste-
hen. Als während des Albigenserkrieges die Provence verwüstet
wurde, lag es bei den engen Handelsbeziehungen zwischen Mar-
seille und Genua auf der Hand, dasz die Troubadours ihr Glück
bei den gebildeten Aristokraten in Oberitalien versuchten. Denn
ihre Kunst war aristokratisch-höfisch und eben dadurch zu inter-
nationaler Verbreitung geeignet.So grosz wurde der Einflusz
der Troubadours, dasz einige norditalienische Dichter ihre durch
die Kunst der südfranzösischen Sänger inspirierten Lieder in dem
ihnen so leicht verständlichen und dem gesprochenen Italienisch®)
so nahe verwandten Provenzalisch zu dichten anfingen. Zu ih-
nen gehört Sordello aus Mantua, dem Dante im „Purgatorio"®) ein
Denkmal gesetzt hat.

Die Troubadours zogen weiter nach Süden, nach SizUien. Dort
hatte sich unter der arabischen, dann unter der normannischen
und hohenstaufischen Herrschaft ein reiches Leben entwickelt.
Eine vielseitige, aber wenig in die Tiefen der Gesellschaft reichende
Bildung glänzte hier an der Oberfläche und zog die provenzali-
schen Sänger gewaltig an. «)

Am Hofe zu Palermo, wo Friedrich II, der Hohenstaufe, Künst-
ler und Gelehrte um sich versammelte, wurde von dem Kaiser und
seinen Söhnen, von Pier della Vigne, vom Notar Jacopo von Len-
tino die provenzalische Lyrik genau nachgeahmt; in der Poesie
dieser Dichter findet sich dieselbe Verherrlichung der Frauen-

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Schönheit wie in den Liedern der gleichzeitig lebenden provenzali-
schen und deutschen
Sänger; die Sprache aber ist italienisch, die
Form die Canzone oder das Sonett.

Guittone d\'Arezzo in Toskane dichtete nach dem Muster der
sizilianischen Dichter weiter; der ritterliche Geist aber xmd die
verfeinerte Sitte, welche das Gepräge der provenzalischen und der
sizilianischen Dichtung bilden, fehlen seiÄer Poesie ganz.

Im Gespräch mit Bonagiunta im Purgatorio^) führt Dante aus,
wie sich die Poesie Jacopos von Lentinos und Guittonesvon
seiner eignen unterscheide: diesen Dichtern fehlt, was ihn beseelt,
das Erlebnis,

lo mi son un che, quando

Amor mi spira, noto, ed a quel modo

Che ditta dentro, vo significando.

In Bologna war Guido Guinizelli der Dichter, welcher die Tra-
ditionen der sizilianischen Schule weiter führte. In seiner Poesie
wird, wie in der Dichtung der späteren Troubadours, die irdische
Herrin zur sinnfälligen Erscheinung und Offenbarung der Gott-
heit®). Namentlich am Schlusz seines Gedichtes:

AI cor gentil ripara sempre amore®)

sieht man deutlich, wie die Frauenminne sich zu einer Art Reli-
gion zu entwickeln anfängt:

Donna — Deo me dira, che presumisti

Siando l\'anima mia a Lui davanti:

— Lo Ciel passasti e fino a me venisti

E desti, in vano amor, me per sembianti:

A me convien la laude

E a la Reina, del reame degno,

Per cui cessa ogni fraude!

Dir Ii potrö — Tenea, d\'Angel sembianza

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Che fesse del to regne;

Non fea falle s\'ee Ii pesi amanza!

Dante nennt Guido Guinizelli

il padre

Mio, e degli altri miei miglier che mai

Rime d\'amore usar dolci e leggiadre^).

Guido Guinizelli ist „il padre del dolce stil nuove". Die Dichter
dieses neuen Stils waren im Gegensatz zu den Troubadours
rechtgläubig, fromm, wie in Italien überhaupt die Wirkung der
Franziskaner-Bewegung tief eingedrungen war. 2) Alles Irdische
und Vergängliche bekam für sie erst Wert durch die himmlischen
Gestalten und Vorgänge, die darin verborgen waren und ihrem
Blick sich offenbarten. Die Herrin war ihnen eine wundertätige
Heilige; indem sie sich ihrer Liebe ergaben, standen sie ohne Auf-
hören unter dem Eindruck des Ewigen: ihre Seele lebte in Gott.
Was sie ganz erfüllte, war das Gefühl frommer Andacht. Dabei
vergessen diese Dichter aber nie, dasz ihre Geliebte ein irdisches
Wesen ist.

Der Mutter Gottes vergleichbar sitzt Beatrice im Paradies ver-
klärt neben Gottes Thron, weil sie durch ihr Leben auf Erden den
Wert des Menschengeschlechts erhöht hat. Auch die „Vita Nuova"
ist von der neunzehnten Canzone an eine christlich-religiöse Dich-
tung, der höfische Frauendienst ist zum christlichen Gottesdienst
geworden®).

Das Gedankliche in Dantes Liebe wird aber nicht nur hervorge-
rufen durch die Religion, sondern auch durch das philosophische
Bewusztsein des Dichters*). Wie durch die ganze Zeit eine Sehn-
sucht nach Ideen geht, wie Laienkreise in Florenz philosophischen
Studien oblagen, so suchten auch die jungen Dichter, namentlich
aber Dante, die höfischen Lebenswerte gründlich zu erfassen und
mit denen des Christentums in Einklang zubringen. Und so sind die
„Vita Nuova" und die „Divina Commedia" nicht nur religiöse, son-

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dem zugleicherzeit philosophische Dichtungen: die Frauenliebe
wird dem Dichter zum Eros im Platonischen Sinn.

Die Dichter des dolce stil nuovo sind keine dienenden Sänger
wie die Troubadours, eine freie Neigung inspirierte sie zu ihren
Gedichten. Dasz Dantes Dichtung auf einem Erlebnis beruht, be-
weist der Anfang der „Vita Nuova", derjenige Teil der Dichtung,
der vor dem neunzehnten Sonett liegt, vor allem aber der Rest
irdischer Gefühle, die der Dichter beim Anblick der Geliebten im
Paradies empfindet, wo Beatrice zu ihm spricht:

Tu non se\' in terra, si come tu credi^).

Durch die Heirat und den bald darauf folgenden Tod der Ge-
liebten muszte die Liebe des Dichters sich immer mehr vergeisti-
gen; die irdische Liebe wuchs zu einer Seelenliebe über den Tod
hinaus, wie sie sich vereinzelt auch in der Poesie der Minnesänger,
u. a. in den Liedern Heinrichs von Morungen findet. Kein früherer
Dichter aber hat dieses Motiv so kräftig herausgebildet wie er.

Im letzten Sonett der „Vita Nuova" weisz der Dichter die Ver-
klärte in Gottes allernächster Nähe. In der auf das Sonett folgen-
den Prosa deutet Dante auf geheimnisvolle Weise auf eine Vision
hin, über welche er uns nicht genauer aufklärt. Es wird vermutet,
dasz aus dieser Vision das Bild der Beatrice hervorgewachsen sei,
wie es zwanzig Jahre später in der „Divina Commedia" geschildert
wird: Die Geliebte aus dem Empyreum herabsteigend, um dem
Dichter, dem die eigene Kraft fehlt, zur höchsten Sphäre empor-
zuhelfen®).

Auf der Reise durch die Hölle und den Läuterungsberg hinan,
während welcher Virgil den Dichter begleitet, ist diesem der Ge-
danke an die Geliebte eine Stütze®); nachdem er beim Eintritt ins
Paradies Beatrice seine menschlichen Sünden gestanden und
Reue darüber gezeigt hat, zieht sie ihn durch die Gewalt ihres
Blickes immer höher mit sich empor, immer gröszer wird die
Gotteserkenntnis des Dichters, immer mehr verklärt sich das
Antlitz der Geliebten.

Im Empyreum übergibt sie den Freund dem Heiligen Bernhard

\') Paradiso I, 91.

Hauvette, La littérature italienne, 5ième édition, Seite 92.
\') Vgl. u. a. Inferno II, 127-133; X, 125-132; Purgatorio VI, 43-49.

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von Clairvaux und mischt sich wieder unter die Erwählten um
Gottes Thron. Während des von Bernhard von Clairvaux ausge-
sprochenen Gebetes zieht der Friede Gottes in Dantes Gemüt ein,
da geht er auf in die alles umfassende Liebe Gottes. Die Hingabe
an die göttliche Liebe ist die höchste menschliche Erkenntnis.

Dieser Auffassung huldigte auch Goethe an seinem Lebensende.
Faust, die Verherrlichung der Tat, erhebt sich erst am Schlusz zu
einer Verherrlichung der Liebe Gottes. Ebenso wenig wie Dante
gelingt es Faust trotz seines strebenden Bemühens, sich zu rein
geistiger Höhe zu erheben; als die Engel ihn emportragen, klebt
auch ihm noch ein Erdenrest an. Auf Gretchens Bitte, ihn beleh-
ren zu dürfen, antwortet die M^r Gloriosa:

Komm, hebe dich zu höhern Sphären,
Wenn er dich ahnet, folgt er nach.

Die Schluszworte von Goethes Dichtung:

Das ewig Weibliche
Zieht uns hinan.

sind im Sinne Piatos und Dantes zu verstehen; nur durch die Er-
kenntnis der rein geistigen Liebe läutert sich die Seele, erst
nach dieser Vergeistigung ist es möglich, das höchste Glück zu
empfinden.

Zwei Generationen später als Dante dichtete Petrarca.

Ist Dantes Poesie die Vollendung des mittelalterlichen Denkens
und Fühlens, Petrarca ist der Mensch und der Dichter einer
Ubergangszeit. Die Stimmung der vom Mittelalter zur Renais-
sance hinüberführenden Zeit spricht besonders deutlich aus dem
Brief des Dichters, in dem er beschreibt, wie er den Mont Ven-
toux bestiegen, die Schönheit der Natur betrachtet und liebevoll
nach seinem Vaterland Italien hinübergesehen — dann aber
plötzlich zu den Konfessionen des Heiligen Augustinus gegriffen
und nicht mehr um sich, sondern in sich geblickt habe^).

In Petrarcas Dichtung findet sich dieser Gegensatz zurück: die
Liebesleidenschaft des Menschen, der des „carpe diem" eingedenk,
das Leben genieszen möchte, kämpft mit dem Bestreben des mit-

M Lettere delle Cose familiari, Le Monnier, Libro quarto, Lettera I, Seite 481.

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telalterlichen Mystikers, das Irdische in seiner Liebe zu tilgen,
die Geliebte, „Madonna Laura", nur platonisch zu lieben. Und so
findet sich in seinem „Canzoniere" bald die Qual des Menschen, der
weisz, dasz er die Geliebte nie wird besitzen können^) und sich in
die Einsamkeit flüchtet, obgleich er fürchtet, dasz auch die Natur
um seine Liebe weisz und er also auch in ihr keine Ruhe werde fin-
den können^), bald die Versicherung des Dichters, dasz er Laura
auch dann lieben werde, wenn sie nicht mehr schön sei®), dasz er
sie bis zum Tode lieben werde«), dasz seine Liebe ihm alle niedri-
gen Gedanken nehme®).

Da stirbt Laura, der Tod trennt den schönsten Körper von der
schönsten Seele«), der Dichter beneidet den Himmel, wo sich ihre
Seele befindet\').

Der Tod der Geliebten aber läutert die Liebe des Dichters, und
so entsteht im zweiten Teil des „Canzoniere", in „Morte della Ma-
donna Laura" und in den „Trionfi" eine Dichtung im Geiste Dan-
tes. Zu dieser Lyrik gehört das Schönste, was der auch als Mensch
vervollkommnete Dichter geschaffen.

Welche Bedeutung die Liebe zu Laura für Petrarca besessen hat,
davon zeugt eine Stelle in dem Dialog „De contemptumundi",
worin der Dichter gesteht, wie die Liebe in ihm das Gute erweckt
und das Schlechte getötet habe, wie er erst durch sie angefangen
habe, Gott zu lieben. Die Liebe besitze die Kraft, den Liebenden
zu verwandeln und ihn dem Gegenstand der Liebe an Wert gleich
zu machen®).

Der Sinn für Verinnerlichung, der sich so kräftig in Dantes und
Petrarcas Poesie äuszert, findet eine Fortsetzung in den Werken
der Asketen, von denen die Briefe der Caterina de Sienna am be-
rühmtesten geworden sind\'^), weiter in den Predigten, welche
Sä-
vonorola gegen die entnervende Herrschaft der Medizäer in Flo-

\') Petrarca, Le Rime, Classici italiani, Fernando Martini, u. a. n". 132. Seite 199.
N°. 35, Seite 75. Vergleicht man dieses Sonett mitDantes „Guido, vorrei che tu e
Lapo ed io" — Tutte le Opere di Dante Alighieri, Oxford, Seite 173 — so zeigt sich,
in wie viel höherem Masze als Dante, Petrarca individuelles Fühlen gestaltet; Dante
will blosz „ragionare d\'amore".

») N». 12,Seite 40. Vgl. Heinrich von Ofterdingen, Heilborn I, Seite 122; Minor IV,
Seite 176.

«) N°. 168, Seite 229. \') N°. 85, Seite 141. •) N\'. 283, Seite 329.

\') N°. 300, Seite 340.
de Bouchaud, Les poésies de M. A. Buonarotti et de Vittoria Colonna, Seite 27,28.

®) Hauvette, La littérature italienne, Seite 154.

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renz richtete. Schlieszlich sind die Übersetzungen Piatos und Plo-
tinus\' durch den Humanisten Ficino in diesem Zusammenhang zu
nennen.

Die Poesie Michel Angelos, des Bewunderers Dantes und Sa-
vonorolas, kann als der letzte Ausläufer des mittelalterlichen Geis-
tes der Verinnerlichung betrachtet werden.

Im Geiste Dantes sagt auch er:

S\'egli e che\'l buon desio

Porti dal mondo a Dio

Alcuna cosa bella,

Sol la mia donna e quella,

A chi ha gli occhi fatti com\' ho io.

Ogni altra cosa oblio,

E sol di tant\' ho cura^).

Oder:

Tanto sopra me stesso

Mi fai, Donna, salire,

Che non ch\'i \'1 possa dire,

No \'1 so pensar, perch\'io non son piü desso^).

Obgleich es auch Michelangelo nicht möglich war, in seinem
Gefühl zu Vittoria Colonna niemals die Grenzen des Geistigen zu
überschreiten, obgleich auch seine Poesie die Verklärung eines in-
neren Kampfes ist:

Vorrei voler, Signor, quel ch\'io non voglio®).

brachte auch ihm der Tod der Geliebten die Vergeistigung der ir-
dischen Liebe zur Liebe Gottes1).

Der Geist der Lebensfreude lebt weiter in Boccaccios „Decame-
rone" und in den Dichtungen Pulcis, Bojardos und Ariostos, den
blosz aus der Freude am Phantastischen der altfranzösischen
Chansons de geste und der Ritterromane, als Kunst für die Kunst
gedichteten Renaissanceepen. Einen letzten Ausläufer findet die

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alte Sage, vermischt mit christlichem Stoff, in Tassos, „Geru-
salemme liberata". In den Werken dieses Dichters feiert auch
der Ritterroman seine letzte Auferstehung^) und findet das
Schäferspiel seinen schönsten Vertreter2).

Wie die Literatur der andern europäischen Länder, so zeigt
auch die italienische in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts
einen neuen Aufstieg zur Romantik. Besonders kräftig äuszert
sich hier die nationale Tendenz, die freilich, den staatlichen Ver-
hältnissen Italiens zufolge, wie ein roter Faden durch die ganze
Literatur geht®).

Namentlich Alfieri ist ein begeisterter Anhänger der politischen
und sittlichen Befreiung seines Vaterlandes; seine auf klassi-
schen Stoffen beruhenden Dichtungen, in denen er seinem Lande
das lang entbehrte Drama schenken wollte, beruhen, wie die Dra-
men Schillers, auf Freiheitsgedanken«).

Parinis Gedicht „II Giorno" weist durch die ironische Schilde-
rung des Lebens eines jungen, reichen Müsziggängers auf die Stim-
mung der Revolution hin.

Zu diesen ursprünglich italienischen Gefühlen gesellen sich lite-
rarische Einflüsse des Auslands.

So geht Vincenzo Monti in seinem „Pensierid\'Amore" auf „Wer-
th er" zurück,in „LaBassvilliana\' \'machen sich Einflüsse Klopstocks
geltend, „II Bardo della Selva nera" ist durch Ossian und Gray in-
spiriert worden. Ugo Foscolos Dichtung, „Leultime Letteredi Ja-
copo Ortis", liegt dasselbe Thema zu Grunde wie Goethes „Wer-
ther", mit dem Unterschied, dasz in dem italienischen Werk das
Leid des Helden nicht nur die Folge einer aussichtslosen Liebe ist,
sondern zugleicherzeit aus dem Schmerz um das Vaterland empor-
steigt.

Wie in Frankreich erhoben sich auch in Italien Streitigkeiten
über die Grundsätze der neuen Poesie, die Schrift Giovanni Ber-
chets, welche den Kampf eröffnete, hatte als Thema Bürgers Bal-
laden „Lenore" und „Der wüde Jäger"®).

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Die Ideen der neuen italienischen Schule waren sehr gemäszigt
und im Grunde nur äuszerlich romantisch: man erhob sich gegen
die Verwendung der Mythologie, gegen die peinliche Durchfüh-
rung der verschiedenen Dichtungsgattungen, gegen die drei Ein-
heiten. Man wollte sich an weitere Kreise des italienischen Volkes
wenden als dies in der Kunst der Klassiker möglich gewesen war,
durch die Poesie sollte die staatliche und sittliche Erziehung des
Volkes vervollkommnet werden.

Manzoni wird als das Haupt der romantischen Schule in Italien
betrachtet; ebenso wenig aber wie Hugo ist dieser Dichter ein Ro-
mantiker im engeren Sinn. Sein Grundsatz ist: „la letteratura de-
ve proporsi l\'utile per iscopo, il vero per soggetto, l\'interessante
per mezzo"^).

Auch Manzonis Dichtung könnte man sozial-politisch nennen:
wie er in „Gl\' Inni Sacri" nicht die Mysterien der Religion besingt,
sondern in dem Glauben das Gefühl erblickt, das alle Menschen
verbindet, so besingt er in „II einqueMaggio" mit Begeisterung den
Tod Napoleons®). Einen eigentümlichen Gegensatz zu den deut-
schen Romantikern bildet Manzoni dadurch, dasz er aus seinem
Hauptwerk „I promessiSposi" an dem er, seinem Grundsatz „Pen-
sarci su" gemäsz, immer wieder aufs neue arbeitete, aus Verstan-
deserwägungen die Liebe ausläszt.

In engerem Sinn Romantiker als Manzoni ist Leopardi, der
Dichter des Pessimismus.

Als Kind war auch er voller Lebenshoffnung:

E che pensieri immensi.
Che dolci sogni mi spirö la vista®).

Er sah das Leben in himmlischer Schönheit:

La sua vita ingannevole vagheggia,
E Celeste beltä fingendo ammira1).

1 Lettera al marchese Cesare d\'Azeglio sul romanticismo, Ancona e Bacci, Manu-
ale della letteratura italiana, Seite 285.

\') Hauvette, La littérature italienne, Seite 418.

\') I Canti di Giacomo Leopardi, (Biblioteca di classici italiani annotati), Vallardi,
1912, Seite 157. *) Seite 162.

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Als er zum ersten Mal Liebe empfindet, fühlt er mehr den
Schmerz als das Glück der Liebe:

Oim^, se quest\'e amor, com\' ei travaglia l^)

Bald fühlt er sich „ a pianger nato"^).
Er gesteht:

Arcano d tutto

Fuor che il nostro dolor®).

So grosz ist der Schmerz, den die Liebe mit sich bringt, dasz
der Liebende sich den Tod wünschen musz; Liebe und Tod sind
Zwillingsgeschwister:

Fratelli, a un tempo stesso, Amore e Morte
Ingenerö la sorte«).

Quando novellamente
Nasce nel cor profondo
Un amoroso affetto,

Languido e stanco insiem con esso in petto
Un desiderio di morir si sente®).

Nicht wie Heine sucht Leopardi im Tode die Erfüllung seiner
Liebessehnsucht, er hofft nicht mehr, er ist zufrieden, wenn den
irdischen Schmerzen ein Ziel gesetzt wird.

Zwar spendet Frauenschönheit dem Mann das höchste Glück:

Raggio divino al mio pensiero apparve,
Donna, la tua beltä. Simüe effetto
Fan la bellezza e i musicali accordi,
Ch\' alto mistero d\'ignorati Elisi
Paion sovente rivelar®).

Der Mann liebt nicht die irdische Frau, sondern die Geliebte
wird zum Ideal

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ramorosa idea,
Che gran parte d\'Olimpo in se racchiudei^).

Er liebt das Bild der Geliebten noch lange, nachdem die irdische
Frau gestorben :

quella Diva

Che già vita, or sepolcro, ha nel mio core^).

Dieses Gefühl ist Leopardi nicht, wie den Dichtern des dolce
Stil nuovo, aus dem Denken entstanden, es ist vielmehr aus der
Verzweiflung geboren. Mit den Minnesängern, mit Dante, mit
Rossetti teilt Leopardi die Ansicht, dasz Liebe zur Sittenschönheit
führt:

Sempre i codardi, e l\'alme
Ingenerose, abbiette

Ebbi in dispregio. Or punge ogni atto indegno

Subito i sensi miei ;

Move Talma ogni esempio

Dell\'umana viltà subito a sdegno

Di questa età superba.

Che di vote speranze si nutrica,

Vaga di ciance, e di virtù nemica;

Stolta, che l\'util®) chiede

E inutile la vita

Quindi più sempre divenir non vede;
Maggior mi sento1).

Nur derjenige stirbt mit der Liebe im Herzen, dem sie im „Au-
genblick des ewigen Trennens" zu teil wird,®)

Nicht nur die Liebe, sondern alles Irdische ist vergänglich :

E fieramente mi si stringe il core,
A pensar come tutto al mondo passa.

1  Leopardi, Rime, Seite 190. 191. Consalvo, Seite 204. ff.

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E quasi orma non lascia. Ecco è fuggito
II di festivo, ed al festivo il giomo
Volgar succédé, e se ne porta il tempo
Ogni umano accidente^).

Nur der Schmerz ist ewig, Freude bedeutet nur eine Unterbre-
chung:

Uscir di pena
E diletto fra noi®).

Wie für Leconte de Lisle, ist auch für Leopardi die Natur der
Inbegriff aller Grausamkeiten:

Come d\'arbor cadendo un picciol pomo,
Cui là nel tardo autunno
Maturità senz\' altra forza atterra.
D\'un popol di formiche i dolci alberghi
Cavati in molle gleba®).

Die Natur verspricht vieles, ihre Versprechungen treten aber
nicht in Erfüllung:

O natura, o natura.

Perché non rendi poi

Quel che prometti allor? perché di tanto

Inganni i figli tuoi?*)

Die Jugendgeliebte muszte sterben, nichts blieb von ihr als

una tomba ignuda®).

Das Vaterland,

Che fosti donna, or sei povera ancella®).
Er fragt sich:

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dov\' e la forza antica,
Dove Tarmi e il valore e la costanza?!)

Eins aber hilft dem Menschen das Leben zu ertragen:

Sola discolpa al fato.

Che noi mortali in terra

Pose a tanto patir senz\' altro frutto;

Solo un affetto

Vive tra noi: quest\' uno

Prepotente signore,

Dieder l\'eterne leggi all\' uman core^).

Aber auch diese Hoffnung schwindet dem Dichter®), da bleibt
ihm kein einziger Lichtblick mehr übrig.

Könnte man Leopardi mit den französischen Dichtern des Pes-
simismus, mit de Musset, de Vigny, Leconte de Lisle vergleichen,
so zeigt die Poesie Pratis und Aleardis eine gewisse Ähnlichkeit
mit Lamartines Dichtung. Wegen der romantischen Stimmung
und des Mangels an Gedanken erfreute diese Poesie sich einer
groszen Beliebtheit.

Gegen den Romanticismus seines Jahrhunderts wendet sich Car-
ducci, der Sänger der Freiheit«), in dessen in strenger, klassischer
Form gestalteter Poesie sich dennoch hie und da romantische
Elemente nachweisen lassen®). Seine „Odi Barbare" erweckten in
d\'Annunzio den Dichter.

D\'Annunzio ist in der italienischen Literatur der erste Sprach-
aristokrat, der erste Verherrlicher des Wortes: ■

0 poeta, divina e la Parola;

Ne la pura Bellezza il ciel ripose

Ogni nostra letizia; e ü Verso e tutto®).

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„Un verso perfetto è assoluto, immutabile, immortale ; tiene in
sè le parole con la coerenza d\'un diamante; chiude il pensiero
come in un cerchio preciso che nessuna forza mai riuscirà a rom-
pere; diviene indipendente da ogni legame e da ogni dominio; non
appartiene più all\'artefice, ma è di tutti e di nessuno, come lo
spazio, come la luce, come le cose immanenti e perpetue\'\'^).

Die Weise wie er dichtet, schildert uns d\'Annunzio in den fol-
genden Zeilen :

„La consonanzagliveniva spontanea, senza ch\'ei la cercasse; e i
pensieri gli nascevano rimati. Poi, d\'un tratto, un intoppo arres-
tava il fluire ; un verso gli si ribellava ; tutto il resto gli si scompo-
neva come un musaico sconnesso; le sillabe lottavano contro la
constrizion della misura; una parola musicale e luminosa, che gli
piaceva, era esclusa dalla severità del ritmo ad onta d\'ogni sforzo ;
da una rima nasceva un\' idea nuova, inaspettata, a sedurlo, adis-
trarlo dall\' idea primitiva; un epiteto, pur essendo giusto ed esat-
to, aveva un suono debole ; la tanto cercata qualità, la coerenza,
mancavacompletamente;elastrofaeracome una medaglia riusci-
ta imperfetta per colpa d\'un fonditore inesperto il qual non aves-
se saputo calcolare la quantità di métallo fuso necessaria a riem-
pirne il cavo. Egli, con acuta pazienza, rimetteva, di nuovo nel
crogiuolo il métallo ; e ricominciava l\'opera da capo. La strofe alla
fine gh usciva intera e précisa; qualche verso, qua e là, aveva una
certa asprezza piacente; a traverse le ondulazioni del ritmo appa-
riva evidentissima la simetria; la ripetizion delle rime faceva una
musica chiara, richiamando alio spirito con l\'accordo de\'suoni
l\'accordo de\'pensieri e rafforzando con un legame fisico il legame
morale; tutto il sonetto viveva e respira va come un organismo
indipendente, nell\'unità. Per passare da un sonetto all\'altro egli
„teneva", una nota, come in musica la modulazione da un tono
all\'altro è preparata dall\'accordo di settima, nel quai si tiene la
nota fondamentale per fame la dominante del nuovo tono" 2).

Für d\'Annunzio, wie für die Frühromantiker, wie für Verlaine
soll Poesie musikalisch wirken.

Wie für Shelley ist Musik dem Dichter „chiave d\'argento che
apri la fontana delle lacrime, ove lo spirito beve finchè la mente si
smarrisce; soavissima tomba di mille timori, ove la loro madre^

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rinquietudine, simile a un fanciullo che dorme, giace sopita ne\'
fieri...."!).

Sie ist „il selo mezzo conceduto all\'uomo per affrancarsi dall\'
inganne dell\' Apparenza e per discoprire nell\' universe inferiore
dell\' anima l\'Essenza reale delle cose. Non era stata per lui la Mu-
sica una Religione?"^)

Diese musikalische Sprache dient aber nicht dazu, dasz der
Dichter dasjenige aufs neue sagt, was schon Tausende Male vor
ihm gestaltet worden ist:

Inutilmente vei cen le snervate

Braccia sopra le incudini sonore,

Tristi artefici, il verso martellate;

Pei che non da il metalle anche un bagliere®).

Auf dem Boden der Seele ruhen noch unbekannte Schätze:

Ma in grembo al Mare ignoto, ove non mai
Giunsero na vi, l\'Isola fierente
Emerge cen sue forze occulte e lente
Su da\' cerchi de\' bianchi polipai*).

Der Dichter soll den Erscheinungen der Welt neue Seiten abzu-
gewinnen suchen:

In ogni cerchio genera la Vita
Novelle forme, e chiude ogni cenchiglia
Perle che il sei non mai vide, o Poeti®).

Die Anregung zu eignen Schöpfungen kommt d\'Annunzio häu-
fig aus der Poesie fremder Dichter:

„Quasi sempre, per incominciare a comperre, egli aveva bisog-
no d\'una intonazione musicale datagli da un altro poeta; ed egli
usava prenderla quasi sempre dai verseggiatori antichi di Tos-
cana. Un emistichio di Lapo Gianni, del Cavalcanti, di Cino, del
Petrarca, di Lorenzo de\' Medici, il ricordo d\'un gruppe di rime,

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la congiunzione di due epiteti, una qualunque concordanza di pa-
role belle e bene sonanti, una qualunque fräse numerosa bastava
ad aprirgli la vena, e dargli, per cosi dire, il „la", una nota che gli
servisse di fondamento all\' armonia della prima strofa. Era una
specie di topica applicata non alla ricerca delli argomenti ma
alla ricerca dei preludii"^).

Die Kunst, welche d\'Annunzio anstrebt, ist nicht nur eine musi-
kalische Wortkunst, sie soll, wie das Werk des von ihm hoch ver-
ehrten Tonkünstlers Richard Wagner®) eine Synthese aller Künste
sein.

Sie soll ein Fest sein „de suoni, de\' colori e de le forme"®).

In diesem Geist spricht Maria von dem Eindruck, den die „Fa-
vola d\'Ermafrodito" auf sie gemacht hat:

„Nessuna Musica mi ha inebriata come questo poema e nessuna
statua mi ha data della bellezza un\' impressione più armo-
nica"*).

An einer andern Stelle heiszt es: „lo ho eseguita ed ascoltata
molta musica. E di ogni Sinfonia, di ogni Sonata, di ogni Nottur-
no, di ogni singolo pezzo in somma, conservo una imagine visi-
bile, im\' impressione di forma e di colore, una figura, un gruppo di
figure, un paesaggio; tanto che tutti i niiei pezzi prediletti por-
tano un nome, secondo l\'imagine"®).

D\'Annunzio sucht die Synthese der Künste zu erreichen, indem
er entweder Gemälde zum Vergleich heranzieht®), oder uns, im
Geist der Präraphaeliten, blosz durch die Kraft seiner Wortmusik,
Gemälde vorzaubert.

Zu den schönsten Wortgemälden gehören wohl das Bild der

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Francesca di Rimini im Fackellicht auf dem Turm ihres Schlosses,
und das der tanzenden und in der Pracht ihrer blonden Haare im
Feuer sterbenden Basiliola in „La Nave".

Wie die Dichtung der Syriibolisten und der deutschen Neuro-
mantiker ist auch die d\'Annunzios hervorgegangen aus der Stim-
mung der Dekadenz, aus dem Gefühl des Erben einer alten Kul-
tur:

Estati, autunni, in verni, primavere,
O vicende costanti, ore infinite.
Che stanchezza m\'assale s\'io vi penso !

Chi potrà darmi un qualche nuovo sensoP^)

Bevvi, bevvi e ribevvi. AI fine ignota
Non m\' è nessuna ebrezza. Tutto osai^).

Im Geiste Baudelaires heiszt es:

Principe un tempo amai sotto aurorali
Cieli donne possenti in un paese
Ricco d\'antiche selve circomprese
Da meandri di fiumi imperiali.

E fui pugnace; ed infiniti mali
Addussi ai vinti ne le mie contese®).

Aus diesem Gefühl ersprieszt die Sehnsucht, etwas Neues, Nie-
dagewesenes zu erleben. In der Weise, wie d\'Annunzio sich die er-
sehnten Erlebnisse ausmalt, fühlen wir die Einwirkung Baude-
laires, Rimbauds.

Oh al meno goder la visione
Di Roma in fiamme e qualche müione
Di sesterzi pagare un vin di rose!«)

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e tutti i filtri di Medea
Davano ai baci suoi lenti un funesto
Potere. Ella evocava ogni piu rea

Memoria di libidini, l\'incesto
Di Mirra, l\'onda crètica; o vestita
Di jacinto, solenne, con un gesto

Parea svelare e l\'anima stupita
Tutti i misteri chiusi nel Petroma
Sacro e sciorre l\'enigma de la Vita.^)

Dem Dichter André Sperelli — dem Helden des Romans „ II
Piacere" legt d\'Annunzio folgende Worte in den Mund:

Vuoi tu pugnare
Uccidere? Veder fiumi di sangue?
Gran mucchi d\'oro ? Greggi di captive
Femmine? Schiavi? altre, altre prede? Vuoi
Tu far vivere un marmo ?2)

D\'Annunzio ist „l\'Anima trista, che non fu mai paga."3). Da-
neben aber kennt er die Lebensfreude1), „l\'inno unico immensode
la Gioia"®), die namentlich bei dem reifen Dichter, in den „Laudi"
einen so mächtigen, schwungvollen Ausdruck findet.

In höherem Masze als alle andern europäischen Neuromantiker
kennt d\'Annunzio den Kultus des Ich.

Er fühlt in sich den Drang, Gott zu werden :

O fa anche una volta nel mondo il Giovine viva
Come un possente dio ne la sua fa vola !®)

Erfühlt sich Gott:

Fremiti no vi de gli alberi su le colline
A l\'alitare largo del maestral, vi sento

1  Vgl. u. a. Poesie I, Seite 179, II Peccato di Maggio.
\') Poesie I, Seite 205. \') Poesie I, Seite 31.

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Nel cuor palpitante, ne i nervi, nel sangue, e una strofe

E ogni fremito, una divina strofe

Che vola a l\'immenso poema di tutte le cose.

Io — grida entro una voce — non son io dunque un nume?^)

In den Anfangsworten der „ Annunzio" aus den „Laudi" :

Udite, udite, o figli della Terra, udite il Grande

Annunzio ch\'io vi reco sopra il vento palpitante

Con la mia bocca forte®).

zeichnet er sich als den Übermenschen, den er im Geiste Nietz-
sches verherrlicht.

„II rimpianto è il vano pascolo d\'uno spirito disoccupato. Bi-
sogna sopra tutto evitare il rimpianto occupando sempre lo spi-
rito con nuove sensazioni e con nuove imaginazioni"®).

„Bisogna fare la propria vita, come si fa un \'opera d\'arte"«).

Die Helden aus d\'Annunzios Romanen wollen ihr Leben zu
einem Kunstwerk machen,
ohne dabei nur irgendwie auf andere
Rücksichten zu nehmen. Namentlich zeigt sich dieser Ich-kult in
der Liebe. Denn auch die Liebe bedeutet dem Dichter nur eine
Stufe auf dem Wege zur Göttlichkeit:

„L\'amplesso intero del mio amore ti farà divino"®).

Die Frau soll dienen, „Servire, servire"®), sie ist sein Geschöpf,
er fühlt sich „l\'Animatore"\').

„In due anni egli mi ha trasformata, mi ha fatta un\' altra, mi ha
dato nuovi sensi, un\' anima nuova, un nuovo intelletto. Io sono
la sua creatura. Egli puö inebriarsi di me, conie d\'un suo pensiero.
Io gli appartengo, tutta quanta, ora e sempre"®). Der Heldin aus
„II Fuoco" gibt d\'Annunzio den Namen „Perdita". „Distruggere
per possedere — non ha altro mezzo colui che cerca nell\' amore
1\'Assoluto"»).

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So wird er zum Dichter der „crudele amore\'\'^), zu dem die Ge-
liebte fleht: „oh non mi fate male"^). Er aber schaut ihr voll
Grausamkeit zu, als sie in Todesangst den Weg aus dem Laby-
rinth nicht zu finden weisz®).

Das Ende aller Liebe aber ist Ekel, Widerwille«).

Denn auch d\'Annunzio findet im Leben das Liebesideal nicht,
das er im Herzen trägt: „1\'Ideale avvelena ognipossesso imper-
fetto e neir Amore ogni possesso e imperfetto e ingannevole®). Er
träumt sich eine Liebe „fuor del mondo, interamente perduto nel
vostro essere, per sempre, fino alia morte"®).

Er kennt den Heiligenkult der Liebe:

Quando primo ella a me con un immenso
Grido s\'offerse (ancor l\'anima trema),
Un gran fascio di gigli, un puro emblema,
Effondea presso il letto un puro incenso\').

Ah, mani belle, oh mani blanche e pure
Come ostie in sacramento®).

Ben quando (oh notte!) la divina chioma
lo le disciolsi e vinta ella m\'aperse
Le braccia, il letto parvemi un altare®).

D\'Annunzio, der Dichter mit der Schlange im Herzen,

lo guardo nel cuor mio; che ardente
Come una lampa e tutto avviluppato
Da una spoglia di serpe, trasparente,
Su cui l\'orrido inferno h figurato^®).

ist aber nicht im Stande, sich dauernd zu dieser hohen Liebe auf-
zuschwingen :

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Ma non poss\'io veder la tua sovrana
Luce, poi che un crudele bacio ancora
Queste infiammate palpebre m\'aggrava.

Bere io non posso a la tua pia fontana,
Poi che un crudele bacio m\'addolora
Questa bocca che molto t\'anelava^).

Ein Dichter der Verinnerlichung ist dieser italienische Neuro-
mantiker nur selten. Man glaubt ihm, wenn er gesteht:

„Ma questo periodo di visioni, di astrazioni, di intuizioni, di
contemplazioni pure, questa specie di misticismo buddistico e
quasi direi cosmogonico, fu brevissimo"®). An der Wahrheit von
d\'Annunzios mystischen Gefühlen musz man zweifeln, man fühlt
sie als Reminiscenzen aus den Werken mystischer Schriftsteller,
namentlich aus Maeterüncks Dichtung.

Im Geiste dieses Flamänders spricht d\'Annunzio sich in „II
Piacere" über den Wert des Schweigens aus: „Ella taceva, tutta
raccolta in sè. Mentre il suo cuore quasi traboccava, ella godeva
accumularvi ancora col silenzio la commozione. Parlando, ella
l\'avrebbe dispersa"®).

„A un certo punto, il sUenzio è caduto su noi, gravemente. Ma
tra lui e me è incominciato un di que\' colloqui di silenzio, ove l\'a-
nima esala l\'Ineffabile e intende il murmure dei pensieri"1).

D\'Annunzio spricht hier dasselbe Gefühl aus wie Heine in dem
Sterbelied „Für die Mouche" :

Wir sprachen nicht, jedoch mein Herz vernahm.
Was du verschwiegen dachtest im Gemüte —
Das ausgesprochne Wort ist ohne Scham,
Das Schweigen ist der Liebe keusche Blüte®) .

Aus dem Geiste Maeterlincks hervorgegangenen ist weiter
die verinnerlichte Gestalt der Blinden in „La Cittàmorta", sowie
die Wahnsinnige in „Sogno d\'un mattino di primavera", der ein

1 >) Poesie II, Seite 253. II Piacere, Seite 165. 166. \') II Piacere, Seite 25.

«) II Piacere, Seite 260.

\') Heine, Elster II, Nachlese, Seite 45.

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reiches Leben aus dem Unbewuszten emporsteigt, die mit den
Bäumen, den Gebüschen, dem Gras eins sein möchte.

Auch den Gedanken, dasz der Mensch ein Teil des Weltganzen
ist, spricht d\'Annunzio einmal aus:

E non il dio è in me? Il palpito eterno del Mondo

Questo non è, che il mio cuore mortale muove?!)

An Baudelaire erinnern uns die Gefühle des Demetrius Aurispa
und seines Sohnes: „entrambi avevano l\'anima religiosa, incli-
nata al mistero, atta a vivere in una selva di simboli o in un cielo
di pure astrazioni"^).

In „L\'Innocente", ist d\'Annunzio durch Dostojewski beein-
fluszt, in „Le Vergini delle Rocce" liest er uns aus den Briefen der
Caterina de Sienna vor. Aber in „II Martirio di San Sebastiane",
den beiden ursprünglich in mittelàlterlichem Französisch ge-
schriebenen Dramen, ist von Mystik kaum mehr die Rede, da
läszt uns der Dichter mit Wollust die Grausamkeiten mitempfin-
den, welche die Märtjo-er erleiden müssen.

Wie bei Maeterlinck finden wir auch in d\'Annunzios Dichtung
die Verherrlichung des Traums :

„II settembre è più feminine, più discreto, più misterioso. Pare
una primavera veduta in un sogno"®).

Im Traum erlebt er das Schönste :

0 segne di bellezza in cieli aperti*).
daneben aber heiszt es:

Cosi, mio Segne, a le tue tristi aurore

Li spiriti fuggiti de\'l mio core

Rompono insieme tempestando forte®).

D\'Annunzio ist der Dichter mit der Fähigkeit, sich allem anzu-
passen, alles in sich aufzunehmen, sich in alles zu verwandeln.

Non vivono ferse i germi di tutte le vite
__Ne la mia vita umana? Sento il prodigio instare.

Poesie I, Seite 42. «) Trionfo della Morte, Seite 280. 281.
\') II Piacere, Seite 215. \') Poesie I, Seite 200. Poesie II, Seite 109.

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Tu cullami, o mare, nel tuo infinite respiro;
Compi tu, sole, l\'alta metamorfosi^).

Nicht zum ersten Mal lebt der Dichter auf Erden:

e conoscemmo
Pur noi nel tempo quando in un\' isola
Armoniosa de l\'Arcipelago
Costei si nomava loessa
Ed io nomavami Dorione®).

Auf d\'Annunzio anwendbar sind die Worte, welche Joel in Be-
zug auf den Romantiker ausspricht:

„Er bezieht alles auf sich und bezieht sich auf alles. Er drängt
immer zum andern und im andern findet er nur sich. Er ist die
Leidenschaft, die heiszhungrig immer hinausstrebt und unersätt-
lich immer zu sich zurückkehrt. Er verwandelt sich beständig und
in alles, aber alles wird ihm nur Gewand, Schleier, Maske, Durch-
gang. Er wandert unaufhörlich, bleibt nie fest in sich und auch
nie fest in anderm, denn er ist bei allen Dingen nur zu Gaste. Er
bleibt nie bei der Sache, beim Objekt, er baut nicht, sondern er
wandelt sich, indem er denkt"®).

D\'Annunzio besitzt eine überaus grosze Empfänglichkeit, er
zeichnet sich aus durch die „estrema impressionabilitä del suo si-
stema nervoso cerebrale"«). Er ist der Dichter mit den scharfen
Sinnen, vor allem, wie Baudelaire, mit dem ausgeprägten Ge-
ruchssinn. Nicht nur in „La Gioconda" erreicht d\'Annunzio Stim-
mung durch den Duft der Veilchen, durch seine ganze Poesie

senti soave odore®).

Wie ein Leitmotiv geht durch d\'Annunzios Dichtung die Liebe
zum Meere. Wieder Dichter es in „II Piacere" ausdrückt: „Come nel
verso di Giorgio Byron le montagne, per lui erano un sentirnento
le marine"®). Von den ersten bis zu den letzten Gedichten läszt

1) Poesie I, Seite 42, 43. ») Poesie I, Seite 79.

») Joel, Nietzsche und die Romantilt, Seite 116—117.

*} II Piacere, Seite 166. ») Poesie II, Seite 28. \') II Piacere, Seite 166.

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sich dieses Gefühl nachweisen. Der junge Dichter spricht es in den
Worten aus:

O Mare, o gloria, forza d\'Italia l^)

der reife Künstler errichtet dem Meer ein Denkmal in den „Laudi".

Ein zweites, gern gestaltetes Motiv ist die Liebe zu Rom.
„Roma era il suo grande amore, non la Roma dei Cesari, ma la
Roma dei Papi; non la Roma degli Archi, delle Terme, dei Fori,
ma la Roma delle Ville, delle Fontane, delle Chiese"^). Der Dichter
zeichnet uns diese von ihm bevorzugte Umgebung in „II Piacere"
und in den Elegien.

Wie Keats und Swinburne, wie Hugo von Hofmannsthal greift
auch d\'Annunzio gerne zu klassischen Stoffen, auch er gieszt
dem antiken Stoff romantische Gefühle ein. In dem in Myken
spielenden Drama „La Gitta morta" versucht der Dichter uns die
Empfindungen von Menschen vorzuführen, welche vergiftet sind
durch die beim Aufgraben der Königsleichen eingeatmeten Mias-
men®) ; dies ist dem Dichter aber nicht gelungen, es erstehen vor
uns moderne Menschen mit modernen Gefühlen.

D\'Annunzios Dramen tragen häufig die Stimmung des Perver-
sen. Pervers ist die auf dem Bucentaur tanzende Pantea in
„Sogno d\'un tramonto d\'autunno", pervers die tanzende und in
den Flammen umkommende Basiliola in „La Nave"«), pervers ist
Fedra, die Heldin der gleichnamigen Tragödie. Diese drei Dra-
men sind Dichtungen des Hasses. Gradeniga sucht die junge schö-
ne Gegnerin Pantea durch Zauberkünste, durch das Schmelzen
des Wachsbildes®) ums Leben zu bringen, steht aber, als dies ihr
gelungen, sprachlos und wahnsinnig vor Schmerz und Entsetzen
da. In „La Nave\' \' gestaltet d\'Annunzio den Hasz der sich bekämp-
fenden Heiden und Christen; durch diese Dichtung geht, wie ein
roter Faden, die selbst den Feind bezwingende Schönheit der
Basiliola. In „Fedra" mischt sich die Liebe zu Hippolytosmitdem

Poesie I, Seite 10. \') II Piacere, Seite 43. ») 11,4.

La Nave, Terzo migliaio, Seite 245. „Fulminea si volge, si précipita surara,conla
bocca protesa come per bere la fiamma, simile nella felicità dell\'atto a chi assetato
affondi tutto il corpo nella polla, per trarre il piii lungo sorso. L\'ardore s\'apprende ai
capelli che divampano in un attimo come un fascio di stipule, con un chiaro baleno.
Sollevati sono i grandi clipei d\'intomo. Urla d\'intorno la moltitudine, rompendo il
silenzio della meraviglia e dell\' orrore".

\') Vgl. Rossetti, Sister Helen.

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Hasz der Verschmähten. In dieser Dichtung verbindet sich der
Einflusz von Baudelaires Poesie mit der d\'Annunzio eignenden
Grausamkeit. Wie Hofmannsthals „Elektra" ist auch „Fedra" —
wie „La Nave" — ein Schaustück mit schönen Stellungen, schönen
Farben, Lichteffekten. Ist „Elektra" eingröszeres Kunstwerk, weil
nur Eine Empfindung, die des Hasses, die Heldin ganz erfüllt,
„Fedra" wächst durch den Schlusz, wo die Königin sich zur
Grösze erhebt, zu mächtigerer Wirkung aus.

D\'Annunzios Bedeutung als Dichter liegt darin, dasz er an
erster Stelle Künstler ist. Die Kunst ist ihm „più che l\'amore".
Wie Leonardo da Vinci ist auch er der Ansicht, dasz „Cosa bella
mortal passa, e non d\'arte\'\'^). Schaffen ist ihm die gröszte Freude:
„Quäle gioja è piu forte!"®) Ist die Dichtung dieses Sinnenmen-
schen nicht eine Kunst der Verinnerlichung, wie die Neuromantik
in den andern Ländern, das Werk dieses Dichters, der sich, wie
so viele Romantiker vor ihm, durch die Schönheit zu der katholi-
schen Kirche angezogen fühlte, ist wie kein andres durch Schön-
heit geweiht. Seiten, wie sie sich im siebenten Kapitel des Romans
„L\'Innocente" finden, stehen als Wortkunst unerreicht da, nur
einige Stellen in dem Werke Jacobsens sind ihnen zu vergleichen.

Mit Recht liesze sich von diesem Dichter sagen, er sei der

miglior fabbro dei parlar materno®).

») Titelblatt der Gioconda. ») II Piacere, Seite 180. ») Purgatorio XXVI, 117.

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FÜNFTES KAPITEL

ROMANTIK UND NEUROMANTIK IN DÄNEMARK

Der dänischen Literatur fehlt, wie der englischen, die mittelal-
terliche Liebesdichtung, dagegen besitzen die Dänen in der alten
nordischen Heldensage einen imerschöpflichen poetischen Hort.
Den Kern dieser Poesie bilden historische Ereignisse vor oder wäh-
rend der Völkerwanderung. In lateinischer Übersetzung sind die-
se Sagen in der Chronik des Saxo, den „GestaDanorum" erhalten.
Die Helden der Vikingerzeit wurden nicht in die Heldensage auf-
genommen, ihre Taten wurden mit dem frischen Gepräge des Rei-
seabenteuers in Sagas erzählti). Der tragische Grundton der alten
Heldenlieder fehlt diesen Prosaerzählungen, manchmal auch sind
den Taten ihrer Helden Märchenzüge beigemischt2). Von den Iren
lernten die nordischen Völker die Kunst, ihre Erzählung in einer
lyrischen Welle gipfeln zu lassen®), der Gedankeninhalt aber blieb
nordisch; auch der Einflusz der ritterlichen Romanliteratur des
Südens konnte den ursprünglichen, nordischen Geist dieser Poesie
weder umformen, noch verdrängen, blosz eine einzige Vikinger-
sage ist eine Mischung der südlichen und der einheimischen Rich-
tung: die Sage von Frithjofs und Ingeborgs Liebe1). Auch diese
Sagen sind in Dänemark durch die Chronik des Saxo erhalten. Die-
ses Werk is die reichste Sammlung lebensvoller Bilder aus jenem
Zeitalter, das Dänemark zur Freiheit führte und zur Grösze erhob,
es ist ein einzig dastehendes Memoirenwerk®).

Als Saxo seine Chronik anfing, waren die Helden der glänzend-
sten Epoche der dänischen Geschichte schon ausgestorben, oder
sie hatten sich in dem gemeinem Volk verloren®), ein müderes

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Zeitalter voll Lebensfreude und Naturgefühl hatte eingesetzt. Die
schönste, poetische Äuszerung dieser neuen Kultur sind die Folke-
viser; die namentlich in dem Kehrreim dieser Lieder enthaltene
Lyrik ist eine aus Tanz und Gesang emporgeblühte Kunst, die E-
pik dieser Dichtung ist zum gröszten Teil die Verklärung des da-
maligen Ritterlebens^).

Für die Dichter des goldenen Zeitalters der dänischen Literatur,
für die Romantiker, wurden die Sagen und die Folkeviser von der
allergröszten Bedeutung. Nicht an erster Stelle fühlten sie sich aber
durch das Märchenhafte und Phantastische dieser Dichtungen an-
gezogen, vielmehr erblickten sie in dieser Poesie die Verklärung ei-
ner Zeit, welche die groszen Eigenschaften besasz, die der ihrigen
fehlten.

Der erste Dichter, der in seiner Poesie auf alte Sagenstoffe zu-
rückging, war J. Ewald. Zwar besitzen die Helden seiner Tragö-
dien, die er unter dem Einflusz von Klopstocks Barditen dichtete,
nicht den Charakter der alten Helden, dennoch ist es das Ver-
dienst Ewalds, dasz er die Aufmerksamkeit späterer Künstler auf
die heimische Sage gelenkt hat®).

Auch durch dasSingspiel„Fiskeme", in dem er unter Rousseaus
Einflusz die Natur und den Naturmenschen verherrlicht, führt er
zu der Romantik hinüber. Auf einen zweiten Vorläufer späterer
Dichter, auf Baggesen, wirkten neben Voltaire und Shakespeare,
Klopstock, Wieland und Goethe ein. Im Geiste Lessings ebnete
WesselderneuenStrömungden Weg; sein Trauerspiel, „Kjaerlighed
uden
Str0mper", eine Parodie auf die Tragödie Corneilles und
Racines, wirkte so komisch, dasz von da an die Herrschaft des
klassischen Dramas der Franzosen zu Ende war.

Dieser leise hinanstrebende literarische Aufschwung ist aber
noch blosz im engeren Sinn romantisch. Kräftigere Gefühle wurden
erst hervorgerufen durch den Sieg über die englische Flotte am 2.
April 1801; da regte sich in den Herzen der Dänen das Bewuszt-
sein einstiger nationaler Grösze, man verglich die Schlacht im

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Sund mit den Kämpfen sagenberühmter Vorfahren und fühlte die
Poesie längst dahingeschwundener Zeiten wieder erblühen. Als
Steffens aus Jena, wo er ein begeisterter Anhänger Schellings und
der geistige Verwandte Novalis\' und der Brüder Schlegel gewor-
den war, nach Kopenhagen zurückkehrte, fand er da eine Jugend
vor, die bereit war, alle an die Aufklärung erinnernden Gefühle über
Bord zu werfen und für die seine Vorlesungen über die Naturphi-
losophie ein Ereignis bedeuteten. Zu den jungen Männern, welche
er beeinfluszte, gehörte Oehlenschläger: in dem Jugendwerk dieses
Dichters, namentlich in „Aladdin", erblühte, wie eine über Nacht
sich entfaltende Blume, eine Poesie, die aus dem Geist der Frühro-
mantik geboren, im Wesentlichen ihre Züge trägt. Auch die Poesie
des ersten dänischen Romantikers ist die aus heftigem Drang nach
Verinnerlichung!) hervorgegangene Kunst eines phantasiebegab-
ten Dichters.

Mehrere Gefühle und Gedanken der deutschen Frühromantiker
lassen sich in Oehlenschlägers Dichtung nachweisen. In Nureddin,
Aladdins Gegner, der im Anfang des Dramas „Aladdin", wo er
noch als der ernste Forscher und als Zauberer dargestellt wird, an
den Faust des Volksbuchs erinnert, wird der Gedanke verkörpert,
dasz Wissen nicht zur Erkenntnis führt. Im weiteren Verlauf des
Dramas stellt Oehlenschläger mit feiner Ironie den dürren Wissen-
schaftsmenschen dar, der niemals ein Mädchen liebte, niemals im
Mondschein schwärmte, der immer studierte — aber nie die innere
Befriedigung fand®).

Den Gegensatz zu den trockenen Verstandesmenschen, den
„Harmonisch Platten" bilden:

de sjeldne Faae
Som vor Gave forstaae,
Som ej Jordlsenker binde,
Men hvis Sjsele sig haeve
Til det Eviges Tinde,
Som ane det H0je

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I Naturens 0je,
Som tilbedende baeve
For Guddommens Straaler
I Sole, i Violer,
I det Mindste, i det
St0rste,
Som braendende t0rste
Efter Livets Liv^).

Namentlich das Kind besitzt diesen mystischen Blick. Einem
Kinde, einem Mädchen ist es deshalb beschieden, ohne irgend wel-
che Anstrengung das Heiligtum zu finden, das verborgen in der
Erde mht, „det
skj0nneste Skj0nne", ein „Glimt" aus ferner Zeit,

Da det straalte i Norden,
Da Himlen var paa Jorden®).

Ebenso mühelos gelingt es dem jungen Aladdin, „Naturens
S0n" von den drei den Knaben zugeworfenen Apfelsinen zwei zu
fangen, die dritte fällt ihm, ohne dasz er sich auch nur regt, in
den Turban®).

Naturens muntre S0n er Lykken nsest.
Hvorefter Nattens Grubler flittig grunder.
Naar Solen slukkes i det biege Vest,

Det finder han med Lethed, ved et Under.
Fast ubegribeligt ham Lykken gaaer
Im0de, mens han S0dt og lifligt blunder.

Og deri Lykken netop jo bestaaer.
At den umiddelbar, ved skjulte Kraefter
Hen til sin elskte Gjenstand sikkert naaer.

Den kommer selv, den vil ej gribes efter;
Det hjaslper lidt kun at Du
s0ge vil,
At Du din Tanke paa dens Ankomst hef ter;

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Du griber — Haabets D0r sig lukker til,
Hvis ej umiddelbar din Lod er falden.
Da blier Du for din Higen kun et Spil;
Da hjffilper ej din Forsken og din Kalden^).

Unter den Erwachsenen steht der Künstler dem Kinde am näch-
sten, auch ihm strömen aus dem Unbewuszten Kräfte zu; sie er-
möglichen es ihm, ohne Mühe zu.schaffen:

En anden l0j erlig naragtig Karl
Blier f0dt til Verden som en Spindevsev;
Han haler alting af sig selv og hvüer
Ej, f0r den hele Bygning faerdig staaer;
Og det er gjort, mens en fornuftig Mand
Faaer taendt og r0get ud sin Morgenpibe.
Det maa man aldrig ta\'e fortrydeligt;
Hver f0lger saa sin egen Sjsels Natur!2)

In seinem Märchendrama gestaltet Oehlenschläger den Künstler
nicht als denjenigen, für den die Gebilde der Phantasie leben
wie die Gegenstände der Erscheinungswelt®), sondern über das
Genie hinaus als den Glücklichen, der die Wunderkraft besitzt, die
Gestalten seiner Phantasie zu wirklichen Erscheinungen zu ma-
chen — als eine Zwischenstufe zwischen dem Genie und dem ma-
gischen Idealisten.

Die zuletzt angeführten Worte heben das schnelle Schaffen des
— romantischen — Genies hervor. Die Schnelligkeit, womit
Oehlenschläger arbeitete, ist wie die Vorliebe der deutschen Dich-
ter für das Fragment, eine natürliche Folge des romantischen Cha-
rakters. Wer nur dichten kann, solange das Gefühl ihn beherrscht,
schafft entweder Kurzes oder arbeitet schnell. Der Risz in Alad-
dins Charakter — das junge, leichtsinnige Naturkind wird in den
letzten Aufzügen zum Verfechter einer höheren Sittlichkeit — ist
auch wohl eine Folge der Unfähigkeit Oehlenschlägers, sich zu

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konzentrieren. Dennoch fühlt Oehlenschläger sehr genau, welche
Anforderungen an den wahren Künstler gestellt werden müssen:

„Ganske at kunne tabe sig i sit Objekt og fremstille det sandt,
tydeligt og betydningsfuldt uden uvedkommende Indblanding er
uden Tvivl det, der karakteriserer den sandeKunstner"^). Auch
nach seiner Ansicht kann der Dichter nicht besonnen genug sein.
Und wie die Frühromantiker ist auch er mit Bewusztsein Symbo-
liker; in „Aladdin" will er „gennem individuelle Billeder fremstille
Store Situationer af Livets og Naturens forunderlige Gang"®).

Der Stoff des „ Aladdin" ist den Märchen der 1001 Nacht entnom-
men, den Geist des Ostens aber hat Oehlenschläger nicht verkör-
pert — nur über dem Lied der Karawane in der arabischen Wüste
liegt die Stimmung des Orients®). Im Prolog «) spricht der Dich-
ter die Furcht aus, dasz es ihm nicht gelungen sei, das Märchen
mit der dazu erforderlichen Farbenpracht zu gestalten. Auch Oeh-
lenschläger kennt die Sehnsucht nach dem Orient, er möchte seine
Poesie mit östlicher und südlicher Glut durchdrängen:

Blomsten sund af Fr0

Til Solen traenger, for at gjennemgl0des®).

Den Norden und den Süden zu verbinden sucht der Dichter in
„Hakon Jarl". Indem er mit gleich groszer Sympathie Hakon, den
Vertreter des Heidentums und Olaf Tryggvason, den christlichen
König darstellt, läszt Oehlenschläger die Zeit der Götterdämme-
rung, die Übergangszeit der nördlichen zu einer südlichen Religion,
vor uns erstehen.

Das Thema des „Hakon Jarl", den Kampf zwischen Heidentum
und Christentum, gestaltet Oehlenschläger aufs neue in „Palnato-
ke\'\'; in diesem Trauerspiel aber hat die Religion seiner groszen Vor-
fahren die ganze Sympathie des Dichters. Wie Harald von der
Bulle des Papstes spricht als von „velske Kragetseer"®), so nennt
Palnatoke die Mönche „denne lumre Munkepest fra Syd"®), das

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Christentum das Mittel „at draebe Landets Selvstffindighed". So
wird die Schilderung der Heidenzeit symbolisch zu dem ideellen
Bilde eines geistig unabhängigen Dänemark, das die Traditionen
seiner groszen mittelalterlichen Vergangenheit unbeeinfluszt von
einer südlichen Kultur fortsetzt.

Die Romantik in „Palnatoke" ist die unmittelbare Fortsetzung
der Gefühle der dänischen mittelalterlichen Strömung. Nicht nur
dieser — sondern der dänischen Romantik überhaupt — fehlt
die in der deutschen Poesie vorherrschende Verherrlichung des
Katholizismus. Von der geringen Sympathie, welche Oehlenschlä-
ger für die Religion des Mittelalters fühlte, zeugt, auszer den aus
„Palnatoke" angeführten Stellen, die Gestalt des „Sortebroder
Knud", des bösen Dominikanerbruders aus „Axel og Valborg".

Der Glaube ist für Oehlenschläger

En Drift, som haever Kräften i vor Sjael
Mod Livets Ophav, det Usynlige;
En Drift, som er forskj ellig efter Vsesnet,
Den virker paa; forskj ellig efter Tiden,
Den virker i; forskj ellig som Naturen^).

Auch die Schönheit des Katholizismus findet in der dänischen
Romantik nicht eine ihr gerecht werdende Verklärung; der Ver-
such Christian Winthers, in „Hjortens Flugt" das Mittelalter er-
stehen zu lassen und somit die Stimmung der Zeit der Mönche und
der Heiligen heraufzubeschwören, ist verfehlt.

Nur ausnahmsweise hat die Liebe in der dänischen Dichtung
den Wert, den die deutsche Romantik ihr beUegt. Oehlenschläger
verherrlicht zwar „Kjaerligheden", die Liebe zwischen Mann und
Frau, in den Wertender Göttin am Schlusz des „Sanct Hans Aften-
spir, über diese geht ihm aber die Liebe zur Natur, dieser „hellige
Poesie uden Ord"®)

Den hele Natur er min Elskerinde.
Gid jeg som de hvinende Vinde
Kunde styrte h0jt fra Skyerne ned
Og favne det Alt! Det var Kjaerlighed

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Niemals erwählt Oehlenschläger „eine romantische Gegend"
zum Schauplatz seiner Dichtung, mit sichtlicher Vorliebe verweilt
er z. B. in „Sanct Hans Aftenspil" in „Dyrehaven", dem Lustgar-
ten in der Nähe von Kopenhagen. Diese Mischung von Romantik
und Wirklichkeitssinn kennzeichnet nicht nur Oehlenschlägers
Poesie, sondern die Dichtung fast aller dänischen Romantiker.
Bei den späteren Dichtern nimmt die aus dem Volkscharakter her-
vorgehende Realistik immer mehr zu und treten die ursprüng-
lich fremden Gefühle und Gedanken zurück. Man könnte die däni-
sche Romantik einer im Süden an ein Hochgebirge grenzenden,
wellenartig sich erhebenden Landschaft vergleichen, aus der hier
und da ein Berg aufragt, deren letzte Hügel aber schon den
Schmuck der Ebene bilden.

In Oehlenschlägers Werk sind die Anschauungen und Empfin-
dungen späterer Dichter ganz oder im Keim enthalten^).

Ganz im Geiste Oehlenschlägers fühlt auch Andersen, dasz „det
g0rikke nogetat vaere f0dt i Andegaarden, naar man kun har ligget i
et Svaneaeg"®). In einigen seiner Märchen fallen dem vom Glück
dazu auserlesenen Kinde, wie ein Wunder, die Gaben in den
Schosz.

Die Verherrlichung des Kindes und des Wunders gestaltet In-
gemann in „Reinald Underbarnet"®), dem Knaben Reinald gelingt
es durch die Kraft seiner Reinheit, seiner „enfoldig Fromhed",
die Schwestern aus der Gewalt des Zauberers zu befreien.

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Hvo ikke blier som en af disse Smaa

Ej Himlens Veje finder

ist auch die Ansicht Hauchs^).

Die Uberzeugung, dasz Fühlen mehr ist als Wissen, liegt An-
dersens Märchen „Klokken"^) zu Grunde: der junge Königssohn
und der arme Konfirmand erreichen beide, obgleich auf verschie-
denen Wegen, das Ziel aller menschlichen Sehnsucht; derjenige
aber, der die Erkenntnis durch dürre Wissenschaft gewinnen wül,
erliegt gleich. Andersen fühlt wie Paludan-MüUer, dasz mit der
Vernunft sich kein Rätsel lösen lasse, dasz

Tanken Intet dog af Alt forstaaer®).

Das Kind als Künstler feiert Andersen in seinem Gedicht „Det
har Zombien gjort"*): der geniale, mit unwiderstehlicher Kunst-
begeisterung begabte Negerknabe malt, wie es niemals einem der
Schüler Murillos gelungen ist.

Den Ewigkeitswert der Kunst und des Künstlers verherrlicht
die Poesie Schack Staffeidts.

Din Rod sig dybt i Evigheden skyder®).

sagt er zu einem jungen Dichter.

Und von sich und seiner Poesie heiszt es:

Min Poesie er evig som jeg selv;

I andre Verdner den oprinder

Og er et Stjerneglimt i Tidens B0lge-Elv:

Det glimter end, naar Elv og B0lge svinder®

Der Dichter ist ein Gott; als Schack Staffeidt fühlt, dasz die Ge-
staltungskraft schwindet, ruft er aus:

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En Gud hensegner,
Over harn styrter
Hans grundl0se Verden^).

Kein Romantiker fühlt sich durch das Leben befriedigt, keiner
vermag die Kluft zu überbrücken, welche die Welt der Wirklich-
keit von dem Reich der Schönheit trennt, das er im Innern mit
sich trägt.

So sagt Ingemann: „Jeg vilde saa gerne helde mit Hovedpaa
Virkeligheden, men det er en haard Sten at hvüe paa"®).

Er flüchtet sich in die Welt der Wunder:

En underlig Verden det vaere maa,
Hvorefter min Hu mon stände®).

Aarestrup, der von Heine beeinfluszte Dichter, spricht seine Le-
bensverzweiflung u. a. in „Sygdommen" und „Liigklokkeme"*)
aus: das Leben ist ihm eine Qual, aus der nur der Tod den Men-
schen zu erretten vermag. Auch Paludan-Müller gestaltet den Le-
bensschmerz, von einer höheren Schönheit gewahren wir auf Er-
den blosz „et Glimt"®).

Forsage, det er Laeren kun — forsage
Er al vor Viisdom, Livets hele Frugt®).

Im Herzen aber ruht ein „rig Skat",\') im Inneren lebt der Glau-
be an eine schönere Welt:

Glem Alting — og i Alting glem dig selv,
Din Kraft, din Hu, din Svaghed og din Jammer!
Hvad da kun halv bevidst din Laebe stammer.
Mens Tanken bader sig i hellig Lyst,
Er Gudens Stemme bag dit eget Bryst®).

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Die Lebensaufgabe des Menschen ist es also, sein Inneres zu
bilden.

Hauch spricht diesen Gedanken aus im Vorwort zu den „S0stre-
ne paa KinnekuUen": „ikke blot om Pengebegserlighed og Ha-
vesyge er her Sp0rgsmaal, men om enhver blot udvortes og
ensidig Strseben, under hvilken den egentlige aandelige Opgave,
som ethvert Menneske har at l0se, forglemmes og fors0mmes,
og under hvilken Mennesket, hvor meget han ogsaa i den udvor-
tes Verden kan virke, dog i sit inderste staar stille, medens Tiden
uigenkaldelig svinder hen."

Ulrikka, die sich aus Goldgier im Berg hat einschlieszen und ihr
Leben freudelos hat vorbeigehen lassen, teilt das Schicksal Tau-
sender:

I tro nu vel, hun er den eneste,
Der saadan spundet har sin Ungdom bort,
Og der sit Liv har ofret hen for Guld;
Men jeg, som ved det bedre, jeg jer siger:
Der gives mangen Kvinde, mangen Mand,
Som I beundret har og agtet h0jt.
Der gives tusinde, som mindst det tro.
Der sade Nat og Dag som hun i Bjerget
Og spildte Livet paa den samme Vis^).

Für diese Menschen ist auch nach dem Tode keine Rettung mög-
lich; Mephistofeles begrüszt sie beim Eintritt in die Hölle mit
folgenden Worten:

I finde, som sagt, det samme Liv,
Den samme Travlhed og Tidsfordriv,
Som forhen i det jordiske Rige;
Det kommer deraf, maa jeg dig sige,
At du, min Ven, og dine Lige
Alt, mens I leved, i Helvede vare;
Og deraf kan du dig selv forklare,
At eders Tilstand forandres ej,
Men er samme Virken ad samme Vej^).

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Wer durch die Kraft der Schönheit seines Inneren die Unvoll-
kommenheit der Wirklichkeitswelt zu besiegen vermag, wer im
Stande ist, sich dieser höheren Welt ganz zu ergeben,

Med 0jet, 0ret, Sjselen^)

der hat damit das höchste Glück erreicht ; Schicksal und Gemüt
sind Namen Eines Begriffes.

Og dog er Skj aebnen til, kun at vi baere
Den i os selv og i vort eget Skj0d.
Den kommer frem fra Inden, ej fra Uden;
Den er vor Skabning, mens vi selv er Guden®).

Die infolge ihrer Erblindung, ganz verinnerlichte und vollkom-
men glückliche Tochter König Renés betet nach ihrer Genesung:

Ufattelige Aand, der talte til mig.
Mens Natten hylled ind mit 0je, laer mig
At s0ge dig i denne Verdens Straalerl
Laer mig at holde fast ved dig i Verden

Damit sich der Mensch diese innere Schönheit erringen kann,
musz er geläutert werden:

Kun i Flammerne kan Guldet luttres«),

er musz durch den Schmerz hindurch :

Sorgen er en Engels dunkle Haand,

Som luttrer, hvad os jordisk kjaert er vorden,

Og l0fter mod det Evige vor Aand®).

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Den Menschen, der diese höchste Vollkommenheit nicht er-
reicht hat, tröstet vor allem die Schönheit des Traums^):

hvo har N0glen til
De dybe Gaader, som vort Indre spinder,
Naar Sindet, fyldt af Skyggerigets Minder,
Til Aneisernes Top sig haeve vil?
Naar Sj seien snart sin Fremtid klaret finder
I sine egne
Dr0mmes dunkle Spil,
Og snart, naar skjulte Tankekraefter
m0des,
Ved Tankens Lynglimt seer Ideen f0des?®)

In demselben Sinne betet Aarestrup:

Dr0mme!
Vaer for mig det Virkelige®)!

Auch die Kunst gewährt dem Menschen einen Ersatz für den
Mangel an Schönheit in der Welt der Wirklichkeit und hilft ihm
das Leben ertragen; L.
B0dtcher blickt an seinem Lebensende auf
die Kunst als auf das Wesentliche in der Welt zurück:

Den Jord du har husvalet
Med Shakespeares gyldne Sang,
Hvor Raphael har malet,
Og Mozarts Toner klang*).

Chr. Winther preist vor allem die Schönheit der Natur:

Men naar heelt min Sjael er Nat,
Miskjendt, haanet og forladt,
Jeg kun
h0rer Smertens Stemme,
Flugter fra sit Fangebuur
Tanken til din Favn, Natur!
For at
d0ves der og glemme!®)

Gleichfalls erwächst dem Menschen Freude aus der Erinnerung

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an eine schönere Zeit, namentlich an die Zeit der groszen histori-
schen Vergangenheit^). So sucht Ingemann in seinen Romanen
und in dem Gedichtzyklus „Holger Danske" seinem Volke „Evig-
hedskemen i Tiden" zu zeigen.

Paa Sagatavlens sjeldne Skaar
End mangt et reddet Traek der staar,

Som om det Svundne taler;
Og i hvert dyrket Gudfantom
I Kunstens indre Heiligdom
Den gamle Tid sig maier®).

Schack Staffeidt fühlt sich wie der Troubadour, der nur unter
Gottes freiem Himmel singen kann; er stellt sich im Mondschein
unter das Fenster der Geliebten:

Guitarrens sidste
Smeltende Lyd d0de
Hist ved Ridderst0tten
Paa den maanelyse Plads®).

Auch Christian Winther verherrlicht den fahrenden Sänger und
seine Wanderlust*), Heiberg spielt am Schlusz der „Nygifte"auf
die Sehnsucht in die Ferne an, kräftiger als in der Poesie dieser
Dichter ist sie in Paul Möllers „En dansk Students ^ventyr" ge-
staltet. Diese „ufuldendt Novelle", hat grosze Ähnlichkeit mit Ei-
chendorffs Erzählung „Aus dem Leben eines Taugenichts"; in bei-
den Dichtungen spielt neben der Wanderlust die Liebe eine grosze
Rolle und erklingt Geige und Waldhorn; es fehlt Paul Möllers
Werk aber die Wald- und Mondscheinstimmung der deutschen
Romantik, sowie ihre Schlösser mit Park und Statuen; der „krol-
lede Fritz" fühlt sich am behaglichsten bei den Müllersleuten.

Die Liebe überschreitet in der Poesie der Dichter nach Oehlen-
schläger nur selten die Grenzen der aus Geist und Sinnlichkeit ge-

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mischten Durchschnittsempfindung. Vereinzelt erinnert die
dänische Liebespoesie an die mittelalterliche Minnelyrik; so erlebt
Aarestrup im Traum das Liebesglück, welches die Wirklichkeit
ihm nicht gewährt i) und vergleicht Schack Staffeidt das Gemach
der Liebsten mit einem Altar, einem Tempel®). Auch den Wahn-
sinn der Liebe kennt dieser Dichter:

Fred! Fred! I Furier!
Kommer du fra Tartarus,
T0jlel0se Elskov?®)

Ein an Baudelaire erinnerndes, aus Liebe und Hasz gemischtes
Gefühl gestaltet Chr. Winther in „Hjortens Flugt."«)

Schlieszlich ist Alma, die weibliche Hauptperson aus „Adam
Homo", Dantes Beatrice, Goethes Gretchen, Ibsens Solveig ver-
gleichbar:

Du — spurgte Homo — du mig f0re vil ?
Du til din Himmel ej tilbage vender?
Du, hvem den Salighed, som aldrig ender,
Blandt de udvalgte Sjaele h0rer til —
O, svared hun, paa een Gang streng og mild:
Hvor lidt dog Kjserligheds Natur du kjender!
Hvor lidt Udvselgelsen! Hvor lidt dog mig!
Ja, jeg er udvalgt — men til Hjaelp for dig®).

Die Natur gestalten die dänischen Dichter zwar hie und da mit
der lyrischen Stimmung des Vollmonds und des Glockenklangs®),
häufiger aber mit realistischer Färbung. Christian Winther geht
in dieser Wirklichkeitskunst am weitesten; in den „Trsesnit"
heiszt es:

De, som paa min Scene gaae.
Er jaevne, danske B0nder\').

da erblickt er Amor „paa en Malkeko"®).

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Die mystische Veranlagung der dänischen Romantiker ist ge-
ring, Hauch und Heiberg bilden von dieser Regel aber eine Aus-
nahme. Hauch spricht in seinen Gedichten Gefühle aus, in denen
er sich von Novalis beeinfluszt zeigt; Heiberg gestaltet seine
Mystik namentlich in „Syvsoverdag" und in „De Nygifte".

In demDrama„Syvsoverdag" lebt Anna, das Kopenhager Mäd-
chen des 19. Jahrhunderts, das durch die Kraft ihrer Gedanken
und Gefühle mit einer höheren Welt verbunden ist, im Traum an
Kong Valdemars Hof, und nimmt an den Schicksalen der Hofge-
sellschaft teil; in „De Nygifte" heiszt es:

Meget som haendes mig f0rste Gang,
Synes mig et dunkelt Minde,
Det klinger for 0ret som en gammel Sang,
Hvis Ord man ikke kan finde^).

L. B0dtcher spricht ein einzelnes Mal die Erkenntnis der Ein-
heit des Weltganzen aus:

Du h0rer til det Hele®).

oder er äuszert seinen Glauben an verborgene Kräfte:

Ej nogen Tanke, klaedt i Ord,

Gaaer paa sin Livsflugt reent tilgrunde®).

Paludan-Müller kennt die Mystik des Schweigens«):

Thi ogsaa Tavshed har sit Sprog, og Stemmer

I Mine, Suk, i Stilling og i Blik;

Og meer Veltalenhed de ofte fik,

End Ordet, som i Verdens Larm man glemmer®)®).

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Steht also die Poesie der dänischen Dichter als Kunst der Ver-
innerlichung hinter den Erzeugnissen der deutschen zurück, als
Wortkunst nimmt sie eine höhere Stellung ein. Grade durch die
ihren romantischen Gefühlen beigemischte Besonnenheit sind die
dänischen Dichter im Stande ihre — niemals ausschweifenden —
Empfindungen aus einer gewissen Feme zu betrachten und sie als
Künstler zu gestalten.^)

Der erste Spracharistokrat in Dänemark aber ist Jacobsen. Als
Wortkünstler steht er über allen vorigen Dichtern, traditionelle
Wendungen sucht man in seiner Poesie vergebens, er ringt mit
der Sprache, um dasjenige Wort zu finden, das sein persönliches
Gefühl in Schönheit gestalten kann. Namentlich auf die Wahl der
Beiwörter legt er das gröszte Gewicht. Unter seinen Händen wird
die dänische Sprache ein Instrument der höchsten Ausdrucksfä-
higkeit^).

Für Jacobsen ist — wie für alle Neuromantiker — das Wesent-
liche aller Kunst die Schönheit. Niels Lyhnes Freund Erik, der
sich die Bilder im Katalog einer Gemäldesammlung ansieht, ist
„naesten syg af Laengsel efter virkelig at skue al denne Kunst
og Sk0nhed, virkelig med 0jne at nyde og med 0jne virkelig at
gribe al den Liniers og Farvers Herlighed, saa den i Beundring
blev hans"3).

Diese Schönheit der Formen und Farben sucht Jacobsen auch
m seiner Poesie zu verkörpern, er will uns die Schönheit der Gestal-
ten seiner Phantasie fühlbar machen, wir sollen sie durch seine
Worte zu sehen bekommen. So beschreibt er nicht, wenn er uns
eine Meerfrau vorzaubem will, wie Oehlenschläger in „Helge" blosz
ihre schönen Glieder, sondern „Jeg vil have en yppig, gl0dende
Skildring der, jeg vil se noget saa blaendende sk0nt, at det tager
Vejret fra mig. Jeg vil indvies i saadant et Havfruelegemesejen-
dommelige Sk0nhed. Hun skulde vaere n0gen som en B0lge, og
Havets vilde Sk0nhed skal gaa igen i hende. Der maatte vaere no-

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get af Sommerhavets Fosforskser over hendes Hud, noget af
Tangskovenes sorte, fcrfiltrede Raedsel i hendes Haar. Vandets
tusinde Farver maa gaa og komme i blinkende Skiften i hendes
0jne; det biege Bryst maa vsere koldt af en vellystigt
k0lende
Kulde, B0lgerne risle deres vuggende Gang gennem alle hendes
Former, og der er
Malstr0mmens Sugen i hendes Kys og der er
Skummets bristende
Bl0dhed i Favntaget af hendes Arme"^).

In dieser Kunst, Stimmungen zu erwecken, ist Jacobsen ein
Meister. Er zaubert uns den Rosengarten, in dem die vierzehn-
jährige Marie Grubbe hin und her geht®), vor, wir sehen Mogens\'
Braut Kamilla im rotenFrau Boye im gelben Licht*), wir sit-
zen mit Marie Grubbe in ihrer Stube, wo das Feuer rot und warm
hineinleuchtet und die Lichter tanzen, wälirend drauszen der
Sturm tobt und das Dunkel zunimmt, und wir freuen uns an den
Liedern, die sie sich auf der Guitarre begleitet®), wir fühlen den
Jubel in der Seele der Sängerin Madame Odero, als sie nach einer
langwierigen Krankheit zum ersten Mal wieder singen kann®).

In diesen Szenen könnte man Jacobsen den Schüler Keats\' nen-
nen. Da aber, wo er uns die Stimmung des Frühlings in Ciarens
vorzaubert\') und uns den Abschied zwischen Niels Lyhne und
Frau Boye mit erleben läszt®), übertrifft er alle früheren Stim-
mungskünstler und reicht an d\'Annunzio heran.

In seiner Lyrik erwächst ihm vereinzelt die Stimmung aus einer
Zeichnung, dann entsteht ein Gedicht im Geist der Präraphaeli-
ten®) ; ein andres Mal gestaltet er eine Stimmungslyrik wie die
Poesie der Frühromantik\'^®), hie und da dichtet er ein Stim-
mungslied im Volkston").

Jacobsens Werk aber wird erst dann ganz verständlich, wenn
man weisz, dasz der Dichter als junger Gelehrter Darwin in Däne-
mark bekannt gemacht hat. Da begreift man, weshalb dieser
Träumer, der zum lyrischen Dichter geschaffen schien, sich zum
psychologischen Roman hingezogen fühlen muszte, dasz es ihn
drängte, die Gestalten seiner Phantasie, die er äuszerlich und in-
nerlich scharf schaute, in Gedanken und Gefühlen als durch Ge-
burt und Umgebung bestimmte Wesen darzustellen. Und so ist

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auch die Kunst dieses Neuromantikers eine Mischung zweier
Strömungen: während die vollendet schöne Sprache uns in die
heraufbeschworene Stimmung einhüllt, berührt das Äuszere der
uns in diesen Stimmungsbildern vorgeführten Gestalten wie die
Figuren eines Gemäldes^), ihr Inneres wie die Seele eines in ver-
traulichem Verkehr mit uns lebenden Menschen.

Jacobsen zeichnet sich selbst und seine Dichtung in „Niels Lyh-
ne": „Nu havde han endelig fattet,at det ikke var nogen Naturn0d-
vendighed at vaere enten oldnordisk eller romantisk, og at det var
simplere selv at sige sine Tvivl end at Isegge dem i Munden paa
Gorm Lokedyrker, rimeligere at finde Lyd for sit eget Vaesens
Mystik end at raabe mod Middelalderens Klostermure, og faa det
Samme ekkosvagt tilbage, han selv havde sendt"®).

„Niels kastede sig med Begejstring over sit nye Arbejde; han
var bleven greben af den Erobringslyst, den T0rst efter Videns
Magt, som vel hver en Aandens Tjener, hvor ydmygt han saa end
siden kom til at g0re sin Gerning, dog en Gang har f0lt, var det end

kun en eneste stakket Time til Ende.......husker du saa, hvor

det bygged sig op for din Tanke fra B0gernes gulnende Blade
sluttet ogsamlet, hvilende i sig selv som et Kunstens Vaerk, ogdet
var dit i hver en Enkelthed, og din Aand leved i dit Hele"®).

Auch für Jacobsen wird die höchste Wissenschaft zur Kunst.

Als das Werk eines Neuromantikers ist Jacobsens Dichtung ne-
ben einer Kunst der Schönheit eine Poesie der Verinnerlichung.
So quillt z. B. in den „Gurrelieder"«) die Liebe Valdemars zu
Tove aus dem Innern des Königs hervor und entsteht nicht, wie
in der Sage und in der Poesie romantischer Dichter®) durch die
Zauberkraft eines Tove gehörenden Ringes. Nicht wie Blicher®)
betrachtet Jacobsen die Lebensgeschichte der Marie Grubbe als
die Bestätigung der Regel, dasz „Synden l0nner sine B0rn", son-

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dem er leuchtet in Mariens Inneres hinein und löst das Rätsel
ihrer Seele.

Das höchste Glück der Verinnerlichung stellt Jacobsen an Mo-
gens dar, der nachdem eine Feuersbmnst ihm die Geliebte ge-
nommen, in der auf den Paroxysmus des Schmerzes folgenden Er-
schöpfung regungslos im Schnee sitzt, „betagen af Lys og
L0d, af
Liv og Lykke"!).

Für die liebende „lille Tove" decken sich die innere und die
aüszere Welt; in der Wirklichkeit erblickt sie

Et Udtryk for hvad Gud har dromt®).

Der Traum gewährt Frau Lyhne den Ersatz für die Schönheit
einer femen Welt, nach der sie sich ihr ganzes Leben gesehnt hat;
„Dr0mmen om den fjerne Verdens Herlighed"®) ist die unbe-
wuszte Gestaltung der Schönheit, die ihr im Innern lebt; auch Ma-
rie Grubbe sucht im Traum die Erfüllung ihrer Sehnsucht*).

Obgleich Jacobsen in seiner Dichtung die Liebe in mancherlei
Schattierung gestaltet hat, sowohl die Sehnsucht nach Liebe®)
wie die unerwiderte®) und die glückliche Liebe\'), sowohl die sinn-
liche Liebe der Nonne zum Christusbild®) wie die irdische Liebe
als Heiligenkult®), so ist dieser Neuromantiker doch zu sehr der
Dichter der Einsamkeit, als dasz man ihn den Sänger der Liebe
nennen könnte. Von dem sterbenden Niels Lyhne^®) heiszt es:

„Men taenkte han paa Menneskene, blev han saa syg igen i Sin-
det. Han kaldte dem for sig èn for èn, og Allesammen gik de ham
forbi og lod ham ene, og ikke èn blev der tilbage. Men hvordan
havde ogsaa han holdt fast ved dem, havde han vaeret trofast ? det
var blot dèt, han havde vaeret langsommere til at slippe. Nej, det
var ikke dèt. Det var det store Triste, at en Sjael er altid ene. Det
varen
L0gnhverTro paa Sammensmeltning mellem Sjael og Sjael.
Ikke den Moder, der tog En paa sit
Sk0d, ikke en Ven, ikke den
Hustm, der hvilede ved Ens Hjerte----"

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Frau F0nss weisz, dasz es Schmerzen gibt „der skal d0 i L0n-
dom og som ikke maa faa Lov at skrige ud i Ord", sie freut sich
über „den Sjaelens Fomemhed" ihrer Tochter, die üir das Leid
nicht anvertraut, das ihr das Herz bewegt^).

Auch Marie Grubbes Ansicht ist es, dasz „hver Menneske lever
sit eget Liv og d0r sin egen D0d"2).

Die Religion kann den Dichter nicht aus seiner Einsamkeit er-
lösen®), die Natur aber spendet üim immer neues Glück. „Hvert
Blad, hver Kvist, hvert Lysskser og hver Skyggekan jegglaedemig
ved. Der er ingen Bakke saa n0gen, ingen T0rvegrav saa firkantet,
ingen Landevej saakedelig, at jegikkeetenkelt 0jeblik kan forel-
ske mig deri"1). Und der sterbende Niels sagt sich: „der havde dog
vseret meget
Sk0nt i Li vet, det friske Pust ved Stranden hjemme,
det svale Sus i Sjaellands
B0geskove, den rene Bjaergluft i Ciarens
og Gardas0ens bl0de Aftenbrise"®).

Jacobsen ist dei" erste dänische Romantiker, in dessen Poesie
sich Baudelairesche Töne finden®), namentlich in der aus der
Stimmung der Seuche und des „carpe diem" heraus gedichteten No-
velle „Pesten i Bergamo"\') wird die Freude am Schmerz und an
der Sünde mit Meisterschaft gestaltet. Aber auch in „Marie Grubbe"
erklingt manchmal leise der Ton der Lust an der Sünde«).

Wie Baudelaire ist auch Jacobsen der Dichter des Hasses: das
aus unerwiderter Liebe geborene Gefühl bildet die poetische
Grundlage der Novelle „Et Skud i Taagen"»). Aber auch in „Pes-
ten" und in „Niels Lyhne"") wird der Hasz dichterisch verwertet.

Jacobsen, der Individualist, der Einsame, ist an seinem Lebens-
ende der Dichter des Pessimismus. Als Mogens hofft er noch auf
die Verwirklichung seiner Ideale, als Niels Lyhne weisz er, dasz es
dem Menschen nicht beschieden ist, glücklich zu sein, da tröstet
ihn selbst die Natur nicht mehr:

Mit Hjerte er ej Blomst, ej Blad,
Og Vaaren g0r det ikke glad,
Det har sin egen, ssere Vaar^^).

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Durch die Verkörperung dieser Gefühle, der Freude und des
Schmerzes in seinen Kunstwerken der Sinnenverfeinerung und
der Seelenfeinheit schuf Jacobsen eine Sprache, die in den nordi-
schen Literaturen unerreicht dasteht, und die es späteren Dich-
tem möglich machte, für jede feinste Farbennuance und für jede
Stimmungsschattiemng das Wort zu finden^).

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SECHSTES KAPITEL

ROMANTIK UND NEUROMANTIK IN HOLLAND

Eine ursprüngliche romantische Strömung findet sich in der
holländischen Literatur nicht. Im Mittelalter besitzt sie infolge
der Verbindung mit dem bayrischen Fürstenhause durch Deutsch-
land beeinfluszte Minnelieder im Geist der Provenzaleni), die wie-
der auf die religiöse Mystik Zuster Hadewychs und Zuster Bert-
kens einwirkten und Übersetzungen der ursprünglich französi-
schen Ritterromane, auf deren Stoff die „abele spelen" zurückge-
hen. Läszt sich auch hie und da in der Literatur der folgenden
Jahrhunderte Romantik nachweisen — man denke z. B. an die
aus dem Spanischen und dem Enghschen übersetzten Theater-
stücke und an die durch Petrarca beeinfluszte Poesie Hoofts —
erst das Ende des 18. Jahrhunderts bringt auch unserm Lande
eine kräftigere romantische Strömung. Bilderdijk und van de
. Kasteele übersetzen Ossian; Feith, der eigentliche Vertreter der
: Romantik in Holland, steht namentlich unter dem Einflusz von
\' Millers „Siegwart". Prinsen sagt von dieser Dichtung: „in haar ver-
toonde zich het sentimenteele als van buiten af geïmporteerde mo-
delitteratuur in zijn volle kracht"®). Fr. Coenen äuszert sich in
■ ähnlicher Weise: „de echt romantische gloed heeft ons alleen de
godsdienstige beweging van het Réveil gebracht, dat met da Cos-
ta en de Clercq zijn hoogtepunt bereikte"®). Auch Tollens\' und
Bogaers\' Übersetzungen deutscher und englischer Balladen und
die unter Scotts Einflusz stehenden Werke Aernout Drosts, 01t-

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mans\' und Frau Bosboom-Toussaints sind keine Kunst der Ver-
innerlichung.

Victor Hugo und B5n:on wurden zwar gelesen — Beets u. a.
wurde in der schwarzen Zeit seiner Jünglingsjahre stark von dem
englischen Dichter des Pessimismus beeinfluszt — aber auch in
der Poesie dieser beiden Dichter war es mehr der romantische
Stoff als die romantische Stimmung, was die holländischen Schrift-
steller anzog.!)

Erst allmählich erwachte in unserm Lande aufs neue das Ge-
fühl für Poesie. Multatuli trug dazu bei, indem er seine Zeit-
genossen von althergebrachten Traditionen zu befreien suchte;
der von Perk, Kloos®) und Verwey hoch verehrte Potgieter seiner-
seits sowohl durch seine Dichtung wie dadurch, dasz er, wie Busken
Huet, auf die grosze Literatur des Auslandes hinwies. Letzterer
sprach in „Lidewijde" zum ersten Mal den Grundsatz aus, dasz
Kunst aus Leidenschaft geboren werden müsse. Trotzdem wurden
die französische und englische romantische Poesie wenig gelesen;
man fand vorzugsweise Gefallen an der Poesie Büderdijks und
den Ergüssen der vielen dichtenden Pastoren:

Het is des Dichters roeping te vermaken.
Te spreken tot verstand, herinnering
En tot het dichter-hart, dat elk ontving,
En nooit het Schoone en Goede te verzaken.

Zoo is de leer®).

Kloos zeichnet die damals allgemein gültige Auffassung der
Kunst mit den folgenden Worten:

„Als men toch in die dagen maar wist te divageeren, op een er-
kende, gangbare wijze, naar aanleiding van een zekerstelletje
vast-staande onderwerpen, die men gewend was, „poëtisch" te
noemen, b.v. godsvrucht, huisgezin en vaderlandsche historie, en
men week, dit doende, geenszins af van de door wat deftige auto-
riteiten opgestelde, schooische regels eener eng-begrensde vers-
techniek, dan kon men, in de meeste gevallen, verzekerd zijn van
de als-officiëele aanvaarding, met een wel terloopsch, maar vrien-

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delijk hoofdknikken, door de maandelijksche en dagehjksche pers
en ook van de gematigde appreciatie door een slechts-op-Zondag-
aan-de-Kunst-soms-denkend, opperst-net en comme-il-faut pu-
bliek. En uw werk werd dan wel bij gelegenheid gekocht, en met
goudsnee, gelegd op een van tijd-tot-tijd-bekeken salontafel, of
een ijverige rederijkerskamer maakte er het gebruik van, dat zoo\'n
lichaam doet\'\'^).

Da erschien 1879 „Lilith". ein episch-lyrisches Gedicht von Mar-
cellus Emants, der als erster die Poesie in die Sphäre der Ewig-
keit und der Göttlichkeit zu heben suchte, in der ein neues Ge-
schlecht sie wünschte®). In demselben Jahre veröffentliche W.
van Lennep seine
Hyperionübersetzung und dichtete Perk seinen
Sonettenzyklus
„Mathilde:\', der freilich erst I88I erschien.

Vereinzelt besuchte Perk den Kreis der jungen Männer, die je-
den Dienstagabend im Hause Alberdingk Thij ms zusammenkamen
und die Schönheit der Literatur ihres Vaterlandes von Vondel und
Hooft bis Potgieter, sowie die Dichtung Virgils und der Griechen
bewunderten. Zu den regelmäszigen Besuchern gehörten u. a.
Kloos und Verwey. Diesen Kreis beseelte die Schönheitsverherrli-
chung, der Kultus der Schönheit im Geiste Keats\' und der Prära-
phaeliten; sie fühlten wie Perk:

Schoonheid, o Gij, Wier naam geheiligd zij.
Uw wil geschiede; kome Uw heerschappij;
Naast U aanbidde de aard geen andren god!

Wie éénmaal U aanschouwt, leefde genoeg:

Zoo hem de dood in dezen stond versloeg____

Wat nood? Hij heeft genoten \'t hoogst genot!®)

Das Manifest der neuen Kunst, welche diese jungen Männer
sich träumten, findet sich in der Einleitung, welche Kloos für den
ersten Druck von Perks „Mathilde" schrieb.

Der Dichter übernimmt Leigh Hunts Ausspruch, Poesie sei
„imaginative passion" und fährt dann in lyrischer Prosa fort:
„Geen genegenheid is zij, maar een hartstocht, geen bemoediging,

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maar een dronkenschap, niet een traan om \'s levens ernst en een
lach om zijn behagelijkheid, maar een gloed en een verlangen, een
wil en een daad, waarbuiten geen waarachtig heil voor den mensch
te vinden is en die alleen het leven levenswaard maakt\'\'^).
Fügt man noch die Zeüe aus Perks Sonett „Hemelvaart"

De Godheid troont.... diep in mijn trotsch gemoed®)

hinzu, so ist damit die Richtung der ersten Jahre der neuen Bewe-
gung gegeben: die jungen Dichter streben eine Kunst der Schön-
heit an, die zugleicherzeit der individuellste Ausdruck des indivi-
duellsten Gefühls sein soll®). Zum ersten Mal zeigt sich in der hol-
ländischen Literatur eine Auffassung der Poesie, die zu romanti-
\\ scher Lyrik im engern Sinn führen kann.

Perks „Mathilde" war aber nicht die reine Stimmungskunst, die
Kloos sich wünschte. Zwar gesteht auch Perk:

Naar eigen hand de vrije taal te zetten,
Is eedle kunst*),

seinen Sonetten aber liegt der philosophische Gedanke zu Grunde,
dasz die vergängliche Schönheit den Menschen erst dann befrie-
digen kann, wenn sie ins Reich der Ewigkeit gehoben wird. Im
Geiste von Dantes hoher Liebe heiszt es in dem „Sanctissima Vir-
go" überschriebenen Sonett:

Een schelle schicht schoot schichtig uit den hoogen,

En sloeg mij. Ik bezwijmde----ontwaakte, en zag

De lucht geschraagd door duizend kleurenbogen.

Daarboven in een kolk van licht te pralen.
Stond reuzengroot de Jonkvrouw, en een lach
Voelde ik van haar verengeld aanschijn stralen*).

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In demselben Sinne heiszt es:

Een hooge liefde zal uw hart doordringen^).

Er nennt die Geliebte Schutsengel, Godin®), den Augenblick,
da sie ihm erschien. Gebenedijde stonde®). Indem Muttergottes-
bild erbhckt er die Geliebte«), in ihr betet er, wie Novalis, das
Universum an®).

Auch ihm ersteht aus der Liebe die sittliche Läutenmg:

De liefde baart geluk en zielsverblijden.
Geluk maakt liefderijk, ik heb haar lief,
En wie gelukkig is, die kan niet slecht zijn®).

Und in eigentümlichem Gegensatz zu der ersten Zeile von Mi-
chel Angelos Sonett:

Vorrei voler, Signor, quel ch\'io non voglio\')

heiszt es:

\'k Had lief, Mathilde!
Als een, die niet meer wil, gelijk hij wilde.
Maar met, wat hooger is, zich wil vereenen®).

Auch diesem Dichter bedeutet Schaffen das höchste Glück:
Sonnetten klinkt, U dichten was genieten®).

Wie sehr Perk die Sprache beherrscht, davon zeugt, neben den
„gebeeldhouwde sonnetten"^\'\') vor allem die durch Shelleys „The
Cloud" inspirierte Wortmusik des Gedichtes „Iris"ii).

Bei der Gründung ihrer Zeitschrift „De Nieuwe Gids" fühlte
die junge Dichterschar ihre Poesie den groszen literarischen
Strömungen des Auslands verwandt. Von ihren drei Glaubens-
sätzen:

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a) Kunst is passie,

b) Vorm en inhoud zijn één,

c) de kunst om de kunst^),

wurden die letzten zwei von den Neuromantikem aller Länder
verkündet.

Von den Dichtem der achtziger Jahre ist Kloos am meisten
Stimmungsmensch. In dem Auf und Ab seiner Sonette klopft das
Menschenherz schwer von Verlangen und Traurigkeit, von Stolz
und Wehmut®).

Wer die Worte versteht, die Kloos überVanEedens „De Kleine
Johannes" geschrieben hat „begrijpt", sagt Prinsen®), „hoe daar in
eijn prachtige verzen kan klagen de weekste melancholie, de diep-
ste geslagenheid, kan zuchten de meest absolute zelfvernietiging;
maar ook, hoe daar fier en bandeloos, luid en scherp, kan opklin-
ken de titanentrots, de hemelbestormende hybris, hoe hij toornen
kan en heerschen als een God. Hij is de meester van het woord en
den klank, van het rhythme en van de melodie, hij is de vrije, oor-
spronkelijke beelder van zijn aandoeningen; klagend en teer of
donderend en forsch, pralend en daverend of kweelend en in so-
nore murmeling geeft hij zich zelf onder den drang van zijn sensa-
ties en sentimenten."

Zu den Gedanken, welche Kloos, der Neuromantiker, besonders
häufig ausspricht, gehört die Verherrlichung, die Vergottung des
Ich: „grooter is \'t te sterven voor zijn Ikheid dan te leven"1).

Ik ben een God in \'t diepst van mijn gedachten.
En zit in \'t binnenst van mijn ziel ten troon
Over mijzelf en \'t al, naar rijks-geboön
Van eigen strijd en zege, uit eigen krachten®).

Ik was de God-op-aard, de Nooit-gekende,
Die zelf zijn Zelf niet zag, dan ééns op \'t laatst,
Toen opstond en de kroon op \'t hoofd zich drukte®).

1  Verzen van Willem Kloos, Band I, 1. Auflage, Seite 22.
8) Seite 11. •) Seite 17. Vgl. Seite 28, 59.

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Kloos fühlt seine Individualität, sein leidenschaftliches Wesen
im Gegensatz zu dem Charakter des „gebildeten Publikums"^),
der Menschen, die weder lachen noch weinen können®). Daraus
geht das Gefühl der Einsamkeit hervor:

Ik heb mijn Ziel gered, mijn hooge, groote,
heb nu dat trotsch paleis voor elk gesloten®).

Ik die niet lijd en toch niet leven kan.
Omdat ik eenzaam met mij zei ven blijf*).. .

O, vloek, dat menschen-traan en menschen-lach
Diep in ons eigen binnenst blijven leven®).

Auch in seiner Poesie ist Kloos der Verherrlicher der Schönheit:

Want, als eenig goed,
Rest mij de Schoonheid nog, een korten duur®).

Der Schoonheid Almacht, door geen mensch te keeren.
Blijft tot het einde van al tijd regeeren\')!

O, hartstocht voor de Schoonheid, die gij zijt,
Hoe wordt mijn ziel door U op nieuw gewijd®)!

Heilig is Schoonheid®).

Das Schaffen gewährt dem Künstler die gröszte Freude:

En dat der Muze wil mijn een\'ge vreugd is^®).

Durch den Schmerz des Lebens reift der Künstler:

Ja, \'t hart moet sterven in veel donkere dagen
Van tranen en lijfs-pijn en bitter klagen

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En véél ontzetting, waar het lijf in beeft:

De mensch moet dood-gaan, eer de Kunstnaar leefti).

Die Seele des Künstlers ist voller Schönheit:

Was dan mijn diepste ziel niet vol muziek,
Hel-hooge muziek.
Een klaar kantiek,

Dat ik dacht te maken eens tot een tempel van geluid^).

Ik ga mijn leven in orgieën door

Van vol muziek en vreugden onuitspreeklijk®).

Ein einziges Mal gestaltet Kloos den Heiligenkult der Liebe:

Ik hield u dierder dan mijzelf. Ik had
Geen dierbaar zelf meer, want ik wierp mijn trots.
Mijn donkren trots, mijn alles, wat ik had.
Voor uwe voeten, als de voeten Gods1).

Und im Geiste Perks heiszt es:

O Liefste Mijne, éér ik een groete vond —

Ave Maria! mischte \'t door mijn ziele.

En heel mijn ziele mischte U toe — één zucht —

Totdat op eenmaal door de stille lucht,
Al die millioenen gouden druppels vielen.
En Ge als een heüige in die glorie stondt----

Zwischen diesen Gedichten der Schönheit finden sich schon im
ersten Band Versstücke, die man kaum als Kunst betrachten
kann®). Vorklänge der späteren stark abfallenden Poesie, die uns
beweisen, dasz es Kloos nicht verliehen war, sich in vorgerücktem
Alter auf der Höhe seiner Jugenddichtung zu behaupten. Aber
auch in dieser war er nicht ein typischer Vertreter der achtziger

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Bewegung, nicht der Dichter, der das individuellste Gefühl auf
die individuellste Weise gestaltete.

Ebenso wenig ist das Verwey, obgleich auch er in seinen ersten
Dichter jähren den poetischen Ansichten Kloos\' huldigte. Ver-
weys
Talent ist aber zarter, es birgt schon in dem Band „Verzamel-
de Gedichten" die Keime der späteren philosophischen Kunst des
Dichters. Verwey kennt wie Kloos die Selbstvergottung:

Daar leeft geen andre God! Gij zijt alleen^).

und die Einsamkeit, welche davon die Folge ist:

Geen hart kan ooit het hart eens menschen toebehooren®).

Verwey aber spinnt sich nicht in seine Einsamkeit ein; mit der
Schönheit seiner Lieder wiU er die Menschen beglücken. Kunst
soll erheitern und erhellen®).

En daarom heb ik begeerd

Schatten noch staat,

Maar het lied, dat het schepsel eert

En een God niet smaadt. —

Opdat ik in de oogen

Van allen, die weenen,

Zacht legge het licht.

Dat mijn ziel heeft omschenen, —

Dat zal hunne tranen drogen.

Ieder zal tot mij vliên

Wien \'s werelds wee doorsneed.

En schoonheid in zijn smarten zien

En lachen in zijn leed«).

Bei Verwey mischt sich der Kultus der Schönheit — wie bei
Shelley — mit dem Bedürfnis nach Sympathie.

Verwey, der Dichter mit der schönen Plastik, den scharf ge-

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schauten Gleichnissen, hat nach der Zeit, in der die „Verzamelde
Gedichten" erschienen, lange Jahre geschwiegen. Es entwickelte
sich in ihm das Gefühl für eine geistige Kunst. d\'Oliveira gibt uns
in „D e Mannen van 80\'\' Verweys Erklärung seiner neuen Kunstan-
sicht; der Dichter sagt:

„Je hebt hier dat duinlandschap, je krijgt daar een indruk van
en het is mogelijk met dien indruk een gedicht samen te stellen.

Nu kijk je opnieuw, je voelt een aandoening en die kun je uit-
drukken, zonder veel van het landschap in je werk op te nemen.

Maar nu kijk je voor de derde maal en nu is je blik zoo doordrin-
gend geworden, je geheele wezen neemt in zulk een mate deel aan
de waarneming, dat de uitdrukking er van geeft het wezen van je
geest èn het wezen van het landschap tevens. Dan ontstaat wat
ik geestelijke kunst noem"!).

Mit dieser Kunstauffassung hat Verwey Abschied genommen
von den Idealen seiner Jugend. Sie erklärt uns, warum Stefan
George, gleichfalls der Befürworter der geistigen Kunst®), in den
„Übertragungenzeitgenössischer Dichter" neben vierSonetten von
Kloos®) so unverhältnismäszig viel Gedichte von Verwey über-
setzt, und dasz diese, bis auf vier«), alle aus des Dichters späterer
Periode stammen®). Es sind Gedichte aus „De nieuwe Tuin", „Het
brandende Braambosch", „De Kristaltwijg". Sie erklärt es, dasz
in Verweys Übertragungen fremder Dichtung „Poëzie in Europa",
wo Hugo von Hofmannsthal nur mit drei Gedichten vertreten
ist, — „De beiden", „Leven", „Wereldgeheim"«) — Stefan George
der gröszte Platz eingeräumt wird.

Bezeichnend für Verweys Wahl ist es, dasz zwölf Gedichte des
deutschen Neuromantikers dem „Vorspiel zu dem Teppich des
Lebens\')" entnommen sind, von welcher Dichtung Gundolf sagt:
„Natur, Schicksal, Seele haben jetzt Einen Namen und Ein Ge-
sicht®)". Die anderen, Georges Poesie entnommenen Gedichte be-
finden sich in dem Bande „Der siebente Ring"®) und sind der Aus-
druck einer noch höheren Vergeistigung des Dichters.

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1 Gorter ist der einzige Dichter der achtziger Jahre, der in seiner
Poesie das Kunstideal erreichte, das Kloos vorschwebte. Nament-
lich in einigen seiner Gedichte und in dem zweiten Teil seiner
, Dichtung „Mei" ist die Sprache, die Wahl der Bilder in hohem
\'Masze individualistisch; immer deutlicher äuszert sich da die
Sensitivität des Dichters, immer besser gelingt es ihm, die fein-
sten Schattierungen auszudrücken. Seine Sprache nennt van Ee-
den „de taal van iemand, die geheel geconcentreerd is in eigen
gewaarwordingen en leeft in volkomen aandacht om de heerlijke
dingen uit te spreken, die hij voelt"^).

Niets in de ruime wereld is zoo blij
Als deze aarde®).

Gorter, der Schönheitsverherrlicher mit den scharf ausgebilde-
ten Sinnen, ist berauscht von den Klängen, den Formen, den
Farben:

Mijn oog en oor werd als de groote hemel
Boven de zee met al haar waterwemel
Van prisma\'s kleur en van muziekballons®).

Der Dichter ist ein Augenmensch, der uns im Geist der Prära-
phaeliten durch die Kraft seiner Worte ein Bild vorzaubert1),
zugleicherzeit aber der Schöpfer einer musikalischen Stimmungs-
lyrik®).

Gorter liebt Musik vor allen andern Künsten:
Zij is de liefste, allerliefste®).
Zielsleven is muziek\').

Im Frühling smgen sogar die Pflanzen:

Voel je den nacht
Den eersten lentenacht?

1 \') Van Eeden, Studies, Eerste Reeks, 3. Auflage, Seite 97.
\') Mei 5. Auflage, Seite 13. ») Seite 61. •) u. a. Seite 50.
\') Z. B. Seite 71 ff. •) Seite 164. \') Seite 154.

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Hoor je de boomen wel zingen?^)

Er ist der Verherrlicher des Traums:

Zachte droomen maken een helderheid
En eene kind-doorlach\'ne werklijkheid®).

Und des Seelenlebens :

Hoor mij nu. Mei: er dwaalt in ieder leven,
In ieder lijf, een vlam, elk voelt haar beven
Wel eens of tweemaal, maar niet vele malen.
De menschen noemen ziel haar.

Dieses tiefere Leben äuszert sich namentlich in dem Kinde, in
der Frau, in dem Künstler®),

Der junge Gorter ist in hohem Masze Individualist :

Nooit kan dit zijn. Mei, dat \'k een ander hoore.
Ik Balder, aan een ander, zie, \'k ben blind,
\'k Zie nooit iets dan mijzelf, niet U, mijn kind*).

Is wel mijn eigen ziel
Iets wat ooit buiten mij, mijzelven viel?®)

Wie dùs zijn ziel is, is zichzelf een God.
Ik ben mijn ziel, ik ben de een\'ge God®).

Dann aber fängt in dem Dichter das Pflichtgefühl des sozialen
Menschen sich zu regen an und kämpft mit dem Künstlerstreben :

Ik sta voor den mist van den tijd
En fluister: „Zijt gij er, zijt gij er.
Schoonheid? ik wacht u wijd,
In \'t duister weidt ge er, weidt ge er?"

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Uit de koele scheemrende nevel
Komt honderdtongig gefluister:
„Ik ben er, ik ben er," maar de nevel
Bewaart zijn vloeiende duister^).

Allmählich aber wird dem Dichter

Der menschen broederschap het hoogste schoon®).

Da ist sein höchster Wunsch:

Om zieh te geven voor de heele menschheid®).

„Een klein Heldendicht"«), die poetische Gestaltung dieser so-
zialistischen Gefühle, ist aber nach Gorters genialen Anläufen eine
starke Enttäuschung.

In den ersten Lieferungen der neuen Zeitschrift veröffentlichte
van Eeden, „De Kleine Johannes", die Erzählung der Seelenent-
wickelung des Kindes, das jeden Abend betete, es möchte doch
einmal ein Wunder geschehen, das sich von dem Märchenwesen
Windekind, dem Symbol der Natur, der Phantasie, der Schön-
heit sowie von drei Vertretern einer dürren, einseitigen Verstan-
deslehre beeeinflussen läszt, am Sterbenslager seines Vaters aber
entschlossen Pluyzer, den nüchternen Materialisten, niederringt,
dann aber auf das schon wieder herbeigesehnte Reich des Traums
und der Schönheit verzichtet und freiwillig, aus Liebe zu der
Menschheit, den schweren Weg des Leidens antritt, der zur inne-
ren Schönheit führt.

„Gij hebt de menschen lief, Johannes. Gij wist het niet, maar
gij hebt hen altijd lief gehad. Gij moet een goed mensch worden.
Het is een schoon ding een goed mensch te zijn"®).

Feber betont in seiner Broschüre „Frederik van Eedens Ont-
wikkelingsgang" m. E. mit Recht, dasz der kleine Johannes, wie
sehr er auch für das Schone empfänglich ist, dennoch nicht zum

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Schönen, sondern zum Guten strebt^). Fügt man hinzu, dasz van
Eedens Sprache in keiner Hinsicht der individuellste Ausdruck
des Dichters ist, dasz sie von selbstgebildeten Worten freigehal-
ten ist, so könnte man daraus den Schlusz ziehen, dasz dieser
Dichter eigentlich nie zu den Achtzigern gehört hat. Zwar richtet
auch van Eeden sich gegen die Literatur vor 1880, zwar ist auch
er Individualist®), und Verherrlicher der Schönheit®), kennt auch
er die Einsamkeit:

In \'t wereldhuis als kloosterlingen wonen
Wij menschen, elk in \'t eigen kamerkijn
Levenslang opgesloten«).

Eenzame zelf®).

und die Lebensfreude: >

Verheugt u toch, gij die dit rijmken lezen

En nog in gloed der zonne wandlen meugt

De stranden langs — wen mijn verstorven wezen

Reeds lang ontbeert wat \'t zóózeer heeft verheugd.

Zegent dan uwe zinne\' en uwen dag!

Ik die dit schreef ging met een hart vol wonden.

Handen vol euvel, ooren vol geklag.

En heb het leven toch zóó schoon gevonden®).

daneben ist er aber, namentlich in „Het lied van Schijn en We-
zen" der Sänger der allesumf assen den Liebe, der Liebe Gottes,
wovon auf Erden die treue Liebe zwischen Mann und Frau das
schönste Symbol ist\').

Auch in „Ellen" das unter dem Einflusz von Shelleys „Epipsychi-
dion" entstanden ist, erhebt sich der Dichter zum Heüigenkult
der Liebe®).

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Der junge Van Eeden ist auch darin Romantiker, dasz er dem
Fühlen vor dem Wissen Wert beimiszt:

\'t Gemoed voelt binding dieper dan de rede,

En deze, machtloos waar haar maat niet strekt,

Heeft niet te schennen \'s harten teere zeden

Wijl zij daarvan de gronden niet ontdekt^).

Maar Wijsheid is een zuivere structuur

Der ZieP).

Die gröszte Weisheit vermittelt auch ihm die Musik:

Muziek,

Muziek alleen, dat is der spraken wonder,
Beeld noch symbool, maar wezen, gansch uniek

Van heil\'ge zuiverheid®).

Noch einmal spricht van Eeden diesen Gedanken aus:

Maar op dien weg van meest volmaakte kennis

Leidt ons het verste melodie en lied.

Want die zijn zuiver1).

In diesen Zeilen erhebt sich der Mystiker van Eeden zu einer
Kunstauffassung im Geiste Novalis\', Shelleys, der Symbolisten
und der deutschen Neuromantik, zu einer Poesie der Verinner-
lichung, wie sie sich in den Werken der jungen Dichter nicht zum
zweiten Mal findet.

Eine Poesie der Verinnerlichung ist auch der Band „Sonnetten
en Verzen in Terzinen, geschreven door Henriette Roland Holst-
van der Schalk". In dieser Lyrik ist die Dichterin noch die einsame
Träumerin in einer Welt voller Schönheit®):

1 ») Het Lied van Schijn en Wezen, Seite 89. ») Seite 35. «) Seite 57, 58.

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Dagen als bloemen, open-volle nachten
Daartusschen, als in maanlicht blanke tuinen
En midden tusschen deze vele ga ik
Met stralende oogen levens-op^^).

Das wirkliche Wissen ist ihr:

Eve\' een voelen met alle dinge\' eendrachtig®).

Dantes Poesie weihte sie in die höhere Weisheit ein:

Ik leefde, en wijsheid was voor mij een woord.
Toen werd ik genoodigd haar gast te wezen
Door Dante\'s princelijk en machtig woord®).

Auch sie erblickt im Diesseits eine Welt der Symbole:

Achter de tijdelijke vormen leven
— Zooals achter heggen bloeiende gaarden —
Eeuwige krachten wier adem de aarde
Rijk maakt en die haar een gestalte geven*).

Die Dichterin stellt Betrachtungen an „over de wijsheid die de
weg tot volkomenheid is"®), sowie darüber, wie „door het in-
zicht der onvolkomenheid van ons zintuigelijk weten de Geest ge-
leid wordt tot de Beginselen der goede Mystiek"®).

Ihre späteren Gedichtbände sind die Kunst einer Sozialistin,
die, trotz der bewuszten Tendenz ihrer Poesie, durch die wirkliche
Empfindung, die sie ausspricht, Stimmung erreicht. „De Vrouw in
het Woud" widmet die Dichterin

Aan de Makkers onverloren
Waarmee ik streed;
Aan de toekomst ongeboren
Waarvoor ik leed."

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Es sind Lieder voll Kampf und Schmerz:

Ik ook heb dit mijn vrouwehart, dit teere
Breekbare ding, dat elke toon doet trillen,
Gevoerd in \'t strijdperk waar vijand\'ge willen
In stalen pantser elkander braveeren —

Ik ook heb midden in rumoer\'ge sfeeren
De koorts van heimwee door mij voelen rillen
Naar het omslotene en veilig-stille
Gebied, waar ik toch niet kon wederkeeren^).

Auch im Kampf kann sie

\'t oude zwieren
Hier in die stilglanzende toovertuin®).

nicht vergessen.
Sie ist die Reiterin hoch zu Rosz,

In d\'eene vuist klemmend der daden teugels
Dragend op de palm van de and\'re hand
De wondervogel met azuren vleugels
Die weerschijn vange\' uit droomenland®).

Wie die Dichterin in „De Nieuwe Geboort" gesteht:

Ik leed het zoo vaak en zweeg
Nu lijd ik het nog eenmaal luid
Om andren die lijden, te reiken
De troost der gemeenzaamheid^).

so endet auch „De Vrouw in het Woud" als ein Lobgesang auf die
Liebe zu der Menschheit.

Einen gröszeren Gegensatz als zwischen Frau Roland Holst und
der zweiten Dichterin, die man den Achtzigern beizählen kann,
obgleich die meisten ihrer Gedichte zuerst in „De Gids" erschienen,

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Hélène Swarth, läszt sich kaum denken. Wehmut über verlorenes
Liebesglück klingt durch fast alle Gedichte dieser groszen Wort-
künstlerin; an der Wahrheit der Empfindung dieser, auch im
Alter immer wiederholten Liebesklagen, musz man aber zwei-
feln.

Das Bild der Bewegung der achtziger Jahre wäre unvollstän-
dig ohne van Deyssels Prosa.

Der erste Band „Verzamelde Opstellen", namentlich der erste
Aufsatz „Nieuw HoUand" gibt uns des Verfassers Ansichten über
die Literatur vor 1880, „het zijn de dreunende mokerslagen der
revolutie"!) die darin ertönen. Diese Schimpfreden sind wie die
l5^ische Besprechung von Zolas „Rêve"®), worin van Deyssel seine
Verehrung für den groszen französischen Naturalisten mit dem
stark romantischen Temperament ausspricht, bezeichnend für die
Art seiner Kritik.

In „Een Lief de" en „De Kleine Republiek", finden wir eine Mi-
schung von Natm-alismus und Individualismus; der Naturalis-
mus wird in einigen zwischen den Jahren 1889 und 1903 geschrie-
benen Prosastücken, u. a. in „De Zwemschool", auf die Spitze ge-
trieben. Dann aber folgt auch bei van Deyssel eine Abwendung
von den Dogmen der achtziger Jahre, die Aufmerksamkeit, die
er auf die Welt um sich her richtete, richtet sich nach innen, und
da entsteht ein Buch wie „Frank Rozelaar", in dem sich das Indi-
viduelle zum Menschlichen erweitert.

Eine literarische Bewegung, wie Kloos und van Deyssel sie sich
träumten, eine Neuromantik, die den Strömungen in England,
Frankreich und Deutschland gleichkäme, ist der holländische
literarische Aufschwung der achtziger Jahre nicht geworden.
Adama van Scheltema unterschätzt den Wert dieser Bewegung
aber in hohem Masze®). Denn in den Jahren 1880—1900 hat die
holländische Sprache die Fähigkeit erworben, Gefühle in sehr fei-
nen Schattierungen auszudrücken, wodurch es einem Künstler
wie Boutens, der diese poetische Sprache vorfand, möglich war,
sie zu einem solchen Grad zu verfeinern, dasz einige Gedichte

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Rossettis\'-) und Andrians®), in unsre Sprache übersetzt, den eng-
lischen und deutschen Originalen, trotz der Übertragung, an
Schönheit gleichkommen. Besondere Erwähnung verdient in die-
ser Hinsicht die Übersetzung von Andrians Sonett „Carmina"
Seite 106,

P. C. Boutens, Carmina, Seite 90- 105.
P. C. Boutens, Carmina, 105-106.

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SIEBENTES KAPITEL

neuromantik in deutschland

In Deutschland blühte die neue Poesie auf in den Gedichten
Stefan Georges und in dem Werk derjenigen Dichter, die durch
ihn zu eignem Schaffen angeregt wurden. Ihre Kunstansichten leg-
te die neue Dichtergruppe nieder in der von George gegründeten
Zeitschrift „Blätter für die Kunst", die nur für eine auserwählte
Gemeinschaft von Künstlern und Kunstanhängern gedruckt
wurden, weil George sich jeder Rücksicht auf das Publikum ent-
schlagen wollte. Unwillkürlich denkt man bei dieser ablehnenden
Haltung ,der tausendköpfigen Menge"i) gegenüber an Novalis\'
naiven Versuch, sich in seinen Werken nur an seelisch Verwandte
zu richten, an seine Worte über die Möglichkeit in der gewöhnli-
chen Landessprache so zu sprechen, dasz es nur der verstehen
könnte, der es verstehen sollte. „Jedes wahre Geheimnis musz
die Profanen von selbst ausschlieszen. Wer es versteht, ist von
selbst, mit Recht, ein Eingeweihter", sagt Novalis in der Vorrede
zu „Glaube und Liebe"®).

Denn wie zwischen den Dichtern der Frühromantik und ihren
Zeitgenossen, so klafft auch zwischen George und den nicht durch
die verfeinerte romanische Kultur erzogenen Gebildeten seiner
Zeit eine ungeheure Kluft. An die tiefe Verachtung, welche die
beiden Schlegel und Novalis für die aufgeklärten Bifdungsphili-
ster fühlten, wird man erinnert, wenn George denjenigen seiner
Zeitgenossen, die sich mit Kunst beschäftigen wollen, den Rat
gibt, erst sieben Jahre hindurch über nichts andres nachzu-
denken, als darüber, warum ein Gedicht schöner sei als eine
Gleiches sagende Rede, ein Gemälde schöner als das genaue

\') Der siebente Ring, 5. Auflage, Leo XIII, Seite 20.
\') Novalis, Heilborn II, 1, Seite 35; Minor II, Seite 146.

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farbige Lichtwerk, ein Bildwerk schöner als die treuere Wachs-
formi).

Die geringe ästhetische Bildung seiner Landsleute, welche es
verschuldet, dasz in keinem Nebenstaat der gleichen Leserstufe
solche Erzeugnisse als Dichtungen angeboten werden dürfen, wie
in Deutschland®), und dasz in dem Lande, wo um 1800 eine neue
Kunst erblüht, am Ende des 19. Jahrhunderts die neue Poesie
so spät erklang,erklärt George daraus, dasz der Schwerpunkt deut-
schen Strebens nach Gebieten verlegt wurde, wo die Kunst nie ge-
dieh und in absehbarer Zeit nicht gedeihen kann. „Durch die
ausschlieszliche Erziehung eines Geschlechtes zu wechselseitigem
harten Kampf ging etwas verloren — auf einigen ragenden Gip-
feln dämmert es schon, es möchte das gröszte und edelste einer
Rasse sein, was da einer allmählichen Verflachung und Vertrock-
nung entgegenläuft"®). Die Neuromantik in Deutschland ist, wie
die Schwesterströmung in Frankreich, eine bewuszte Reaktion
gegen die Forderung, alles daranzusetzen, um in einem folgenden
Krieg den Sieg davonzutragen.

Dementsprechend will der Georgesche Dichterkreis auch aus
seiner Zeitschrift alles Staatliche und Gesellschaftliche ausschei-
den; wie die verwandten ausländischen Dichter wollen auch die
Dichter der deutschen Neuromantik nur der Kunst dienen. Unter
>,Kunst" verstehen sie an erster Stelle, aber nicht ausschlieszlich
Poesie, auch der Malerei und der Tonkunst nähern sie sich mit
Ernst und Heiligkeit«). Den Einflusz der Künste auf einander,
wie die gegenseitige Beeinflussung des Dichters, des Musikers und
des Malers als Künstler schätzen auch sie sehr hoch. „Dies sei uns
noch immer Anfang und Ende von der Kunst zu reden: den Kün-
sten in ihren Beziehungen und ihrem Zusammenwirken, eine die
andere anregend und vor Erstarrung bewahrend. Nie wäre bei
uns Schrifttum und Dichtung von heute in so traurige Verödung
geraten, wenn ihre Vertreter zu den gleichlebenden Meistern der
bildenden- und Tonkunst den Blick erhoben hätten. So sind wir
sehend geworden durch Männer wie unser Böcklin"®). C. A. Klein

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nennt auch Richard Wagner als eine Hauptstütze der neuen
Kunst in Deutschland^). Nur insoweit Wagners Musikdramen
eine Synthese aller Künste sind und somit das Ideal aller Romanti-
ker verwirklichen, mag das zutreffen. Auf die zarte Poesie der
jungen Dichter hat die Wagnersche Musik wohl nicht eingewirkt,
dazu ist sie eine zu wenig verfeinerte, zu wenig vornehme Kunst.
Den Einflusz eines bestimmten Tonkünstlers scheinen die Dichter
der deutschen Neuromantik nicht erfahren zu haben: Mahler war
um 1890 noch zu unbekannt, als dasz er auf sie hätte einwirken
können. Erst später fanden sich Hugo von Hofmannsthal und yt
Strausz.

Hofmannsthal dichtete den Text für Strausz\' Oper, „ Ariadne auf
Naxos" und „Der Rosenkavalier"; auch „Elektra" und „Die Frau /
ohne Schatten" inspirierten den österreichischen Tonkünstler zu
musikalischen Dichtungen.

Auf das Urteil von Kunstrichtern halten die jungen Dichter we-
nig. „Unsre Kunstrichter bedeuten deshalb so wenig, weil sie meist
verkümmerte Künstler sind, die andrer Werke bereden und tadeln ^
in der Ohnmacht eigne hervorzubringen"®). Novalis war derselben
Ansicht:

„Wer keine Gedichte machen kann, wird sie auch nur negativ
beurteilen. Zur echten Kritik gehört die Fähigkeit, das zu kritisie-.
rende Produkt selbst hervorzubringen. Der Geschmack allein beur-
teilt nur negativ"®).

Mit scharfer Kritik treten George und die ihm verwandten
Dichter an die Literatur heran. Sie wenden sich ab von der frat-
zenhaften Romantik und dem schwächlichen Epigonentum des
19. Jahrhunderts und, wie die Symbolisten, von dem Naturalis-
mus1). „Der Naturalismus hat nur verhäszlicht, wo man früher
verschönte, aber streng genommen hat diese Kunstrichtung nie
die Wirklichkeit wiedergegeben, sie hat uns daran gewöhnt, ge-
wisse begleitende Bewegungen einer Handlung zur Vollständig-
keit zu fordern, die aber, wenn sie vom Dichter berücksichtigt
werden, jedes Werk groszen Zuges unmöglich machen"®). In den

Bl. f. cl. K., Dezember 1892, Seite 50.
2) Auslese aus den Bl. f. d. K., Seite 14.
ä) Novalis, Heilborn II, 1, Seite 80; Minor III, Seite 177
\') Bl. f. d .K., Seite 10. Seite 17.

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Werken der naturalistischen Dichter findet George nicht einen ein-
zigen, für seine Kunst fortwirkenden, lebenbringenden Hauch.
Die ältere Literatur wird mit der rücksichtslosen Strenge des
Künstlers geprüft: drei Bände „Deutsche Dichtung" enthalten
alles, was ihnen Ewigkeitswert zu haben scheint.

Wie anfänglich die Frühromantik Goethe als den wahren Statt-»-\'"
halter des poetischen Geistes auf Erden betrachtete^), so blickt
auch die Neuromantik zu Goethe als dem gröszten deutschen ^
Dichter empor; der zweite, nur 98 Seiten starke Band bringt aus
seinen Gedichten diejenigen, welche „die tiefsten Lebensgluten in
der schönsten Bändigung zu enthalten scheinen"®). Der einzige,
den Goethe als Gegensatz verträgt®), ist nach Georges Ansicht
Jean Paul; ihm, der gröszten dichterischen Kraft der Deutschen«),
ist der erste Band gewidmet®). Der dritte Band, „Das Jahrhundert
Goethes", gibt eine Auslese aus den Werken Klopstocks (Seite 8—
20), Schülers (20—29), Hölderlins (30—50), Novalis\' (50—64),
Brentanos (64—83), Eichendorffs (83—88), Platens (98—121),Hei-
nes (122—127), Lenaus(128—144), Hebbels (144—160), Mörikes
(161—173) und C. F. Meyers (173—181).

„Unsre Wahl hat nur die Verfasser getroffen, deren Ton ihnen
so eignet, dasz er keines andern sein könnte, nicht solche, denen
einmal ein gutes Lied oder eine gute Reihe gelang. Es wird offen-
bar, dasz der Garten der deutschen Verskunst nach dieser Lichtung
sich nicht ärmer, sondern in um so deutlicherer Pracht erweist. In
diesem Zwölfgestirn sind Schüler und Heine eher die kleinsten als
die gröszten, dieser der erste Tagesschreiber, jener der feinste
Schönheitslehrer. Wie sehr Schülers Gestalt immer hervorragen
wird, die Schätzung gerade seinerberühmtestenDichtungen nimmt
immer mehr ab. Denn eine Dichtung aus Grundsätzen und Ideen 4
kann nicht dauern. Als der Verfasser der Ästhetischen Erziehung
aber, wird Schüler noch einmal eine glänzende Auferstehung fei-
ern"®).

Wie George den Kern von Wahrheit in den Bestrebungen der
Naturalisten verkennt, so scheint er auch Heines Wert als

Novalis, Heilborn II, 1, Seite 32; Minor II, Seite 137.

Deutsche Dichtung Band II, 2. Auflage, Seite 7.

Deutsche Dichtung Band III, 2. Auflage, Seite 6.

Deutsche Dichtung Band I, 2. Auflage, Seite 5.

\') Für das Verhältnis der Frühromantik zu Jean Paul sieh Haym, Die romantische
Schule, Seite 689.

\'■) Das Jahrhundert Goethes, 2. Auflage, Seite 6, 7.

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Dichter und zugleicherzeit als Sprachkünstler zu unterschätzen.
Ist nicht dieser „Tagesschreiber" ein Meister in der „lyrischen
Stimmungskunst", in der Kunst, welche auch George hervorzu-
rufen suchte, obgleich die Mittel, womit Heine Stimmungen her-
vorzaubert, nicht die Verfeinerung besitzen, welche ein Merkmal
der neuromantischen Poesie ist ?

Als junger Dichter, in der Zeit, da er sich vergebens nach einem
Wiedererwachen der Poesie in Deutschland sehnte, suchte George
bei ausländischen Meistern Hüfe und Ergänzung^).

Er fühlte sich zu den Künstlern des jungen Belgien, Frankreich
und England, später auch zu verwandten holländischen, italie-
nischen, dänischen Dichtern, und zu dem Polen Lieder hingezo-
gen, weil es ihm wie ihnen aufgegangen war, worin das Wesen der
modernen Dichtung liegt : das Wort aus seinem gemeinen alltäg-
lichen Kreis zu reiszen und in eine leuchtende Sphäre zu erheben®).

Als Vorbereitung für seine eigene Dichtung verdeutschte er
diese ausländischen Wortkünstler®).

Wie A. W. Schlegel in seinen Übersetzungen zum Dichter wur-
de, so wurde George in diesen Übertragungen zum Wortkünstler.
Seine Kunstübung ist dem Gottesdienst vergleichbar. Jede
Schönheit des Originals wird mit andächtiger Hingabe erlauscht
und die beste Kraft aufgeboten, das Wunderwerk bis in seine
feinsten Verschlingungen nachzubilden*).

O. Walzel weist darauf hin, wie hoch George die Bedeutung
des einzelnen Klanges im Verse bewertet, wie er in den Überset-
zungen die Vokale der ursprünglichen Dichtung zu bewahren
sucht.

Als Beispiel vergleicht er Georges „Gefühlsames Zwiegespräch"
mit Verlaines „Colloque Sentimental" : in der Übersetzung findet

\') Vgl. George, Der siebente Ring, 5. Auflage, Seite 18—19, Franken.

Bl. f. d. K., Dezember 1892, Seite 47.
/") Die Übersetzungen sind später gesammelt worden in 2 Bänden Zeitgenössischen
^,^ichtern. Der erste Band enthält Übersetzungen von : Rossetti Seite 11—24, Svvinburne
27—44, Dowson 47—49, Jacobsen 55—62, Kloos 67—71, Verwev 73—100, Verhaeren
105—110.

Im zweiten Band finden sich Übersetzungen von Gedichten von Verlaine Seite 9—29,
Mallarmé 33—43, Rimbaud 45—48, Henri de Régnier 51—58, d\'Annunzio 63—74,
Waclaw Rolicz Lieder 79—114.

Die grosze Verwey gewidmete Seitenzahl erklärt sich aus der Affinität in der Kunst
beider Dichter, sieh Kapitel VI. Für Lieder sind so viele Seiten abgefallen, weü George
die polnische Poesie erst durch die Übertragung den Deutschen zugänglich machte.

Auch Baudelaires Fleurs du Mal, Dante und Shakespeare wurden übersetzt.

*) VonderLeyen, Deutsche Dichtung in neuer Zeit, Seite 197.

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sich — wie im Original — der stete Wechsel von a und o, den ab
und zu ein i unterbricht^).

In den „Blätter für die Kunst" spricht sich George über die Poe-
sie aus, die er dichten und anregen möchte. Sie soll eine lyrische
Stimmungskunst sein, eine Einheit von Auswahl, Masz und
Klang, wie die Poesie der übersetzten Dichter. Er will der
Schöpfer einer höheren, geistigen Kunst in Deutschland sein. Dem-
entsprechend verlangt er von dem Dichter Konzentration, von
dem Gedicht Kürze®), das Merkmal der Poesie der Parnassiens
und aller neuromantischen Dichtungen.

Erst dann kann der Dichter das Erlebnis in Schönheit gestal-
ten, wenn es in die gehörige Ferne gerückt ist; dem Vorwurf, dasz
die Haltung der neuromantischen Dichter zu kalt und ruhig, zu
wenig der Jugend angemessen sei, begegnet George durch die
Worte:

„Seid ihr noch nicht vom Gedanken überfallen worden, dasz in
diesen glatten und zarten Seiten vielleicht mehr Aufruhr enthal-
ten ist als in all euren donnernden und zerstörenden Kampfre-
den?"®)

Auf den Vorwurf, die ganze Kunstbewegung der „Blätter" sei zu
südlich, zu wenig deutsch, antwortet George, es sei fast die natür-
lichste und hervorragendste aller deutschen Stammeseigenheiten,
in dem Süden die Vervollständigung zu suchen, in dem Süden, zu
dem die Dichter pilgern, um zu der Tiefe das Licht zu finden«).
Die Liebe zu dem Süden ist ein den Romantikern aller Länder
eigner Zug. Blosz die holländischen Dichter um 1880 bilden von
dieser Regel eine Ausnahme.

„Die älteren Dichter schufen der Mehrzahl nach ihre Werke oder
wollten sie wenigstens angesehen haben als Stütze einer Meinung,
einer Weltanschauung®). Dichtung aber ist niemals Zweckdich-
tung. Nicht eine Bereicherung unserer Erkenntnis, sondern eine
Erhöhung unserer Freude am Leben wird uns durch das Kunst-

Leben, Erleben, Dichten, Seite 35.
=) ni. f. d. K., Seite 10, 13. Seite 19. «) Seite 19.

Seite 13. Vgl. dazu aber Novalis, Heilborn II, 1, S. 82; Minor III, Seite 178:
„Die Poesie schaltet und waltet mit Schmerz und Kitzel, mit Lust und Unlust, Irr-
tum und Wahrheit, Gesundheit und Krankheit. Sie mischt alles zu ihrem groszen
Zweck der Zwecke — die Erhebung des Menschen über sich selbst.\'\'

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werk zu Teil^) „der Zweck" aller Kunst ist Genieszen. Poesie soll
erheitern und erhellen." „Sie will" — wie Paul Gerardy es in be-
geisterter Sprache ausdrückt — „hervorrufen und einflüstern,
mit Hilfe wesentlicher Worte suggerieren. Und was sie liebt, ist
vor allem die Schönheit"®).

Das Gedicht ist der höchste, der endgültigste Ausdruck eines Ge- j,
schehens. In dieser Wertschätzung stimmt die deutsche Neuro-
mantik mit der Ansicht aller verwandten ausländischen Dichter
überein — von Novalis\' Auffassung aber weicht sie ab. Der Früh-
romantik war die Lyrik „Minus-Poesie"®). ^

Eben so wenig war der hohe Wert der Form diesen ein Jahrhun-
dert früher lebenden Dichtem bewuszt geworden.

Ganz wie Novalis empfindet Karl Wolfskehl, wenn er den Wert
des Fühlens vor dem des Wissens betont: „So mag es kom-
men, dasz alles Wissen der Welt uns nimmer das grosze Erkennen
schenken kann, dasz ein geritzter Stein, dasz arme Runen
die Wahrheit bergen, die keinem unsrer Weisen aufgegangen
ist"*).

Und in Worten, die im Geiste Fr. Schlegels und Novalis\' die
Dunkelheit und die Nacht preisen, verherrlicht Gerardy die Poe-
sie als den dichterischen Ausdruck der religiösen Erkenntnis der
Einheit alles Seienden®).

Auch der deutschen Neuromantik ist die Poesie zur Religion,
der Dichter zum Priester geworden.

Dichter-Priester fühlte sich vor aUen anderen Stefan George.
Anfangs überwog der Dichter, seine erste Poesie ist eine Dichtung
„aus Rausch und Klang und Sonne"®). Vielleicht hat keiner bes-
ser als C. A. Klein ausgesprochen, worin die Schönheit dieser Poe-
sie besteht.

„Durch genau erwogene Wahl und Anhäufung von Konsonanten
und Vokalen bekommen wir einen Eindruck ohne Zutat des Sin-
nes; Jubel und Trauer, Glätte und Härte, Nacht und Licht fühlen
wir ohne dasz wir die Begriffe dastehn haben.

Alles läuft auf eins hinaus: den groszen Zusammenklang, wobei

BL f. d. K., Seite 141. Seite 114.
=) Novalis, Heilborn II, 1, Seite 83; Minor III, Seite 10.
«) Bl. f. d. K., Seite 130. =) Bl. f. d. K., Seite 130. «) Bl. f. d. K., Seite 16.

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wir durch die Worte erregt werden wie durch Rauschmittel.
Trotz diesem Ringen nach der höchsten und vollendetsten Form
vermissen wir niemals die Seelentiefe"!).

Für diese Poesie, die wie die „Blätter für die Kunst", in erster
Auflage in etwa hundert Exemplaren erschien, entwarf M. Lechter
die Ausstattung, Druck, Buchschmuck und Einband. Man könnte
diese durch das Zusammenwirken von Dichter und Zeichner
entstandenen Prachtbände Kunstwerke im Geist der Präraphae-
liten nennen, um so mehr da für beide Künstler die Kunst
„sacred" ist.

Anfänglich macht sich in Georges Dichtungen, namentlich in
dem Band „Hymnen, Pilgerfahrten, Algabal" der Einflusz der
französischen Poesie geltend®). Historisch ist Algabal der spätrö-
mische Kultkaiser, der verrufenste Name der Geschichte, der
einzige Priesterkaiser, und der einzige, zu dessen wesentlichen
Zügen die Schönheit gehört®). George betrachtet seinen Algabal
als den jüngeren Bruder Ludwigs des Zweiten, des schönheits-
liebenden Bayernkönigs«) ; wie Baudelaire kennt dieser Herrscher,
dem George sich innerlich verwandt fühlte, die Wollust der Grau-
samkeit, wie Mallarmés Herodias den Ich-kultus und die Einsam-
keit.

Aufschlüsse über Georges Dichterideal gibt „Die Spange"®).

Gedichte, formenrein wie ein glatter, fester Reif, wie eine Span-
ge aus kühlem Eisen, schweben ihm als höchstes Erreichbares vor ;
bis seine Poesie diese Vollkommenheit erreicht hat, soll sie
sein

Wie eine grosze fremde Dolde
Geformt aus feuerrotem Golde
Und reichem, blitzendem Gestein.

Auch dieses Gleichnis mutet noch als dekadent an.

Georges Kunst ist noch die dunkle, grosze, schwarze Blume,

1) Bl. f. d. K. Dezember 1892, Seite 48—49. Vgl. Novalis, Heilborn II, 1, Seite 281 ;
Poesie is Gemütserregungskunst.

Die Gedichte, Seite 93, 94 sind Beispiele der audition colorée, vgl. Verlaine II,
Seite 184, Ballade de la Vie en Rouge.
Gundolf, George, Seite 80.
\') Hymnen, Pilgerfahrten, Algabal, 6. Auflage, Seite 88. ») Seite 83.

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die sich in dem Unterreich entfaltet hat^), sie ist noch nicht die
dichterische Verklärung des wirklich Erlebten.

„Die Bücher der Hirten und Preisgedichte der Sagen und
Sänge und der hängenden Gärten" enthalten die Spiegelungen
einer Seele, die vorübergehend in andre Zeiten und örtlichkeiten
geflohen ist und sich dort gewiegt hat®). Georges Seele ist vollkom-
men eins geworden mit dem Geist des Altertums, des Mittelalters,
des Orients. Von einer romantischen Sehnsucht nach fernen Län-
dern und fernen Zeiten ist hier gar nicht die Rede. Verwey hebt
das Gedicht „Herr der Insel" hervor als das Beispiel einer beson-
ders groszen Einswerdung des antiken Geistes mit der Seele des
modernen Dichters®). George ist in diesen Gedichten noch der
Dichter der Schönheit, der seine Stimmungslyrik mit der
Plastik des Malers und dem feinen Ohr des Musikers gestal-
tet.

In dem dritten Band, „Das Jahr der Seele", spricht der Dichter
seine Wehmut aus, seine Überzeugung, dasz der Mensch auf ewig
einsam bleiben musz, dasz auch in der Liebe keine Befriedigung
zu finden ist. Leidenschaftliche Erregung sucht man in diesen Ge-
dichten vergebens; George fühlt wie Maeterlinck, dasz die Tragik
erst auf die bewegten Augenblicke folgt. Diese Lyrik spricht nur
vom AUertiefsten, von dem was sich minütlich verändert. Sie
könnte nicht im Konzertsaal erklingen, weil sie zu intim ist, weü
sie sich nur an Einen Menschen zugleich wendet. Ihre Stimmung
ist die einer schneeigen, manchmal vielleicht etwas starren Rein-
heit — man könnte sie präraphaeli tisch im florentinischen Sinne
nennen*). In dem vierten Band Gedichte „Der Teppich des Lebens
und die Lieder von Traum und Tod mit einem Vorspiel" stellt
George, wie de Musset, die Erinnerung an die Liebe höher als die
Liebe.

Auch der Engel, die Idealgestalt, welche George zeigt, wie er
werden soll, die ihn segnet, von der er nicht wieder läszt®), erin-
nert an de Mussets Poesie, an die Muse in „La Nuit d\'Août"®), „La
Nuit de Mai ", \') „La Nuit d\'Octobre"«) und an die Gestalt in „La Nuit

") Algabal, Seite 96. Bl. f. d. K., Seite 15.

\') Aufsätze über St. George und die jüngste dichterische Bewegung von A. Verwey
und L. van Deyssel. Übertragen von Fr. Gundolf, Seite 19.

«) Georg von Lukacs, Die Seele und die Formen, Seite 173. \') Seite 14.
») De Musset, Œuvres complètes, Seite 331. \') Seite 324. 8) geite 336.

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deDécembre"^), von welcher der Dichter sagt „quimeressemblait
comme un frère". Mit bewusztem Willen läszt George, seitdem der
Engel ihm erschienen, alles was die Welt bietet, hinter sich zu-
rück, sein Weg führt zur geistigen Einsamkeit, zu immer höherer
Vollkommenheit. In seinen Gedichten weicht das Menschliche
zurück, und tritt die Sittlichkeit in den Vordergrund. Gundolf
nennt „Der siebente Ring" und „Der Stern des Bundes" heilige
Bücher®).

Den Kern des siebenten Ringes bildet „Das Buch Maximin".
Maximin ist der Name eines jungen, reich begabten, früh ver-
storbenen Dichters, in dem George sein geistiges Ideal verkörpert
fand und den er als das Symbol des Göttlichen schaute:

Dem bist du Kind, dem Freund.

Ich seh in dir den Gott

Den schauernd ich erkannt

Dem meine Andacht gilt®).

Nach dem Tod des Freundes sagt der Dichter:

Der Tag ohne dich ist die Sünde

Der Tod um dich ist die Ehre«).

Nachdem auch dieses irdische Band gelöst ist, wird George
ganz zum Führer, zum Priester. In „Der Stern des Bundes" zeigt
er sich als das grosze, hervorragende Individuum, das die roman-
tische Ich-Philosophie in ihrer äuszersten Konsequenz durchge-
führt und auf sich bezogen hat, er ist der Mensch, der in seiner
Isolierung sich selbst die Welt bedeutet, der Mensch auf dem
Wege, Gott zu werden®).

Wir wären du, wenn wir dich ganz erfaszt®).

Der Dichter-Priester ist zum Priester-Dichter, die künstlerisch
gestaltete Schönheit zur künstlerisch gestalteten Ethik geworden.

Da die Bestrebungen der Neuromantik sich an Georges Werk

») Seite 328. «) Gundolf, George, Seite 208. ») Der siebente Ring, Seite 96.
«) Seite 102. Der Stern des Bundes, 4. Auflage, Seite 15. «) Seite 98.

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am deutlichsten darlegen lassen, ist es für das Verständnis dieser
Strömung nicht nötig, näher auf die Dichter einzugehen, deren
Poesie in den „Blätter für die Kunst" Aufnahme fand. Nur Leo-
pold Andrians Werk wird flüchtig berührt, weil seine Poesie der
des zweiten groszen Dichters der Neuromantik, dem Werk Hugo
von Hofmannsthals, vor allen andern verwandt ist.

Alles was wir von Andrian besitzen, ist in ein paar Bändchen
enthalten. Von dér Tiefe seines Talentes zeugen seine Gleichnisse,
die manchmal von ergreifender Schönheit sind^).

Der Bildungsroman der Frühromantik erlebt bei diesem Dichter
noch einmal eine Auferstehung. Der Fragment gebliebene Ro-
man „Der Garten der Erkenntnis, das Fest der Jugend" geht aus
der französischen Dekadenz hervor und erinnert zugleicherzeit
an „Heinrich von Ofterdingen".

Wie in diesem Roman sind auch in Andrians Werk alle Begeg-
nungen voll Bedeutsamkeit, voll Symbolik, wie für Novalis ist
auch für diesen neuromantischen Dichter Fühlen mehr als Wissen.

Andrian gestaltet in seinem Roman die Erkenntnis von der
Einheit alles Seienden.

Der junge, künstlerisch veranlagte Aristokrat Erwin sucht mit
groszer Sehnsucht nach der Erkenntnis des Lebens, er sucht mit
krankhafter Empfänglichkeit®), in groszer Seeleneinsamkeit®)
das Andre, bis ihm deutlich wird, dasz es kein „Andres" gibt, dasz
er selbst die Welt ist. Die Hoffnung, dasz ihm aus dem Büdnis der
Welt sein Bildnis entgegenschauen würde®) — Ego Narzissus
lautet die Überschrift über dem Roman — wurde nicht erfüllt, die
tiefere Erkenntnis, die er durch Studium erreichen wollte, blieb
ihm versagt, während des Studiums nahm die Dürre seiner Seele
zu, er starb, ohne erkannt zu haben.

George liebt an diesem österreichischen Fürsten „die schwanke
Schönheit Grabes-Müder"\').

\') Vor allen andern das Gleichnis von der halb verwelkten Gardenie im Sonett,
Seite 76 in der 4. Auflage des Festes der Jugend.

2) Seite 47. ») Seite 32, 41, 48, 49. *) Seite 54. \') Seite 54, 55. \') Seite 57.
Lieder von Traum und Tod, 10. Auflage, Seite 79.

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ACHTES KAPITEL

HUGO VON HOFMANNSTHAL

Wie grosz auch der Abstand zwischen Hofmannsthals und
Georges Dichtercharakter sein mag, so ist doch zumal in ihren Ju-
gendwerken ein gemeinsamer Zug unverkennbar: als vollkomme-
ne Formbeherrscher gestalten die beiden jungen Dichter eine ver-
innerlichte geistige Kunst der Schönheit, Wie George ist auch
Hofmannsthal bei den französischen Dichtern der Neuromantik
in die Schule gegangen, wie der ältere, so hat auch der jüngere
Dichter die Schönheit der verwandten englischen Literatur auf
sich einwirken lassen. Schon in seinen ersten Gedichten erregt der
junge Österreicher durch einen vollkommenen Einklang von Form
und Inhalt, durch Metrum und Reim, durch mit feinem Verständ-
nis angewendete Alliteration, durch Wiederholung desselben Vo-
kals und Unterbrechung einer Vokalreihe, durch die magische
Kraft des Wortes eine Stimmung, die uns zum Erlebnis der Seele
wird!).

Vergleicht man z. B. das Gedicht „Vorfrühling"®) mit Shel-
leys „Ode to the Westwind", mit Morris\' „The Wind" und mit Ver-
haerens„LeVent", so zeigt sich, worin diePoesiedes deutschenNeu-
romantikers von den genannten Dichtungen abweicht. Das Ge-
dicht enthält keinen philosophischen Gedanken wie Shelleys „Ode",
im Gegensatz zu Morris\' Dichtung fehlt alles Epische, auch ver-
schmäht es der Dichter der „Blätter für die Kunst" mit starken Mit-
teln das Geheimnisvolle heraufzubeschwören, es wird nur ange-
deutet, dasz „seltsame Dinge" in dem Wehen des Windes sind.
Weiter wäre es dem verfeinerten Talent des jungen Ästheten un-
möglich, die Lebenskraft zu gestalten, die aus der Poesie des flä-
mischen Dichters spricht; seine aristokratische Kunst suggeriert

») H. von Hofmannsthal, Prosa 1,1920, Seite 102.

») Ged.undKl. Dramen, 1922, Seite 4.

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die weiche Stimmung der Landschaft, durch die der Frühlings-
wind an Menschenleid und Menschenglück vorübergefahren ist.
worin er Akazienblüten gebrochen und den Duft ferner Gegen-
den hineingetragen hat. Über die Poesie der angeführten Dich-
ter hinaus ist das Gedicht „Vorfrühling", ist Hofmannschals
ganzes Jugendwerk, wie die Poesie der ersten Gedichtbände
Georges, durch Schönheit geweihte Stimmungslyrik.

Wie George hat sich auch Hofmannsthal über den hohen Wert
der Form ausgesprochen

Lord Chandos^) spielt wohl auf ein Erlebnis des Dichters an,
wenn er sagt:

„Und bin ich \'s wiederum, der mit dreiundzwanzig unter den
steinernen I.auben des groszen Platzes von Venedig in sich jenes
Gefüge lateinischer Perioden fand, dessen geistiger Grundrisz und
Aufbau ihn im Inneren mehr entzückte als die aus dem Meer auf-
tauchenden Bauten des Palladio und Sansovin" ?

Der Dichter in „Das Kleine Welttheater" charakterisiert eine
Dichtung als ein künstliches Gebild aus Worten®).

An dem sterbenden Tizian würdigt sein Schüler Desiderio vor
allem, dasz er „der Dinge Bändiger" gewesen sei®).

In der Dichtung „Der Tor und der Tod" rühmt Claudio an sei-
nen gemalten und gebildhauten Kunstschätzen, seinen Kröten, En-
geln, Greifen, Faunen vor allem die Form, die sie — wie den Fisch
das Netz — gefangen habe*).

Form und Inhalt bilden eine Einheit, es gibt kein getrenntes
Auszen und Innen. Diesen von George in den „Blätter für die
Kunst" betonten Grundsatz, die Überzeugung der neuromanti-
schen Dichter aller Länder, führt Hofmannsthal aus in der „Un-
terhaltung über die Schriften von Gottfried Keller". Dasz diese
Auffassung eines notwendigen innigsten Zusammenklangs von
Form und Inhalt nur schwer die ihr gebührende Beistimmung ge-
funden hat, davon zeugt die Stelle in dieser-in die Form eines Ge-
sprächs gekleideten Erörterung, wo Hofmannsthal den Maler auf
die Frage des Sekretärs: „Meinst du es äuszerlich oder in Bezug auf
das Innere der Figuren" ? „heftig" erwidern läszt: „Ich glaube, oder

>) Prosa I, Ein Brief, Seite 56.

Ged. und Kl. Dramen, Seite 60.
\') Ged. u. Kl. Dramen, Der Tod des Tirian, Seite 51.
\') Ged. u. Kl. Dramen, Seite 116.

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ich hoffe, darüber sind wir doch endlich hinaus, in der Kunst oder
ini Leben ein Äuszeres von einem Inneren scheiden zu wol-
len"!)./

Das gröszte Denkmal, das der Dichter der Form errichtet hat,
ist die Beschreibung der Mahlzeit, die dem Kaiser in dem Märchen
„Die Frau ohneSchatten\' \' von seinen noch ungeborenenKindem an-
geboten wird. Der Teppich, den das älteste Mädchen gewoben
hat,2) die Artund Weise, wie sie den Tisch mit Blumen schmückt®),
die Haltung der Kinder, diebeiTisch aufwarten, und die unbegreifli-
che Anmut aller ihrer Stellungen«), das Schauspiel, das die Reiter
vor dem Kaiser aufführen®), dies alles zeugt von einer Formvoll-
endung, welche eine natürliche Eigenschaft aller Äuszerungen die-
ser blosz ideellen Wesen ist. Die Einheit von Form und Inhalt in
dem Gewebe des Teppichs ist von dem Dichter noch besonders
hervorgehoben worden®).

Damit der Dichter diese höhere Formvollendung erreiche, soll
er „sich das Überflüssige abgewöhnen",„nach Knappheit ringen"\') ;
wie George verlangt auch Hofmannsthal von dem Dichter Kon-
zentration, von dem Gedicht Kürze.

Nicht nur George, auch Hofmannsthal zeigt als junger Dichter
eine nahe Gefühlsverwandtschaft mit Baudelaire, namentlich die
Beschreibung der Flagellanten®) und die Verherrlichung der Sün-
de®) in seinem ersten Drama „Gestern" sind von dem Dichter der
„Fleurs du Mal" inspiriert worden. Auch bei Hofmannsthal wird in
den späteren Werken diese Abhängigkeit immer geringer; nur
„Elektra" bildet von dieser Regel eine Ausnahme.

Auf Hofmannsthals erste dramatische Studie haben neben Bau-
delaire besonders die Frühromantiker, die Präraphaeliten und
d\'Annunzio eingewirkt^"). Durch diese literarische Verwandtschaft

Prosa II, Seite 30. \') Die Frau ohne Schatten, Seite 81, 84.

») Seite 92. «) Seite 89, 90. ») Seite 88. \') Seite 84.

\') Prosa II, Unterhaltungen über ein neues Buch, Seite 47 ff.

Kleine Dramen, Gestern, Seite 20, 40, 41.

») Seite 27, 28, 52.

In keinem späteren Werk Hofmannsthals lassen sich so viele literarische Re-
miniscenzen nachweisen. So ist die Verhöhnung des Gewissens auf Seite 13, 14 im
Geiste
Nietzsches: der Seite 22 betonte Gegensatz zwischen den Flagellanten und den sie
umringenden blassen, schönen Frauen eine Erinnerung an V. Hugo, mit dessen Spra-
che sich Hofmannsthal in seiner Dissertation beschäftigte; der Totenkopf in blumigen
Gewinden, Seite 22ist
Keats\' Isabella or the Pot of Basil entnommen; der Liebesschmerz
als Wonne der Erinnerung, vgl. Georges Jahr der Seele, ist gleichfalls ein Gefühl de
Mussets, dessen Vision „qui me ressemblait comme un frère" Hofmannsthal in der
Reitergeschichte (das Märchen der 672. Nacht und andere Erzählungen, Seite 64, 65)

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führt das Drama zu des Dichters späterer Poesie hinübei, es wird
darum, wie die Gedichte, weiter im Zusammenhang mit Hof-
mannsthals ganzem Werk betrachtet werden.

Es soll versucht werden, aus des Dichters Werken seine Gedan-
ken und Gefühle herauszulesen und seine Poesie mit den Dichtun-
gen verwandter Schriftsteller zu vergleichen. Dazu werden haupt-
sächlich die Jugendwerke, die Prosa und „Die Frau ohne Schatten"
berücksichtigt werden, die Umarbeitungen fremder Poesie werden
nur ausnahmsweise angeführt, des Dichters spätere Werke, die
Lustspiele, bleiben ganz auszer Betracht.

Wie der junge George Dichter-Priester ist, so könnte man den
jungen Hofmannsthal als Dichter-Mystiker bezeichnen. Als sol-
cher berührt er sich in weiterem Sinne als George mit Novalis und
Maeterlinck, und ist er einem französischen Neuromantiker wie
Rimbaud näher als dieser verwandt.

Wie für Novalis und Maeterlinck, ist auch für Hofmannsthal
das Herz der Schlüssel des Universums^). Mit ihnen, wie mit
Wolfskehl und Andrian teilt er die Bevorzugung des Fühlens
vor dem Wissen; Andrea spricht des Dichters eigne Ansicht aus,
wenn er sagt:

Ergründen macht Empfinden unerträglich
Und jedes wahre Fühlen ist unsäglich®).

Weiter verbindet die hohe Wertung des Kindes, des Künstlers
und des Traums, die wie die Wertschätzung des Fühlens vor dem
Wissen aus der hohen Würdigung des Unbewuszten im Menschen
hervorgeht, Hofmannsthals Poesie mit den Werken der beiden
Mystiker. Mit George berühren sich die drei Dichter, wie in der
Wertschätzung des Künstlers, in der hohen Bedeutung, welche
sie der Sittlichkeit und dem Symbol beilegen®).

vielleicht unabhängig von dem französischen Dichter und auf ganz andre Weise als
George in dem Vorspiel zu dem Teppich des Lebens gestaltet. Die Zeilen „Es gibt noch

stürme, die mich nie durchbebt! Noch Ungefühltes kann das Leben schenken____"

sind wohl als Gegensatz zu Mallarmés „La chair est triste, hélas! et j\'ai lu tous les li-
vres" empfunden.

\') H. v. Hofmannsthal, Prosa II, Seite 90. Prosa I, Seite 71.

Novalis, Heilbom II, 1, Seite 148rMinor III, Seite 57.

Gestern, Kleine Dramen I, Seite 13.

\') Über den Traum, sieh Seite 178 ; über die Sittlichkeit, Seite 172 ff.

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Eine Verherrlichung des Kindes ist das kleine Gedicht, das als
die Einleitung zu den „Gesammelte Gedichte und kleinere
Dramen", den Geist der Poesie des jungen Dichters verkörpert. Es
ist die poetische Gestaltung von Novalis\' Ausspruch: „Nicht alle
Kinder sind Kinder, ein Kind aber ist weit klüger als ein Erwach-
sener" i) und des Gedankens, den der Dichter in der Bespre-
chung des Buches von Peter Altenberg®) weiter ausführt: Nur
Künstler und Kinder sehen das Leben wie es ist. Dem Kinde ist
das Land der Schönheit offen®), die Welt ist ihm wie ein Mär-
chen:

Die Sonne mit heimlicher Kraft,
Sie formt dir die rosigen Füsze,
Ihr ewiges Land zu betreten®).

So wünscht auch der alte Mann in dem Gedicht „Des alten Man-
nes Sehnsucht nach dem Sommer"1) noch einmal wie ein Kind die
Natur genieszen zu können. Und in der eben erwähnten Bespre-
chung des Buches von Peter Altenberg wird die neue Romantik
gepriesen, weil eine sehnsüchtige Anbetung der kleinen Kinder
über ihre Kultur ausgegossen ist.

In auffallender Weise berühren sich die Früh- und die Neuroman-
tik in der Würdigung des Künstlers. Nicht nur kennt Hofmanns-
thal wie Novalis keine haarscharfe Absonderung des Dichters vom
Nicht-Dichter®), sondern beiden Strömungen ist der Künstler
Führer®), für beide steht der Künstler auf dem Menschen, wie die
Statue auf dem PiedestalP), ist der Dichter allwissend.

„Der Begriff Dichter ist in dieser Zeit zu viel von Bildungsgefüh-
len getragen, zu wenig von Intuition. Man wünscht sich diesen Be-
griff zu dephlegmatisieren, zu vivifizieren, wie die beiden schönen
Kunstworte des Novalis®) heiszen", sagt Hofmannsthal. Nachbei-

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der Ansicht steigt die gröszte Kraft des Dichters aus dem Unbe-
wuszten empor.

„Alles was in einer Sprache geschrieben wird, stammt von den
Dichtem. Nicht nur in Unterhaltungsbüchern, sondem auch in
wissenschaftlichen Büchern wird von der viellesenden Menge im-
mer der Dichter gesucht. Denn die Sehnsucht der
Vielen geht nach
den verknüpfenden Gefühlen, den Weltgefühlen, den Gedanken-
gefühlen. Sie suchen den Dichter und nennen ihn nicht\'\'^). Man
denkt an Novalis\' Ausspruch: „Die Poesie ist das echt absolut
Reelle, je poetischer, je wahrer"®).

Das Element der Poesie ist das SymboP).

Was ein Symbol ist, erklärt Hugo von Hofmannsthal, indem er
deutlich zu machen sucht, wie das Opfer entstanden ist, wie ein
Tier für den Menschen den symbolischen Opfertod sterben kann.
Diese Möglichkeit bemht auf dem festen Glauben, dasz das Da-
sein des Menschen sich für die Dauer eines Atemzugs in dem frem-
den Dasein aufgelöst hat1).

Auch ödipus fühlt diese Verzauberung®):

Auf dem Leib
Des Opfertiers lag ich, zuckend mit
Dem Zuckenden. Aus seiner Kehle troff
Das Blut. Ich mischte meinen Hauch damit.
Da fuhr die Seele mir aus meinem Leib

Und schwang sich auf dem Tier hinab zur Herrin Hekate«).

Nicht nur in ihrer Auffassung von Kunst und Poesie, auch in
ihrem Glauben an die Ähnlichkeit von Kunst und Wissenschaft in
ihrer Vollendung berühren sich Hofmannsthal und NovaUs.

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Beider Ansicht ist es, dasz wie den Künsten ein Streben inne-
wohnt, reine Kunst zu werden, m.a.W. wie sie danach streben, Mu-
sik zu werden, die Wissenschaften sich zur Mathematik emporläu-
tern wollen^).

Hofmannsthals Gleichnis „Herrlich wie Musik und Algebra"®)
gemahnt an Novalis\' Ausspruch: „Musik hat viel Ähnlichkeit mit
der Algeber"®) und an seinen begeisterten Ausruf: „das höchste
Leben ist Mathematik, reine Mathematik ist Religion"«).

Auch in der Weise, wie Hofmannsthal als Dichter die Welt auf
sich einwirken läszt, läszt sich Ähnlichkeit mit einem von Novalis
ausgesprochenen Gedanken feststellen®). Er vergleicht den Dich-
ter mit einem Seismographen, den jedes Beben, und wäre es auf
Tausende von Meilen, in Vibrationen versetzt«). „Der Dichter lei-
det an allen Dingen und indem er an ihnen leidet, genieszt er sie.
Er leidet sie so sehr zu fühlen. Und er leidet an dem einzelnen,
so sehr als an der Masse, er leidet ihre Einzelheit und leidet ihren
Zusammenhang, das Hohe und das Wertlose, das Sublime und
das Gemeine, er leidet ihre Zustände und ihre Gedanken; ja
blosze Gedankendinge, Phantome, die wesentlichen Ausgeburten
der Zeit, leidet er, als wären sie Menschen. Denn ihm sind Men-
schen und Dinge und Gedanken und Träume völlig eins: er kennt
nur Erscheinungen, die vor ihm auftauchen und an denen er leidet
und leidend sich beglückt"\').

Der erste Teil dieser Anschauung findet sich, dichterisch ge-
staltet, in dem „Vorspiel zur Antigone des Sophokles"

Nichts bleibt mir verborgen®).

Wie hast du mir die Poren aufgetan ?

Was für ein sehendes Geschöpf gemacht

Aus mir®).

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Aus den Geschöpfen tritt ihr tiefstes Wesen
Heraus und kreiset funkelnd um mich her^).

die Zeit versank, von den Abgründen
Des Lebens sind die Schleier weggezogen®).

Der zweite Teil ist in der Schluszzeile der dritten „Terzine über
die Vergänglichkeit\'\' enthalten:

Und drei sind Eins, ein Mensch, ein Ding, ein Traum®).

In dieser leidenden Empfänglichkeit erinnert H. v. Hofmanns-
thal an Keats*). Auch Rimbauds „materieller Mystik" ist seine
Passivität verwandt. Der Dichter, für den ein Mensch, ein Ding,
ein Traum Eins sind, schaut unbewuszt das Sinnliche geistig und
das Geistige sinnlich, er nähert sich Novalis\' Begriff des magischen
Idealisten, dem auf Erden unerreichbaren Künstlerideal.

Der Dichter sieht und fühlt, sein Erkennen hat die Betonung
des Fühlens, sein Fühlen die Scharfsichtigkeit des Erkennens.®)
Er ist der Mensch mit den scharfen Sinnen, worauf auch Novalis
so groszen Wert legte«); niemals aber hätte die Frühromantik
das Fühlen durch eine Eigenschaft des Erkennens zu heben ge-
sucht.

In dem Dichter ist die Gegenwart in einer unbeschreiblichen
Weise durchwoben mit der Vergangenheit: in den Poren seines
Lebens spürt er das Herübergelebte von vergangenen Tagen, von
fernen, nie gekannten Vätern und Urvätern, verschwundenen
Völkern, abgelebten Zeiten\').

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Dieses Gefühl kehrt in H. von Hofmannsthals Poesie immer wie-
der.

In der ersten „Terzine über die Vergänglichkeit"^) spricht er es
folgendermaszen aus:

Dann: dasz ich auch vor hundert Jahren war
Und meine Ahnen, die im Totenhemd,
Mit mir verwandt sind wie mein eignes Haar.
So eins mit mir als wie mein eignes Haar.

Eine Strophe des Gedichtes: „Manche freilich----"®) lautet:

Ganz vergessener Völker Müdigkeiten
Kann ich nicht abtun von meinen Lidern,
Noch weghalten von der erschrocknen Seele
Stummes Niederfallen ferner Sterne.

In dem „Vorspiel für ein Puppentheater" heiszt es®):

„Alle Besonderheiten und Geheimnisse meines Blutes rinnen zu-
sammen zu Gestalten und Figuren: die Urahnin schlägt in mir die
Augen auf wie ich selbst im Schosz ihrer Enkeltochter einst getan;
den Geizigen spür ich seinen Strumpf voll Gold in gierigen kalten
Fingern liebkosen und wilde Männer schieszen kriegerische Blicke
durch mich hin, wie Kometen ihre Blitze. Von ganz vergessenen
Leuten regt sich ein Bewusztsein und ein zorniger Wille, Fromme
sinken am Altar nieder, der Bauer zieht seine Furche, der Bürger
baut sein Haus, der Dieb schaut ihm mit gierigen Augen ins Fen-
ster, gute und böse Kinder wachsen auf wie Rittersporn und Bren-
nessel und Liebende teilen im Schatten meines Herzens ihr Herz
wie eine Frucht, und ich fühle den doppelten Schmerz und die
doppelte Lust von Mann und Weib".

Noch einmal hat Hofmannsthal dieses Gefühl der Abhängigkeit
von den Vorfahren gestaltet in
„ödipus und die Sphinx", ödipus
erzählt dem alten Diener Phönix, wie es ihm
zu Mute gewesen sei,
als er im Heiligtum zu Delphi auf den Orakelspruch der Priesterin
vorbereitet wurde*).

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ödipus. Mit meinen Vätern hauste meine

Schlaflose Seele.
Phönix. Wie, der Toten, die

Du nie gesehen hast, entsannst du dich ?
ödipus. Nein — sie entsannen sich des Enkels und
Durchzogen mich.

Es ist das Gefühl des Erben einer reichen Kultur, von der jede
Generation bewuszter lebt als die vorige^).
Auch Baudelaire spricht es aus:

J\'ai plus de souvenirs que si j\'avais mille ans®).

Je suis comme le roi d\'un pays pluvieux.

Riche mais impuissant, jeune et pourtant très vieux®).

Nicht nur mit der Vergangenheit, sondern auch mit dem was
nach ihm kommt, mit der Zukunft, fühlt sich der Mensch und na-
mentlich der Dichter unauflöslich verbunden.

Der Königin in „Das Bergwerk zu Falun" ist es, wenn sie einen
Menschen sieht,

als müszte an ihm
Noch hängen Ungewordnes und Verwestes,
Als wär er nie allein, wo er auch geht und steht*).

Sie stürbe vor Grauen, wenn sie leben müszte wie der Menschen
einer.

Schon in „Gestern" heiszt es:

Was einmal war, das lebt auch ewig fort!®)

Jokaste in „ödipus und die Sphinx" ruft aus:

Mich würde schauern bis ins Mark, zu denken, ,
Dasz ich die Mutter eines Menschen bin.

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Wehl Mutter von Dämonen! Schuld und Qual
Aufhäufend maszlos I^)

Auch in „Die Frau ohne Schatten" ist der Zusammenhang des
Seienden mit dem Künftigen gestaltet; nicht nur steht der Kaiser
in der schon erwähnten Mahlzeit seinen späteren Kindern gegen-
über, sondern auch die Kaiserin blickt in dem wichtigsten Au-
genblick ihres Lebens in die Augen Baraks, gespiegelt in der Mie-
ne seines ältesten Sohnes^).

Wie zwischen der Vergangenheit, dem Heute und der Zukunft
ein enges Band besteht, so beeinfluszt auch alles Irdische sich ge-
genseitig®).

Steigert sich dieser Zusammenhang und diese Beeinflussung, so
musz daraus in dazu veranlagten Wesen das Vermögen entstehen,
sich nach Belieben in eine andre Gestalt zu verwandeln.

Sterbhchkeit und Wandelbarkeit ist grade ein Vorzug höherer
Naturen»), sagt Novahs. Auszer dem Künstler, der sich zu aUem
macht, was er sieht und sein will«), besitzt der Mensch die
Gabe der Verwandlung nur im Traum®); es liegt aber nur an
der Schwäche unsrer Organe und der Selbstberührung, dasz
wir uns in der Wirklichkeit nicht auch in einer Feenwelt
erblicken®).

In „Heinrich von Ofterdingen" hat Novalis das Motiv der Ver-
wandlung dichterisch verwertet; es büdet einen der vielen Be-
rührungspunkte zwischen dieser Dichtung und Hofmannsthals
Märchen „Die Frau ohne Schatten" Auch in letzterem Werk
kehrt es zu wiederholten Malen wieder. Die Kaiserin hat von ih-
rem Vater, dem Fürsten des Geisterreichs, als Gescherik das Ver-
mögen bekommen, sich zu verwandeln, als Reh ist sie ihrem Gat-
ten in die Hände gefallen.

Zugleich mit einem Talisman hat sie aber diese beglückende

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Fähigkeit verloren^); es scheint dem Kaiser, dasz die Gestalten
der Kinder in der Felsenhöhle in einander hinüberflieszen®); der
rote Falke und der Küchenmeister sind dasselbe Wesen®); der
Kaiser verwandelt sich in eine Statue«) und aus dieser wieder in
einen Menschen®); der Färber und die Färberin treten nach ihrer
sittlichen Erhebung als Knabe und Mädchen auf«); die Brüder
des Färbers erscheinen am Ende des Märchens aufs neue in andrer
Gestalt\'). Als Höchstes wird die Verwandlungskraft des Wassers
des Lebens gepriesen, weü es selbst das Unsichtbare verwandelt®).

Auf Hofmannsthal wirkt nicht nur die beliebige Verwandlung
der Märchengestalten, sondern auch die körperliche und nament-
lich die geistige Entwickelung des Kindes zum Menschen fast wie
ein Wunder.

In dem Gedicht „Erlebnis" sieht er sich selber

Ein Kind am Ufer stehn mit Kindesaugen®).

Deutlicher spricht er in der ersten „Terzine über die Vergäng-
lichkeit"^®) sein Staunen aus:

Und dasz mein eignes Ich, durch nichts gehemmt.

Herüberglitt aus einem kleinen Kind,

Mir wie ein Hund unheimlich stumm und fremd.

Im Gegensatz zu dieser tiefen, bedeutenden Verwandlung steht
der Stimmungswechsel Andreas, der Hauptperson aus dem
Drama„Gestem\' \',der sich als Sklave seiner Stimmung j eden Augen-
blick einen anderen glaubt^^).

Meister in der wunderbaren göttlichen. Kunst der Verwand-
lungi®) sind die Schauspieler, sie erfreuen sich als Künstler der
besonderen Liebe des Dichters.

So heiszt es von dem verstorbenen Schauspieler Mitterwurzer:

Er kroch von einer Larve in die andre.

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Sprang aus des Vaters in des Sohnes Leib
Und tauschte wie Gewänder die Gestalten^),

Und von dem Schauspieler Hermann Müller sagt Hofmanns-
thal in groszer Bewunderung:

Sein Leib war so begabt.
Sich zu verwandeln, dasz es schien, kein Netz
Vermöchte ihn zu fangen®)!

Er schuf sich um®).

Joseph Kainz erscheint dem Dichter als

Ein Un verwandelt er in viel Verwandlungen,
Ein niebezauberter Bezauberer,
Ein Ungerührter, der uns rührte, einer,
Der fern war, da wir meinten, er sei nah,
Ein Fremdling über allen Fremdlingen,
Einsamer über allen Einsamen,
Der Bote aller Boten, namenlos
Und Bote eines namenlosen Herrn*).

Auch an Dichtern lobt Hofmannsthal den Sinn für das Schau-
spiel. Von Peter Altenberg sagt er als höchstes Lob®): „Eine drei-
fältige Macht scheint diesen Dichter erzogen zu haben.

a) Eine künstlerische Kultur: Menschen, die ihre Beziehungen
so wie Landschaften genieszen und ihre Vergangenheiten wie
Gärten und ihre Geschicke wie Schauspiele.

c) eine Uterarische Kultur: Menschen, die es lieben zu reden,
Menschen, Künstler, denen das Schauspiel viel bedeutet. Es ist et-
was tief Schauspielerisches in dem Buch: in den kleinen Geschich-
ten stehen oft Menschen gegen Menschen wie in einer Rolle, ja der
Dichter gegen das Leben so: er spielt sich selbst und dann und
wann spielen seine Geschöpfe sich selbst. Die Namen sehr groszer

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Schauspieler gehören zu den bunten Gewändern der Götter, mit
denen dieser Lebensgarten höchst künstlich umhängt ist".

Hofmannsthal selbst geht noch einen Schritt weiter: Wie No-
valis sieht auch er in dem Leben nur noch ein SchauspieP).

Diese Lebensauffassung spricht er aus im „Prolog zudem Buch
Anatol".

Eine Laube statt der Bühne,
Sommersonne statt der Lampen,
Also spielen wir Theater,
Spielen unsre eignen Stücke,
Frühgereift und zart und traurig.
Die Komödie unsrer Seele,
Unsres Fühlens Heut und Gestern,
Böser Dinge hübsche Formel,
Glatte Worte, bunte Bilder,
Halbes, heimliches Empfinden,
Agonieen, Episoden----

In dem Gedicht „Zu Einem Buch ähnlicher Art" gesteht der
Dichter:

Wir haben aus dem Leben, das wir leben.
Ein Spiel gemacht.

Ward je ein so verworrnes Spiel gespielt?
Es stiehlt uns von uns selbst und ist nicht lieblich
Wie Tanzen oder auf dem Wasser Singen,
Und doch ist es das reichste an Verführung
Von allen Spielen, die wir.Kinder wissen.
Wir Kinder dieser sonderbaren Zeit®).

Nur auf diese Weise ist es möglich, das Leben zu ertragen:

Es tragen die Geliebtesten der Menschen

Vor dir ein maskenhaft Gesicht:

Ein menschlich Aug erträgt nichts Wirkliches«).

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Den aus dieser Lebensauffassung hervorgehenden Pessimis-
nius spricht der Dichter aus in der „Ballade des äuszeren Le-
bens":

Was frommt das alles uns und diese Spiele,
Die wir doch grosz und ewig einsam sind
Und wandernd nimmer suchen irgend Ziele

Zu Hofniannsthals groszer Liebe zu dem Schauspieler und sei-
ner Kunst scheint folgender Ausspruch einen Gegensatz zu bilden:
„Ich liebe das Theater nicht. Es verdirbt mirzu oft meine Träume.
Freilich ist es wahr, dasz alle meine Träume beständig ums Thea-
ter herumflattern: das ist nun einmal das kleine Paradoxon mei-
nes Daseins"®).

Dieser scheinbare Widerspruch klärt sich auf, wenn wir des
Dichters eigne Dramen näher betrachten. Sie sind nicht, wie die
Dramen Shakespeares, aui dem Herzen der Schauspielkunst her-
aus®), nicht für diejenigen geschrieben, die eine Bühne in sich
tragen«). Hugo von Hofmannsthal ist nicht ein an erster Stelle
dramatischer, sondern ein vorwiegend lyrischer Dichter, der
durch seine Liebe zum Schauspiel dazu veranlaszt wird, für seine
Lyrik häufig die dramatische Form zu wählen.

Obgleich diesen lyrischen Dramen die zur Bühnenwirksamkeit
erforderliche Handlung fehlt, sind sie als Schaustücke bei einer
Aufführung nicht ohne Erfolg.

Sie berühren das Auge wie ein Gemälde oder zaubern die Um-
gebung eines Künstlers hervor. Hofmannsthal verwirklicht in sei-
nen dramatischen Dichtungen das Ideal der Frühromantiker, der
Präraphaeliten, der Symbolisten; als Synthese mehrerer Künste
sind seine Dramen dem Werk Richard Wagners und d\'Annunzios
dramatischen Dichtungen verwandt®).

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Schon die dramatische Studie „Gestern", die „zur Zeit der gro-
szen Maler"!) spielt, wül durch die Ausstattung des Gartensaals
im Hause Andreas®) wie ein Bild aus der Spätrenaissance wirken.
Die „Idylle nach einem antiken Vasenbüd" ist nicht nur durch
dieses Bild inspiriert, sondern verlangt auszerdem einen Schau-
platz im Böcklinschen StiP).

Das Studierzimmer Claudios1) in „Der Tor und der Tod" fes-
selt das Auge durch Glaskasten mit Altertümern, durch alter-
tümliche Musikinstrumente, eine gotische dunkle, geschnitzte
Truhe und ein Büd eines italienischen Meisters.

In „Der Tod des Tizian" muten die drei Mädchen®) und der
Page®) wie Büder aus alter Zeit an; in „Elektra" wirken die Kö-
nigin Klytämnestra und ihre beiden Begleiterinnen durch die
scharlachrote, dunkel violette tmd gelbe Farbe ihrer Gewänder\').

Trotz ihrer Vorzüge als Schaustücke gewähren Hofmannsthals
Dramen im Theater nicht den höchsten Genusz. Die gröszte Freu-
de schenken sie, wenn ihre Sprachmusik nicht ununterbrochen
weiterklingt, sondern wir bald an dieser, bald an jener Stelle
verweüen und die Schönheit des "Wohllauts genieszen können.
Wie Georges Lyrik, vertont, nicht im Konzertsaal erklingen könn-
te, eignet sich auch die intime Lyrik der dramatischen Dichtun-
gen Hofmannsthals, besser als zu einer Aufführung im Theater, zu
einer Lektüre „sous la lampe".

Daraus, dasz Hofmannsthal wie Rossetti und einige von den
symbolistischen Dichtern Ästhet und Mystiker zugleicherzeit ist,
geht hervor, dasz er sich nicht an erster Stelle durch ein tiefes, re-
ligiöses Fühlen mit der Ewigkeit berührt. Auch nicht durch die
Liebe wird ihm der mystische Aufschwung ermöglicht, verge-
bens sucht man in seiner Poesie sowohl das aus Sinnlichkeit und
Religion gemischte Liebesgefühl Novalis\', wie die ganz oder zum
Teü vergeistigte Liebe, wodurch die späteren Minnesänger und
die gleichzeitig lebenden Dichter des dolce stil nuovo, wodurch

1 „Lassen Sie mich Ihnen sagen, dasz die Charaktere im Drama nichts anderes sind als
kontrapunktische Notwendigkeiten. Die Katastrophe als symphonischer Aufbau, das
ist die Sache des Dramatikers, der mit dem Musiker so nahe verwandt ist". Prosa
II, Seite 171).

») Kleine Dramen I, Seite 6. «) Seite 7. \') Ged. und Kl. Dramen, Seite 34.
\') Ged. und Kl. Dramen, Seite 112. ») Seite 53. •) Seite 41.
\') Elektra, 5. Auflage, Seite 25.

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Dante und Petrarca, später auch Michelangelo, sich zur Mystik
erhoben. Nur einmal findet sich in Hofmannsthals Dichtung ein an
die Poesie der italienischen Dichter erinnerndes Gefühl, nämlich
in dem Gedicht: „Dein Antlitz".

Dein Antlitz war mit Träumen ganz beladen.
Ich schwieg und sah dich an mit stummem Beben.
Wie stieg das auf! Dasz ich mich einmal schon
In frühern Nächten völlig hingegeben

Dem Mond und dem zuviel geliebten Tal.

Denn allen diesen Dingen
Und ihrer Schönheit — die unfruchtbar war —
Hingab ich mich in groszer Sehnsucht ganz.
Wie jetzt für das Anschaun von deinem Haar
Und zwischen deinen Lidern diesen Glanz I^)

Die Mystik Hofmannsthals entspringt einerseits dem Gefühl
für die Schönheit aller Künste, andrerseits der Naturbetrachtung
und der Erkenntnis des Zusammenhangs alles Seienden.

Als Dichter kennt Hofmannsthal, wie Novalis, die Ekstase des
Schaffens. Novalis zielt wohl durch die Worte „Glaube an echte
Offenbarungen des Geistes"®) auf den Zustand der Verzückung
hin, Hofmannsthal äuszert sich ausführlicher darüber: „In den
höchsten Augenblicken des Schaffens, dieser unmenschlichen
Herrlichkeit, braucht der Dichter nur zusammenzustellen; was er
neben einander stellt, wird harmonisch"®).

Weder Novalis noch Hofmannsthal kennen die Mystik des
Schaffens als ein so tiefes, alles Irdische auflösendes Erlebnis wie
der englische Dichter Blake, der von dem Entstehen seines „Mil-
ton" sagt.

„I have written this poem from immediate direction, twelve or
sometimes twenty or thirty lines at a time, without pre-meditation

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and even against my will. The time it has taken in writing was
thus rendered non-existent, and an immense poem exists which
seems to be the labour of a long life, all produced without labour
or study"!).

Wie aber eine haarscharfe Absonderung des Dichters vom Nicht-
Dichter unmöglich ist®), so kann auch letzterer sich durch die
Schönheit der Kunst zur Mystik erheben, und zwar durch dasje-
nige, was er mit dem mit schöpferischer Phantasie Begabten
teilt und was auch ihn zum Künstler macht: durch eine tiefe
Verinnerlichung, ein sehr starkes Fühlen.

Die ästhetische Verzückung des nachschaffenden Künstlers
charakterisiert Hofmannsthal im Geiste Keats\'®) als ein zucken-
des Ahnen, flüchtigste Intuition, ein raumloses, zeitloses „Ich
hab\'s gefühlt"«).

Sie wird dem Menschen nur gewährt in seltenen Stunden, die
ein Erlebnis sind, und nicht gewollt werden können®), sie ist eine
zerrüttende und stumme innere Orgie«). Diese Augenblicke des
höchsten Genieszens sind, wie die des höchsten Schaffens, religiöse
Erlebnisse\'), der Lesende liest nichts, woran er nicht glaubt —
das Glauben gefaszt in seiner vollen, religiösen Bedeutung, als ein
Fürwahrhalten über allen Schein der Wirklichkeit, ein Ergreifen
und Ergriffensein in tiefster Seele, ein Ausruhen im Wirbel des
Daseins®). In diesen Augenbhcken der Gnade ist die Poesie „une
des entrées du ciel"®) und wird der Dichter zum Priester^«).

Als neuromantischer Dichter ist sich Hofmannsthal tief der
mystischen Kraft bewuszt, die dem Worte innewohnt. Dieses
Gefühl spricht er aus in dem „Brief des Lord Chandos an seinen
älteren Freund Francis Bacon"").

Dem jungen englischen Edelmann ist die Fähigkeit abhanden
gekommen, die Worte mit dem vereinfachenden Blick der Ge-
wohnheit zu fassen, sie schwimmen um ihn herum, sie gerinnen zu
Augen, die ihn anstarren und die er wieder anstarren musz, Wir-
bel sind sie, in die hinabzusinken ihm schwindelt, die sich unauf-

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haltsam drehen und durch die hindurch man ins Leere kommt^).

Es ist das Gefühl der Unzulänglichkeit des Wortes, das auch
Maeterlinck kennt®), es ist, wie die Sobeide es ausdrückt®)

Alle diese Dinge
Sind anders, und die Worte die wir brauchen.
Sind wieder anders.

Das Wort ist aber auch der Träger der Schönheit, nach Nova-
lis\' Ausspruch die äuszere Offenbarung des inneren Kraftreichs,
des Gemüts«). So sagt Andrea:

Grad wie wenn Worte, die wir täglich sprechen.
In unsre Seele plötzlich leuchtend brechen.
Wenn sich von ihnen das Gemeine hebt
Und dasz ihr Sinn lebendig, ganz erwacht®).

Das Wort ist Symbol des Weltgeheimnisses:

In unsern Worten Hegt es drin.
So tritt des Bettlers Fusz den Kies,
Der eines Edelsteins Verliesz®).

So ist auch die Sprache der Worte das Symbol einer höheren
Sprache, die schöner ist als die irdische.

In diesem Sinne sagt der Dichter von Grillparzers Drama „Des
Meeres und der Liebe Wellen"\'):

„Spreche es zu Fremden die deutsche Sprache mit geliebtem
Mund, zu uns spricht es eine wortlose Sprache, die noch darüber
ist".

Fände Lord Chandos diese mystische Sprache, in welcher nicht
nur zu schreiben, sondern auch zu denken ihm vielleicht gegeben
wäre, die Sprache, von deren Worten ihm auch nicht eins be-

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kannt, in welcher aber die stummen Dinge zu ihm sprechen und
in welcher er vielleicht einst im Grabe vor einem unbekannten
Richter sich wird verantworten müssen, so wäre es in seine Ge-
walt gegeben, blosz durch die Kraft seiner Worte, die Cherubim
vom Himmel niederzuzwingen®).

Nicht nur der Dichter, auch der Schauspieler besitzt die Gabe,
den künstlerisch veranlagten Menschen über sich selbst zu erhe-
ben. Dieser Gedanke ist schon in den vorhin angeführten „Verse
zum Gedächtnis des Schauspielers Joseph Kainz" enthalten\').
Dasselbe wird noch einmal im „Prolog zur Lysistrata des Aristo-
phanes" ausgesprochen, wo der Dichter von den Schauspielern
sagt, dasz sie an ihrem lebendigen Leib das Instrument hätten,
Weltenfemen aufzusperren1). Am Schlusz dieses Prologs wird der
Tanz verherrlicht®). Die Mystik des Tanzes ist in dem Dialog
„Furcht" gestaltet®); in den gespannten Zügen der Tänzerin
Laidion ist nach dem Tanze etwas Ewiges, ihr Gesicht ist dem
einer Gottheit ähnlich\').

Für Hofmannsthal ist wie für Novalis Musik die am meisten be-
glückende Kunst®). Die Zeilen, aus welchen sich des Dichters hohe
Würdigung der Tonkunst schlieszen läszt, sind von einem solchen
Wohllaut, dasz sie an glückspendender Kraft der Musik nahe
kommen. Sie enthalten die Worte, welche Tizianello, des groszen
Malers Tizian Sohn, an die eben eingetretenen Mädchen richtet:

Und dasz wir eures Haares Duft und Schein
Und eurer Formen mattes Elfenbein
Und goldne Gürtel, die euch weich umwinden.
So wie Musik und wie ein Glück empfinden —
Das macht: Er lehrte uns die Dinge sehen.... ®)

Eine Verherrlichung der Musik und der Liebe ist das Drama
„Der Abenteurer und die Sängerin"^"). Der Abenteurer, ein zwei-

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ter Casanova, sucht immerfort neues Liebesglück, während die
Sängerin durch die Liebe zu dem sittlich tief unter üir stehenden
Manne zur immer gröszeren Künstlerin heranreift^). In ihrer wei-
ten Lebensauffassung erkennt sie das Göttliche auch in der Seele
des, trotz seines Leichtsinns, immer geliebten Mannes:

Bin ich nicht die Musik, die er erschuf.
Ich und mein Kind? Ist Feuer nicht in uns.
Was Feuer einst in seiner Seele war?
Was gilt das Scheit, daran es sich entzündet:
Die Flamme ist dem höchsten Gott verbündet®).

Und so vergöttlicht Hofmannsthal, im Geiste der Frühroman-
tik, mit denselben Worten die Liebe und die Musik.

Deutlicher als in diesem Drama hat Hofmannsthal die mysti-
sche Kraft der Musik im „Vorspiel zur Antigene" hervorge-
hoben :

Denn dem Hauch des Göttlichen
Hält unser Leib nicht stand, und unser Denken
Schmilzt hin und wird Musik®).

Noch einmal deutet der Dichter auf den mystischen Wert der
Musik hin in der Einleitung zu Grillparzers Drama „Des Meeres
und der Liebe Wellen", wo er von „dem groszen Dichter von Ös-
terreich, dem Halbbruder Mozarts" sagt: „Ihm allein war der
Schlüssel gegeben, den nur der Musiker besitzt, der mit der Un-
mittelbarkeit
des Fühlens die Tür ins Namenlose aufschlieszt"1).

Die Berührung mit der Ewigkeit durch die Kunst des Malers
hat Hofmannsthal gestaltet in „Die Farben. Aus den Briefen
des
Zurückgekehrten", wo er erzählt, wie das Schauen der Farben in
den Gemälden Vincent vanGoghs den eben aus den Tropen zurück-
gekehrten jungen Mann über sich selbst erhebt®): „Wie kann ich
es dir nur zur Hälfte nahe bringen, wie mir diese Sprache in die
Seele redete, die mir die gigantische Rechtfertigung der seltsam-

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sten unauflösbarsten Zustände meines Inneren hinwarf, mich mit
eins begreifen machte, was ich in unerträglicher Dumpfheit zu
fühlen kaum ertragen konnte und was ich doch, wie sehr fühlte
ich das, aus mir nicht mehr herausreiszen konnte — und hier gab
eine unbekannte Seele von unfaszbarer Stärke mir Antwort, mit
einer Welt mir Antwort"!

Ihm sind die Farben eine Sprache, in der das Wortlose, das E-
wige, das Ungeheuere sich hergibt, eine Sprache erhabener als die
Töne, weil sie wie eine Ewigkeitsflamme unmittelbar hervorschlägt
aus dem stummen Dasein und uns die Seele erneuert. Ihm ist
Musik neben diesen wie das liebliche Leben des Mondes neben dem
furchtbaren Leben der Sonne^).

Diegötthche Kraft, die in den Statuen der Griechen schlum-
mert, wirdin „Die Statuen" geschildert®). Während der Dichter in
einem kleinen Museum auf der Akropolis die da befindlichen
Statuen betrachtet, vollzieht sich in ihren Gesichtern ein völlig
unsägliches Lachen. Er sagt sich: „ich sehe dies nicht zum
ersten Mal, auf irgend welche Weise, in irgend welcher Welt
bin ich vor diesen gestanden, habe ich mit diesen irgend welche
Gemeinschaft gepflogen". Er fühlt sich nicht mehr als ein von
zeitlichen Bedingtheiten bestimmtes Wesen: die Hingenommen-
heit, an die er sich verloren hat ist dauerlos, und das, wovon
sie erfüllt ist, trägt sich auszerhalb der Zeit zu. In den zweideutig
lächelnden Larven fühlt er ein lauerndes Herüberblicken von drü-
ben®), es ist ihm, alsob die Statuen an Dingen teilnehmen, die über
jede gemeine Ahnung sind«). Dasjenige, was vor ihm ist, sein
Auge füllt, richtet ihn irgendwohin, ins Unendliche. Ob seine
Seele von den Statuen ihre Richtung empfängt, oder von etwas an-
derm, als dessen Boten sie ihn umstehen®) — für ihn sind die Mar-
morbilder in diesem Augenblick die Trägerinnen der Ewigkeit.
Während dieses höchsten, seligen Schauens löst sich alles Irdische
und wird der Mensch zur Gottheit®). Auch Hofmannsthal kennt
den bis zur Vergottung des Ich gesteigerten Ich-kultus der Symbo-
listen, Georges, d\'Annunzios.

Die Verzückung, die dem mit religiösem Gefühl Schauenden
durch die Schönheit der Natur zu teil werden kann, schildert Hof-

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mannsthal in der Erzählung des mystischen Erlebnisses Rama
Krishnas.

Der Büszer Rama Krishna, einBrahmane, wurde erst zum Hei-
ligen, als er einen Zug weiszer Reiher in groszer Höhe quer über
den Himmel gehen sah, und nichts als dies, nichts als das Weisz
der lebendigen Flügelschlagenden unter dem blauen Himmel,
nichts als diese zwei Farben gegen einander, dies ewige Unnennba-
re, drang in diesem Augenblick in seine Seele und löste, was ver-
bunden war, und verband, was gelöst war, dasz es zusammenfiel
wie tot, und alserwieder aufstand, war er nicht mehr derselbe, der
hingestürzt war^).

Auch der Bewunderer von Vincent van Goghs Gemälden hat
sich an einem grauen Sturm- und Regentage im Hafen von Bue-
nos Aires, durch den Anblick der Farben eines kleinen Schiffes
vom Hauch der Ewigkeit berührt gefühlt®).

Nicht nur durch die Farbenschönheit der Natur berührt sich
der Alensch mit der Ewigkeit, auch ganz Einfaches, eine Giesz-
kanne, eine auf dem Felde verlassene Egge, ein Hund in der Son-
ne, ein ärmlicher Kirchhof, ein Krüppel, ein kleines Bauernhaus
kann ihm zum Gefäsz der Offenbarung werden®). In Augenblik-
ken, die herbeizuführen nicht in des Menschen Gewalt steht,
kann es auch die bestimmte Vorstellung eines abwesenden Gegen-
standes sein, dem die unbegreifliche Auserwählung zu teil wird,
mit jener sanft und jäh steigenden Flut göttlichen Gefühls bis an
den Rand gefüllt zu werden«).

In dem „Brief an Francis Bacon" — dem obige, an Wordsworth
erinnernde Naturmystik entnommen ist — schildert Lord Chan-
dos, wie der Gedanke an den Todeskampf der in den Milchkellern
eines seiner Meierhöfe, infolge des ihnen gestreuten Giftes sterben-
den Ratten, in ihm ein ungeheures Anteilnehmen erregt habe, ein
Hinüberflieszcn in jene Geschöpfe oder ein Fühlen, dasz ein Flui-
dum des Lebens und Todes, des Träumens und Wachens für einen
Augenblick in sie hinübergeflossen sei.

Es ist dem Lord, wie den kleinen Mädchen, die

wissen, dasz das Leben jetzt aus ihren

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Schlaftrunknen Gliedern still hinüberflieszt
In Bäum und Gras....

Es ist ihnen zu Mute:

Wie eine(r) Heilige (n), die ihr Blut vergieszt

Das Gefühl der Unendlichkeit durchschauert in solchen Augen-
blicken den Menschen von den Wurzeln der Haare bis ins Mark
der Fersen; es ist ihm, als könnte er in ein neues ahnungsvolles
Verhältnis zum ganzen Dasein treten, wenn er anfinge mit dem
Herzen zu denken. Wieder ist es, alsob Novalis redete®).

Wie für Novalis und Maeterlinck, sind auch für Hofmannsthal
die Blumen Boten aus einer höheren Welt®).

„Mit jedem Frühjahr wird der grüne, geheimnisvolle Teppich der
Liebe erneuert, und seine seltsame Schrift ist nur dem Geliebten
lesbar, wie der Blumenstrausz des Orients, ewig wird er lesen, und
sich nicht satt lesen, und täglich neue Bedeutungen, neue entzük-
kende Offenbarungen der liebenden Natur gewahr werden. Die-
ser unendliche Genusz ist der geheime Reiz, den die Begehung der
Erdfläche für mich hat, indem eine jede Gegend andre Rätsel lö-
set, und mich immer mehr erraten läszt, woher der Weg komme
und wohin er gehe"1), sagt Sylvester zu Heinrich von Ofterdingen.

Ähnliches legt Hofmannsthal dem Gärtner in „Das kleine Welt-
theater" in den Mund; ein Groszes ist ihm widerfahren:

Dasz an den Blumen ich erkennen kann
Die wahren Wege aller Kreatur,
Von Schwach und Stark, von Üppig oder Kühn
Die wahre Art®).

Auch die Tiere sind für Hofmannsthal Symbole der Unendlich-
keit, man fühlt sie in seiner Poesie als beseelte Wesen, der Dichter ƒ
spricht von ihnen met der Wehmut des um ihre Leiden Wissenden.

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So singt der Schiffskoch, ein Gefangener:
1

Schöne purpurflossige Fische,
Die sie mir lebendig brachten,
Schauen aus gebrochenen Augen,
Sanfte Tiere musz ich schlachten,

Stille Tiere musz ich schlachten____i)

Die Kaiserin in „Die Frau ohne Schatten", die Tochter des
Geisterkönigs, findet Menschengesichter wild und häszlich, Tier-
gesichter dagegen redlich und schön®). Ein enthäutetes Lamm
blickt sie mit sanften Augen an®). Die Ausdrücksfähigkeit der Au-
gen der Gazelle und des roten Falken*) kommt, weil beide in Tier-
gestalt verwandelte höhere Wesen sind, in dieser Hinsicht nicht in
Betracht.

Es erübrigt noch, den Teil von Hofmannsthals mystischer Poe-
sie zu besprechen, wo die Mystik durch „Wissen" hervorgerufen
wird, durch die Erkenntnis von dem Zusammenhang alles Irdi-
schen, alles Seienden. In der Besprechung des Buches von Peter
Altenberg zielt der Dichter nur auf die gegenseitige Beeinflussung
von Menschen, Bäumen, Bergen hin®). Deutlicher aber ist dieser
Gedanke ausgesprochen in dem Gedicht „Der Jüngling in der
Landschaft":

Durch diese Landschaft ging er langsam hin
Und fühlte ihre Macht und wuszte — dasz
Auf ihn die Weltgeschicke sich bezogen«).

Auch das Gedicht „Manche freilich"----spricht denselben

Gedanken aus. Nachdem der Dichter ausgeführt hat, wie das Le-
ben vieler in den Niederungen verläuft, andern dagegen bei den
Sibyllen, den Königinnen, Stühle gerichtet sind, fährt er fort:

Doch ein Schatten fällt von jenen Leben
In die andern Leben hinüber,

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Und die leichten sind an die schweren.
Wie an Luft und Erde gebunden:

Viele Geschicke weben neben dem meinen.
Durch einander spielt sie alle das Dasein,
Und mein Teil ist mehr als dieses Lebens
Schlanke Flamme oder schmale Leier

An die Mystik des Franciscus von Assisi, an Schelling, an Nova-
lis, an Shelley erinnern die Worte des Dieners in „Das Kleine Welt-
theater":

Und vor ihm beginnt der brüderliche
Dumpfe Reigen der verschlungnen Kräfte
In der tiefsten Nacht mit glühndem Munde
Unter sich zu reden: Wunderliches,
Aus dem Herzblut eines Kindes quellend.
Findet Antwort in der Gegenrede
Eines Riesenblocks von dunkelm Porphyr®),

Auch der Wahnsinnige in derselben Dichtung fühlt auf diese
Weise:

Ich gleite bis ans Meer, gelagert sind die Mächte dort
Und kreisen dröhnend, Wasserfälle spiegeln
Den Schein ergosznen Feuers, jeder findet
Den Weg und rührt die andern alle an....

Auf den mystischen Zusammenhang des ganzen Universums
spielt der Dichter an in dem Wilhelm Dilthey gewidmeten Aufsatz
„In Memoriam"«): „Wie lebte nicht für diese Augen eine geistige
Welt, und Welten über Welten, Schuld über Schuld und eins im
andern gespiegelt und eins aus dem andern gezeugt und Verwand-
lung überall und Einheit überall".

Einen Geistesverwandten Dütheys erblickt Hofmannsthal in
dem Naturforscher Robert
Lieben, von dem er sagt

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„Das Innere seiner Sinne war lebendig, wie nur im schöpferischen
Künstler; man darf sagen, dasz sie sich zu einem umfassenden Le-
benssinn vereinigten. Durch diesen kommunizierte er tief mit der
Erscheinung und empfing in ihr das Universum. Er wuszte, dasz
es ihm in höchsten Augenbhcken von unmeszbarer Dauer gegeben
war, unendliche Gedanken zu denken. Er hatte sich mit dem Un-
endUchen berührt, in einer grenzenlos wandelbaren, aber unzer-
störbaren Realität sich selber gefunden." „Ich würde mich zu sa-
gen getrauen", fährt der Dichter fort, „Lieben habe sein Selbst
wahrgenommen auf einem unzerstörbaren Throne sitzend". So
führte auch diesen Menschen, der in der Gegenwart nur ein völlig
zufälliger Gast war^), die Mystik zur Vergottung des Ich und zur
Einsamkeit®).

Das Märchendrama „Das Bergwerk zu Falun" ist die dichteri-
sche Gestaltung der Erkenntnis von dem Zusammenhang alles
Seienden. Elis, die Hauptperson dieser Dichtung, vom Vater her
mystisch veranlagt«), ist auf das Gebot des verstorbenen Vaters
in die Heimat zurückgekehrt®).

Die Beschreibung seiner Jugend lautet wie ein Märchen:

Einen Fusztritt
Gab meinem Kahn der Vater, und die Mutter
Blies ihren letzten Atem in die Leinwand®).

In Gesellschaft von Menschen überkommt ihn das Gefühl der
Einsamkeit, ist er aber allein, so fühlt er sich von Geistern um-
geben\').

Die Worte der Königin des Geisterreichs erklären uns, warum
ihm der Eintritt in ihr Reich möglich wird:

Du sehntest dich herab, den Boden schlug
Dein Fusz, unwillig trugst du, zornig atmend,
Den Druck der irdischen Luft, dein Blick durchdrang
Die Niedrigkeit, dein Mund verschmähte sie.
Ein ungeheurer Strahl entglomm dem Aug,

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Und das Gewürme floh, die Finsternis
Trat hinter sich, so wie sie\'s tut vor mir!!)

Elis ist aber noch nicht reif für das Reich der Geister, die Sehn-
sucht nach der Erde regt sich noch in ihm. Deshalb musz er wie-
der hinauf, um sich in der Einsamkeit weiter zu vervollkommnen.
Jetzt fühlt er sich aber nicht mehr als Erdenmensch, sondern als
Teil eines Weltganzen, das sich bestrebt, ihm bei seinem geistigen
Aufschwung behilflich zu sein:

Der tote Mann stand auf zu meinem Dienst,
Die Sterne stürzen, meinem Pfad zu leuchten.
Und wenn dies Boot zerscheitert unter mir:
Die grüne Woge starrt und wird mich tragen.
Mein Innres schaudert auf und fort und fort
Gebiert\'s in mir ihr funkelnd Antlitz wieder,
Und was mir widerführ\', nun sterb ich nicht.
Denn dieser Welt Gesetz ist nicht auf mir®).

Hofmannsthal fühlt wie Maeterlinck®), und wie der englische
Dichter Thompson in „The Mistress of Vision":

When to the new eyes of thee
All things by immortal power,
Near or far,
Hiddenly

To each other linked are.
That thou canst not stir a flower
Without troubling of a star1).

Andere in dieser Dichtung dichterisch gestalteten Gedanken er-
innern gleichfalls an Maeterlinck, an erster Stelle aber an Novalis,
ein einzelnes Mal kann auch ein Ausspruch des englischen Mysti-
kers Blake zum Vergleich herangezogen werden. So beruhen
Torberns Worte:

1 \') Seite 254. «) Seite 261.

») Le Trésor des Humbles, Seite 168, 169.

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Sprach ich ? \'

Bedurft es dessen auch ? Entquoll den Lippen
Von selber nicht das rechte Wort

Meiner Stimme Klang
Bin ich entwöhnt®).

und Elis\' Ausruf:

Das hast du mir getan !®)

sein Gefühl, dasz der schweigend und unbeweglich dastehende
Torbem es veranlaszt habe, dasz der Seele tiefgeheimste Wünsche
sich seinem unbewuszten Mund entrangen1), auf der Ansicht,
dasz zwischen Denken, Sprechen und Handeln kein wesentlicher
Unterschied besteht, eine Auffassung, die sich mit verschiedener
Abstufung in den Werken der drei Mystiker wiederfindet®).

An Novalis\' Ausspruch: „Man kUnn nur werden, insofern man
schon ist"«), und den damit aufs engste zusammenhängenden Ge-
danken, dasz Schicksal und Gemüt Namen Eines Begi\'ifïes sind\'),
erinnern die Worte Torbems : „Keiner wird was er nicht ist"®) und
der Zusammenhang zwischen Elis\' Innerem und der Notwendig-
keit, wieder auf die Erde zurückzukehren»). Die Ansicht, dasz das
Wesen und das Schicksal des Menschen ganz und gar dasselbe ist,
hat Hofmannsthal mit besonderem Nachdruck in dem Aufsatz
über Oscar Wilde verfochteni").

Schlieszlich denkt man bei den an Elis gerichteten Worten der
Königin :

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Du warst ein Geist wie ich!).

Er schläft in euch, doch ahnt ihr\'s nicht®).

nicht nur an die nui höheren Wesen eigene Gabe der Verwand-
lung, sondern auch an Novalis\' Worte:

„Die Geisterwelt ist uns in der Tat schon aufgeschlossen, sie ist
immer offenbar. Würden wir plötzlich so elastisch, als es nötig
wäre, so sähen wir uns mitten unter ihr"®).

Oder: „Wir sind mit dem Unsichtbaren näher als mit dem Sicht-
baren verbunden"1).

Dem Bergmann zu Falun ist der Eintritt ins Geisterreich z. T.
darum möglich, weil er alles Niedrige verschmäht hat; nur dem
sittlichen Menschen wird die höhere Erkenntnis zu teil:

Was ist denn reif sein, wenn nicht: ein Gesetz
Für sich und für die Sterne anerkennen®).

w

Nicht nur als eine den mystischen Aufschwung erleichternde
Vorbedingung«), auch wegen ihres hohen Wertes für das rein-ir-
dische Leben, als das Ziel innerer Bestrebungen, wird Sittlichkeit
von Hofmannsthal, wie von Novalis und Maeterlinck hoch ge-
würdigt. Dasz der Weg zu der höchsten Sittenschönheit durch
Schmerz hindurchgeht, ist das Thema des von Klingsor erzählten
Märchens sowie von Hofmannsthals Dichtung „Die Frau ohne
Schatten".

Der Kaiser in Hofmannsthals Märchen ist ein heftiger, unbändi-
ger Mensch\'). Nur einmal hat er seine Frau mit sanfter Beseli-

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gung geliebt^), es ist ihm nicht gelungen, die Feentochter wahr-
haft in die Menschenwelt herüberzuziehen, infolge dieser engen,
selbstsüchtigen, nicht zu hohem Menschentum sich aufschwingen-
den Liebe ist die Kaiserin nicht im höchsten, strengsten Sinn die
Frau ihres Mannes geworden; die Ehe bleibt deshalb ohne Frucht,
wovon die Schattenlosigkeit der symbolische Ausdruck ist.

Der Kaiser verläszt seine Frau um den roten Falken zu suchen®).
Er folgt dem Vogel in eine Höhle; hier, in dem Bereich seines er-
sten Abenteuers mit der geliebten Frau®), in dem Reich der voll-
kommenen Sittlichkeit und der vollkommenen Schönheit«), war-
ten seine und der Kaiserin noch ungeborene Kinder ihm bei einer
Mahlzeit auf.

Dasz zwischen diesen Gestalten und ihm das Verhältnis der
vollkommenen Ehrfurcht herrschen soll, versteht der Kaiser nicht®).
Er fühlt sich durch eine geheimnisvolle, aus Sinnlichem und Ma-
gischem gewobene Zuneigung zu ihnen hingezogen, er will sie
besitzen®). Wieder ist seine Liebe selbstsüchtig; er denkt nur an
sich, er fragt nur, was die Kinder ihm bedeuten, nicht was er ih-
nen ist\'). Erst spät bemerkt er, dasz die Schüsseln, die ihm ge-
reicht werden, mit genau denselben Bewegungen an der andern
Seite des Tisches, wo seine Frau sitzen sollte, angeboten werden.
Er versteht weder den sehnlichen Wunsch der Kinder, die beiden
Eltern beim Gastmahl des Lebens vereinigt sitzen zu sehen und
sie zu bedienen — die Kinder sind ja die Wirte und Gäste des Le-
bensfestes") —noch ihren ängstlichen Ruf: „Wir werden nicht ge-
boren"®).

Die Kaiserin kann nicht kommen, weil der Gatte den Knoten
ihres Herzens noch nicht gelöst hat^®), der Kaiser aber wird dem
aus diesem Grunde über ihn verhängten Fluch zufolge zu Stein^^).

Die Kaiserin tut alles Mögliche, eines Schattens habhaft zu
werden und ihren Gatten zu retten. Mit der Amme gleitet sie
durch die Luft ins Menschenland^®). Die ins Geisterreich gehören-
de Begleiterin, die Feindin der Menschen, sucht auf ihre Weise
der Herrin zu dem Ersehnten zu verhelfen. Sie verführt die Fär-

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berin, die ihren Mann nicht liebt, zu einer Verwünschung an den
Ungeborenen!), g^g sucht die Frau in die Gewalt des Efrits, des
bösen Geistes zu bringen®) und sie dazu zu bewegen, dasz sie
sich von ihrem Manne lossagt. Gegen das verheiszene Liebesglück
musz die Färberin ihren Schatten eintauschen. Damit der Zauber
in Erfüllung gehe, der Schatten sich von ihr löse, übergibt die
Färbersfrau kleine Fischlein dem Feuer; in dem Augenblick, da das
letzte Fischlein verzehrt sein wird, wird sich der Schatten von ihr
entfernen. Als die Färberin aber ihrem Gatten mitteilt, dasz sie
einem andern gehören will, treffen sich beider Blicke; ein sittlicher
Umschwung geht in ihnen vor, sie sehen sich in Liebe. Zugleicher-
zeit löst sich der zauberischen Formel gemäsz der Schatten®):
trotz der Liebe musz die Ehe kinderlos bleiben.

Die Feentochter ist bei den Färbersleuten zum Menschen ge-
worden : der Färber hat durch seine Güte und seine Leiden den
Knoten ihres Herzens gelöst. Zweimal hat die Kaiserin die Fär-
bersfrau ihrem Gatten zu erhalten gesucht*). Sie fühlt sich an je-
ne geschmiedet, in deren Dasein sie ungerufen eingetreten war; im
Bewusztsein ihrer Schuld liegt sie mit unsäglicher Demut dem
Färber zu Füszen, reckt den Arm nach ihm aus und läszt sich mit
dem Fusz wegstoszen®). Sie will nicht durch neue Schuld den Kai-
ser befreien; das Wasser aus der Schale, das ihr den Schatten ge-
ben würde und das ihr eine Gestalt in der Haltung einer Sklavin,
zitternd wie Espenlaub — die Färberin — reicht, trinkt sie nicht,
weil sie weisz, dasz sie dadurch der Ehe des Färbers und seiner
Frau das höchste Glück rauben würde®).

Durch diese schwerste Sittlichkeitsprobe hat sie sich aus eigner
Kraft den Schatten errungen, und wird es ihr möglich, den Gatten
zu befreien. „Der Kaiser schlug die Augen zu ihr auf, unerschöpf-
liches Leben war in seinem jungen Blick, in dessen tiefsten Tiefen
nur blieb der erlebte Tod als ein dunkler Glanz früher Weisheit.
Sie hob ihn zu sich auf, sie umarmten einander ohne Wort, ihre
Schatten flössen in eins"\').

„Der Fluch war getilgt, der unbegreiflich zarte Gesang ihrer
künftigen Kinder ertönte im höchsten, strahlenden Haus des Him-
mels"«).

Auch der Kaiser in dem Drama „Der Kaiser und die Hexe"

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lernt den hohen Wert der Sittlichkeit kennen. Unter dem Einflusz
der Sinnlichkeit der Hexe erschien ihm die Welt wie ein Knäuel:

Alles ist ein Knäul, Umarmung
Und Verwesung einerlei,
Lallen von verliebten Lippen,
Wie das Rascheln dürrer Blätter,
Alles könnte sein, auch nicht

Erst nachdem er mit eigner Kraft®), bewuszt und freiwillig^),
die Sinnlichkeit besiegt hat, nachdem er nicht länger Waffen
braucht, sich zu schützen vor sich selber*), erwacht in seinem Her-
zen die Liebe, sowohl zu seiner Frau, an der ihm nun vor allem das
Kindliche gefällt®), wie zu dem Verbrecher, der „sich selber furcht-
bar treu war"®) und dem geblendeten Kaiser\').

Es ist ihm gelungen, „den Weg nach Hause" zu finden®).

Zu dieser erkämpften höheren Sittlichkeit verhält sich die Rein-
heit des noch nicht erprobten Knaben ödipus®), wie das Kind
zum geistig gereiften Menschen.

Es ist schon ausgeführt worden, dasz für Hofmannsthal, der als
Mystiker und als Ästhet^") an den Menschen die Forderung der
höchsten Sittlichkeit stellt, das Leben ein Schauspiel bedeutet.

Daszdieses „Schattenspier\'i^) unentrinnbar ist, ist der Gedanke,
der Hofmannsthals Nacherzählung des Märchens der 672. Nacht
zu Grunde liegt^®). Auf den Kaufmannssohn in diesem Märchen,
der nur seinen Kunstschätzen lebte, drückte das durch die Diener
symbolisierte Leben. Er wuszte, ohne den Kopf zu heben, dasz sie
ihn ansahen, ohne ein Wort zu reden, jedes aus einem andern Zim-
mer. „Er kannte sie so gut, er fühlte sie leben, stärker, eindringli-
cher, als er sich selber leben fühlte^®). Eine furchtbare Beklem-

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mung kam über ihn, eine tödliche Angst vor der Unentrinnbarkeit
des Lebens"!).

Nicht als eine feindliche Macht, wie der kunstliebende Orienta-
le, sondern als etwas Unbekanntes, an dem er immer gleichgültig
vorübergegangen ist, fühlt Claudio, die Hauptperson aus der
Dichtung „Der Tor und der Tod" das Leben:

Was weisz denn ich vom Menschenleben ?

Bin freUich scheinbar drin gestanden.

Aber ich hab es höchstens verstanden,

Konnte mich nie darein verweben.

Hab mich niemals dran verloren.

Wo andre nehmen, andre geben.

Blieb ich beiseit, im Innern stummgeboren.

Ich hab von allen lieben Lippen

Den wahren Trank des Lebens nie gesogen.

Bin nie von wahrem Schmerz durchschüttert.

Die Strasze einsam, schluchzend, nie! gezogen®).

Auch die Ursache dieser Lebensfremdheit weisz er:

Ich hab mich so an Künstliches verloren,

Dasz ich die Sonne sah aus toten Augen

Und nicht mehr hörte als durch tote Ohren :

Stets schleppte ich den rätselhaften Fluch,

Nie ganz bewuszt, nie völlig unbewuszt,

Mit kleinem Leid und schaler Lust

Mein Leben zu erleben wie ein Buch,

Das man zur Hälft noch nicht und halb nicht mehr begreift.

Und hinter dem der Sinn erst nach Lebendgem schweift\').

/

Erst der Tod, der das Leben noch einmal in der Gestalt der Mut-
ter, der Geliebten, des Freundes an ihm vorbeigehen läszt, zeigt
ihm, was er hätte erleben können. Es wird ihm klar, dasz dem
blosz nachschaffenden Künstler die Kunst das Leben nicht bedeu-
ten kann — dasz sein Leben verfehlt ist. Blosz die Hoffnung auf
ein „Erleben" nach dem Tode bleibt ihm:

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Wenn einer träumt, so kann ein Übermasz
Geträumten Fühlens ihn erwachen machen.
So wach ich jetzt, im Fühlensübermasz
Vom Lebenstraum wohl auf im Todeswachen^).

Wie Claudio leidet die Frau in der „Idylle nach einem antiken
Vasenbild", weil auch sie Kunst und Leben nicht zu unterschei-
den gewuszt hat®). Schon als Kind hatte sie einen so starken An-
teil an dem Gram, dem Hasz, der Liebeslust der Gestalten, welche
der Vater auf seine Töpfe hervorzauberte, dasz ihr war:

als hätte ich im Schlaf
Die stets verborgenen Mysterien durchirrt
Von Lust und Leid, Erkennende mit wachem Aug
Davon, an dieses Sonnenbild zurückgekehrt.
Mir mahnendes Gedenken andern Lebens bleibt
Und eine Fremde, Ausgeschloszne aus mir macht
In dieser nährenden, lebendgen Luft der Welt.

Wie reich das durch die Kunst verschönerte Leben ist, sprechen
die Schüler Tizians aus, die sich, obgleich ihnen nicht, wie dem
Meister, das Höchste gewährt ist®), als begnadete Wesen fühlen.

Auf die Stadt zu seinen Füszen zeigend, sagt Desiderio«):

Was die Ferne weise dir verhüllt,
Ist ekelhaft und trüb und schal erfüllt
Von Wesen, die die Schönheit nicht erkennen

Und ihre Welt mit unsern Worten nennen____

Denn unsre Wonne oder unsre Pein

Hat mit der ihren nur das Wort gemein____

Und liegen wir in tiefem Schlaf befangen.
So gleicht der unsre ihrem Schlafe nicht:
Da schlafen Purpurblüten, goldne Schlangen,
Da schläft ein Berg, in dem Titanen hämmern —

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Die Stellung, welche der schaffende Künstler im Leben ein-
nimmt, vergleicht Hofmannsthal mit der des Heizers auf einem
Dampfer, der am Abend einen Augenblick auf dem Verdeck er-
scheint und ohne die Sterne und den Duft der geheimnisvollen
Inseln, an denen das Schiff vorüberfährt, nur bemerkt zu haben,
wieder im Bauch des Schiffes verschwindet. Das sind die Aufent-
halte des Künstlers unter den Menschen, wenn er taumelnd und
mit blöden Augen aus dem feurigen Bauch seiner Arbeit hervor-
kriecht. Wie der Heizer nicht ärmer ist als die Leute droben auf dem
Deck, so ist der Künstler nicht ärmer als die das Leben genieszen-
den Menschen.Sein Schicksal aber ist nirgends als in seiner Arbeit,
nur in ihr soll er sich seine Abgründe und Gipfel suchen wollen^).

Hofmannsthal teüt diese Ansicht mit den Dichtern der Früh-
romantik. auch Fr. Schlegels Auffassung war. dasz der Künst-
ler. der nicht sein ganzes Leben preisgebe, ein unnützer Knecht
sei®).

Zum zweiten Mal spricht Fr. Schlegel dieselbe Memung auf re-
ligiöse Weise aus:

„Jeder Künstler ist Mittler. Ein Mittler ist derjenige, der Göttli-
ches in sich wahrnimmt und sich selbst vernichtend preisgibt, um
dieses Göttliche zu verkündigen, mitzuteilen und darzustellen al-
len Menschen in Sitten und Taten und Worten und Werken"»).

Trotz alledem kann auch der Künstler sich nicht ganz vom Le-
ben losreiszen. auch Hofmannsthal kennt Augenblicke, in welchen
er sich danach sehnt:

Ein namenloses Heimweh weinte lautlos

In meiner Seele nach dem Leben*).

Wie viel inniger ist diese fast geistige Lebenssehnsucht des
Künstlers als der Lebenshunger Andreas in „Gestern":

Ich will mein Leben fühlen, dichten, machen.

Erst wenn zum Kranz sich jede Blume flicht.

Wenn jede Lust die rechte Frucht sich bricht.

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Ein jedes Fühlen mit harmonisch spricht,
Dann ist das Leben Leben, früher nicht.i)

Zwischen Andreas Worten und der Lebensauffassung des Ba-
rons in „Der Abenteurer und die Sängerin" ist nur ein Unterschied
des Grades,

Sympathischer als diese Lebensbegierde ist der Lebensdrang
des Jünglings in „Der Jüngling und die Spinne"®). Ihm ist das
Leben der Weg zu der „Heimat", er fühlt sich mit allen Sinnen ins
Ungewisse gezogen, und

kann schon spüren
Ein unbegreiflich riesiges Genügen
Im Vorgefühl,

Von gröszerem Wert als dieses noch nicht erprobte Gefühl des
Jünglings ist die in dem kleinen Rokoko-Drama „Der weisze Fä-
cher" gestaltete Lebensfreude der Groszmutter, der Frau mit dem
kräftigen Sinn für die Wirklichkeit und der unzerstörbaren Le-
benskraft, die trotzdem sie soviel Schmerzliches erfahren hat, das
Leben immer noch liebt®).

Dennoch ist ihr nur ein einfaches — obgleich sehr bewegtes —
Menschenschicksal zu teil geworden, die „Abgründe und Tiefen"
des Lebens hat sie nicht kennen gelernt; dieses Glück ist auszer
dem schaffenden Künstler nur dem Wahnsinnigen und dem Mär-
chenkaiser gewährt.

Der Wahnsinnige fühlt sich Gott*),

Ich bin hergeschickt
Zu ordnen, meines ist ein Amt,
Des Namen über alle Namen ist.
Es haben aber die Dichter schon
Und die Erbauer der königlichen Paläste
Etwas geahnt vom Ordnen der Dinge.

Was aber sind Paläste und die Gedichte:
Traumhaftes Abbild des Wirklichen!

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Das Wirkliche fängt kein Gewebe ein:
Den ganzen Reigen anzuführen.
Den wirklichen, begreift ihr dieses Amt ?
Mit trunknen GUedem, ich, im Wirbel mitten
Reisz alles hinter mir, doch alles bleibt
Und alles schwebt, so wie es musz und darf!

Auch der Märchenkaiser glaubt, dasz er über dem Künstler
stehei):

Sieh, ein Schicksal zu erfinden,
Ist wohl schön, doch Schicksal sein,
Das ist mehr, aus Wirklichkeit
Träume baun, gerechte Träume,
Und mit ihnen diese Hügel
Und die vielen weiten Länder
Bis hinab ans Meer bevölkern
Und sie vor sich weiden sehn.
Wie der Hirt die stülen Rinder____

Die unumschränkte Gewalt, welche der Wahnsinnige und der
Märchenkaiser als Alleinherrscher im Reich der Phantasie besit-
zen, eignet dem Wirklichkeitsmenschen nur vorübergehend in der
Welt des Traumes. Da verfügt er — wie die Königin des Geister-
reichs®) — über eine an keine irdischen Gesetze gebundene Schaf-
fenskraft, ihm eignet das Vermögen, nach Belieben zeitlich und
örtlich Entferntes ins Dasein zu rufen®).

Nicht nur darum hat der Traum für den Menschen die grosze
Bedeutung, weü sich während semer Magie aus dem Unbewuszten
aufsteigende Kräfte in ihm regen, sondern hauptsächlich, weü die-
se ihm zeitweüig eine schöpferische Gewalt und ein Glück verlei-
hen, welche die Schaffenskraft und die Freude des schaffenden
Künstlers übersteigen. Das Gefühl, dasz die Schönheit des Trau-
mes dem Menschen das glänz- und duftlose Leben ertragen«) hüft,
teüt Hofmannsthal mit Heine und mit den Minnesängern. Die

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Verherrlichung des Traumes ist der einzige den drie romantischen
Strömungen gemeinsame Zug.

Wie d\'Annunzio läszt auch Hofmannsthal sich gerne durch
fremde Poesie zu einer Dichtung inspirieren.

Betrachtet man diejenigen Dramen Hofmannsthals, deren Stoff
nicht frei erfunden ist, so erweisen sie sich in sehr verschie-
denem Grade von den Originaldichtungen abhängig. So ist „Die
Frau im Fenster" die freie dichterische Gestaltung der in d\'An-
nunzios „Sogno d\'un mattino di primavera" erzählten Geschichte
der Madonna Dianora; in „Elektra" sind blosz die Personen und
die äuzsere Handlung Sophokles\' Trauerspiel entnommen;
„ödipus und die Sphinx" beruht auf der Jugendgeschichte des
Helden, dem Teil seines Lebens, der vor dem Anfang von Sopho-
kles\' Tragödie liegt; dagegen sind „Odipus", „Alkestis", „Jeder-
mann", „Das gerettete Venedig", „Dame Kobold" in höherem
Grade literarisch abhängig.

Es sind im Hinblick auf die moderne Bühne umgearbeitete und
in die Sprache des 20. Jahrhunderts umgedichtete Dramen, wel-
che der Dichter durch Hervorheben, Streichen und Ändern dazu
geeigneter Stellen unserm modernen Fühlen näher zu bringen ge-
sucht hat. Auch in diesen Umarbeitungen ist Hofmannsthal der
Sprachkünstler, als welcher er sich in seinen früheren Werken
zeigte.

„Die Frau im Fenster" ist das einzige von Hofmannsthals Re-X
naissancedramen, das nicht eine Verherrlichung der Kunst ist; in
diesem Einakter tritt eine andre Seite dieser an Gegensätzen so
reichen Zeit in dem Kraftmenschen Messer Braccio^) in den Vor-
dergrund.

Seine Frau, Madonna Dianora, die als Kind nichts war als
stolz,2) die am häufigsten sündigte durch Hoffart^), ist durch die
Liebe zu einem jungen Edelmann, Palla degli Albizzi, wie umge-
wandelt, wie verzaubert«). Ihre Seele ist erwacht®), sie fühlt, wie
süsz die Demut ist"), sie kennt die Lust zu dienen\'). Ihre Liebe

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gewährt ihr die Kraft, die Angst vor dem Tode, der ihrer durch die
Hand des eifersüchtigen Gatten harrt, zu besiegen; in dieser Hin-
sicht ist Madonna Dianora Maeterlincks Sélysette verwandt. Der
Schauplatz in „Die Frau im
Fenster"istabernicht,wiederParkmit
Turm und Teich in dem letzten Teil der „Hochzeit der Sobeide",
Maeterlincks Dramen entnommen, vielmehr erinnert der lom-
bardische Palast mit dem Balkon an das Schlosz der Capuletti
in Shakespeares Liebesdrama^).

Ist Madonna Dianora die Verkünderin der Liebe, in Elektras
Seele lebt blosz der Hasz^).
Sie könnte mit Baudelaire von sich
sagen :

Je suis de mon cœur le vampyre®).

Sie haszt nicht mit der Seele der Jungfrau, sondern eifersüchtig
wie ein wissendes Weib)*, sie liebt ihren Hasz, den Sklavinnen
wehrt sie das Süsze abzuweiden von ihrer Qual.

Den leidenschaftlichen, unbändigen, grausamen Charakter hat
Elektra von der Mutter, die wUde Trunkenheit, mit der sie dieser
den Tod prophezeit,®) ist Klytämnestras Freude beim vermeint-
lichen Tode des Orest«) vergleichbar. Erst nach der Ermordung
des Agamemnon hat sich das Wesen der beiden Frauen zu dieser
Heftigkeit zugespitzt, und da Inneres und Auszeres auch im Le-
ben dasselbe sind, hat sich bei beiden mit der Seele auch der Kör-
per geändert, bei der Mutter als die Folge des von ihr verübten

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Mordes^), bei der Tochter als der Ausflusz der sie verzehrenden
Gefühle®).

Wie Hamlet®) leidet Elektra unter dem Bewusztsein, eine Tat
vollbringen zu müssen, wozu es ihr an Kraft fehlt. Wie wenig sie
zur Rache fähig ist, geht schon daraus hervor, dasz sie zwar das
Beil, womit die Mutter getötet werden soll, jahrelang als einen
kostbaren Schatz hütet, im entscheidenden Augenblick aber ver-
giszt, es Orest zu übergeben*). In dem Verhältnis zu dem Bruder
zeigt Elektra das einzige Weiche, was ihr noch geblieben ist.

Wäre es Orest gelungen, durch Liebe Elektra ihrem Hasz zu
entreiszen, wie später Iphigenie ihn durch ihre hoch sittliche Per-
sönlichkeit vom Wahnsinn befreit, so hätte das Drama im Geiste
Goethes — Maeterlincks — geendet. Jetzt stürzt sie, als eine aus
Baudelaires Dichtung hervorgewachsene Gestalt, tanzend zu-
sammen®), durch Orests Rachetat ist ihr Schicksal erfüllt.

Der geheimnisvolle Zug von Opfertieren®), der an Elektras Zim-
mer vorübergeht, erhöht noch die Stimmung des Grauens, die
über das ganze Drama ausgegossen ist.

Auf Elektra anwendbar sind folgende Aussprüche St. Georges:
„Was die Alten aus ungehauenen Wäldern, unausgebeuteten Fel-
dern entnahmen, müssen wir aus der Tiefe zu gewinnen suchen"\').

Und: „Wie nun gar häufig vornehmlich in eben erscheinenden
Erzeugnissen das Schildern von Gegenwart und Wirklichkeit
diesen gerade so wenig entspricht als losestes Träumen, so rückt
andrerseits jede Zeit oder jeder Geist, indem er Ferne und Ver-
gangenheit nach eigner, nach seiner Weise gestaltet, ins Reich des
nahen Persönlichen und Heutigen. Wesentlich is die künstleri-
sche Umformung eines Lebens, welches Lebens ist vorerst be-
langlos"®).

Nicht nur in Elektra, auch in, „ödipus und die Sphinx" hat der
Dichter, wie es vor ihm Keats, Swinbume, d\'Annunzio getan, ei-
nen klassischen Stoff auf moderne Weise behandelt. Während
aber „Elektra\'\' eine in hohem Masze künstlerische Umformung der
antiken Tragödie ist, in welcher der Dichter das vergiftete Gemüt

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der Heldin als eine logische Folge ihrer Herkunft und im Einklang
mit ihrem schweren Schicksal darstellt, ist est ihm in „ödipus und
die Sphinx" nicht gelungen, die antike Schicksalstragödie in eine
moderne Dichtung der Verinnerlichung umzuwandeln. Der aus
Hölderlins Werk entnommene Spruch: „Des Herzens Woge
schäumte nicht so schön empor und würde Geist, wenn nicht der
alte stumme Fels, das Schicksal ihr entgegenstände"^)\', weist als
Motto zu der Dichtung eines Neuromantikers, schon auf ein
Zwitterdrama hin. Der Dichter zeigt uns zwar die Heftigkeit des
jungen ödipus®) als ein Erbteil seines Vaters®), seine königliche
Gesinnung«) und seine sittliche Reinheit®) als Geschenke der
Mutter®), dasz es aber nur ihm möglich ist, die Sphinx zu besie-
gen\'), berührt in der deutschen Dichtung nicht als eine Einheit
von Gemüt und Schicksal, sondern als ein Zugeständnis an die
antike Tragödie. Die Worte, womit das Rätselwesen den längst
Er%varteten begrüszt: „Heil, der die tiefen Träume träumt", so-
wie ödipus\' Sieg ohne Kampf sind wohl ein erneuter Versuch des
Dichters, seine mystische Auffassung von der Gleichheit des
Träumens — des Denkens — und des Handelns zu gestalten®).
Diese Mystik, die in „Der Bergmann zu Falun" aus der Gestalt
des Elis hervorzuwachsen scheint, fühlen wir in „ödipus und
die Sphinx" als von dem Dichter hineingetragen. Wie es dem Berg-
mann einen höheren Glanz verleiht, dasz es nur ihm ermöglicht
wird, in das Phantasiereich der Geisterkönigin hinunterzusteigen,
so drückt die nur dem jungen ödipus vom Schicksal gewälirte Tat
in Hofmannsthals Drama den Helden zu einem Märchenprin-
zen herunter. Auch die wiederholte Betonung der unbedingten
Wahrheit des Traumes wird als absichtlich gefühlt und ver-
stimmt®).

In der Umarbeitung von Sophokles „König ödipus" weicht der
Dichter nur wenig von der Originaldichtung ab. Obgleich auch
an ödipus\' Innerem, an seinem Fülilen, nichts geändert wurde,
ist es dem Leser doch, alsob ihm durch die moderne Sprache der
Übersetzung, ihre Gleichnisse und ihr Metrum, die fünffüszigen

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Jamben des klassischen deutschen Trauerspiels, ein Zauberring an
den Finger geschoben wäre^).

Mit Rücksicht auf die moderne Bühne sind Greise an die Stelle
des Chores getreten und sind ihre Reden stark gekürzt; weiter
sucht Hofmannsthal die dramatische Wirkung des Stückes durch
eine kräftigere Handlung zu heben. Dementsprechend nimmt z.B.
im Anfang das Volk an dem Gespräch zwischen ödipus und
dem Priester teil®) und wird die lange Rede des Königs vom
Volke unterbrochen»). Am Schlusz macht es für unser Gefühl
gröszeren Eindruck, dasz die Worte der Ergebung in den Willen
der Götter nicht, wie bei Sophokles, dem Chor, sondern Ödipus
selbst in den Mund gelegt werden.

Die dritte Dichtung Hofmannsthals, auf welche die aus den
„Blätter für die Kunst" angeführten Worte anwendbar sind, ist
die Umarbeitung von Euripides\' „Alkestis\'\'. Der wesentliche Unter-
schied zwischen dem griechischen und dem deutschen Drama
liegt nicht in den kleinen Abweichungen und Kürzungen der spä-
teren Dichtung, sondern in der Stelle, wo Admet den Schmerz
über den Tod seiner Frau beherrscht und Herakles bittet, in sei-
nem Hause zu übernachten«). Hof mannsthal verleiht dem König
von Pherä in diesem Augenblick die Lebensauffassung des Äs-
theten, die heitere Kultur des Menschen, dessen Anstand ihm ge-
bietet, der Schwere der Welt entgegenzulächeln®), die geistige
Überlegenheit desjenigen, der Schwerem den Ausdruck der Leich-
tigkeit und des Scherzes zu geben weisz«). Der Dichter betrachtet
dieses Spielen mit dem Schicksal als eine geistige Errungenschaft
der neuen Romantik im Gegensatz zu der alten\'). Diejenige Poe-
tisierung des Lebens, welche Novalis herbeisehnte, ist sie nicht.
Aber da die neue Kultur, dazu als eine Einheit von Schönheit und
Sittlichheit®), das Leben in Poesie einhüllt, ist auch sie aus dem
Geiste Novalis\' geboren.

Auch die Neigung, sich in vergangenen Zeiten zu spiegeln, eine
Eigenschaft sowohl des jungen George wie des österreichischen

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Dichters, ist wie des Letzteren Vorliebe für das Märchen^) gleich-
falls ein altromantischer Zug. Als ein Märchen will Hofmannsthal
auch die Geschichte von Jedermanns Ladung vor Gottes Richter-
stuhl angesehen haben®). „Man hat sie das Mittelalter hindurch an
vielen Orten in vielen Fassungen erzählt; dann erzählte sie ein
Engländer des fünfzehnten Jahrhunderts in der Weise, dasz er die
einzelnen Gestalten lebendig auf eine Bühne treten liesz, jeder die
ihr gemäszen Reden in den Mund legte und so die ganze Erzäh-
lung unter die Gestalten aufteilte®). Diesem folgte ein Niederlän-
der1), dann gelehrte Deutsche, die sich der lateinischen oder der
griechischen Sprache zu dem gleichen Werk bedienten. Ihrer ei-
nem schrieb Hans Sachs seine Komödie vom sterbenden reichen
Manne nach. Alle diese Aufschreibungen stehen nicht in jenem
Besitz, den man als den lebendigen des deutschen Volkes be-
zeichnen kann, sondern sie treiben im toten Wasser des gelehrten
Besitzstandes. Darum wurde hier versucht, dieses allen Zeiten
gehörige und allgemein gültige Märchen abermals in Bescheiden-
heit aufzuzeichnen"®).

So ist die Erneuerung des „Spiel vom Sterben des reichen Man-
nes" die einzige Dichtung, in welcher ein Neuromantiker es ver-
sucht, mit seiner Poesie ins Herz des Volks zu dringen. Auch in
diesem Bestreben berührt sich Hofmannsthal mit Dichtem der
Frühromantik; als Mittel, das Leben des Volkes zu poetisieren,
liesze sich sein Mysterienspiel mit Novalis\' „Geistliche Lieder",
mit Achim von Arnims und Brentanos Liedersammlung „Des
Knaben Wunderhora" und mit der von den Brüdern Grimm her-
ausgegebenen Märchensammlung vergleichen.

Es erübrigt noch, als letzte von Hofmannsthals auf fremdem
Stoff bemhenden Dichtungen®) „Das Gerettete Venedig" zu be-

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sprechen, die Umarbeitung von Otways „Venice Preserved,
a Plot discovered." Die zweite Hälfte des Titels hat Hof-
mannsthal weggelassen, weil in dem deutschen Drama die
Entdeckung der Verschwörung nicht die Hauptsache ist, die
Handlung nicht unaufhaltsam auf dieses Ziel hinschreitet. Als
Drama steht Hofmannsthals Dichtung denn auch hinter Otways
Werk zurück, es fehlt ihr die dramatische Geschlossenheit des
Originals. Als Schaustück dagegen weist das deutsche Drama
einige von Hofmannsthal hinzugedichtete, auf der Bühne sehr
wirksame Szenen auf. Es sind die Pfändungsszene im 1 .i) und die
Balkonszene im 2. Aufzug®), weiter im 4. Aufzug die Szene,
wo der Haushofmeister des Senators Priuli beim Tischdecken den
Bedienten Verhaltungsmaszregeln erteilt^), und die darauf fol-
gende, wo der Senator im Spiegel seine Tochter auf den Knien
herankommen sieht und seine verstorbene Frau zu erblicken
glaubt*). Die weisze Schönheit der Aquilina wird durch die ilir
zugesellte Mulattin gehoben®).

Nicht nur als Schaustück, auch als Dichtung läszt „Das Geret-
tete Venedig" das englische Drama hinter sich zurück. Lebhafter
als bei Otway, fühlen wir uns in das Venedig des Jahres 1618
versetzt, wir nehmen Anteil an der Verschwörung der durch tie-
fen Hasz gegen die Senatoren verbündeten Eidgenossen"), wir er-
leben die Gewalttaten der Herrscher\'), wir sehen den überall in
der Stadt lauernden Verrat®) imd blicken in die sittliche Ver-
derbnis der Senatoren und der höheren Stände»).

Auch durch die schärferc psychologische Ausarbeitung der
Charaktere tritt uns das deutsche Werk näherio), namentlich
Jaffier gewinnt in Hofmannsthals Dichtung erst rechtes Leben.
Hofinannsthal übernimmt Otways Charakteristik des Schwäch-
lings, der weisz, dasz er nicht im Stande ist, einem schweren Schick-
sal Trotz zu bieten.

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Otways Worte:

Ah, rather why
Didst thou not form me fordid as my fate.
Base-minded, dull und fit to carry Burdens,
Why have I sense to know the curse that\'s on me ?
Is this just Dealing, Nature?

lauten bei Hofmannsthal:

Warum, du Himmel,
Hast du mich so geschaffen, wie ich bin!
Wozu denn Zartheit mir! Gefühl! Geschmack!
Wozu aus feinem Stoff den Prügelknaben
Des Schicksals? Warum keinen Klotz aus mir.
Mit eines Lastträgers Gehirn und Nerven,
Der Wucht zu trotzen, die du auf mir lädst

Bei beiden Dichtem ist Jaffier, der Schwiegersohn des Senators
Priuli, ein liebenswürdiger Gatte®), bei Hofmannsthal wird Jaffier
uns auch durch das Verhältnis zu Pierre, als Freund sympathisch.
Pierre gesteht ihm:

Was ich Bess\'res, Schön\'res
Da drinnen hab\', daran bist an dem Meisten
Du Schuld. Du. Du. Es kam so, dasz du mir
Das Gröszte, Meiste einmal bist geworden,
In diesen Jahren damals®).

Pierre nimmt seinen Freund in den Bund der Verschworenen
auf, erläszt ihm aber den Eid«), Jaffier weidet sich in diesem ent-
scheidenden Augenblick im Geiste nicht an dem Bild wie

Auf seines Hauses blut\'ger Schwelle
Der alte Priuli mit offner Kehle
Daliegen wird,

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sondern er fragt:

Mein Bruder Pierre,
Was aber wird aus uns, wenn es gelingt

Jaffier kennt noch andre Gefühle als die des Hasses und der
Rache; zum groszen Verbrecher fehlt ihm das nur von Einer Emp-
findung volle Herz; schon jetzt ahnen wir, dasz der jetzige
liebenswürdige Schwächling®) zum künftigen Verräter werden
musz.

Seinem leicht bestimmbaren Charakter gemäsz ist Jaffier ganz
dem Einflusz seiner Frau hingegeben, als sich in ihr, der Senato-
rentochter, in dem Augenblick, da ihr deutlich wird, dasz ihr
Mann die Stadt „verraten" will, das Blut ihrer Väter zu regen an-
fängt, und sie ihm sein künftiges Schicksal ausmalt»).

„Mit einer gräszlichen Veränderung" spricht er zu ihrf^

Weiszt du das auch ?
Dasz sie die Stärkern sind ? Ich weisz es immer,
In einem fort hab ich\'s im Leib, ich spiele
Und spiele immer höher, heute Nacht
Hab ich dich eingesetzt, dann meinen Kopf —
Und hab in einem fort gewuszt, dasz ich
Verlieren musz*).

Den Gatten zu retten und die Stadt zu „befreien" geht Belvi-
dcra zu ihrem Vater, frohlockend, dasz sie ihm in ihrem Gatten
den „Erretter" der Stadt zuführen kann, sie stürzt aber ohnmäch-
tig zusammen, als sie hört, welcher Lohn in Venedig auf eine Tat
wie die Jaffiers steht»).

Im fünften Aufzug zeigt Hofmannsthal uns den Verräter in
^•ner ganzen Erbärmlichkeit; bei Otway besitzt cr noch den
Sitt-
ichen Mut, Pierre und sich zu erschieszen, im deutschen Drama
Wird er heimlich und geräuschlos im Kanal ertränkt.

In dem imaginären Gespräch zwischen Balzac und Hammer-
^urgwall „Über Charaktere im Roman und im Drama" kommt fol-
gende Stelle vor«):

\') Seite 53. \') Vpl. Seite 26, 37 ff. \') Seite 175. •) Seite 17a

> Seite 203, 204 •) Prosa II. Seite 168.

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Balzac: Kennen Sie „Das gerettete Venedig" von Otway?

Hammer: Ich glaube es in Weimar gesehen zu haben.

Balzac: Mein Vautrin hält es für das schönste aller Theater-
stücke. Ich gebe viel auf das Urteil eines solchen Men-
schen.

Hofmannsthal zeigt durch seine Umarbeitung, dasz er die An-
sicht Vautrins nicht teilt. Er bildete Otways Drama zu einer mehr
lyrischen Dichtung um, er vertiefte die Charaktere, er gab durch
besondersauf das Auge wirkende Szenen eine Synthese der Wort-
kunst und der bildenden Künste, er zeigte sich als der formvoll-
endete Sprachkünstler seiner Jugendwerke. Auch in der Prosa
der Komödie „Cristinas Heimreise" und des nach dem Kriege
in den Kreisen der Wiener Aristokratie spielenden Lustspiels „Der
Schwierige" zeigt er seine schöne Sprachbeherrschung.

Vergleicht man aber Hofmannsthals spätere Poesie mit seinen |
früheren Dichtungen, so macht sich dennoch ein Unterschied gel-^
tend. In der Poesie seiner Jugend ist der Dichter der nur vom Ge-
nieszen und Nachschaffen der Schönheit lebende Neuromantikeri),
seine Gefühle und Gedanken richten sich an erster Stelle auf die
Äuszerung der höchsten Vollendung des menschlichen Geistes,
aufdieKunst;in den Gestalten seiner Phantasie zeigt sich entwe-
der ein Gefühl des Glücks, dasz sie Künstler, Ausnahmenienschen
sind oder die Wehmut darüber, dasz die Wirklichkeit so wenig der
unendlich schöneren Welt in ihrem Innern entspricht. Dem jungen
Dichter gewährt die Schönheit die mystische Berührung mit
der Ewigkeit.

Der ältere Dichter zeigt sich zwar noch in der Formvollendung
seiner Poesie als der durch romanische Kultur erzogene Künstler,
er ist aber der strengen inneren Zucht®) seiner Jugend nicht treu
geblieben.

Selbstverständlich ist der Schmerz eines Claudio oder Tizianel-
lo verwunden, und schweigt die Sehnsucht der Frau in der „Idylle".
Dem älteren Dichter geht es aber nicht, wie dem Kaufmann in
„Die Hochzeit der Sobeide"®):

Der Glanz, der auf den bunten Städten lag.
Der blaue Duft der Feme, das ist weg.

Prosa II, Seite 90. Prosa II, Seite 90.
Theater in Versen, Seite 52.

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Ich fand\' es nicht, wenn ich auch suchen ginge.

Allein im Innern, wenn ich rufe, konmt\'s.

Ergreift die Seele.

Hofmannsthals spätere Poesie ist nicht die dichterische Gestal-
tung der seelischen Ergriffenheit des reifen Mannes.

Entweder enthält sie, wie z. B. „Ödipus und die Sphinx", und
manches in „Die Frau ohne Schatten", die blässere Wiederholung
der Jugendgefühle, oder sie sinkt herunter zu einer Dichtung, die
zwar formenschön, aber inhaltlich kaum als die Fortsetzung der
genialen Anfänge des jungen Neuromantikers betrachtet werden
kann. Der Abenteurer lebt als Florindo weiter, die Frau aber, die
g^cklich wurde durch seine Liebe, findet in ihrer Veriassenheit
nicht eine über das Liebesglück hinausgehende Seligkeit in der
Kunst. Die Sängerin ist zum Bauernmädchen geworden^).

Noch einmal aber glaubt man die Stimme des jungen Dichters
zu hören in den Worten, die Hofmannsthal 1921 als Einleitung zu
einer Auswahl aus deutschen Erzählern schrieb®).

„In diesen Geschichten ist ein unmeszbarer Reichtum geistiger
und gemütlicher Beziehungen darin gegeben, wie die Figuren zu
einander stehen; die Liebe ist überall drinnen, aber nicht allein
die des Mannes zum Weibe, des Jünglings zur Jungfrau, sondern
auch des Freundes zum Freund, des Kindes zu den Eltern, des
Menschen zu Gott, auch des Einsamen zu einer Blume, zu einer
Pflanze, zu einem Tier, zu seiner Geige, zur Landschaft: es ist
eine verteilte Liebe, das ist die deutsche Liebe. Nirgends in diesen
vielen Geschichten ist es die wilde, ausschlieszende Besessenheit
von Mann und Weib, nie das völlig dunkle, erdgebundne Trach-

\') Cristinas Heimreise.

Deutsclie Erzähler, Drei Bände, Inselverlag 1921.
Der erste Band enthält: Goethe, Novelle, Seite 1; H.v. Kleist, Das Erdbeben in Chili,
Seite 33; F. Hebbel, Aus meiner Jugend, Seite 57; G. Keller, Spiegel, das Kätzchen^
Seite 101; J. Paul, Leben des vergnügten Schulmeisterleins M. Wuz in Auerbach, Seite
153; E. Mörike, Mozart auf der Reise nach Prag, Seite 209; J. v. Eichendorff, Aus dem
Leben eines Taugenichts, Seite 293.
Der zweite Band enthält: G. Büchner, Lenz, Seite 5; L.Achim von Arnim, Der tolle

Invalide auf dem Fort Ratonneau, Seite 41; Annette Freün von Droste-Hülshoff, Die

Judenbuche, Seite 73; Fr. von Schiller, Der Geisterseher, Seite 139; Jeremias Gott-
helf, Barthh der Korber, Seite 297; Friedrich de la Motte Fouqu6, Undine, Seite 391
Der dritte Band enthält: L. Tieck, Der blonde Eckbert, Seite 5; C. Brentano, Ge-
schichte vom braven Kasperl und dem schönen Annerl, Seite 33; Ch.trles Sealsfield
Die Erzählung des Obersten Morse, Seite 81; Franz Grillparzer, Der arme Spielmann\'
Seite 197; E. T. A. Hoffmann, Der Elementargeist, Seite 257; W. Hauff Das kalte
Herz, Seite 319; A. Stifter, Der Hagestolz, Seite 379. \'

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ten, das in den Geschichten der Romanen so mächtig und un-
heinüich hervortritt. Würde man französische Erzähler zusam-
menstellen, so ergäbe sich, dasz es innerlich ein älteres Volk ist, al-
les ist scharf begrenzt, diesseitig, hier in den deutschen Erzäh-
lern ist über alles Wirkliche hinaus ein beständiges Einatmen des
Jenseitigen, Verborgenen. Das Wunderhafte der Märchen ist nir-
gends ganz abgestreift." •

Ist es nicht, als charakterisierte Hof mannsthal mit diesen Sätzen
dasjenige, was der Poesie der Frühromantik und seiner Jugend-
dichtung gemeinsam ist, und was einen Teil auch ihres Ewig-
keitswertes bildet ?

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ALPHABETISCHES VERZEICHNIS DER LITERATUR

Aarestrup, E., Digte i Udvalg, Koben-
havn 1909.

Ancona, A. d\' e Bacci, 0., Manuale della
Letteratura Italiana, Firenze 1916.

Andersen, H. C., Eventyr og Historier,
Kobenhavn 1905; Kjendte og glemte
Digte, Kobenhavn 1867.

Andrian, L., Das Fest der Jugend, Des
Gartens der Erkenntnis erster Teil und
die Jugendgedichte, Berlin 1919.

Annunzio, G. d\', Poesie I, Milano 1895;
Poesie II, Milano 1896; Le Elegie Ro-
mane, Milano 1911; Laudi del Cielo,
del Mare, della Terra e degli Eroi, Mi-
lano 1903; II Piacere, Milano 56.° mi-
gliaio; L\' Innocente, Milano 25.° mi-
gliaio ; Trionfo della Morte, Milano 24.°
migliaio; Le Vergini delle Rocce, Mila-
no 22.° migliaio; II Fuoco, Milano 2.°
migliaio; La Città morte, Milano, 15."
migliaio; Sogno d\'un Mattino di Pri-
mavera, Milano 7.° migliaio; Sogno
d\'un Tramonto d\'Autunno, Milano 8.°
migliaio; La Gioconda, Milano 22.° mi-
gliaio; La Nave, Milano 3." migliaio;
Fedra, Milano 11.° migliaio; II Marti-
rio di San Sebastiane, Milano 1911.

Athenäum, Eine Zeitschrift von A. W.
Schlegel und Fr. Schlegel, Berhn 1798
— 1800.

Athenäum, neu herausgegeben von Fr.
Baader, das Museum, Band IV, Berlin.

Baudelaire, Ch., Les Fleurs du Mal, Paris,
Calman-L6vy; Les Fleurs du Mal et
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und Sänge und der hängenden Gärten,
Berlin 1921 ; Das Jahr der Seele, Berlin
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König ödipus, Tragödie von Sopho-
kles, übersetzt und für die neuere Büh-
ne eingerichtet,
Berlin 1920; Cristinas
Heimreise, Berlin 1910; Der Rosenka-
valier, Berlin 1911; Jedermann, Das
Spiel vom Sterben des reichen Mannes
erneuert, Berlin 1921; Die Frau ohne
Schatten, Beriin 1910; Das Märchen
der 672. Nacht und andre Erzählun-
gen, Wien und Leipzig 1905; Die pro-
saischen Schriften, Berlin 1920; Das
Gerettete Venedig, nach dem Stoffe
eines alten Trauerspiels von Th. Ot-
way, Berlin 1905; Dame Kobold, Lust-
spiel von Calderon, freie Übersetzung
für die neuere Bühne, Beriin 1920;
Deutsche Erzähler, ausgewählt von —
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Achim von Arnim, L., 184, 189.
Adama van Scheltema, C. S., 128.
Aleardi, A.,76.
Alfieri, V., 71.
Andersen, H. C., 96, 97.
Andrian, L., 129, 140, 144.
Angelus Silesius, 5.

Annunzio, G. d\', 76—89, 106, 134, 143,

155, 162, 179, 181.
Ariosto, L., 1, 70.

Athenäum, 7, 8, 9, 10, 11, 33, 59, 96, 155,
176.

Baggesen, J., 90, 93.

Baudelaire, Ch., 41, 42, 48, 51—56, 57,
60, 79, 80, 85, 86, 88, 103, 109, 134,
137, 143, 150, 180, 181, 185.
Beets, N., 112.
Berchet, G., 71.
Bertken, Zuster, III.
Bilderdijk, W., III, 112.
Blake, W., 157, 168, 169.
Blicher, S. S., 107.
Boccaccio, G., 29, 70.
Bogaers, A., 111.
Bojardo, M. M., 1, 70.
Bosboom-Toussaint, A. L. G., 112.
Boutens, P. C., 128, 129.
Böcklin, A., 131, 156.
Bodtcher, L. A., 100, 101, 104.
Böhme, J., 5, 19.
Brentano, C., 133, 184, 189.
Busken Huet, C., 112.
Büchner, G., 189.
Bürger, G. A., 7, 30,33, 39,71.
Byron, G. G., 33, 48, 86, 112.

Calderon de la Barca, P., 1,179, 184,
Carducci, G,, 76.
Caterina de Siena, 69, 85.
Cervantes, M. de, 1, 9.
Chamisso, A. von, 40.
Chateaubriand, F. R. de, 30, 47, 48, 50,
51.

Chaucer, G., 29.
Clercq, W. de, 111.

Coleridge, S. T., 30, 32, 33, 34, 36, 39, 40,

56.

Constant, B., 48.
Costa, I. da, 111.
Cowper, W., 30.

Dante AUghieri, 5, 9, 29, 33, 37, 38, 49,
64, 65, 66, 67, 68, 69, 70, 74, 103, 114,
126, 134, 157.
Debussy, C., 58,
Desbordes—Valmore, M,, 50,
Deyssel, L. van, 128.
Dostojewski, F., 85.
Drost, A. 111.

Droste Hülshoff, A. von, 189.
Dowson, E., 42—47, 63, 134.

Eckhart, Meister, 5.

Eeden, Fr. van, 116, 121, 123—126.

Eichendorff, J. von, 102, 133, 189.

Emants, M., 113.

Euripides, 179, 183.

Ewald, J., 90.

Feith, R., III.
Fichte, J. G., 19, 22,
Ficino, M., 70.
Fort, P., 63.
Foscolo, U., 71.

Franciscus von Assisi, 34, 66, 166.
Frühromantik, 1—29, 34, 35, 56, 58, 59,
77, 91, 93, 94, 95, 96, 104, 106, 130,
131, 133, 140, 143, 145, 148, 155, 157,
161, 176, 184, 190.

George, S., 33, 41, 42, 63, 120, 130—141,

142, 143, 144, 156, 162, 179, 181, 183.
Gerardy, P., 136.
Ghil, R., 58.

Goethe, J. W. von, 6, 7, 9, 12, 23, 33, 40,
48, 68, 71, 90, 91, 103, 133, 155, 170,
181, 189.
Gorter, H., 121, 122, 123.

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Gottheit, J., 189.
Gray, Th., 30, 71.
Grillparzer, F., 189.
Grimm, J. und W., 184.
Grundtvig, N. F. S., 96, 102.
Guérin, Gh., 50.
Guido Guinizelli, 65, 66.
Guittone d\'Arezzo, 65.

Hadewych, 5, 111.

Hartmann von Aue, 39.

Hauch, C., 97, 99, 102, 104, 107.

Hauff, W., 189.

Hebbel, F., 133, 189.

Heiberg, J. L., 45, 99, 100, 102, 104, 107.

Heine, H., 17, 18, 73, 84, 98, 133, 134,

176, 178.
Heinrich von Morungen, 4, 5, 67.
Heinse, J. J. W., 7.
Hemsterhuys, T., 19.
Herder, J. G., 6, 12, 30.
Hertz, H., 100.

Hofmannsthal, H. von, 28, 43, 87, 88,

120, 131, 132, 140, 141—190.
Hoffmann, E. Th. A., 12, 40, 189.
Hooft, P. G., Ill, 113.
Hölderlin, J. C. T., 133, 182.
Hugo, v., 41, 49, 50, 72, 112, 143.

Ibsen, H., 94, 103.
Ingemann, B. S., 96, 98, 102, 107.

Jacobi, F. H., 7.

Jacobsen, J. P., 88, 105—111, 134.
Jacopo von Lentino, 64, 65.
Jean Paul Friedrich Richter, 133, 189.
Young, E., 12, 30.

Kasteele, P. L. van de, 111.

Keats, J., 32, 35—40, 87, 106, 113, 143,

147, 148, 158, 171, 181.
Keller, G., 189
Kleist, H. von, 39.

Kloos, W., 112, 113, 114, 116—121, 128,
134.

Klopstock, F. G., 5, 6, 71, 90, 133.

Laforgue, J., 62.
Lamartine, A. de, 49, 50, 76.
Lechter, M., 137.

Leconte de Lisle, Ch. M., 51, 75, 76.

Leigh Hunt, J., 35, 113.

Lenau, N., 133.

Lennep, W. van, 113.

Leopardi, G., 72—77.

Lessing, G. E., 6, 90.

Lewis, M. G., 33.

Lieder, W. R., 134.

Ludwig, O., 155.

Macpherson, J., 30, 48, 71, 111.

Maeterlinck, M., 27, 41, 45, 48, 55, 59, 60,
61, 62, 63, 84, 85, 138, 144, 158, 159,
164,168, 169, 170,180, 181,

Mahler, G., 132.

Mallarmé, S., 58, 60, 62, 63, 80, 134, 137,
144.

Manet, E., 58.

Manzoni, A., 50, 72.

Mersewin, 5.

Meyer, C. F., 133.

Michel Angelo Buonarotti, 36, 70, 106,
115, 157.

Miller, J. M., 7, 111.

MUton, J., 30.

Minnelyrik, 2, 3, 4, 5, 27, 39, 64, 65, 66,
67, 74,103,111,156,178.

Monti, V., 71.

Morris, W., 41, 63, 141.

Motte Fouqué, F. de la, 189.

MoUer, P. M., 102.

Mörike, E., 133, 189.

Multatuli, 112.

Musset, A. de, 48, 49, 50, 76, 138, 139,
143.

Nerval, G. de, 50.

Nietzsche, Fr., 82, 143.

Novalis, 11, 13—28, 30,34,35, 37, 50, 59,
69, 91, 93, 96, 104, 115, 125, 130, 132,
135, 136, 137, 140, 144, 145, 146, 147,
148, 151, 154, 156, 157, 158, 159, 160,
163, 164, 166, 168, 169, 170, 171, 173,
175, 178, 179,180, 181, 183, 184.

Oltmans, J. F., 111.

Otway, Th., 179, 185, 186, 187, 188.

Oehlenschläger, A,. 91—97, 102, 105.

Paludan-Müller, F., 97, 98, 100, 101,
103, 104, 105.

Parazelsus, 5.

Parini, G., 71.

Percy, Th.) 30, 33.

Perk, J., 112—116, 118.

Petrarca, F., 9, 29, 39, 47, 68—71, III,
157.

Pier della Vigne, 64.

Platen, A. von, 133.

Plato, 4, 5, 32, 67, 68, 70.

Plejaden, 47.

Potgieter, E. J., 112, 113.

Prati, G., 76.

Präraphaeliten, 32, 36—43, 58, 79, 106,
113, 121, 131,137, 138, 143, 155.

Pulci, L., 1, 70.

Régnier, H. de, 134.

Rilke, R. M., 105.

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Rimbaud, A., 56, 58, 59, 60, 61, 62, 63,
80, 134, 148.

Roland Holst—vander Schalk, H., 125—
128.

Rossetti, D. G., 12, 36—42, 74, 87, 129,
134, 156.

Rousseau, J. J., 6,31,47, 90.

Ruysbroec, J. van, 5.

Savonorola, J., 69, 70.

Saxo, 89.

Scott, W., 7, 30, 33, III.

Schack von Staffeidt, A. W., 97, 102, 103,
105.

Schelling, F. W. J., 19,34, 77, 91, 166.

Schiller, Fr. von, 12, 39, 133, 189.

Schlegel, A. W. von, 6, 7, 15, 27, 33, 50,
91, 130, 134.

Schlegel, Fr. von, 6, 7, 8, 9, 10, 11, 14, 15,
20, 21, 27, 33, 56, 91, 96, 130, 136, 155,
176.

Schleiermacher, Fr., 8.

Sealsfield, Ch., 189.

Shakespeare, 6, 9, 29, 33, 39, 50, 62, 90,
94, 115, 134, 155, 180, 181.

Shelley, P. B., 34, 3b, 40, 4t, 77, 115, 119,
124, 125, 141, 166, 171.

Sophokles, 179, 182, 183.

Sordello, 64.

Spenser, E., 29.

Stael de—Necker, G., 50.

Steffens, H., 91.

Stifter, A., 189.

Strausz, R., 132.

Suso, H., 5.

Swarth, H., 128.

Swedenborg, E. von, 170.
Swinburne, A. Ch., 40, 41, 42, 87, 134,
175, 181.

Symbolisten. 28, 35, 42, 50, 55, 57—64,
69, 80, 125, 131, 132, 140, 141, 155,
156, 162.

Tasso, T., 71.

Tauler, J., 5.

Thomas à Kempis, 5.

Thompson, F., 168.

Thomson, J., 30.

Tieck, L., 1, 11, 12, 13, 56, 189.

Tollens, H., III.

Verhaeren, E., 61, 62, 134, 141.
Verlaine, P., 42, 48, 50, 55—58, 77, 134,
135, 137.

Verwey, A., 112, 113, 119, 120, 134, 138.
Vigny, A. de, 51, 55, 76.
Villiers de l\'Isle—Adam, P. A. M., 48, 59,
61,62.
Voltaire, F. M. A. de, 90.
Vondel, J. van den, 113.

Wackenroder, W. H., 11, 12, 13.
Wagner, R., 8, 20, 58, 61, 79, 132, 155,
179.

Walpole, H., 33.
Wessel, J. H., 90.
Wieland, Ch. M., 90.

Winther, Chr., 95,101,102,103, 104, 109.

Wolfskehl, K., 136.

Wordsworth, W., 30,31,32, 131, 163.

Zola, E., 128.

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STELLINGEN

I.

De jonge Frederik van Eeden is geen Tachtiger.

II.

Ten onrechte zegt Busse: „Novalis warvornehm-
lich Lyriker und besitzt auch nur als solcher heute
noch Bedeutung." (Novalis\' Lyrik, bladz. 12).

III.

Ten onrechte zegt Soergel van Hofmannsthals
drama Der Abenteurer und die Sängerin: „Eine
Art Rimbaud des 18. Jahrhunderts steht im Mittel-
punkt." (Dichtung und Dichter der Zeit, 13«^« druk,
bladz. 476).

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De theorie van Panzer, die den oorsprong der
Germaansche heldensagen uit sprookjes verklaart,
is weinig aannemelijk. (Studien zur Germanischen
Sagengeschichte I, Beowulf).

V.

Het is Polak niet gelukt, Heines Buch Legrand
tot een eenheid terug te brengen. (Neophilologus
1922, bladz. 260fr.).

VI.

Met recht stelt Brandes uit een oogpunt van
schoonheid Uriel Acosta boven Nathan der Weise.
(Das junge Deutschland, druk, bladz. 258, 259).

VII.

Nathan der Weise is geschikt, om op school te
worden gelezen.

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VUL

Het onderwijs in de moedertaal mag niet dienst-
baar worden gemaakt aan het onderwijs in vreemde
talen.

IX.

Het voorbeeld, gegeven aan de H.B.S. te Schie-
dam, om muziek op te nemen onder de verplichte
leervakken, verdient ten zeerste aanbeveling.

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